Christen im Nahen Osten: Zwischen Martyrium und Exodus 353427069X, 9783534270699

2018: Irakische Christen kehren in ihre Dörfer zurück, aus denen der "Islamische Staat" sie vier Jahre vorher

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German Pages 504 [505] Year 2019

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort von Louis Raphaël Kardinal Sako
Vorbemerkung
Einführung
Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert
Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen
Konstantinopel und die anatolischen Provinzen des Osmanischen Reichs
Die Jungtürken an der Macht
Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs
Libanon
Syrien
Palästina
Irak
Ägypten
Persien
Entwicklungen im 19. Jahrhundert
Die konstitutionelle Revolution
Der Nahe Osten am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Türkei
Christentum am Bosporus, in Kleinasien und Armenien von der Frühzeit bis ins 19. Jahrhundert
Vertreibung und Ermordung: das Schicksal der Christen Anatoliens im Ersten Weltkrieg
Vertreibung aus dem Hakkari: das Schicksal der Assyrer
Die Vernichtung des armenischen Christentums in Anatolien
Saifo – das Jahr des Schwerts
Träume von der Unabhängigkeit: Orientalische Christen und die Friedensverhandlungen von Paris
Staatswerdung im Zeichen von Vertreibung: die Entstehung der Republik Türkei und die christlichen Minderheiten
Die griechische und armenische Gefahr: Der Vertrag von Sèvres und die türkische Nationalbewegung
Exodus: Der Vertrag von Lausanne und die Umsiedlung der Griechen
Atatürk und die Christen: Leben im kemalistischen Staat
Revolution auf allen Ebenen: Aufbau und Charakteristik des kemalistischen Staats
Die Türkifizierung Anatoliens: Das Schicksal von Kurden, Armeniern und Syrern
Drangsalierung und Ausgrenzung: türkische Politik gegenüber Griechen und Armeniern
Die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg
Entspannung und Konflikt: Die Griechen der Türkei im Spannungsfeld der internationalen Beziehungen
Die Türkei und die Armenier
Syrische und assyrische Christen im Tur Abdin und Hakkari
Diskriminierung und Auswanderung: Christen in der Türkei im 21. Jahrhundert
Ethnische Minderheiten und Ausländer: die christlichen Kirchen in der Türkei heute
Diskriminierung, Verachtung, Gewalt: rechtliche Lage und gesellschaftliche Stellung von Christen heute
Ausblick: Zwischen Assimilation, Selbstbehauptung und Auswanderung
Iran
Das Christentum in Persien
Perser, Araber und Mongolen: Christen in Persien von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert
Spielball von Katholiken, Protestanten und Russen: Christliche Gemeinden in Persien im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Vernichtung und Vertreibung: Der Erste Weltkrieg und das Schicksal der Christen in Aserbaidschan
Flucht in den Kaukasus
Rückkehr, Rache, Räubertum
Massaker, Selbstverteidigung und Vergeltung
Von Urmia in den Irak
Rückkehr und Neuaufbau
Im Schatten des Pfauenthrons: Die Pahlavis und die Christen
Säkularisierung und Persifizierung: Die christlichen Minderheiten unter Reza Schah
Unter dem Schutz Seiner Majestät: Christen im Iran unter Mohammad Reza Schah
Die Mollahs und die Christen: Leben in der Islamischen Republik
Christen in den Wirren der Islamischen Revolution
Diskriminierung und Ausgrenzung: Gesetzliche Rahmenbedingungen für das Leben der iranischen Christen und das Wirken der Kirchen
Der Kampf um die eigene Identität: der Streit um die armenischen Schulen
Anpassung als Überlebensstrategie
Zwischen Ausgrenzung, Dialog und Emigration: Perspektiven für das Christentum im Iran
Irak
Die christlichen Gemeinden in Mesopotamien von der Frühzeit bis heute
Die Tradition der Kirche des Ostens
Die Christen im Irak heute
Die schwierige Staatswerdung: Stämme, Konfessionen und die religiösen Minderheiten
Der Irak am Ausgang des 1. Weltkriegs
Der unabhängige Irak und die "Assyrische Frage"
Integration oder Autonomie? Eine Zwischenbilanz
Christentum und Kommunismus: Zwischen Monarchie und dem Aufstieg der Baath-Partei
Revolution und Republik
Christen und Kurden: Eine Schicksalsgemeinschaft?
Die Kirche und die Herrschaft der Baath-Partei
Saddam Hussein und der starke Staat: Möglichkeiten und Grenzen christlichen Lebens
Die US- Invasion und ihre Folgen: Ende der christlichen Gemeinschaft?
Der Sturz Saddam Husseins und die neue Ordnung
Terror und Gewalt: Christen vor dem Exodus
Kurdistan: Der sichere Hafen?
Aufstieg und Fall des Islamischen Staats
Niniveh: Vergangenheit und Zukunft der irakischen Christen
Die Perspektiven: Gehen oder Bleiben?
Libanon
Konfessionen und Konfessionalismus
Die Christen des Libanon
Muslime und Drusen
Libanon, Heimat der orientalischen Christen?
Der Konfessionalismus
Das Projekt „Grand Liban“
Arabischer und libanesischer Nationalismus
Phönizier, Mittelmeervolk oder Araber?
Von der Krise des Grand Liban zum Nationalpakt
Das Schicksal des Nationalpakts bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs
Der Bürgerkrieg: Kampf der Maroniten um ihr Land
Überblick
Christen und Palästinenser: Der Weg in den Bürgerkrieg
Milizen und Allianzen
Keine Reformen unter der Drohung von Kanonen!
Syrien, Retter der Christen
Der christliche Kleinstaat und die Spaltung der Maroniten
Ein Bündnis mit Israel?
Kampf zwischen Christen und Drusen
Befreiungskrieg und Bruderkrieg: Durch das Chaos zum Abkommen von Ta'if
Wiederaufbau auf tönernen Füßen
Kein Sieger und kein Verlierer: Die Christen des Libanon nach dem Bürgerkrieg
Zwischen Syrien und der Hisbollah
Vorzimmer des syrischen Bürgerkriegs: der Libanon seit 2011
Abgrenzung oder Zusammenarbeit? Der Libanon am Scheideweg
Syrien
Von Paulus zur Jungfrau von Saidnaya: Christentum in Syrien von der Frühzeit bis heute
Quo vadis, Syrien? Die politische Rolle der Christen in der französischen Mandatszeit
Die Christen und der König: Syrien zwischen Emir Faisal und dem französischen Mandat
Zwischen Drusen, Nationalisten und Franzosen: Christen im Großen Syrischen Aufstand
Beteiligung am nationalen Projekt: Christen in der Politik der späten 1920er und 30er Jahre
Jazira, Sammelbecken für Flüchtlinge
Radikalisierung und Konfessionalisierung
Der Zweite Weltkrieg und der Weg in die Unabhängigkeit
Republik und Militärdiktatur: Autoritäre Säkularisierung und die Reaktion der Kirchen
Die Herrschaft der Baath-Partei: Kultusfreiheit und Konformismus
Säkularisierung und Verstaatlichung: Christliche Identität in Gefahr?
Das Ende der Säkularisierungspolitik und die Islamisierung des öffentlichen Lebens
Zwischen Staatsmacht und Islamisten: Christen im syrischen Bürgerkrieg
Von Protesten zum Bürgerkrieg
Radikalisierung und Aufstieg der islamistischen Extremisten
Zerstörte Häuser – zerstörte Seelen. Die humanitäre Lage
„Man will, dass die Christen verschwinden!“: Christen im Bürgerkrieg
Aus den „Fehlern der Vergangenheit“ lernen oder den „rechtmäßig
gewählten Präsidenten“ stützen? Die Kirchen und der Syrienkonflikt
Perspektiven: Sicherheit und Konformismus
Palästina und Israel
Das Heilige Land und seine Gemeinden
Das Drei-Mal-Heilige Land
Heiliges Land – Heilige Kirchen
Das Leben der Gemeinden
Die Christen und die Palästina-Frage: Die Zeit des britischen Mandats
Christlich-muslimische Vereinigung: Gemeinsamer Widerstand gegen die jüdische Einwanderung
Die Christen und der Mufti: Entfremdung zwischen christlichen und muslimischen Palästinensern
Der Weg zur Teilung Palästinas
Katastrophe oder Hoffnung? Die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel
Nakba: Flucht und Vertreibung
Christen im jüdischen Staat
Terroristen oder Freiheitskämpfer? Christen im israelisch besetzten Westjordanland und ihre Rolle im palästinensischen Widerstand
Vom Sechs-Tage-Krieg zur Ersten Intifada
„Intifada des Himmels und Intifada der Erde“: Christen und
der palästinensische Aufstand
Zwischen radikalen Siedlern und aufsteigendem Islamismus: Christen in Israel und Palästina seit 1990
Palästina: hinter Mauern
Israel: zwischen Falken und Tauben
Fazit: Anpassung oder Auswanderung
Jordanien
Beduinen und Missionare: das Ostjordanland am Ende der osmanischen Herrschaft
Von den Osmanen zu den Haschemiten: Transjordanien und seine christlichen Stämme
An beiden Ufern des Jordan: Christen im unabhängigen Jordanien
Nationalisten, Kommunisten, Freiheitskmpfer: jordanische und palästinensische Christen im Königreich Jordanien
Christliche Identität im arabischen Staat
Jordanien: Heimat für Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien
Perspektiven: Die Große Jordanische Familie
Ägypten
Vergangenheit und Gegenwart des Christentums am Nil
Zwischen Nationalismus und Islamismus: Die Christen Ägyptens in der Zeit der Monarchie
Kreuz und Halbmond: Kopten und Muslime vereint im Kampf für die Unabhängigkeit Ägyptens
Klerus oder Laien: Wer vertritt die koptische Gemeinschaft?
Ausgrenzung und Abgrenzung: Gesellschaftliche Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre
Der Umbau der Gesellschaft unter Nasser: Instrumentalisierung, Marginalisierung und Abgrenzung
Im Banne des Magiers: Die Kirche im Dienst Nassers
Erneuerung im Zeichen der Ausgrenzung: Neue Zeiten für die koptische Kirche
Vom Nationalismus zum Islamismus: Die Präsidentschaft Sadats und ihre Auswirkungen auf die koptische Gemeinschaft
Auf dem Weg in den Gottesstaat? Die Kopten angesichts des politischen Islamismus der 1970er Jahre
Der Eklat: Der Papst im Exil
Patriarch und Präsident kooperieren: Die koptische Kirche zur Regierungszeit Mubaraks
Kirche und Staat im Angesicht des Terrorismus
Rückzug aus der Gesellschaft
Revolution: Christentum in Ägypten zwischen der Angst vor den Muslimbrüdern und dem Schutz des starken Mannes
Die Revolution von 2011 und die Herrschaft der Muslimbrüder
Die Kirchen und der Feldmarschall: Die Präsidentschaft von Abdalfattah al-Sisi
Bemühungen um interreligiöse Verständigung
Ausblick: Anpassung, Isolation, Integration
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
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Christen im Nahen Osten: Zwischen Martyrium und Exodus
 353427069X, 9783534270699

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Christen im Nahen Osten

Matthias Vogt

Christen im Nahen Osten Zwischen Martyrium und Exodus Mit einem Vorwort des chaldäischen Patriarchen Louis Raphaël Kardinal Sako

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Larissa Ullmann, Darmstadt Satz: Sabine Ufer, Leipzig Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt Einbandabbildung: Saidnaya, Liebfrauenkloster / akg-images / Bildarchiv Steffens Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27069-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74424-4 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74425-1

Inhalt Vorwort von Louis Raphaël Kardinal Sako . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen . . . . . . 23 Konstantinopel und die anatolischen Provinzen des Osmanischen Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Jungtürken an der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs . . . . . . . . . . . . . . . 40 Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Syrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Persien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Entwicklungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die konstitutionelle Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Der Nahe Osten am Vorabend des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . 64

Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Christentum am Bosporus, in Kleinasien und Armenien von der Frühzeit bis ins 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Vertreibung und Ermordung: das Schicksal der Christen Anatoliens im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Vertreibung aus dem Hakkari: das Schicksal der Assyrer . . . . . . . . . . 71 Die Vernichtung des armenischen Christentums in Anatolien . . . . . . . 72 Saifō – das Jahr des Schwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Träume von der Unabhängigkeit: Orientalische Christen und die Friedensverhandlungen von Paris. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Staatswerdung im Zeichen von Vertreibung: die Entstehung der Republik Türkei und die christlichen Minderheiten . . . . . . . . . . . . . 84 Die griechische und armenische Gefahr: Der Vertrag von Sèvres und die türkische Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Exodus: Der Vertrag von Lausanne und die Umsiedlung der Griechen . . 90

6

Inhalt

Atatürk und die Christen: Leben im kemalistischen Staat . . . . . . . . . . . . 93 Revolution auf allen Ebenen: Aufbau und Charakteristik des kemalistischen Staats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Türkifizierung Anatoliens: Das Schicksal von Kurden, Armeniern und Syrern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Drangsalierung und Ausgrenzung: türkische Politik gegenüber Griechen und Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Entspannung und Konflikt: Die Griechen der Türkei im Spannungsfeld der internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Türkei und die Armenier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Syrische und assyrische Christen im Tur Abdin und Hakkari . . . . . . . 111 Diskriminierung und Auswanderung: Christen in der Türkei im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Ethnische Minderheiten und Ausländer: die christlichen Kirchen in der Türkei heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Diskriminierung, Verachtung, Gewalt: rechtliche Lage und ­ gesellschaftliche Stellung von Christen heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ausblick: Zwischen Assimilation, Selbstbehauptung und Auswanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Das Christentum in Persien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Perser, Araber und Mongolen: Christen in Persien von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Spielball von Katholiken, Protestanten und Russen: Christliche Gemeinden in Persien im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . 131 Vernichtung und Vertreibung: Der Erste Weltkrieg und das Schicksal der Christen in Aserbaidschan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Flucht in den Kaukasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Rückkehr, Rache, Räubertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Massaker, Selbstverteidigung und Vergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Von Urmia in den Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Rückkehr und Neuaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Im Schatten des Pfauenthrons: Die Pahlavis und die Christen . . . . . . . . . 145 Säkularisierung und Persifizierung: Die christlichen Minderheiten unter Reza Schah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Unter dem Schutz Seiner Majestät: Christen im Iran unter Mohammad Reza Schah. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Mollahs und die Christen: Leben in der Islamischen Republik. . . . . . . 156 Christen in den Wirren der Islamischen Revolution . . . . . . . . . . . . . 156 Diskriminierung und Ausgrenzung: Gesetzliche Rahmenbedingungen für das Leben der iranischen Christen und das Wirken der Kirchen . . . . 162

Inhalt

7

Der Kampf um die eigene Identität: der Streit um die armenischen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Anpassung als Überlebensstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Zwischen Ausgrenzung, Dialog und Emigration: Perspektiven für das Christentum im Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die christlichen Gemeinden in Mesopotamien von der Frühzeit bis heute . . . 173 Die Tradition der Kirche des Ostens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die Christen im Irak heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Die schwierige Staatswerdung: Stämme, Konfessionen und die religiösen Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Der Irak am Ausgang des 1. Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Der unabhängige Irak und die „Assyrische Frage“ . . . . . . . . . . . . . . 182 Integration oder Autonomie? Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . 189 Christentum und Kommunismus: Zwischen Monarchie und dem Aufstieg der Baath-Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Revolution und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Christen und Kurden: Eine Schicksalsgemeinschaft? . . . . . . . . . . . . 192 Die Kirche und die Herrschaft der Baath-Partei . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Saddam Hussein und der starke Staat: Möglichkeiten und Grenzen christlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Die US-Invasion und ihre Folgen: Ende der christlichen Gemeinschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Der Sturz Saddam Husseins und die neue Ordnung . . . . . . . . . . . . . 205 Terror und Gewalt: Christen vor dem Exodus . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kurdistan: Der sichere Hafen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Aufstieg und Fall des Islamischen Staats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Niniveh: Vergangenheit und Zukunft der irakischen Christen . . . . . . . 222 Die Perspektiven: Gehen oder Bleiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Konfessionen und Konfessionalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die Christen des Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Muslime und Drusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Libanon, Heimat der orientalischen Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Der Konfessionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Das Projekt „Grand Liban“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Arabischer und libanesischer Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Phönizier, Mittelmeervolk oder Araber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Von der Krise des Grand Liban zum Nationalpakt . . . . . . . . . . . . . . 246 Das Schicksal des Nationalpakts bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs . . . 250

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Inhalt

Der Bürgerkrieg: Kampf der Maroniten um ihr Land . . . . . . . . . . . . . . . 253 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Christen und Palästinenser: Der Weg in den Bürgerkrieg . . . . . . . . . . 255 Milizen und Allianzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Keine Reformen unter der Drohung von Kanonen! . . . . . . . . . . . . . . 259 Syrien, Retter der Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Der christliche Kleinstaat und die Spaltung der Maroniten . . . . . . . . . 263 Ein Bündnis mit Israel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Kampf zwischen Christen und Drusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Befreiungskrieg und Bruderkrieg: Durch das Chaos zum Abkommen von Taʼif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Wiederaufbau auf tönernen Füßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Kein Sieger und kein Verlierer: Die Christen des Libanon nach dem Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Zwischen Syrien und der Hisbollah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Vorzimmer des syrischen Bürgerkriegs: der Libanon seit 2011 . . . . . . . . . 280 Abgrenzung oder Zusammenarbeit? Der Libanon am Scheideweg . . . . . . 283

Syrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Von Paulus zur Jungfrau von Saidnaya: Christentum in Syrien von der Frühzeit bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Quo vadis, Syrien? Die politische Rolle der Christen in der französischen Mandatszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Die Christen und der König: Syrien zwischen Emir Faisal und dem französischen Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Zwischen Drusen, Nationalisten und Franzosen: Christen im Großen Syrischen Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Beteiligung am nationalen Projekt: Christen in der Politik der späten 1920er und 30er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Jazira, Sammelbecken für Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Radikalisierung und Konfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Der Zweite Weltkrieg und der Weg in die Unabhängigkeit. . . . . . . . . . 306 Republik und Militärdiktatur: Autoritäre Säkularisierung und die Reaktion der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Die Herrschaft der Baath-Partei: Kultusfreiheit und Konformismus . . . . . . 310 Säkularisierung und Verstaatlichung: Christliche Identität in Gefahr? . . 310 Das Ende der Säkularisierungspolitik und die Islamisierung des öffentlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Zwischen Staatsmacht und Islamisten: Christen im syrischen Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Von Protesten zum Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Radikalisierung und Aufstieg der islamistischen Extremisten . . . . . . . 318

Inhalt

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Zerstörte Häuser – zerstörte Seelen. Die humanitäre Lage . . . . . . . . . . 320 „Man will, dass die Christen verschwinden!“: Christen im Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Aus den „Fehlern der Vergangenheit“ lernen oder den „rechtmäßig gewählten Präsidenten“ stützen? Die Kirchen und der Syrienkonflikt. . . 326 Perspektiven: Sicherheit und Konformismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Palästina und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Das Heilige Land und seine Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Das Drei-Mal-Heilige Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Heiliges Land – Heilige Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Das Leben der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Die Christen und die Palästina-Frage: Die Zeit des britischen Mandats . . . . 344 Christlich-muslimische Vereinigung: Gemeinsamer Widerstand gegen die jüdische Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Die Christen und der Mufti: Entfremdung zwischen christlichen und muslimischen Palästinensern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Der Weg zur Teilung Palästinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Katastrophe oder Hoffnung? Die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Nakba: Flucht und Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Christen im jüdischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Terroristen oder Freiheitskämpfer? Christen im israelisch besetzten Westjordanland und ihre Rolle im palästinensischen Widerstand . . . . . . . 369 Vom Sechs-Tage-Krieg zur Ersten Intifada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 „Intifada des Himmels und Intifada der Erde“: Christen und der palästinensische Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Zwischen radikalen Siedlern und aufsteigendem Islamismus: Christen in Israel und Palästina seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Palästina: hinter Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Israel: zwischen Falken und Tauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Fazit: Anpassung oder Auswanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Jordanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Beduinen und Missionare: das Ostjordanland am Ende der osmanischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Von den Osmanen zu den Haschemiten: Transjordanien und seine christlichen Stämme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 An beiden Ufern des Jordan: Christen im unabhängigen Jordanien . . . . . . 397 Nationalisten, Kommunisten, Freiheitskämpfer: jordanische und palästinensische Christen im Königreich Jordanien . . . . . . . . . . . . . 397

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Inhalt

Christliche Identität im arabischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Jordanien: Heimat für Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien . . . . . . . . 405 Perspektiven: Die Große Jordanische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Vergangenheit und Gegenwart des Christentums am Nil . . . . . . . . . . . . 410 Zwischen Nationalismus und Islamismus: Die Christen Ägyptens in der Zeit der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Kreuz und Halbmond: Kopten und Muslime vereint im Kampf für die Unabhängigkeit Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Klerus oder Laien: Wer vertritt die koptische Gemeinschaft? . . . . . . . . 419 Ausgrenzung und Abgrenzung: Gesellschaftliche Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Der Umbau der Gesellschaft unter Nasser: Instrumentalisierung, Marginalisierung und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Im Banne des Magiers: Die Kirche im Dienst Nassers . . . . . . . . . . . . . 423 Erneuerung im Zeichen der Ausgrenzung: Neue Zeiten für die koptische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Vom Nationalismus zum Islamismus: Die Präsidentschaft Sadats und ihre Auswirkungen auf die koptische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . 429 Auf dem Weg in den Gottesstaat? Die Kopten angesichts des politischen Islamismus der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Der Eklat: Der Papst im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Patriarch und Präsident kooperieren: Die koptische Kirche zur Regierungszeit Mubaraks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Kirche und Staat im Angesicht des Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . 434 Rückzug aus der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Revolution: Christentum in Ägypten zwischen der Angst vor den Muslimbrüdern und dem Schutz des starken Mannes . . . . . . . . . . . . . . 440 Die Revolution von 2011 und die Herrschaft der Muslimbrüder . . . . . . . 440 Die Kirchen und der Feldmarschall: Die Präsidentschaft von Abdalfattah al-Sisi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Bemühungen um interreligiöse Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Ausblick: Anpassung, Isolation, Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Vorwort

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in Buch über die Christen des Orients: als der Verfasser mir bei einem Besuch in Bagdad von diesem Projekt erzählte, war ich sofort begeistert und habe spontan zugestimmt, ein Vorwort zu schreiben. Eine Darstellung der aktuellen Situation der Christen des Orients und ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert schien mir eine Lücke zu füllen und zu einem tieferen Verständnis dessen beizutragen, was sich derzeit in den Ländern des Nahen und Mittleren Osten abspielt. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, dass die Christen im Nahen Osten in unserer Zeit verfolgt sind und ihre Existenz bedroht ist. Die Auswanderung der Christen hat eine lange Geschichte, die noch vor dem 20. Jahrhundert begonnen hat. Die Gründe dafür sind vielfältig: die wirtschaftliche Unterentwicklung und die Armut in bestimmten Regionen, Schikanen durch die staatlichen Behörden und gesellschaftliche Diskriminierung, die zahlreichen Staatsstreiche und eine Politik der Nationalisierung der Unternehmen in den 1950er und 60er Jahren, die Unterdrückung durch autoritäre politische Regime, die Kriege und der Terrorismus ... Die Gewalt hat einen Höhepunkt erreicht nach der amerikanischen Invasion im Irak, mit der Schaffung von Milizen auf konfessioneller Basis und dem Aufstieg des Fundamentalismus und Terrorismus. Der Bürgerkrieg in Syrien hat die Gefährdung des Christentums im Orient noch erhöht. Galt Syrien lange als sicherer Hafen für die von Gewalt bedrohten Christen des Irak, ist es selbst zur Bühne eines blutigen Konflikts geworden, der viele Christen die Hoffnung auf eine Zukunft im Orient verlieren lässt. Die Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staats, die Bedrohung der Stadt Aleppo, des Zentrums des Christentums in Syrien, und die Besetzung Mossuls und der Niniveh-Ebene, der traditionellen Heimat des Christentums im Irak, werden wie ein Trauma in der Erinnerung der Christen des Orients bleiben. Die Schrecken des Krieges und der Fanatismus der Terroristen treffen die Bevölkerungen dieser beiden Länder ohne Ansehen ihrer Religion. Die Unsicherheit, die dort herrschte und die immer noch bestimmte Regionen beherrscht, hat aber in besonderer Weise die christlichen Gemeinden geschwächt. Seither erreichen die Zahlen von Christen, die diese Länder verlassen, eine Größenordnung, wie sie die Geschichte bisher nicht kannte. Der Exodus der Christen des Orients ist eine der größten Sorgen der orientalischen Patriarchen und Bischöfe. In diesem Zusammenhang scheint mir der Ansatz dieses Buches interessant zu sein: den Akzent auf die Inte­ gration der Christen in die Gesellschaften ihrer Länder und ihr Engagement auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu setzen. Diese Perspektive erinnert uns daran, dass die Christen des Orients trotz der zahlreichen Leiden, die sie im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert getroffen haben, nicht passive Opfer sind, sondern Handelnde, die den Gang der Geschichte beeinflussen. Sie haben in ihrem eigenen Interesse genauso gewirkt wie für das Wohl ihrer Länder, und sie wirken weiterhin in diesem Sinne.

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Vorwort

Frieden und Stabilität sind die grundlegenden Bedingungen dafür, dass die Christen in ihren Ländern bleiben und dass diejenigen, die vor Fanatismus, Gewalt und Krieg geflohen sind, nach Hause zurückkehren können. Die Heftigkeit der Kriege und der Aufstieg terroristischer Gruppen im Irak und in Syrien wäre nicht möglich gewesen ohne das Mitwirken bestimmter Akteure auf regionaler und internationaler Ebene. Das Übel beruht vor allem auf dem Verkauf und der Verbreitung von Waffen, ein Übel, das der Heilige Vater (Papst Benedikt XVI. genauso wie Franziskus) und die orientalischen Patriarchen immer wieder angeprangert haben. Darunter leiden nicht nur die Christen, sondern die gesamten Bevölkerungen der von Krieg und Terrorismus betroffenen Länder. Ich lade alle dazu ein, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um den Fanatismus zu bekämpfen und den Frieden wiederherzustellen. Damit der Frieden aber dauerhaft sein kann, muss er von sozialer Gerechtigkeit und einem gegenseitigen Respekt zwischen den Menschen unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Völkern begleitet sein, einer Verfassung, die auf gleicher Staatsbürgerschaft und nicht auf einer Religion beruht. Wir dürfen nicht mehr in den Kategorien von Minderheit und Mehrheit denken. Der einzige Standard muss die Staatsbürgerschaft sein. Die Christen des Orients verlangen, in ihrer Würde und ihren Menschenrechten geachtet zu werden. Das ist die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben. Um das zu erreichen, müssen wir den Muslimen helfen, den Islam mit der Modernität und der Idee einer Staatsbürgerschaft zu versöhnen, die auf der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruht. Wir streben keinen laizistischen Staat an, der die Religion auf den Privatbereich beschränkt, sondern einen zivilen Staat, der eine positive Sicht auf die Religionen hat und die Zusammenarbeit zwischen den Anhängern unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und zwischen religiösen und politischen Führungspersönlichkeiten fördert. Wir hoffen, in Zusammenarbeit mit unseren muslimischen Nachbarn eine Gesellschaft aufbauen zu können, die den Wert und die Würde jedes Einzelnen respektiert und in der die Einrichtungen des Staates tatsächlich den Menschen dienen. Wir erwarten von den Politikern, dass sie ihrer Verantwortung für die ganze Gesellschaft gerecht werden. Präsidenten, Regierungen, Parlamentsabgeordnete und Mitglieder der politischen Parteien, inklusive der christlichen Parteien, sind aufgerufen, im Sinne des Gemeinwohls zu arbeiten, anstatt ihren persönlichen Interessen zu dienen und denen ihrer Klientel und Stämme zulasten der anderen. Wie können wir auf ein dauer­haftes harmonisches Zusammenleben zwischen den verschiedenen Komponenten der Gesellschaft hoffen, wenn gleichzeitig Verantwortungslosigkeit, Ungerechtigkeit, Korruption und mangelndes Interesse an einem Funktionieren des öffentlichen Dienstes herrschen? Harmonisches Zusammenleben mit unseren muslimischen Nachbarn und gegenseitiges Vertrauen sind unabdingbar für die Zukunft der Präsenz von Christen im Orient. Aber dieses Zusammenleben ist bedroht von bestimmten Richtungen im Islam, die leider heute sehr sichtbar sind und die die Überlegenheit der Muslime gegenüber den Anhängern anderer Religionen predigen. Aus diesem Grund müssen die muslimi-

Vorwort

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schen Autoritäten den religiösen Diskurs und die Programme der religiösen Erziehung reformieren mit dem Ziel, die Rechte jedes Einzelnen und die Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens zu verteidigen und zu schützen. Wir Christen wünschen uns, einen ehrlichen Partner zu finden in einem gemäßigten Islam, der auf seine menschlichen Werte vertraut und auf eine Spiritualität baut, die ihre Wurzeln in der koranischen Lehre hat, nach der die Christen die engsten Freunde der Muslime sind (siehe Koran 5,85). Aber wir müssen auch unsere eigenen Herzen bekehren, um unsere muslimischen Nachbarn als Geschwister und Mitbürger anzunehmen. Angesichts der Verletzungen durch die Ereignisse der letzten Jahre wird dies eine enorme Anstrengung erfordern und nicht ohne die Bitte um die Gnade Gottes möglich sein. Schließlich ist die Einheit der Christen des Orients, die in so viele Kirchen und Gemeinschaften gespalten sind, ein großes Anliegen unserer Gläubigen. Sie wollen ihren eigenen Traditionen treu und ihrer besonderen Identität verhaftet bleiben, fühlen sich aber mehr und mehr geeint angesichts der Gefahren, die ihnen drohen. Sie empfinden die konfessionellen und ethnisch-nationalen Unterschiede oft als Barrieren, die sie daran hindern, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam die Herausforderungen der heutigen Zeit anzugehen. Wir, Patriarchen, Bischöfe und Pastoren, sind aufgerufen, mit einer Stimme zu sprechen und die Initiativen unserer Gläubigen für die Ökumene und die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen zu unterstützen. Mit Blick auf das staatsbürgerliche Engagement der Christen müssen wir uns die Frage stellen, ob wir genug tun, um ihre Anstrengungen für das Gemeinwohl und die Ordnung des Staates im Lichte des Evangeliums und der kirchlichen Soziallehre zu fördern. Damit wir Christen des Orients eine Zukunft in unserer Region, der Wiege des Christentums, haben, brauchen wir Stabilität und Frieden in den Ländern, die immer noch von Krieg und Gewalt erschüttert sind. Nicht zuletzt müssen wir für die Einheit der Christen des Orients beten, damit wir den Auftrag, der uns anvertraut ist, besser erfüllen können: Brückenbauer und Friedensstifter zu sein und eine Atmosphäre des Dialogs, des Respekts und des Zusammenlebens zu schaffen. Die Beziehungen mit unseren Freunden im Westen, ihre Solidarität und ihre Unterstützung ermutigen uns, in unseren Ländern zu bleiben, auf unserem Land und in unseren Kirchen. Wenn es im Orient keine Christen mehr gibt, wird das Christentum seiner Wurzeln beraubt sein. Wir brauchen eure menschliche und spirituelle Unterstützung sowie eure Solidarität, Freundschaft und Nähe, „bis das Unheil vorüber geht“ (Psalm 57,2). Ich hoffe, dass dieses Buch von Matthias Vogt dazu beiträgt, diese Beziehungen zu stärken, indem es die Kenntnis unserer Lebenswirklichkeit, unserer Traditionen und unserer Geschichte vertieft. Louis Raphaël Card. Sako Chaldäischer Patriarch von Babylon Bagdad, Irak

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ür diese Arbeit wurden Quellen sehr unterschiedlicher Natur genutzt. Wissenschaftliche Literatur, Berichte von Menschenrechtsorganisationen, Selbstdarstellungen der Kirchen, autobiographische Werke, Interviews und Gespräche von Journalisten mit Kirchenvertretern, öffentliche Stellungnahmen von Kirchenführern zu aktuellen Fragen, Artikel zur Situation von Christen in kirchlichen oder kirchennahen Zeitschriften. Zu vielen Fragen gehen die Auffassungen der unterschiedlichen Autoren sehr weit auseinander, ja stehen sich teilweise polemisch gegenüber. Dies gilt vor allem für den Nahostkonflikt, der das Verhältnis von Juden und Arabern (muslimischen wie christlichen) überschattet, und die Tragödie, die während des Ersten Weltkriegs über die Armenier und andere Christen Anatoliens kam. Die Tatsache, dass bestimmte Autoren und Werke zitiert oder im Literaturverzeichnis aufgeführt sind, heißt nicht, dass der Verfasser des vorliegenden Werks ihre Ansichten teilt. Das betrifft insbesondere die Frage, ob die Ereignisse des Ersten Weltkriegs in Anatolien als Völkermord einzustufen sind. Auch an Stellen, an denen im vorliegenden Werk der Begriff „Völkermord“ verwendet wird, bedeutet dies nicht, dass der Verfasser eine Einordnung als Genozid im Sinne des Völkerrechts vornehmen möchte. Dies ist nicht Aufgabe einer historischen Darstellung, sondern der Juristen. Auch eine wie auch immer geartete Kollektivschuld des türkischen oder kurdischen Volks soll hier nicht konstatiert werden. Wer die Darstellung aufmerksam liest und auch die Vorgeschichte betrachtet, wie sie in diesem Werk dargestellt ist, wird merken, welche komplexen Zusammenhänge zu den tragischen Ereignissen geführt haben. Das soll nicht heißen, dass es keine Schuldigen gibt oder gar, dass die Opfer für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind. Als geschichtliche Einführung möchte das vorliegende Werk aber erklären. Über Schuld und Unschuld muss an anderer Stelle entschieden werden. In diesem Werk werden immer wieder Begriffe aus verschiedenen orientalischen und europäischen Sprachen angeführt, die ein anderes als das lateinische Alphabet verwenden. Für das Arabische, das Persische und das osmanische Türkisch wird eine leicht variierte Form der Umschrift benutzt, die die Deutsche Morgenländische Gesellschaft empfiehlt. In einer daran angelehnten Form werden auch syro-aramäische und hebräische Begriffe transliteriert. Für das Armenische wird die Umschrift der Révue des Études Arméniennes angewandt. Für das Griechische wird versucht, den Lautstand des neuzeitlichen Griechisch so gut es geht zu beachten, die Schreibung des Griechischen aber möglichst transparent zu halten. Unterschiedliche zeitliche Sprachstufen (osmanisches Türkisch, modernes Türkisch) und regionale Ausprägungen (Ostund Westarmenisch, Ost- und Westsyrisch) oder die Verwendung von Wörtern arabischen Ursprungs im Persischen und Türkischen führen dazu, dass Wörter gleichen Ursprungs bisweilen nicht gleich geschrieben bzw. transliteriert werden. Für Begriffe,

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die auch im Deutschen oder anderen europäischen Sprachen üblich geworden sind, oder die in diesem Werk sehr häufig verwendet werden, wurde die bekannte bzw. eine vereinfachte Schreibweise verwendet (z. B. Scharia, Dschihad, Pascha). Bei vereinfachter Schreibung gilt, dass j für ǧ (ausgesprochen: dsch) und th/dh für stimmloses/ stimmhaftes „TH“ (wie englisch thousand/the), s stets für stimmloses, z für stimmhaftes s (nicht für ts) steht. Ortsnamen und Landschaftsbezeichnungen haben für die Bewohner eine hohe Bedeutung. Orte, die im Laufe der Zeit oder gleichzeitig von mehreren Völkern bzw. Sprachgruppen bewohnt wurden, tragen oft sehr unterschiedliche Namen (z. B. Konstantinopel, Istanbul). Je nach Kontext wird in diesem Werk die eine oder die andere Form des Namens verwendet, wobei die im Deutschen übliche Schreibweise benutzt wird (z. B. Smyrna statt griechisch Smyrnī, Izmir statt türkisch İzmir). Grundsätzlich werden geläufige Ortsnamen in der im Deutschen üblichen Form wiedergegeben (z. B. Kairo und nicht al-Qāhira, Jerusalem). Auch weniger bekannte Orte und Landschaften erscheinen hier in einer vereinfachten Schreibung, um das Schriftbild nicht unnötig zu belasten (z. B. Jabal Druze anstelle von Ǧabal Durūz, ausgesprochen: Dschabal Drus). Personennamen werden für die Neuzeit in der im deutschen Sprachraum bekannten Form wiedergegeben, nicht in wissenschaftlicher Transkription (z. B. Gamal Abdel Nasser statt Ǧamāl ʿAbd al-Nāṣir). Auch die Personen selbst verwenden je nach Adressat unterschiedliche Formen ihres Namens (Buṭrus, Pierre, Pietro, Peter). Je nach europäischer Beeinflussung der Region werden zudem in der wissenschaftlichen Literatur und in Presseberichten unterschiedliche Schreibweisen desselben Lautes verwendet (z. B. Chamoun und Shimʼun jeweils für den Laut sch). Hier wird die in zeitgenössischen Texten übliche Schreibung des Namens verwendet. Inkonsequenzen sind leider unvermeidlich. Für katholische Würdenträger wurde bis auf wenige Ausnahmen die Namensform des Annuario Pontificio, für orthodoxe die des Kirchenverzeichnisses Orthodoxia verwendet. Namen europäischer Herkunft werden in der üblichen Form geschrieben, wobei für kirchliche Würdenträger der Kirchen byzantinischer Tradition in der Regel die griechische Form bevorzugt wird (z. B. Gregorios statt Gregorius). Nicht-europäische Eigennamen aus der vormodernen Zeit werden – sofern sie im deutschen Sprachraum nicht bereits allgemein bekannt sind – in wissenschaftlicher Transkription wiedergegeben. Verwirrend mag schließlich die Bezeichnung der zahlreichen Kirchen und Konfessionen sein. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Eigen- und Fremdbezeichnungen dieser Kirchen immer wieder gewechselt. Manche waren in den Augen der einen pejorativ, in den Augen der anderen neutral. Manche haben ihre Wertigkeit verändert. So bezeichnete sich die Kirche des Ostens über Jahrhunderte selbst als „nestorianisch“. Erst im 19. Jahrhundert wurde diese Bezeichnung von ihren Anhängern mehr und mehr als abwertend und unzutreffend empfunden. Es setzte sich die Benennung „Assyrische Kirche“ und für die Gläubigen „Assyrer“ durch. Ähnliches gilt für die syrisch-orthodoxe Kirche, die nach ihrem Reorganisator Jakob Barradäus lange als

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„jabobitische Kirche“ bezeichnet wurde (und sich selbst auch so bezeichnet hat). In späteren Zeiten wurde die türkische Bezeichnung Suryani kadim, „Altsyrer“, üblich. Die Bezeichnung „syrisch-orthodoxe Kirche“ ist für die Zeit vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Anachronismus. Angehörige der orthodoxen Kirche byzantinischer Tradition im Patriarchat von Antiochien ziehen heute die Bezeichnung „rum-­ orthodox“, von arabisch: Rūm, (Ost-)Rom, dem Namen „griechisch-orthodox“, der eine Verbindung zur griechischen Ethnie zu implizieren scheint, vor. Im vorliegenden Werk werden aus Gründen der Eindeutigkeit und bisweilen auch des Satzbaus die Bezeichnungen weitgehend unterschiedslos verwendet, wobei versucht wurde, allzu krasse Anachronismen zu vermeiden. Eine irgendwie geartete Wertung ist durch die Bezeichnung nicht intendiert.

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ies ist keine Geschichte des Exodus, der Auswanderung von Christen aus dem Nahen Osten. Dies ist die Geschichte ihrer Gegenwart. Aber diese Gegenwart ist im ganzen 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert geprägt von Ermordung, Vertreibung und Flucht. In anderen Fällen von Abgrenzung, innerer Emigration und Isolation. Beides lässt sich als Exodus beschreiben. Aber dies ist bei weitem nicht alles. Im Positiven geht es in diesem Buch um Integration, politische Teilhabe und Kooperation der Christen des Nahen Ostens mit ihren Nachbarn. Es geht um ihr Zeugnis, griechisch: martyrion. Ihr Zeugnis dafür, dass sie sich am Aufbau des Gemeinwesens in den Ländern des Orients beteiligen wollen. Als Christen in Gemeinschaft mit ihren muslimischen und – im Falle Israels – jüdischen Mitbürgern. Oft standen Christen nicht vor der Wahl. Sie wurden ermordet oder vertrieben. In anderen Fällen, wenn etwas Neues entstand – so bei der Entstehung der arabischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg, beim Aufbau eines neuartigen Gemeinwesens in Israel, beim Friedensschluss nach dem libanesischen Bürgerkrieg, bei der Revolution gegen autokratische Herrscher während des Arabischen Frühlings, ja auch beim Sturz Saddam Husseins – standen Christen vor der Wahl: Teilhabe und Mitgestaltung der Entwicklungen oder Abgrenzung und Schutz der eigenen Identität? Aus diesen wenigen einführenden Worten sollte bereits deutlich geworden sein, dass es sich bei diesem Buch nicht um eine Kirchen- oder Konfessionsgeschichte handelt. Zwar wird die Positionierung der Kirchen immer wieder dargestellt, aber es geht nicht primär um innerkirchliche Entwicklungen. Es geht um gesamtgesellschaftliche Fragen und die Rolle, die Christen, oft angeleitet von den Kirchenführern, darin gespielt haben. Die Geschichte der einzelnen Kirchen der fünf im Nahen Osten vertretenen Familien ist an anderer Stelle bereits ausreichend beschrieben worden. Dennoch muss hier kurz auf die Vielfalt der Kirchen im Nahen Osten verwiesen werden. Historisch bedingt ist sie durch die christologischen Streitigkeiten des 5. Jahrhunderts, die Union von Teilen der orientalischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche seit dem 16. Jahrhundert und das Wirken protestantischer Missionare im Nahen Osten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Heute bestimmen fünf Kirchenfamilien das Leben der Christen in der Region: die orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition (in den Patriarchaten Alexandrien, Antiochien, Konstantinopel und Jerusalem), die altorientalischen Kirchen (Kopten, Syrer, Armenier), die Kirche des Ostens (in den rivalisierenden Patriarchaten von Chicago/seit 2016 Erbil und Bagdad), die katholischen Kirchen (die Maroniten; die unierten Ostkirchen der Melkiten, Syrer, Armenier, Kopten und Chaldäer; die römisch-katholische Kirche im lateinischen Patriarchat von Jerusalem sowie den Apostolischen Vikariaten und Diözesen) und die evangelischen Kirchen und Gemeinschaften (Anglikaner/Episkopalkirche, Lutheraner, Kongregationalisten und

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Presbyterianer sowie zahlreiche evangelikale und freikirchliche Gruppen). Sie verfügen – mit Ausnahme der beiden Zweige der Kirche des Ostens – im Middle East Council of Churches (MECC) über eine Plattform für die ökumenische Zusammenarbeit. Gegenstand dieses Buches sind die Länder des Nahen und Mittleren Ostens, die alteingesessene christliche Gemeinden haben: Türkei, Iran, Irak, Libanon, Syrien, Palästina und Israel, Jordanien und Ägypten. In den Ländern der arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Qatar, Vereinigte Arabische Emirate, Oman und Jemen) gibt es zwar auch teilweise bedeutende christliche Gemeinden, diese setzen sich aber zum allergrößten Teil aus Gastarbeitern zusammen, die nur temporär dort leben und von der Beteiligung an politischen Prozessen weitestgehend ausgeschlossen sind. Wegen ihres vorübergehenden Aufenthalts haben viele Christen dort auch von sich aus kein Interesse an politischer oder gesellschaftlicher Beteiligung. Ihr Engagement beschränkt sich in der Regel auf die Kirchengemeinden. Die Zahl der einheimischen Konvertiten zum Christentum ist verschwindend gering. Aus gesellschaftlichen und rechtlichen Gründen müssen sie – wenn sie überhaupt in ihren Heimatländern bleiben können – ein äußerst diskretes Leben führen. Ähnliches gilt für die christlichen Gemeinden in den Maghreb-Ländern Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko. Auch hier bestehen die christlichen Gemeinden zum allergrößten Teil aus Ausländern (Arbeitsmigranten, Studenten oder Flüchtlingen), denen eine Teilhabe am politischen Leben weitgehend versagt ist. Aus diesen Gründen wurde auf die Darstellung dieser Länder im vorliegenden Werk verzichtet. Der Anteil der Christen an der Bevölkerung der Länder des Nahen und Mittleren Osten hat im 20. Jahrhundert dramatisch abgenommen. Verlässliche Zahlen sind allerdings für kaum eines der Länder zu ermitteln. Die Zahlen staatlicher Statistiken, sofern solche überhaupt vorliegen, werden von Kirchenvertretern grundsätzlich als zu niedrig eingeschätzt. Kirchliche Angaben liegen demgegenüber weit höher, meist jedoch ohne die Grundlagen der Erhebung offenzulegen. Sie sind in der Regel politisch motiviert: Zur Durchsetzung von Forderungen oder Inanspruchnahme von Rechten empfiehlt sich eine größere Zahl. Außerdem beruhen sie meist auf Schätzungen der Anzahl der Familien in den einzelnen Kirchengemeinden. Dabei ist nicht nur die Größe der Familien pauschalisiert, es kommt auch zu doppelter Zählung bei Wechsel des Wohnorts oder Auswanderung (Ursprungsort und aktueller Wohnort der Familie), bei gemischt-konfessionellen Ehen (Berücksichtigung der gesamten Familie in beiden Kirchen der Ehepartner) sowie zeitweiligem Besuch einer anderen Kirche (besonders häufig bei Personen, die zeitweilig evangelische Gottesdienste oder Gemeindeveranstaltungen besuchen, ohne jedoch ihre Konfession offiziell zu wechseln). Egal welche Zahlen man zugrunde legt – die in den einzelnen Kapiteln dieses Werks genannten Zahlen resultieren aus der eigenen Bewertung des Verfassers, der aus unterschiedlichen Quellen hervorgehende Zahlen berücksichtigt – es ist deutlich, dass der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung in den vergangenen hundert Jahren deutlich abgenommen hat. Gründe dafür sind die Auswanderung, von der Christen im Vergleich zu Muslimen (und im Falle Israels: Juden) in ungleich höherem Maß betroffen

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sind, und die Geburtenrate, die bei Christen in fast allen Ländern deutlich niedriger ist als die der Muslime. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen üblich. Im Ersten Weltkrieg kamen Ermordung, Vertreibung und Zwangsumsiedlung in Anatolien hinzu, bei der Gründung des Staats Israel Flucht und Vertreibung von Palästinensern gleich ob christlichen oder muslimischen Glaubens, im libanesischen Bürgerkrieg Emigration aus Gründen der Kriegswirren, im Irak seit 2003 Auswanderung aufgrund von Terror und Gewalt und in den letzten Jahren Vertreibung durch islamistische Gruppen in Syrien und im Irak. Der Exodus von Christen hat in jüngster Zeit ein solches Ausmaß angenommen, dass sich Beobachter und Kirchenvertreter Sorgen um den Fortbestand des Christentums in der Region, in der es entstanden ist, machen. Papst Franziskus brachte dies im Juli 2018 so zum Ausdruck: „Der Nahe Osten ist zu einem Land von Menschen geworden, die ihre Heimat verlassen. Und es besteht die Gefahr, dass die Präsenz unserer Brüder und Schwestern im Glauben ausgelöscht wird. Dies würde das Gesicht der Region selbst entstellen, denn ein Naher Osten ohne Christen wäre nicht mehr der Nahe Osten.“1 Dass Christen selbstverständlich zu den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens dazugehören, wird nicht nur von Kirchenführern betont. Auch führende Vertreter der Muslime wiederholen dies regelmäßig. So schrieb der (damalige) Kronprinz von Jordanien, Hassan ibn Talal, 1994 in seinem in mehreren Sprachen erschienen Buch über das Christentum in der arabischen Welt: „Zur Zeit wird in internationalen Kreisen und in der internationalen Presse viel Besorgnis um die Zukunft der christlichen Araber zum Ausdruck gebracht. Auch unter den Christen der arabischen Welt äußert sich viel Angst, insbesondere im Zusammenhang mit den Wellen von islamischem Funda­ mentalismus, die einige arabische Länder im letzten Jahrzehnt überrollt haben. […] Bestehen aber bleibt die Tatsache, daß christliche Araber in der islamisch-arabischen Gesellschaft keinesfalls Fremde sind. Die islamisch-arabische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Geschichte und Kultur sie bis zum heutigen Tag seit vierzehn Jahrhunderten ohne Unterbrechung geteilt haben und zu deren materieller und kultureller Zivilisation sie unaufhörlich in hohem Maße beigetragen haben, und zwar ebenso auf eigene Initiative hin wie als Antwort auf vertrauensvolles Ersuchen. Mit einem solchen Erbe von Vertrauen und Wohlwollen zu ihren Gunsten haben christliche Araber keine Veranlassung, sich mehr als andere Araber um ihre Zukunft zu sorgen.“2 In späteren Jahren wurde allerdings die Bedrohung der Präsenz von Christen im Nahen Osten auch von muslimischen Beobachtern immer deutlicher gesehen. Bei der Sondersynode der Bischöfe für den Mittleren Osten, die im Oktober 2010 auf Einladung von Papst Benedikt XVI. in Rom stattfand, äußerte sich Muhammad al-Sammak, 1 Beim Treffen des Papstes mit den Patriarchen des Nahen Ostens und anderen Vertretern der Ostkirchen in Bari, Einführende Worte des Heiligen Vaters zum Gebetstreffen in Bari, 7. Juli 2018, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2018/july/documents/papa-­francesco_20180707_ visita-bari-pace.html (abgerufen am 03.09.2018). 2 El Hassan bin Talal, Christianity in the Arab World, Amman 1994:97–98. Zitiert nach der deutschen Ausgabe Das Christentum in der arabischen Welt, Köln, Weimar: Böhlau, 2003:92–93

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der Berater des Muftis der Republik Libanon, sehr besorgt: „Die christliche Präsenz im Orient, die zusammen mit den Muslimen wirkt und handelt, ist genauso eine christliche wie eine islamische Notwendigkeit. Sie ist eine Notwendigkeit nicht nur für den Orient, sondern auch für die ganze Welt. Die Gefahr, die die Erosion dieser Präsenz auf quantitativer und qualitativer Ebene darstellt, ist Gegenstand der christlichen wie der islamischen Sorge, nicht nur für die Muslime des Orients, sondern für alle Muslime der ganzen Welt. Außerdem: Ich kann meinen Islam mit jedem Muslim jeglichen Stands und jeglicher Volkszugehörigkeit leben, aber als Araber des Mittleren Ostens kann ich mein Arabisch-Sein nicht ohne den arabischen Christen des Mittleren Ostens leben. Die Auswanderung der Christen ist eine Verarmung der arabischen Identität, ihrer Kultur und ihrer Authentizität.“3 In den Kapiteln dieses Buches wollen wir den Beitrag, den Christen zum Aufbau ihrer Länder und Gesellschaften im Nahen Osten geleistet haben, nachzeichnen. Dabei müssen angesichts der geschichtlichen Ereignisse aber auch immer wieder die Leiden beschrieben werden, denen sie durch Ermordung, Verfolgung und Vertreibung ausgesetzt waren. Die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich, im davon weitgehend unabhängigen Ägypten und in Persien bilden den Hintergrund für die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und die Rolle der Christen in den neu entstehenden oder sich reformierenden Staaten. In verschiedenen Ländern wurden oder werden sie durch Diskriminierung oder Ausgrenzung von gesellschaftlicher und politischer Beteiligung ausgeschlossen. Mancherorts haben sich Christen in eine Identität zurückgezogen, die sie glauben, bewahren zu müssen, die ihnen aber verbietet, ihre Mission für die Gesellschaft – aus christlichem Glauben oder der allgemeinen Menschlichkeit heraus – zu erfüllen. Die Anzahl der Christen ist klein geworden, aber ihr Auftrag besteht fort. Der Middle East Council of Churches beschreibt dies in einem Überblickswerk über das Christentum in der Region so: „Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die demographische Präsenz der nahöstlichen Christen ziemlich schwach ist. Aber wenn wir die historischen Gegebenheiten sorgfältig analysieren, werden wir entdecken, dass dieser Zustand nicht endgültig ist. Denn die Mission und das Zeugnis der ersten Christen in Antiochien und Jerusalem hing niemals an ihrer numerischen Existenz, sondern an der Qualität ihres Zeugnisses, das sie gegenüber ihren Zeitgenossen abgelegt haben.“4 3 „La présence chrétienne en Orient, qui oeuvre et qui agit avec les musulmans, est une nécessité autant chrétienne qu’islamique. C’est une nécessité non seulement pour l’Orient, mais aussi pour le monde entier. Le danger que représente l’érosion de cette présence au niveau quantitatif et qualitatif est une préoccupation autant chrétienne qu’islamique, non seulement pour les musulmans d’Orient, mais aussi pour tous les musulmans du monde entier. De plus, je peux vivre mon Islam avec tout autre musulman de tout état et de toute ethnie, mais en tant qu’arabe du Moyen-Orient, je ne peux pas vivre mon arabité sans le chrétien arabe du Moyen-Orient. L’émigration du chrétien est un appauvrissement de l’identité arabe, de sa culture et de son authenticité.“ Muhammad al-­Sammak, 14. Oktober 2010, http://www.vatican.va/news_services/press/sinodo/documents/bollettino_24_speciale-medio-­ oriente-2010/xx_plurilingue/b12_xx.html (abgerufen am 03.09.2018). 4 „Today, it is no longer a secret that the demographic presence of Middle Eastern Christians has become quite weak. But if we analyze thoroughly the historical givens we shall discover that this

Einführung

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Ich schreibe diese abschließenden Zeilen der Einführung am Rande einer Tagung in Rom, zu der das vatikanische Dikasterium für die ganzheitliche menschliche Entwicklung eingeladen hat, um über die humanitäre Krise in Syrien und im Irak zu beraten. Diese Konferenz sowie die jährlich stattfindenden Versammlungen der ROACO (Riunione Opere Aiuto Chiese Orientali), einer Vereinigung der Hilfswerke für die Ostkirchen, die der Kongregation für die orientalischen Kirchen untersteht, sind ein Zeichen dafür, welche Aufmerksamkeit die Lage der Christen, aber auch der geflüchteten und hilfsbedürftigen Muslime und anderer Gruppen im Nahen Osten seit Jahren auf höchster Ebene der katholischen Kirche findet. Derartige Konferenzen, zahlreiche Reisen in die Region sowie unzählige Gespräche mit Kirchenvertretern und Christen aus dem Nahen Osten, die ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Nahostreferent für das Interna­tionale katholische Missionswerk missio mit Sitz in Aachen in den vergangenen Jahren führen konnte, haben mir einen tiefen Einblick in das Denken und die Situation von Christen der Region vermittelt. Dafür bin ich sehr dankbar. Dieses Buch ist auch die Frucht dieser Begegnungen. Eine besondere Ehre ist es für mich, dass sich Patriarch Louis Raphaël I. Sako bereiterklärt hat, diesem Buch ein Vorwort voranzustellen. Es ist für mich von großer Bedeutung, dass dieses Werk auch die Aufmerksamkeit der Christen des Nahen Ostens findet. Danken möchte ich an dieser Stelle auch der Missions­ bibliothek und katholischen Dokumentationsstelle von missio in Aachen (mikado), deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit großem Einsatz Literatur für meine Arbeiten beschafft haben und mir bei der Suche nach Fotos behilflich waren. Auch den Verantwortlichen der Ostkirchenkongregation sei für den unkomplizierten Zugang zu ihrem Archiv und der Bereitstellung von Dokumenten gedankt. Otmar Oehring (Berlin/ Aachen), Yann Richard (Paris), Herman Teule (Leuven/Nimwegen), Harald Suermann (Aachen/Bonn), Rudolf Solzbacher (Köln) und Bernd Mussinghoff (Wien) haben Teile dieses Werks mit großer Aufmerksamkeit gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Dafür gilt ihnen mein herzlicher Dank. Shaghik Manjikian (Yerewan) war mir bei der Transliteration armenischer Namen behilflich und sei dafür vielmals bedankt. Mein Vater hat schließlich mit großer Sorgfalt die Korrekturen der letzten Version übernommen und ist das Werk aus der Sicht eines Fachfremden auf Verständlichkeit durchgegangen. Als Dank für diese Mühe, vor allem aber für seine Liebe und Fürsorge, sei ihm dieses Buch gewidmet. Zugeschrieben sei es aber auch all denjenigen, die sich für ein friedliches und vertrauensvolles Zusammenleben von Menschen aller Religionen und Kulturen im Nahen Osten einsetzen. μακάριοι οἱ εἰρηνοποιοί, ὅτι αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται. Der Abschluss dieser Einführung gilt noch einmal den Christen des Nahen Ostens. Kardinal Leonardo Sandri, Präfekt der Ostkirchenkongregation, hielt auf der oben genannten Tagung einen Vortrag unter dem Titel „Bereitet dem Herrn den Weg in der

matter is not final, for the mission and witness of the first Christians in Antioch and Jerusalem never depended on their numerical existence but rather on the quality of the witness rendered to their contemporaries.“ Middle East Council of Churches, Christianity: A history in the Middle East, Beirut, 2005:38.

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Einführung

Wüste“.5 Er will damit den geflüchteten Christen des Nahen Ostens Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat machen. Er beschreibt aber auch den Auftrag, den die Kirche im Nahen Osten hat: Nicht die eigenen Strukturen erhalten und Konflikten ausweichen, sondern mit der Logik des Evangeliums zu einer Lösung beitragen. Im Nahen Osten zu bleiben sei nicht einfach ein Recht, auf dem man bestehen könne, sondern „Berufung und Wahl“ und, ein Wort des verstorbenen griechisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien, Ignatios IV. Hazim, zitierend: „Die Mission aller Kirchen ist es, lebendiges und prophetisches Gewissen des Dramas unserer Zeit zu sein.“

Rom am Fest der Kreuzerhöhung 14. September 2018

5 Leonardo Cardinal Sandri, „Nel deserto preparate la via al Signore“: percorsi per il ritorno, pellegrinaggio alle sorgenti. Rede des Präfekten der Kongregation für die orientalischen Kirchen bei der Tagung über die humanitären Maßnahmen in Syrien und dem Irak, organisiert vom Dikasterium für die ganzheitliche menschliche Entwicklung, Rom, 14. September 2018.

Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen Konstantinopel und die anatolischen Provinzen des Osmanischen Reichs

D

as 19. Jahrhundert brachte für das Osmanische Reich und seine Bewohner das Hereinbrechen der Moderne und die Zunahme europäischen Einflusses. Militärisch und politisch geschwächt, waren die Sultane am Bosporus gezwungen, eine Reihe von Reformmaßnahmen durchzuführen, die entscheidende Veränderungen für die muslimische und nicht-muslimische Bevölkerung des Reichs mit sich brachten. Nach dem türkischen Begriff für Reformen wird diese Zeit als Periode der Tanzimat bezeichnet. Über Jahrhunderte waren Christen und Juden in den islamisch beherrschten Ländern dem ḏimma-Status unterworfen gewesen. Von den islamischen Juristen der ersten Jahrhunderte des Islam entwickelt, erlaubte er den Angehörigen der Buchreligionen (ahl al-kitāb) die Ausübung ihrer Religion im Rahmen der islamischen Ordnung. Öffentliche Demonstrationen ihres Glaubens wie der Bau neuer Kirchen, Prozessionen, lautes Singen oder die Verwendung von Kirchenglocken waren verboten. Als ahl al-ḏimma, geschützte Gemeinschaften, genossen sie aber den Schutz ihres Lebens und Eigentums. Er wurde gewährt als Gegenleistung für die Anerkennung der Vormachtstellung des Islam und war gebunden an die Entrichtung der ǧizya, einer Kopfsteuer für Nicht-Muslime, und verschiedene Kennzeichen der Unterordnung in der Öffentlichkeit, wie zum Beispiel Kleidungsvorschriften. Die Vorschriften wurden nicht zu allen Zeiten und in allen Gebieten mit gleicher Strenge eingehalten. Gerade auf dem Land lebten die Menschen außerhalb des unmittelbaren Sichtfelds der Herrschenden, oft in Dörfern, in denen nur eine einzige Religionsgemeinschaft vertreten war. Man sollte nicht davon ausgehen, dass das Leben der Nicht-Muslime dort von den ḏimma-Vorschriften – mit Ausnahme der Kopfsteuer – besonders beeinflusst wurde.1 In osmanischer Zeit wurden die Nicht-Muslime in sogenannten millets organisiert. Die Religionsgemeinschaften wurden dabei quasi als eigene „Völker“ betrachtet, die jeweils von ihrem religiösen Oberhaupt beim Sultan in Istanbul vertreten wurden. Der griechische Patriarch von Konstantinopel wurde bereits vom Mehmed dem Eroberer im Jahr 1454, ein Jahr nach der Einnahme der Stadt durch die Osmanen, als religiöses 1

Fattal 1958:71–313; Bat Yeʼor 1991:66–191, Bat Yeʼor 1994:33–129.

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Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert

und ziviles Oberhaupt der orthodoxen Gemeinschaften des Reichs anerkannt. Seine zivile Autorität wurde mit der Eroberung Syriens, Palästinas und Ägyptens in den Jahren 1516–1517 auch auf die Patriarchate Antiochien, Jerusalem und Alexandrien ausgedehnt. Für die Armenier musste ein vergleichbares Amt in der Hauptstadt erst eingerichtet werden. So schuf Mehmed 1479 das armenische Patriarchat von Konstantinopel und übertrug dem Patriarchen die zivile Leitung der Armenier. Im Prinzip unterstanden dem armenischen Patriarchen auch die Gemeinden der Syrer und Kopten sowie der Kirche des Ostens. Diese Autorität war aber nur theoretischer Natur; in der Praxis wurden diese Christen weiterhin von ihren eigenen Patriarchen bei den lokalen Behörden vertreten. Die Patriarchen verdankten ihre Autorität der Anerkennung durch den Sultan, der sie – nach der Wahl durch die kirchlichen Instanzen – durch einen Berat, eine Art Ernennungsurkunde, in ihr Amt einsetzte. Als milletbaşı, Haupt der millet, war der Patriarch für seine Gemeinschaft gegenüber dem Sultan verantwortlich, gleichzeitig garantierte der Sultan, dass seine Entscheide innerhalb der Gemeinschaft Gültigkeit hatten.2 Durch die Reformen des 19. Jahrhunderts wurde die traditionelle osmanische Gesellschaft gründlich umgebaut. Die Reformen waren zum größten Teil nicht ohne äußeren Druck in Angriff genommen worden. Die Niederlagen der Sultane gegen die europäischen Mächte und Russland hatten die Schwäche des Osmanischen Reichs offenbart. So zielte die erste Phase der Reformen hauptsächlich auf die Umstrukturierung des Militärs und die Verbesserung des Steuersystems, um die neu formierte Armee finanzieren zu können. Die Reformen hatten aber auch in besonderer Weise Auswirkungen auf die Nicht-Muslime. Vor allem diese Aspekte interessieren im Rahmen der vorliegenden Darstellung. 1839 erließ Sultan Abdülmecid I. (1839–1861) das Ḫaṭṭ-ı šerīf von Gülhane. Darin wurde allen Untertanen des Sultans ohne Ansehen ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit die Sicherheit ihres Lebens, ihrer Ehre und ihres Vermögens zugesichert. Alle Untertanen waren nun als Individuen dem Sultan in Bezug auf Steuererhebung und Wehrpflicht verantwortlich. Erstmals wurden Nicht-Muslime dabei nicht nach ihrer jeweiligen millet, ihrer Religionsgemeinschaft, definiert, sondern als tabaʿayı salṭānatı seniye, Untertanen Seiner Höchsten Majestät, direkt der Autorität des Sultans unterstellt. Das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn von 1856 setzte die Reformen fort. Im Umfeld des Krim-Kriegs (1853–1856), in dem Frankreich und England (ab 1855 auch Sardinien-Piemont) dem Osmanischen Reich gegen Russland zur Seite gesprungen waren, hatten die beiden Mächte auf weitere Verbesserungen für die nicht-muslimischen Untertanen des Sultans gedrängt. Das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn statuierte Rechtsgleichheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, erlaubte die Beschäftigung von Nicht-Muslimen im Staatsdienst auf allen Ebenen, sicherte die Vertretung der Nicht-Muslime in den Verwaltungsräten der Provinzen, regelte den Bau von Kirchen und ersetzte die ǧizya-Steuer (türkisch: cizye) für Nicht-Muslime durch den bedel-i ʿaskari, eine Ersatzsteuer für den Wehrdienst, zu dem sie nun formal verpflichtet 2

Braude 1982.

Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen

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waren. Damit war der ḏimma-Status des islamischen Rechts formal abgeschafft, auch wenn er im Bewusstsein der Bevölkerung noch lange weiterwirkte. Das Landgesetz von 1858 erlaubte osmanischen Untertanen und Ausländern den Erwerb von Grundbesitz. 1869 wurde ein Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen, nach dem jeder, der von osmanischen Eltern oder einem osmanischen Vater abstammte, unabhängig von seiner Religion und ethnischen Zugehörigkeit osmanischer Staatsbürger war.3 Über Jahrhunderte hatten die religiösen Häupter der Gemeinschaften die Vertretung der Gemeinschaften gegenüber dem Sultan bzw. den Provinzgouverneuren wahrgenommen. Ab dem frühen 19. Jahrhundert waren auch mehr und mehr weltliche Notable (Handels- und Verwaltungseliten) in diese Rolle hineingewachsen. Durch die Reformen wurden diese Vermittlungsinstanzen weitgehend durch individuelle Rechte des Einzelnen ersetzt. Allerdings fiel es der osmanischen Regierung schwer, den verschiedenen Gruppen (vor allem Griechen, Armeniern und Arabern, letztere zerfielen wiederum in mehrere Untergruppen) eine angemessene Beteiligung am politischen System zuzusprechen. Mehr und mehr wurde die numerische Stärke einer Gruppe als Argument ins Feld geführt (und damit auch der Begriff der Minderheit in die politische Diskussion eingeführt). Die Tatsache, dass die Eliten der Griechen und Armenier sowie die an den katholischen und protestantischen Missionsschulen ausgebildeten arabischen Christen stark von europäischen Vorstellungen in Bezug auf individuelle Freiheitsrechte und politische Konzepte geprägt waren, erzeugte unter ihnen eine zusätzliche Erwartung an das politische System, die oft nicht erfüllt wurde.4 Auf der anderen Seite blickten viele Muslime des Reichs mit gemischten Gefühlen auf die Reformen. Sie sahen die Vormachtstellung im Gemeinwesen gefährdet, die ihnen durch ihre Zugehörigkeit zur herrschenden Religion des Islam über Jahrhunderte selbstverständlich zugekommen war. Die Erlaubnis zum Bau von Kirchen, das Durchführen öffentlicher Prozessionen und der wachsende Reichtum der christlichen Händlerschicht beförderten die Ressentiments. Durch die Änderungen im Steuersystem und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden der gesamten Bevölkerung überdies bisher unbekannte Lasten auferlegt, die vor allem die unteren Schichten, die sich nicht freikaufen konnten, trafen. Gerade die arme muslimische Bevölkerung sah sich nun von den Christen überholt, die noch dazu auf die Protektion durch europäische Mächte zählen konnten. Das herkömmliche Verhältnis zwischen Christen als ahl al-ḏimma und Muslimen war gestört; die neue Lage war kaum noch mit dem traditionellen islamischen Bild der Gesellschaft vereinbar.5 Die Rechte der Nicht-Muslime wurden von der osmanischen Verfassung, die auf Druck der europäischen Mächte 1876 in Kraft gesetzt wurde, bestätigt. Sie sah neben einem Zwei-Kammer-System, bestehend aus einem vom Sultan ernannten Senat und einem in indirekten Wahlen bestimmten Abgeordnetenhaus, gleiche Rechte für alle 3 4 5

Lewis 1961:73–125; Karpat 1982:162–167; Augustinos 1992:57–74; Masters 2001:134–140. Göçek 2002:26. Masters 2001:130–134.

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Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert

osmanischen Staatsbürger ungeachtet ihrer Religion vor. Von den 115 gewählten Abgeordneten waren 67 Muslime und 48 Nicht-Muslime.6 Allerdings entließ Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) das Parlament bereits 1878 nach der Niederlage im russisch-türkischen Krieg und berief es bis zu der jungtürkischen Revolution von 1908 nicht mehr ein. Auf die Rechte der Minderheiten hatte dies allerdings keine direkten Auswirkungen.7 Die Reformen machten auch eine Reform des millet-Systems notwendig. Der Sultan hatte bereits seit 1830 neben den drei traditionellen millets der Griechen, Armenier und Juden weitere millets anerkannt: 1830 zunächst eine gemeinsame millet für alle katholischen Ostkirchen unter der Leitung des armenisch-katholischen Prälaten von Konstantinopel, 1843 erhielt der syrisch-katholische, 1844 der chaldäische Patriarch einen eigenen Berat, 1848 wurde die griechisch-katholisch-melkitische Kirche vom Sultan als eigene millet anerkannt8, 1850 eine armenisch-protestantische millet,9 1873 die syrisch-orthodoxe millet.10 Die traditionellen millets erhielten in den 1860er Jahren eigene Verfassungen: die Griechen 1862, die Armenier 1863. Die Verfassung der armenisch-orthodoxen Gemeinschaft sah eine Art Parlament von 140 Abgeordneten vor, die Armenische Nationalversammlung, die über wichtige Fragen beraten sollte und unter anderem den Patriarchen von Konstantinopel wählte. Außerdem wurden verschiedene Kommissionen zur Verwaltung der Klöster, der Schulen und anderer Einrichtungen geschaffen. Die Verfassung sah also eine breite Beteiligung der Laien an der Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten vor. Die Verfassung für das griechische Patriarchat von Konstantinopel, Ethnikoi Kanōnismoi, sah ebenfalls eine Nationale Generalversammlung vor, sicherte dagegen der Heiligen Synode, bestehend aus den zwölf Erzbischöfen des Fanar, zusammen mit dem Ständigen Gemischten Nationalrat, bestehend aus vier Bischöfen und acht Laien, die Wahl des Patriarchen. Der Einfluss der Laien war also weit geringer als bei den Armeniern. Der Gemischte Rat war auch für die Verwaltung der Stiftungen, Schulen und Krankenhäuser verantwortlich.11

6 Karal 1982:394. 7 Lewis 1961:160–165. 8 Der Anerkennung der Katholiken waren Verfolgungen im Umfeld des griechischen Unabhängigkeitskriegs vorangegangen. Die Anerkennung als millet erfolgte mit erheblicher diplomatischer Unterstützung Frankreichs. Der chaldäische und der syrisch-katholische Patriarch hatten 1844 und 1845 in bilateralen Verträgen mit dem armenisch-katholischen Prälaten von Konstantinopel ihre Rechte festgelegt, ohne dafür einen eigenen Berat des Sultans anzustreben. In der armenisch-katholischen Kirche gab es zunächst eine Konkurrenz mit dem bestehenden Katholikossat von Kilikien mit Sitz in Bzommar im Libanongebirge. Diese wurde erst 1867 mit der Zusammenführung der beiden Primate aufgelöst. Allerdings wurde die armenisch-katholische Kirche bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder von inneren Krisen geschüttelt, die um die Beteiligung des Nationalrats bei der Wahl des Patriarchen kreisten. Rom hatte seinen Primatsanspruch in dieser Frage in der Bulle Reversurus von 1867 deutlich gemacht, es gab aber immer wieder Schismen. Hajjar 1962:166–167; Schlicht 1981:93–96; Frazee 1983:256–274 (Armenier), 288–289 (Melkiten); 294 (Syrer); Masters 2001:108–111. 9 Merten 2014:62–95. 10 Taylor 2013:87. 11 Augustinos 1992:122–137.

Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen

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Die Reformen und die Ausbreitung westlicher Vorstellungen brachten auch das Bewusstsein für eine Trennung der geistlichen von den weltlichen Aufgaben mit sich. Die absolute Kontrolle der Kirchenführer über ihre Gemeinschaften wurde dadurch stark eingeschränkt. Mehr und mehr nahmen Laien und deren Organisationen poli­ tische, soziale, kulturelle und erzieherische Aufgaben wahr, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts – sofern sie überhaupt existierten – fest in den Händen der Kirchen gelegen hatten. Ausdruck dafür war die Gründung philanthropischer und kultureller Vereine. Sie bemühten sich um die Gründung und den Betrieb von Schulen nach westlichem Muster und errichteten Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen. Literarische Vereine bemühten sich um die Verbreitung einer modernisierten Form der klassischen Sprachen (Griechisch, Armenisch und Arabisch) und die Renaissance der Literatur.12 Die Druckerpressen und Verlagshäuser der christlichen Minderheiten verbreiteten über die zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften sowohl die modernisierte Sprache als auch Erkenntnisse der westlichen Wissenschaften.13 Unter den Griechen, Arme­niern und Arabern des Osmanischen Reichs bildeten sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Richtungen aus: jeweils eine, die für die nationalen Ambitionen des eigenen Volks kämpfte, und eine zweite, die für Kooperation im Rahmen des osmanischen Staats eintrat (Osmanismus). Auf Seite der Griechen standen das Patriarchat von Konstantinopel, der höhere Klerus und die führenden griechischen Familien des Fanar (die sogenannten Fanarioten) für eine griechisch-türkische Kooperation. Sie sahen im Osmanischen Staat eine Fortsetzung des Byzantinischen Reichs und hofften auf ein orthodox geführtes, multinationales, theokratisches System, in dem das Ökumenische Patriarchat alle orthodoxen Christen vertrat. Dem stand die Megalī idea, die Vision eines hellenistischen Ostmittelmeerraums unter griechisch-nationaler Führung ge­genüber. Hier standen weniger religiöse, als vielmehr kulturell-säkulare Ideen im Vordergrund. Auf armenischer Seite standen sich der konservative höhere Klerus und die politischen Parteien, die für nationale Ambitionen verbunden mit sozialistischsäku­laren Ideen eintraten, gegenüber.14 Nicht-Muslime erlebten im 19. Jahrhundert in Anatolien einen nicht gekannten demographischen, kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung. Schneller als andere Bevölkerungsschichten übernahmen sie Errungenschaften aus Europa, mit denen das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert bekannt wurde. Durch verbesserte Hygie­ nebedingungen und medizinische Versorgung nahm die Sterblichkeit ab. Dadurch 12 Zum Beispiel die Constantinopel Literary Society (Ellīnikos Filologikos Syllogos Konstantinoupoleōs, 1861) für die Griechen, die Ararat Society (Araratean Enkerutʼiun) und die Altruistic Society (Andznever, 1860er Jahre Istanbul) für die Armenier sowie die Society of Refinement (Ǧamʿiyyat altahḏīb, 1847 Beirut), die Society of the Arab Revival (al-Nahḍa al-ʿarabiyya, 1906 in Istanbul) und der Arabische Club (al-Muntadā al-ʿarabī, 1909 Istanbul) für die Araber, mit überproportional starker Vertretung arabischer, meist griechisch-orthodoxer und protestantischer Christen. Kulturelle und nationalistische Zielsetzungen vermischten sich in diesen Gesellschaften schnell. Augustinos 1992:177– 180; Göçek 2002:45–51. 13 Augustinos 1992:177–185; Göçek 2002:27, 30–48. 14 Göçek 2002:31–34.

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Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert

wuchs die griechische und armenische Bevölkerung Kleinasiens um 2 % jährlich, während die muslimische Bevölkerung gleichblieb. Hinzu kam die Einwanderung von Griechen sowie Europäern, die von den günstigen Wirtschaftsbedingungen angelockt wurden. Durch Kapitulationen und Handelsverträge gegenüber der osmanischen Bevölkerung bevorzugt, sicherten sich christliche Händler und Unternehmer wichtige Anteile an der anatolischen Wirtschaft. Besonders die Hafenstädte Smyrna/Izmir an der Ägäis, die Städte rund um das Marmara-Meer (Kios/Gemlik, Mudanya und Bursa), Amisos/Samsun und Trebizond/Trapzon an der Schwarzmeerküste sowie Mersin an der südlichen Mittelmeerküste profitierten davon. Hier kontrollierten griechische und armenische Händler weitgehend den Handel mit dem Binnenland. Aber auch Städte im kappadokischen Binnenland wie Ikonion/Konya, Kaisareia/Kayseri, Neapolis/Nev­ şehir und Sinasos hatten florierende griechische Gemeinden. Griechische Einzelhändler sowie griechische und armenische Geldverleiher waren fast in jedem Dorf anzutreffen. Für die Bauern war ihre Tätigkeit unverzichtbar, weil der osmanische Staat die Steuern nach dem islamischen Mondjahr einzog und somit die Steuern meist vor dem Einbringen der Ernte fällig wurden. Geldverleiher streckten die notwendigen Summen vor und ließen sich dafür nach der Ernte mit einem Zinssatz von bis zu 20 % vergüten. Neben dem Groß- und Kleinhandel waren Griechen aber auch in der Textilsowie in der Zigarettenindustrie führend. Der wirtschaftliche Aufstieg ging einher mit der Gründung von Schulen und Bildungseinrichtungen in der Hand der griechischen und armenischen Gemeinden.15 Im 19. Jahrhundert beanspruchten verschiedene europäische Mächte die Protektion über bestimmte Gruppen von Christen im Osmanischen Reich. Frankreich hatte bereits mit den Kapitulationen, die König Franz I. im 16. Jahrhundert mit Sultan Süley­ man dem Prächtigen abgeschlossen hatte, ein Protektorat über die lateinischen Ordensleute und die Rechte der Katholiken an den Heiligen Stätten in Jerusalem erlangt. Im 18. Jahrhundert baute Frankreich dieses Protektorat zu einer Protektion aller Katholiken, auch der Angehörigen der mit Rom unierten Kirchen, aus, auch wenn dies vertraglich nicht geregelt und damit völkerrechtlich nicht bindend war. Im 19. Jahrhundert beanspruchten dann auch der Kaiser von Österreich und der König von Sardinien-Piemont (Sardinien sollte die führende Macht bei der Einigung Italiens werden) gewisse Protektionsrechte für die Katholiken im Osmanischen Reich. England versuchte im Gegenzug, protestantische Missionen zu protegieren – wenn auch nicht mit der gleichen Konsequenz wie Frankreich seine Protektionsrechte über die Katholiken durchzusetzen suchte – und die Drusen für sich zu gewinnen. Russland hatte seinen Einfluss über die orthodoxen Christen des Osmanischen Reichs seit dem Friedensvertrag von Küçük Kaynarci des Jahres 1774 auszuweiten versucht und beanspruchte 1853 ultimativ das Recht auf Protektion über alle orthodoxen Christen im Reich des Sultans. Dies führte – zusammen mit den Änderungen, die der Sultan 1852 am status quo, den Rechten der unterschiedlichen Kirchen an den Heiligen Stätten in Jerusa15 Augustinos 1992:19–32, 75–107.

Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen

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lem und Bethlehem, vorgenommen hatte – zum Krim-Krieg. Missionare und Missionsgesellschaften dienten oft geistlichen Belangen genauso wie politischen Interessen ihrer Heimatländer. Aber auch die lokalen Kirchen trugen durch die Anrufung europäischer Protektion dazu bei, dass die Loyalität von Christen zum Osmanischen Staat und ihren muslimischen Nachbarn oftmals angezweifelt wurde (allerdings hatte auch das islamische Recht die geduldeten nicht-muslimischen Gemeinschaften nicht dazu eingeladen, Verantwortung im islamischen Gemeinwesen zu übernehmen, sondern sie nur dazu verpflichtet, den Vorrang der islamischen Ordnung anzuerkennen). Die ausländischen Konsuln intervenierten während des gesamten 19. Jahrhunderts immer wieder zugunsten der von ihren Regierungen protegierten Christen. Dies förderte Ressentiments der einfachen muslimischen Bevölkerung und der osmanischen Beamten, die ihre Autorität durch die Interventionen der Konsuln immer wieder unterminiert sahen. Ihre Eingriffe begründeten die Mächte wiederholt mit Petitionen, die die lokale Bevölkerung – in der Regel aus den Reihen der eigenen protegierten Klientel – an sie gerichtet hatten. Die osmanische Regierung reagierte bisweilen damit, entsprechende Gegenprotektionen zu erwirken, teils mit Druck, teils auch durch Fälschung. Angestellte der Konsulate – Dragomane (offizielle Übersetzer), Handlungsgehilfen, Janitscharen (Sicherheitsbedienstete) und Hausangestellte – genossen dank eines speziellen Berats gewisse Privilegien und waren somit der osmanischen Gerichtsbarkeit entzogen. Die Vielzahl dieser sogenannten Beratli – oft beriefen sich auch weitere Familienangehörige auf einen solchen Berat, den sie selbst gar nicht hatten – verärgerte die muslimische Bevölkerung. Die Sultane versuchten die Zahl der Beratli immer wieder einzudämmen.16 Die führende Rolle, die die religiösen Minderheiten im Handel und in der Indus­ trie sowie in anderen Wirtschaftszweigen am Ende des 19. Jahrhunderts einnahmen, wurde dadurch gefördert, dass viele von ihnen nicht wie die Muslime willkürlicher Besteuerung und dem Risiko der Beschlagnahme ihres Besitzes ausgesetzt waren, sondern häufig ausländische Protektion genossen. Sie bezahlten niedrigere Steuern und Zölle und hatten dadurch einen erheblichen wirtschaftlichen Vorteil und größere Sicherheit bei ihren Geschäften. Die Reform des osmanischen Landgesetzes sowie der ägyptischen Landgesetze ab 1858 erlaubte Minderheiten uneingeschränkt Landbesitz und hob so auch in diesem Bereich die Schranken zwischen Christen und Muslimen auf, wodurch sich Christen erhebliche wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen wussten.17 Größere Spannungen zwischen Christen und Muslimen setzten nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877–1878 ein. Angesichts des Vormarschs der Russen und der Verluste der osmanischen Truppen setzte Sultan Abdülhamid II. auf eine Islamisierung des Reichs. Gleichzeitig zeigten Griechen und Armenier immer deutlicher ihre Sympathien für die europäischen Mächte. In den Städten kontrollierten sie den 16 Zu diesem Thema siehe v. a. Schlicht 1981. 17 Issawi 1982:273–276; Baer 1962:7–12, 63–70.

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internationalen Handel, bauten Industriebetriebe auf, betrieben Banken und Finanzhäuser und gelangten zu einem deutlich größeren Wohlstand als der Durchschnitt der Muslime. In den Kleinstädten waren die Handwerks- und Kleinhandelsbetriebe zum größten Teil in den Händen von Armeniern und Griechen. In Ostanatolien wurde die Lage für die Armenier dagegen immer kritischer. Die Gesellschaft Ost-Anatoliens gliederte sich im 19. Jahrhundert in die sesshafte Bevölkerung (raya/reʿāyā) und in nomadische oder semi-nomadische Stämme (ʿašīret). Hinzu kamen Zehntausende muslimische Einwanderer (muhacir), die von Russland aus dem Kaukasus vertrieben worden waren. Diese meist den Volksgruppen der Tscherkessen und Lazen angehörigen Flüchtlinge ließen sich nur schwer in die Gesellschaft Anatoliens integrieren. Viele lebten daher vom Raub und terrorisierten die ansässige Bevölkerung. Vor allem die Tscherkessen waren gefürchtet. Die eingesessenen Stämme waren bewaffnet und ebenfalls im Kampf erprobt. Ihre Lebensgrundlage bezogen sie aus der Viehhaltung, ergänzten ihre Ressourcen aber auch gern durch Raubzüge gegen die sesshafte Bevölkerung. Sie entzogen sich der Staatsgewalt und zahlten keine Steuern, trieben vielmehr Abgaben von der bäuerlichen Bevölkerung ein, die sie als ihr Eigentum betrachteten. Die meisten unabhängigen Stämme waren Kurden, aber auch die Assyrer des Hakkari lebten in solchen unabhängigen Stammesverbänden. Ein Teil der Armenier, nämlich die, die in den bergigen Gebieten von Sasun, Moks, Zeytun und Dersim lebten, war ebenfalls bewaffnet und wusste sich gegen Übergriffe der Kurden und Tscherkessen zur Wehr zu setzen. Bewaffnete Armenier und assyrische Stämme gingen wechselnde Allianzen mit den Kurden ein, darin ganz der Logik der Stammesrivalitäten folgend. Wie die kurdischen Stämme sahen sie im Vordringen der osmanischen Staatsmacht eine Gefahr und bekämpften diese Entwicklung in Einklang mit den Kurden. Die sesshafte Bevölkerung zahlte dagegen Steuern an den osmanischen Staat, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist durch die kurdischen Clanchefs. Ein Großteil der Armenier zählte zu den unbewaffneten raya, ebenso ein Teil der Assyrer, die meisten Chaldäer und Syrisch-Orthodoxen. Die Bauern ebenso wie die Handwerker und Händler in den Städten sahen in der osmanischen Regierung eine Schutzmacht, von der sie Verteidigung gegen Übergriffe der Stämme erwarteten.18 Zu Beginn der 1840er Jahre drang die osmanische Staatsmacht auch in die unwegsamen Gebiete Kurdistans vor und suchte die kurdischen Emire, die über Jahrhunderte eine große Unabhängigkeit bewahrt hatten, zu unterwerfen. In diese Auseinandersetzungen wurden auch die assyrischen Stämme des Hakkari hineingezogen. Kurz zuvor (1839) hatten amerikanische Missionare dort eine Station errichtet und in Konkurrenz mit Abgesandten der Kirche von England angefangen, Schulen aufzubauen. Dies ließ Unruhe unter den Kurden entstehen, die ein Eindringen westlicher Mächte in ihr Gebiet fürchteten. Spaltungen unter den assyrischen Stämmen kamen hinzu. Nachdem es zunächst zu Kämpfen zwischen Türken und Kurden gekommen war, fielen im Sommer 1843 kurdische Stämme unter ihrem Führer Bedir Khan über die Assyrer her. Meh18 Joseph 1983:26–27; Baibourtian 2013:38–39, 51–53, 62–64.

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rere Tausend wurden von den aufständischen Kurden niedergemacht. Der Patriarch, Mar Shimʼun XVII. Auraham (1820–1861) floh nach Mossul, später nach Urmia jenseits der persischen Grenze. Die Kämpfe bedeuteten auch das Ende der amerikanischen und englischen Mission.19 Am Rande traf der Aufstand auch die syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin. An der Lebenswelt der assyrischen Christen des Hakkari und der Syrisch-Orthodoxen im Tur Abdin gingen die Reformen der Tanzimat-Periode weitgehend vorbei. Die Staatsmacht war kaum in diese Gebiete vorgedrungen und Christen lebten dort in eigenen Dörfern, umgeben von Kurden. Es waren weniger religiöse Bestimmungen, die dort das Leben regelten, als die Beziehungen zwischen bäuerlicher und nomadischer Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Konflikte.20 Weder der Katholikos der Assyrer noch der Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche bemühte sich um die Anerkennung seines Amtes durch den Sultan in Istanbul. Dies war für die Ausübung seiner Funktionen in den abgelegenen Bergregionen (ähnlich wie bei den Maroniten im Libanon-Gebirge) schlicht nicht erforderlich. Mit dem Vordringen der osmanischen Staatsmacht und den Reformen der Tanzimat-Periode sahen sich die kurdischen Stammesführer immer weiter an den Rand gedrängt. Ihnen entglitt die Kontrolle über „ihre“ raya und sie sahen die Tanzimat als ausschließlich für die Christen gemacht. So hatten die Armenier in den Augen der Kurden seit der Gemeindeverfassung von 1863 mit den Bischöfen, die sie vertraten, eigene „Gouverneure“, die ihnen selbst als Muslime – also keine eigene millet – nicht zugestanden wurden. Kurdische Stämme sahen sich damit um ihre Rechte gebracht mit dem Ergebnis, dass die Spannungen zwischen Kurden und Armeniern zunahmen.21 Weitere Reibungspunkte ergaben sich aus der sich ändernden Lebensweise der Armenier. Anders als die Kurden begannen sie westliche Bildung und Standards der westlichen Kultur zu übernehmen. Einige armenische Intellektuelle sahen die Gefahr, die darin bestand, dass die Armenier sich der westlichen Zivilisation öffneten und in den neu entstandenen Schulen einen höheren Bildungsgrad erwarben, während die Kurden ungebildet und in den überkommenen sozialen Strukturen verhaftet blieben. Sie forderten daher, Schulen für die Kurden zu eröffnen, bemühten sich um die Schaffung eines kurdischen Alphabets sowie um die Sesshaftmachung von kurdischen Nomaden in der Hoffnung, sie würden so nach und nach ihr kriegerisches Leben aufgeben.22 Nachdem das Osmanische Reich im russisch-türkischen Krieg von 1877–1878 eine Niederlage erlitten hatte, verpflichtete der Vertrag von Berlin (1878) den Sultan zu Reformen zum Schutz der Armenier, namentlich vor Übergriffen durch Kurden und Tscherkessen (Artikel 61). Damit wurde die „armenische Frage“ internationalisiert, allerdings wurden keine Maßnahmen zur Durchsetzung der Bestimmung getroffen. Dies wurde von der osmanischen Regierung als Einmischung in innere Angelegen­ heiten verstanden und nie umgesetzt. Die wiederholten Proteste des armenischen 19 20 21 22

Kawerau 1958:233–254; Coakley 1992:11–43; O Flynn 2016:649–664. Mayeur-Jaouen 2005:771. Baibourtian 2013:58, 69, 86, 90–91. Baibourtian 2013:94–96, 132–133.

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Patriarchen Nerses II. Varyapetian (1874–1884) blieben ungehört.23 1890 richtete die türkische Regierung kurdische Einheiten, die sogenannten Hamidiye, ein. Sie waren nach Stämmen organisiert und unterstanden den lokalen Clanführern. Ihre Angehörigen konnten nicht von zivilen Gerichten, sondern nur von Militärgerichten abgeurteilt werden und genossen gewisse Privilegien. Die zivilen Behörden hatten keinerlei Kontrolle über diese Einheiten. Sie waren für zahlreiche Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verantwortlich, vor allem auf die unbewaffneten Armenier, und sorgten durch den von ihnen ausgeübten Terror dafür, dass viele Armenier nach Russland oder Istanbul auswanderten.24 Als erste armenische Partei entstand 1885 im ostanatolischen Van der Armenakan. Er wurde aber an Einfluss schnell von zwei anderen, international aktiven Parteien überflügelt: 1887 wurde in der Schweiz von armenischen Studenten die Sozialdemokratische Hnchak-Partei zunächst als Geheimorganisation gegründet. Ziel war die Unabhängigkeit der Ostprovinzen des Osmanischen Reichs und die Errichtung eines so­zia­listischen armenischen Staats. Als Methoden zur Erreichung der Ziele kamen sowohl Plädoyer auf internationaler Ebene als auch gewaltsamer Widerstand und Terroraktionen gegen osmanische Einrichtungen in Frage. Die Partei gewann schnell Anhänger im Osmanischen Reich und war für eine Reihe gewaltsamer Aktionen verantwortlich. 1890 wurde im Kaukasus die Armenische Revolutionäre Föderation (Dashnaktsutyun oder kurz: Dashnak) gegründet. Hauptsitz war Tiflis. Der Dashnak verstand sich einerseits als sozialistische Partei, andererseits aber auch als Befreiungsbewegung für das armenische Volk im Osmanischen Reich. Ziel war ein besserer Schutz für die armenische Bevölkerung und ein Autonomiestatus für die Armenier in den Ostprovinzen Anatoliens, wo sie einen erheblichen Bevölkerungsanteil stellten. Zur Durchsetzung der Ziele betrachtete die Partei auch gewaltsamen Widerstand und Terroraktionen als legitime Maßnahmen. Der Dashnak war auf internationaler Ebene aktiv, überließ es aber seinen Teilorganisationen in den einzelnen Ländern, die jeweils geeignete Politik festzulegen. Ab den 1890er Jahren bildete der Dashnak in Ostanatolien zahlreiche, Fedayi genannte, Widerstandskämpfer aus. Sie erhielten teils auf legalen, teils auf illegalen Wegen Waffen, verteidigten die armenische Bevölkerung und verübten auch Vergeltungsaktionen auf Kurden und Regierungseinrichtungen. Mit dem Entstehen der Parteien ergab sich eine Rivalität zwischen der kirchlichen Hierarchie, vor allem dem Patriarchat von Konstantinopel, und den Aktivisten der Parteien um die Vertretung der Armenier auf nationaler und internationaler Ebene. Mehrfach kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und Geistlichen, so 1890 bei einem Angriff auf den Patriarchen von Konstantinopel Khoren I. Ashekian Keremettzi (1888–1894) in seiner Kathedrale25 und 1903 bei einen Anschlag auf Patriarch Malakia Ormanian (1896–1908).26 23 24 25 26

Merten 2014:140–144. Valognes 1994:807–808. Merten 2014:153. Göçek 2002:52–53.

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Eine erste Revolte von Armeniern angesichts des fehlenden Schutzes vor kurdischen Übergriffen durch die osmanische Staatsmacht hatte es 1862 in Zeytun gegeben. 1893 leisteten Armenier in Sasun bewaffneten Widerstand gegen kurdische Angriffe. Von den osmanischen Behörden wurde dies als Revolte dargestellt. Die Niederschlagung dieses „Aufstands“ durch türkische und kurdische Einheiten diente als Auftakt für die Massaker an den Armeniern der Jahre 1894 bis 1896. Während dieser, nach Sultan Abdülhamid „hamidische Massaker“ genannten Ereignisse wurden immer wieder armenische Dörfer in den Provinzen Bitlis, Harput, Diyarbakir, Erzerum und Trabzon von kurdischen Einheiten der Hamidiye angegriffen. Die Regierung ließ ihnen freien Lauf. Allerdings verteidigten auch einige kurdische Stammesführer die in ihrer Region lebenden Armenier. In Zeytun leisteten armenische Kämpfer bewaffneten Widerstand gegen die Angreifer und errangen einige Erfolge, bevor sie von der Übermacht der türkischen Truppen geschlagen wurden. Ihr Widerstand ist in der armenischen Geschichtserinnerung legendär. Zwischen 1894 und 1896 wurden nach armenischen Angaben bis zu 300.000 Armenier getötet, 100.000 flohen aus den betroffenen Gebieten. Die europäischen Mächte griffen nicht ein. Auf dem Land der getöteten oder vertriebenen Armenier wurden Angehörige der Hamidiye-Einheiten angesiedelt, außerdem muslimische Emigranten aus Russland: Tscherkessen und Lazen (Russland verfolgte im 19. Jahrhundert eine rigorose Politik der Christianisierung der Kaukasus-Provinzen, die es nach und nach vom Osmanischen Reich und Persien erwarb. Dabei wurden Hunderttausende muslimische Bewohner dieser Regionen oft unter unsäglichen Bedingungen ausgewiesen). Betroffen waren von den Massakern auch syrische Christen in der Region Diyarbakir, Harput und Urfa. Die Griechen in Trabzon wurden hingegen verschont.27 Ostanatolien blieb unruhig. 1904 erhoben sich in Sasun erneut armenische Fedayi und leisteten Widerstand gegen aus ihrer Sicht illegal erhobene Steuern und Abgaben. Der Aufstand wurde von türkischen Einheiten blutig niedergeschlagen. 1908 wurden die Hamidiye-Einheiten aufgelöst, dies stieß aber auf heftigen Widerstand, so dass die Entwaffnung der Einheiten schon 1909 aufgegeben wurde. Allerdings hatten die türkischen Behörden als Reaktion auf den kurdischen Widerstand Land, das früher konfisziert und an Angehörige der Hamidiye übertragen worden war, an seine früheren armenischen Besitzer zurückgegeben. Dies rief den Hass vieler Kurden hervor. Außerdem empfanden sie die 1909 auch für Armenier eingeführte Wehrpflicht als Gefahr, weil ihre bisherigen Untergebenen nun bewaffnet und trainiert wurden.28

27 Joseph 1983:91–92; Valognes 1994:807–808; de Courtois 2002:97–115; Baibourtian 2013:154–157. Bei den Unruhen kamen in Diyarbakir laut Bericht des französischen Vizekonsuls 1.000 Armenier ums Leben, 250 wurden verletzt. Syrer und Chaldäer zählten 167 Tote und 21 Verletzte. Weibel Yacoub 2011:50–51. 28 Baibourtian 2013:178–179, 184.

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Die Jungtürken an der Macht In Zusammenhang mit der Einführung einer Verfassung 1876 hatte sich unter Abgängern der osmanischen Militärschulen eine Bewegung gebildet, die auf liberale Reformen hinarbeitete. Bekannt geworden unter dem Namen „Jungtürken“ gewann die Bewegung in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erheblich an Einfluss, nicht nur in Offizierskreisen, sondern auch unter Studenten und Intellektuellen. Als „Komitee Einheit und Fortschritt“ (KEF, türkisch: İttihad ve terakki) bildeten Jungtürken die treibende Kraft bei der konstitutionellen Revolution von 1908 und bestimmten die Politik bis zur Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg. Die Jungtürken waren gespalten in Liberale und Nationalisten. Die Liberalen strebten eine Dezentralisierung des Reichs und gewisse Autonomierechte für die nicht-türkischen Völker sowie für die religiösen Minderheiten an. Im Zentrum ihres Interesses stand die Verankerung einer verfassungsmäßigen Ordnung, die allen osmanischen Bürgern unabhängig von ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit die gleichen bürgerlichen und freiheitlichen Rechte sichern sollte. Dies ermöglichte ihnen die Zusammenarbeit mit den armenischen, griechischen und arabischen Bildungseliten des Reichs, die ähnliche Ziele verfolgten. Der liberale Flügel der Jungtürken bestimmte die erste Phase ihrer Herrschaft von 1908 bis 1912. Nationalisten dagegen strebten nach der Zentralisierung der Macht in Istanbul und der Durchsetzung des türkischen Vormachtanspruchs im gesamten Reich. Das brachte sie in Konflikt mit den arabischen Nationalisten in den südlichen Provinzen des Reichs, mit Armeniern und Griechen im europäischen Teil sowie in Anatolien. Mit der italienischen Besetzung Tripolitaniens 1911 und den Niederlagen des Osmanischen Reichs in den Balkankriegen 1912–1913 gewann die natio­ nalistische Richtung im Komitee Einheit und Fortschritt die Oberhand. Damit trat auch endgültig der Bruch mit den arabischen Provinzen sowie mit den armenischen Parteien ein. Im Sommer 1908 revoltierte ein Teil der Armee in Makedonien. Die Revolte wurde gesteuert von jungtürkischen Offizieren des Komitees für Einheit und Fortschritt. Die Aufständischen forderten vom Sultan, die Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen. Am 24. Juli sah sich Sultan Abdhülhamid gezwungen, den Forderungen nachzugeben und die konstitutionelle Ordnung wiederherzustellen. Das KEF übernahm mangels politisch erfahrener Mitglieder nicht selbst die Regierungsgewalt, sondern steuerte die Entscheidungen aus dem Hintergrund. Sofort entstanden Parteien, und bisher in der Illegalität operierende Organisationen traten an die Oberfläche. Auch die Presse nahm einen raschen Aufschwung. Im Zeitungswesen spielten Publika­tionen von Griechen und Armeniern sowie von christlichen Arabern eine bedeutende Rolle. Im Umfeld der Machtübernahme des KEF 1908 gab es Szenen der Verbrüderung und der Solidarität sowohl zwischen Türken und Armeniern als auch zwischen Türken und Arabern. Dies waren aber wohl keine spontanen Äußerungen der Gefühle des Volkes, sondern vom KEF organisierte Aktionen. Die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak bestimmten das Forum innerhalb der armenischen Gemeinschaft. Der Dashnak

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suchte die enge Zusammenarbeit mit dem Komitee Einheit und Fortschritt und zwar in Istanbul genauso wie in den anatolischen Provinzen. In einer gemeinsamen Erklärung hieß es: „In Anbetracht der Tatsache, dass die Bewahrung des heiligen osmanischen Vaterlands vor Trennung und Spaltung ein Ziel der gemeinsamen Kooperation der beiden Organisationen ist, werden sie dafür arbeiten, dass in der öffentlichen Meinung die falsche, aus dem despotischen Regime ererbte Mär zerstreut wird, wonach die Armenier nach Unabhängigkeit streben.“29 Der Hnchak dagegen zeigte sich reserviert.30 Während die progressiven Kräfte in den Minderheitengemeinden mit dem KEF zusammenarbeiteten, sah der konservative Klerus die Aktivitäten mit großer Skepsis. So wehrte sich der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel Joachim III. (1878–1884/1901–1912) gegen die Gleichstellung aller Bürger. In einem Interview mit der Zeitung Daily Telegraph sagte er: „Wir können und werden nicht akzeptieren, dass auch nur ein Iota der kirchlichen Autonomie geopfert wird, die wir seit dem Tod Konstantins XI. [des letzten byzantinischen Kaisers] genossen haben.“ 31 Aber auch in der griechischen Gemeinde waren die Meinungen gespalten zwischen Megalī idea, der Wiedererrichtung eines hellenischen Reichs im östlichen Mittelmeerraum, und Osmanismus, der Integration der Griechen in den osmanischen Staat. Auf armenischer Seite zwang der Dashnak den konservativen Patriarchen Malakia Ormanian noch im Juli 1908 zum Rücktritt. Im Herbst fanden Wahlen zur Armenischen Nationalkammer gemäß der Gemeindeverfassung von 1863 statt, die von Sultan Abdülhamid 1891 ausgesetzt worden war. Bei den Wahlen wurden erstmals auch Vertreter von Dashnak und Hnchak gewählt.32 Das Komitee Einheit und Fortschritt beeinflusste die Politik zunächst aus dem Hintergrund. Es bestimmte aber die Zusammensetzung der Regierung und diktierte deren Maßnahmen. Außerdem ließ es in fast allen Provinzen Gouverneure aus den eigenen Reihen einsetzen und es gelang ihm, die oberen Ebenen der Verwaltung mit 29 „considering that saving the sacred Ottoman fatherland from separation and division is an objective of the two organizationsʼ joint cooperation, they will work to practically dispel within public opinion the false story inherited from the despotic regime that the Armenians stride for independence.” Zitiert bei Campos 2011:248. 30 Lewis 1961:203–225; Kévorkian 2006:71–96. 31 „What we cannot and will not do is sacrifice one iota of the ecclesiastical autonomy which we have enjoyed since Constantine XI [the last Byzantine emperor] died.“ Daily Telegraph, 31. Oktober 1908. Zitiert bei Campos 2011:247 nach H. Şükrü Ilıcak, „Unknown ʽfreedomʼ tales of Ottoman Greeks“, in İkinci meşrutiyetʼin ilânının 100üncü yılı, ed. Bahattin Öztuncay, Istanbul, 2008:28. 1916 wurde durch ein Dekret die kollektive und nationale Vertretung der verschiedenen Ethnien bzw. Religionsgemeinschaften abgeschafft und der Terminus millet durch cemaat (Gemeinschaft) ersetzt. Am 1. Januar 1918 wurde die Zivilehe als allein gültige Ehe eingeführt; religiöse Eheschließungen waren aus staatlicher Sicht damit nur noch optional. Der alternde griechische Patriarch Germanos V. (1913–1918) versuchte die Säkularisierungstendenzen und den Antiklerikalismus der jungtürkischen Regierung zu bekämpfen, allerdings mit wenig Erfolg. Alexandris 1992:36. 32 Bereits im Jahr 1903 hatten Fedayi des Dashnak einen Attentatsversuch auf Patriarch Ormanian unternommen. Ihrer Auffassung nach war er zu eng mit dem Regime von Sultan Abdülhamid verbunden. Das Attentat war gescheitert. Die Armenische Nationalkammer war seit 1891 nur vier Mal zu besonderen Anlässen (drei davon waren Wahlen eines neuen Patriarchen) und mit besonderer Genehmigung des Sultans zusammengerufen worden. Kévorkian 2006:86–87.

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Gesinnungsgenossen zu besetzen. Im November und Dezember 1908 fanden allgemeine Wahlen statt. Sie wurden stark vom KEF beeinflusst. Gewählt wurden 288 Abgeordnete aus allen Provinzen des Reichs:33 147 türkische, 60 arabische, 27 albanische, 26 griechische, 14 armenische, zehn slawische und vier jüdische Abgeordnete. Von ihnen waren 220 Muslime, 46 Christen. Für die Armenier stellte der Dashnak mehrere Abgeordnete. Von den armenischen Abgeordneten war Krikor Zohrab aus Istanbul besonders aktiv. Er beklagte das Fehlen politischer Parteien, in denen sich die Natio­ nalitäten auflösen könnten, anstatt als antagonistische nationale Blöcke zu arbeiten. Er erklärte in einem Interview, dass die armenischen Abgeordneten „zuallererst im allgemeinen Interesse des Reichs arbeiten. Partikularinteressen der armenischen Nation kommen danach.“34 Das Gefühl der Einheit und Brüderlichkeit zwischen Türken und Armeniern bekam allerdings bereits 1909 wieder einen tiefen Riss. Armenier nahmen die von der Verfassung garantierte Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen ernst und forderten ihre Rechte immer nachdrücklicher ein. Dies weckte Misstrauen auf türkischer Seite. Zu lange war man an ein vorsichtiges, nicht zu sagen unterwürfiges Verhalten der religiösen Minderheiten, die nach islamischem Recht dem ḏimma-Status unterlagen, gewöhnt. Gerüchte über einen armenischen Aufstand gegen die türkische Herrschaft und Bestrebungen zur Errichtung eines unabhängigen armenischen Staats machten sich in muslimischen Kreisen breit. In Adana hatte sich der armenisch-orthodoxe Bischof Mushegh Seropian seit Anfang 1909 mit mehreren Eingaben beim Gouverneur zugunsten der Gleichberechtigung der Armenier hervorgetan. Auf ihn richtete sich später der Hass der türkischen Nationalisten. Der Prälat gehörte einer neuen Generation von Bischöfen an (er war damals 35 Jahre alt), legte großen Wert auf Bildung und versuchte ein demokratisches Leben auf lokaler Ebene hervorzubringen. Im Februar 1909 hielt der Bischof eine öffentliche Rede, in der er sagte: „Alle Verbrechen, die die Türkei und das osmanische Vaterland beschmutzt haben, haben ihren Niedergang hervorgerufen. Sie waren die Folge der Versklavung der Bevölkerung. Die Sklaverei in all ihren Formen ist unerträglich, aber die des Wortes und der Feder ist die schlimmste von allen Formen der Unterwerfung. Wenn bis jetzt so viele Verbrechen und Ungerechtigkeiten begangen wurden, wenn der Niedergang des Osmanischen Reichs bis jetzt systematisch vorangeschritten ist, ist der Grund dafür, dass wir [der Freiheit] des Wortes beraubt waren, des Rechts zu protestieren, unserer Fähigkeit, die legitimen Rechte unseres heiligen Vaterlands zu verteidigen: Man schnitt denjenigen, die Gerechtigkeit verlangten, die Zunge ab; man zerbrach die Feder derjenigen,

33 Der Libanon und Ägypten nahmen allerdings nicht an den Wahlen teil und entsandten keine Abgeordneten. 34 „avant toute chose travailler dans lʼintérêt général de lʼempire. Les intérêts particuliers de la nation arménienne viendront après.“ In der Zeitung Jamanag vom 6. Januar 1909. Zitiert bei Kévorkian 2006:90.

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die gegen die Ungerechtigkeit anschrieben.“35 In Adana und seinem Umland entstand eine gefährliche Gemengelage aus Gerüchten um eine Bewaffnung der Armenier und einem bevorstehenden Aufstand. Warnungen der örtlichen armenischen Notablen und der europäischen Konsuln wurden vom Gouverneur in Adana damit abgetan, dass alle notwendigen Maßnahmen getroffen seien. Im April 1909 griff ein türkischer Mob das armenische Viertel in Adana an. Dort organisierten die Armenier bewaffneten Widerstand, dennoch kamen Tausende ums Leben. In den umliegenden Dörfern waren Armenier den Angreifern hingegen schutzlos ausgeliefert und wurden massakriert. Nach den ersten Ausschreitungen wurde eine Armeeeinheit nach Adana entsandt, um die Ruhe wiederherzustellen. Diese behauptete nun aber, selbst von den Armeniern angegriffen worden zu sein, und veranstaltete ein Massaker in der Stadt. Das armenische Patriarchat schätzte die Zahlen der Opfer für die Provinz Adana auf 21.361 Christen, davon 18.869 Armenier, 1.250 Griechen, 850 Syrer und 422 Chaldäer.36 Die Regierung versuchte zunächst, die Ereignisse kleinzureden und die Schuld den Armeniern in die Schuhe zu schieben. Berichte der internationalen Presse ließen sich jedoch nach einiger Zeit nicht mehr ignorieren. Das Komitee Einheit und Fortschritt suchte die Allianz mit dem armenischen Dashnak zu retten. Am 11. August 1909 richtete der Großwesir Hüseyin Hilmi Pascha ein Rundschreiben an alle Provinzgouverneure. Darin versuchte er, den weit verbreiteten Anschauungen über die Armenier und deren revolutionäre Ambitionen entgegenzutreten: „Es gibt keinen Zweifel, dass zur Zeit des Ancien Régime, in der die Missstände des Despotismus herrschten, gewisse Schichten der armenischen Gemeinschaft auf ein politisches Ziel hinarbeiteten. Aber was auch immer die Art und Weise war, in der diese Arbeit geschah, sie hatte kein anderes Ziel, als sich von den unerträglichen Schikanen und Untaten einer despotischen Regierung zu befreien. In jüngster Zeit lässt sich dagegen feststellen, dass die Armenier viel dabei geholfen haben, dass die Nation eine Verfassung bekommt, und sie haben so ihre ehrliche Bindung an das osmanische Vaterland unter Beweis gestellt. Nach der Einführung der Verfassung haben sie, überzeugt, dass es außerhalb der Treue zur osmanischen Verfassung weder Heil noch Glück für ihre Nation geben könne, ihre Bemühungen darauf konzentriert, in Eintracht für das Wohl [der Verfassung] zu arbeiten. Daher hat die schlechte Meinung, die auf dem Verdacht derjenigen

35 „Tous les crimes qui ont souillé la Turquie et la patrie ottomane ont provoqué sa ruine. Ils étaient la conséquence de la réduction en esclavage de la population. Lʼesclavage est, sous toutes ses formes, insupportable, mais celui de la parole et de la plume est la pire de toutes les formes de soumission. Si, jusquʼà présent, tant de crimes et dʼinjustices ont été commis, si la ruine de lʼEmpire ottoman a jusquʼà présent systématiquement progressé, la raison principale à cela est que nous étions privés de parole, du droit de protester, de notre capacité à défendre les droits légitimes de notre patrie sacrée: on coupait la langue de ceux qui exigeaient la justice; on brisait la plume qui sʼexprimait contre lʼinjustice.“ Wiedergegeben in der armenischen Zeitung Puzantion Nr. 3764 vom 27. Februar 1909:1, zitiert bei Kévorkian 2006:104. 36 Kévorkian 2006:108–124; Weibel Yacoub 2011:55–56.

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beruht, die die Wahrheit nicht kennen, und [zum Inhalt hat], die armenische Gemeinschaft verfolge tadelnswerte politische Ziele, keinen Daseinsgrund.“37 Die liberale Phase des KEF endete 1912 mit den Balkankriegen. Nun appellierte es an die religiösen Gefühle der Muslime und rief zum Dschihad gegen Bulgaren und Griechen auf. Mit der Niederlage im Krieg stürzte auch die Regierung. Das KEF setzte im Januar 1913 General Mahmud Şevket als Großwesir durch. Seine Ermordung im Juni 1913 war für das KEF Anlass, die oppositionellen Parteien zu verbieten und sich selbst als Partei zu konstituieren – bisher handelte es sich um eine „Geheimgesellschaft“, deren Mitglieder in den Staatsorganen wirkten. Die Massaker von Kilikien, die autoritären Tendenzen im KEF und die Unterdrückung der liberalen Opposition führten schließlich zum Bruch mit den Armeniern (Die Griechen hatten sich von vornherein skeptisch gezeigt und auch keine Parteien ausgebildet wie die Armenier). 1911 erklärte der Dashnak auf seinem Kongress in Konstantinopel seine Zusammenarbeit mit dem Komitee für beendet. Der Hnchak beendete auf seinem internationalen Kongress in Constanza (Rumänien) im September 1913 seine Phase der Arbeit im Rahmen der osmanischen Legalität und kehrte zur Untergrundund Terrorstrategie zurück, die er bis 1908 bereits verfolgt hatte. Allerdings wurden die Beschlüsse von vielen Komitees innerhalb des Osmanischen Reichs, inklusive des Komitees in Konstantinopel, nicht geteilt.38 Die Übergriffe auf Armenier nahmen unterdessen in den anatolischen Provinzen wieder die Form an, die sie vor 1908 schon hatten. Die armenische Elite sah eine große Gefahr darin, dass die Regierung zwischen der Meinung der Massen und eigener Untätigkeit gefangen war. Auch die Armenier selbst provozierten mit Widerstand und dem Hervorrufen internationaler Aufmerksamkeit für die Übergriffe nur weiteren Hass. Der armenische Patriarch Hovhannes XII. Archarouni (1911–1913) warnte in einer Note an den Großwesir, dessen Inhalt 37 „Il nʼest pas douteux quʼau temps de lʼAncien Régime où se pratiquaient les abus du despotisme, certaines classes de la communauté arménienne travaillaient dans un but politique. Mais quelle que soit la forme dans laquelle ce travail sʼopérait, il nʼavait dʼautre but que de sʼaffranchir des vexations et des méfaits insupportables dʼun gouvernement despotique. Par contre, en ces derniers temps, il a été constaté que les Arméniens ont aidé beaucoup à ce que la nation obtienne la Constitution et ont de ce fait prouvé leur sincère attachement à la patrie ottomane. Après lʼoctroi de la Constitution surtout, convaincus que, hors la fidélité à la Constitution ottomane, il ne pouvait y avoir ni salut ni bonheur pour leur nation, ils ont concentré leurs efforts pour travailler dʼun commun accord au bien-­ être de cette dernière. En conséquence, la mauvaise opinion qui fait soupçonner par ceux qui ignorent la vérité la communauté arménienne dʼentretenir des visées politiques blâmables nʼa certainement pas sa raison dʼêtre.“ Zitiert bei Kévorkian 2006:106. 38 „Dʼun bout à lʼautre de lʼAnatolie une menace de massacre sʼétendit sur leur tête. Ils servirent dʼotages entre les mains des musulmans. Si ces massacres nʼeurent pas lieu, cela fut dû uniquement à ce que, quoique victimes des plus abominables forfaits, les Arméniens avaient renoncé même à demander justice, craignant que leur attitude ne fût interprétée comme un acte de provocation. […] Exposés à ces attentats et au danger dʼêtre massacrés en masse, ceux-ci ne peuvent compter sur aucune protection gouvernementale et nʼont même pas le droit de se défendre. Sʼils se procurent des armes, ils sont tout de suite accusés de préparer un soulèvement. La vigilance du gouvernement ne se trouve jamais en défaut contre eux. Lʼaction gouvernementale, en les montrant toujours prêts à prendre les armes, ne fait quʼexciter davantage la haine des masses fanatiques.“ Kévorkian 2006:218– 219.

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er im Anschluss auch den Botschaftern der europäischen Mächte zur Kenntnis gab: „Von einem Ende Anatoliens bis zum anderen legt sich die Drohung von Massakern über ihre [der Armenier] Köpfe. Sie dienten als Geiseln in den Händen der Muslime. Wenn es [bisher] nicht zu diesen Massakern gekommen ist, lag dies allein daran, dass die Armenier, obwohl sie Opfer der schändlichsten Untaten waren, darauf verzichtet haben, Gerechtigkeit zu verlangen, da sie befürchteten, ihre Haltung könne als Akt der Provokation verstanden werden. […] Diesen Angriffen und der Gefahr, in Massen massakriert zu werden, ausgesetzt, können sie auf keinerlei Schutz durch die Regierung zählen und haben nicht einmal das Recht, sich zu verteidigen. Wenn sie sich Waffen verschaffen, werden sie sofort beschuldigt, einen Aufstand vorzubereiten. Es mangelt der Regierung niemals an Wachsamkeit ihnen gegenüber. Indem es es stets so darstellt, als seien sie bereit, die Waffen zu erheben, hat das Handeln der Regierung nur den Hass der fanatischen Massen noch weiter angestachelt.“39 Angesichts der Enteignungen und der Gewalt gegen Armenier in Anatolien beschloss die Armenische Nationalkammer im Dezember 1912, die „armenische Frage“ erneut zu internationalisieren. Die Internationalisierung war 1895 aufgegeben worden, weil die Armenier das Gefühl hatten, sie würden von den europäischen Mächten zur Durchsetzung eigener Interessen instrumentalisiert. Nun beschlossen die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak sowie die beiden kirchlichen Spitzen von Kon­ stantinopel und Etchmiadzin, eng zusammenzuarbeiten. Sie wollten die europäischen Kanzleien von der Notwendigkeit von Reformen in den anatolischen Ostprovinzen unter internationaler Garantie zu überzeugen. Boghos Nubar Pascha (1851–1930), Vorsitzender der Armenischen Nationalversammlung, wurde zu diesem Zweck als Leiter der armenischen Delegation mit Sitz in Paris eingesetzt. Nach über einjährigen Verhandlungen zwischen der Hohen Pforte, den europäischen Mächten und der armenischen Delegation wurde schließlich am 8. Februar 1914 ein Abkommen unterzeichnet. Es sah vor, dass die Regierungsbeamten in den Ostprovinzen je zur Hälfte Muslime und Christen sein sollten, keine weiteren muslimischen Einwanderer vom Balkan oder aus dem Kaukasus (muhacir) dort angesiedelt würden und Christen auch in den Provinzen, wo sie in der Minderheit waren, in den Verwaltungsräten vertreten sein sollten. Die Umsetzung sollte von internationalen Inspekteuren überwacht werden. Dazu wurden ein Holländer und ein Norweger eingesetzt. Allerdings wurde der Reformplan mit der Mobilisierung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 bereits ausgesetzt. Die Führung des Dashnak, der Ende Juli zu einem Parteikongress in Erzerum zusammengekommen war, wurde vom KEF aufgefordert, sich dem Kampf gegen Russland anzuschließen. Dazu konnte er sich angesichts der zahlreichen Armenier, die im Zarenreich lebten, jedoch nicht entschließen. Er empfahl also den Armeniern in beiden Ländern, ihren jeweiligen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen.40

39 Zitiert bei Kévorkian 2006:185–186. 40 Kévorkian 2006:221.

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Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs Libanon Der Libanon nimmt innerhalb der osmanischen Provinzen eine Sonderstellung ein. Daher sei er hier als erstes betrachtet. Bereits im frühen 17. Jahrhundert hatte der Libanon unter den Emiren der drusischen Familie der Maʿn weitgehende Autonomie von der osmanischen Oberhoheit gewonnen. Emir Fakhr al-Din II. (1572–1635, regierte mit Unterbrechungen ab 1590) dehnte sein Herrschaftsgebiet von seinem Stammsitz, dem Chouf, in etwa auf das Gebiet des heutigen Staats Libanon sowie etwas darüber hinaus aus. Am Ende des 17. Jahrhunderts ging die Herrschaft von den Maʿn auf die Familie der Shihab über. Sie sicherten die Autonomie des Mont Liban gegen Versuche der Osmanen, das Gebiet wieder der Herrschaft eines von Istanbul ernannten Gouverneurs zu unterstellen. 1756 ergab sich eine entscheidende Wende: der drusische Emir der Shihab entschloss sich, Maronit zu werden; mit ihm zentrale Teile seiner Familie. Damit verschob sich das Schwergewicht der Macht im Mont Liban von den Drusen zu den Maroniten. Emir Bashir II. (1767–1850, regierte 1788–1840) gelang es in seiner außergewöhnlich langen Regierungszeit die ausgeprägten Rivalitäten zwischen Maroniten und Drusen trotz zahlreicher Konflikte immer wieder auszugleichen. In Beit al-Din, dem Ort im Zentrum des Mont Liban, wo die überwiegend drusischen Siedlungsgebiete im Süden mit den maronitischen Gebieten im Norden zusammenstießen, errichtete er seinen Palast. Er gilt bis heute als Symbol der Unabhängigkeit des Libanon und mit seiner Kapelle und Moschee als Ort des Zusammenlebens der Religionen.41 Ab Mitte der 1820er Jahre verschlechterten sich jedoch die Beziehungen der Emire zu den Drusen: 1825 schlug Emir Bashir eine drusische Revolte nieder. Während der Besetzung Syriens und des Libanon durch ägyptische Truppen (1830–1841) leisteten die Drusen Widerstand, während Emir Bashir den aus Ägypten entsandten Statthalter Ibrahim Pascha unterstützte. Dieser hob in Syrien die traditionellen islamischen Restriktionen gegenüber Christen und Juden auf, zog sich damit aber den Unmut von Muslimen und Drusen zu. Als Drusen in großer Zahl für die ägyptische Armee rekrutiert werden sollten, revoltierten sie 1837/38 im Hauran. Emir Bashir stand an der Seite Ibrahim Paschas bei der Niederschlagung des Aufstands. 1840 erhoben sich schließlich Drusen, Maroniten, Griechisch-Orthodoxe und katholische Melkiten gemeinsam gegen die von Bashir geforderte Ablieferung ihrer Waffen. Auch diese Revolte wurde niedergeschlagen. Aber die Ägypter wurden im September 1840 von den europäischen Mächten gezwungen, sich aus Syrien, dem Libanon und Palästina zurückzuziehen. Europa wollte das Osmanische Reich nicht dem aufstrebenden ägyptischen Herrscher Mehmed (Muhammad) Ali überlassen. Mit dem Rückzug der ägyptischen Truppen fiel auch Emir Bashir II. Seinem Nachfolger, Bashir III. (1775–1860, reg. 1840–1842), gelang es nicht, allgemeine Unterstützung zu finden. Vor allem die Drusen wehrten 41 Salibi 1965:3–25.

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sich gegen seine Herrschaft. Die Veränderungen des Feudalsystems hatten Spannungen mit sich gebracht: Die Maroniten bildeten zwar den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung des Mont Liban, aber die meisten waren Bauern, die auf dem Land drusischer Feudalherren arbeiteten. Nur im Keserwan waren auch die Feudalherren Maroniten. Als der Patriarch dann die maronitischen Bauern des Chouf dazu aufrief, sich von ihren drusischen Feudalherren loszusagen, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Drusen begannen, maronitische Dörfer im Chouf zu plündern, Christen zu vertreiben und umzubringen. Osmanische Truppen begannen erst spät, dem Morden Einhalt zu gebieten. Tausende Maroniten kamen ums Leben oder wurden vertrieben. Mit der Intervention Istanbuls endete auch die Zeit des Emirats.42 Konstantinopel suchte wieder selbst die Kontrolle zu übernehmen, stieß aber auf den Widerstand der Libanesen und der europäischen Mächte. Frankreich unterstützte offen die Maroniten, England suchte in den Drusen einen lokalen Verbündeten. Schließlich wurde der Mont Liban in zwei Verwaltungsbezirke (Qāʾimmaqāmate) eingeteilt: einen nördlichen für die Maroniten und einen südlichen für die Drusen. Die Straße von Beirut nach Damaskus bildete die Grenze. An der Spitze stand jeweils ein Qāʾimmaqām, eine Art Untergouverneur, aus den Reihen der Maroniten beziehungsweise Drusen. Ihm zur Seite stand ein Gremium aus Richtern und Beratern aus den einzelnen Gemeinschaften. Aber beide Qāʾimmaqāme unterstanden ihrerseits dem osmanischen Gouverneur mit Sitz in Saida (Sidon). Die Übernahme der Macht durch die Qāʾimmaqāme und der Rechtsprechung durch die Räte bedeuteten einen schweren Schlag für die Feudalherren des Mont Liban. Es konnte daher nicht wundernehmen, dass die Konflikte wieder zunahmen. Die traditionell mächtigen Familien wehrten sich gegen das Schwinden ihres Einflusses, und die osmanischen Paschas schürten Konflikte, um Europa zu zeigen, dass der Libanon für eine Selbstverwaltung nicht bereit war. 1859 griffen Drusen Deir al-Qamar sowie maronitische Dörfer im Chouf und Jazzin an. Plünderungen und Mord waren an der Tagesordnung. 1860 stürmten bewaffnete Drusen die christlichen Wohnhäuser in Hasbaya und Rashaya, anschließend griffen sie Dörfer in der Bekaa-Ebene und schließlich die christliche Hochburg Zahlé an. Der maronitische Notable Yusuf Karam (1823–1889) machte sich zwar mit einer Schar von Kämpfern zur Verteidigung von Zahlé auf, kam aber zu spät. Im Juli 1860 erzwang der osmanische Pascha einen Frieden zwischen Drusen und Christen. Aber bereits wenige Tage später, am 9. Juli 1860, stürmten Muslime das christliche Viertel von Damaskus und töteten Tausende Christen. Der osmanische Pascha intervenierte zunächst nicht. Erst als die europäischen Mächte sich auf die Landung französischer Truppen in der Levante verständigten, machte der Pascha von Damaskus dem Morden ein Ende. Den Christen Syriens und des Libanon sollten die Massaker von 1860 über Jahrzehnte im Gedächtnis bleiben. Sie waren eines der Argumente für ein christliches

42 Salibi 1965:25–39; Schlicht 1981:28–52. Zu den gesellschaftlichen Veränderungen siehe Chevallier 1971.

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Refugium im Libanon und sind bis heute als traumatisches Ereignis Teil des kollektiven Gedächtnisses von den Christen der gesamten Region.43 Die Ereignisse von 1860 bildeten für die europäischen Mächte den Anlass, die Hohe Pforte zu einer Veränderung des Status des Libanon zugunsten der Maroniten zu drängen. 1861 wurde das Règlement organique erlassen. Danach wurde das Libanon-Gebirge, in dem die Maroniten die eindeutige Bevölkerungsmehrheit bildeten, eine autonome Provinz, mutaṣarrifiyya. Sie wurde von einem nicht-libanesischen, osmanischen Christen regiert. Dieser Gouverneur (mutaṣarrif) wurde von der Hohen Pforte eingesetzt, musste aber von den europäischen Garantiemächten bestätigt werden. Dem Gouverneur stand ein Conseil administratif zur Seite, der konfessionell zusammengesetzt war: vier Maroniten, drei Drusen, zwei Griechisch-Orthodoxe, ein Melkit, ein Schiit und ein Sunnit. Die mutaṣarrifiyya hatte ein eigenes Budget und verfügte über eigene Sicherheitsorgane, die von französischen Offizieren trainiert wurden. Die osmanische Regierung durfte nur eine sehr begrenzte Zahl von Soldaten in der mutaṣarrifiyya stationieren.44 Trotz der weitgehenden Autonomie kam es bereits 1866 zu einem Aufstand, der vom maronitischen Notablen Yusuf Karam geführt und vom niederen maronitischen Klerus unterstützt wurde. Yusuf Karam hatte sich gegen Ende des Qāʾimmaqāmats Hoffnung auf den Gouverneursposten gemacht, wurde aber enttäuscht. Er rief die Bauern im Keserwan zur Revolte gegen die Steuerforderungen des neuen Systems auf. Der Aufstand schwelte zwar ein ganzes Jahr, wurde dann aber von osmanischen Truppen niedergeschlagen. Als Volksheld wurde Yusuf Karam die zentrale Figur des christlichen libanesischen Nationalismus.45 Streit gab es auch 1876, als Sultan Abdülhamid II. die Verfassung in Kraft setzte und Wahlen abgehalten werden sollten. Ein Teil der Libanesen, vor allem Sunniten, Schiiten und Drusen, befürwortete die Teilnahme an den angekündigten Parlamentswahlen, ein großer Teil des maronitischen Klerus hingegen und mit ihm viele maronitische Laien lehnten dies ab. Sie befürchteten, dies würde die Autonomie des Mont Liban in Frage stellen. Am Ende nahm der Libanon nicht an den Wahlen teil und war damit auch nicht im (ohnehin kurzlebigen) ersten osmanischen Parlament vertreten.46 Die erste, konstitutionelle Phase der Herrschaft der Jungtürken (1908–1912) nutze der Conseil administratif des Mont Liban, um, unterstützt durch französischen Druck, eine Reform des Règlement organique zu fordern. Am 22. Dezember 1912 trat ein neues Protokoll in Kraft, nach dem die Autonomie der mutaṣarrifiyya weiter gestärkt wurde: Das Wahlsystem zum Conseil administratif wurde verändert und die Maroniten erhielten darin einen zusätzlichen Sitz. Ein Handelsgericht für den Mont Liban wurde eingerichtet, was die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Entwicklung stärkte. Der Bau zweier Häfen – einer in Jounieh im maronitischen und einer in Nabi-Younis 43 44 45 46

Salibi 1965:53–105; Schlicht 1981:51–57, 64–75; Masters 2001:163–164. Salibi 1965:106–119. Salibi 1965:112–113. Zamir 1985:18–19.

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im drusischen Teil – machte den Mont Liban unabhängiger vom Hafen von Beirut. Die geforderte Ausweitung der Grenzen wurde allerdings nicht umgesetzt.47 Die weitgehende Autonomie des Mont Liban, die engen Kontakte der Maroniten zu Frankreich, die rasche Hebung des Bildungsstands unter den Christen, die Übernahme westlicher kultureller Vorstellungen und der wirtschaftliche Aufschwung der Christen – oft bedingt durch bevorzugte Handelskontakte mit europäischen Partnern – führten zu einer wachsenden Kluft zwischen den Christen des Libanon und den Muslimen. Viele Muslime begannen zu befürchten, dass Christen, unterstützt von den europäischen Mächten, die Region unter ihre Kontrolle bringen und aus dem Osmanischen Reich ausgliedern könnten. Dementsprechend hart war die Reaktion der osmanischen Behörden beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Anfang 1915 wurde der Conseil administratif aufgelöst, ein Teil seiner Mitglieder verhaftet, der Rest ins Exil geschickt. Im Sommer 1915 wurde anstelle des zurückgetretenen letzten christlichen Gouverneurs ein Muslim ernannt. Die Autonomie des Mont Liban wurde aufgehoben und der Libanon als gewöhnliche Provinz der direkten osmanischen Herrschaft unterstellt. Ein Teil des Klerus wurde verhaftet und ins Exil geschickt, darunter der maronitische Bischof von Beirut. Patriarch Elias Hoyek gelang es nur durch vehemente Intervention des Heiligen Stuhls und Österreich-Ungarns, eines Verbündeten des Osmanischen Reichs, dem Druck der türkischen Behörden, sein Amt niederzulegen, standzuhalten. Die Entbehrungen des Kriegs, vor allem eine schlimme Hungersnot, der rund ein Fünftel der Bevölkerung zum Opfer fiel, trafen den Libanon besonders schwer. Christen klagten, Cemal Pascha, der Kommandeur der 5. Armee, die die Südflanke des Osmanischen Reichs gegen die vorrückenden Briten verteidigen sollte, hungere den Libanon absichtlich aus, um die christliche Bevölkerung zu dezimieren. Erst am Ende des Kriegs kamen die Mitglieder des Conseil administratif aus ihrem anatolischen Exil zurück, um die Verwaltung des Mont Liban wieder aufzunehmen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte der maronitische Patriarch Elias Hoyek bereits die politische Vertretung des Mont Liban übernommen.48

Syrien Durch die Eroberung Palästinas und Syriens durch Truppen Mehmed Alis 1831 kam ein Großteil der arabisch-sprachigen Christen des Osmanischen Reichs unter ägyptische Herrschaft. Der Sohn und Statthalter Mehmed Alis, Ibrahim Pascha, führte in Syrien nach dem Beispiel Ägyptens Reformen durch. So führte er die allgemeine Wehr- und Steuerpflicht ein, schuf die diskriminierenden Bestimmungen für Nicht-Muslime ab und erlaubte den Neubau von Kirchen. Außerdem zogen Christen in die neugebildeten Verwaltungsräte und konnten Positionen in der staatlichen Verwaltung einnehmen. Die Christen Syriens begrüßten zwar diese Neuerungen im Grundsatz, wehrten sich 47 Zamir 1985:21. 48 Zamir 1985:33–37.

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aber – genau wie die muslimische Bevölkerung – gegen die Wehrpflicht. Der reichen christlichen Stadtbevölkerung Aleppos gelang es schließlich, sich davon zu befreien, indem sie ein Kontingent aus der wehrhaften armenischen Bevölkerung des Musa Dağ zusammenstellte. Die Reformen des Ḫaṭṭ-ı šerīf von 1839 wurden der Bevölkerung Syriens seit dem Rückzug der Ägypter 1841 zuteil.49 Allerdings trafen sie auf die Vorbehalte großer Teile der muslimischen Bevölkerung, wie bereits oben erwähnt wurde. Gerade die Bevölkerung von Damaskus, wo eine Reihe einflussreicher islamischer Gelehrter wirkte, galt als besonders konservativ. So können die Ausschreitungen des Jahres 1860 auch als Reaktion auf die neue Rolle von Christen verstanden werden, die das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn des Jahres 1856 gebracht hatte. Zwischen 1850 und 1860 kam es in Syrien zu einer Reihe von gewaltsamen Übergriffen auf Christen, die das Selbstverständnis der orientalischen Christen bis heute prägen sollten. 1850 führte die Unzufriedenheit der Aleppiner Muslime mit der Wehrpflicht, zu der sie eingezogen werden sollten, zu Unruhen. Sie richteten sich schnell gegen die örtlichen Christen. Mit ihrer Emanzipation hatten die melkitische und die armenisch-katholischen Kirche mit dem Bau großer Kathedralen in Aleppo begonnen. Die Baustellen waren bereits 1849 von aufgebrachten Muslimen besetzt worden, so dass die Stimmung aufgeheizt war. Als 1850 ein Aufstand gegen die Rekrutierung für die osmanischen Truppen ausbrach, plünderte ein wütender Mob christliche Geschäfte, Häuser und Kirchen. Etwa 20 Christen wurden bei den Ereignissen getötet. Als Grund gaben die Vertreter der Aufständischen beim Gouverneur der Stadt an, Christen hätten durch das Läuten der Kirchenglocken und das Mitführen von Kreuzen bei öffentlichen Prozessionen ihre Grenzen überschritten; außerdem hielten sie sich missbräuchlich muslimische Sklaven (tatsächlich war es unter den Notablen der Stadt üblich, sich afrikanische Bedienstete zu halten, die zum Teil Muslime waren). Die Christen ihrerseits trugen beim Gouverneur vor, sie würden von Muslimen in der Ausübung ihrer vom Sultan gewährten Rechte zum Bau von Kirchen und der Ausübung ihres Glaubens behindert. Truppen des Gouverneurs nahmen schließlich die aufständischen Stadtviertel mit Gewalt ein und stellten Ruhe und Ordnung wieder her.50 Damaskus bekam 1860 die Auswirkungen der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen im Libanon zu spüren. Mehrere tausend Christen waren im Sommer von dort nach Damaskus geflohen, um Schutz vor den drusischen Übergriffen zu finden. Der Zulauf von Christen löste unter den Muslimen von Damaskus Unruhe aus. Unmut gab es bereits durch die Veränderung des Status der Christen aufgrund des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn von 1856. Auslöser für die Massaker an Christen wurde aber schließlich ein scheinbar bedeutungsloses Ereignis. Nachdem einige muslimische Jugendliche im christlichen Viertel Hauseingänge mit Kreuzen beschmiert hatten, wurden sie von den Polizeibehörden gezwungen, diese zu entfernen. Das rief eine muslimische Menge auf den Plan, die forderte, die Jugendlichen freizulassen. Einige 49 Schlicht 1981:23–27; Masters 2001:135–136. 50 Masters 2001:158–161.

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Heißsporne riefen zum Angriff auf die Christen auf und muslimische und drusische Dorfbewohner aus dem Umland strömten in Stadt, gierig nach Plünderung. Acht Tage zogen plündernde und mordende Banden durch das christliche Viertel von Damaskus, bevor angesichts einer drohenden französischen Intervention die osmanischen Truppen die Ordnung wiederherstellten. 5.500 Christen, manche Quellen behaupten bis zu 10.000, waren allerdings bei den Unruhen getötet worden. Bemerkenswert war die Hilfe, die die Christen der Stadt von Abd al-Qadir erfuhren, einst Anführer des algerischen Widerstands gegen die französische Besetzung und nach dem französischen Sieg im Exil in Damaskus. Mit einer Gruppe algerischer Getreuer rettete er zahlreiche Christen vor den Übergriffen und beherbergte mehrere europäische Konsuln.51 Der griechisch-orthodoxe Patriarch erhielt nach den Ereignissen aus der Staatskasse in Istanbul eine große Entschädigung. Einen Teil davon setzte er für den Unterhalt von Schulen in Damaskus ein.52 Allerdings gingen die meisten Schulen ab 1895 in die Verantwortung der russischen Kaiserlich-orthodoxen Palästina-Gesellschaft über. Um 1910 betrug die Zahl dieser Schulen in Syrien und dem Libanon 75. Die meisten waren allerdings nur einfache Pfarrschulen mit sehr niedrigem Niveau.53 Eine große Zahl von Schulen nach westlichem Vorbild hatten die europäischen Missionare in Syrien seit dem 17. Jahrhundert aufgebaut.54 Mit der Rückkehr der Jesuiten in den Libanon (ab 1831) und nach Syrien (Damaskus 1872, Aleppo 1874 und Homs 1882) und der Ankunft neuer Missionsorden in Syrien ab den 1840er Jahren nahm das katholische Schulwesen einen weiteren Auftrieb. Französisch ersetzte das Italienische als die hauptsächliche Fremdsprache der katholischen Schulen.55 Für die christliche Bevölkerung bedeutete der Zugang zu den Missionsschulen einen Bildungsvorsprung vor den Muslimen, der ihnen ermöglichte – zusammen mit den vergleichsweise wenigen Abgängern der neuen osmanischen Staatsschulen – eine westlich geprägte Elite zu bilden, die ein Gegengewicht zu den bisher herrschenden religiösen Eliten darstellte und ein säkulares Welt- und Gesellschaftsbild propagierte. Die Ereignisse des Jahres 1860 führten bei einer Reihe gebildeter Christen zu der Einsicht, dass religiöse Zugehörigkeit keine Grundlage für das Gemeinwesen mehr sein konnte. Sie begannen die religiösen Grenzen, die über Jahrhunderte Schutz geboten hatten, als Einschränkung wahrzunehmen. Stattdessen suchten sie nach einer Möglichkeit der Kooperation mit den Muslimen. Dafür musste eine neue, gemeinsame Identität geschaffen werden. Arabische Christen und Muslime begannen, sich mehr und mehr in Abgrenzung zur türkischen Herrscherschicht des Osmanischen Reichs als Araber zu fühlen und einen eigenen Nationalismus auszubilden.56 Allerdings bildeten sich zwei unterschiedliche Richtungen heraus: die überwiegend von Christen 51 52 53 54 55 56

Schlicht 1981:67–75; Masters 2001:163–164. Hopwood 1969:68. Hopwood 1969:130, 150–157. Heyberger 2014:453–478. Hajjar 1962:270–272; Masters 2001:151–152; Libois 2009:161–176, 251–252. Hourani 1967:96–97.

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getragene Nahḍa, Renaissance, und die islamische Salafiyya, Rückkehr zu den Gepflogenheiten der altvorderen Muslime (salaf). Die Vertreter der Nahḍa erhoben die nicht-religiöse klassische arabische Literatur zu ihrem Ideal und begannen sich hauptsächlich aufgrund ihrer Sprachgemeinschaft als Nation zu definieren. Die Salafiyya suchte die Errungenschaften der modernen Wissenschaften mit dem islamischen Erbe in Einklang zu bringen und den Vorrang des frühen, aus ihrer Sicht noch reinen, arabischen Islam unter Beweis zu stellen. Christliche Nahḍa und islamische Salafiyya trafen sich in ihrer Wertschätzung für die arabische Sprache und in der Ablehnung der türkischen Herrschaft. Allerdings definierte die Salafiyya die Identität der Araber als Religionsgemeinschaft und weniger als Sprachgemeinschaft.57 Es war vor allem orthodoxen Christen (manche von ihnen waren auch zum Protestantismus übergetreten), die an den protestantischen Schulen und dem Syrian Protestant College, der 1866 von amerikanischen Missionaren in Beirut gegründeten Hochschule, ausgebildet waren, zu verdanken, dass Christen über die Grenzen der eigenen millet hinauszuschauen und in größeren Kategorien, nämlich der arabischen Nation und Sprachgemeinschaft, zu denken begannen. Zu den Vorreitern gehörte Butrus al-Bustani (1819–1883) aus dem Libanon, geboren als Maronit, durch seine Kontakte zu englischen und amerikanischen Missionaren zum Protestantismus übergetreten. 1860 begann er seine Zeitung Nafīr Surīyya („Der Herold Syriens“) herauszugeben. Allein der Titel propagierte eine selbständige Region „Syrien“, die seiner Auffassung nach das gesamte geographische Gebiet zwischen der Mittelmeerküste und dem Euphrat, also inklusive Libanon, Palästina und dem Ostjordanland umfasste. Angelpunkt für die Einheit des Gebiets war die arabische Sprache. Ähnlich dachten andere Absolventen des Syrian Protestant College und der jesuitischen Université Saint-Joseph in Beirut (gegründet 1875). Sie lehnten sowohl eine Protektion durch westliche Mächte als auch die Interventionen Russlands zugunsten der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich ab.58 Im Rahmen der literarischen Renaissance wurden auch Übersetzungen der Bibel ins Arabische vorgenommen. Für die protestantische Seite begann der amerikanische Missionar Eli Smith (1801–1857) Ende der 1840er eine Übersetzung. Nach seinem Tod wurde sie von Cornelius van Dyck (1818–1895), ebenfalls Amerikaner, fortgeführt und beendet. Diese Übersetzung, die von der American Bible Society herausgegeben wurde (1865 in Beirut erstmals als Gesamtausgabe gedruckt), erhielt wertvolle Unterstützung von Butrus al-Bustani und Nasif al-Yaziji, zwei führenden Figuren der literarischen Renaissance des Arabischen.59 Die Ausgabe wurde maßgeblich für die protestantischen Kirchen. Auch die syrisch-orthodoxe und die koptische Kirche übernahmen diesen Bibeltext. Für die Katholiken besorgten die Jesuiten im Libanon, unterstützt von Ibrahim al-Yaziji, ab den 1870er Jahren eine Übersetzung. Der gesamte Text erschien erstmals 1880.60 Unabhängig davon gaben die Dominikaner in Mossul in den Jahren 1875 57 58 59 60

Masters 2001:171–179. Hourani 1967:97–102, 274–276. Kawerau 1958:381–388. Libois 2009:119.

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bis 1878 eine auf Basis des hebräischen und griechischen Texts vorgenommene Revision der römischen Bibelübersetzung ins Arabische aus dem Jahr 1671 heraus. Teil des arabischen Nationalismus war auch der Kampf der syrischen und palästinensischen orthodoxen Laien gegen die griechische Hierarchie ihrer Kirchen. In Palästina begann sie rund um die Absetzung des Jerusalemer Patriarchen Kyrillos II. 1872, verlief dort aber weitgehend erfolglos. In Syrien gelang es, 1899 mit Meletios II. Doumani erstmals seit mehreren hundert Jahren wieder einen arabischen Kandidaten zum Patriarchen von Antiochien zu wählen. Meletios machte sich daran, eine Konstitution für das Patriarchat auszuarbeiten, die die Wahlen der zukünftigen Patriarchen regeln sollte. Das Fehlen eines solchen Dokuments hatte vorher den Einfluss des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel sowie der beiden anderen griechischen Patriarchate von Alexandrien und Jerusalem und damit die Wahl ausschließlich griechischer Kandidaten ermöglicht. Anders als das Jerusalemer Patriarchat arbeitete das Patriarchat Antiochien seit den 1880er Jahren eng mit der russischen Palästina-Gesellschaft zusammen. Russland förderte sowohl über die Gesellschaft als auch über die russische kirchliche Mission in Jerusalem und seine Konsulate tatkräftig den arabischen Nationalismus der orthodoxen Gläubigen, der sich gegen die griechische Hierarchie und die türkische Herrschaft gleichermaßen richtete.61 1904 hatte der syrische Christ Nagib Azoury (es ist unklar, ob er Maronit oder Melkit war) in Paris die Ligue de la patrie arabe gegründet (es bleibt offen, ob sie wirklich existierte oder nur eine Fiktion Azourys war). Ein Jahr später legte er in seinem Buch Le Réveil de la nation arabe seine Ideen vor: Es gebe eine einzige arabische Nation, zu der sowohl Muslime als auch Christen gehörten. Religiöse Probleme zwischen den beiden seien allein politisch motiviert und von externen Faktoren gesteuert. Es müsse eine vereinigte Arabische Kirche anstelle der zahlreichen Riten und Konfessionen geben. In dieser Kirche habe der griechische Klerus keinen Platz mehr. Zur arabischen Nation gehörten nach Azourys Auffassung die arabisch-sprachigen Gebiete Asiens (also das geographische Syrien, Mesopotamien und die Arabische Halbinsel), nicht jedoch Ägypten und Nordafrika. Arabische Nationalisten hielten 1913 in Paris einen „Arabischen Kongress“ ab. Unter den circa 25 Abgeordneten hielten sich Muslime und Christen in etwa die Waage. Einen der Hauptvorträge hielt der syrische Christ Nadra Moutran. Die Abgeordneten hielten aber an ihrer Loyalität zum Osmanischen Reich fest.62

Palästina Nach dem Rückzug der Ägypter kamen Palästina und Syrien 1841 wieder unter die Kontrolle des osmanischen Sultans. Nicht zuletzt auf russischen Druck hin wurde der Sanjak (Verwaltungsbezirk) Jerusalem direkt dem Sultan in Istanbul unterstellt. Der 61 Hourani 1967:273–274; Hopwood 1969:163–175. 62 Hourani 1967:277–279, 283–284; Hopwood 1969:172, 175–177.

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Gouverneur hatte unter anderem die Aufgabe, für den Schutz der Christen und der christlichen Pilger zu sorgen, von denen eine große Zahl aus Russland kam.63 Allerdings wurde diese Regelung schnell wieder aufgehoben und der Sanjak Jerusalem wieder der Provinz Akko unterstellt. Ein zweiter Anlauf im Jahr 1854 war ebenfalls von kurzer Dauer. Auch die im Jahr 1872 anvisierte Bildung einer Provinz Jerusalem, bestehend aus den Sanjaks Akko, Nablus/Balqaʼ und Jerusalem, kam nicht zustande. Dafür wurde der Sanjak Jerusalem im Jahr 1874 wieder und diesmal dauerhaft direkt dem Sultan in Istanbul unterstellt. Er umfasste allerdings nur den südlichen Teil Palästinas westlich des Jordans mit den Hauptorten Jerusalem, Hebron, Jaffa und Gaza.64 Bereits unter ägyptischer Herrschaft war 1838 ein englischer Konsul nach Jerusalem entsandt worden. Es entsprach nur britischer Politik, dass auch kurz darauf das anglo-preußische Bistum Jerusalem entstand und so neben den Juden Palästinas eine Gruppe protestantischer Christen geschaffen wurde, die England protegieren und so Einfluss auf die osmanische Politik in Palästina nehmen konnte. Nicht zufällig wurde erster protestantischer Bischof der ehemalige Jude Michael Solomon Alexander. Im Sinne der in England entstandenen Bewegung für die „Restoration of the Jews“ in Palästina, sollte er sich in Fortsetzung der Bemühungen der London Society for Promoting Christianity amongst the Jews (LSPCJ, gegründet 1809) um die Konversion der Juden des Heiligen Landes bemühen.65 Für den 1843 installierten französischen Konsul, der die katholischen Christen protegierte, war es hingegen ein schwerer Rückschlag, dass der erste Amtsinhaber des 1847 geschaffenen lateinischen Patriarchats Jerusalem kein Franzose, sondern ein Untertan des Königs von Sardinien-Piemont war (Joseph Valerga, er war allerdings ein langjähriger Orientmissionar und exzellenter Kenner der Region). Das Königreich Sardinien als Vorläufer des geeinten Italien bemühte sich neben Frankreich ebenfalls um Protektion der Katholiken im Heiligen Land.66 Das unverhohlene Eingreifen der europäischen Konsuln zugunsten der Christen und das teilweise taktlose Gebaren einiger Missionare und einheimischer Konsularagenten führten 1856 in Nablus zu Angriffen auf Konsulareinrichtungen und Kirchen. Der anglikanische Bischof Samuel Gobat hatte unmittelbar nach der Verlesung des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn eine Glocke über der protestantischen Schule der Stadt aufhängen lassen und so den Unmut der muslimischen Bevölkerung über diese – nach traditionell islamischen Vorstellungen bisher verbotene – Maßnahme hervorgerufen. Nach einem Zwischenfall zwischen einem englischen Missionar und einem Bettler, bei dem sich aus der geladenen Waffe des Engländers ein Schuss löste und den Bettler tötete, kam es zum Aufstand. Der Mob plünderte und zerstörte die Häuser der französischen 63 Hopwwod 1969:14. 64 Schölch 1986:20–22. 65 Schölch 1986:47–58. 66 1842 wurde ein preußisches, 1843 ein sardisches, 1844 ein amerikanisches und ein österreichisches Konsulat in Jerusalem eröffnet. 1843–1844 und 1848–1854 waren russische Missionen in Jerusalem und 1856 wurde ein russischer Bischof dort eingesetzt. Die Installation von Konsuln zeigt den Wettlauf der europäischen Mächte um die Protektion der Christen und der Heiligen Stätten.

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und britischen Konsularagenten, die protestantische Schule, das Haus des englischen Missionars, die griechisch-orthodoxe Kirche und das Haus des zugehörigen Diakons. Der Vater des preußischen Konsularagenten (ein einheimischer Protestant) wurde im Haus des britischen Agenten getötet. Allerdings trat schnell wieder Ruhe ein und die osmanischen Behörden ließen sowohl für die Tötung des Bettlers als auch für den Tod des Konsularagenten Reparation bezahlen. Die Ereignisse zeigen aber, wie Muslime Palästinas auf die Reformen der Tanzimat-Zeit und die Versuche der europäischen Konsuln, für ihre jeweiligen Protégés die neuen Rechte durchzusetzen, reagierten: mit Unverständnis, teilweise Hass und Gewalt. Die folgenden Jahre blieben aber, auch dank der in Palästina vorangetriebenen Durchsetzung der osmanischen Staatsmacht, ruhig. Auch die Ereignisse des Jahres 1860 im Libanon und Damaskus hatten keine Auswirkungen in Palästina.67 Ein neues Phänomen für Palästina stellten ab 1882 die zionistischen Einwanderer dar. Als eine Art Vorläufer können die christlichen Templer betrachtet werden, eine chiliastisch-pietistische Gruppe aus Schwaben, die ab 1868 mehrere Siedlungen (vier zwischen 1868 und 1873 und zwei weitere zwischen 1902 und 1907) in Palästina gründeten und den Anspruch erhoben, in Vorbereitung auf die Wiederkunft Jesu Christi die rechtmäßigen Besitzer des Heiligen Landes zu sein. Ihre Zahl überstieg aber nie 2.200 (im Jahr 1906). 1870 erwarb die Alliance Israélite Universelle, eine 1860 in Frankreich gegründete philanthropische Gesellschaft zur Unterstützung der Juden im Nahen Osten und Nordafrika, ein Stück Land bei Jaffa und richtete dort eine Landwirtschaftsschule für jüdische Einwanderer ein (Mikweh Yisrael). Sie war ursprünglich für die Hebung des Lebensstandards der einheimischen Juden gedacht, sollte dann aber Pionierarbeit bei der Einrichtung landwirtschaftlicher Siedlungen der zionistischen Einwanderer leisten. Am Vorabend der ersten Aliya, wie die Einwanderungswellen von Juden nach Palästina genannt wurden, lebten nur 24.000 Juden in Palästina, fast ausschließlich in den vier „heiligen Städten“ der Juden: Jerusalem, Tiberias, Safed und Hebron.68 1882 entstand mit Rishon le-Zion die erste zionistische Siedlung. Mit der ersten Aliya kamen in den Jahren 1882 bis 1903/04 20.000 bis 30.000 Juden nach Palästina. Nicht alle stammten aus Europa, eine beachtliche Zahl kam auch aus Kurdistan, dem Jemen und Nordafrika. Die meisten ließen sich in den Städten nieder, nur etwa 5.500 in ländlichen Siedlungen. Erst mit der zweiten und dritten Aliya (1904/05–1914 und 1918/19–1923) kamen die von Theodor Herzls politischem Zionismus geprägten Juden ins Land, die sich vom „Alten Yishuv“, den traditionell in Palästina ansässigen Juden, abgrenzten. Sie propagierten das Bild der jüdischen Landarbeiter und vertraten oftmals sozialistische Ideen. Von den osmanischen Behörden wurde die Einwanderung von Juden nach Palästina bis zur Balfour-Erklärung von 1917 nicht ungern gesehen, schließlich brachten sie Kapital ins Land, machten bisher nicht bebauten Boden nutzbar und trugen somit zur Erhöhung der Steuereinnahmen bei. Unter der arabischen 67 Schölch 1986:250–252. 68 Schölch 1986:71–73.

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Bevölkerung Palästinas gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur vereinzelten Widerstand gegen die jüdische Einwanderung. In diesem Zusammenhang verdient eine Petition von Jerusalemer Notablen gegen die jüdische Kolonisation aus dem Jahr 1891 Beachtung sowie eine ebenfalls von Jerusalemer Notablen eingerichteten Kommission zur Überwachung des Landverkaufs an Juden. Eine breite Wirkung scheinen beide Initiativen aber nicht entfaltet zu haben. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Gründung zahlreicher Zeitungen als Ergebnis der konstitutionellen Revolution von 1908, wuchsen Bewusstsein für die Gefahr durch den Zionismus und Widerstand. Christen spielten dabei als Herausgeber vieler Zeitungen eine nicht zu unterschätzende Rolle.69 Innerkirchlich nahm in Palästina genauso wie in Damaskus der Streit zwischen arabischen Laien und der griechischen Hierarchie im griechisch-orthodoxen Patriarchat von Jerusalem in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zu. In Jerusalem konnte die rein griechische Bruderschaft vom Heiligen Grab aber ihren Einfluss bewahren. Im Fahrwasser der jungtürkischen Revolution 1908 kam es dann aber doch zum Aufstand. Arabische Christen revoltierten gegen die Vormacht des griechischen Patriarchen und der Bruderschaft vom Heiligen Grab. Unter Berufung auf Artikel 111 der osmanischen Verfassung, der die Einrichtung von Gremien zur Verwaltung der Angelegenheiten der Gemeinschaften statuierte, forderten sie die Wahl eines gemischten Rates aus Klerikern und Laien. Im Priesterseminar sollten auch arabische Kandidaten aus den Pfarreien Palästinas aufgenommen werden und nicht nur Griechen. Demonstranten besetzten Kirchen in Jerusalem und Jaffa und boykottierten die Weihnachtsmesse in Bethlehem. Die Heilige Synode beschloss Strafmaßnahmen wie die Einführung von Mieten für bisher kostenlos an lokale Mitglieder der Gemeinden vergebene Häuser und Wohnungen. Im Februar 1909 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen arabischen und griechischen Gläubigen in Jerusalem, die sich zu einem allgemeinen Aufstand auszuweiten drohten. Erst 1910 beruhigte sich die Lage wieder, so dass Wahlen für einen Gemeinderat abgehalten werden konnten. Allerdings stellte der Rat seine Arbeit bereits 1913 wieder ein.70

Irak In den osmanischen Provinzen Bagdad und Basra lebte im 19. Jahrhundert nur eine sehr kleine Zahl von Christen. Die meisten waren ab dem 17. Jahrhundert durch persische Einfälle vertrieben worden. Vor allem der Kriegszug Nadir Schahs 1743 führte zu Zerstörungen in Bagdad, aber auch in den christlichen Dörfern der Niniveh-Ebene bei Mossul. In Bagdad und Basra gab es jedoch eine Zahl armenischer Händler, die meist ihrerseits aus Persien dorthin gekommen waren und die im Handel mit Indien

69 Krämer 2015:121–148. 70 Hopwood 1969:197–200; Tsimhoni 1978:81–84; Roussos 1995:217–218; Campos 2011:52–55.

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und Südostasien aktiv waren. Bagdad hatte darüber hinaus eine bedeutende jüdische Bevölkerung. Die Reformen der Tanzimat-Zeit erreichten den Irak in den 1840er Jahren. In Bagdad wurde 1844 mit der Umsetzung begonnen, in Kirkuk (osmanisch: Shahrizor) 1847 und in Mossul 1848. Das Ziel war in erster Linie, Willkür bei der Erhebung von Steuern und illegalen Abgaben abzuschaffen. Außerdem wurden Beratungs- und Verwaltungsräte auf verschiedenen Ebenen eingesetzt. Der Status der Nicht-Muslime soll, so die Einschätzung eines europäischen Reisenden aus dem Jahr 1850, in Bagdad deutlich besser gewesen sein als in anderen Teilen des Osmanischen Reichs. Ab 1856 wurde per Ferman des Sultans der Bau mehrerer Kirchen erlaubt.71 In der Stadt Bagdad machten Juden einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus. Für das Jahr 1869 wurde die Zahl der Muslime dort von offizieller osmanischer Seite auf 52.689, die der Juden auf 9.325 und die der Christen auf 1.258 geschätzt; hinzu kamen 2.411 Ausländer, zum größten Teil Perser.72 1841 richtete der osmanische Gouverneur der Provinz Bagdad gemäß den Vorgaben aus Istanbul einen Advisory Council (šūrā meǧlis) ein. Er bestand aus dem ständigen Rat und zwei speziellen Kommissionen: einer für militärische Aufgaben und einer für Religions-, Verwaltungs- und Rechtsfragen. Der letzteren gehörten auch Vertreter der religiösen Minderheiten an: zwei Christen (beides Kaufleute) und ein Jude. Mitte der 1840er Jahre ging der Advisory Council in einen Verwaltungsrat der Provinz (eyālet idāre meǧlis) über. Unter den 23 Mitgliedern waren vier Christen – je ein Vertreter der syrisch-orthodoxen (oder katholischen? süryānī), der armenisch-katholischen, der chaldäischen und der armenisch-orthodoxen Gemeinschaft – und ein Jude. Mit der Reform der osmanischen Provinzen von 1870 wurde die Zusammensetzung des Rates geändert. Nun fanden sich keine Vertreter der religiösen Minderheiten mehr darin, dafür die Scheichs der großen Stammesföderationen.73 In Mossul wurde 1848 ein Rat eingerichtet. Chaldäer, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische entsandten jeweils in Mitglied.74 Ansonsten lebten Christen in der Provinz Mossul weitgehend ihr bäuerliches Leben weiter. Die Reformen der Tanzimat betrafen sie nur am Rande. Ihr Alltag war stärker vom Zusammenleben mit kurdischen Bauern und Viehzüchtern geprägt als von staatlichen Regelungen. In der Provinzhauptstadt Mossul ließen sich aber immer mehr europäische Missionare, Katholiken und Protestanten, nieder. Vor allem katholische Missionare gründeten zahlreiche Schulen und unterstützten die chaldäische Kirche bei der Ausbildung ihres Klerus. Ein bedeutender Teil der Christen in der Niniveh-Ebene schloss sich in dieser Zeit der chaldäischen bzw. syrisch-katholischen Kirche an. 1843 kehrten die Dominikaner nach Mossul zurück (sie hatten die Stadt 1815 verlassen) und eröffneten 1878 ein Priester­seminar (bereits 1866 war ein chaldäisches Seminar eröffnet worden). Als führender katholischer Orden in der Region trugen die Dominikaner entscheidend zu den 71 72 73 74

Ceylan 2011:107–108. Zahlen bei Ceylan 2011: 34–35. Ceylan 2011: 110–115, 130. Ceylan 2011:121.

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Bildungs­aktivitäten in den christlichen Dörfern und zur Verbesserung des Bildungsstands beim einheimischen katholischen Klerus bei. Außerdem bemühten sie sich, die Anhänger der orientalischen Kirchen für die chaldäische bzw. syrisch-katholische Kirche zu gewinnen.75 Zwischen der syrisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Kirche gab es im gesamten 19. Jahrhundert eine heftige Rivalität. Immer mehr Gemeinden traten von der orthodoxen zur unierten Kirche über. Streit entflammte immer wieder darum, wem die Kirchengebäude gehören sollten. Der Mufti von Mossul hatte 1837 verordnet, dass Syrisch-Orthodoxe und Katholiken bestimmte Kirchen gemeinsam zu nutzen hätten und jeweils eine Trennmauer darin zu errichten sei. Obwohl die Katholiken 1862 und 1863 zwei eigene Kirchen bauten, kam es im gesamten 19. Jahrhundert immer wieder zu Streit und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gemeinschaften. Sie mussten bisweilen von türkischen Soldaten beendet werden, so 1876 als 47 Verwundete gezählt wurden.76 Die von J. M. Fiey doku­mentierte rege Bautätigkeit von Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (fünf neue Kirchen) mag ein Hinweis darauf sein, dass die Bestimmungen des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn auch in Mossul Anwendung fanden, zumindest was den Bau von Kirchen angeht. Ansonsten liegen jedoch kaum Informationen über die Aufnahme der osmanischen Reformen in der Provinz Mossul vor. Da der Arm der Regierung aber ohnehin kaum über die Stadtgrenzen von Mossul und die Sicherung der Post- und Militärstraßen hinausreichte – abseits herrschten arabische und kurdische Stämme –, haben die Reformen dort wohl kaum Auswirkungen gehabt. Mossul galt trotz der Präsenz zahlreicher Christen und unterschiedlicher Kirchen als islamisch-konservative Stadt. Die Reformen der Tanzimat-Periode werden dort kaum mit großer Begeisterung aufgenommen worden sein. Die britische Orient-Reisende und spätere Gesandtschaftsmitarbeiterin Gertrude Bell berichtet, dass die Ankündigung der verfassungsmäßigen Reformen des Komitees Einheit und Fortschritt von den Muslimen Mossuls mit Ablehnung quittiert wurde. „In ihren Ohren klangen die Worte wie eine Totenglocke. Universale Freiheit ist kein Geschenk, das Tyrannen wertschätzen, und Gleichheit stinkt in den Nasenlöchern derjenigen, die daran gewöhnt sind, dass ihre christlichen Mitbürger in den nächsten Hauseingang kauern, wenn sie durch die Straße reiten.“77 Im Umfeld des muslimischen Opferfestes kam es am 1. und 2. Januar 1909 zu Unruhen zwischen Kurden und Arabern. „Môṣul war in einem Zustand völliger Anarchie“, berichtet Gertrude Bell, „Christen wurden in den Straßen offen beschimpft, die zivilen und militärischen Behörden waren machtlos und nicht weniger machtlos war das lokale Komitee Einheit und Fortschritt. Als die Truppen kamen, wurde ein gewisses Maß an Ordnung wiederhergestellt, aber die reaktionäre Bewegung wurde nicht gestoppt. Die Bildung einer Liga Mohammads, die 75 Filoni 2006:70; Richard 2001:241–242. 76 Fiey 1959:61–63. 77 „To their ears the words had sounded like a knell. Universal liberty is not a gift prized by tyrants and equality stinks in the nostrils of men who are accustomed to see their Christian fellow citizens cower into the nearest doorway when they ride through the street.“ Bell 1911:248.

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als Gegengewicht zum Komitee Einheit und Fortschritt angelegt war, schritt voran. Sie zog die Muslime alter Schule an, die eine tiefsitzende Furcht vor den Auswirkungen des neuen Geistes auf die Beachtung der Gesetze des Islâm hatten; sie zog die Ungebildeten an, für die das Konzept der Gleichheit zwischen Christen und Muslimen unverständlich ist; und sie wurde ebenso begrüßt von all denjenigen, die sich dem konstitutionellen Regierungssystem aus mehr oder weniger persönlichen Gründen entgegensetzten.“ Der Gouverneur trat den Aktivitäten der Liga aber entschieden entgegen. „Er ließ eine Anzahl von Personen verhaften und ins Gefängnis werfen und er erteilte den führenden Muslimen ernsthaften Tadel, verbunden mit der Versicherung, dass die Regierung die Rechte der Christen verteidigen würde.“78 Von den Christen rund um Mossul wurde die Nachricht vom Sturz Sultan Abdülhamids dagegen mit Erleichterung aufgenommen.79 Die Erinnerung an die Massaker in Ostanatolien, nicht weit entfernt vom nördlichen Mesopotamien, saß offenbar tief.

Ägypten Für Ägypten beginnt die Neuzeit abrupt: Am 2. Juli 1798 landeten französische Truppen unter Napoleon Bonaparte bei Abukir und nahmen Alexandrien ein. Drei Wochen später, am 21. Juli, wurde das Heer der Mamluken, die Ägypten im Namen der osmanischen Sultane beherrschten, bei den Pyramiden von Gizeh vernichtend geschlagen. Die Franzosen nahmen Kairo und das gesamte Niltal ein. Allerdings wurde ihre Flotte bereits kurz darauf von den Engländern unter Lord Nelson bei Abukir vernichtet. Ein Rücktransport nach Frankreich war somit unmöglich. Die Franzosen saßen in Ägypten fest. Ein Feldzug Napoleons Richtung Syrien endete bei Akko. Nach mehrwöchiger, vergeblicher Belagerung der Stadt, die die Osmanen mit britischer Unterstützung verteidigten, musste sich Napoleon im Mai 1799 nach Ägypten zurückziehen. Zwar bemühte sich Napoleon, den Muslimen Ägyptens als Freund zu erscheinen – er ließ in Flugblättern sogar durchblicken, er sei zum Islam übergetreten –, dennoch brachte die französische Herrschaft für die Christen Ägyptens einige Freiheiten mit 78 „Môṣul was in a state of complete anarchy. Christians were openly insulted in the streets, the civil and military authorities were helpless, and no less helpless was the local committee of Union and Progress. When the troops came some degree of order was restored, but the reactionary movement was not arrested. The formation of a League of Mohammad, which was designed as a counterblast to the Committee of Union and Progress, went on apace. It appealed to Moslems of the old school, who had a genuine dread of the effects of the new spirit upon the observance of the laws of Islâm; it appealed to the ignorant to whom the conception of the equality of Christian and Moslem is incomprehensible, and it was eagerly welcomed by all who were opposed to constitutional government on grounds more or less personal to themselves. He arrested and imprisoned a number of persons and administred severe rebukes to the leading Moslems, together with assurances that the government would protect the rights of Christians.“ Bell 1911:250–251. 79 Bell 1911:266 (Mar Matta, syrisch-orthodox):281 (Rabban Hormizd, chaldäisch). Ansonsten liegen zur Aufnahme der Reformen kaum Informationen vor. Auch die von J.M. Fiey in seinen drei Bänden Assyrie chrétienne minutiös gesammelten Informationen zu den christlichen Dörfern im Nordirak bieten für das 19. Jahrhundert wenig Auskunft.

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sich, die ihnen aus islamischer Zeit unbekannt und mit den traditionellen islamischen Vorstellungen von der Rolle der Nicht-Muslime kaum vereinbar waren. Unmittelbar nach der französischen Eroberung Ägyptens hatte sich das zivile Haupt der Kopten (raʾīs al-aqbāṭ), Muʿallim Ǧirǧīs al-Ǧawharī, an Bonaparte gewandt mit der Bitte, gemäß den Idealen der französischen Revolution rechtliche Beschränkungen, die den Kopten auferlegt waren, aufzuheben und Gleichheit herzustellen. Die Franzosen schafften daraufhin die diskriminierenden Bestimmungen der ḏimma ab (Beschränkungen bei öffentlichen Gottesdiensten, Kleidungsvorschriften, das Verbot, auf Pferden zu reiten und Waffen zu tragen). Außerdem wurde eine Gesetzeskommission eingerichtet, die aus sechs muslimischen und sechs koptischen Mitgliedern bestand; Vorsitzender wurde ein Kopte. Die Franzosen bauten sogar eine koptische Legion auf, die ihre Truppen bei der Einnahme Oberägyptens unterstützte. Die französische Herrschaft dauerte allerdings nicht lange. 1801 mussten sich die französischen Einheiten einer Allianz von osmanischen und britischen Truppen geschlagen geben und aus Ägypten abziehen. Nach der Niederlage der Franzosen bezahlten die Kopten den Preis für ihre Zusammenarbeit mit den Besatzern: Unruhen brachen aus, koptische Viertel wurden angegriffen, geplündert und angezündet. Der Vorsitzende der Gesetzeskommission wurde enthauptet. Außerdem wurde Eigentum von Kopten beschlagnahmt und der Gemeinschaft eine Sondersteuer auferlegt.80 Aus dem Machtkampf zwischen Osmanen und Mamluken, der nach dem Rückzug der Franzosen ausbrach, ging schließlich Mehmed (arabisch: Muhammad) Ali, ein in osmanischen Diensten stehender, in Thrakien gebürtiger, türkisch-sprachiger Albaner, als Sieger hervor. Er war 1801 an der Spitze einer albanischen Einheit in den Reihen der osmanischen Truppen nach Ägypten gelangt. 1805 wurde er vom Sultan Selim III. zum Gouverneur von Ägypten ernannt. Er sollte das Land bis 1848 regieren und vom Osmanischen Reich weitgehend unabhängig machen. Zwar erkannte Mehmed Ali die Oberhoheit des Sultans in Istanbul an und entrichtete einen jährlichen Tribut an die Hohe Pforte, die politischen Geschicke des Niltals bestimmten aber hinfort er und seine Nachfolger. Mehmed Ali und seine Dynastie führten mit Hilfe europäischer Berater eine Reihe von Reformen durch, die vieles dessen, was die osmanischen Sultane während der Tanzimat-Zeit in Angriff nahmen, vorwegnahmen und damit beispielgebend wurden für das Osmanische Reich.81 Allerdings blieben nicht alle Freiheiten, die die Kopten unter der kurzlebigen französischen Herrschaft genossen hatten, unter Mehmed Ali in Kraft. Die ǧizya wurde wieder erhoben. Auch scheinen sich Muslime besonders daran gestoßen zu haben, dass Christen Waffen tragen und auf Pferden reiten durften. Mehmed Ali ließ daher 1817 diese Vorschriften für Kopten und Griechen neu bekräftigen. Öffentliche Gottesdienste und Prozessionen sowie das Läuten von Kirchenglocken waren unter seiner Herrschaft aber erlaubt.82 80 Behrens-Abouseif 1972:7; Behrens-Abouseif 1982:187–189. 81 Vatikiotis 1991:49–52. 82 Behrens-Abouseif 1982:189.

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Die von Mehmed Ali eingeleiteten Veränderungen zielten hauptsächlich auf die Schaffung einer schlagkräftigen Armee ab. Notwendig für den Aufbau einer modernen Armee waren eine produktive Landwirtschaft als Basis der Steuereinnahmen, eine effiziente Bürokratie, eine im damaligen Sinne moderne Industrieproduktion zur Versorgung der Streitkräfte und schließlich die Rekrutierung geeigneter Soldaten sowie die Ausbildung der Offiziere. Für Bürokratie und Offizierscorps war ein Bildungssystem europäischer Prägung notwendig.83 Bis zur Regierungszeit Mehmed Alis war die osmanische Provinz Ägypten stark von der türkischen Herrscherschicht geprägt. Auf dem Land wurden alle Verwaltungsposten oberhalb des Ortsvorstehers (ʿumda) von Nicht-Ägyptern eingenommen. 1833 wurden die ersten Ägypter, darunter auch einige Kopten, auf die Posten von Distrikt- und Bezirksvorstehern ernannt. Reformen im Eigentumsrecht für Landbesitz und der Steuerpacht ließen eine Schicht von Großgrundbesitzern entstehen. Auch hiervon profitierten Kopten.84 Schlüsselposten in der Verwaltung vertraute Mehmed Ali aber nicht den Kopten, sondern Armeniern, Griechen und Europäern an, die im Türkischen (der Sprache des Hofes) und europäischen Sprachen gewandter waren als Kopten. Mehmed Alis Sohn Said Pascha (1854–1863) setzte weitere Reformen um. Im Dezember 1855 schaffte er die ǧizya ab und führte einen Monat später den Wehrdienst für Kopten ein. Er nahm damit die Reformen des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn des Osmanischen Reichs um einige Monate vorweg. Die Einführung des Wehrdienstes stieß bei den Kopten allerdings auf wenig Gegenliebe und der koptische Patriarch Kyrillos IV. soll den britischen Konsul gebeten haben, sich bei Said für ihre Abschaffung einzusetzen. Tatsächlich konnten sie sich bald wieder von der Wehrpflicht befreien.85 Die Regierungszeit Ismails (1863–1879), der zur Betonung der Unabhängigkeit Ägyptens den Titel Khedive annahm, war für die aufstrebenden Christen besonders günstig. Ismail betrachtete Ägypten als Brücke zu Europa und war stark an der Öffnung des Landes interessiert. So gewährte er einer großen Zahl katholischer Missionen aus Frankreich seine Patronage. Französische Kongregationen hatten maßgeblichen Einfluss auf den Ausbau eines modernen Schul- und Bildungssystems in Ägypten. Neben den Missionsschulen katholisch-französischer Prägung entstanden Schulen der amerikanischen protestantischen Mission, der griechischen Gemeinden sowie der Armenier und Juden. Einige koptische Schulen waren bereits auf Initiative von Patriarch Kyrillos IV. (1854–1861), der sich den Beinamen „Vater der Reform“ (Abū l-iṣlāḥ) erwarb, entstanden. Ismail baute aber auch das staatliche Bildungssystem aus. In der Zivilverwaltung erreichten nun auch Absolventen der koptischen Schulen einflussreiche Positionen.86 Aus der Schicht der koptischen Landbesitzer und der städtischen Notablen rekrutierten sich ab 1866 die Abgeordneten des neu eingerichteten Konsultativrats (maǧlis šūrā al-nuwwāb). Unter den 1866, 1870 und 1876 gewählten 83 84 85 86

Vatikiotis 1991:56–57. Baer 1962:1–7, 13–19; Vatikiotis 1991:53–56; Cuno 1992, 103–104, 106–107, 155–163. Behrens-Abouseif 1982:190–191. Vatikiotis 1991:81–82, 101–105.

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74 beziehungsweise 75 Abgeordneten waren auch stets zwei oder drei koptische Landbesitzer aus Oberägypten. Außerdem stiegen Kopten ab den 1870er Jahren in höhere Regierungsämter auf, die vorher der osmanischen Oberschicht, einigen ägyptischen Muslimen sowie Armeniern und Griechen vorbehalten waren.87 Die stürmische Modernisierung Ismails, seine horrenden Ausgaben – unter anderem für den Bau des Suez-Kanals – und die Krise der Baumwollwirtschaft führten Ägypten in den Staatsbankrott. Das Land wurde 1876 europäischer Schuldenaufsicht unterstellt. Ismail wurde 1879 zur Abdankung gezwungen und sein Sohn Tewfik (1879–1892) als Nachfolger eingesetzt. Gegen die europäische Kontrolle über die Geschicke Ägyptens regte sich aber Widerstand in nationalistisch gesinnten Kreisen der Armee. Dies führte 1880 zum Aufstand unter dem ägyptischen Offizier Ahmad ʻUrabi. Der Khedive wurde der Revolte nicht Herr und so sah sich Großbritannien 1882 zu einer militärischen Besetzung Ägyptens bewegt, nicht zuletzt um einer französischen Intervention zuvorzukommen. Mit dem ʻUrabi-Aufstand war ein aggressiver ägyptischer Nationalismus an die Oberfläche getreten. Er trat gegen die türkische Herrscherschicht rund um die Khedivenfamilie und gegen die Dominanz von Türken in den hohen Offiziersrängen genauso auf wie gegen die europäische Beherrschung der Wirtschaft. Mit der faktischen Machtübernahme der Briten bekam er ein neues Ziel. Außerdem führte er den Islam, die Religion der überwiegenden Mehrheit der Ägypter, als Identifikationsmerkmal gegen die britische Verwaltung ins Feld. Die Besetzung durch England wurde als Beherrschung durch eine christliche Macht empfunden. Die wirtschaftlich aufstrebende koptische Oberschicht, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine moderne, europäische Bildung genossen hatte, engagierte sich dagegen für einen säkular geprägten Nationalismus, arbeitete zum Teil aber auch mit den Briten zusammen, je nachdem wo sie ihre Interessen am besten vertreten sah.88 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen die Spannungen zwischen Kopten und Muslimen. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt mit der Ermordung des koptischen Premierministers Butros Ghali Pascha durch einen muslimischen Nationalisten im Jahr 1910. Ihm war vorgeworfen worden, als Christ ein willfähriges Instrument der Briten zu sein. Die Kopten sahen sich durch die öffentliche Debatte um die Ermordung des Premierministers einem immer feindlicheren islamischen Nationalismus ausgesetzt.89 Um dem Druck der muslimischen Nationalisten entgegenzuwirken, 87 Cuno 1992:176–178; Elsässer 2014:13–14, 19, 28–29. 88 Vatikiotis 1991:73–89, 124–141, 169–177, 191–192, 218–219. 89 Butros Ghali hatte Forderungen der Suez-Kanal-Gesellschaft nach Verlängerung ihrer Konzession um 40 Jahre (von der bis 1968 geltenden Konzession noch einmal bis 2008) unterstützt. Dies beförderte den Hass auf den christlichen Premier, der sich bereits vorher als Justizminister in den Augen vieler Muslime diskreditiert hatte. Als solcher hatte er in der sogenannten Dinshawai-Affaire von 1906 einem Sondergericht vorgesessen, das mehrere Todesurteile und andere schwere Strafen gegen Dorfbewohner in der Provinz Minufiyya verhängte, die nach einem Jagdunfall, bei der die Frau des lokalen Imams von britischen Soldaten erschossen worden war, in Kämpfe mit den Truppen geraten waren. Die islamisch-nationalistische Presse nutzte dies aus, um den koptischen Minister heftig anzuklagen. Vatikiotis 1991:206–209.

Persien

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versammelten sich über tausend koptische Aktivisten 1911 in Assiut zu einem „Koptischen Kongress“. Der Kongress forderte eine bessere parlamentarische Vertretung der Kopten, gleichen Zugang zum Bildungssystem und allen öffentlichen Ämtern, die Anerkennung des Sonntags anstelle des Freitags als Feiertag für koptische Regierungsangestellte und Studenten sowie die Einführung christlichen Religionsunterrichts in den staatlichen Schulen. Diese Forderungen liefen jedoch den Interessen der nationalistischen Regierung zuwider. Während weite Teile der koptischen Presse die Forderungen des Kongresses unterstützten, stellte die Regierungspresse die Veranstaltung als religiöse Verschwörung dar und beschuldigte die Kopten, willfährige Instrumente der britischen Politik zu sein. Als Reaktion auf den Kongress von Assiut wurde auf Ini­ tiative von muslimischen Persönlichkeiten und mit Unterstützung der Regierung nur einen Monat später in Heliopolis bei Kairo unter dem Namen „Ägyptischer Kongress“ zu einer Gegenveranstaltung eingeladen. Die etwa 2.500 Teilnehmer wiesen die Forderungen des „Koptischen Kongresses“ zurück und verwiesen darauf, dass Kopten in der öffentlichen Verwaltung weit überrepräsentiert seien.90 Die Teilnehmer waren sich jedoch nicht einig in der Frage, ob Muslime und Kopten gemeinsam den nationalen Kampf gegen die Kolonialherrschaft führen oder ob die Muslime eine Stärkung der islamischen Identität Ägyptens anstreben sollten.91 Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die ägyptische Gesellschaft tief gespalten: die einen basierten ihre Forderungen auf die Ansprüche der jeweiligen Religionsgemeinschaft (muslimisch oder koptisch), die anderen riefen zu einer Kooperation zwischen Kopten und Muslimen auf der Basis eines ägyptischen Nationalgefühls auf.

Persien Entwicklungen im 19. Jahrhundert Ähnlich wie das Osmanische Reich stand Persien im 19. Jahrhundert unter dem Druck der europäischen Mächte. Die Qajaren, die das Land seit 1779 regierten, waren nach der Niederlage gegen Russland von 1828 kaum in der Lage, die Grenzen des Landes zu schützen. Im Krieg hatte Persien seine kaukasischen Besitzungen verloren. Tiflis, Yerewan, Baku und Astrakhan fielen an Russland und die Zaren machten keinen Hehl daraus, dass sie danach strebten, die Grenzen ihres Reichs noch weiter nach Süden auszudehnen. Die christliche Bevölkerung der persischen Provinz Aserbaidschan, Armenier und Assyrer, diente ihnen dabei als Einfallstor. Gleichzeitig suchte England von Süden her seinen Einfluss auszudehnen. 90 Folgende Zahlen wurden genannt: 62 % der Stellen im Innenministerium seien von Kopten besetzt, 44 % im Finanzministerium, 48 % in den Post- und Eisenbahnbehörden, 30 % im Verteidigungsministerium, 15 % im Justizministerium und 6 % im Kultusministerium. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrage aber nur 6,43 %. 91 Behrens-Abouseif 1972:72–76; Carter 1986:14–15; Elli 2003:385–386; Ibrahim 2013:57–58.

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Der Vertrag von Turkmanchay beendete 1828 den persisch-russischen Krieg von 1826–1828. Darin wurden erstmals in Form von Kapitulationen besondere Privilegien für Russen festgelegt, die später auf Angehörige anderer europäischer Nationen ausgedehnt wurden. Ausländer konnten demnach nur in Anwesenheit ihres Konsuls und des kārgozār, eines Vertreters des Außenministeriums, von persischen Gerichten verurteilt werden. Außerdem genossen sie Steuer- und Zollprivilegien.92 Der Vertrag sah vor, dass Christen aus Persien ungehindert in die von Persien an Russland abgetretenen Provinzen des Kaukasus auswandern durften. Russland förderte die Einwanderung von Armeniern in den Kaukasus aktiv und es heißt, dass von den 100.000 Armeniern, die damals in der Provinz Aserbaidschan (armenisch: Atrpatakan – Atropatene) lebten, rund die Hälfte Persien verließ.93 Der armenisch-orthodoxe Bischof von Aserbaidschan versuchte der russischen Werbung zur Abwanderung entgegenzutreten. Über die Aus­ wanderung der Armenier besorgt war aber auch Kronprinz Abbas Mirza, der in Tabriz residierte (als Wirtschaftszentrum und größte Stadt Persiens der damaligen Zeit war Tabriz traditionell der Sitz des qajarischen Thronfolgers; dort residierten auch die meisten europäischen Gesandtschaften). Er ernannte seinen englischen Militärberater, Major Isaac Hart, zum „governor and protector of the Armenians“. Nach dessen Tod im Jahr 1830 folgte ihm auf Wunsch des Kronprinzen und der armenischen Gemeinschaft Dr. John Cormick, der irische Leibarzt des Prinzen im Amt (bis zu seinem Tod 1836). Abbas Mirza ging es darum, die Wirtschaftskraft der Armenier zu erhalten, und er gab dafür seinem Berater Autorität, die Armenier vor der Bedrückung durch Muslime zu schützen. Allerdings reichte diese Autorität kaum über das unmittelbare Umfeld von Tabriz hinaus.94 In Urmia ernannte der lokale Gouverneur seinen Arzt R. Bertoni zum Beschützer der lokalen Christen mit dem Titel eines qāżī al-masīḥī (Richter der Christen). Seine Aufgabe war es, die Christen der Region vor den Übergriffen der Landbesitzer aus den Reihen der persischen Notablen (Afsharen) zu schützen. Er musste sein Amt aber aufgrund von Drohungen der Notablen bereits 1842 aufgeben.95 Die Zahl der Assyrer und Chaldäer soll um 1830 etwa 60.000 betragen haben, 35.000 davon als viehzüchtende Stämme in den kurdischen Bergen (wobei hier die Abgrenzung von den Assyrern des Hakkari auf osmanischer Seite schwer zu machen sein dürfte), 25.000 als Bauern in der Ebene von Urmia (assyrisch: Urmi). Sie bearbeiteten als raʿayat, abhängige Bauern, den Boden muslimischer Landbesitzer.96 1830 trafen amerikanische Missionare in Tabriz ein und ließen sich 1835 in Urmia nieder. Von der Führung der nestorianischen und der chaldäischen Kirche wurden sie zunächst freundlich empfangen. Sie hatten bei ihrer Erkundungstour zugesagt, eine Druckerpresse für die assyrische Sprache (neu-ostsyrische Dialekte) zu installieren und 92 Richard 2009:46–48. Die Kapitulationen wurden erst von Reza Schah abgeschafft. 93 Hellot-Bellier 2006:81. 9.000 armenische Familien sollen allein aus Tabriz abgewandert sein, nur 2.500 blieben. O Flynn 2016:593, 605. 94 O Flynn 2016:593–594. 95 O Flynn 2016:713–714. 96 O Flynn 2016:608.

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religiöses Schriftgut zu drucken.97 Die Aktivitäten der europäischen und russischen Missionare profitierten vom Regime der Kapitulationen. Hinzu kam, dass Mohammad Schah den Katholiken 1840 Autonomie in Fragen des Personalstatuts zugestand sowie Eigentumsrechte an den Kirchen, die sie von nun an frei bauen und renovieren durften. Religionsfreiheit im Sinne des Religionswechsels von Muslimen gab es jedoch nicht.98 Konflikte zwischen lazaristischen Missionaren und Armeniern führten allerdings schon Ende 1842 dazu, dass Mohammad Schah (1834–1848) aufgrund einer Intervention des russischen Gesandten – Russland verstand sich als Schutzmacht der orthodoxen Armenier – einen Ferman erließ, der allen Untertanen der persischen Regierung den Wechsel von einer christlichen Konfession zu einer anderen verbot und Proselytismusversuche mit Strafe belegte.99 Der Wesir Amir Kabir (1848–1851) führte für den neuen Schah Naser al-Din (1848– 1896) Reformen durch, die jedoch nur von kurzer Dauer waren. Neben der Gründung des Dār al-fonūn, einer technischen Schule, stand die Beschneidung des Einflusses der religiösen Würdenträger: er schuf neben der religiösen Gerichtsbarkeit (šarʿī) eine „Gewohnheitsgerichtsbarkeit“ (ʿorfī), die die religiösen Richter in ihren Funktionen beschneiden sollte. Außerdem schuf er das Asylrecht (bast) ab, wonach Straftäter in Moscheen oder Häusern von islamischen Gelehrten geschützt waren. Die traditionellen Feiern zum Gedenken an den Tod Imam Hosseins (al-Ḥusain ibn ʿAlī ibn Abī Ṭālib, 626–680) im Monat Moharram mit ihren Büßermanifestationen (taʿziya) versuchte er zurückzudrängen. Den religiösen Minderheiten gewährte er bestimmte Privilegien, so wurden Priester der christlichen Kirchen von der Steuer befreit und die Gründung von Schulen erlaubt. Gleichzeitig versuchte er, die wirtschaftlichen Privilegien der Russen und Briten am Kaspischen Meer und dem Persischen Golf zu beschneiden. Die meisten Reformen wurden jedoch nach seinem Sturz 1851 wieder zurückgenommen. 1851 ließ der Gouverneur von Aserbaidschan Christen für die Armee ausheben. Die amerikanischen Missionare und der britische Gesandte protestierten vergeblich. Die ausländische Intervention erhöhte das Misstrauen der persischen Behörden gegen die Christen in der ohnehin schon sehr angespannten Lage. Spannungen um die Kontrolle über Afghanistan zwischen Persien und England führten 1856 in den anglo-persischen Krieg und viele Perser sahen in den Christen die Getreuen Englands. Bereits im Vorfeld des Kriegs wurde 1855 das christliche Regiment auf Anweisung eines hohen Regierungsbeamten niedergemetzelt. Der Frieden von Paris, der 1857 den Krieg zwischen Persien und England beendete, stellte die Privilegien der Briten, die Amir Kabir aufgehoben hatte, wieder her.100 Die Missionstätigkeit von Protestanten und Katholiken in Aserbaidschan hatte schon zu Beginn der 1840er Jahre zu Spannungen mit den Armeniern geführt. In dieser Situation hatten sich der britische und der russische Konsul dafür eingesetzt, dass 97 98 99 100

O Flynn 2016:604–618. Richard 2009:56–57; O Flynn 2016:715–718. Hellot-Bellier 2006:101. Dort auch eine französische Übersetzung des Ferman. O Flynn 2016:720–722. Richard 2009:67–71; O Flynn 2016:665.

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Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert

die Beziehungen zwischen den verschiedenen nicht-muslimischen Gemeinschaften sowie der Kontakt zu den muslimischen Behörden von einem eigenen Beamten geregelt wurden. Von der Regierung wurde dazu in den einzelnen Bezirken je ein Sarparast eingesetzt, meist aus den Reihen der Nicht-Muslime selbst. Der erste Sarparast in Urmia war ein Armenier, später wurde ein Sarparast für Dilman ernannt, 1881 auch für Hamadan. Da der Sarparast auch Abgaben von den Minderheiten erhob, war er oftmals bei den Minderheiten selbst, die er vertreten sollte, sehr unbeliebt. Mit der russischen Besetzung Urmias im Jahr 1912 erlosch das Amt; es fiel wieder mit dem des kārgozār zusammen, der die Beziehungen zwischen Ausländern und persischen Behörden regelte.101 Die besonderen Beziehungen der Assyrer zu den westlichen Ausländern, die Tätigkeit der Missionare in Aserbaidschan, die Privilegien der Ausländer und der wachsende Druck der Kolonialmächte England und Russland ließen in der persischen Bevölkerung das Misstrauen auf die Christen im Land wachsen. Die Türkei verstand es zusätzlich ab den 1890er Jahren, im Gebiet westlich des Urmia-Sees die Spannungen zwischen Kurden und Armeniern beziehungsweise Assyrern anzuheizen. Dies sollte den Boden bereiten für eine spätere Besetzung des Gebiets, das das Osmanische Reich als Ausgleich für die in Europa verlorenen Besitzungen für sich beanspruchte. Dass armenische Fedayi des Dashnak und Kämpfer des Hnchak von persischem Gebiet aus operierten, um Aktionen im türkischen Ostanatolien durchzuführen, diente der Regierung in Istanbul dabei als willkommene Begründung für Interventionen auf persischem Gebiet.102

101 Schwartz 1979:84–85; Bugnini 1981:188–189; Schwartz 1985:48–49; Golnazarian-Nichanian 2009:63; Hellot-Bellier 2014:232–235. 102 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren im Iran die weltweit organisierten armenischen Parteien präsent und sehr aktiv, zunächst Armenakan, dann Hnchak und Dashnak. Von iranischem Boden wurden Fedayi-Kämpfer und Waffen ins Osmanische Reich und in den russischen Kaukasus eingeschleust. Das Kloster Derik in Salmas wurde in den 1890er Jahren von Armenakan und Dashnak wieder aufgebaut und als Waffenlager genutzt. 1899 baute der Dashnak das berühmte Thaddäus-Kloster in Maku wieder auf und nutzte es außer für liturgische Zwecke ebenfalls als Stützpunkt für Transporte von Waffen, Kämpfern und politischer Literatur. Die osmanische Regierung forderte die persische Regierung wiederholt dazu auf, diese Operationen zu stoppen. Die folgenden Durchsuchungen von armenischen Bauerndörfern rund im Salmas durch persische Einheiten führte zu Spannungen zwischen den armenischen Bauern und den Fedayi, weil die Landbevölkerung fürchtete, für die Aktionen der Fedayi verantwortlich gemacht zu werden. 1905 fielen osmanische Truppen in Nordwest-Persien ein (Vezneh und Lahijan), unter anderem um den Aktionen der Fedayi ein Ende zu bereiten. Im Juli zerstörten osmanische Truppen zahlreiche armenische Dörfer westlich des Urmia-Sees und beendeten die Aktivitäten lokaler Räte (anǧomān). Dabei wurden sie von kurdischen irregulären Einheiten unterstützt. Hnchak und Dashnak verteilten Waffen zum Selbstschutz an die Dorfbevölkerung und organisierten Einheiten von armenischen Fedayi, die in den unruhigen Jahren 1907 bis 1912, in denen es zahlreiche Angriffe kurdischer Stämme und Racheaktionen assyrischer und armenischer Stämme und Dörfer gab, auch brutale Übergriffe auf muslimische Dörfer verübten. Kurdische Stämme waren dabei oft Instrument der osmanischen oder russischen Politik. Beide Länder versuchten ihren Einfluss in dem umstrittenen Gebiet westlich des Urmia-Sees zu vergrößern. Russland bot gleichzeitig den Christen – Assyrern und Armeniern – immer wieder Protektion an. Gruppen assyrischer Christen traten auch zur russisch-orthodoxen Kirche über.

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Die Entwicklung für Christen in Persien während des 19. Jahrhunderts lässt sich wie folgt zusammenfassen. Durch den Einfluss der Missionsschulen öffneten sich viele Christen im persischen Aserbaidschan für modernes Gedankengut. Außerdem wurde die städtische armenische Bevölkerung durch sozialistische und revolutionäre Ideen aus dem Kaukasus beeinflusst. Dies schuf einen wachsenden kulturellen Abstand zur kurdischen und persischen Bevölkerung, die weiterhin an traditionellen Vorstellungen festhielt. Mit der Verbreitung moderner, westlicher Ideen wuchs auch die Unzufriedenheit von Christen mit ihrer seit Jahrhunderten bestehenden rechtlich minderwertigen Stellung. Wie im Osmanischen Reich galten für sie die Bestimmungen der ḏimma. Hinzu kamen einige Besonderheiten: So wurden sie im Erbrecht stark benachteiligt (wenn ein Familienangehöriger zum Islam übertrat, fiel ihm das gesamte Erbe des christlichen Erblassers zu, der christliche Teil der Familie ging leer aus). Außerdem galten Nicht-Muslime als unrein; diese Unreinheit übertrug sich nach traditionellen schiitischen Vorstellungen über Feuchtigkeit, so dass Nicht-Muslimen untersagt war, bei Regen auf die Straße zu treten. Zwar fanden diese Regeln in den meist rein christlichen Dörfern Aserbaidschans und den armenischen Siedlungen rund um Isfahan in der Praxis kaum Anwendung, dennoch wuchs mit dem wachsenden Bildungsstand vieler Christen das Bewusstsein für ihre Zurücksetzung. Dies ließ sie nach Protektoren unter den europäischen Mächten suchen, mit deren Hilfe die Eliten von Assyrern und Armeniern versuchten, ihre Rechtslage zu verbessern. Europäische Konsuln und Missionare der protestantischen und katholischen Kirche nahmen die Klagen bereitwillig auf, um bei den persischen Behörden Verbesserungen einzufordern. Dies führte zu einer weiteren Entfremdung zwischen Christen und der persisch-muslimischen Gesellschaft. Die christlichen Gemeinden selbst, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ausschließlich der armenisch-orthodoxen, assyrischen und chaldäischen Kirche angehört hatten, wurden durch den Einfluss der presbyterianischen Missionare und der russisch-orthodoxen Kirche untereinander gespalten und dadurch als Gemeinschaft geschwächt. Dennoch sind die Bildungsmaßnahmen der protestantischen Missionare in ihren positiven Wirkungen auf die Entwicklung der assyrischen Christen sehr zu würdigen. Aktivitäten der armenischen Fedayi, oft aus dem Kaukasus eingeschleust, verdarben zudem vielerorts die Beziehungen der ansässigen armenischen Bevölkerung zu den Kurden. Dies sollte in den folgenden Jahren schwerwiegende Folgen haben.

Die konstitutionelle Revolution Das 20. Jahrhundert begann für Persien mit einer Revolution. Die Schwäche der Qajaren hatte den Boden bereitet für Forderungen nach einem konstitutionellen Rahmen für die Herrschaft des Schahs und die Einrichtung eines Parlaments. Nach Protesten sah sich Mozaffar al-Din Schah (1896–1907) am 5. August 1906 gezwungen, einen Ferman zur Einberufung eines Parlaments (maǧles) zu unterzeichnen. Das kurz darauf erlassene Wahlgesetz sah eine Repräsentation nach Klassen (Qajarenprinzen,

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Religionsgelehrte, Großgrundbesitzer, Großhändler, sonstige Berufsstände) vor. Eine Vertretung der religiösen Minderheiten gab es nicht.103 Das Parlament hatte die Aufgabe, eine Verfassung auszuarbeiten. Am 7. Oktober 1906 begann es mit seiner Arbeit. Als Vorlage dienten die Verfassungen Belgiens und Bulgariens sowie einige Artikel der kurz zuvor erlassenen russischen Verfassung von 1906. Der Text garantierte demo­ kratische Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit, Briefgeheimnis, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und das Recht auf einen Gerichtsprozess gemäß definierten Regeln; besondere Rechte für die religiösen Minderheiten dagegen nicht.104 Die konstitutionelle Revolution wurde vor allem von Kräften in der Provinz Aserbaidschan getragen. Dabei stellten sich die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak ab 1908 an die Seite der Revolutionäre. Armenische Fedayi unterstützten den bewaffneten Kampf gegen reaktionäre Kräfte. Armenische Intellektuelle lieferten entscheidende Impulse für die liberale und sozialistische Bewegung.105 Die Entscheidung der armenischen Parteien zur Unterstützung der konstitutionellen Kräfte in Persien hing sicherlich auch mit der gleichzeitig im Osmanischen Reich stattfindenden jungtürkischen Revolution zusammen. Der Boden für die breite Beteiligung von Armeniern an der konstitutionellen Revolution in Persien war von den säkularen armenischen Schulen bereitet worden. An ihnen unterrichteten viele Lehrer aus dem Kaukasus. Sie waren dort politisiert worden und hatten ihre liberalen oder sozialistischen Ideen nach Persien gebracht. Außerdem waren die beiden internationalen armenischen Parteien Hnchak und Dashnak seit 1890 in Persien aktiv und hatten ihre Ideen verbreitet. Mehrere Zeitungen warben um die Gunst der armenischen Leserschaft.106 Eine Reihe von Assyrern in Urmia, vor allem ehemalige Schüler der presbyterianischen Missionsschulen und Migranten, die im Kaukasus mit sozialdemokratischen 103 Im ersten maǧles waren Armenier und Juden durch die muslimischen Abgeordneten Sayyed Mohammad Tabatabaʼi und Sayyed Abdollah Behbahani vertreten. 104 In der ersten Version der Verfassung fehlte ein besonderer Bezug zum Islam. Dies wurde von den traditionellen Religionsgelehrten (ʿulamāʾ) mit Unmut aufgenommen. Daher wurden schließlich mehrere Ergänzungsartikel zur Verfassung erlassen. Die wichtigsten die Religion betreffenden waren Artikel 1, der den Zwölferschiismus jaʼfaritischer Prägung zur Staatsreligion erhob und festlegte, dass der Souverän und die Minister Muslime zu sein hätten, Artikel 2, der einen Rat von Religionsgelehrten vorsah, der darüber wachen sollte, dass nur islamkonforme Gesetze erlassen wurden, und Artikel 27, der bestimmte, dass kein Gesetz in Kraft treten dürfe, das dem Islam widerspricht. Außerdem sollte der Islam die religiöse Gerichtsbarkeit (šarʿī) bestimmen, nicht jedoch die zivilen Gerichte. Gegen den Protest der laizistisch inspirierten demokratischen Abgeordneten, die meisten davon aus Aserbai­ dschan, wurden die Ergänzungen am 12. Juni 1907 angenommen. 105 Chaqueri 1988:16–45; Chaqueri 1998a:80–101; Berberian 2001:86, 145–146. 106 Berberian 2001:54–55. 1894 gründete der spätere maǧles-Abgeordnete Hovhannes Khan Masehian in Tehran die armenische Zeitung Shavigh („Der Weg“). Im Juli 1906 verbot die persische Regierung die Einfuhr der Dashnak-Zeitung Droshak sowie anderer „revolutionärer Broschüren“. Die armenischen Parteien druckten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls eigene Zeitungen im Iran. Der Hnchak ließ von 1910 bis 1922 seine Zeitung Zang („Der Ring“, Herausgeber: Aleksandr Ter Vardanian) erscheinen, der Dashnak Aravot („Der Morgen“, 1909–1912, Herausgeber: Hayrapet Panirian) und Ayg („Die Morgenröte“, 1912–1922, Herausgeber: G. Hakobian). Zwischen 1894 und 1919 erschienen ins­ gesamt 24 armenische Zeitungen im Iran. Berberian 1996:8–10; Berberian 2001:47–51, 67–68, 94–95; Golnazarian-Nichanian 2009:62, 67–72; Hellot-Bellier 2014:320–329, 332–350.

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und sozialistischen Ideen in Berührung gekommen waren, unterstützten ebenfalls die revolutionären Kräfte. Allerdings waren die Christen Urmias nicht in dem dort im November 1906 gebildeten Revolutionsrat (anǧomān) vertreten. Überlegungen, einen eigenen christlichen anǧomān in Urmia zu bilden, wurden Anfang 1907 schnell wieder aufgegeben.107 Der Streit um die angemessene Form der Regierung Persiens spitzte sich nach der Unterzeichnung des anglo-russischen Vertrags (31. August 1907) zu. Dieser teilte Persien in eine russische Einflusszone im Norden, eine britische im Süden und eine neutrale Zone im Zentrum. Die persischen Nationalisten griffen dieses Abkommen heftig an. Der Schah versuchte den Streit zu nutzen, um die konstitutionelle Ordnung zu beseitigen. Zwei Mal ließ er den maǧles von seinen persönlichen Truppen, den von russischen Offizieren trainierten Kosaken, beschießen. Ab Juni 1908 regierte der Schah wieder ohne Verfassung und Parlament. Tabriz allerdings widersetzte sich der Macht des Schahs. Die Aufständischen, die in enger Verbindung mit dem Kaukasus standen, erhielten Unterstützung von Armeniern, Tataren und Georgiern. Armenische Fedayi unterstützten die Aktivitäten der lokalen Widerstandskomitees und ihrer moǧāhedīn in Tabriz, Salmas, Maku, Dilman, Khoi und Urmia. Der Schah ließ Tabriz belagern, jedoch erfolglos. Im April 1909 verlangte Russland die Aufhebung der Belagerung, damit seine dort ansässigen Staatsbürger versorgt werden könnten. Russische Truppen besetzten die Stadt. In Rasht erhoben sich ebenfalls Anhänger der Verfassung. Einer ihrer militärischen Führer war der Armenier Yeprem Khan Davitian (1868–1912). Seinen Einheiten gehörten mehrere hundert armenische Fedayi an. Mit Unterstützung armenischer und georgischer Einheiten wurde Qazvin erobert. Da sich gleichzeitig der mächtige Stamm der Bakhtiyari in Isfahan erhoben hatte, war der Schah militärisch am Ende. Im Juli nahmen die Konstitutionalisten Tehran ein, Mohammad-Ali Schah (seit 1907 Nachfolger seines verstorbenen Vaters Mozaffar al-Din) dankte zugunsten seines minderjährigen Sohnes Ahmad ab. Die Konstitutionalisten übernahmen die Macht; Yeprem Khan wurde Polizeichef. Unterdessen wurden ein Gesetz für die Wahl eines neuen maǧles verabschiedet. Die Vertretung nach Korporationen wurde aufgegeben. Stattdessen erhielten nun die Minderheiten der Armenier, Assyrer, Juden und Zoroastrier je einen eigenen Abgeordneten. Bahai und Babi, die von den islamischen Religionsgelehrten als Abtrünnige betrachtet wurden, wurden ausgeschlossen.108 107 Die Armenier von Salmas, die in den umliegenden Dörfern sehr zahlreich waren, waren dagegen im dortigen anǧomān vertreten und nahmen aktiv am Widerstand gegen reaktionäre Kräfte teil. Im fast ausschließlich chaldäischen Dorf Khosrova wurde kein anǧomān gebildet; die Bewohner von Khosrova stellten ihre Forderungen dagegen an den anǧomān von Tabriz. Hellot-Bellier 2014:320–329, 332–350. 108 Naby 1977:245–246; Yonan 1978:88; Sanasarian 2000:42; Berberian 2001:96–98, 139–140; Golnazarian-Nichanian 2009:54. Die Regelung sicherte den anerkannten Minderheiten zwar eine Vertretung im Parlament, isolierte sie aber von der muslimischen Bevölkerung, da Christen, Juden und Zoroastrier nur für ihre eigenen Kandidaten stimmen konnten, nicht aber für muslimische. Umgekehrt konnten Muslime ihre Stimme keinen Kandidaten der Minderheiten geben. Innerhalb der Armenier wurde folglich diskutiert, ob gemischte Wahlkreise nicht die bessere Lösung seien, weil dadurch langfristig religiöse Grenzen überwunden worden wären. Schließlich erhielt jede der genannten Minderheiten

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In Tabriz blieb die radikale Partei der Demokraten (ḥezb-e demokrāt) bestimmend. Allerdings hielten die Russen Tabriz und weite Teile des Nordens weiter besetzt. Im September 1911 unternahm ein Bruder des ex-Schah mit russischer Unterstützung einen Restaurationsversuch. Er wurde aber von den Polizeieinheiten Yeprem Khans gestoppt. Yeprem wurde daraufhin Oberkommandierender der Armee des Nordens. Allerdings verlangte nun Russland vom maǧles ultimativ die Entlassung des amerikanischen Finanzexperten und die Übernahme der Kosten seiner Truppen im Nord-Iran. Der maǧles gab dem nicht nach, sondern zog es im Dezember 1911 vor, sich selbst aufzulösen, ohne Neuwahlen anzusetzen. Damit war die Herrschaft des Parlaments zu Ende.109 Die katholischen Lazaristen beobachteten die revolutionären Ereignisse mit großer Zurückhaltung; sie standen an der Seite des Schahs und der etablierten Ordnung. Die amerikanischen Presbyterianer begrüßten dagegen zunächst den Ruf nach grundlegenden Freiheiten, sahen in der Folge aber im zunehmenden Einfluss des Islam auf die revolutionäre Bewegung eine Gefahr. Die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche unterstützten ebenso wie die zaristische Regierung offen die Regierung des Schahs und beklagten die Aktivitäten der Revolutionäre.110 Nach dem Scheitern der konstitutionellen Revolution beschlossen die zentralen Organe des Dashnak 1912, die Aktivitäten im Iran einzustellen. Die russische Besetzung Aserbaidschans hatte bereits zur Zerschlagung der meisten Dashnak-Zellen in der Region geführt. Von vielen persischen Nationalisten wurde der Rückzug des Dashnak als Verrat an der gemeinsamen Sache verstanden. Dies sowie die Protektion, die die christlichen Dörfer Aserbaidschans bei den Russen suchten, säte für viele Jahre Feindschaft zwischen iranischen und armenischen Nationalisten, die erst in den 1920er Jahren überwunden wurde.111

Der Nahe Osten am Vorabend des Ersten Weltkriegs Am Vorabend des Ersten Weltkriegs ging eine tiefe Spaltung durch die Länder des Osmanischen Reichs und Persiens. Europäische und amerikanische Missionare hatten über ihr Wirken, vor allem über ihre Schulen, westliche Bildung und westliche einen Abgeordneten. Die Armenier verlangten wegen der Größe ihrer Gemeinschaft dagegen zwei (der zweite Abgeordnete wurde ihnen erst 1925/1927 zugestanden). Die Armenier wählten bei den Wahlen im Februar 1910 Hovsep Mirzayan, der dem Dashnaktsutiun nahestand. Der assyrische Kandidat sollte aus der Provinz Urmia kommen, jedoch verhinderten Rivalitäten zwischen den Konfessionen die Wahl eines Abgeordneten. Bis zur russischen Besetzung der nordwestlichen Provinzen Persiens 1911 konnte keine Einigung herbeigeführt werden. Auch zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde kein assyrischer Abgeordneter gewählt. Erst 1958 erhielten sie einen eigenen Vertreter im Parlament. 109 Chaqueri 1988:7–16; Berberian 1996:26–28; Berberian 2001:128–134, 149–156; Richard 2009:145–165, 142–143. 110 Hellot-Bellier 2014:353–408. Dort auch Einzelheiten zu den Ereignissen während der konstitutionellen Revolution aus Sicht der Assyrer. 111 Berberian 1996:29–32; Berberian 2001:173–183; Golnazarian-Nichanian 2009:103–104.

Der Nahe Osten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

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Vorstellungen unter den Christen verbreitet. Die Schulen der armenischen und griechischen Gemeinden sowie die der mit Rom unierten Kirchen hatten dieses Bildungsund Wertesystem ebenfalls aufgegriffen und ihm zu weiter Verbreitung verholfen. Damit tat sich eine immer größere Kluft zwischen westlich gebildeten Christen und religiös-traditionell denkenden Muslimen auf.112 Die wirtschaftliche Entwicklung der Christen, die die der Muslime bei weitem übertraf, schuf Neid und Missgunst. Christen profitierten von ihrer Kenntnis europäischer Sprachen (die sie an den neuartigen Schulen erworben hatten), ihrer Unvoreingenommenheit gegenüber dem christlichen Europa und seiner Gedankenwelt (viele Muslime hatten religiöse Vorbehalte gegen europäische, in ihren Augen „christliche“ Errungenschaften) und ihren guten Beziehungen zu europäischen Handelsfirmen und Konsuln. So hatten sie bedeutende Vorteile gegenüber ihren muslimischen Konkurrenten. Die neu entstehenden Berufe waren quasi ein Monopol der Nicht-Muslime: Ärzte, Architekten, Ingenieure, Fotografen sowie Angestellte im Druckereiwesen, in der sich modernisierenden Staatsverwaltung, in der Post- und Telegraphenverwaltung, und bei der Eisenbahn. Muslime arbeiteten dagegen weiter im Militär, dem traditionellen Handwerk, dem kleinen und mittleren Handel (im Groß- und Fernhandel wurden sie immer mehr von Christen verdrängt) und in der Landwirtschaft. Mit den Reformen des 19. Jahrhunderts wurden im Osmanischen Reich und Ägypten Christen den Muslimen rechtlich gleichgestellt (in Persien erfolgte dieser Schritt erst mit der konstitutionellen Revolution von 1906). Für viele Muslime war dies nicht mit ihrer Vorstellung von einer islamischen Gesellschaftsordnung vereinbar. Nur eine Elite von westlich gebildeten Muslimen stand hinter diesen Maßnahmen. Die Tatsache, dass viele der Reformen auf den Druck europäischer Mächte zurückgingen und dass europäische Regierungen, lokale Konsuln und westliche Missionare immer wieder auf den „Schutz“ der orientalischen Christen drängten, ließ ihnen die Gleichstellung der Nicht-Muslime als Instrument westlicher Herrschaft über die islamische Welt erscheinen. Dass Russland und die entstehenden, aus muslimischer Sicht „christlichen“ Balkanstaaten Muslime in großer Zahl und oft unter unsäglichen Bedingungen aus den von ihnen erworbenen Gebieten vertrieben, tat ein Übriges, um Ressentiments gegen heimische Christen zu schüren. Die koloniale Expansion Europas auf bisher muslimischem Territorium (Besetzung Algeriens durch Frankreich ab 1830, französisches Protektorat über Tunesien 1881, britische Besetzung Ägyptens 1882, Teilung Persiens in ein russisches und ein englisches Einflussgebiet 1907, Besetzung Tripolitaniens durch Italien 1911) verhärtete die Fronten. Dass orientalische Christen, ob sie es wollten oder nicht, von europäischen Mächten protegiert wurden (oft genug haben sie aber auch selbst den Schutz europäischer Staaten angerufen), ließ sie Muslimen als Handlanger dieser Länder erscheinen. Die Muslime empfanden sie als Ergebnis der Reformen 112 Nicht überall profitierten Christen von modernen Bildungseinrichtungen. Unter den syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin, den Assyrern des Hakkari und den koptische Fellahen in Oberägypten hatte nur eine kleine Minderheit Zugang zu derartigen Schulen. Mayeur-Jaouen 2005:771.

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also nicht als gleichgestellt – schon dies wäre angesichts ihres jahrhundertealten ḏimma-Status schwer zu ertragen gewesen –, sondern als privilegiert. Unauflöslich wurde die Situation schließlich durch das Erstarken des Nationalgefühls unter Armeniern und Griechen, dem Unabhängigkeitsstreben der Maroniten im Libanon und den Hoffnungen auf Wiedererrichtung eines arabischen Reichs im Fruchtbaren Halbmond und der Arabischen Halbinsel.113 Diese Nationalismen trafen auf einen sich ausformenden türkischen Nationalismus, der die Macht im Osmanischen Reich einer türkischen Herrscherklasse vorbehalten oder – je nach Ausrichtung – ein türkisches Anatolien schaffen wollte. Die konstitutionelle Phase des Komitees Einheit und Fortschritt war ein letzter Versuch, den multinationalen und multireligiösen Charakter des Osmanischen Reichs zu erhalten. Er scheiterte am Unverständnis weiter muslimischer Kreise (konservative Religionsgelehrte, ungebildete Massen, nomadisierende Stämme, unkontrollierte muhacir in Anatolien), dem Autonomiestreben einflussreicher Kreise in den Reihen der Armenier und Griechen (das von internationalen Kräften noch befeuert wurde) sowie dem auf Ablehnung alles Türkischen basierenden arabischen Nationalismus. Ab 1912 prallten diese Nationalismen mit voller Wucht aufeinander. Religiöse Aspekte, die nicht selten von europäischen Beobachtern noch bestärkt wurden, gaben den Nationalismen zusätzlichen Auftrieb. Diese Entwicklung führte letztlich in die Katastrophen, die die Völker des Osmanischen Reichs während des Ersten Weltkriegs trafen. Aber auch der Nordwesten Persiens, das versuchte, sich aus dem Krieg herauszuhalten, wurde Schauplatz von Ereignissen, die ihren Ursprung in Anatolien und dem Kaukasus hatten. Mit der Schilderung dieser Ereignisse müssen wir die Geschichte der Christen des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert beginnen.

113 Assyrische Bestrebungen nach Unabhängigkeit sind erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs aufgrund alliierter Versprechen entstanden und waren nicht ursächlich für ihren Widerstand gegen die osmanische Herrschaft.

Türkei Auf diese Weise hörten alle Bewohner der Provinz Asien, Juden wie Griechen, das Wort des Herrn (Apg. 19,10)

Christentum am Bosporus, in Kleinasien und Armenien von der Frühzeit bis ins 19. Jahrhundert

K

leinasien, mit den römischen Provinzen Bithynien und Pontos, Asien, Gala­tien, Lykien und Pamphylien, Kappadokien und Kilikien, gehörte zu den Missionsgebieten des heiligen Paulus. Die Offenbarung des Johannes (Apk. 1, 11) bezeugt frühchristliche Gemeinden in Ephesus (türkisch: Efes), Smyrna (Izmir), Pergamon (Bergama), Thyatira (heute: Akhisar), Sardes (Sart), Philadelphia (Ala­şe­hir) und Laodizea (nahe der heutigen Stadt Denizli). Der Apostel Andreas soll das Evangelium nach Byzanz am Bosporus gebracht haben. In Kappadokien wirkten im 4. Jahrhundert die Kirchenväter Basilios der Große, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa. In Konstantinopel wurde am Ende des 4. Jahrhunderts Johannes Chrysostomos Erzbischof. Er war ein begnadeter Prediger (daher sein Beiname Chrystostomos, „Goldmund“) und nach ihm wurde wegen seiner Bemühungen um die Vereinheitlichung der Feier des Gottesdienstes eine der byzantinischen Liturgien benannt. Kleinasien wurde schnell zu einem Zentrum des griechisch-sprachigen Christentums. Die antiken Städte Edessa und Nisibis (heute: Urfa und Nusaybin im Südosten der Türkei) waren Zentren des syrischen Christentums. Dort wirkte im 4. Jahrhundert Ephraem der Syrer, bekannt für seine zahlreichen Hymnen in syro-aramäischer Sprache. Die Klöster des Tur Abdin, von denen manche auf das 5. Jahrhundert zurückgehen, bezeugen bis heute die Blüte des syrischen Christentums in diesem Gebiet. Im Jahr 301 nahm das Königreich Armenien, dessen Staatsgebiet sich zum großen Teil auf dem Gebiet der heutigen Türkei befindet, das Christentum an. Der heilige Gregor der Erleuchter (ca. 240–331) hatte das Christentum nach Armenien gebracht. Neben der griechischen Kultur in Kleinasien bildete sich eine reiche armenisch-christliche Kultur im östlichen Anatolien heraus. Im frühen 5. Jahrhundert entwickelte Mesrop Mashtots, geboren in der Nähe des Van-Sees, die armenische Schrift und übersetzte die Bibel ins Armenische. Der römische Kaiser Konstantin (306–337) machte Byzanz im Jahr 330 zu seiner Residenz und gab dieser den Namen Konstantinopel. Seinem Rang als zweitem Rom gemäß stieg der Bischof von Konstantinopel in den Rang eines Patriarchen auf. Kaiser Theodosius (379–395) erklärte das Christentum im Jahr 380 zur Staatsreligion. Justinian (527–565) ließ die Hagia Sophia als zentrale Kirche des Reichs errichten. Der

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Türkei

Kaiser verstand sich als Verteidiger des Christentums und Wahrer des Glaubens. Als solcher berief er Konzilien ein. Alle ökumenischen Konzilien wurden im Gebiet rund um Konstantinopel sowie in Kleinasien auf dem Gebiet der heutigen Türkei abgehalten (Nizäa/türkisch: İznik, Konstantinopel, Chalkedon/Kadiköy, Ephesus/Efes). Während Syrien, Palästina, Mesopotamien und Ägypten im 7. Jahrhundert in die Hände der Muslime fielen, verteidigte Byzanz das kleinasiatische Hochland über mehrere Jahrhunderte. Erst nach der Schlacht von Manzikert (türkisch: Malazgirt) 1071 gelang es einem Stamm der Seljuken sich in Zentralanatolien rund um Ikonion, dem türkischen Konya, niederzulassen. Nach dem Gebiet ihrer Ansiedlung erhielten sie den Namen Rum-Seljuken (Rūm ist die arabisch-türkische Bezeichnung für die [Ost-]Römer). Mit ihnen begann die Islamisierung des zentralen Anatolien. Die Kreuzfahrerzeit sah mit der Gründung des Königreichs Kleinarmenien in Kilikien noch einmal die Errichtung eines christlichen Reichs im südlichen Anatolien. Von 1080 bis 1375 herrschten, teilweise im Bündnis mit den lateinischen Kreuzfahrern, von den Seljuken aus Ostanatolien vertriebene Armenier an der Küste des Mittelmeers. Auf sie gehen die engen Verbindungen zum Papst in Rom zurück, aus denen letztlich, wenn auch offiziell erst im 18. Jahrhundert, die armenisch-katholische Kirche hervorging. Seit dem frühen 14. Jahrhundert breitete die türkische Dynastie der Osmanen ihre Herrschaft vom nordwestlichen Kleinasien aus immer weiter aus. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts beherrschten sie weite Teile Anatoliens sowie des europäischen Griechenlands. 1453 nahm Mehmed der Eroberer Konstantinopel ein. Er besiegelte damit das Ende des Byzantinischen Reichs. Für die Christen Kleinasiens ging eine Epoche zu Ende. Von nun an herrschte die islamische Dynastie der Osmanen über das gesamte Gebiet des Byzantinischen Reichs. In Konstantinopel setzten sie einen neuen Patriarchen für die Griechen ein. Als Bischof der Hauptstadt erhielt er Jurisdiktionsgewalt über alle orthodoxen Gemeinden des Osmanischen Reichs, das seit 1517 auch die Patriarchate Antiochien, Jerusalem und Alexandrien umfasste; eine ungekannte Machtfülle für den Patriarchen am Bosporus. Für die anderen Kirchen schuf der Sultan im Jahr 1479 das armenische Patriarchat von Konstantinopel; ein Amt, das es vorher in dieser Form nicht gab. Der armenische Patriarch erhielt im Rahmen des osmanischen millet-Systems Jurisdiktion auch über die syrischen, koptischen und ostsyrischen (nestorianischen) Gläubigen des Reichs. De facto wurde diese aber von den Patriarchen der jeweiligen Kirche ausgeübt. Konstantinopel, die Westküste Kleinasiens, die Schwarzmeerküste und Kappadokien hatten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bedeutende griechische Gemeinden. In den sechs östlichen Provinzen Anatoliens (Van, Bitlis, Erzerum, Mamuret-ul-Aziz, Diyarbakir und Sivas) lebte eine große Zahl von Armeniern, ebenso wie in Konstantinopel. Syrische Christen lebten vor allem im Tur Abdin; Chaldäer an den Oberläufen von Euphrat und Tigris (Provinzen Diyarbakir und Mamuret-ul-Aziz), Assyrer im Hakkari (Provinz Van). In Konstantinopel, vor allem in Pera und Galata, hatten sich seit byzantinischer Zeit zahlreiche westliche Händler niedergelassen. Ihre Reihen

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wurden immer wieder von Zuwanderern, meist aus Italien und Frankreich, verstärkt. Sie bildeten noch im frühen 20. Jahrhundert eine blühende Gemeinschaft von sogenannten Levantinern. Als Katholiken wurden sie von Priestern der römischen Kirche betreut. Auch in Smyrna bestand eine große Gemeinde von Levantinern.1 In Anatolien kümmerten sich im 19. Jahrhundert katholische Missionare um die chaldäischen und syrisch-katholischen Gemeinden und suchten die Gläubigen der syrisch-orthodoxen und nestorianischen Kirche für die Union mit Rom zu gewinnen. Seit dem 19. Jahrhundert eröffneten auch die Kirchen der Reformation eine Reihe von Einrichtungen in Konstantinopel und Smyrna sowie Missionsstationen im zentralen und südöstlichen Anatolien. Vor allem das American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM) war ab 1831 in Konstantinopel und Kleinasien aktiv. Aber auch die anglikanische Church Mission Society (CMS) entsandte Missionare nach Istanbul, vorwiegend aber zu den Armeniern, Syrern und Assyrern im östlichen Anatolien.2

Vertreibung und Ermordung: das Schicksal der Christen Anatoliens im Ersten Weltkrieg Das Gebiet der heutigen Republik Türkei erlebte durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs Umwälzungen wie kaum eine andere Region der Welt. Bereits vor dem Weltkrieg hatten die Gebietsverluste des Osmanischen Reichs im Kaukasus und auf dem Balkan Wellen von muslimischen Einwanderern nach Anatolien gebracht (Tscherkessen, Lazen und muslimische Georgier aus dem Kaukasus; Albaner, Pomaken und Bosniaken aus dem Balkan). Dies hatte die Bevölkerungszusammensetzung vor allem im traditionellen armenischen Siedlungsgebiet in Ostanatolien deutlich verändert. Aber nicht nur Muslime kamen; auch viele Griechen aus dem seit 1830 unabhängigen, aber wirtschaftlich unterentwickelten Königreich Griechenland waren ins Osmanische Reich eingewandert und hatten sich an der Ägäisküste, vor allem in Smyrna/Izmir, in Istanbul sowie in den Hafenstädten der Schwarzmeerküste niedergelassen. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten nach Schätzungen des armenischen Patriarchats von Konstantinopel etwa 2 Millionen Armenier im Osmanischen Reich, die meisten in Anatolien, Kilikien und Istanbul. Die Zahl der Griechen betrug etwa 2,1 Millionen, davon rund 330.000 in Konstantinopel (plus 65.000 Griechen mit griechischer Staatsbürgerschaft), 290.000 in Thrakien und etwa 1,5 Millionen in Anatolien.3 Im Süden Anatoliens lebten mindestens 15.000 griechisch-orthodoxe Araber des Patriarchats von Antiochien. Im Hakkari, im äußersten Südosten Anatoliens, lebten etwa 100.000 Assyrer 1 Über die Levantiner siehe Schmitt 2005. 2 Der amerikanische Missionar Horatio Southgate, seit 1840 in Istanbul, wurde 1844 Mis­sionsbischof der Protestant Episcopal Church „for the dominions and dependencies of the Sultan“, also für das gesamte Osmanische Reich. Er kehrte allerdings bereits 1849 in die USA zurück. Das Bischofsamt fand keine Fortsetzung. Kawerau 1958:593–602. 3 Angaben für die Griechen nach Alexandris 1999.

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und Chaldäer, in den westlich davon gelegenen Provinzen Mardin und Diyarbakir etwa 90.000 Syrer (Christen der westsyrischen Tradition, also syrisch-orthodoxe, syrisch-katholische und einige syrisch-evangelische Christen). Das Osmanische Reich ließ zwar bereits Anfang August mobilmachen, trat aber erst am 2. November 1914 offiziell in den Krieg ein. Der Kriegseintritt veranlasste die politische und religiöse Führung der Armenier zu einer Loyalitätserklärung gegenüber dem osmanischen Staat. Der armenische Patriarch von Konstantinopel Zaven Ter Yeghiayan (1913–1922) erklärte in einem Rundbrief vom 10. November: „In den letzten drei Monaten [seit der Mobilmachung] haben alle Telegramme und Briefe, die uns aus allen Enden der Provinz erreicht haben, gezeigt, dass unser Volk, indem es der Mobilmachung, den Kriegsrequisitionen und den Befehlen der Regierung gefolgt ist ebenso wie den Geldforderungen für die verschiedenen Belange der Armee und der Regierung, seinen Beitrag bereitwillig geleistet hat. Auf diese Weise bestätigt die Entwicklung bis zu diesem Tag, dass die armenische Nation ein untrennbarer Teil des osmanischen Vaterlands ist, bereit zu allen Opfern, um, wie es die Pflicht erfordert, seine Treue und seinen Patriotismus zu zeigen.“ Im weiteren Verlauf rief er zu einer Versorgung der Verletzten auf: „Es erübrigt sich darauf zu bestehen, dass bei Taten der Barmherzigkeit die religiöse oder nationale Zugehörigkeit keine Rolle spielen kann, denn alle sind Kinder desselben Vaterlands.“4 Der Erste Weltkrieg brachte für die Bevölkerung Anatoliens – muslimische Türken und Kurden ebenso wie für die christlichen Griechen, Armenier, Syrer und Assyrer – schlimme Entbehrungen und Tod, teils durch die Kampfhandlungen (Türken und Kurden), teils durch die Vertreibungen und Massaker (Christen), für alle durch Hunger und Seuchen. Während des Ersten Weltkriegs erfolgten großangelegte Deportationen von Griechen aus strategisch bedeutsamen Regionen, wie Thrakien, Westanatolien und der Schwarzmeerküste.5 Bei Kriegsbeginn wurden auch Armenier und Syrer, die nicht den bedel-i askari, die Befreiungssteuer vom Militärdienst, entrichten konnten, eingezogen. Viele von ihnen wurden in den ersten Kriegsmonaten von ihren Kameraden aus Hass und wegen des Verdachts, sie könnten mit dem Feind kooperieren, in den Reihen der Armee umgebracht.6 4 „Ces trois dernier mois, tous les télégrammes et les lettres qui nous sont parvenus de tous les coins de la province nous ont montré que notre peuple, se conformant à lʼappel sous les drapeaux, aux réquisitions de guerre et aux directives gouvernementales, ainsi quʼaux demandes de fonds pour les besoins divers de lʼarmée et du gouvernement, a bien volontiers apporté sa contribution, en sorte que la direction prise jusquʼà ce jour confirme la nation arménienne comme partie indissociable de la patrie ottomane, prête à tous les sacrifices pour montrer, comme il se doit, sa fidélité et son patriotisme. […] Il nʼest pas nécessaire dʼinsister sur le fait que dans les actes de compassion, lʼappartenance religieuse ou nationale ne peut être prise en compte, puisque tous sont les enfants dʼune même patrie.“ Kévorkian 2006:267–268. 5 Alexandris 1992:43–44. 6 De Courtois 2002:160. Im Juli 1914 hatte zwar der armenische Dashnak, der bereits 1908 eine Koalition mit der jungtürkischen, revolutionären Regierung eingegangen war, bei einer Konferenz in Erzerum seine Solidarität zum Osmanischen Reich erklärt und die Armenier aufgefordert, eventuelle

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Vertreibung aus dem Hakkari: das Schicksal der Assyrer Bereits vor dem offiziellen Kriegseintritt des Osmanischen Reichs (2. November 1914) begann die Regierung in Erwartung eines russischen Angriffs, die Gebiete in Ostanato­ lien zu sichern. Im Oktober 1914 sandte Innenminister Talât Pascha ein Dekret an den Vali (Gouverneur) von Van, die Assyrer aus dem Grenzgebiet zu Persien nach Zen­ tralanatolien zu deportieren. Sie galten der Regierung als potentielle Verbündete der Russen. Die Assyrer waren in der Region Hakkari in Stämmen organisiert und lebten überwiegend als Viehzüchter in der unwegsamen Bergregion. Wechselnde Koalitionen verbanden sie mit den lokalen kurdischen Stämmen oder machten sie zu Gegnern. Nur in den Tälern lebten Assyrer als raya, als steuerpflichtige Untertanen, die jedoch meist nicht dem osmanischen Gouverneur, sondern kurdischen oder assyrischen Stammesführern Abgaben entrichteten. An der Spitze stand der assyrische Patriarch aus der Familie der Mar Shimʼun (das Amt wurde seit dem 15. Jahrhundert von Onkel zu Neffe weitergegeben). Er hatte zivile und religiöse Gewalt, war allerdings nicht wie die meisten anderen Patriarchen vom Sultan in Istanbul als Haupt einer millet anerkannt. Die einzelnen Stämme wurden jeweils von einem malek, wörtlich: König, geleitet.7 Auf Befehl des Vali wurden noch im Oktober 1914 50 Christen aus Gawar nach Başkale, dem Sitz der Provinzbehörden, gebracht und willkürlich hingerichtet. Ebenfalls im Oktober 1914 fielen türkische Truppen in die bis dahin von den Russen kontrollierte Ebene von Urmia auf persischem Gebiet ein, plünderten und brandschatzten assyrische und chaldäische Dörfer und töteten diejenigen, die nicht rechtzeitig fliehen konnten. So wurde zum Beispiel in Alqaye der assyrische Bischof zusammen mit 50 Gläubigen getötet. Für den Bezirk Urmia wurde die Zahl der getöteten Christen auf 1.000 geschätzt, für Salmas auf 800. Hinzu kamen weitere 4.000, die an Hunger, Krankheiten und Auszehrung starben. Die Russen zogen sich Anfang Januar 1915 zurück. Mit ihnen flohen 15.000 bis 20.000 Christen aus den Dörfern. Nur in Urmia blieben Christen zurück und suchten Schutz in der amerikanischen Mission (17.000 Assyrer) und bei den französischen Lazaristen (3.000 Personen). Die Plünderungen der türkisch-kurdischen Einheiten dauerten bis Ende Mai 1915. Am 24. Mai nahmen die Russen Urmia wieder ein und sicherten bis 1918 die christliche Bevölkerung vor weiteren türkisch-kurdischen Übergriffen. Im April 1915 wurden im Hakkari rund 2.000 Assyrer, darunter der Bischof Mar Yacou und sechs Priester, getötet. Fast alle assyrischen Dörfer der Stämme Tiyari, Tkhuma und Barwar wurden geplündert, die Bevölkerung vertrieben oder massakMilitäroperationen in Ostanatolien gegen die Russen zu unterstützen. Wenn möglich, solle sich das Osmanische Reich jedoch aus einem Konflikt der europäischen Mächte heraushalten. Der armenische Hnchak dagegen erklärte bei einem Kongress in Rumänien seine Opposition zum Osmanischen Reich, was – zusammen mit den häufigen Interventionen der europäischen Mächte und Russlands zugunsten der Armenier – das Misstrauen von türkischer Regierung und Bevölkerung gegenüber den Armeniern erklärt. 7 Über die Lebensbedingungen der Assyrer des Hakkari siehe ausführlich Chevalier 1985; Hellot-Bellier 2014:51–61, 66–78.

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riert. Im Sommer 2015 griffen türkisch-kurdische Einheiten die Assyrer erneut an. Die Assyrer waren gezwungen, sich noch weiter in die Berge zurückzuziehen. Auch Qotchanes, der Sitz des Patriarchen, wurde angegriffen und zusammen mit zahlreichen anderen Dörfern niedergebrannt. Die Assyrer schlugen sich nach Norden durch und gelangten im Oktober 1915 bei Başkale zu den russischen Truppen. 15.000 von ihnen wurden mit Mar Shimʼun in Dörfern rund um Salmas angesiedelt, 5.000 rund um Khoi und weitere 5.000 bei Urmia.8

Die Vernichtung des armenischen Christentums in Anatolien Die Vernichtung des armenischen Christentums in Anatolien wird in der armenischen und westlichen Geschichtsschreibung oft als Völkermord bezeichnet. Verschiedene internationale und nationale Gremien haben diese Einstufung übernommen: darunter die Unterkommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Genf (1985), das europäische Parlament (1987), die französische Nationalversammlung (2001) und der deutsche Bundestag (2016), nicht jedoch die Bundesregierung. Armenier in aller Welt – die armenische Kirche inbegriffen (außer dem Patriarchat von Konstantinopel) – rufen nach entsprechenden Erklärungen durch weitere Staaten und drängen die Türkei, ihre Haltung zu den Ereignissen ebenfalls zu revidieren, so zum hundertsten Gedenken im Jahr 2015 unter dem offiziellen Motto „Հիշում եմ եւ պահանջում (Hišowm ēm ēv palanǰowm) – I remember and demand – Ich erinnere mich und verlange“. Die armenisch-orthodoxe Kirche verehrt die „1,5 Millionen Opfer des Völkermords“ seither als Märtyrer. Die offizielle türkische Historiographie dagegen lehnt im Fahrwasser aller türkischen Regierungen die Bezeichnung der Ereignisse als Genozid ab. Diejenigen, die die Ereignisse als Völkermord bewerten, begründen dies mit der hohen Anzahl der Opfer, der systematischen Planung durch das Komitee Einheit und Fortschritt, das während des Ersten Weltkriegs die Regierungsgeschäfte des Osmanischen Reichs führte, und der Durchführung der Maßnahmen durch die speziell für die Deportation und Vernichtung der Armenier im Kriegsministerium eingerichtete Organisation Teşkilat-i Mahsusa. Einheiten der Teşkilat-i Mahsusa hatten in Verbindung mit marodierenden Banden, çete, in der Nähe der Front im Kaukasus bereits seit Beginn des Kriegs Massaker verübt. Diese hatten aber mehr den Charakter von Repressions- und Vergeltungsaktionen als den einer systematischen Auslöschung des armenischen Volks. Für die osmanischen Behörden dienten die Ereignisse, die sich ab April 1915 im ostanatolischen Van ereignen sollten, als Begründung für die Deportation der Armenier. In der Region waren revolutionär gesinnte Mitglieder des Dashnak, einer der beiden großen armenischen Parteien, besonders aktiv. Ihr Wirken hatte durch armenisch-kurdische Spannungen in den Regionen Van und Bitlis Auftrieb erfahren. Infolge der Massaker von 1894 bis 1896 waren viele Armenier geflohen, Kurden hatten sich deren Land angeeignet. Nach der jungtürkischen Revolution von 1908 waren 8

Yacoub 1996:266–267; Weibel Yacoub 2011:60–69; Hellot-Bellier 2014:462–469.

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zahlreiche Armenier zurückgekehrt und verlangten ihr früheres Eigentum zurück. Im April 1915 ließ der osmanische Vali den örtlichen Dashnak-Führer ermorden und den armenischen Parlamentsabgeordneten von Van verhaften. Gleichzeitig begannen Massaker in armenischen Dörfern rund um die Stadt. Am 19. April griffen osmanische Truppen das armenische Viertel von Van an. Die Armenier waren jedoch vorbereitet, hatten Schützengräben ausgehoben und leisteten bewaffneten Widerstand. Der Kampf schien ungleich, jedoch wurden die Armenier Mitte Mai von den vorrückenden russischen Truppen entsetzt. Die osmanischen Truppen zogen sich zurück, mit ihnen die meisten Muslime von Van. An den zurückgebliebenen Muslimen verübten die Armenier in Gemeinschaft mit den russischen Truppen furchtbare Gräueltaten. Im Juli 1915 entschieden die Russen, sich aus Van zurückzuziehen. Mit ihnen zogen auch alle Armenier ab. Das osmanische Van existierte nicht mehr. Armenier waren unter dem Eindruck der Gefahr, der sie durch Türken und kurdische Banden ausgesetzt waren, und unter dem Einfluss der siegreichen russischen Truppen, ihrer Verbündeten, zu Tätern geworden.9 Unter dem Eindruck des russischen Vormarsches und des Widerstands der Armenier in Van, begann die osmanische Regierung mit der Verhaftung führender armenischer Politiker und der Deportation aller Armenier aus den Ostprovinzen. Die Verfolgung begann mit der Verhaftung und Deportation von knapp 300 armenischen Politikern und Intellektuellen in Istanbul. Sie wurden in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1915 festgenommen und nach kurzem Aufenthalt in Istanbuler Gefängnissen in zwei Internierungslager in der Nähe von Ankara verschickt. Dort blieben die meisten von ihnen bis Juli/August 1915. Ein kleiner Teil von ihnen wurde in der Zwischenzeit freigelassen, ein anderer Teil wurde von Militärgerichten abgeurteilt und hingerichtet. Der größte Teil wurde in Konvois zusammengestellt und kurz nach dem Abmarsch aus dem Lager niedergemacht. Mit der Internierung der Intellektuellen und politischen Aktivisten sollte die armenische Gemeinde offenbar ihrer Elite beraubt werden, die in der Lage gewesen wäre, die weiteren Ereignisse international zu Gehör zu bringen.10 Auffallend ist, dass die religiösen Institutionen zunächst weitgehend intakt blieben; allerdings nur bis Sommer 1916. Am 10. August 1916 wurden das armenische Patriarchat von Konstantinopel und das Katholikossat von Aghtamar vom Ministerium für Justiz und Gottesdienst aufgelöst und mit dem Patriarchat von Jerusalem und dem Katholikossat von Kilikien unter der Leitung des bisherigen Katholikos von Kilikien, Sahak II. Khabayan, mit Sitz in Jerusalem zusammengelegt. Der Patriarch von Konstantinopel, Zaven Ter Yeghiayan, wurde nach Bagdad ins Exil geschickt.11 9 Kieser 2000:441–453; Kévorkian 2006:392–412. 10 Kévorkian 2006:315–319, 652–654, 662–663. 11 Kévorkian 2006:850–852. Bereits im Frühjahr 1915 war der armenisch-orthodoxe Bischof von Kayseri, Khosrov Behrigian, wegen Mitwisserschaft revolutionärer Aktivitäten zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er erlitt dann aber bei den Deportationen das gleiche Schicksal wie seine Gläubigen und kam zu Tode. Kévorkian 2006:323. Während des Krieges wurden auch andere Patriarchen und Bischöfe deportiert und mussten fliehen. Der griechisch-katholische Patriarch Kyrillos VIII. Giha setzte sich nach Ägypten ab. Er war wegen Hochverrat zum Tod verurteilt worden

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Im Mai 1915 begann die osmanische Regierung, die Armenier aus Ostanatolien zu evakuieren, um zu verhindern, dass sie sich mit den vorrückenden russischen Truppen zusammenschließen. Die russischen Truppen wurden unterstützt von armenischen Einheiten, die teils im Kaukasus, teils im iranischen Aserbaidschan rekrutiert worden waren.12 Sie wurden unter furchtbaren Entbehrungen Richtung Süden verbracht; der Transport wandelte sich in ein Massaker, in das auch die syrisch-sprachigen Bevölkerungen des Tur Abdin einbezogen wurden. In den gesamten Ostprovinzen wurde die armenische Elite verhaftet. Das Volk blieb somit führerlos. Auf Grundlage des Gesetzes vom 27. Mai 1915 zur „Umsiedlung“ wurden sodann Kolonnen von Armeniern zusammengestellt, jeweils eine für Männer und eine für Frauen und Kinder. Die Konvois der Männer wurden wenige Kilometer außerhalb der Ortschaften von kurdischen Banden niedergemacht und vollständig ausgelöscht; um Munition zu sparen oft durch Erstechen oder Herabstürzen von Felsen. Die Leichen wurden, wo möglich, in den Euphrat geworfen. Der Abtransport der Frauen und Kinder war als Todesmarsch angelegt. Ziel war Deir al-Zor am Euphrat inmitten der syrischen Wüste. Ohne ausreichend Nahrung und Wasser starben Hunderttausende an Erschöpfung, Auszehrung oder Krankheiten. Immer wieder wurden sie auch von kurdischen Banden überfallen, die sich nach Belieben Frauen aussuchen konnten, um sie zu „heiraten“ oder zu vergewaltigen. Ihren Besitz mussten die Armenier in den wenigen Tagen zwischen der Ankündigung der Verschickung und dem Abtransport zu Schleuderpreisen veräußern. Der Rest fiel der staatlichen Kommission für verlassene Güter zu, sofern sich nicht lokale Notable die besten Immobilien und Wertsachen aneigneten. Nur wenigen Armeniern gelang es, bei muslimischen Familien unterzutauchen oder in die Berge zu fliehen. Amerikanische und deutsche Missionare bemühten sich in manchen Regionen, Armenier in abgelegene Gebiete wie Dersim zu schicken, die sich wegen der Unbotmäßigkeit der kurdischen Bewohner der Regierungskontrolle entzogen. Manche Frauen, Mädchen und Kinder konnten sich durch Heirat mit Muslimen bzw. durch „Adoption“ in eine muslimische Familie retten. Die meisten wurden dadurch Muslime.13 Der deutsche evangelische Orientmissionar Johannes Ehmann, ab 1897 für den „Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient“ in der Türkei, beschrieb die Ereignisse in Harput als Augenzeuge folgendermaßen: „[…] ich [erlaubte] mir bei dieser Gelegenheit, Herrn Konsul Schwarz zu bitten, beim Vali für uns und unsere Arbeit ein gutes Wort einlegen zu wollen, damit man uns die für die Weiterführung unserer Arbeit dringend nötigen Gebäude lassen möchte. Diese meine Bitte hatte der oben erwähnte türkische Offizier auch gehört und erklärte mir darauf in recht (Frazee 1983:292). Der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem, Damianos, wurde 1917 von den Türken bei ihrem Rückzug aus Palästina nach Damaskus deportiert (Issa s.a.:212) der lateinische Patriarch von Jerusalem, Filippo Camassei, musste Jerusalem verlassen und sich in einem Konvent in Nazareth verstecken. Die Deportation des maronitischen Patriarchen Elias Hoyek konnte nur aufgrund der Intervention Österreichs verhindert werden (Zoghbi 1991:193–195). 12 Siehe dazu z. B. Hellot-Bellier 2014:429. 13 Ausführliche Dokumentation: Kévorkian 2006:327–856. Als Beispiel für Deportationen siehe die Schilderungen bei Kieser 2000:412–432.

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unfreundlichem Ton:,Für Ihre Arbeit haben wir durchaus kein Interesse, denn Sie arbeiten ja an einem Volk, das wir vernichten wollen.ʼ Er meinte damit das armenische Volk. Diese Worte erschienen mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn eine solche Aussage hatte ich bis jetzt von keinem anderen Muhammedaner gehört. […] die Worte des türkischen Offiziers schienen uns mehr eine rein persönliche, gehässige Äusserung gegen das armenische Volk zu sein. Erst der 1. Mai 1915 brachte dann für uns alle die ungeheure und erschütternde Überraschung. In Mesereh (El-Aziz) [armenischer Vorort von Harput] wie auch in der Altstadt Charputh und auf den Dörfern wurden an diesem Tage von der Polizei strenge Haussuchungen vorgenommen und viele Personen, wie Geistliche, Lehrer und andere führende Persönlichkeiten festgenommen und in die Gefängnisse abgeführt. […] beim Blick auf die Gesamtlage der Christen wurden die Zustände von Tag zu Tag und von Woche zu Woche immer drohender, so dass man anfing mit dem Hereinbruch schwerster Christenverfolgungen zu rechnen. Nach dem Verlauf von etwa 4–5 Wochen war die Kraft und die Hoffnung der Christen ganz zusammengebrochen. Die Mehrzahl der einflussreichen Männer war im Gefängnis, die Waffen waren ihnen schon zu einem grossen Teil mit Gewalt abgenommen worden und auf den Dörfern hatten da und dort die Abschlachtungen schon begonnen. […] in der Woche vom 20.–27. Juni kam eine neue schwere Überraschung. Diesmal war es aber nicht irgend eine Androhung von Verfolgung oder Metzeleien, sondern der Ausrufer der Stadt ging im Auftrag der Regierung durch die Stadt und machte mit lauter Stimme den neuen Entschluss der Regierung bekannt, dass sämtliche Armenier sich zum 1. Juli zum Abzug richten müssten, da alle Armenier nach Mesopotamien übergesiedelt werden sollten. […] Am 1. und 3. Juli wurden dann die Armenier unserer Stadt [Harput] zum grossen Teil aus ihren Häusern geholt und ein Teil in der Richtung nach Diarbekir und die anderen in der Richtung nach Malatia abgeführt. Nur für das Personal unserer deutschen Anstalten und für solche Armenier, die als Handwerker, Apotheker, Ärzte usw. für die muhammedanische Bevölkerung unbedingt nötig waren, wurde eine Ausnahme gemacht. […] Von dem Schlimmen aber, was bevorstand, wussten wir noch nichts, da die Regierung diese ganze Massnahme ,Verschickungʻ oder Umsiedlung nannte und die Sache so hinstellte, als ob die Christen in Mesopotamien angesiedelt werden sollten. Aber am Abend des 3. Juli, nachdem die 2. Gruppe der Mesereh-Christen abtransportiert worden war, kamen eine Anzahl von Erzerum-Armeniern in Mesereh an und zwar mit einer einzigen Ausnahme nur Frauen und Kinder, die schon vor einigen Wochen aus der Stadt Erzerum zusammen mit ihren Männern und Vätern ausgewiesen worden waren. Von ihnen erfuhren wir, dass sie zwischen Erzerum und Keghi von einem Kurdenhäuptling und seinen Banden überfallen und die Männer alle zum Tode abgeführt worden seien. Der eine Mann, der mit dem Leben davongekommen war, hatte sich in Frauentracht gekleidet.“14

14 Zitiert bei Kieser 2000:423–425. Auslassungen z. T. bei Kieser, weitere Passagen wurden hier weggelassen.

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In Urfa, dem antiken Edessa, wo neben den Armeniern viele Christen der syrischen Tradition lebten, begannen die Deportationen im Juli 1915. Die armenisch-orthodoxe Kathedrale der Stadt wurde bereits als Ort der Prostitution genutzt, an dem die Regierung deportierte Frauen eingepfercht hatte und Offiziere, Polizisten, Gendarmen und türkische Bewohner von Urfa ein und aus gingen. Im August wurden Durchsuchungen des armenischen Viertels vorgenommen. Ende September verbarrikadierten sich die verbliebenen Armenier in ihrem Viertel und leisteten der herbeigeführten Armee heftigen Widerstand. Die Zugänge zum armenischen Quartier wurden aber schließlich aufgebrochen. Die verbliebenen Armenier wurden deportiert und ermordet. Einige fanden Unterschlupf bei syrischen Katholiken der Stadt, andere bei muslimischen Freunden. Jedoch drohte die Regierung jedem, der Armenier versteckte, ebenfalls mit Deportation. Im September 1916 wurden die Kapuziner, die einen armenisch-katholischen Priester bei sich versteckt hatten, verhaftet; der Untergetauchte hingerichtet. Die Patres kamen erst 1918 wieder frei.15 Bis Frühjahr 1917 hatte die russische Armee das gesamte Vilayet Erzerum, die östliche Hälfte der Provinz Trabzon sowie den nördlichen Teil der Vilayets Van und Bitlis eingenommen. Ein Großteil der muslimischen Bevölkerung floh vor den russischen Truppen nach Zentralanatolien. Viele wurden umgebracht oder starben an Auszehrung und Krankheiten. Die Bevölkerungsverluste durch Kriegstote unter den Muslimen waren ähnlich hoch, wenn nicht höher, als bei Armeniern und Assyrern.16 Allerdings hatten die Vertreibung und Ermordung der Armenier systematischen Charakter mit dem Ziel der Auslöschung dieser Bevölkerungsgruppe in Anatolien. Eine neue Vertreibung – nun der armenischen Bevölkerung Nordostanatoliens – fand beim Vormarsch der osmanischen Truppen 1917/1918 statt. Nun floh die christliche Bevölkerung mit den russischen Truppen und den armenisch-assyrischen Einheiten Richtung Kaukasus. Als sich dann 1918 die russischen Truppen aus dem Kaukasus zurückzogen, verübten wiederum armenische Einheiten Massaker in aserischen, also muslimischen Dörfern. Die Regierung des Deutschen Reichs – das Osmanische Reich war Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg – war durch zahlreiche Konsularberichte und nicht zuletzt durch die eindringlichen Warnrufe des evangelischen Pfarrers Johannes Lepsius, dessen „Hülfsbund“ und Orient-Mission über umfangreiche Informationen aus erster Hand verfügten17, über die Umstände der Armenier-Deportation und die Massaker informiert. Mit Rücksicht auf den Fortgang des Kriegs entschied man sich aber offensichtlich, nichts gegen das Vorgehen der osmanischen Behörden zu unternehmen.

15 Kieser 2000:469–482. 16 So starben 62 % der muslimischen Bevölkerung der Provinz Van, 42 % in Bitlis, 31 % in Erzerum, 26 % in Diyarbakir. McCarthy 1983:138. 17 Siehe Lepsiusʼ Dokumentationen in der Broschüre Der Weg des Grauens (Potsdam 1916) sowie seinen Werken Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei (Potsdam 1916), Deutschland und Armenien (Potsdam 1919) und Der Todesgang des Armenischen Volkes (Potsdam 1919).

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Von den 1,5 Millionen Armeniern, die vor dem Ersten Weltkrieg in Anatolien gelebt hatten, verblieben 1923 nur noch 70.000 in der Republik Türkei. Die meisten von ihnen waren nach Istanbul migriert. Hinzu kamen weitere etwa 70.000 Armenier, die bereits vor dem Krieg in Istanbul gelebt hatten, also insgesamt rund 140.000 Personen. In die arabischen Nachbarländer und den Iran waren etwa 275.000 geflohen (Syrien: 100.000, Libanon: 50.000, Palästina und Transjordanien: 10.000, Ägypten: 40.000, Irak: 25.000, Iran: 50.000), 400.000 Armenier waren in die Kaukasus-Republiken und nach Russland geflohen, 45.000 nach Griechenland. Frankreich nahm 30.000 Armenier auf, Bulgarien 20.000. 35.000 emigrierten nach Nordamerika. Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass mindestens 600.000 Armenier Anatoliens (40 %) die Ereignisse des Ersten Weltkriegs nicht überlebt haben.18 Die meisten Forscher gehen jedoch von mehr als 800.000, manche von über einer Million Opfern aus. Die armenische Kirche spricht sogar von 1,5 Mil­lionen Opfern. Zynisch hatte der damalige Innenminister Talât Pascha bereits am 31. August 1915 erklärt: „La question arménienne nʼexiste plus“ (Die armenische Frage existiert nicht mehr).19

Saifō – das Jahr des Schwerts Zusammen mit den Armeniern wurden in der Provinz Diyarbakir auch syrische Christen aller Riten verhaftet, gefoltert, deportiert und ermordet. Zunächst ließen die Behörden die Häuser von Christen nach Waffen durchsuchen. Anschließend wurden führende Mitglieder der Gemeinden verhaftet: Bischöfe, Priester, Lehrer, Notable und wehrfähige junge Männer. Viele von ihnen wurden hingerichtet. Die übrigen wurden in Konvois zusammengestellt und außerhalb der Städte umgebracht. Die wenigsten Konvois erreichten das angegebene Ziel Aleppo bzw. Deir al-Zor. Derartige systematische Vernichtung traf die armenische und syrische Bevölkerung von Diyarbakir und Mardin20 sowie in den umliegenden Dörfern. Sowohl die Dörfer im Tur Abdin als auch die Stadt Midyat wurden teils von Kurden, teils von türkischen Gendarmieeinheiten angegriffen, die Bevölkerung umgebracht, deportiert oder vertrieben. Im Kloster Deir al-Zaafaran hatte sich die Bevölkerung der umliegenden Dörfer verschanzt. Der Abt des Klosters zahlte ein Lösegeld an die Kurden, die das Kloster belagerten, so dass die Belagerten schließlich in den Jabal Sinjar abziehen durften, wo sie bei den Jesiden Schutz fanden. Anders erging es denjenigen, die im Kloster Mor Gabriel Schutz gesucht hatten. Sie wurden zusammen mit den Mönchen niedergemacht. Manche Dörfer verteidigten sich länger, so hielt die Dorfbevölkerung von ʿAin Wardo 52 Tage einer 18 McCarthy 1983:119–130. Die Zahlen von McCarthy gehen von den sehr niedrig geschätzten Bevölkerungszahlen für Armenier vor dem Krieg aus. Außerdem scheinen die Zahlen der armenischen Flüchtlinge im Kaukasus und den arabischen Nachbarländern recht hoch, so dass eine Zahl von mindestens 800.000 armenischen Opfern wahrscheinlicher ist. 19 In diesen Worten (auf französisch) gegenüber Fürst Hohenlohe-Langenburg, deutscher Botschafter in außerordentlicher Mission in Istanbul. 20 In Mardin versuchten sich syrisch-orthodoxe Christen zu retten, indem sie die Katholiken bei den türkischen Behörden denunzierten. de Courtois 2002:155.

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Belagerung stand, bevor sie aufgeben musste. Die meisten Bewohner wurden in den darauffolgenden Monaten getötet. Allein Azekh, ein größeres Dorf am südöstlichen Rand des Tur Abdin, konnte den Angreifern bis zum Ende des Kriegs 1918 standhalten. In Cizre dagegen wurden der syrisch-katholische Bischof Flavien Michel Malké und der chaldäische Bischof Philippe-Jacques Abraham zusammen mit der christlichen Bevölkerung umgebracht. In der Umgebung von Nusaybin weigerten sich einige kurdische Führer, sich an den Massakern zu beteiligen, und halfen den Christen, in den Jabal Sinjar zu den Jesiden zu fliehen. Die Verhaftungen, Deportationen und Massaker begannen am 10. Mai 1915 in Mardin, am 14. in Nusaybin, am 21. in Midyat, im Juni in Cizre. Nach Schätzungen von Beobachtern verschwanden aus der Provinz Diyarbakir bis 1916 59.500 Armenier (von 72.500), 64.175 Syrer (von 90.325), 10.010 Chaldäer (von 11.120) und 500 Protestanten (von 725). Die meisten davon kamen ums Leben. Nur wenige haben die Deportationen überlebt. Mehrere lokale Gouverneure wurden von der Gendarmerie umgebracht, weil sie sich nicht an den Massakern beteiligen wollten – Zeichen dafür, dass die Aktion von der Regierung gesteuert wurde und es sich nicht „nur“ um marodierende kurdische Banden handelte, die ohne Auftrag der Regierung handelten.21 Der Gesandte des syrisch-orthodoxen Patriarchen bei der Friedenskonferenz in Paris, Severius Ephrem Barsaum, klagte 1920 in einem Memorandum: „Die Massaker übersteigen eine Zahl von 90.000 Personen […] Wir bedauern zutiefst, dass dieses glorreiche Volk [die Syrer] im Gedächtnis der europäischen Politik und Presse 21 Am 11. Juni 1915 wurden 500 Notable aus Mardin hingerichtet, darunter der armenisch-katholische Erzbischof Ignatius Maloyan (von Papst Johannes Paul II. am 7. Oktober 2001 seliggesprochen) und neun Priester der armenisch-katholischen und syrisch-katholischen Kirche. Am 17. Juni 1915 wurde der chaldäische Erzbischof von Seert, Ibrahim Addai-Scher, ermordet. In Midyat wurden am 19. Juli der syrisch-orthodoxe Bischof, 46 syrisch-orthodoxe und 16 katholische Priester sowie 70 Notable und 7.000 Christen aus den umliegenden Dörfern getötet. Der syrisch-katholische Bischof der Jazira, Flavien-Michel Malké (2015 als Märtyrer von Papst Franziskus seliggesprochen) wurde zusammen mit vier seiner Priester und dem chaldäischen Bischof der Jazira, Philippe-Jacques Abraham, nach zwei Monaten Gefangenschaft Ende August 1915 umgebracht. Am 15. Juli 1915 fand ein großes Massaker in Malatya statt, bei dem auch der armenisch-katholische Bischof Michel Kaciadurian (auch: Mikayel Khachaturian) mit der Kette seines Brustkreuzes erwürgt wurde. In Malatya starben im Juni und Juli 1915 rund 23.000 Menschen, meist Armenier. In der Provinz Mardin soll die christliche Bevölkerung durch die Ereignisse von 1915 von 174.670 (60.000 armenisch-orthodox, 12.500 armenisch-katholisch, 5.600 syrisch-katholisch, 84.725 syrisch-orthodox, 11.120 chaldäisch, 725 protestantisch) um 144.185 (69.500 Armenier, 3.450 syrisch-katholisch, 60.725 syrisch-orthodox, 10.010 Chaldäer, 500 Protestanten) reduziert worden sein; es blieben nur noch um 30.485. Zwischen 1915 und 1918 erlitten fünf (katholische) Bischöfe den Märtyrertod, drei starben im Exil. Von 16 Diözesen verblieben nur noch drei. Von den 260 katholischen Priestern wurden 126 zusammen mit unzähligen Ordensschwestern getötet. Der Dominikanerpater und spätere apostolische Delegat für Mesopotamien, Kurdistan und Kleinarmenien, François-Dominique Berré, berichtet von 18.000 getöteten Chaldäern, 2.700 syrisch-katholischen Christen, Zehntausenden Syrisch-Orthodoxen, insgesamt 127.000 Christen allein in der Region Mardin. Katholische Einrichtungen wurden der Kollaboration mit Frankreich bezichtigt. Der syrisch-katholische Bischof von Mardin, Gabriel Tappouni, wurde 1918 von den türkischen Behörden verhaftet und als britischer Spion zum Tode verurteilt. Nach drei Monaten in türkischer Haft wurde er jedoch durch die Bemühungen Papst Benedikts XV. und durch Vermittlung der österreichischen Kaiserin Zita (Österreich-Ungarn war Verbündeter des Osmanischen Reichs) freigelassen. Zu den Einzelheiten der Ereignisse de Courtois 2002:145–177; Filoni 2006:146–147; Grulich 2008:109–110; Weibel Yacoub 2011:69–71, 97–100; Rassam 2016:127.

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nicht vertreten sind, die die Massaker der Türken Massaker an den Armeniern nennen, während man sie allgemein „Massaker an den Christen!“ nennen sollte, denn alle Christen der oben genannten Länder haben das gleiche schmerzliche Schicksal erlitten.“22 Die syro-aramäischen Christen erinnern sich an die Ereignisse des Jahres 1915 unter dem Begriff Šatt saifō, „Jahr des Schwerts“.

* Die Bevölkerung Anatoliens hatte während des Kriegs furchtbar gelitten. 2,5 Millionen Muslime verloren ihr Leben, dazu kamen mindestens 600.000 bis 800.000 Armenier und 300.000 Griechen. Die Bevölkerung Anatoliens sank um 20 Prozent. Nach dem Krieg wurden weitere 900.000 Griechen und Bulgaren von Anatolien nach Griechenland beziehungsweise Bulgarien umgesiedelt und 400.000 Muslime aus Griechenland (außer aus West-Thrakien) in Anatolien angesiedelt. Sie verstärkten die muslimische Bevölkerung Anatoliens, die bereits durch Einwanderung von Tscherkessen und Tataren aus von Russland eroberten Gebieten im Kaukasus (seit Mitte des 19. Jahrhunderts) sowie von Türken aus Bulgarien und den von Griechenland in den Balkankriegen erworbenen Gebieten vermehrt worden war. Die Bevölkerungsstruktur Anatoliens sah somit nach dem Ersten Weltkrieg und den Kriegen der Jahre 1919 bis 1922 vollkommen anders aus als 1914.23

Träume von der Unabhängigkeit: Orientalische Christen und die Friedensverhandlungen von Paris Am 30. Oktober 1918 unterschrieb die osmanische Regierung die Waffenstillstandsvereinbarung von Moudros. Am 13. November besetzten alliierte Truppen Istanbul. Großes Aufsehen erregte der französische General Louis Franchet dʼEsperey, der am 8. Februar 1919, auf einem Schimmel reitend, in Istanbul einzog. Während die türkische Bevölkerung das Geschehen mit Entsetzen beobachtete, wurde er von Armeniern und Griechen enthusiastisch gefeiert. Nachdem französische Truppen Kilikien, die Italiener Antalya und Konya und die Griechen Izmir besetzt hatten, unterstanden die meisten Angehörigen der christlichen Minderheiten Anatoliens europäischen Truppen. Unter den nicht-muslimischen Völkern löste der Sieg der Alliierten gewaltige Hoffnungen auf die Veränderung ihrer Lage aus. Zur Friedenskonferenz in Paris ent­ sandten die Minderheiten die unterschiedlichsten Delegationen, die dort Memoranden und Gebietsforderungen vorlegten. Sie lagen teils weit jenseits dessen, was realistischerweise zu erwarten war. Diese Forderungen waren mit ein Grund dafür, warum die türkische Nationalbewegung und die junge Republik Türkei den Minderheiten 22 Memorandum vom 2. April 1920, zitiert bei de Courtois 2002:195. 23 Steinbach 1996:121–122.

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mit äußerstem Argwohn begegneten. Wären die Forderungen in die Tat umgesetzt worden, wäre für eine muslimische Türkei nur ein kleines Gebiet in Zentralanatolien übriggeblieben. Die Tatsache, dass sich Griechen daranmachten, ihre Forderungen mit militärischer Gewalt durchzusetzen, Armenier mit den Franzosen und Briten in Kilikien zusammenarbeiteten, um ein sicheres Gebiet für das eigene Volk zu schaffen, und sich Assyrer mit britischer Billigung für die Errichtung eines eigenen Staats im Südosten der Türkei einsetzten, trug zum völligen Zerwürfnis dieser Volksgruppen mit der türkischen Nationalbewegung bei. Mit dem Einzug der Alliierten in Istanbul bildete sich dort eine Initiative, die die Rechte und Forderungen der syro-aramäischen Christen zu vertreten suchte. Unter dem Namen Conseil national assyro-chaldéen richteten Vertreter der syrisch-orthodoxen, syrisch-katholischen und chaldäischen Gemeinschaft Schreiben an die Alliierten. In diesen verkündeten sie ihre Einigung auf politischer Ebene, erinnerten an die Opfer während des Kriegs und ihre Unterstützung für die alliierten Kräfte und beriefen sich auf die Vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der den Völkern das Selbstbestimmungsrecht in Aussicht gestellt hatte. Zur Übergabe der Forderungen wurde eine Delegation berufen, die nach Paris zur Friedenskonferenz reisen sollte. Ihre Forderungen wurden allerdings von den Regierungen der Mächte nicht weiterverfolgt, weil der Rat nicht im Namen der Assyrer (namentlich des Hakkari) sprechen konnte, die darin nicht vertreten waren. Allerdings verfassten die Mitglieder der Delegation zwei weitere Memoranden. Das erste vom 16. Juli 1919 war an das Generalsekretariat der Friedenskonferenz gerichtet und enthielt folgende Forderungen: Bildung eines autonomen assyro-chaldäischen Staats, der die bisherigen osmanischen Provinzen Mossul, Diyarbakir (südlich des Flusses Murad-Su), die östlich des Euphrat gelegenen Teile der Sanjaks Aleppo und Urfa sowie die persischen Distrikte Urmia und Salmas umfassen sollte inklusive freier Zugangsrechte zum Mittelmeer und zum Persischen Golf; Garantien durch die Mächte der Entente und des Völkerbunds; Mandat eines der Ententemächte über den neuen Staat. Das Memorandum wurde von Frankreich unterstützt, von Großbritannien jedoch abgelehnt. Ein zweites, diesmal vertrauliches, Schreiben (vom 19. Oktober 1919) war nur an Frankreich gerichtet. Darin forderten die Unterzeichner ein französisches Mandat für den assyro-chaldäischen Staat und baten um die sofortige Besetzung des Gebiets durch französische Truppen. Nur so könnten die assyrischen Stämme für die Idee eines assyro-chaldäischen Staats unter französischem Mandat gewonnen und weitere Massaker durch türkische Einheiten verhindert werden.24 Für die Assyrer des Hakkari, die sich zum größten Teil im Exil im irakischen Baquba befanden, richtete deren Patriarch Mar Shimʼun Paulos am 21. Februar 1919 ein Memorandum an die Friedenskonferenz.25 Darin forderte er einen unabhängigen assyrischen Staat unter der zivilen Leitung seiner eigenen Person. Dieser Staat sollte 24 De Courtois 2002:197–200; Weibel Yacoub 2011:113–142. 25 Es wurde allerdings erst im Juli 1919 dem Generalsekretariat der Friedenskonferenz zugestellt.

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unabhängig von einem armenischen Staat sein, die Regionen Mossul, Jazira, Başkale und Urmia (also später irakisches, türkisches und persisches Territorium) umfassen, unter britischem Schutz stehen und eine eigene Armee unterhalten dürfen. Außerdem forderte er die Rückkehr der vertriebenen Assyrer nach Persien, namentlich in die Region Urmia, und britische Schutzgarantien für die assyrische Bevölkerung in Persien. Die Forderungen des Patriarchen wurden inhaltlich unterstützt durch eine assyrische Delegation aus den USA sowie eine Delegation von Assyrern aus dem Kaukasus.26 Für die syrisch-orthodoxe Kirche forderte im Namen des Patriarchen Mor Ignatius Elias III. Shaker dessen Abgesandter bei der Friedenskonferenz, Severius Ephrem Barsoum, Bischof von Homs in Syrien, in einem Memorandum vom 2. April 1920 die „Emanzipation“ der Provinzen Diyarbakir, Bitlis, Harput, Urfa und Van von der türkischen Herrschaft und lehnte explizit eine kurdische Autorität über die Christen der Region ab. Die Rechte der „Syro-Chaldäer“ sollten von einer der Mächte garantiert werden.27 Die Forderungen der Assyrer und Syrisch-Orthodoxen wurden indirekt durch die katholischen Patriarchen zurückgewiesen. Der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Ephrem II. Rahmani verlangte im Juni 1919 in Paris unmissverständlich ein französisches Mandat über das gesamte Gebiet Syriens, inklusive der Provinz Mossul. Der chaldäische Patriarch Mar Emmanuel II. Thomas plädierte bei seinem Besuch in Paris im Januar 1920 ebenfalls für den Anschluss Mossuls und Kurdistans an das französische Mandatsgebiet. Für die Chaldäer forderte er explizit keine Autonomie, sondern den Schutz Frankreichs („Je nʼaspire pas pour mon peuple à une autonomie, mais seulement à une protection efficace de la France.“).28 Eine ungewöhnliche Position vertrat der Exil-Assyrer Jean Gorek aus dem Dorf Kerboran nordöstlich von Mardin. Er verfasste einen Artikel für die Monatszeitschrift LʼAction assyro-chaldéenne (Nr. 10, Oktober 1920), herausgeben vom chaldäischen Patriarchalvikariat Beirut, in dem er Staaten auf rein ethnischer oder religiöser Basis ablehnte und stattdessen einen föderativen Staat für Kurden, Assyro-Chaldäer und Jesiden forderte, die Seite an Seite lebten: „Können wir denn diese Annäherung, diese Vereinigung verhindern? Vermischen und vermengen sich die assyro-chaldäischen und kurdischen Massen nicht im gesamten Bergland? Gibt es eine verlorene Ecke, wo es nur Kurden, nur Christen, nur Jesiden gibt? Es gibt keine Schlucht, so tief sie auch sei, keinen noch so schroffen Gipfel, wo wir nicht Seite an Seite leben, wo wir nicht fast unter demselben Dach wohnen.“ Und weiter: „Unsere Berge sind eins von Urmia über Sinjar bis zum Tur [Abdin] und über den Tur hinaus bis zu den Mündungen des Euphrat. Lasst uns keine undurchlässigen Trennwände errichten: hier die Kurden; dort die Jesiden; noch weiter Nestorianer und Chaldäer; und außerdem noch Syrer 26 Yonan 1978:24–25; Weibel Yacoub 2011:142–157. 27 Weibel Yacoub 2011:167–173. 28 Weibel Yacoub 2011:163–166, 173–175.

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und Jakobiten. Auf dass das Bergland und die Ebenen allesamt allen gehören. Dieses System der Trennung, der Aufteilung, kann nur Hass hervorbringen, den man früher oder später in die Süße der Vereinigung löschen oder im Blut ertränken wird. Aber Blut unserer Brüder haben wir schon mehr als genug fließen sehen.“ Und schließlich: „Das patriotische Werk ist die Vereinigung der Berge. Das patriotische Werk ist, dass die Religion sich nicht in die Angelegenheiten des Staats einmischt, dass der Staat sich fernhält von jeder religiösen Frage. Das patriotische Werk ist die Errichtung eines dauerhaften, ewigen Friedens zwischen Kurden und Assyro-Chaldäern.“ Jean Gorek wiederholte diese Forderungen in einem Memorandum vom 26. August 1920 an die Friedenskonferenz unter dem Titel „Mémorandum de la confédération assyro-chaldéo-ourardienne“, in der er erneut einen föderativen Staat von Kurden, Assyro-Chaldäern, Armeniern und Georgiern verlangte. Ernsthaft beraten wurden diese, für damalige Zeiten offenbar allzu utopischen Vorstellungen von der Friedenskonferenz nicht.29 Die Armenier traten mit zwei Delegationen auf, die als „Delegation des Gesamten Armenien“ eine Zusammenarbeit unter Wahrung der Identität der beiden Gruppen vereinbart hatten. Die Delegation der Republik Armenien wurde angeführt von Avetis Aharonian; sie vertrat die Interessen der Ost-Armenier. Die West-Armenier wurden vertreten von Poghos Nubar Pascha. Auf Vorschlag von US-Präsident Wilson nahm die Konferenz am 30. Januar 1919 eine Resolution an, nach der Armenien, Kurdistan, Syrien, Mesopotamien, Palästina und Arabien von der Türkei getrennt und unter das Mandat alliierter Mächte unter Aufsicht des Völkerbunds gestellt werden sollten. Am 26. Februar 1919 legte Avetis Aharonian dem Zehnerrat der Konferenz die territorialen Forderungen der Armenier vor. Gleichzeitig erklärte er, dass die Republik Armenien keine Einwände gegen die Gründung eines kurdischen Staats im Hakkari und im südlichen Teil der Provinz Diyarbakir habe.30 Im März 1920 traf sich die armenische 29 Pouvons-nous dʼailleurs éviter ce rapprochement, cette union? Les masses assyro-­chal­déennes et kurdes ne se mêlent-elles pas, ne se confondent-elles pas à travers toute la montagne? Est-il un coin perdu où il nʼy ait que des Kurdes, que des chrétiens, que des Yézidis? Il nʼest pas gorge de montagnes, si profonde soit-elle, de sommet si escarpé, où nous ne vivions côte à côte, où nous nʼhabitions presque sous ce même toit. […] Nos montagnes sont unes depuis Ourmiah jusquʼau Sindjar, jusquʼau Tour, et par-delà le Tour, jusquʼaux bouches de lʼEuphrate. Nʼy établissons pas des cloisons étanches: ici, les Kurdes; là les Yézidis; plus loin, nestoriens et Chaldéens; et ailleurs encore Syriens et jacobites. Que montagne et plaines soient toutes à tous. Ce système de division, de morcellement, ne peut quʼengendrer des haines que lʼon éteindra tôt ou tard dans les douceurs de lʼunion, ou que lʼon noiera dans le sang. Or, du sang de nos frères nous en avons assez vu couler. […] Lʼœuvre patriotique, cʼest lʼunification des montagnes; lʼœuvre patriotique, cʼest que la religion ne sʼimmisce point dans les affaires dʼÉtat, cʼest que lʼÉtat se tienne à lʼécart de toute question religieuse; lʼœuvre patriotique, cʼest lʼétablissement dʼune paix durable, éternelle, entre Kurdes et Assyro-Chaldéens. Weibel Yacoub 2011:176–179. 30 Um dem Eindruck einer Konkurrenz zwischen Kurden und Armeniern vorzubeugen, legten Vertreter der beiden Völker am 20. November 1919 ein gemeinsames Memorandum vor, unterzeichnet vom Vizepräsidenten der Republik Armenien, Hamo Ohanjanian, und dem Präsidenten der kurdischen nationalen Delegation (die allerdings von der Friedenskonferenz nicht als solche anerkannt wurde), Sherif Pascha. Darin baten sie die Konferenz gemeinsam um die Errichtung eines armenischen und eines kurdischen Staats. Allerdings erfuhren die armenischen Unterzeichner Kritik von

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Delegation unter Beteiligung von Patriarch Zaven Ter Yeghiayan von Konstantinopel, Avetis Aharonian und Poghos Nubar Pascha in London mit dem Komitee der Friedenskonferenz, das die Grenzen Armeniens festlegen sollte. Die Entscheidung wurde allerdings vertagt. Die Griechen Konstantinopels und Kleinasiens machten sich nach der osmanischen Niederlage Hoffnungen auf die Wiederkehr byzantinischen Glanzes. Mit dem Rücktritt des alternden Patriarchen Germanos V. und seines Rates am 25. Oktober 1918 endete die vorsichtige, gerondismos genannte, Politik des Patriarchats gegenüber den türkischen Behörden. Die Wahl eines neuen Patriarchen wurde bis zu einer endgültigen Friedenslösung zurückgestellt. Unterdessen wählte der Fanar den Erzbischof von Bursa, Dorotheos Mammelis, zum Patriarchatsverweser (topotīrītīs). Er war ein entschiedener Vertreter der griechischen Widerstandsbewegung gegen die osmanische Herrschaft. Er und sein Rat widersetzten sich auch den Bemühungen der im November 1918 eingesetzten osmanischen Regierung, die Griechen in die Regierungsverantwortung einzubinden. Im Januar 1919 forderte der Rat des Patriarchats die griechischen Minister, Senatoren, Abgeordneten und Staatsbeamten zum Rücktritt auf. Nachdem der Fanar unter den militärischen Schutz einer griechisch-kretischen Einheit gestellt worden war, schaffte er zunächst den Türkisch-Unterricht an den griechischen Schulen ab. Am 16. März 1919 wurde in allen griechischen Kirchen Konstantinopels eine Erklärung verlesen, in der die Einheit der Stadt mit dem griechischen Staat gefordert wurde. Die griechischen Bürger des osmanischen Staats wurden aufgefordert, ihre osmanischen staatsbürgerlichen Rechte nicht mehr wahrzunehmen und sich nicht mehr an Wahlen zu beteiligen.31 Anfang März 1919 erschien Erzbischof Dorotheos als Führer einer patriarchalen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris. Sie legte am 20. März ein Memorandum vor, in dem sie forderte, Konstantinopel seinen 450.000 griechischen Einwohnern zuzusprechen und unabhängige Staaten für die großen griechischen Siedlungen in Anatolien zu schaffen. Die einflussreiche Greek Literary Society hatte bereits im Februar 1919 von der Friedenskonferenz gefordert, Konstantinopel Griechenland anzuschließen. Die Forderung wurde am 30. April 1919 von den griechischen Abgeordneten des osmanischen Parlaments wiederholt. In einem Brief an den britischen Premierminister David Lloyd George vom 14. Februar 1920 forderte Dorotheos nochmals die Vereinigung Konstantinopels mit dem griechischen Mutterland.32

verschiedenen Seiten, die darin eine Aufgabe der nationalen Ambitionen der Armenier sahen. Baibourtian 2013:250–270. 31 Alexandris 1992:54–59, 63. 32 Alexandris 1992:59–61. Die Politik Dorotheosʼ blieb jedoch innerhalb der griechisch-orthodoxen Kirche nicht unwidersprochen. Führer der gegnerischen Partei, die weiterhin die Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden suchten, war der Erzbischof von Chalkedon, Gregorios Zervoudakis. Er legte aus Protest im März 1919 sein Amt in der Heiligen Synode nieder. Am 6. Dezember 1923 wurde er zum Patriarchen gewählt, dem ersten in der Türkischen Republik, offensichtlich mit dem Ziel die Zusammenarbeit mit dem neuen Staat zu ermöglichen. Alexandris 1992:68–69.

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Staatswerdung im Zeichen von Vertreibung: die Entstehung der Republik Türkei und die christlichen Minderheiten Die griechische und armenische Gefahr: Der Vertrag von Sèvres und die türkische Nationalbewegung Am 10. August 1920 unterschrieb die Regierung Sultan Mehmeds VI. Vahideddin (1918–1922) gegen den Widerstand der seit April 1920 in Ankara residierenden nationalistischen Regierung unter Mustafa Kemal den Vertrag von Sèvres. Er sah folgende Gebietsaufteilung vor: Istanbul wurde dem Herrschaftsbereichs des Sultans zugesprochen und zur Hauptstadt und Regierungssitz erklärt. Damit wurde griechischen Forderungen nach einer Vereinigung der Stadt mit Griechenland oder einem unabhängigen griechischen Stadtstaat Konstantinopel nicht nachgegeben. Das Gebiet um Izmir/Smyrna hingegen wurde Griechenland zugesprochen. Für die Kurden sollte eine umfangreiche, zunächst autonome Region in Südostanatolien geschaffen werden. Den Assyrern kamen Garantien und Schutz im Rahmen dieser kurdischen Region zu. Sollte sich jedoch ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Vertrags in der kurdischen Region eine Mehrheit für die Unabhängigkeit finden, verpflichtete sich die türkische Regierung, diese anzuerkennen. Armenien wurde de jure als unabhängiger Staat anerkannt, seine Grenzen aber nicht festgelegt. US-Präsident Woodrow Wilson sollte einen Vorschlag für die türkisch-armenische Grenze ausarbeiten. Dieser legte im November 1920 eine Karte vor, wonach der nördliche Teil der Provinzen Van und Bitlis sowie das Gebiet östlich von Erzincan, Dersim und Gümüşhane mit einem Zugang zum Schwarzen Meer zum unabhängigen Armenien gehören sollten. Allerdings standen diese Gebiete voll unter Kontrolle der Kemalisten und niemand war bereit, sie mit Waffengewalt für die Armenier in Besitz zu nehmen. Außerdem war dieses Gebiet nach den Deportationen und Massakern von 1915 quasi nicht mehr von Armeniern bewohnt. Die kemalistische Türkei und die Sowjetunion lehnten diese Grenzziehung kategorisch ab.33 Bereits im Mai 1919 hatten griechische Truppen Smyrna/Izmir besetzt. Der türkischen Bevölkerung Anatoliens machte dies schlagartig klar, wie es um ihre Zukunft angesichts der Interessen von Griechen, Alliierten, Armeniern und Assyrern stand. Die von Mustafa Kemal geführte Nationalbewegung zog ihre Kraft aus der immer wieder beschworenen „griechischen und armenischen Gefahr“. Auf einem Kongress in Erzerum (23. Juli bis 7. August 1919) wurde die Einheit der Ostprovinzen gefordert und die Gründung eines armenischen und griechischen Staats auf anatolischem Boden strikt abgelehnt. „Wir werden den Armeniern und Griechen niemals erlauben, unsere Existenz, die Rechte von Muslimen und die osmanische Selbstverteidigung direkt oder indirekt, verborgen oder offen in irgendeiner Weise zu gefährden. So betrachtet sich unsere Nation als kompetent und in der Lage, sich selbst mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, seien sie physisch oder moralisch, zu schützen mit dem Ziel, die 33 Alexandris 1992:66; Weibel Yacoub 2011:243–245; Baibourtian 2013:304–310.

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Versuche der Griechen und Armenier unserem Land zu schaden, zu vereiteln.“ (Artikel 2 der Erklärung des Kongresses von Erzerum). Ein kemalistischer Kongress in Sivas (4. bis 11. September 1919) wiederholte diese Forderungen in noch schärferer anti-armenischer und anti-griechischer Form. Mustafa Kemal fasste die Arbeit des Kongresses mit den Worten zusammen: „Unser Land befindet sich zur Zeit zwischen zwei Gefahren: der armenischen Gefahr und der griechischen Gefahr“.34 In Sivas wurde ein Repräsentativkomitee mit Mustafa Kemal an der Spitze als Exekutive der Widerstandsbewegung gewählt. Die Besetzung Izmirs durch griechische Truppen, die italienischen Vorstöße an der südlichen Mittelmeerküste, die Ausrufung einer griechischen Republik Pontos an der Schwarzmeerküste sowie die Unabhängigkeit der Armenischen Republik mit der Hauptstadt Yerewan waren der ideale Nährboden für nationalistische Gefühle unter den Muslimen Anatoliens. So gelang es der kemalistischen Bewegung, auch weite Teile der Kurden für sich zu gewinnen. Angst vor griechischer und armenischer Agitation sollte bis heute in der türkischen Gesellschaft weit verbreitet bleiben. Durch Ausein­ andersetzungen mit Griechenland (ab den 1950er Jahren) und die Zypern-Krise (ab 1954) sowie den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan (1992–1994), das die Türkei als turkstämmigen Bruderstaat betrachtet, wurde sie immer wieder befördert und hat bei Griechen und Armeniern in der Türkei das Gefühl größter Verwundbarkeit wach gehalten. Angesichts der zunehmend nationalistischen Stimmung in der Türkei machten sich die Christen, die sich bisher der alliierten Sympathien sicher waren, Sorgen um die Zukunft. In einer gemeinsamen Erklärung vom 17. Oktober 1919 drohten die Führer der griechischen und der armenischen Gemeinde sogar mit Rücktritt angesichts der Zögerlichkeit, mit der die Siegermächte in Paris die Frage der orientalischen Christen behandelten. Die Entente-Mächte hätten dann die volle Verantwortung für die Interessen der orientalischen Christen selbst zu tragen.35 Am 20. Januar 1920 verabschiedeten Nationalisten und Gesinnungsfreunde Mustafa Kemals, die aus den Parlamentswahlen vom Dezember 1919 als Sieger hervorgegangen waren, einen „Nationalpakt“ (misak-i milli), der die Prinzipien der Widerstands- und Befreiungsbewegung, wie sie bereits in Erzerum und Sivas formuliert worden waren, wiederholte und festigte: Einheit des Volkes von Anatolien mit der Türkei, Anerkennung der Unabhängigkeit der Araber und West-Thrakiens, Garantie der Rechte der Minderheiten, vollständige Unabhängigkeit der Türkei, Freiheit der Meerengen unter türkischer Kontrolle. Am 16. März 1920 besetzten jedoch britische Truppen das Parlament, um den kemalistischen Umtrieben ein Ende zu bereiten. Immer mehr Abgeordnete entwichen daher nach Ankara, wo bereits im Dezember 1919 das Repräsentativkomitee seinen Sitz genommen hatte. Dort konstituierten sich die Abgeordneten als

34 Zitate nach Baibourtian 2013:276. 35 Alexandris 1992:66.

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„Große Nationalversammlung“ (Büyük millet meclisi) und traten am 23. April unter dem Vorsitz Mustafa Kemals erstmals zusammen.36 Angesichts der fortgesetzten Kampfhandlungen und der Erfolge der kemalistischen Nationalbewegung trafen sich vom 21. Februar bis 14. März 1921 Vertreter von England, Frankreich, Italien und Japan in London, um über eine Revision des Vertrags von Sèvres zu beraten. Die Türkei entsandte zwei Delegationen: eine des Sultans aus Istanbul und eine der Kemalisten aus Ankara. Jedoch zog sich die Delegation aus Istanbul gleich zu Beginn zurück und erklärte den Führer der Delegation Ankaras zum alleinigen Sprecher. Für die Republik Armenien (die allerdings schon von der Sowjet­ union eingegliedert worden war) sprach Avetis Aharonian, während Poghos Nubar Pascha als Vertreter der „Nationalen Delegation“ auftrat. Sie bemühten sich vergeblich um die Aufrechterhaltung der Bestimmungen des Vertrags von Sèvres. Das Abschlussdokument der Konferenz von London sprach statt eines vereinigten, freien, unabhängigen und souveränen Armenien von einem „National Home“ für die Armenier. Diese Formulierung wurde am 21. September 1921 vom Völkerbund übernommen mit der Ergänzung, dass dieses „National Home“ vollständig unabhängig von der Türkei sein sollte. So wurde die Formulierung der Armenischen Nationalen Delegation doch noch akzeptiert.37 Eine griechische Delegation unter Führung des Patriarchatsverwesers Erzbischof Dorotheos wurde zwar auf Vermittlung der anglikanischen Kirche vom englischen König Georg V. und Außenminister Lord Curzon angehört, nicht aber zur Konferenz zugelassen. Ihre Forderungen nach Festhalten an den Vereinbarungen von Sèvres blieben ohne Wirkung. Einen Rückschlag erlitt die Delegation zudem durch den plötzlichen Tod von Erzbischof Dorotheos am 18. März.38 Die griechischen Truppen waren unterdessen im Sommer 1920 von Smyrna/Izmir aus zunächst an die asiatische Küste des Marmarameers vorgestoßen und von dort weiter nach Eskişehir im Inneren Anatoliens vorgedrungen. Allerdings stürzte im November 1920 in Griechenland die Regierung Venizelos und in einer Volksabstimmung wurde im Dezember König Konstantin zurückgerufen. Die osmanischen Griechen waren geteilt zwischen Königstreuen und Anhängern Venizelosʼ. Letztere bauten in der Türkei sogenannte Verteidigungsverbände (ethnikī amyna) auf. Sie wurden allerdings von Dorotheosʼ Nachfolger in der Patriarchatsverwaltung, Erzbischof Nikolaos von Caesarea, nicht in gleicher Weise unterstützt wie von Dorotheos, der ein glühender Anhänger Venizelosʼ war. Die Spaltung innerhalb der osmanischen Griechen trug auch zur folgenden Niederlage der griechischen Truppen in Kleinasien bei.39 Als Reaktion 36 Steinbach 1996:108–110. 37 Baibourtion 2013:314–318. 38 Alexandris 1992:67–68. 39 Der am 6. Dezember 1921 zum Patriarchen von Konstantinopel gewählte bisherige Erzbischof von Athen, Meletios Metaxakis, Anhänger von Venizelos, fand weder die Zustimmung der königlichen Regierung in Athen noch der osmanischen Behörden. Bewusst hatte die Wahlversammlung die Regelungen von 1856 beiseitegeschoben und einen Kandidaten, der nicht osmanischer Staatsbürger war, gewählt. Metaxakis förderte vehement die Politik der venizelistischen Amyna zur Gründung eines unabhängigen griechischen Staats in Kleinasien unter Einbeziehung Konstantinopels und unter-

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auf den griechischen Vorstoß wurden ab März 1921 die griechische Bevölkerung aus dem Pontos vertrieben. Ihre Dörfer wurden niedergebrannt, um eine Rückkehr unmöglich zu machen. Nach anfänglichen Erfolgen erlitt unterdessen die griechische Armee bei Inönü eine erste Niederlage gegen die kemalistischen Truppen unter Ismet Pascha (der später den Namen des Orts seines Sieges als Familiennamen annahm). Nach heftigen Kämpfen konnten die Griechen im Juli 1921 allerdings doch noch das strategisch wichtige Eskişehir besetzen, wurden aber bereits in den folgenden Wochen von den Truppen Ismet Paschas und Mustafa Kemals bis nach Izmir zurückgeschlagen. Am 9. September 1922 marschierten türkische Truppen in Izmir ein und brannten die Stadt größtenteils nieder. Am 11. Oktober 1922 handelten die Alliierten – nicht die Griechen – mit Ismet Pascha in Mudanya einen Waffenstillstand aus. Demnach hatten die Griechen Ost-Thrakien wieder an die Türkei abzutreten. Griechische Rechte in Kleinasien fanden nach der Niederlage von Izmir gar keine Erwähnung mehr. Nach den Massakern von Smyrna und der Übergabe der Polizeigewalt an die türkischen Behörden in Istanbul im November 1922 verließen zwischen Oktober und Dezember 1922 rund 50.000 Nicht-Muslime Istanbul. Die Präsenz alliierter Truppen verhinderte jedoch ein Massaker und eine Massenflucht wie in Smyrna.40 Im Süden Anatoliens rückten türkische Truppen immer weiter gegen die französischen Besatzungstruppen vor. Diese konnten sich wegen mangelnder Reserven kaum halten. Am 20. Oktober 1921 schloss Frankreich mit der Regierung von Ankara einen Friedensvertrag. Mit dem Vertrag von Ankara wurde die Grenze zwischen der Türkei und dem französischen Mandatsgebiet von Syrien geregelt (Franklin-Bouillon-Linie). Die Franzosen zogen sich endgültig aus Kilikien, Urfa, Mardin und Aintab zurück. Ein Großteil der von Armeniern, Syrern und Chaldäern bewohnten Gebiete fiel damit der Türkei zu. Garantien für die Minderheiten sah der Vertrag, anders als die vorangegangene Vereinbarung von London vom 11. März 1920, nicht vor. Angesichts der unmittelbar vorausgegangenen Ereignisse verließen die meisten verbliebenen Christen dieses Gebiet. Allein 150.000 überlebende Armenier verließen Kilikien und siedelten nach Syrien oder Griechenland um, so dass sich auch in diesem Gebiet nun fast keine Armenier mehr fanden.41 Zuvor hatte es in der Region Hoffnung auf den Erhalt beziehungsweise die Wiederbelebung christlichen Lebens nach den Massakern und Vertreibungen des Kriegs gegeben. Unter dem Schutz der britischen, ab November 1919 der französischen Truppen, war Urfa kurzzeitig zu einem Zentrum für die Hilfe für Überlebende der Deportationen und der Massaker geworden. Rund 8.000 Armenier fanden sich dort ein und hofften auf den Schutz der britischen Truppen. Hilfsleistungen erfolgten über die Missionare, die Hilfsgelder und Sachmittel vom Near East Relief, einer in den USA gegründeten Hilfsaktion für die Armenier des Nahen Ostens, erhielten. Das armenische stützte diese Forderungen im Januar 1922 in Gesprächen mit Lloyd George und dem französischen Außenministerium. Alexandris 1992:72–76. 40 Alexandris 1991:69–73, 80–83, Steinbach 1997:111–115. 41 Weibel Yacoub 2011:249–251; Baibourtian 2013:318–319.

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Viertel wurde wiederaufgebaut. Am 1. November 1919 lösten französische Truppen die Briten ab. Dies führte wegen der Ressentiments in der türkisch-nationalistischen Bewegung jedoch zu Spannungen. Ab Ende Januar 1920 räumten die Armenier aus Sicherheitsgründen die äußeren Teile ihres Viertels. Syrer, die zwischen Kurden und Türken wohnten, zogen sich ins Armenierviertel zurück. Die nationalistischen türkischen Milizen besiegten im April die kleine Schar der Franzosen, diese kapitulierten, durften abziehen, wurden allerdings zum größten Teil von „undisziplinierten Kurden“, wie die Behörden behaupteten, massakriert. Die Lage für die Christen in Urfa wurde unhaltbar. Einige Türken holten sich ihre armenischen „Zweitfrauen“ zurück, die sie sich während des Kriegs genommen hatten und die von den Alliierten befreit worden waren. Im Dezember 1920 befahl die Regierung in Ankara, die französischen Missionsschulen zu schließen, die Gebäude zu beschlagnahmen und die Missionare auszuweisen. Die sechs Kapuziner und 13 Franziskanerinnen mussten eine fünfwöchige Odyssee durch Anatolien unternehmen, bevor sie sich vom Hafen Samsun einschiffen konnten, um die Türkei zu verlassen. Das Near East Relief transportierte 1921 armenische Waisen aus Urfa, Mardin, Diyarbakir und Harput in großem Umfang (insgesamt rund 8.000 Kinder) nach Syrien, weil man keine Zukunft für sie in der Türkei sah. Am 1. Oktober 1922 schloss auch das Missionsspital, das zuletzt als Schweizer Einrichtung betrieben worden war.42 Im Sommer 1919 waren die Jesuiten nach Adana und Zentralanatolien – Merzifon, Amasya und Sivas – zurückgekehrt. Mit Hilfe von französischen Offizieren versuchten sie ihren alten Besitz wiederzuerlangen, diskreditierten sich damit aber in den Augen der kemalistischen Bewegung. Ende Dezember 1920 schloss die Regierung in Ankara die jesuitischen Schulen und beschlagnahmte Schulgebäude und Kirchen. Die Jesuiten wurden mehrere Monate als Geiseln in der Auseinandersetzung mit den Alliierten festgehalten, bevor sie in der zweiten Jahreshälfte 1921 nach Istanbul reisen durften. Mit den Jesuiten wurde auch die verbliebene oder nach den Vertreibungen in kleinem Umfang zurückgekehrte lokale christliche Bevölkerung von den Behörden vertrieben. Mit der Besetzung Kilikiens durch französische Truppen hatten die Jesuiten auch die Primar- und Sekundarschulen in Adana sowie das Krankenhaus wiedereröffnet. Nach dem Rückzug des französischen Militärs Ende 1921, verließen allerdings die meisten Christen die Region, die Schulen leerten sich. Im Oktober 1922 wurden sie auf Anweisung der Behörden geschlossen; das Krankenhaus konnte mit einheimischem Personal weiterarbeiten. Von den Jesuiten blieb nur ein Pater zurück, der die römisch-katholische Gemeinde betreute.43 Auch die Einrichtungen der deutschen und schweizerischen evangelischen Missionen (Hülfsbund) konnten nach dem Krieg in Anatolien nicht mehr Fuß fassen. Die deutschen Missionare wurden 1919 von den Alliierten ausgewiesen und legten ihre Arbeit in die Hand schweizerischer und dänischer Mitarbeiter. Die Arbeit in Van war 42 Kieser 2000:487–496. 43 Kieser 2000:370–371.

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bereits 1915, in Muş 1916 mit der Vertreibung und Ermordung der Armenier eingestellt worden. Haruniye in Kilikien wurde 1920, Mezere (bei Harput) 1922 aufgegeben. Die Waisenkinder des Hülfsbundes wurden größtenteils nach Syrien gebracht. 1923 gab es nur noch die Station in Maraş für 20 armenische und türkische Mädchen. Die Deutsche Orient-Mission war seit dem Ausscheiden Johannes Lepsiusʼ 1917 angeschlagen und wurde 1924 aufgelöst, die Station in Urfa war bereits 1917 verlassen worden. Pastor Ernst Christoffel wurde im Januar 1919 aus Malatya ausgewiesen und übergab seine Blindeneinrichtung und sein Waisenhaus dem ABCFM.44 Das American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM) der presbyterianischen Kirche hatte vor und während des Kriegs Dutzende Missionsstationen in Anatolien betrieben. Die meisten Ostprovinzen-Missionare wurden zwischen 1920 und 1922 ausgewiesen. 1923 beschloss das ABCFM, die Arbeit zukünftig auf die muslimisch-türkische Bevölkerung auszurichten und auf Eliteschulen mit hauptsächlicher Zielgruppe Muslime zu konzentrieren. Ohnehin waren zahlreiche, für die Armenier gedachten Einrichtungen geschlossen worden oder in den ersten Jahren nach dem Krieg nach Syrien oder in den Libanon übergesiedelt. Das College in Merzifon zog nach einem Anschlag 1921 nach Thessaloniki um. Es blieben Sekundarschulen in Istanbul, Izmir, Tarsus, Adana und Merzifon, Colleges in Izmir und Tarsus, je ein Spital in Aintab und Talas bei Kayseri sowie eine Missionsstation in Maraş. Die Mädchenschule in Bursa musste 1928 geschlossen werden, weil vier muslimische Mädchen zum Christentum übergetreten waren. Die Bildung einer christlichen Gruppe um die Station in Maraş führte Ende 1933 zur Ausweisung der Missionarinnen des Hülfsbundes. Die Arbeit wurde kurzzeitig von den verbliebenen amerikanischen Missionaren weitergeführt. Aber auch diese wurden 1934 ausgewiesen, mit der Begründung, die öffentliche Sicherheit erfordere diesen Schritt. Während der 1930er Jahre musste das ABCFM wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten ein Institut nach dem anderen schließen. 1934 wurde das International College for Asia Minor von Izmir nach Beirut verlegt. 1938 verblieben nur noch vier der einst 19 Sekundarschulen in der Türkei.45 Ein Kapuziner aus Mamuret-ul-Aziz beschrieb die Situation der Mission in Mardin 1924 folgendermaßen: sechs Stationen waren zerstört und aufgegeben worden. Es bliebe nur die in Mezere (Kirche, Kolleg und Mädchenschule), die drei umliegenden Dörfer seien vollständig zerstört. Die Mission in Urfa sei von Patres aus Frankreich und Malatya wiedereröffnet worden. Dort residiere auch noch der armenisch-katholische Bischof mit 30 Familien, die die türkischen Behörden allerdings zu vertreiben suchten. Die Emigration schreite schnell voran.46 Ende 1922 kontrollierten kemalistische Kräfte das gesamte Anatolien. Damit war die Grundlage für die Ausrufung der Republik in ihrem heutigen geographischen Zuschnitt geschaffen (einzig der Sanjak Alexandretta kam 1939 als Provinz Hatay noch 44 Kieser 2000:371–72. 45 Kieser 2000:372–376, 436–437. 46 Filoni 2006:173; Filoni 2015:176.

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hinzu). Am 1. November 1922 beschloss die Große Nationalversammlung die Abschaffung des Sultanats, zwei Tage später löste sich die Regierung des Sultans auf. Am 17. November verließ Sultan Mehmed VI. Vahideddin an Bord eines britischen Schiffes Istanbul und floh nach Italien. Zum Nachfolger im Amt des Kalifen ernannte die Große Nationalversammlung seinen Neffen Abdülmecid.47 Für die Christen war das Ergebnis des Unabhängigkeitskampfes des türkischen Volkes ein Desaster. Die nach dem Morden und den Deportationen noch verbliebenen oder 1919 zurückgekehrten Armenier, Syrer und Assyrer wurden zum allergrößten Teil vertrieben – mit Ausnahme der Syrer vom Tur Abdin. Die Griechen aus Smyrna waren während des griechisch-türkischen Kriegs fast vollständig, die Pontos-Griechen zu einem erheblichen Teil getötet oder vertrieben worden. Die übrigen Griechen sollten im Zuge des Bevölkerungsaustauschs Anatolien verlassen müssen. Warum dieser Hass auf Christen? Der evangelische Missionar Jakob Künzler, der seit 1899 für die Deutsche Orient-Mission in der Türkei wirkte, bilanzierte im Rückblick (1935): „Vergesse man nicht, damals stand jeder Europäer unter dem Recht der Kapitulationen. Das hiess aber nichts anderes als: ,In welchem Haus immer so ein Missionar arbeitet oder wohnt, hat die Türkei nichts mehr zu sagen, da regiert das Reich, dem der Missionar angehört.ʼ So wurden die Missionare, ob sie es wollten oder nicht, zu imperialistischen Werkzeugen. Kein Wunder, dass man da ihre Predigt, ja selbst ihre Liebestaten mit argwöhnischen Augen betrachtete und ablehnte!“48 Ähnlich argwöhnisch betrachteten die türkische und kurdische Bevölkerung und namentlich die Behörden auch die einheimischen Christen, die in engem Kontakt mit den Missionaren standen und deren Interessen die Missionare zu vertreten immer wieder vorgaben. Die Rolle von Griechen, Armeniern und Assyrern als Verbündete oder Sympathisanten der Kriegsgegner des Osmanischen Reichs bestätigte das Misstrauen. Außerdem wurden in den entstehenden Nationalstaaten auf dem Balkan zahlreiche Muslime drangsaliert, ausgewiesen oder vertrieben. Die meisten fanden eine neue Heimat in Anatolien. Solidarität mit diesen, oft türkisch-stämmigen Muslimen, die aus „christlichen“ Ländern vertrieben worden waren, stärkte Antipathien gegen Christen in der Türkei. Misstrauen gegenüber den westlichen Kirchen (Katholiken und Protestanten), denen missionarische Interessen unterstellt wurden, tat ein Übriges.49

Exodus: Der Vertrag von Lausanne und die Umsiedlung der Griechen Das Ergebnis der militärischen Siege der türkischen Nationalbewegung waren die Verhandlungen in Lausanne (November 1922 bis Juli 1923). Es war klar, dass der Vertrag von Sèvres keine Zukunft hatte. Für Armenier und Assyrer bedeutete Lausanne das Ende ihrer Hoffnungen auf unabhängige Staaten, auf eine irgendwie geartete Auto47 Steinbach 1996:115–116. 48 Zitiert nach Kieser 2000:497. 49 Cagaptay 2006:137.

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nomie oder einen besonderen Status als Minderheiten in der Republik Türkei. Eine armenische Delegation wurde zu den Verhandlungen gar nicht erst zugelassen mit dem Argument, dass nur Staaten vertreten sein könnten und die Republik Armenien inzwischen von der Sowjetunion vereinnahmt worden sei. Nur bei der Diskussion um die armenische Frage und die Festlegung der türkischen Grenzen wurden die Vertreter der beiden armenischen Delegationen angehört. Avetis Aharonian plädierte erneut für einen unabhängigen Staat in Ostanatolien mit Zugang zum Schwarzen Meer, erklärte sich aber auch mit einem „National Home“ für die Armenier in Kilikien einverstanden. Die türkische Seite lehnte jedoch jede Diskussion um die „armenische Frage“ ab. So wurde sie von den weiteren Verhandlungen ausgeschlossen. Der Vertrag von Lausanne, unterschrieben am 24. Juli 1923, erwähnt die Armenier nicht mehr. Auch der Begriff Assyro-Chaldäer oder ähnliche Bezeichnungen für syro-aramäische Christen kommen im Vertrag nicht vor. Das Problem der türkisch-irakischen Grenze und damit ein mögliches Siedlungsgebiet der Assyrer wurde nicht geregelt, sondern einer Kommission überlassen.50 Mit Blick auf die Griechen stimmten die Ziele von Mustafa Kemal und dem griechischen Ministerpräsidenten Eleutherios Venizelos (seit September 1922 wieder im Amt) weitgehend überein: die Schaffung von ethnisch möglichst homogenen Staatsgebieten. Die Aufgabe der Megalī idea, der Wiederbelebung eines byzantinischen Ostmittelmeerraums, und der Enōsis, der Vereinigung der von Griechen bewohnten Gebiete mit dem „Mutterland“, auf griechischer Seite und des Osmanismus, Panislamismus und Pantürkismus auf türkischer Seite war die Grundlage für die Vereinbarungen zum Bevölkerungsaustausch: alle Griechen aus Anatolien und alle Türken beziehungsweise Muslime aus Griechenland sollten umgesiedelt werden. In den Verhandlungen von Lausanne forderte Ismet Inönü, auch die griechischen Bewohner Istanbuls in den Bevölkerungsaustausch einzubeziehen, stieß damit aber auf Widerstand beim griechischen Ministerpräsidenten Venizelos. Dieser erklärte, neben den Flüchtlingen aus Anatolien und Ost-Thrakien, die mehr als eine Million ausmachten, könne Griechenland nicht noch 400.000 Istanbuler Griechen aufnehmen. Am 30. Januar 1923 schlossen Griechenland und die Türkei einen Vertrag über den Bevölkerungsaustausch, der die Umsiedlung aller griechisch-orthodoxen Gläubigen aus der Türkei mit Ausnahme der griechischen Bevölkerung Konstantinopels sowie die Umsiedlung aller Muslime aus Griechenland außer der muslimischen Bevölkerung Ost-Thrakiens vorsah. Griechen mit griechischem Pass durften nicht in Istanbul bleiben, ebensowenig wie Griechen, die sich dort erst nach 1918 angesiedelt hatten. Außerdem durften Nicht-Muslime, die Istanbul 1922 ohne türkische Pässe, sondern nur mit Ausweispapieren der Alliierten verlassen hatten, nicht zurückkehren; alles in allem etwa 150.000 Personen. 1923 blieben etwa 250.000 Griechen in Istanbul.51 50 Weibel Yacoub 2011:252–254; Baibourtian 2013:319–323. 51 Laut offizieller Statistik hatte Istanbul 1924 1.065.866 Einwohner, davon 656.281 Muslime, 279.788 Griechen, 73.407 Armenier, 56.390 Juden. Alexandris 1992:142.

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In Westanatolien war die griechische Bevölkerung im Herbst 1922 nach der Niederlage der griechischen Armee bereits vor dem Abkommen zum Bevölkerungsaustausch vom Januar 1923 vertrieben worden oder mit den griechischen Truppen nach Griechenland geflohen. In Ost-Thrakien, wo die griechische Armee keine Niederlage erlitten hatte, konnte das Militär nach der Vereinbarung einen friedlichen und geordneten Abzug der griechischen Bevölkerung sicherstellen. Die großteils türkisch-sprachige, griechisch-orthodoxe Bevölkerung Kappadokiens (Karamanlides) traf der Austausch überraschend. Griechen, Türken und Briten waren sich während der Verhandlungen zunächst einig gewesen, diese nicht umzusiedeln, weil die meisten Karamanlides kein Griechisch beherrschten und sich auch nicht als Griechen fühlten. Ihre Umsiedlung wurde erst Ende 1923 begonnen und zog sich bis weit ins Jahr 1924. Schätzungen gehen von bis zu 300.000 Personen aus, einige aus dem Raum Istanbul, die meisten aber aus Kappadokien rund um Kayseri, Nevşehir und Niğde sowie Konya, Isparta, Burdur und Antalya. Unter den Pontos-Griechen an der Schwarzmeerküste leisteten bewaffnete Gruppen zunächst Widerstand. Als sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation sahen, zogen sich viele (etwa 80.000) in den Kaukasus oder nach Südrussland zurück in der Hoffnung, dereinst in ihre Heimat zurückkehren zu können. Insgesamt wurden 1.325.217 Personen griechisch-orthodoxen Glaubens aus Anatolien und Ost-Thrakien vertrieben oder zwangsumgesiedelt. Etwa 1,1 Millionen davon blieben in Griechenland, manche zog es weiter nach Ägypten, Westeuropa oder Nordamerika.52 Die arabischen griechisch-orthodoxen Gläubigen, vor allem in Iskenderun und Mersin ansässig, durften nach einer Entscheidung der Gemischten Austauschkommission bleiben. Die türkische Regierung war aber sehr unzufrieden mit dieser Entscheidung und versuchte die arabischen Christen der Region mit verschiedenen Schikanemaßnahmen zur Auswanderung nach Syrien zu bewegen. In den Verhandlungen von Lausanne forderte die türkische Seite außerdem die Ausweisung des Ökumenischen Patriarchats aus Konstantinopel und seine Ansiedlung auf dem Berg Athos. Die türkische Delegation argumentierte, dass das Patriarchat in der Vergangenheit eine politische Rolle gespielt habe. Dies könne die türkische Republik nicht dulden. Wegen des erbitterten Widerstands Griechenlands, Großbritanniens und Frankreichs zog die türkische Delegation ihre Forderung aber schließlich zurück und machte eine mündliche Zusage zum Fortbestand des Patriarchats. Allerdings müsse es sich auf rein geistliche Aufgaben beschränken. Die Kapitulationen mit ihren Privilegien für europäische Staatsbürger und dem Protektionsrecht europäischer Mächte über die unterschiedlichen christlichen Grup­ pen im Osmanischen Reich wurden mit dem Vertrag von Lausanne aufgehoben. Die Eigen­tumsrechte der Alliierten an ihren religiösen Einrichtungen, Schulen, Wohl­ fahrts­instituten, Krankenhäusern und sonstigen Einrichtungen waren jedoch garantiert. Gleiche Rechte galten im Prinzip für die geschützten nicht-muslimischen Min52 McCarthy 1983:131–133; Kitromilides/Alexandris 1984–1985:30–34; Alexandris 1992:83–104; Steinbach 1996:82–83, 151–154; Cagaptay 2006:32. Zu den Karamanlides Clogg 1999:115, 199.

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derheiten. Ihre Rechte wurden der Aufsicht des Völkerbunds unterstellt. Die Artikel 37 bis 44 des Vertrags sicherten den nicht-muslimischen Minderheiten Schutz des Lebens und der Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, freie Religionsausübung und das Recht auf den Betrieb eigener religiöser, karitativer, sozialer und erzieherischer Einrichtungen zu, in denen sie ihre eigenen Sprachen gebrauchen und lehren konnten. Zwar nennt der Text des Abkommens keine bestimmten Gemeinschaften, er wurde aber von türkischer Seite von Beginn an so interpretiert, als betreffe er nur die Griechen, Armenier, Bulgaren und Juden, nicht jedoch die Syrer, Katholiken und Protestanten.53 Wie diese Rechte in der Praxis Anwendung fanden, werden wir in den folgenden Kapiteln untersuchen.

Atatürk und die Christen: Leben im kemalistischen Staat Revolution auf allen Ebenen: Aufbau und Charakteristik des kemalistischen Staats Kemal Mustafa schuf mit der modernen Türkei einen Staat, der sich radikal vom Osmanischen Reich unterschied. Von seinen Landsleuten wurde er dafür 1934 mit dem Ehrentitel Atatürk, Vater der Türken, ausgezeichnet. Der neue Staat beruhte auf sechs Prinzipien: 1. Nationalismus (milliyetçilik): die volle Souveränität des türkischen Volkes verbunden mit der Absage an die Herrschaft über die nicht-türkischen Völker auf dem Balkan und in den arabischen Gebieten des Osmanischen Reichs. 2. Laizismus (lâiklik): der Islam sollte im öffentlichen Leben nicht mehr in Erscheinung treten; anstelle des Şeyhülislam, des obersten islamischen Rechtsgelehrten, der den gleichen Rang wie der osmanische Großwesir eingenommen hatte, wurde das Amt für reli­ giöse Angelegenheiten (diyanet işleri reisliği) eingerichtet, dessen Chef nicht einmal Kabinettsrang hatte. Das Kalifat wurde 1924 abgeschafft, ebenso das Ministerium für religiöses Recht und Stiftungen sowie die religiösen Schulen. Für das Bildungswesen, einschließlich Religionsunterricht und Theologiestudium war ab 1924 ausschließlich das Erziehungsministerium verantwortlich. 3. Republikanismus (cumhuriyetçilik) als Staats- und Regierungsform. 4. Populismus (halkçılık): Mobilisierung des Volkes. 5. Revolutionismus (inkilâpçılık): der komplette Umsturz des alten Systems und das Auslöschen seiner Spuren. Dies wurde sichtbar ausgedrückt zum Beispiel in der Schrift­revolution (die Einführung der lateinischen anstelle der arabischen Schrift), 53 Rabbath 1973:292–298; Valognes 1994:810–811; Oehring 2002:6–7, deutsche Übersetzung der einschlägigen Artikel ibid.:42; Teule 2010:37. Die Aktivitäten der anglikanischen Kirche hatten lange Jahre ihre rechtliche Grundlage in einem Briefwechsel zwischen Ismet Inönü und dem Vertreter Großbritanniens auf der Konferenz von Lausanne. Gleiches gilt für katholische Einrichtungen, die in Briefwechseln mit Italien und Frankreich geregelt wurden. Offiziell wurden diese Einrichtungen nicht als christliche, sondern als nationale verstanden, die eben nur religiöser Natur waren. Missir 1970:41–43.

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der Sprachrevolution (die „Reinigung“ des osmanischen Türkisch von arabischen und persischen Wörtern und Ausdrücken) und der „Hutrevolution“ (die Einführung europäischer Kleidung, symbolisiert am europäischen Hut mit Krempe anstelle des osmanischen Fez). 6. Etatismus (etatism): die staatliche Lenkung der Gesellschaft und Wirtschaft.54 Die Säkularisierung erfolgte nach und nach während der 1920er und 30er Jahre. Sie umfasste 1. die Säkularisierung des Staats: Anerkennung der Souveränität der Nation anstelle der islamischen umma (Artikel 1 der Verfassung vom 21. Januar 1921), Aufhebung des Sultanats (1. November 1922), Ausrufung der Republik (29. Oktober 1923), Aufhebung des Kalifats (3. März 1924). Dennoch war in der Verfassung vom 20. April 1924 der Islam noch als Staatsreligion anerkannt. Die Staatsreligion wurde erst 1928 abgeschafft. Am 5. Februar 1935 wurde das Prinzip Laizismus in die Verfassung aufgenommen. 2. die Säkularisierung des Rechts: Aufhebung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten und des Scharia-Ministeriums (März 1924) sowie der Scharia-Gerichte (1. Mai 1924), Abhebung der Mecelle (des osmanischen Rechtskodex) und der Scharia, Einführung eines säkularen Zivil- und Strafrechts auf Grundlage des Schweizer Zivil- und des italienischen Strafrechts (1926). Damit wurde auch das Familienrecht (das in den meisten arabischen Staaten bis heute in der Hand der religiösen Autoritäten verblieb) säkularisiert und staatlicher Kontrolle unterstellt. Einzig die Zivilehe wurde anerkannt (auch wenn in der Praxis vor dem Imam geschlossene Ehen in regelmäßigen Abständen legalisiert werden mussten, weil sie gerade auf dem Land weiter üblich waren) und die Einehe verbindlich gemacht. Das Strafgesetzbuch verbot die Gründung von Vereinen auf religiöser Grundlage. Es folgten die zivilrechtliche Gleichstellung der Frau sowie die Einführung des Frauenwahlrechts auf kommunaler (1930) und nationaler Ebene (1934). 3. Säkularisierung des Erziehungswesens: Übernahme aller religiösen Schulen durch das Erziehungsministerium (1924), Einrichtung einer staatlichen Fakultät für Theologie zur Ausbildung islamischer Geistlicher, Abschaffung des Religionsunterrichts an Gymnasien (1924), Mittelschulen (1927), städtischen Volksschulen (1930) und Dorfschulen (1938). 4. Säkularisierung der Kultur: Verbot der Derwisch-Orden (1925), Einführung des internationalen anstelle des islamischen Kalenders (1925), Gesetz über die Kopfbedeckung (25. November 1925), Annahme der lateinischen anstelle der arabischen Schrift sowie der westlichen Ziffern (1928), allgemeine Einführung von Familiennamen (1934)55, die Abschaffung aller nicht-militärischen Titel, die auch religiöse Titel betraf (1934), Verordnung über die Kleidung von Geistlichen in der Öffentlichkeit (5. Dezember 1934), Einführung des

54 Steinbach 1996:139–142. 55 Dabei mussten türkischen Staatsbürger einen türkischen Nachnamen annehmen. Griechisch und syrisch klingende Namen würden türkifiziert oder völlig andere Namen vergeben. Namensendungen auf -yan (armenisch), -is, -idis, -poulos (griechisch), -zade (persisch), -of, ef, -vic, -ic (slawisch) wurden verboten. Alexandris 1992:183; Güven 1992:94.

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Sonntags als wöchentlichem Ruhetag (1935).56 Der Kampf gegen den Einfluss der Religion auf das öffentliche Leben und die Prägung der Kultur durch die Derwisch-Orden (tarikat) macht ein Zitat Mustafa Kemals aus dem Jahr 1925 deutlich. Bei einer Rede in Kastamonu sagte er: „Ihr und die ganze Nation müsst wissen – und ihr wisst es sehr wohl – dass die Republik Türkei nicht das Land der Scheichs, Derwische, Jünger und Laienbrüder sein kann. Der geradeste und wahrste Weg (tarikat) ist der Weg der Zivi­lisation. Um Mensch zu sein, reicht es, das zu tun, was die Zivilisation verlangt. Die Häupter der Bruderschaften werden diese Wahrheit verstehen, die ich mit aller Klarheit dargelegt habe, und sie werden einst mit ihrer eigenen Zustimmung ihre Klöster schließen und die Tatsache akzeptieren, dass ihre Jünger endlich alt geworden sind.“57

Die Türkifizierung Anatoliens: Das Schicksal von Kurden, Armeniern und Syrern Das Schicksal der wenigen in Anatolien verbliebenen Armenier und Syrer war eng mit dem der Kurden verbunden. Am 13. Februar 1925 brach ein kurdischer Aufstand aus, der von der 1922 gegründeten Kurdischen Befreiungsbewegung (Jamiyata azadiya kurd) getragen und von dem einflußreichen Scheich Said angeführt wurde. Der Aufstand genoss breite Unterstützung durch die kurdische Bevölkerung. Ende Februar bedrohten die Aufständischen die Stadt Elaziz (nach der Türkifizung später: Elazığ), wurden aber von türkischen Einheiten geschlagen. Scheich Said geriet am 15. April in türkische Gefangenschaft. Der Aufstand brach zusammen. Die türkische Regierung forcierte in den folgenden Jahren die Türkifizierung Südostanatoliens. 1929 brach erneut ein Aufstand, diesmal im Ararat-Gebiet, aus, angeführt vom kurdischen General Ihsan Nuri Pascha. Die türkischen Truppen gingen auch hier rigoros vor und schlugen den Widerstand bis 1931 nieder. Während der kurdischen Aufstände unter Scheich Said (1925) und in der Region Ararat (1929–1931) genossen die Kurden die politische Unterstützung des Dashnak/Armenian Revolutionary Federation (ARF). Bereits 1924 hatten kurdische Aktivisten und der Dashnak eine Vereinbarung über gegenseitige Unterstützung getroffen. Nach der Gründung der kurdischen Auslands­ organisation Khoybûn („Unabhängigkeit“) im Libanon wurde diese Zusammenarbeit weiterentwickelt. Die türkische Politik und Presse nutzte diese Verbindung von Kurden und Armeniern während der Kurdenaufstände, um erneut die armenische Gefahr – diesmal im Bunde mit den Kurden – heraufzubeschwören.58 Syrische, chaldäische und assyrische Christen standen bei den türkischen Behörden ebenfalls im Ruf, den kurdischen Aufstand unterstützt zu haben. Sie wurden von den Behörden vertrieben oder auf britisches Mandatsgebiet im Irak deportiert. In diesem Zusammen56 Oehring 1986 pp. 5–6. Zu den Säkularisierungsmaßnahmen und der islamischen Prägung der osmanisch-türkischen Kultur siehe auch Lewis 1961:395–436. 57 Zitiert bei Lewis 1961:405. 58 Cagaptay 2006:38–39; White 2011:114; Baibourtian 2013:329–339.

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hang wurde auch der syrisch-orthodoxe Patriarch Mor Ignatius Elias III. aus seinem Sitz im Kloster Deir al-Zaafaran vertrieben und das Kloster zeitweilig in ein türkisches Militärlager umgewandelt.59 Im Januar 1926 kam es zu Übergriffen auf Christen in mehreren Dörfern rund um Midyat im Tur Abdin und Cizre am oberen Tigris. Am 28. Dezember 1926 wurden die Katholiken aus dem Gebiet von Marga (in der kurdischen Region zwischen der Türkei und dem Irak) wegen der definitiven Grenzziehung zwischen der Türkei und dem Irak vertrieben. Übergriffe und Verhaftungen von Christen blieben an der Tages­ ordnung.60 1928 richtete der armenisch-katholische Patriarch Boghos Bédros Terzian (Sitz in Bzommar im Libanon) ein Schreiben an den Völkerbund, in dem er sich über Misshandlungen von Armeniern in Anatolien beklagte und verlangte, dass ihnen die ihm Vertrag von Lausanne zugestandenen Rechte auch in der Praxis zugebilligt würden. Am 10. April 1928 wurde ein armenisch-(katholischer) Priester in seinem Haus in Diyarbakir ermordet, möglicherweise unter Beteiligung der örtlichen Polizei. Erneut protestierte Patriarch Terziyan beim Völkerbund. Kurz darauf wurde ein armenisch-orthodoxer Priester in Mardin von Polizeikräften getötet. Kurz nach diesen Ereignissen wurde die katholische Mission in Diyarbakir, die hautsächlich armenischen Katholiken diente, geschlossen. Die armenisch-protestantische Kirche in Harput wurde niedergebrannt. In den Jahren 1929 und 1930 wurde ein Großteil der in Anatolien verbliebenen Armenier durch Einschüchterungen und Schikanen dazu gebracht, ihre Heimat zu verlassen. Ein Dekret vom 1. Januar 1929 verbot Armeniern, ihren Besitz in der Türkei zu verkaufen oder testamentarisch zu vermachen; bei ihrem Tod fiel dieser an den Staat. Nach Angaben des armenischen Patriarchats wanderten 6.373 der rund 10.000 Armenier in diesen Jahren ins französische Mandatsgebiet Syrien und Libanon aus. 1934 wurden weitere 600 Armenier aus verschiedenen Städten und Dörfern Anatoliens nach Istanbul deportiert.61 1933 wurde ein amerikanischer Missionar, der bei den assyrischen Christen in Mardin lebte, ausgewiesen mit der Begründung, die türkische Regierung wünsche keine Vertreter westlicher Länder in den östlichen Provinzen. Ebenfalls 1933 wurden zwei deutsche Schwestern des „Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk“ (gegründet von Johannes Lepsius, der in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1926 auf die Vernichtung der Armenier aufmerksam gemacht hatte), wegen missionarischer Aktivitäten nach Syrien ausgewiesen.62 Am 14. Juli 1934 wurde ein Gesetz erlassen, das ausdrücklich die Assimilierung der kurdischen Bevölkerung vorsah und die Umsiedlung zugunsten von türkisch-stämmigen Neusiedlern erlaubte. Artikel 11B lautete: „Personen ohne Beziehung zur türkischen Kultur und Personen mit einer Beziehung zur türkischen Kultur, aber mit einer 59 60 61 62

Joseph 1983:102–103. Filoni 2006:173–174; Filoni 2015:176–177. Cagaptay 2006:32–37; Güven 2012:106–108. Cagaptay 2006:138.

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anderen Muttersprache können jederzeit auf Anordnung des Innenministeriums aus kulturellen, militärischen, politischen, gesellschaftlichen oder sicherheitsbezogenen Gründen umgesiedelt werden.“ Andere Maßnahmen kamen hinzu: die Verbreitung der türkischen Sprache, die Türkifizierung von Ortsnamen sowie die Einführung türkischer Familiennamen. Im Sommer 1937 brach ein weiterer Aufstand aus, diesmal in Dersim unter den Aleviten unter Sayyid Rıza. Auch dieser Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, Sayyid Rıza im November 1938 hingerichtet, alle in den Aufstand verwickelten Clans – etwa 50.000 Personen – deportiert. Die Provinz Dersim wurde in Tunceli umbenannt.63

Drangsalierung und Ausgrenzung: türkische Politik gegenüber Griechen und Armeniern Der überwiegende Teil der Christen lebte seit dem Entstehen der Türkischen Republik in Istanbul. Auf sie war die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden gerichtet und auf sie waren viele der Gesetze und Regelungen der hochkemalistischen Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelegt. Die größte christliche Gemeinde in Istanbul war die der Griechen. Allein in Kon­ stantinopel sowie auf den vorgelagerten Inseln durften Griechen nach dem Bevölkerungsaustausch bleiben. Größtes Misstrauen jedoch ließen offizielle türkische Stellen gegen das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel walten. Nach der offenen Parteinahme gegen türkische Interessen während des griechisch-türkischen Kriegs 1919 bis 1922 kann dies nicht wundernehmen. Auf Druck der türkischen Behörden musste Patriarch Meletios am 10. Juli 1923 die Türkei verlassen. Er zog sich in ein Kloster auf dem Berg Athos zurück. Dadurch versetzte er die Heilige Synode in die Lage, mit den türkischen Behörden über die Wahl eines neuen Patriarchen zu verhandeln. Sollte dies verweigert werden, habe die Synode aber immer noch die Möglichkeit, ihn als amtierenden Patriarchen weiter anzuerkennen, so dass in der kritischen Situation keine Vakanz entstand, die zu einer Abschaffung des Patriarchats führen könnte. Ankara verweigerte sich allerdings. Stattdessen erhielt ein Prälat aus Anatolien, Euthymios Karahissaridis, kurz Papa Eftim, die Anerkennung für eine „Türkisch-Orthodoxe Kirche“, die er auf einem Kongress in Kayseri am 15. September 1922 ausgerufen hatte. Als Karamanli-Grieche hätte Papa Eftim eigentlich nach Griechenland umgesiedelt werden müssen, es gelang ihm aber durch seine guten Beziehungen zu kemalistischen Kreisen, in der Türkei bleiben zu dürfen. Am 2. Oktober 1923 besetzte Eftim zusammen mit türkischen Gefolgsleuten den Fanar, vertrieb den Stellvertreter des Patriarchen, Erzbischof Nikolaos, und ließ von der eingeschüchterten Synode Patriarch Meletios absetzen. Dann begab er sich nach Ankara und suchte um Anerkennung als Vertreter des Patriarchats bei der Regierung nach. Dies wurde jedoch mit dem Argument verweigert, dem Patriarchat stehe als rein religiöser Institution keine Vertretung bei der 63 Steinbach 1996:358–363.

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Regierung zu. Gleichzeitig nahm die Unterstützung für Eftim in Regierungskreisen ab. Nach dem offiziellen Rücktritt von Patriarch Meletios am 12. Oktober erlaubte die türkische Regierung die Wahl eines neuen Patriarchen unter der Bedingung, dass dieser türkischer Staatsbürger sei und seine geistlichen Funktionen bisher in der Türkei ausgeübt habe. Gewählt wurde der moderate Erzbischof von Chalkedon, Gregorios Zervoudakis. Allerdings griff Papa Eftim im Dezember 1923 den Fanar erneut mit 40 bewaffneten Anhängern an und erklärte sich zum „Generalvertreter aller orthodoxen Gemeinden“. Die türkischen Behörden vertrieben ihn jedoch wieder aus dem Fanar und ließen am 13. Dezember die Inthronisierung Gregorios VII. zu. Ein Telegramm Präsident Mustafa Kemals, in dem er sich bei dem Gewählten für dessen freundliche Haltung gegenüber der türkischen Republik bedankte, wurde als Anerkennung gewertet, auch wenn eine offizielle Bestallung als Patriarch von Regierungsseite bis zum Tod Gregoriosʼ am 16. November 1924 ausblieb. Die Wahl des Nachfolgers von Gregorios wurde überschattet von der Frage, ob die Erzbischöfe des Fanar und Mitglieder der Heiligen Synode zu den Griechen gehörten, die gemäß dem Abkommen über den Bevölkerungsaustausch ausgewiesen werden müssten. Während die Behörden begannen, die nicht in Konstantinopel lebenden Erzbischöfe für die Deportation zu registrieren, wählte die Synode am 17. Dezember 1924 Konstantinos Araboglou, der zu den Auszuweisenden gehörte. Die türkischen Behörden reagierten prompt und deportierten den gewählten Patriarchen am 30. Januar 1925 nach Griechenland. Die Ausweisung brachte die beiden Länder an den Rand eines Kriegs. Erst im Juni, nachdem sowohl in Griechenland als auch in der Türkei die Regierungen gewechselt hatten, kam es zu einem Ausgleich: Die Synode sollte einen neuen, der türkischen Regierung genehmen Patriarchen wählen; im Gegenzug wurde den amtierenden Erzbischöfen im Fanar das Aufenthaltsrecht in der Türkei gewährt. Am 13. Juli 1925 wurde Basilios Georgiadis, Erzbischof von Nikaia, zum Patriarchen gewählt und erhielt die Anerkennung der türkischen Regierung. Allerdings unternahm die Regierung verschiedene Maßnahmen, um das Patriarchat seines internationalen Charakters zu berauben. Weder wurde dem Patriarchen der Titel „Ökumenischer Patriarch“ zugestanden, noch wurden Besuche anderer Patriarchen in Konstantinopel geduldet; so wurden 1927 der rumänische Patriarch und das Oberhaupt der orthodoxen Kirche in Polen nicht ins Land gelassen. Bereits 1926 hatte die Regierung dem Fanar zu verstehen gegeben, dass jeder Bischof des Patriarchats Konstantinopel, der im Ausland an einer internationalen Konferenz teilnehmen würde, nicht ins Land zurückgelassen würde. Außerdem wurde die Durchführung eines pan-orthodoxen Konzils in Konstantinopel von der Regierung rundweg verboten. Dynamische Patriarchen, die Führungspersönlichkeiten für die griechische Gemeinde hätten sein können, wie Meletios Metaxakis und Konstantinos Araboglou, wurden von der türkischen Regierung nicht anerkannt. Bei der Patriarchenwahl 1936 gab die Regierung zu verstehen, dass sie den dynamischen Erzbischof von Chalkedon, Maximos Vaportzis, nicht akzeptieren werde. Stattdessen wurde die Wahl greiser Kandidaten gefördert, die kaum noch eine Führungsrolle wahrnehmen konnten. Zudem

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wurde der Phanar von der Regierung immer wieder als Faustpfand für Verhandlungen mit Griechenland benutzt.64 Neben der Einmischung in die Belange des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Konstantinopel standen weitere Maßnahmen der türkischen Regierung, mit der sie die Griechen aus dem Land zu treiben suchte. Durch wirtschaftspolitische Maßnahmen erhöhte sie in den 1920er Jahren den Druck auf nicht-muslimische Geschäftsleute, ihre Unternehmen in der Türkei aufzugeben. Viele Unternehmer verließen daher das Land. Auf Freiberufler wurde ähnlicher Druck ausgeübt: so wurden 1924 350 Anwälten Berufsverbot erteilt; betroffen davon waren zwei Drittel der griechischen Anwälte. Mit dem Gesetz vom 11. Juni 1932 beschränkte die Türkei die Ausübung bestimmter Berufe auf türkische Staatsbürger, so die Berufe des Chemikers, Zahnarztes, Chirurgen, Anwalts und Ingenieurs, aber auch Fahrer, Schneider und Schuhmacher waren betroffen. Die Regelung trat 1933 in Kraft. Dies betraf vor allem griechische Staatsbürger in Istanbul (die meisten waren dort geboren und aufgewachsen). Im Jahr 1934 wanderten daher rund 9.000 Personen mit griechischem Pass aus (unter ihnen auch viele Juden griechischer Staatsangehörigkeit)65. Von den 26.431 griechischen Staatsbürgern des Jahres 1927 lebten 1935 nur noch 17.642 in der Türkei, die meisten hatten das Land wegen der Berufseinschränkungen verlassen.66 Vom Staatsdienst waren Nicht-Muslime ausgeschlossen. Zwar hatten diese die türkische Staatsbürgerschaft, sie waren allerdings nicht „Türken“ im Sinne der Beamtenverordnung (memurin kanunu) vom 15. März 1926. Diese enthielt eine ethnisch-religiöse Definition. Erst 1965 wurde die Regelung für die Einstellung von Beamten so geändert, dass nur noch die türkische Staatsbürgerschaft Voraussetzung war.67 Am 64 Psomiades 1961; Alexandris 1992:144–173, 197, 204. Über die „Türkisch-orthodoxe Kirche“ Papa Eftims siehe Jäschke 1964; Jacob 1970–1971. Sie blieb in Instrument in den Händen der Regierung. Beim Tod Eftims I. zählte sie Beobachtern zufolge nicht mehr als 300 Gläubige. 65 Viele Juden verließen unter nationalistischem Druck Mitte der 1930er Jahre die Türkei. Türkische Juden waren die primäre Zielgruppe der 1927 gestarteten Kampagne „Vatandaş Türkçe Konuş“ (Mitbürger, sprich Türkisch!), die vor allem von den Studentenverbänden getragen wurde. Juden waren weniger den Ressentiments der Türken ausgesetzt, weil sie sich während der Kriege von 1912 bis 1922 anders als viele Christen nicht mit ausländischen Mächten verbündet, sondern oftmals an der Seite der Osmanen und Türken gekämpft hatten. Die meisten Juden sprachen allerdings Ladino oder Französisch. Verschiedene jüdische Gemeinden nahmen in den 1930er Jahren offiziell die türkische Sprache an, so 1933 Kırklareli in Thrakien, Bursa, Ankara und Istanbul. Unter Druck gerieten durch die Kampagne aber auch arabisch-sprachige Türken (Christen und Muslime) und kretische Muslime (die griechisch sprachen) in Mersin. Ausschreitungen gegen Juden in Ost-Thrakien führten zu einer Abwanderung des größten Teils der thrakischen Juden nach Istanbul. 7.000 bis 8.000 der insgesamt 13.000 thrakischen Juden verließen bis Mitte 1934 ihre Heimat. Viele Händler gaben ihre Häuser und ihr sonstiges Eigentum ohne Gegenleistung oder Entschädigung auf, andere verkauften zu niedrigen Preisen. Ein Großteil des Vermögens gelangte so in die Hände der türkisch-muslimischen Bevölkerung. Die Regierung hatte geheime mündliche Anweisungen erteilt, entsprechende Einschüchterungsmaßnahmen durchführen zu lassen, um die Minderheit, deren Loyalität sie im Konfliktfall mit Bulgarien anzweifelte, aus Thrakien zu vertreiben. Ähnliche Methoden gegen Juden wurden 1934 auch in Izmir angewendet. Cagaptay 2006:24–27, 58–60, 140–148; Güven 2012:101–106. 66 Alexandris 1992:106–112, 185; Cagaptay 2006:70; Güven 2012:91 67 Cagaptay 2006:69; Güven 2012:92.

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26. Februar 1925 wurde es den Istanbuler Nicht-Muslimen verboten, die Stadtgrenzen Richtung Anatolien zu überschreiten. Reisen nach Anatolien waren nur noch mit einer Sondergenehmigung möglich, deren Erteilung von den Behörden aber meist verschleppt wurde. Geschäftsinteressen zahlreicher Griechen, Armenier und Juden aus Istanbul wurden somit erheblich geschädigt. Die Bestimmungen wurden ab 1929 nach und nach aufgehoben und ab 1932 hatten auch Nicht-Muslime annähernd vollständige Bewegungsfreiheit, jedoch nicht Niederlassungsfreiheit, in der gesamten Türkei.68 Die Rückkehr von Nicht-Muslimen, die während der Kriege ins Ausland geflohen waren, wurde quasi unmöglich gemacht. Gesetz 1041 vom 23. Mai 1927 regelte, dass „diejenigen osmanischen Untertanen, die sich während des Unabhängigkeitskriegs außerhalb der Türkei aufhielten“ und seither nicht zurückgekehrt waren, die türkische Staatsbürgerschaft verloren. Gesetz 1323 vom 23. Mai 1928 zur Staatsbürgerschaft erlaubte es der Regierung, denjenigen die türkische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die ohne Erlaubnis der Regierung die Nationalität eines anderen Landes annahmen oder einer fremden Armee beziehungsweise „einem fremden Staat in irgendeiner Form dienten“. 1933 wurde schließlich eine Regelung erlassen, nach der nur „Personen, die mit Pässen der Regierung der Großen Türkischen Nationalversammlung oder der Türkischen Republik in ein fremdes Land gereist sind, in die Türkei zurückkehren können“. Damit wurden alle, die zwischen 1918 und 1923 mit Pässen der alliierten Mächte oder auf anderen Wegen die Türkei verlassen hatten, an der Rückkehr gehindert.69 Auf kultureller Ebene traf die Säkularisierung des Unterrichtswesens die Minderheiten hart. Laut Erlass des Erziehungsministeriums vom 20. Mai 1923 musste der Unterricht in den Fächern Geschichte, Geographie und Türkisch in den Minderheiten­ schulen von Lehrern türkischer Herkunft erteilt werden. Das Ministerium ent­sandte dafür Lehrer und legte für sie ein Gehalt fest. Dieses lag deutlich über den Gehältern der sonstigen Lehrer und musste von den Schulen selbst bezahlt werden. Dies belastete die Schulbudgets erheblich. Bis 1926 mussten fünf griechische Grundschulen und mehrere höhere Schulen in Istanbul schließen. Katholische Schulen wurden dadurch schikaniert, dass vom Ministerium männliche Lehrer an Nonnenschulen und Lehrerinnen an von Brüdern betriebene Schulen entsandt wurden. Eine Verordnung aus dem Jahr 1927 legte fest, dass griechische Lehrer Sprachkenntnisse des Türkischen auf muttersprachlichem Niveau nachweisen mussten. In der Folge wurden zahlreiche Lehrer, die die entsprechenden Tests nicht bestanden, entlassen. Hatte die Zahl der Schüler an griechischen Schulen in Istanbul 1920/21 noch 24.296 betragen, war sie bis 1928 auf 5.923 gefallen. 1933/34 hatte die griechische Gemeinschaft sechs Lycées und 38 Schulen mit insgesamt 7.667 Schülern, 252 griechischen und 182 türkischen Lehrern.70

68 Cagaptay 2006:124; Güven 2012:91. 69 Cagaptay 2006:69–75. 70 Alexandris 1992:131–135, 190–192; Cagaptay 2006:28; Güven 2012:95.

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1929 wurde die griechische Zeitung Chrōnika wegen „Beleidigung des Türkentums“ geschlossen. Ermutig durch diese Maßnahme stürmten Studenten die Druckerei und plünderten sie. Die zuständige Redakteurin wurde nach drei Monaten wieder auf freien Fuß gesetzt.71 1932 reklamierte die Stadt Istanbul den armenischen Friedhof Pangaltı in unmittelbarer Nähe des Taksim-Platzes für sich, weil das Patriarchat keinen Grundbuchtitel vorweisen konnte. Das Patriarchat argumentierte vor Gericht, dass Grundstücke, für die mindestens 15 Jahre unangefochtener Besitz nachgewiesen werden könne, als Eigentum des aktuellen Besitzers zu betrachten seien. Das Gericht folgte jedoch der Argumentation nicht und sprach die Eigentumsrechte der Stadt Istanbul zu. Der Friedhof wurde aufgehoben und eingeebnet, das Land teils als Park genutzt, teils als Bauland für öffentliche und kommerzielle Gebäude verwendet.72 Am 3. Dezember 1934 wurde ein Gesetz in die Nationalversammlung eingebracht, das verbot, außerhalb des Gottesdienstes religiöse Kleidung zu tragen. Zwar war es in erster Linie auf islamische Geistliche und deren Einfluss in der Öffentlichkeit gemünzt, betraf aber auch kirchliche Würdenträger und Mönche. Ein Schreiben des griechisch-orthodoxen Patriarchen Photios II. an Premierminister Ismet Inönü mit der Bitte, diese Bestimmung für die orthodoxe Kirche aufzuheben, blieb unbeantwortet. Der Patriarch sagte daher mit Inkrafttreten der Bestimmungen des Gesetzes im Juni 1935 alle Audienzen mit Ausnahme der Empfänge unmittelbar nach den Gottesdiensten ab. Er erwog sogar, das Patriarchat nach Griechenland auf den Berg Athos zu verlegen. Allerdings folgte ihm ein Großteil der griechischen Gemeinde in seiner unbeugsamen Haltung nicht. Die türkische Regierung lenkte schließlich ein und nahm die griechischen und armenischen Patriarchen sowie sechs weitere Kirchenführer (darunter auch Papa Eftim) von dem Verbot aus.73 Am 5. Juni 1935 wurden per Gesetz die Bestimmungen für religiöse Stiftungen neu geregelt. Während alle islamischen Stiftungen direkt von der staatlichen Stiftungsbehörde (Evkaf Genel Müdürlüğü) verwaltet wurden, konnten Gemeindestiftungen der nicht-muslimischen Minderheiten von einem Stiftungskomitee (mütevelli heyetleri), das jedoch gegenüber der Stiftungsbehörde rechenschaftspflichtig war, verwaltet werden. Allerdings konnten Immobilien nicht ohne Zustimmung der Behörde veräußert werden. Die Einnahmen aus derartigen Verkäufen waren bei der Vakıflar Bank zu hinterlegen und wurden eingefroren. Nur die Zinsen aus dem Kapitel durften die Stiftungen verwenden. 1936/37 wurde bestimmt, dass ein einziger Bevollmächtigter die Stiftungen vertreten sollte, und die Stiftungsbehörde ermächtigt, diesen zu ernennen. Damit wären die Stiftungen vollständig der Kontrolle der Gemeinden entglitten. Nach einer Intervention der griechischen Regierung verzichteten die türkischen Behörden

71 Cagaptay 2006:31; Güven 2012:96. 72 Cagaptay 2006:135. 73 Alexandris 1992:198–201.

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aber auf derartige Interventionen und 1949 wurde die Regelung wieder abgeschafft. Die Stiftungsräte wurden somit wieder von den Gemeinden gewählt.74 Politische Betätigung war Nicht-Muslimen in der kemalistischen Zeit quasi versagt. Allein herrschende Partei war die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei). Deren Statuten von 1923 besagten: „Jeder Türke und diejenigen, die aus dem Ausland kommen und türkische Staatsbürgerschaft und Kultur angenommen haben,“ können Parteimitglieder werden. Ab 1931 lautete die Bedingung für eine Parteimitgliedschaft: „diejenigen türkischen Staatsbürger, die nicht in Opposition zur nationalen Befreiungsbewegung standen, die Türkisch sprechen und die türkische Kultur sowie die Prinzipien der Partei angenommen haben.“ Das schloss Griechen, Armenier und Syrer weitgehend aus. Auch die kurzen Intermezzi der Republikanischen Fortschrittspartei (Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası, 1924–1925) und der Freien Republikanischen Partei (Serbest Cumhuriyet Fırkası, 1930) taten der Einparteienherrschaft der CHP keinen Abbruch, da sie jeweils nach wenigen Monaten wieder verboten wurden. Beide „Oppositionsparteien“ (von Opposition kann nur eingeschränkt die Rede sein, weil sie von Präsident Mustafa Kemal selbst ins Leben gerufen worden war) hatten allerdings massive Unterstützung aus den Reihen der Nicht-Muslime erhalten.75 Seit Mitte 1935 hatten die Griechen zwei, Armenier und Juden je einen Abgeordneten im Parlament. Diese wurden jedoch de facto von der regierenden CHP bestimmt und waren meist nicht repräsentativ für die Gemeinden. So war einer der beiden griechischen Plätze lange von einem Anhänger Papa Eftims besetzt. Der zweite griechische Abgeordnete vertrat Ankara, wo im Gegensatz zu Istanbul überhaupt keine Griechen lebten. Für die Armenier saß ein Abgeordneter im Parlament, der dafür bekannt war, Mustafa Kemal 1919 vor einem Attentatsversuch der Briten gewarnt zu haben.76 1935 wurde in Istanbul eine Association of Lay Christian Turks gegründet. Die Gründungsversammlung fand in einem der „Volkshäuser“ (Halkevleri) der kemalistischen CHP statt. Erklärtes Ziel des Vereins war es, das Ausbrechen aus den Minderheitengemeinden und die Integration in die türkische Gesellschaft zu fördern. Dazu sollten die armenische und die griechische Sprache aufgegeben, Minderheitenschulen geschlossen und die Bezeichnung „Minderheit“ (ekalliyet) ganz vermieden werden. Der Präsident des Vereins sowie die Mehrheit der Mitglieder waren Armenier, der Sekretär Grieche und Anhänger Papa Eftims. Es bleibt unklar, in welcher Weise der Verein auf Initiative der CHP entstand. Fakt ist, dass er keine große Unterstützung in der griechischen und armenischen Gemeinde fand und nach einigen Jahren wieder verschwand.77

74 Alexandris 1992:201–203. Oehring 2002:23; Oehring 2004:59. Allerdings wurden 1936 acht Kirchen und ein Krankenhaus der armenisch-katholischen Kirche enteignet mit der Begründung, sie würden nicht gemäß den gesetzlichen Bestimmungen verwaltet. 75 Cagaptay 2006:15, 41–42, 45. 76 Alexandris 1992:250–251; Cagaptay 2006:127, 136–137. 77 Alexandris 1992:184.

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Während des Zweiten Weltkriegs wurden Nicht-Muslime zum Militärdienst einberufen (ab 1941). Tatsächlich handelte es sich jedoch um die Internierung nicht-muslimischer Männer, die die Regierung im Kriegsfall für nicht unbedingt loyal hielt. Am 27. Juli 1942 wurde das Internierungslager plötzlich aufgelöst. Die Internierten konnten heimkehren. Neben militärischen Zwecken verfolgte die Regierung mit der Maßnahme wohl auch die weitere Türkifizierung der Wirtschaft, weil türkische Bewerber die Arbeitsstellen der internierten Nicht-Muslime einnehmen konnten.78 Am 11. November 1942 wurde ein Gesetz zur Erhebung einer Vermögenssteuer (varlık Steuer) erlassen. Sie sollte in erster Linie Kriegsgewinnler treffen und das immense Haushaltsloch ausgleichen, das der drohende Krieg mit sich gebracht hatte (die Türkei versuchte so lange wie möglich, neutral zu bleiben und nicht in den Krieg einzutreten, fürchtete aber sowohl einen sowjetischen als auch einen deutschen Angriff auf ihr Territorium). In der Presse wurden Juden und andere Nicht-Muslime als solche „Kriegsgewinnler“ (harp zenginleri) ausgemacht. Lokale Kommissionen sollten die Höhe der Steuer festlegen. Wie Vertreter der Minderheiten bereits befürchtet hatten, wurden nicht-muslimische Firmen, Angestellte und Freiberufler tatsächlich mit einem Vielfachen des Satzes, der für muslimische Türken galt, belastet. Wer nicht bezahlen konnte, sah sein Eigentum bei Zwangsversteigerungen verschachert. Die verbleibende Schuld musste in Arbeitslagern abgetragen werden. Ab Januar 1943 wurden 1.400 Personen in Internierungslager in Ostanatolien geschickt. Auch Wohlfahrtseinrichtungen und Stiftungen wurden besteuert. Die Ungerechtigkeit der Steuer gegenüber den nicht-muslimischen Minderheiten ist durch zahlreiche Statistiken nachgewiesen. Als die Steuer im März 1944 abgeschafft und ausstehende Steuerschulden gestrichen wurden, hatten Nicht-Muslime 280 Millionen der 315 Millionen Türkischen Lira, die die Steuer erbracht hatte, bezahlt.79 Am Ende des Zweiten Weltkriegs bot die Sowjetunion den Armeniern der Türkei die Aufnahme auf ihrem Territorium an. Die Konsulate begannen, ausreisewillige Armenier zu registrieren. Trotz Loyalitätsbekundungen der armenischen Presse Istanbuls zur Türkei (nur eine Zeitung berichtete kritisch zu den Verhältnissen in der Türkei und der verantwortliche Redakteur wurde anschließend verhaftet), registrierten sich rund 10.000 Armenier. Allerdings kam es letztlich doch nicht zur Ausreise, weil die Sowjetunion für die Türkei – anders als für Griechenland und die Levante – keine Logistik für die Auswanderungswilligen zur Verfügung stellte.80

* Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war es der kemalistischen Republik gelungen, die christlichen Minderheiten des Landes weitgehend an den Rand zu drängen 78 Güven 2002:108–110. 79 Alexandris 1992:211–233; Valognes 1994:811; Güven 2012:110–118. 80 Güven 2012:124–125.

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und zahlenmäßig unbedeutend zu machen. Aus Anatolien und Kilikien waren die wenigen Armenier, die nach dem Ersten Weltkrieg dort noch verblieben oder dorthin zurückgekehrt waren, durch Konfiszierungen, Einschüchterungen und Schikanen vertrieben worden. In Istanbul wurden Nicht-Muslime durch diskriminierende wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen gezielt zur Auswanderung bewegt. Die kulturellen Eigenheiten von Griechen und Armeniern und die Selbstverwaltung der Kirchen wurden trotz der Garantien des Vertrags von Lausanne systematisch missachtet und den Christen damit klargemacht, dass sie in der Türkei nicht erwünscht waren. Das Land hatte – ganz im Sinne der Nationalbewegung und des Staatsgründers Atatürk – einen rein türkischen Charakter angenommen. Die in osmanischer Zeit starken und gut sichtbaren religiösen Minderheiten hatten darin keinen Platz mehr. Das Osmanische Reich war verschwunden und mit ihm die religiöse und ethnische Vielfalt, die es ausgezeichnet hatte.

Die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg Entspannung und Konflikt: Die Griechen der Türkei im Spannungsfeld der internationalen Beziehungen Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg brachten eine Periode freundschaftlicher Beziehungen zwischen Athen und Ankara. Beide Länder suchten gemeinsam den NATO-Beitritt. Dies brachte auch eine Zeit der Entspannung für die Griechen in der Türkei mit sich. So durften ab 1946 auch Nicht-Muslime mit Universitätsabschluss als Reserveoffiziere Militärdienst leisten, 1949 wurden sie für strategisch sensible Bereiche wie Flugabwehr und Radarkontrolle zugelassen. Ebenfalls 1949 wurde die seit 1937 geltende Regelung, dass Minderheitenschulen von einem Beamten des Innenministeriums beaufsichtigt werden mussten, aufgehoben.81 Gleichzeitig erlaubte Ankara eine Stärkung des Ökumenischen Patriarchats, um den von der sowjetischen Führung unterstützten Anspruch der russisch-orthodoxen Kirche auf Führerschaft innerhalb der orthodoxen Kirchen abzuwehren. So förderte Ankara die Wahl von Athenagoras I. Spyrou, Erzbischof von Nordamerika, der eine Führungsrolle spielen sollte. Er wurde am 1. November 1948 von der Heiligen Synode gewählt, nicht ohne Druck der Regierungen in Athen und Ankara. Den Bischöfen des Fanar galt er als zu liberal. Unter dem Namen Athenagoras trat er sein Amt an. Bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Istanbul beantwortete er die auf Griechisch gehaltene Begrüßungsansprache auf Türkisch, legte am Atatürk-Denkmal Blumen nieder und ließ auf dem Fanar am Sonntag die türkische Flagge hissen. Aufgrund seiner guten Beziehungen zu den türkischen Behörden und der positiven Presse, die er wegen seiner türkeifreundlichen Haltung erhielt, gelang es ihm, von der Regierung einige Zugeständnisse zu erreichen: So 81 Güven 2012:118–119.

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wurde 1949 die Eigentümerschaft der griechischen Gemeindestiftungen nach vielen Jahren des Streits geregelt und die Balıklı-Stiftung mit dem Krankenhaus, die seit den 1930er Jahren von einem Anhänger Papa Eftim kontrolliert worden war, dem Patriarchat zurückgegeben. Die auf die Einnahmen der Gemeindeeinrichtungen erhobene Zusatzsteuer (mukataa) wurde abgeschafft und die Restriktionen, die den Schulen auferlegt waren, zurückgenommen. Die theologische Schule des Patriarchats auf der Insel Chalki (türkisch: Heybeliada) durfte wieder ausländische Studenten aufnehmen und ausländische Lehrer anstellen. Damit schien der Fortbestand der Einrichtung, die zuvor an Lehrer- und Schülermangel gelitten hatte, weil nur türkische Staatsbürger zugelassen waren, zunächst gesichert.82 Dann jedoch begann die Zypernfrage die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland zu belasten. Dies wirkte sich in den zwei Jahrzehnten bis zur Besetzung Nordzyperns durch türkische Truppen im Jahr 1974 verheerend auf die griechische Gemeinschaft in der Türkei aus. 1947 hatte Griechenland die Souveränität über die bis dahin von Italien kontrollierten Inseln der Dodekanes erlangt. Damit waren weitere 25.000 Türken unter griechische Herrschaft gekommen. Für die türkisch-griechischen Beziehungen war dies eine Belastung. Auf Zypern votierten unterdessen bei einer Volksabstimmung am 15. Januar 1950 96 Prozent der Zyperngriechen für die Enōsis, die Vereinigung mit Griechenland. Am 28. Oktober 1950 übernahm Erzbischof Makarios die politische Führung des Landes und führte Zypern offen auf dieses Ziel zu. Damit war die Grundlage für den offenen Konflikt mit der türkischen Bevölkerung der Insel gelegt. Er brach 1954 aus. Auf der Insel lebten in den 1950er Jahren etwa 500.000 Griechen und 120.000 Türken. Mit dem Beginn des bewaffneten Kampfes der (griechischen) Nationalen Organisation Zypriotischer Kämpfer (Ethnikī Organōsis Kypriōn Agōnistōn, EOKA) gegen die britische Herrschaft, setzten 1955 auch blutige Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen ein. Mit der Gründung türkisch-zypriotischer Gegenbewegungen wie der Türkischen Widerstandsorganisation (Türk Mükavemet Teşkilâtı) wurde der Konflikt in die Dörfer getragen und es kam zu Vertreibungen. Unterdessen gerieten die Griechen in Istanbul und das Patriarchat von Konstantinopel unter öffentlichen Druck, sich zu den Ereignissen auf Zypern zu erklären. Patriarch Athenagoras wurde von der türkischen Presse aufgefordert, den zypriotischen Erzbischof Makarios zu „disziplinieren“. Auch Papa Eftim wetterte gegen die angebliche Untätigkeit Athenagorasʼ. Athenagoras erklärte, dass sich das Patriarchat gemäß den Vereinbarungen von Lausanne nicht in die Politik einmischen dürfte, und behielt eine neutrale Position bei. Griechische Abgeordnete im Parlament von Ankara gaben Erklärungen zugunsten der Zypern-Türken ab. Den ganzen Sommer 1955 über agitierte die türkische nationalistische Presse heftig gegen die im Land lebenden Griechen. Nachdem am Geburtshaus Mustafa Kemals in Thessaloniki eine Bombe explodiert war (die vom türkischen Geheimdienst gelegt war, um eine Reaktion der 82 Alexandris 1992:244–249.

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türkischen Bevölkerung zu provozieren), kam es am 6. und 7. September 1955 in Istanbul und Izmir zu schweren Ausschreitungen gegen Griechen. In Istanbul wurden 29 griechische Kirchen völlig zerstört und 42 beschädigt, daneben 26 Schulen und fünf Sporteinrichtungen sowie die beiden großen griechischen Friedhöfe. Dazu wurden Tausende griechischer Geschäfte, Restaurants, Hotels und Wohnhäuser geplündert. Neben griechischen wurden auch armenische und jüdische Geschäfte angegriffen (nach Schätzungen rund 2.200 griechische, 900 armenische, 400 jüdische und 400 muslimische Geschäfte in Istanbul). Die Polizei blieb weitgehend untätig. Zwar verurteilte die türkische Regierung die Ausschreitungen und kündigte eine Entschädigung an. Die tatsächlich gezahlten Entschädigungen deckten jedoch nur einen Bruchteil des Schadens ab (so erhielt das Patriarchat für einen erklärten Schaden von zwölf Millionen Türkischen Lira nur vier Millionen Lira von der Behörde für religiöse Stiftungen; Privatpersonen erhielten nur unbedeutende Entschädigungen). Rädelsführer wurden vor Militärgerichten abgeurteilt, jedoch wurde jegliche öffentliche Kritik an der Regierung in der Frage der Unruhen vehement verfolgt. Der Journalist Andreas Lambikis, der die Ereignisse als die „Bartholomäusnacht“ der Christen in der Türkei bezeichnet hatte, wurde verhaftet. Die Zeitung Eleutherī Fōnī durfte für mehrere Wochen nicht erscheinen. Für die Griechen waren diese sogenannten September-Ereignisse (Septemvriana) ein Trauma. Viele verließen in der Folge der Unruhen die Türkei, entweder mit dem Ziel Griechenland oder Richtung USA, Kanada und Australien. 1957 wurde sogar eine Reihe griechischer Geschäftsleute anti-türkischer Aktivitäten und der Spio­ nage an­geklagt und ausgewiesen; 1958 die Hellenic Union of Constantinopolitans (Ellīnikī Enōsis Kōnstantinoupolitōn) verboten, nachdem ein Gericht festgestellt hatte, sie schade türkischen nationalen Interessen.83 Für die Zypernfrage wurde 1959 scheinbar eine Lösung gefunden. Man einigte sich vertraglich auf ein bikommunales System, das beiden Volksgruppen politische Beteiligung und unveräußerliche Rechte zuerkannte. 1960 wurde die Republik Zypern von England in die Unabhängigkeit entlassen. Großbritannien, Griechenland und die Türkei wurden Garantiemächte. Durch die Entschärfung des Zypernproblems verbesserte sich auch die Situation der Griechen in der Türkei. Ende 1960 wurde Kaloudis Laskaridis in den neu eingerichteten Senat berufen. Das Ökumenische Patriarchat konnte seit Ende der 1950er Jahre eine Reihe internationaler Aktivitäten entfalten, so etwa eine Reise Athenagorasʼ zu den Patriarchen in Alexandrien, Jerusalem und Antiochien, die Einladung zu einer pan-orthodoxen Konferenz auf Rhodos 1961, Folgetreffen auf der Insel in den Jahren 1963 und 1964, Besuche des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury im Fanar 1960 und 1962 sowie das historische Treffen von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras in Jerusalem Anfang 1964; außerdem der Besuch Pauls VI. im Fanar am 25./26. Juli 1967 und Athenagorasʼ Gegenbesuch in Rom im Oktober desselben Jahres.84 83 Alexandris 1992:252–262, 270–273; Valognes 1994:811; Steinbach 1996:232; Güven 2012:26–55, 130–135. 84 Alexandris 1992:276–279.

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Der erste Staatspräsident Zyperns, Erzbischof Makarios, kündigte jedoch bereits 1963 eine Verfassungsänderung an, die das bikommunale System beendet und die türkische Bevölkerung in den Status einer Minderheit versetzt hätte. Das war für die Türkei nicht akzeptabel. Am 8. und 9. September 1964 ließ die Türkei Kampfflugzeuge aufsteigen und bombardierte Ziele auf Zypern.85 Angesichts der Zypernkrise kündigte Ankara am 16. März 1964 das griechisch-türkische Abkommen von 1930. Es hatte allen griechischen Staatsbürgern, die vor 1918 in Konstantinopel gelebt hatten, Aufenthaltsrecht eingeräumt. Ihre Zahl betrug 1960 noch 10.488, fast alle in der Türkei geboren und aufgewachsen, viele mit türkischen Griechen familiär verbunden. Noch im März begann die Regierung mit der Abschiebung der Griechen. Bis September 1965 waren über 6.000 griechische Staatsbürger ausgewiesen worden; mit ihnen gingen zahlreiche Ehepartner und Familienangehörige mit türkischer Staatsbürgerschaft. Geschätzt 30.000 Personen verließen die Türkei. Ihr Besitz wurde faktisch eingezogen, weil die Regierung durch verschiedene Maßnahmen den Verkauf unmöglich machte. Die Abgeschobenen durften nur 200 Türkische Lira (22 US-Dollar) sowie einen Koffer mit Kleidung mitnehmen. Außerdem mussten sie eine Erklärung unterschreiben, in der sie sich verschiedener Vergehen gegen türkische Interessen schuldig bekannten und bekräftigten, freiwillig das Land zu verlassen.86 Auch das Ökumenische Patriarchat und seine Einrichtungen hatten schwer unter der türkischen Politik infolge der Zypernkrise zu leiden. Am 21. April 1964 wurden zwei Mitglieder der Heiligen Synode, wegen „politischer, administrativer, erzieherischer und sozialer Aktivitäten subversiver Natur“ ausgewiesen, nachdem ihnen die türkische Staatsbürgerschaft entzogen worden war.87 Ein Priester wurde wegen „schädlicher Aktivitäten gegen den türkischen Staat“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im April 1964 wurde die Druckerei des Patriarchats geschlossen mit dem Argument, dass das Patriarchat als Eigentümer keine Rechtspersönlichkeit besitze. Die beiden Zeitschriften Orthodoxia und Apostolos Andreas mussten eingestellt werden. 1965 wurden dem Patriarchat die Besitzrechte an der Georgskathedrale im Fanar entzogen; diese wurde als „ohne Eigentümer“ registriert. Ebenfalls 1965 wurden die griechischen Kirchen des heiligen Johannes und des heiligen Nikolaos in Galata sowie die zugehörigen Schulen der türkisch-orthodoxen Kirche Papa Eftims übertragen. Beim Tod Eftims 1968 wurde der Patriarch gezwungen, diesen auf dem griechischen Friedhof beerdigen zu lassen. Die Regierung erkannte unterdessen seinen Sohn Turgut Erenerol unter dem Namen Eftim II. als Oberhaupt der Kirche an. Ab dem akademischen Jahr 1963/64 durften keine ausländischen Studenten mehr an der Theologischen Schule auf der Insel Chalki studieren. 1971 wurde die Einrichtung ganz geschlossen, so dass die Priesterausbildung in der Türkei unmöglich wurde. Hintergrund war die anstehende Nationalisierung aller nicht-türkischen Hochschulen. Unter diesen Um85 Steinbach 1996:225, 231–233. 86 Alexandris 1992:280–286. 87 Erzbischof Aimilianos Zacharopoulos von Seleukia und Erzbischof Jakovos Tzanavaris von Philadelphia. Erzbischof Yakovos durfte erst 1985 wieder in die Türkei einreisen. Valognes 1994:822.

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ständen hatte das Patriarchat keine Garantie dafür, weiterhin die Kontrolle über das Seminar zu haben, das dann als staatliche Unterrichtseinrichtung betrieben worden wäre.88 Bereits 1961 hatte die türkische Regierung alle Minderheitenschulen der Abteilung für Privatschulen des Erziehungsministeriums unterstellt. Damit waren sie nicht mehr als Gemeindeschulen im Sinne des Vertrags von Lausanne anerkannt. Ab April 1963 waren griechische Schulen gezwungen, einen vom Erziehungsministerium entsandten Vizedirektor anzustellen. Die Vizedirektoren überwachten die Aktivitäten und sandten Bericht ans Ministerium. Zahlreiche griechische Lehrer und mehrere griechische Direktoren wurden aufgrund ihrer Berichte entlassen. 1964 wurde es Geistlichen verboten, die Gemeindeschulen zu betreten und die traditionellen Morgengebete abzuhalten. 1967 wurden sechs griechische Grundschulen geschlossen.89 Als die Zeitung Eleutherī Fōnī im Juli 1965 kritisch über die neuen Bestimmungen für die Schulen berichtete, wurde der Artikel zensiert. Die Zeitung ließ den Platz des zensierten Artikels blanko. Im September wurde der Autor des Artikels, Andreas Lambikis, verhaftet und nach Griechenland abgeschoben (obwohl er türkischer Staatsbürger war). Die Zeitung wurde dauerhaft geschlossen.90 Im Sommer 1967 wurde das Stiftungsgesetz von 1949 überarbeitet. Gemäß dem neuen Gesetz, war Gemeindebesitz, der „der Stärkung einer Rasse oder einer Minderheit“ dient, nicht mehr zulässig.91 Am 12. Januar 1971 urteilte der Oberste Gerichtshof, dass Minderheiten nicht das Recht hätten, neue Stiftungen zu gründen. Weiterhin wurde gemäß dem neuen Gesetz eine Zusatzsteuer in Höhe von fünf Prozent (mukataa) auf Stiftungseinkommen erhoben, für das bereits Regierungs- und Gemeindesteuern entrichtet worden war. Dies brachte nicht wenige Stiftungen in finanzielle Schwierigkeiten. Die Stiftungsräte wurden in ihrer Freiheit, über Ausgaben zu verfügen, so stark eingeschränkt, dass der Unterhalt der Gebäude und Einrichtungen, für die die Stiftungen da waren, vielerorts nicht mehr gewährleistet werden konnte. Die Aktivitäten wurden von der Generalverwaltung der religiösen Stiftungen überwacht. Die Behörden mussten jeglicher Berufung auf Posten in den Gemeinderäten zustimmen. Angesichts des Verfalls vieler Gebäude, der sich unter diesen Umständen einstellte, wurden viele behördlich geschlossen. Genehmigungen für Reparaturen wurden sehr 88 Alexandris 1992:298–304. 89 Alexandris 1992:286–287. Die Schulen der katholischen Orden wurden als ausländische Schulen, nicht als Gemeindeschulen im Sinne des Vertrags von Lausanne, betrachtet. Ausländische Grundschulen, so die Schule der Salesianer in Istanbul oder der Schwestern von Ivrea in Izmir, durften keine türkischen Kinder, egal welcher Religionszugehörigkeit, aufnehmen. Erst ab der weiterführenden Schule durften auch türkische Staatsbürger diese Schulen besuchen, so das Collège Saint Benoît der französischen Lazaristen oder die Schule der Christlichen Schulbrüder und der Barmherzigen Schwestern in Istanbul. Missir 1970:42–43. 90 Alexandris 1992:288. 91 Dies fußte möglicherweise auf Artikel 65 der türkischen Verfassung von 1965. Darin wurde es den politischen Parteien verboten zu behaupten, es gebe auf dem Territorium der Türkischen Republik Minderheiten, die auf ethnischen, politischen oder sprachlichen Unterschieden beruhten. Yonan 1978:112.

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eingeschränkt erteilt, so wurde eine solche für die Renovierung des griechischen Patriarchats in Istanbul nach einem Brand im Jahr 1941 erst nach einer Intervention Griechenlands vor dem Europäischen Gerichtshof 1987 erteilt. 1979 konfiszierte und versteigerte die Regierung Teile des Besitzes des Fanar-eigenen Gymnasiums für Jungen, um die Steuer einzutreiben. Protestnoten des Patriarchen blieben unbeantwortet. 1978 wurde schließlich der Stiftung des Balıklı-Krankenhauses rückwirkend jegliches seit 1936 erworbene Eigentum aberkannt, womit der Stiftung auch eine große Zustiftung aus dem Jahr 1964 entzogen wurde. Außerdem wurden die Stiftungsräte der bedeutenden Pfarreien Beyoğlu (Pera), Galata und Kadıköy (Chalkedon) aufgelöst und die Pfarreien somit finanziell und administrativ handlungsunfähig gemacht. Die mehrheitlich griechischen Bewohner der Insel Imbros und Tenedos wurden vertrieben, indem die türkische Regierung dort Mitte der 1960er Jahre Strafgefangene vom Festland ansiedelte.92 Am 20. Juli 1974 landeten türkische Truppen auf Zypern und besetzten den Nordteil der Insel. 120.000 Griechen flohen aus dem nun türkisch beherrschten Norden und 40.000 Türken aus dem griechischen Süden. Im Februar 1975 wurde durch den Führer der türkischen Zyprioten, Rauf Denktaş, der „Türkische Föderative Staat“ proklamiert. Dies bedeutete faktisch die Teilung der Insel. Am 15. November 1983 rief das türkisch-zypriotische Parlament die Unabhängigkeit der Türkischen Republik Nordzypern aus, die allerdings nur von der Türkei anerkannt wurde.93 In der Türkei löste dies erneut eine große Auswanderungswelle von Griechen aus. 1978 lebten weniger als 8.000 Griechen in Istanbul, von denen die meisten erklärten, ebenfalls bald auswandern zu wollen (1965 hatten noch 48.096 hellenophone Griechen in der Türkei gelebt).94 Die Auswanderung beendete auch die Bemühungen eines Teils der türkischen Griechen um eine bessere Integration in die Gesellschaft. Diese Entwicklung hatte in den 1930er Jahren begonnen. Immer mehr Griechen begannen, Türkisch zu sprechen und sich als türkische Staatsbürger zu fühlen. Patriarch Athenagoras hatte diese Inte­ gration seit seiner Wahl noch einmal deutlich gefördert. Während der Zypernkrisen wurde die Loyalität der türkischen Griechen jedoch schwer geprüft. Die türkische Regierung hat nie aufgehört, die griechische Minderheit trotz ihrer fortschreitenden Integration als Faustpfand in ihren Auseinandersetzungen mit Athen zu betrachten. Dies führte letztlich zum Ende der griechischen Gemeinde in der Türkei, die seither nur noch aus 2.000 bis 3.000 Personen besteht.95

92 93 94 95

Alexandris 1992:290–296; Valognes 1994:815–817. Steinbach 1996:242, 249–251. Alexandris 1992:290–296. Alexandris 1992:296–297.

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Die Türkei und die Armenier Nicht nur die Situation der Griechen, sondern auch die der armenischen Gemeinde blieb sehr prekär. 1961 wurde die Neuwahl des zentralen Rats der Armenier von den Behörden untersagt; damit war die Selbstverwaltung der Gemeinde stark eingeschränkt. Die Einschränkungen, denen die griechischen Schulen unterworfen waren, galten in ähnlicher Form auch für die armenischen Schulen. Vor allem der Nachweis der armenischen Identität, der allein zum Besuch der Gemeindeschulen berechtigte, bereitete Schwierigkeiten. Außerdem wurde 1977 vom Erziehungsministerium verfügt, dass Schulen nur an den staatlichen Feiertagen geschlossen bleiben durften. Damit wurden die kirchlichen Schulen gezwungen, entgegen ihrem Selbstverständnis auch an hohen christlichen Feiertagen Unterricht zu erteilen. 1970 wurde die armenisch-orthodoxe Klerikerschule geschlossen. Auf Grundlage des Stiftungsgesetzes wurde 1979 ein Großteil der seit 1936 erworbenen Güter der armenischen Kirche enteignet. Damit fiel die Finanzierungsgrundlage für zahlreiche kirchliche Einrichtungen wie Schulen und soziale Aktivitäten weg. Am 29. März 1978 überreichte der armenische Patriarch von Konstantinopel, Shnork Kalustian (1961–1990), Ministerpräsident Bülent Ecevit ein Memorandum, in dem er in 22 Punkten die hauptsächlichen Schwierigkeiten der Armenier auflistete. Als Reaktion forderte Ecevit den Patriarchen auf, die Armenier außerhalb der Türkei dazu zu bringen, ihre türkeikritischen Aktivitäten – gemeint ist vor allem der Kampf zur Anerkennung der Massaker von 1915 als Völkermord – einzustellen. Der Patriarch gab daraufhin eine Erklärung heraus, in der er die armenische Diaspora-Presse aufforderte, die „vergangenen Ereignisse“ ruhen zu lassen und sich jeglicher politischen Aktivitäten zu enthalten. Insgesamt musste sich der armenische Patriarch von Konstantinopel äußerst vorsichtig verhalten und erging sich trotz aller Schwierigkeiten regelmäßig in Loyalitätsbekundungen zur Politik der Regierung. So unterschrieb Patriarch Shnork Kalustian zahlreiche Deklarationen, die ihm die Regierung eingab, bezeichnete die Türkei wiederholt als Beispiel des interreligiösen Zusammenlebens, pries die armenisch-türkische Freundschaft und lobte die herrschende Religionsfreiheit. 1982 pries er das Werk der Putschisten um General Evren und sprach ihm den Dank der armenischen Gemeinschaft dafür aus, dass er das Land „vor der Katastrophe gerettet“ habe.96 Die Armenier besaßen Anfang der 1990er Jahre zwar noch fünf Gymnasien und rund 30 Schulen, diese waren in ihrem Betrieb jedoch stark eingeschränkt. Auf Grund der staatlichen Regelungen der 1960er Jahre wurden armenische Lehrer häufig versetzt und nicht durch andere Armenier ersetzt; der türkische Vizedirektor, den jede Schule haben musste, blieb jedoch permanent im Amt. Die Finanzierung war wegen der strengen Regeln und des Verbots, Gelder aus dem Ausland zu erhalten, schwierig. Renovierungen und Erweiterungen wurden nicht erlaubt. Die armenische Sprache 96 Libaridian 1979:43–46; Göckenjahn 1981:117–118; Valognes 1994:491; Teule 2010:44.

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durfte nur vier Stunden pro Woche unterrichtet werden. 1993 verfügte ein Gesetz, dass auch der christliche Religionsunterricht in türkischer Sprache zu erfolgen habe; Geistlichen war der Zutritt zu den Schulen untersagt.97 Die Aktivitäten der armenischen Terroristen der ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) gegen türkische Einrichtungen im Ausland in den 1970er und 80er Jahren führten immer wieder zu Repressalien gegen Armenier in der Türkei und fachten durch breite Presseberichterstattung das Misstrauen in der einfachen Bevölkerung an. Im Januar 1978 explodierten vor mehreren armenischen Einrichtungen, darunter vor der Kathedrale in Istanbul, Bomben. Eine türkische Geheimorganisation übernahm dafür die Verantwortung und erklärte, es handele sich um Vergeltung für Anschläge der ASALA. Am 6. April 1980 verkündeten ASALA und die kurdische PKK im libanesischen Saida ihre Zusammenarbeit im Kampf gegen die türkische Regierung. Dies machte die Situation der Christen in der Südosttürkei noch prekärer, weil sie nun von der türkischen Regierung noch stärker der Kooperation mit den kurdischen Aufständischen verdächtigt wurden. Die Auseinandersetzungen zwischen der Republik Armenien und dem turksprachigen Aserbaidschan ab 1991 führten ebenfalls zur Stärkung der anti-armenischen Ressentiments in der Türkei.98 Die türkische und kurdische Landbevölkerung in Anatolien, wo allerdings nur noch ein sehr kleiner Teil der armenischen Gemeinschaft lebte, zeigte ohnehin schon offene Feindschaft gegenüber den Armeniern und versuchte, in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden, jegliche Spuren der früheren armenischen Besiedlung der Gebiete auszulöschen.99

Syrische und assyrische Christen im Tur Abdin und Hakkari Die syrisch-orthodoxen Gläubigen, die im osmanischen Reich weder als eigene millet anerkannt waren noch eine Vertretung in der Großen Nationalversammlung hatten, sind im Vertrag von Lausanne nicht erwähnt. Obwohl die Kirche in der Türkei nicht verboten ist, weigert sich der Staat, ihr die gleichen Rechte, wie den beiden anderen christlichen Gemeinschaften zuzuerkennen. Das hat Auswirkungen auf die Rechtspersönlichkeit der Kirche sowie Möglichkeiten des Besitzerwerbs und den Betrieb von Schulen. Der Betrieb syrischer Schulen und Unterricht in syrischer Sprache waren lange Zeit grundsätzlich verboten und entsprechende Einrichtungen im Tur Abdin wurden immer wieder unter diesem Vorwand geschlossen. Syrisch-orthodoxe Gläubige lebten bis in die 1960er Jahre fast nur in der Südosttürkei, im Gebiet rund um Midyat im Tur Abdin. Sie lebten in ausschließlich oder überwiegend christlichen Dörfern. Außerdem gab es Dörfer mit sogenannten Mohalmiye, ursprüngliche Christen, die zwangsislamisiert wurden, aber noch an ihren christlichen Familiennamen und ihrem arabischen Dialekt (Mardinli) erkennbar 97 Valognes 1994:818–819. 98 Libaridian 1979:45–46, 50–51; Valognes 1994:819–820; Galletti 2003:185. 99 Valognes 1994:819.

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waren. Die von Patriarch Mor Ignatius Ephrem Barsaum 1965 angegebene Zahl von 114 Dörfern und 25 Klöstern war wohl damals schon historisch zu verstehen; nicht alle genannten Dörfer werden tatsächlich noch bewohnt gewesen sein. Eine andere Quelle gibt die syrischen Dörfer im Jahr 1966 mit 86 an. Die Syrer sprechen im zentralen Tur Abdin einen eigenen Dialekt der syro-aramäischen Sprache, Turoyo, im westlichen Teil des Bergmassivs bei Mardin einen arabischen Dialekt (Mardinli), im Norden Kurdisch. Christen arbeiteten in den Dörfern meist als Bauern oder Winzer. Sie pflanzten Weintrauben, Obst, Feigen, Melonen, Gurken und Nüsse an und hielten Vieh (Schafe und Ziege, selten einzelne Kühe). In den größeren Orten und Städten arbeiteten Christen als Händler und Handwerker. Eine christliche Domäne bildeten Silber- und Goldschmiedearbeiten. Letztere boten wegen der Ausstattung der Braut mit Goldschmuck als Aussteuer eine gute Einnahmequelle. Ein typischer Beruf war auch der des Maurers; dieses Gewerbe befand sich lange fest in christlicher Hand; ebenso das Handwerk und der Handel im Verkehrsknotenpunkt Midyat. Allerdings waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten begrenzt. Aufgrund des Ausnahmezustands war das Gebiet schwer zugänglich und die Infrastruktur wenig entwickelt. Vom kurdischen Scheich-Said-Aufstand 1925 bis in die 60er Jahre war die Region fast durchgehend militärisches Sperrgebiet, in das man nur mit Sondergenehmigung einreisen durfte. Bis in die 1980er Jahre waren viele Dörfer nicht an das Netz asphaltierter Straßen und das Stromnetz angeschlossen. Wegen des Kurdenkonflikts wurde das Gebiet bei den Entwicklungsplänen der Regierung systematisch vernachlässigt. Obstplantagen und Weinberge wurden in den Kämpfen immer wieder zerstört, so dass in den 1970er und 80er Jahren die Lebensgrundlage vieler Bauern vernichtet wurde.100 Die Lebensbedingungen im kurdischen Südostanatolien waren und sind besonders hart. Konflikte werden oft mit Gewalt ausgetragen und es gilt de facto das Recht des Stärkeren. Die kurdischen Stammes- und Familienverbände gingen nicht selten rücksichtslos gegen die syrische, chaldäische und assyrische Bevölkerung vor, die durch die Massaker und die Vertreibungen des Ersten Weltkriegs in ihrer Sozialstruktur geschwächt war und damit kaum noch Verteidigungs- und Rückschlagskraft hatte. Übergriffe durch Kurden auf die geschwächten Syrer führten zu Emigration. Da meistens die jungen Männer gingen, wurde die zurückgebliebene Gruppe noch schwächer, was neue Übergriffe provozierte; ein Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen war. Bedrohungen, Viehdiebstähle, Entführungen, Vergewaltigungen und Mord waren an der Tagesordnung und wurden von den türkischen Behörden kaum oder gar nicht verfolgt. Entführungen von jungen Frauen durch Kurden waren keine Seltenheit. Christliche Familien hatten kaum die Möglichkeit, etwas gegen diese erzwungenen Heiraten, die in der Regel mit Zwangskonversion des Mädchens zum Islam einhergingen, vorzugehen. Kurdische Nomaden eigneten sich immer mehr Land der christlichen Bauern an und vertrieben Syrer durch Bedrohung und Gewalt aus ihren Häusern.

100 Anschütz 1967; Anschütz 1969:483–500; Merten 1997:68–73.

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Auf eine Aufnahme in den Staatsdienst haben Christen des Tur Abdin kaum eine Chance, schon gar nicht auf einen Aufstieg in der Beamtenhierarchie oder eine Anstellung bei Polizei- oder Sicherheitskräften. Während des Wehrdienstes sind sie Schikanen ausgesetzt, werden als „bedenklich“ eingestuft und mit diesem Argument besonders unbeliebten und abgelegenen Kasernen zugewiesen. Sie können keinen höheren Rang als den des Unteroffiziers erreichen. Da die türkische Regierung die Bestimmungen des Vertrags von Lausanne nicht auf die Syrer anwendet, darf die syrisch-orthodoxe Kirche keine eigenen Schulen unterhalten. Die Klosterschule im Deir al-Zaafaran (türkisch: Deyrülzafaran) wurde 1978 von der Regierung geschlossen. Dem Kloster wurden separatistische Aktivitäten vorgeworfen. Selbst ein Antrag auf Durchführung von Bibelkursen wurde im Dezember 1980 abgelehnt. Die syrisch-orthodoxe Kirche besitzt daher keine offizielle Ausbildungsstätte für Priester in der Türkei. 1975 begann der Befreiungskampf der Kurdischen Arbeiterpartei PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê). Sie kontrollierte immer mehr Dörfer und schüchterte Bewohner und staatliche Sicherheitsorgane ein. Die Sicherheitslage verbesserte sich zwar kurzzeitig nach dem Militärputsch von 1980, dies hielt aber nicht lange an. Spätestens seit dem massiven militärischen Vorgehen gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK, das 1984 begann, wurde die Sicherheitslage unerträglich. PKK-Kämpfer verübten systematisch terroristische Aktivitäten und weiteten ihre Guerillatätigkeiten aus. Sie schreckten dabei auch nicht davor zurück, Unbeteiligte, inklusive Frauen und Kinder, anzugreifen. Die Syrer bemühten sich zwar um strikte Neutralität mit Blick auf die rivalisierenden kurdischen Parteien und Stammesverbände sowie auf das türkische Militär. Dennoch waren sie sowohl aggressiven Werbeversuchen und Schutzgelderpressungen der PKK ausgesetzt als auch dem Verdacht des Militärs und der türkischen Behörden, die kurdische Nationalbewegung zu unterstützen. Unter dem Vorwand gegen kurdische Separatisten vorzugehen, ließ die Armee immer wieder ganze Dörfer – auch mehrheitlich christliche – räumen. Manche wurden nach der Räumung durch Bombardieren aus der Luft zerstört. Verheerend auf die Sicherheitslage wirkte sich auch der 1984 begonnene Aufbau von sogenannten „Dorfschutz-Milizen“ durch die türkischen Behörden aus. Zivilisten wurden teils gezwungenermaßen, teils freiwillig (nicht alle kurdischen Clans unterstützen die PKK) mit Waffen ausgerüstet und beauftragt, ihre Dörfer gegen Überfälle der PKK zu verteidigen. Die Zahl dieser Milizionäre wurde auf 30.000 bis 40.000 geschätzt. Allerdings gelang es dem Militär nicht, diese Milizen dauerhaft zu kontrollieren, so dass bewaffnete Überfälle und Auseinandersetzungen zwischen Clans erheblich zunahmen. Von 1994 bis 2004 hielten ehemalige „Dorfschützer“ das christliche Dorf Sare besetzt. 2007 wurde ein Mönch des Klosters Mor Gabriel von Dorfschützern entführt. Dennoch weigerte sich die Polizei, auf die Appelle des Abtes nach besseren Schutz zu reagieren.101

101 Valognes 1994:822–825; Anschütz 1995:161–163; Steinbach 1996:366–369; Merten 1997:52–66; Ceyhan/Oehring/Yıldırım 2012:151–152.

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Nach dem Einmarsch der US-geführten Alliierten im Irak zu Beginn des Jahres 1991 und der blutigen Unterdrückung der kurdischen Widerstandsbewegung durch Saddam Hussein flohen 460.000 Kurden (zusammen mit mehreren tausend Christen aus den Kurdengebieten) ins türkisch-irakische Grenzgebiet und verursachten damit eine neue Krise für die Region. Die 230.000 Flüchtlinge, die auf die türkische Seite ge­langt waren, wurden nach Einrichtung der Flugverbotszone und der amerikanisch-­ britischen Garantien für die Kurden des Irak bis Juli 1991 auf irakisches Gebiet zurückgeführt. Der Konflikt mit der PKK eskalierte allerdings weiter. 1996 waren rund 400.000 türkische Soldaten in der Kurdenregion zum Kampf gegen die kurdischen Separatisten im Einsatz. Gleichzeitig nahmen Rechtlosigkeit und Übergriffe auf Christen im Tur Abdin noch einmal deutlich zu. Im Oktober 1997 verbot der Gouverneur von Mardin zudem, in den Klosterschulen Unterricht in syrischer Sprache sowie Religionsunterricht zu erteilen. Das Verbot hing mit dem Verbot von Koranschulen zusammen, allerdings blieb die Tatsache unbeachtet, dass die syrischen Kinder alle staatliche Schulen besuchten und im Kloster nur zusätzlichen Unterricht erhielten. Das Verbot wurde 1998 bekräftigt. Erst ab dem neuen Jahrtausend war es wieder möglich, die Kinder in den Klöstern zu unterrichten.102 Heute besitzt das Kloster Mor Gabriel eine Genehmigung zum Betrieb eines Internats. Die Kinder besuchen die staatliche Schule in Midyat und erhalten am Nachmittag eine religiöse Ausbildung und Unterricht in syrischer Sprache im Kloster. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage fand seit den 1960er Jahren eine Abwanderung der Christen der Regionen Tur Abdin, Hakkari und Siirt statt: zunächst von den Dörfern in die Städte der Region, Midyat und Mardin; von dort nach Istanbul und von Istanbul meist weiter nach Europa (Frankreich, Deutschland, Schweden, Niederlande und Belgien). 1961 wurde zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland eine Vereinbarung zur Vermittlung türkischer Arbeitskräfte geschlossen. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen auf diesem Weg viele Syrer neben den vielen Kurden und Türken als Arbeiter nach Deutschland. Zu weiteren Zielen wurden Schweden und die Niederlande. Wird die Zahl der Syrer in der Südosttürkei 1960 mit knapp 23.600 angegeben, fiel die Zahl bis 1966 auf etwas unter 20.000. Gleichzeitig entstand erstmals eine Gemeinde syrisch-orthodoxer Christen in Istanbul. Dort fanden sich 1974 etwa 10.000, während sich die Zahl im Südosten in etwa halten konnte. Dann begann aber eine massive Abwanderung. Bereits 1982 wurde die Zahl der Syrer nur noch auf 15.000 geschätzt. Die meisten Dörfer wurden aufgegeben. Bis Mitte der 1990er Jahre sank sie auf unter 2.500, verteilt auf zwölf Dörfer. Einige Familien halten sich noch in Midyat und Mardin sowie in der unmittelbaren Nachbarschaft der Klöster Mor Gabriel und Deir al-Zaafaran auf.103 Die Gemeinde in Istanbul wuchs auf 17.000–18.000 Personen im Jahr 1978 an, schrumpfte dann aber auch wegen der Auswanderung auf 10.000 bis 11.000 im Jahr 2000. 102 Steinbach 1996:279; Oberkampf 2011:54–64. 103 Anschütz 1983:60–158. Weitere Zahlen bei Merten 1997:47–48.

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In den 1970er Jahren begannen auch Chaldäer aus den Dörfern der Osttürkei nach Frankreich auszuwandern und sich dort als Gastarbeiter niederzulassen. Die Auswanderungsbewegung setzte sich seither – meist über Istanbul – fort. In Folge des Militärputsches von 1980 und des Kriegs gegen die PKK wurden weitere Dörfer zerstört, weil Christen von den türkischen Behörden immer wieder der Unterstützung für die PKK bezichtigt wurden. Die Chaldäer leben heute überwiegend in Istanbul oder in Frankreich. Die Assyrer verließen die Gegend bis Mitte der 1990er Jahre bis auf einige wenige Familien. Im Hakkari wurden die letzten fünf assyrischen Dörfer zu Beginn der 1980er Jahre aufgegeben. Aus anderen Orten der Region sind die Assyrer auch bis auf wenige Hundert ins Ausland abgewandert (1985: 450 Assyrer und Chaldäer im Hakkari). Die Türkifizierung der Ortsnamen durch die Behörden, bzw. deren Kurdifizierung durch die nachrückende kurdische Bevölkerung löschten das Gedächtnis für die ehemaligen assyrischen und syrischen Siedlungsgebiete weitgehend aus. Außerdem wurden die Familiennamen türkifiziert.104 Nach einer einseitigen Waffenstillstandserklärung der PKK im Jahr 1999 kehrten einige christliche Familien in den Tur Abdin zurück. Im Juni 2001 lud Ministerpräsident Bülent Ecevit Christen offiziell ein, in ihre Heimatdörfer in der Türkei zurückzukommen (Zirkular 2001/33 vom 12. Juni 2001). Dies betreffe sowohl Christen, die innerhalb der Türkei umgezogen seien, als auch solche im Ausland. 2003 wurde ein neuer syrisch-orthodoxer Erzbischof von Mardin geweiht (der Sitz war seit 1969 vakant), 2006 wurde ein Bischof in Adıyaman ernannt. Bis 2008 wurden im Tur Abdin acht verlassene Dörfer wieder besiedelt und über 110 Häuser neu gebaut; damit gab es wieder 24 christliche Dörfer in der Region. Die Altersstruktur schien sich zu normalisieren, weil es wieder mehr junge Menschen gab.105 Allerdings wurde diese Entwicklung mit der Kündigung des Waffenstillstands durch die PKK 2004 und endgültig mit dem massiven Vorgehen der türkischen Armee gegen die Kurden ab Sommer 2011 gestoppt. Seit 2008 wurden von verschiedenen Ministerien und Behörden sowie von zwei umliegenden Dörfern mehrere Gerichtsverfahren gegen das Kloster Mor Gabriel angestrengt, in denen es um die Enteignung von Land in Klosterbesitz geht. Zwar sind die Verfahren aus rechtlicher Sicht wohl als nicht erfolgversprechend zu betrachten, dennoch bedrohen sie die Zukunft des Klosters und machen deutlich, dass den Behörden eigentlich daran gelegen ist, das Kloster verschwinden zu lassen.106

104 Chronik der Auswanderung der Assyrer bei Yacoub 1996:248–254; Valognes 1994:825; Teule 2008:149–151; Teule 2010:40–41. 105 Galletti 2003:185–186; Grulich 2008:175–176; Teule 2010:42–43; Oberkampf 2011:90–101. 106 Ceyhan/Oehring/Yıldırım 2012:149–156.

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Diskriminierung und Auswanderung: Christen in der Türkei im 21. Jahrhundert Ethnische Minderheiten und Ausländer: die christlichen Kirchen in der Türkei heute Die Zahl der Christen hat bis in jüngste Zeit stark abgenommen. Laut Bericht des State Department der US-Regierung über die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei für das Jahr 2016107 lebten dort 90.000 orthodoxe Armenier, 25.000 römische Katholiken, 25.000 Syrisch-Orthodoxe, 15.000 Russisch-Orthodoxe, 3.000 Chaldäer, 2.000 Griechisch-­ Ortho­doxe und 7.000 Protestanten verschiedener Kirchen und Gemeinschaften. Hinzu kommen etwa 10.000 arabisch-sprachige rum-orthodoxe Gläubige in der Provinz Hatay. 30.000 der Armenier sind illegale Arbeiter aus der Republik Armenien, die Mehrzahl der Katholiken und fast alle Russisch-Orthodoxen sind in der Türkei lebende Ausländer, die meisten Chaldäer kürzlich zugewanderte Flüchtlinge aus dem Irak. Die Zahl der Christen mit türkischem Pass dürfte bei 100.000 bis 120.000 liegen (als ca. 0,15 % der 80,3 Millionen Einwohner), nach Einschätzung mancher Beobachter aber auch noch deutlich niedriger.108 Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel hat noch über 20 Bischöfe mit Sitz im Fanar und einen Erzbischof für Konstantinopel, der für 37 Gemeinden (mit 42 Kirchen) zuständig ist. Auf der asiatischen Seite Istanbuls existiert noch das Erzbistum Chalkedon (türkisch Kadiköy); auf den Prinzeninseln gibt es ebenfalls eine Metropolie. Seit 2016 ist auch der seit den Ereignissen von 1922 vakante Bischofsstuhl von Smyrna/Izmir wieder besetzt. Allerdings beträgt die Zahl der griechisch-orthodoxen Gläubigen in der Türkei nur noch rund 2.000. Die Gemeinde hat damit erhebliche Schwierigkeiten, die große Zahl von Kirchen zu erhalten. Problematisch ist auch, dass weiterhin keine Ausbildung von Priestern in der Türkei stattfinden kann. Die theologische Schule des Patriarchats ist trotz verschiedener Ansätze für eine Lösung weiterhin geschlossen. Patriarch Bartholomaios forderte wiederholt die Wiedereröffnung der Schule und betonte dabei, es handele sich bei der Einrichtung keineswegs um eine Hochschule, sondern eine weiterführende Schule, die nicht einer Universität oder höheren Bildungseinrichtung gleichzustellen sei. Außerdem müsse die Anstellung ausländischer Lehrkräfte gewährleistet sein, weil sich angesichts der geschrumpften Gemeinden in der Türkei nicht genügend qualifiziertes Personal fände. Auf Vorschläge, das Seminar als Abteilung der Theologischen Fakultät der Universität Istanbul zu betreiben, reagierte das Patriarchat zurückhaltend. Der armenische Patriarch Mesrob Mutafyan hielt die Überlegung, einer der Istanbuler Universitäten ein Institut zur Ausbildung nicht-muslimischer Theologen anzugliedern, dagegen 107 US State Department, International religious freedom report for 2016 http://www.state.gov/j/drl/ rls/irf/religiousfreedom/index.htm?year=2016 & dlid=268876 (abgerufen am 31.03.2018). 108 Häde 2017:65.

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für diskus­sionswürdig.109 Am 3. August 2018 kündigte der Leiter der türkischen Reli­ gionsbehörde Diyanet an, dass auf der Insel Chalki direkt gegenüber der ehemaligen griechisch-­orthodoxen Theologischen Fakultät ein „Weltislamisches Studienzentrum“ entstehen solle. Beobachter befürchten, dass diese Entscheidung das endgültige „Aus“ für die Wiedereröffnung der theologischen Fakultät bedeutet. Neben dem griechisch-orthodoxen Patriarchat von Konstantinopel besteht noch die sehr kleine, von anderen Kirchen nicht anerkannte, türkisch-orthodoxe Kirche, die 1922 von Papa Eftim gegründet wurde. Über die Jahrzehnte diente sie sich immer wieder der Regierung als Opponent des griechischen Patriarchats an. Eftim II., seit 1968 Nachfolger seines Vaters als Oberhaupt der Kirche, starb 1991. Ihm folgte ein Bruder Selçuk nach, der jedoch 2002 aus Protest gegen die milde Haltung Ankaras gegen das Ökumenische Patriarchat zurücktrat und ohne Nachfolger blieb. Er starb im Dezember 2002. 2004 wetterte die Pressesprecherin der türkisch-orthodoxen Kirche noch einmal gegen Ansprüche des griechischen Patriarchen auf den Titel „ökumenischer Patriarch“. Sie wurde später jedoch wegen Unterstützung einer ultranationalistischen Verschwörung angeklagt und im August 2013 verurteilt. 2017 war sie jedoch wieder frei. Die Kirche hat maximal einige hundert Anhänger.110 Die griechisch- oder rum-orthodoxen Gläubigen des Patriarchats von Antiochien, überwiegend arabisch-sprachig und in der Provinz Hatay in Iskenderun und Mersin ansässig, werden von der Metropolie Aleppo aus betreut (Erzbischof Paul Yaziǧi wurde jedoch 2013 in Syrien von Unbekannten entführt; seither gibt es keine Nachrichten von ihm). Die Bistümer Amida (Diyarbakir), Theodosioupolis (Erzurum) und Tarsus-Adana existieren nur noch auf dem Papier im Schematismus des Patriarchats. Die Zahl der Gläubigen dürfte 10.000 nicht überschreiten.111 Die Zahl der einheimischen Armenier wird auf 60.000 geschätzt; fast alle in Istanbul ansässig. Der armenisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel residiert im Stadtteil Kumkapı. Im Stadtgebiet und am Bosporus existieren noch 35 armenisch-orthodoxe Kirchen sowie einige Schulen und karitative Einrichtungen. In Anatolien bestehen noch (2008) sechs aktive Kirchen: zwei in Diyarbakir und je eine in Kayseri, Derik bei Mardin, Iskenderun und Kırıkhan. Kleine armenische Gemeinden ohne Kirche gibt es in Adana, Amasya (Gümüşhaciköy), Ankara, Antalya, Bitlis, Elaziğ, Kastamonu, Malatya, Ordu, Sason, Sivas, Tokat und Yozgat.112 Die armenischen Katholiken haben noch zwölf Kirchen im Großraum Istanbul und einen Erzbischof mit Sitz im Stadtteil Beyoğlu. Die Kirche betreibt vier Schulen und ein Krankenhaus. Die Zahl der Gläubigen liegt nach Angaben der Diözese bei etwa 2.500. Die letzten nach dem Ersten Weltkrieg noch bestehenden Gemeinden und Diözesen in Anatolien waren bereits in den 1950er und 60er Jahren weitgehend verschwunden. So hatte die armenisch-katholische Diözese Ankara zwar noch bis 1951 einen Bischof 109 110 111 112

Oehring 2002:25–26; Oehring 2004:39–45; Grulich 2008:55–56; Teule 2010:45. Grulich 2008:86–87; Häde 2017:151, 207–208. Göckenjahn 1981:119; Andrews 1989:154–156; Grulich 2008:142. Andrews 1989:127–128; Grulich 2008:56, 154–155.

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(der allerdings in Paris lebte), sie wurde aber bei seinem Tod de facto aufgehoben. Die armenisch-katholische Erzdiözese von Mardin hatte Ende der 1940er Jahre noch 3.000 Gläubige, der Bischofsstuhl blieb aber seit dem Tod des letzten Bischofs im Jahr 1955 unbesetzt und Gläubige gibt es in der Region praktisch nicht mehr.113 Für die katholischen Chaldäer wurde 1961 das Erzbistum Amida (Diyarbakir) wiedererrichtet. Der Erzbischof residierte aber seit 1965 angesichts der Migrationsbewegungen in Istanbul. Nach dem Tod von Erzbischof Paul Karataş (2005) wurde allerdings kein Bischof, sondern nur noch ein Patriarchalvikar ernannt. Erst Ende 2018 wurde wieder ein Erzbischof eingesetzt. Betrug die Zahl der Chaldäer, die in der Türkei lebten, im Jahr 2008 noch 6.000, wurde ihre Zahl in 2016 mit 32.000 angegeben. Grund dafür war die Welle von christlichen Flüchtlingen aus dem Irak, die in Folge der Ereignisse von 2014 die Türkei erreichte.114 Zwar erfährt die chaldäische Kirche immer wieder neue Wellen von Einwanderern – in den 1980er Jahren wegen des IranIrak-Kriegs, in den 1990er Jahren wegen der Folgen des Kriegs um Kuwait und seit 2003 wegen der anhaltenden Unsicherheit im Irak –, die meisten Gläubigen betrachten die Türkei aber nur als Durchgangsstation auf dem Weg in den Westen. In der Türkei waren beim UNHCR und KADER, der Hilfsorganisation der chaldäischen Erzdiözese, im November 2016 rund 50.000 christliche Flüchtlinge aus dem Irak (45.000) und Syrien (5.000) registriert. UNHCR und KADER registrierten bis 2017 weiterhin einen regelmäßigen Zugang christlicher Flüchtlinge, insbesondere aus dem Irak. Inzwischen dürfte die Zahl jedoch zurückgehen. Die einheimischen Chaldäer machen nicht mehr als 3.000 Personen aus, vielleicht sogar nur noch die Hälfte dieser Zahl.115 Das lateinische Vikariat Istanbul umfasst 13 Pfarreien, die zum Teil Nationalkirchen der italienischen, französischen, deutsch-österreichischen und polnischen Gemeinden sind. Zahlreiche katholische Orden betreiben in Istanbul neun Schulen, vier Krankenhäuser, ein Altenheim und ein Kinderheim. Mit 15.650 Gläubigen ist das Vikariat Istanbul die größte Jurisdiktionseinheit der Katholiken. Das Erzbistum Izmir zählt nach dem massiven Zuzug von Studenten aus dem Ausland inzwischen 14.000 Katholiken (zehn Pfarreien), das Apostolische Vikariat Anatolien (Sitz in Iskenderun) 1.500 Katholiken (acht Pfarreien verstreut über das gesamte zentrale und östliche Anatolien). In vielen Universitätsstädten der Türkei, namentlich Istanbul, Izmir und Ankara betreuen die katholischen Gemeinden auch viele Studenten, die Mehrheit aus Afrika, die sich für mehrere Jahre in der Türkei aufhalten. Dies hat – zusammen mit Flüchtlingen, die über Istanbul den Weg nach Europa suchen – das Bild der katholischen Gemeinden stark verändert. Bis zum Ende des letzten Jahrtausends hatte die Zahl der Gläubigen, meist sogenannte Levantiner, also aus europäischen Familien stammende und seit vielen Jahrzehnten in der Türkei ansässige Gläubige, von Jahr zu Jahr abgenommen. Die meisten Levantiner hielten und halten bis heute treu an ihren Muttersprachen 113 Clogg 1999:117. 114 Grulich 2008:138; Teule 2010:38–39. 115 Oehring 2017a:95.

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Französisch und Italienisch fest, vor allem für den Gottesdienst. Inzwischen wachsen die Gemeinden wieder, englisch- und französischsprachige Gemeinden für afrikanische Studenten sind entstanden. Mehr und mehr spielt aber auch das Türkische als gemeinsame Gottesdienstsprache eine Rolle. In der Türkei leben zudem auch etwa 3.000 iranische Christen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Sie leben nicht nur in den großen Städten, sondern auch in kleineren Orten Anatoliens. Dabei handelt es sich meist um Konvertiten vom Islam, die von der römisch-katholischen Kirche, bisweilen auch von der chaldäischen Kirche betreut werden. Die katholischen Bulgaren sind in den 1960er Jahren ganz aus der Türkei verschwunden, ebenso die katholischen Georgier. Von den griechischen Katholiken des byzantinischen Ritus, deren Zahl 1959 noch mit 810 angegeben wurde, blieben 2016 nur noch 16. Das griechisch-katholische Exarchat von Istanbul war bereits 1957 aufgehoben worden. Noch in den 1950er Jahren waren für diese Frankolevantinoi Gebet­ bücher und ein Katechismus in Frankochiotika, Griechisch mit lateinischen Buchstaben, gedruckt worden.116 Neben den evangelischen Ausländergemeinden leben in der Türkei auch mehrere Tausend türkische Konvertiten. Sie sind meist in Hauskirchen organisiert. Seit 1961 waren in der Türkei wieder protestantische Missionare tätig, die sich um die Konversion von Muslimen bemühten. Es handelte sich um eine sehr geringe Zahl von Personen, die von der Polizei regelmäßig schikaniert wurden. Ausländer wurden des Landes verwiesen. In den 1970er Jahren nahmen die Aktivitäten, vor allem die Verteilung von Bibeln und Schriftgut in türkischer Sprache, zu. Es entstanden kleine einheimische protestantische Gemeinden. 1988 kam es zu einer größeren Verhaftungswelle. Im Jahr 2017 gab es rund 150 teils sehr kleine protestantische Gemeinden und Hauskirchen, überwiegend in Istanbul, Ankara und Izmir, mit landesweit schätzungsweise 5.000 Mitgliedern, die größtenteils aus sunnitischen oder alevitischen Familien stammten. Mitte der 1990er Jahre bildeten sie die Allianz der Protestantischen Kirchen, die 2009 unter dem Namen Association of Protestant Churches (Protestan Kiliseler Derneği) die Rechtsform eines Vereins annahm.117

Diskriminierung, Verachtung, Gewalt: rechtliche Lage und ­gesellschaftliche Stellung von Christen heute Das Leben der christlichen Gemeinden ist einer Reihe von Einschränkungen unterworfen. Manches ist in den vorhergehenden Abschnitten bereits erwähnt worden. Hier sollen noch einmal die wichtigsten Rahmenbedingungen sowie die jüngsten Ereignisse zusammengefasst werden.

116 Clogg 1999:117. 117 Häde 2017:80–81; Association of Protestant Churches, 2017 Human right violations report, 30.01.2018 (http://www..isrme.org/wp-content/uploads/2018/02/2017-Human-Rights-Violations-­Report. pdf, abgerufen am 14.04.2018).

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Formal ist die Türkei eine laizistische Republik. Der laizistische Charakter des Staats wird in Artikel 2 der Verfassung von 1982 bestätigt. Angriffe auf den Laizismus werden durch das Strafrecht geahndet. Parteien auf Grundlage von Ethnie oder Religion sind verboten. Die Staatsorgane sind angehalten, alle Staatsbürger gleich zu behandeln (Artikel 10). „Jeder besitzt die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der religiösen Überzeugung.“ (Artikel 24). Die Gottesdienstfreiheit ist garantiert (Artikel 25). Die Rechte der armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinschaft sind gemäß den Artikel 37 bis 44 des Vertrags von Lausanne garantiert. Die Türkei erkennt allerdings die anderen nicht-muslimischen Minderheiten (darunter die syrisch-ortho­ doxe Kirche, die Assyrische Kirche des Ostens, die römisch-katholische Kirche, die unierten katholischen Kirchen und die protestantischen Gemeinschaften) nicht als Minderheiten im Sinne des Vertrags von Lausanne an, auch wenn der Vertragstext keine Rechtfertigung für diese einschränkende Interpretation bietet. Dies hat zur Folge, dass diesen Gemeinschaften nicht das Recht auf den Betrieb eigener Schulen und Sozialeinrichtungen zugestanden wird. Kirchliche Einrichtungen wie Pfarreien und Klöster sind in der Regel als Gemeindestiftungen organisiert. Die Einrichtungen der römisch-katholischen und evangelischen Kirche werden zum Teil auch als Einrichtungen ausländischer Staaten betrachtet und geduldet.118 Die Praxis ist jedoch völlig anders als die Gesetzeslage vermuten ließe, auch wenn in der Türkei ansässige kirchliche Autoritäten, allen voran das armenische Patriarchat von Konstantinopel, nicht müde werden, die Religionsfreiheit in der Türkei zu preisen – offensichtlich unter dem Druck der Regierung. Die Präsenz von Armeniern und Griechen wird als Angriff auf die nationale Einheit der Türkei betrachtet. Diese werden weniger unter religiösen, als vielmehr unter nationalen Aspekten mit Argwohn betrachtet und daher diskriminiert und schikaniert.119 Zwar wurde mit Blick auf die angestrebten Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Gemeinschaft 1991 der Paragraph 163 des Strafgesetzbuchs abgeschafft, der religiöse Missionierung sowie Bestrebungen zur Wiedereinführung des islamischen Rechts unter Strafe stellte. Außerdem wurde das „Sprachengesetz“ von 1983 gestrichen, das die Verwendung aller Sprachen verbot, die nicht erste Amtssprache in einem von der Türkei anerkannten Staat waren (und damit in erster Linie das Kurdische betraf, im Prinzip aber auch das Syro-Aramäische, nicht hingegen das Armenische, das durch den Vertrag von Lausanne geschützt ist). Allerdings wurde auch ein „Antiterrorgesetz“ erlassen, das unter anderem Propaganda und Demonstrationen für separatistische Ziele unter Strafe stellte und die freie Meinungsäußerung berührte. Auf dieser Grundlage wurde in der Folge vor allem gegen Kurden vorgegangen.120 Angesichts der rechtlichen Benachteiligungen und von Hoffnungen auf Änderungen durch die EU-Beitrittsverhandlungen ermutigt, richteten die christlichen Kirchen 118 Oehring 2002:21–41. Allgemein zum Rechtsstatus Stand 1995 auch Leuteritz 1995:89–94. 119 Valognes 1994:813–815. 120 Rumpf 1993:185–208; Steinbach 1996:208–209.

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in der Türkei am 23. September 1993 einen Offenen Brief mit dem Thema „Zur Frage der religiösen Bedürfnisse von christlichen und nicht-islamischen Minderheiten in der Türkei“ an die Türkische Nationalversammlung sowie an den Ministerpräsidenten und die zuständigen Ministerien. Darin forderten sie, die Rechtspersönlichkeit der Kirchen anzuerkennen; die Ausbildung von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern in der Türkei zu ermöglichen; Geistlichen aus dem Ausland die türkische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen, damit sie sich in der Türkei um die Gläubigen kümmern können; ein Ministerium für die Minderheiten einzurichten; dafür Sorge zu tragen, dass Christen und andere Nicht-Muslime in Presse und Öffentlichkeit nicht mehr als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes dargestellt werden; den Stiftungen und Kirchen die rechtlichen Möglichkeiten zu geben, Immobilien zu erwerben; enteignete Immobilien zurückzuerstatten; und schließlich in jeder türkischen Stadt, in der Christen leben, den Betrieb mindestens einer Kirche zu genehmigen.121 Die christlichen Kirchen und Gemeinden sind in der Türkei bis heute trotz der einschlägigen Artikel des bis heute rechtsverbindlichen Vertrags von Lausanne und den Veränderungen, die sich im Rahmen der EU-Beitrittsgespräche ergaben, zahllosen Benachteiligungen, Einschränkungen und willkürlichen Eingriffen der Behörden ausgesetzt. So haben die Religionsgemeinschaften in der Türkei keinerlei Rechtspersönlichkeit. Auch die Ämter der Oberhäupter der Kirchen und des jüdischen Oberrabbiners existieren im rechtlichen Sinne nicht, selbst wenn sie von den Behörden protokollarisch als solche behandelt werden. Dies stellt die Wahl der Patriarchen angesichts fehlender Regelungen immer wieder vor Probleme. Außerdem fehlen rechtlich anerkannte Beratungs- und Verwaltungsgremien. Der zentrale Verwaltungsrat des armenischen Patriarchats, der derartige Aufgaben wahrnahm, wurde 1961 von der Regierung aufgehoben. An seine Stelle trat mit Zustimmung der Regierung ein „Beratungsgremium des Patriarchats“. Dieses wurde allerdings von der Provinzverwaltung Anfang des neuen Jahrtausends aufgelöst.122 Der armenisch-apostolischen Kirche wird bis heute die Wahl eines neuen Patriarchen für den erkrankten Mesrob II. Mutafyan verweigert. Die Behörden argumentieren, dass das Wahlgesetz eine Neuwahl erst nach dem Tod des Amtsinhabers zulasse. Auch der im März 2017 gewählte Locum tenens, Erzbischof Karekin Bekdjiyan, wird von den Behörden nicht anerkannt. Vertreter der armenischen Kirche im Ausland beklagen die Haltung der Behörden als Einmischung in die inneren Angelegenheiten, an der die feindselige Haltung des Staats gegenüber ihrer Kirche zum Ausdruck komme.

121 Unterzeichnet war das Schreiben vom griechisch-orthodoxen Patriarchat, dem armenisch-orthodoxen Patriarchat, der syrisch-orthodoxen Kirche und der katholischen Kirche. Oehring 2002:50–51. 122 Oehring 2002:22–24, Oehring 2004:9–10. Jedoch gelang 2001 die zivilrechtliche Anerkennung des 1999 gegründeten İstanbul Protestan Kilisesi Vakfı, obwohl Artikel 101 des Zivilgesetzbuches die Gründung von Stiftungen mit religiösem Hintergrund verbietet. Eine Änderung des Vereinsrechts von 2004 ermöglichte es Religionsgemeinschaften hingegen, den Status eines Vereins zu erlangen. Theoretisch haben Vereine Rechtspersönlichkeit und dürfen Eigentum erwerben. Diesen Weg gingen einige Protestanten und die Zeugen Jehovas. Ceyhan/Oehring/Yıldırım 2012:69, 73.

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Kirchliche Bildungs- und Sozialeinrichtungen sind wegen fehlender Rechtspersönlichkeit der Religionsgemeinschaften als Gemeindestiftungen organisiert. Diese stehen rechtlich in keiner Beziehung zur jeweiligen Kirche, sondern sind allein der staatlichen Stiftungsverwaltung gegenüber rechenschaftspflichtig. Ein Teil der Stiftungen ist zudem als Kirchen- oder Stadtteilstiftungen organisiert, das heißt nur in der Kirchengemeinde beziehungsweise dem Stadtteil ansässige Personen können Mitglied sein und Vorstandsposten annehmen. Aufgrund demographischer Veränderungen und Migration droht vielen Stiftungen die Auflösung, weil keine geeigneten Personen mehr am Ort wohnen und damit für die Verwaltung der Stiftungen zur Verfügung stehen. Das Vermögen der Stiftung fällt in diesem Fall an den Staat. Zu Finanzierungsproblemen führt die Tatsache, dass es Stiftungen nicht erlaubt ist, Überschüsse an andere Stiftungen zu übertragen. Finanzstarke Stiftungen können also nicht finanzschwache Stiftungen unterstützen. Außerdem müssen Einnahmen aus Immobilienveräußerungen der Stiftungen auf ein Sperrkonto eingezahlt werden und dürfen nicht in den Erwerb anderer Immobilien investiert werden. Nur die Zinserträge können verwendet werden. Bei der zeitweilig sehr hohen Inflation in der Türkei bedeutete dies quasi den Verlust des Immobilienwerts. Hauptproblem der Stiftungen waren allerdings über Jahrzehnte die Ausführungsbestimmungen zum Stiftungsgesetz aus dem Jahr 1936. Diese sahen die Inventarisierung des Stiftungsvermögens vor. Das Kassationsgericht interpretierte dies 1974 so, dass das gesamte nach 1936 erworbene Immobilieneigentum vom Staat konfisziert werden dürfe, weil es bei der Inventarisierung 1936 nicht angegeben worden sei. Nicht-muslimische Minderheiten seien darüber hinaus als ausländisch anzusehen und hätten damit nicht das Recht auf Immobilienerwerb in der Türkei. Hunderte von Gerichtsverfahren sind seither anhängig, weil vom Staat immer wieder entsprechende Gebäude und Grundstücke konfisziert wurden. So verloren allein armenische Gemeindestiftungen zwischen 1974 und 2002 über 40 Immobilien. Bei den katholischen Ordensgemeinschaften, die ebenfalls keine Rechtspersönlichkeit haben, aber in Dokumenten aus osmanischer Zeit als Eigentümer im Grundbuch eingetragen sind, stellt sich immer wieder das Problem, dass Behörden Eigentum willkürlich konfiszieren und die Orden dann quasi zu einem außergerichtlichen Vergleich zwingen. Dabei wird meist dem jeweiligen Orden das Nutzungsrecht zugestanden, das staatliche Schatzamt jedoch als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Ein Pro­ blem für alle Stiftungen stellt die Tatsache dar, dass für größere Renovierungsarbeiten ein Beschluss des Ministerrats für die Genehmigung vorliegen muss. Wenn sie denn erteilt wird, spielt allein der Zeitfaktor dabei eine gewichtige Rolle. Zwar wurden bei den Gesetzesreformen im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen in den Jahren 2002 und 2003 Änderungen am Stiftungsrecht vorgenommen, die namentlich den Erwerb und die Registrierung von Immobilien (oder nachträgliche Registrierung von früher erworbenen Liegenschaften) auf den Namen der Stiftung erlaubten, allerdings bereiteten die Ausführungsbestimmungen Verwirrung und von den 2.234 Anträgen wurden 622 als unzulässig abgelehnt und 910 wegen Unvollständigkeit der Unterlagen zurückgesandt. 2008 wurde ein erneut überarbeitetes Stiftungsgesetz verabschiedet

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(nachdem noch 2006 Präsident Ahmet Necet Sezer, ein ausgewiesener Säkularist, das von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz per Veto mit dem Argument blockiert hatte, es begünstige nicht-muslimische Stiftungen). 2011 erließ die Regierung von Minis­terpräsident Recep Tayyip Erdoğan ein Dekret, das die Rückerstattung enteigneten Stiftungsgut regelte.123 Die griechische, armenische und bulgarische (außerdem die jüdische) Gemeinschaft darf zwar laut dem Vertrag von Lausanne eigene Schulen betreiben, allerdings setzt der Staat in jeder Schule einen stellvertretenden Schulleiter ein, der der Dienstvorgesetzte der staatlich eingesetzten Lehrer für Türkisch, Geographie, Staatsbürger­ kunde und Soziologie ist und nicht dem eigentlichen Schulleiter untersteht. Es bestehen also zwei unterschiedliche Hierarchien. Außerdem sind die stellvertretenden Schulleiter angehalten, Berichte über die Entwicklungen an den Schulen anzufertigen. Problematisch ist weiterhin, dass Kinder nur Schulen der Gemeinschaft besuchen dürfen, denen der Vater nachweislich angehört. Nachdem in den 1980er Jahren die Nennung der genauen Religionsgemeinschaft in den Ausweispapieren durch die allgemeine Bezeichnung „Christ“ ersetzt wurde, bedeutet dies einen Zeitaufwand der Behörden bei der Überprüfung. Während dieser Zeit kann der Schüler nur als „Anwärter“ die Schule besuchen. Außerdem gilt allein die Zugehörigkeit des Vaters, nicht die der Mutter, was bei konfessionsverschiedenen Ehen die Wahl der Schule erheblich einschränkt.124 Bis Sommer 1990 waren nicht-muslimische Kinder zur Teilnahme am Religionskundeunterricht, der de facto islamischer Religionsunterricht war, verpflichtet.125 Muslimische Predigerschulen (Imam-hatip-okulları) haben seit den 1990er Jahren regen Zulauf. Sie wurden 1949 erstmals wieder zugelassen, entwickelten sich aber zunächst nur langsam. Anfang der 1990er Jahren gab es immerhin 390 Schulen mit 118.000 Schülern. Bis 2016 stieg zu Zahl der Schüler auf rund 1,1 Millionen. Für diese Schulen wird ein im Vergleich zur säkularen Bildung ungewöhnlich hoher Betrag aus dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Außerdem wurde ihren Absolventen von der Regierung Turgut Özals der Zugang zu den Universitäten eröffnet. Ihre Absolventen drängen auch in den Staatsdienst, weil sie nicht alle in religiösen Berufen unterkommen können. Dort sorgen sie für eine immer stärkere Islamisierung der Behörden.126 Die Aufnahme von Nicht-Muslimen in den Staatsdienst wird dagegen in unterschiedlicher Weise be- oder verhindert. Die Aufnahme in die Militärschulen wird kategorisch verwehrt.127 Vorurteile gegen Christen, vor allem gegen Armenier, sind ein erhebliches Problem. „Armenier“ wird im Türkischen als Schimpfwort verwendet. Bei einer 1999 durchgeführten Umfrage nach dem unbeliebtesten Volk gaben 76 % die Armenier 123 Oehring 2002:26–29, 35–39; Oehring 2004:10–23; Herghelegiu 2009:296–299; Ceyhan/Oehring/ Yıldırım 2012:66–68; 207–217. 124 Oehring 2002:29–31. 125 Oehring 2002:10. 126 Steinbach 1996:331–332. 127 Oehring 2002:33.

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an.128 Wiederholt wurden „Missionare“ von Politikern als Gefahr für die Türkei und das türkische Volk bezeichnet. Gemeint sind damit oft allgemein Christen.129 Religiöse Buchhandlungen der Religionsstiftung (Türkiye diyanet vakfı), die der Religionsbehörde angeschlossen ist, verbreiten neben Literatur zu Koran und religiösen Gutachten auch antichristliche Schriften, Pamphlete gegen christliche Missionare, Zeugen Jehovas, Juden, Bahai und Aleviten.130 Bestehende Ängste und Ressentiments gegenüber Armeniern und Missionaren sind auch die Ursache für eine Reihe von Morden der Jahre 2006 bis 2010. Am 5. Februar 2006 wurde der katholische italienische Priester Andrea Santoro vor seiner Kirche in Trabzon von einem Minderjährigen erschossen. Am 19. Januar 2007 erschoss ein junger Mann in Istanbul Hrant Dink, den Herausgeber der armenischen Zeitschrift Agos, auf offener Straße vor den Redaktionsräumen. Am 18. April 2007 wurden in Malatya drei protestantische Christen (zwei Türken und ein Deutscher) in den Räumen des evangelischen Verlags Zirve von mehreren Angreifern festgesetzt, gefoltert und brutal ermordet. Die Verlagsräume wurden verwüstet. Am 3. Juni 2010 wurde schließlich der katholische Bischof Luigi Padovese vor seinem Bischofshaus in Iskenderun von seinem Fahrer erstochen. Die Morde der Jahre 2007 bis 2010 waren durch eine öffentliche Diskussion und zahlreiche Pressemeldungen über die Aktivitäten von Missionaren in der Türkei mitverursacht. Im Jahr 2001 hatte der vom Militär dominierte Nationale Sicherheitsrat christliche Mission in der Türkei als große Gefahr für das Land bezeichnet. Infolge dieser Warnung setzte eine regelrechte Kampagne gegen christliche Missionare in den Medien, auf Vorträgen und Podiumsdiskussionen sowie durch öffentliche Stellungnahmen von Politikern ein. Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und Presse fand dabei eine Äußerung der Ehefrau des damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Sie hatte sich Anfang Januar 2005 über die Aktivitäten christlicher Missionare beklagt und damit die nationalistisch-religiöse Zeitung Yeniçağ zu einer zwölfteiligen ganzseitigen Artikelserie über Missionare angeregt. Die Serie war, wie

128 Oehring 2002:32–33. 129 Ceyhan/Oehring/Yıldırım 2012:52–55. 130 Steinbach 1996:332–333. Auch Aleviten wurden systematisch diskriminiert. Von der Religionsbehörde wurden sie faktisch als Sunniten betrachtet, erhielten sunnitisch-islamischen Religionsunterricht und auch in rein alevitischen Siedlungen wurden für sie Moscheen (anstelle der alevitischen Cem-Häuser) gebaut. In einer Stellungnahme des Leiters des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten aus dem Jahr 1990 betonte dieser, dass es hinsichtlich der Glaubensgrundlagen zwischen Sunniten und Aleviten keine schwerwiegenden Unterschiede gebe. Abweichungen seien regional begrenzt und lokalen Traditionen geschuldet. Seit den 1990er Jahren wurden Aleviten auch Opfer von Gewalttaten islamistischer Extremisten. So wurde im Jahr 1993 in Sivas eine Versammlung alevitischer Schriftsteller überfallen und das Hotel, in dem sie tagten, in Brand gesteckt. 37 Menschen kamen ums Leben, weil die Polizei nur zögerlich und verspätet eingriff. Im März 1995 wurde im Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpaşa ein von Aleviten besuchtes Teehaus überfallen. 25 Menschen starben bei dem Schusswechsel und den anschließenden Auseinandersetzungen der aufgebrachten Menge mit der Polizei. Steinbach 1996:323–324.

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Wolfang Häde zeigt, „angefüllt mit Ungenauigkeiten, Widersprüchen, Übertreibungen und reinen Unterstellungen.“131 Christen verteidigen seit einigen Jahren ihre Rechte vehementer und offener und nutzen dafür auch das türkische und europäische Rechtssystem. Der Druck der Europäischen Union auf die Türkei zur Anerkennung der Minderheitenrechte gilt vielen Türken als Beweis dafür, dass der Westen die Türkei „zersetzen“ wolle. Die Spannungen zwischen konservativen Türken und den Minderheiten nehmen zu, weil sich die Minderheiten nicht mehr still verhalten. Aber ausgerechnet die aus der islamistischen Bewegung hervorgegangene Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) brachte im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen eine Reihe von Verbesserungen für die Christen des Landes auf den Weg. Auch schien die Rhetorik Recep Tayyip Erdoğans in den ersten Jahren darauf hinzudeuten, dass er eine bessere Integration der türkischen Christen in die Gesellschaft anstrebe. 2004 wurde das Vereinsrecht reformiert und die Gründung von Vereinen mit religiöser Zielsetzung erlaubt. 2007 begann die Regierung Erdoğan, Stiftungsbesitz, der seit den 1970er Jahren konfisziert worden war, zurückzugeben. 2011 konnten Rückgabeanträge gestellt werden. 1.560 Anträge wurden innerhalb der Frist eingereicht. Bis 2016 wurden 333 Immobilien zurückerstattet für 21 weitere Kompensation bezahlt. Alle anderen Anträge wurden abgewiesen. 2013 kündigte die Regierung zudem eine Reform des Stiftungsrechts an und hob die bis dahin geltenden Regelungen zur Wahl der Stiftungsvorstände auf. Bis 2016 wurden allerdings keine neuen Regelungen erlassen, so dass die Stiftungen nicht in der Lage waren, neue Stiftungsräte zu wählen.132 Am 19. September 2010 wurde in Aghtamar, seit dem 10. Jahrhundert Sitz eines armenischen Katholikos, zum ersten Mal seit 1915 wieder ein armenischer Gottesdienst gefeiert. Erzbischof Aram Ateşian, der Stellvertreter des erkrankten armenisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, stand der Liturgie vor. Die anderen führenden armenischen Hierarchen (der Katholikos von Etchmiadzin in Armenien, das Katholikossat von Kilikien mit Sitz im Libanon und das armenische Patriarchat von Jerusalem) hatten allerdings zum Boykott des Gottesdienstes aufgerufen, den sie als „türkische Show“ bezeichneten. Sie wiesen daraufhin, dass in der Türkei 2.000 Kirchen zerstört oder in Moscheen umgewandelt worden seien oder als Ställe genutzt würden. Tatsächlich hatte die türkische Regierung die internationale Presse eingeladen, um Euro­päische Union und die UNESCO davon zu überzeugen, dass die Türkei das kulturelle Erbe der Nicht-Muslime erhalte. Die Kirche von Aghtamar wurde so zum Museum erklärt. Gottesdienst darf nur einmal im Jahr gefeiert werden. Für viele Armenier war es dennoch ein sehr emotionales, wenn auch einmaliges, Ereignis.133

131 Ağuiçenoğlu 2012:571 aber 574; Häde 2017:81, 115 (dort das Zitat). 132 US State Department, International religious freedom report for 2016 http://www.state.gov/j/drl/ rls/irf/religiousfreedom/index.htm?year=2016 & dlid=268876 (abgerufen am 31.03.2018). 133 Hakobyan 2013:9–12. Eine Klage des armenisch-orthodoxen Katholikossats von Kilikien zur Rückerstattung der 1915 beschlagnahmten Immobilien des Katholikossats in Sis/Kozan war 2016 noch vor

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Seit einigen Jahren machen sich in der Regierung Erdoğan andere Tendenzen bemerkbar. Das zunehmend autoritär, aber auch islamistisch bestimmte Auftreten von Staatspräsident Erdoğan verstärkt Befürchtungen, dass Religionsfreiheit im westlich-demokratischen Sinne kein Anliegen von Präsident und Regierung ist. Im April 2016 forderte der Parlamentspräsident, die angestrebte neue Verfassung müsse religiös sein und dürfe keine Verpflichtung zum Laizismus mehr enthalten.134 Der unerbittliche Krieg gegen die PKK, der 2015 von der Regierung begonnen wurde, beeinträchtigt auch erheblich christliches Leben in den Kurdengebieten. Bei den Kämpfen in der Region Diyarbakir wurden zwischen Dezember 2015 und März 2016 vier historische Kirchen (eine armenisch-orthodoxe, eine armenisch-katholische, eine syrisch-protestantische und eine chaldäische) schwer beschädigt. Die Regierung beschlagnahmte daraufhin die Gebäude und Grundstücke und kündigte an, diese nach den geplanten Renovierungsarbeiten zurückzuerstatten. Drei der vier Kirchen klagten gegen die Enteignungen (außer der armenisch-katholischen Kirche). Die Renovierung der armenisch-katholischen Kirche begann im September 2016. Im März 2018 wurden die Kirchen in Diyarbakir an ihre vormaligen Eigentümer zurückgegeben. 2017 wurden im Zuge einer Verwaltungsreform 110 kirchliche Liegenschaften in der Provinz Mardin, darunter die drei historisch bedeutsamen Klöster Mor Melki, Mor Yakup und Mor Dimet sowie Ländereien des Klosters Mor Gabriel, vom türkischen Staat beschlagnahmt. Die Eigentumsrechte sollten über das staatliche Schatzamt an die türkische Religionsbehörde Diyanet übertragen werden, obwohl diese im Prinzip nur für den Islam zuständig ist. Nach Protesten der betroffenen Stiftungen ordnete die türkische Regierung im Februar 2018 die Rückgabe von kirchlichen Vermögenswerten an die syrisch-orthodoxe Kirche an. Im März 2018 erhöhte das türkische Parlament per Gesetz die Zahl der zu restituierenden Liegenschaften auf 56; 50 davon zugunsten der Stiftung des Klosters Mar Gabriel. Die Eigentumstitel wurden bis Mai 2018 ausgestellt. Als Ergebnis des Drängens von Seiten der Regierung ist wohl auch eine Erklärung von 18 spirituellen und religiösen Führern zur Religionsfreiheit in der Türkei zu verstehen. In dem auf den 31. Juli 2018 datierten Dokument versicherten die Geistlichen, dass sie ihre Religion in der Türkei frei ausüben können. Wörtlich hieß es: „Als die religiösen Repräsentanten und Leiter alter Gemeinden verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen, die in diesem Land seit Jahrhunderten verwurzelt sind, sind wir frei in der Ausübung unserer Religion und unserer Traditionen. Äußerungen, wonach wir unterdrückt würden, sind völlig unwahr.“ Die Erklärung war offensichtlich als Reaktion auf eine Äußerung des US-amerikanischen Vizepräsidenten Michael Pence gedacht. Dieser hatte wenige Tage zuvor erklärt, es gebe keine Religionsfreiheit in der Türkei. Damit zielte er in erster Linie auf die Inhaftierung eines evangelikalen USPastors, dessen Inhaftierung einen offenen Streit zwischen der türkischen und der dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anhängig, nachdem der Fall von allen türkischen Gerichten abgewiesen worden war. 134 Häde 2017:84.

Ausblick: Zwischen Assimilation, Selbstbehauptung und Auswanderung

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amerikanischen Regierung ausgelöst hatte. Offenbar wollten sich die Kirchenführer mit ihrer Erklärung auch von den Methoden der evangelikalen Gruppen distanzieren und Schaden für die eigenen Kirchen abwenden. Der Fall zeigt aber auch, unter welchem Druck die Kirchen in der Türkei stehen.135 Der autoritäre Führungsstil Erdoğans macht allen Gruppen im Land das Leben schwer, die nicht direkt die Politik der regierenden AKP unterstützen, besonders seit dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016. Dies gilt für kurdische Vereine und Parteien, die sich nicht für die nationalistische Propaganda der Regierung einspannen lassen, genauso wie für die christlichen Kirchen. Praktische und rechtliche Probleme, die in der Zeit von 2004 bis 2011 auf lokaler Ebene geregelt werden konnten, finden so oft keine Lösung mehr. Auch rechtlich lässt sich derzeit kaum gegen Regierungsbehörden oder deren Entscheide vorgehen, zum Beispiel bei ungeregelten Eigentumsfragen oder Nutzungsrechten von Gebäuden. Lokalpolitiker, Richter und Anwälte leben in ständiger Angst vor dem übermächtigen Arm Erdoğans. Entscheidungen gegen den Willen der AKP wagt niemand zu fällen und Rechtssachen gegen AKP-dominierte Stadtverwaltungen traut sich kaum ein Anwalt zu vertreten. So halten die meisten Kirchen still und warten auf bessere Tage. Eine europäische Perspektive für die Türkei kann dabei durchaus hilfreich sein. So forderte der katholische Bischof aus Iskenderun, Paolo Bizzeti, im Frühjahr 2018: „Wir müssen aus der Falle des entweder oder heraus.“ Die EU möge die Tür für Beitrittsverhandlungen nicht vorschnell zuschlagen, bessere Beziehungen zwischen Türkei und EU würden der Pastoral- und Erziehungsarbeit der Kirche in der Türkei helfen. „Wir brauchen einen Ansatz für eine besondere Partnerschaft, das sollten die Bischofskonferenzen von der Politik einfordern.“136

Ausblick: Zwischen Assimilation, Selbstbehauptung und Auswanderung Das Bild, das die Türkei für Christen bietet, ist zweigeteilt. Auf der einen Seite hat das Land über drei Millionen Flüchtlinge aus den Nachbarländern Irak und Syrien aufgenommen. Zwar sind die allermeisten davon Muslime, aber auch mehrere zehntausend 135 Zu den Unterzeichnern gehörten der griechisch-orthodoxe Patriarch Bartholomaios I., der von den türkischen Behörden als Geschäftsführer des armenisch-orthodoxen Patriarchats betrachtete Erzbischof Aram Ateşian, Rabbi Isaak Haleva und der syrisch-orthodoxe Patriarchalvikar Filüksinos Yusuf Çetin sowie Vertreter der bulgarisch-orthodoxen und chaldäischen Kirche. Im September 2018 wiederholte Erzbischof Aram Ateşian das Lob für die türkische Regierung. Die Türkei sei heute „nicht mehr, wie sie einmal war“. Seit die AKP regiere, hätten sich viele Dinge geändert, denn es gebe eine „starke Regierung, die die Rechte von Minderheiten gewährleisten will“. Erzbischof Ateşian gilt als „Mann der Regierung“. Er war im Sommer 2017 als Verwalter des Patriarchats (der amtierende Patriarch Mesrob II. Mutafyan ist seit 2008 schwer erkrankt und unfähig, die Amtsgeschäfte zu führen) vom Geistlichen Rat des armenischen Patriarchats abgesetzt und durch Erzbischof Karekin Bekdjiyan ersetzt worden. Allerdings spielt er mit Unterstützung der türkischen Behörden weiter eine Schlüsselrolle im Patriarchat. 136 Kontinente: Das missio-Magazin, März-April 2018:42.

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Christen haben in der Türkei Schutz vor Verfolgung und Krieg in ihren Heimatländern gefunden. Hinzu kommen mehrere tausend verfolgte Christen aus dem Iran. Diese Aufnahmebereitschaft sollte nicht unbeachtet bleiben. Es muss außerdem betont werden, dass die meisten Christen von den rechtlichen Fragen, die die Kirchen als Institutionen in ihrem Handeln beeinträchtigen, in ihrem persönlichen Leben nicht betroffen sind. Christen können in aller Regel ihren Geschäften ohne Beeinträchtigung nachgehen und unterliegen im Privatleben praktisch keinen Einschränkungen. In den großen Städten, vor allem in der Westtürkei, pflegt ein bedeutender Teil der türkischen Bevölkerung eine moderne, säkulare Einstellung und steht den wenigen Christen entweder freundlich oder indifferent gegenüber. Von sozialer Diskriminierung kann man hier nicht sprechen, auch wenn viele Christen zunächst im eigenen Milieu verkehren. Aber die Türkei hat, wie wir in den vorangehenden Seiten gesehen haben, auch eine andere Seite. Viele Christen leben zwischen dem gesellschaftlichen Druck nach Assimilation und dem Wunsch nach Erhalt ihrer kulturellen und religiösen Eigenheiten. Regierung und die weniger gebildeten und modern eingestellten Teile der türkischen Bevölkerung streben nach einer vollständigen Homogenisierung der Gesellschaft im Zeichen des „Türkentums“. Von den ethnisch-religiösen Minderheiten der Griechen, Armenier, Syrer, Chaldäer und Assyrer – wie übrigens auch von den Kurden – wird die Aufgabe ihrer kulturellen und sprachlichen Eigenheiten erwartet. Die Minderheiten versuchen dagegen, ihre kulturellen Traditionen zu erhalten. Religion spielt bei dem Assimilationsdruck zunächst eine untergeordnete Rolle. Die religiöse Identität kommt eher in den Ressentiments vieler Türken gegenüber den evangelischen und katholischen Christen ins Spiel, in denen sie Missionare sehen, die die Grundlagen der türkisch-islamischen Gesellschaft zerstören wollen. Eine Basis für gesellschaftliches Engagement von Christen außerhalb der vorgegeben Grenzen ihrer Gemeinschaft bietet diese Klima nicht. Die wenigen in der Türkei verbliebenen Christen werden daher auch weiterhin danach streben, das Land zu verlassen, und so den Exodus fortsetzen, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat.

Iran Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Bethlehem in Judäa geboren worden war, kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. (Mt. 2,1–2)

Das Christentum in Persien Perser, Araber und Mongolen: Christen in Persien von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

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arther, Meder und Elamiter – alles Bewohner des alten Iran – waren in Jerusalem zugegangen, als an Pfingsten der Heilige Geist über die Urgemeinde kam (Apg.  2, 8). Der Tradition nach brachte der heilige Thomas als Apostel des Ostens das Evangelium nach Persien zu den Parthern und Medern. Im Nordwesten des Iran, der heutigen Provinz Aserbaidschan, soll auch der Apostel Bartholomäus gewirkt haben. Eine lokale Tradition verortet sogar den Ursprung der „Sterndeuter aus dem Osten“ in Persien. In der Marienkirche von Urmia sollen bis zum 4. Jahrhundert die Reliquien der „heiligen drei Könige“ aufbewahrt worden sein, bevor sie nach Konstantinopel gebracht wurden. Von dort gelangten sie nach Mailand, bis Kaiser Friedrich Barbarossa sie 1161 nach seinem Sieg über die Stadt nach Köln bringen ließ.1 Eine armenische Tradition lässt zudem den Apostel Judas Thaddäus in das Gebiet des nordwestlichen Iran kommen, wo er an der Stelle des späteren Thaddäus-Klosters das Martyrium erlitten haben soll.2 Der Nordwesten des Iran war bis zum 5. Jahrhundert Teil des armenischen Königreichs der Arsakiden. Diese hatten im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion angenommen. Das Thaddäus-Kloster bei Maku und das Stephanus-Kloster am Fluss Araxes in der Nähe der alten armenischen Stadt Jolfa sind bis heute Zeugnis der armenischen Kultur in der Region. Das Gebiet des heutigen Iran war Missionsland der Kirche des Ostens. Entlang der Handelswege entstanden christliche Gemeinden. Allerdings war die Kirche während der Herrschaft der Sassaniden (224–642) auch immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Dennoch waren die großen Städte Persiens weit über die islamische Eroberung hinweg (binnen vier Jahren, 638–642, fiel das gesamte Sassanidenreich in die Hände der muslimischen Araber) Sitz von Bischöfen dieser Kirche, die jahrhundertelang auch als 1 2

Bugnini 1981:28. Bugnini 1981:32.

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nestorianische Kirche bezeichnet wurde. In Abgrenzung zum Christentum des römischen Reichs, des Erzrivalen Persiens, hatte die Kirche des Ostens auf ihrer Synode des Jahres 486 die Lehren Theodors von Mopsuestia übernommen. Er stand wie Nestorius in der theologischen Tradition von Antiochien, die auf dem Konzil von Ephesus (431) zurückgewiesen worden war. Die Unterscheidung in der Theologie diente der Kirche Persiens auch als Schutz vor dem Vorwurf, Sympathien für den römischen Feind zu haben. In islamischer Zeit florierte das Christentum im Osten weiter. In Gondeshapur, im westlichen iranischen Hochland, bestand eine medizinische Schule, die von Christen der syrischen Tradition geführt wurde und im ganzen Kalifenreich der Abbasiden bekannt war. Von Persien aus gelangte das Evangelium entlang der Seidenstraße weiter nach Zentralasien und bis nach China. Unter den Mongolen, die vom frühen 13. bis Ende des 14. Jahrhunderts über den Iran herrschten, erlebte die Kirche noch einmal eine Blüte. Die Bischofssitze rund um die Residenz der Mongolenherrscher (IlKhane) in Sultaniyeh florierten. Neben der Kirche des Ostens waren dort seit Mitte des 13. Jahrhunderts auch katholische Franziskaner und Dominikaner am Werk, die sich im Namen des Papstes ebenfalls um die Gunst der Mongolen bewarben. In Maragha, einem der Zentren des Mongolenreichs im Iran, starb 1286 auch der (west-)syrische Gelehrte und Bischof Barhebräus, syrisch Gregorios bar ʿEbrōyō, der für seine Werke in den Disziplinen Geschichtsschreibung, Theologie, Philosophie und Sprachwissenschaft bekannt war. Am Hof der Il-Khane waren christliche Bischöfe gern gesehen und manche machten sich Hoffnung, dass die Mongolenherrscher das Christentum annehmen würden. Diese Träume zerstoben allerdings um das Jahr 1284, als der regierende Il-Khan den Islam zu seiner Religion erwählte. Mit den Kriegszügen Timur Lenks (Tamerlan) Ende des 14. Jahrhunderts endete die Geschichte des Christentums im Iran weitgehend. Timur hatte furchtbare Vernichtung hinterlassen. Christen – Nestorianer und Armenier – zogen sich ins unwegsame Bergland westlich und nordwestlich des Urmia-Sees zurück. Mit dem Aufstieg der schiitischen Dynastie der Safawiden begann auch für das Christentum in Persien eine neue Zeit. Schah Abbas erkor Anfang des 17. Jahrhunderts Isfahan zu seiner Hauptstadt und ließ es großzügig ausbauen. Das nordwestliche Grenzland zum Osmanischen Reich hingegen, das jahrzehntelang zwischen den beiden rivalisierenden islamischen Großmächten umkämpft war, ließ er von seinen überwiegend armenischen Bewohnern entvölkern. Sie wurden 1604 zwangsweise von Jolfa am Fluss Araxes ins Herz Persiens, nach Isfahan und sein Umland, umgesiedelt. Etwa 40.000 Armenier wurden auf diese Weise deportiert. In Isfahan wurde ihnen von Schah Abbas auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Zayanderud Land zugewiesen, wo sie in Erinnerung an die alte Heimat Neu-Jolfa gründeten. Auch weiter südlich von Isfahan, rund um Charmahal, entstanden etwa hundert armenische Dörfer. Allein NeuJolfa soll 24 Kirchen gehabt haben und Anfang des 18. Jahrhunderts 60.000 fast ausschließlich armenische Einwohner.3 Andere Armenier wurden von Schah Abbas nach 3

Bugnini 1981:109–111.

Das Christentum in Persien

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Farahabad in der Nähe von Tabriz umgesiedelt; die heutige armenische Gemeinde der Region geht auf diese Umsiedler zurück.4 Nach Isfahan gelangten bald auch katholische Missionare. 1629 wurde auf Einladung von Schah Abbas die lateinische Diözese Isfahan gegründet. Dort wirkten Augustiner und Karmeliten. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden wegen der internen Kämpfe im Persischen Reich die meisten katholischen Missionen aufgegeben, viele Konvente und Kirchen wurden zerstört oder geschlossen. Die ohnehin nicht sehr zahlreichen katholischen Gläubigen flohen und suchten Schutz in Basra und Bagdad. Erst 1763, nachdem Karim Khan das Land weitgehend befriedet hatte, kehrten manche katholische Familien wieder nach Persien zurück.5

Spielball von Katholiken, Protestanten und Russen: Christliche Gemeinden in Persien im 19. und frühen 20. Jahrhundert Das christliche Leben in Persien konzentrierte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf zwei Regionen: Die Gegend um Isfahan im Herzen des Landes sowie die Provinz Aserbaidschan im Nordwesten des Iran. Die Zahl der Armenier in Persien betrug am Ende des 19. Jahrhunderts 63.000 bis 70.000 Personen. Sie lebten fast ausschließlich in den Provinzen Aserbaidschan und Isfahan.6 Im Süden bildeten Isfahan mit Neu-Jolfa und die Dörfer des Charmahal das Zentrum armenischen Lebens. Jolfa war ein bedeutender Bischofssitz und das Stadtviertel verfügte über zahlreiche Kirchen. Die Zahl der Armenier in Aserbaidschan betrug dabei nach den Statistiken der armenisch-apostolischen Erzdiözese 34.000, davon ein Drittel in der Ebene von Salmas, die übrigen in der Ebene von Urmia, in Khoi, Qaradagh, Maku und Tabriz. Nach der Abwanderung zahlreicher Armenier aus Aserbaidschan auf Grundlage des Vertrags von Turkmanchay (1828), zählte Tabriz 1830 nur noch 40 armenische Familien. Die Stadt erlebte dann aber einen schnellen Aufschwung. 1833 wurde der Sitz der armenisch-apostolischen Diözese Aserbaidschan (Atrpatakan) vom Thaddäus-Kloster bei Maku nach Tabriz verlegt. 1903 zählte die Stadt wieder 700 armenische Familien. In der Nähe von Tabriz gab es zudem drei große armenische Dörfer mit insgesamt etwa 6.000 Einwohnern.7 In der Ebene von Salmas erfuhr die Zahl der Armenier nach den Massakern im Osma­nischen Reich der Jahre 1894–1896 einen bedeutenden Aufschwung. Einige Dörfer (unter anderem Haftvan mit ca. 2.300 Einwohnern im Jahr 1905) waren ausschließlich von Armeniern bewohnt. Allerdings lebte eine große Zahl (im Durchschnitt etwa 4 Waterfied 1973:63. 5 Filoni 2006:47–48. 6 Berberian 2001:17. 7 Am 7. Februar 1903 traten für die armenisch-apostolische Diözese Aserbaidschan Statuten in Kraft, nach denen die weltlichen Angelegenheiten der Diözese von einem alle vier Jahre gewählten Laienrat bestehend aus 17 Mitgliedern unter Vorsitz des Bischofs verwaltet wurden. Golnazarian-­ Nichanian 2009:53.

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ein Viertel der Einwohner) als Emigranten in den Industriestädten des Kaukasus, vor allem in Tiflis, Baku und Rostov. Sie hielten sich jeweils nur kurze Zeit im Jahr in ihren Heimatorten auf. Die Zahl der Armenier wird in den 23 Dörfern der Region Salmas zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf knapp über 10.000 Einwohner geschätzt. In Urmia und der Urmia-Ebene bildeten die Armenier eine relativ kleine Minderheit neben Assyrern und Kurden. In Urmia lebten 1903 45 armenische Familien. In der gesamten Ebene waren etwa 1.000 Armenier ansässig. In Qaradagh lebten knapp 7.200 Armenier, in der Region Maku etwa 80 Familien.8 Großen Wert legten die Armenier auf ihr Schulsystem. 1833 war in Neu-Jolfa eine erste moderne Schule gegründet worden, 1835 folgte eine derartige Schule in Tabriz, 1851 wurde in Tabriz von Bischof Sahak Satouian (1851–1857) die später bekannteste armenische Schule, die Nersissian-Schule, eröffnet. 1870 entstand in Teheran, wo sich durch die Anziehungskraft der Hauptstadt der Qajaren-Dynastie im Laufe des 19. Jahrhunderts eine kleine armenische Gemeinde gebildet hatte, die erste armenische Schule. Auch in den Kleinstädten und Dörfern Aserbaidschans wurden Schulen eröffnet, die jedoch meist nur Grundschulniveau hatten. Mädchenschulen wurden oft von philanthropischen Vereinen unterstützt. Die erste wurde 1879 in Tabriz gegründet.9 Die allermeisten Armenier gehörten der armenisch-apostolischen Kirche an. 1882 jedoch eröffneten die katholischen Mekhitaristen eine Mission für die Armenier in Salmas und knüpften damit an eine starke katholische Präsenz unter den Ostarmeniern während des 14. bis 16. Jahrhunderts an (Frati Unitori). Allerdings wurde der Obere der Mekhitaristenmission, Srapion Paronian, 1890 ermordet. Zeugnisse des arme­nischapostolischen Bischofs von Aserbaidschan, Stepanos Mkhitarian (1886–1892), legen nahe, dass er selbst in die Ermordung verwickelt war. Die Feindschaft der aposto­lischen Armenier ließ der Mission keine andere Möglichkeit, als 1901 nach Tabriz umzuziehen. Dort entstand auch eine armenisch-katholische Schule.10 In Neu-Jolfa wurden katho­ lische Armenier von den Lazaristen und den Barmherzigen Schwestern betreut, bevor 1911 ein armenischer Priester dorthin entsandt wurde. Insgesamt war die Zahl der katholischen Armenier aber nie besonders groß.11 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren alle Christen Persiens entweder Armenier oder Ostsyrer, von den Persern und Türken Assori genannt, woraus sich später die Bezeichnung Assyrer entwickelte. Die Assori gehörten teils der Kirche des Ostens (oft auch als Nestorianer bezeichnet), teils der mit Rom verbundenen chaldäischen Kirche an. Sie sprachen einen neu-ostaramäischen Dialekt, der sich von der altsyrischen Kirchensprache deutlich unterschied. Armenier lebten zum Teil als Händler, Geschäftsleute und Handwerker in den Städten, zum Teil als bäuerliche Bevölkerung auf dem Land. Assyrer gehörten in Persien fast ausschließlich der Landbevölkerung an. Sie lebten als raʿya, abhängige Bauern, auf dem Land persischer oder kurdischer 8 9 10 11

Golnazarian-Nichanian 2009:40–51. Berberian 2001:43–44, 46; Golnazarian-Nichanian 2009:58–62. Golnazarian-Nichanian 2009:76, 78–79. Bugnini 1981:282.

Das Christentum in Persien

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Landbesitzer (aġas); nur wenige Armenier und Assyrer besaßen selbst größere Landflächen. Wie die muslimischen raʿya führten sie ein ärmliches Leben in Abhängigkeit von Landbesitzern und Geldverleihern. Um 1900 waren von den rund 300 Dörfern auf dem Plateau von Urmia etwa 60 ausschließlich von Christen bewohnt (rein assyrisch oder gemischt assyrisch-armenisch), andere nur von Muslimen, wieder andere hatten eine gemischte Bevölkerung. Die Zahl der Assyrer betrug in den Dörfern 30.000 bis 40.000, in der Stadt Urmia rund 7.000.12 Die Assyrer der Kirche des Ostens wurden im 19. Jahrhundert zum Spielball der europäischen Mächte und der Missionsbestrebungen der Kirche von England, der amerikanischen Protestanten, französischen Katholiken und der russisch-ortho­ doxen Kirche. Der Patriarch der „Nestorianer“ residierte seit dem 17. Jahrhundert in Qotcha­nes, einem Dorf in den unwegsamen Bergen der ostanatolischen osmanischen Provinz Hakkari. Die Gläubigen in Persien wurden von mehreren Bischöfen mit Sitz in unterschiedlichen Dörfern betreut. Das Bildungsniveau des verheirateten Klerus war sehr niedrig. Wie die restliche Bevölkerung mussten auch die Priester mit der Land­wirtschaft den Unterhalt für sich und ihre Familien erwirtschaften. Das kirchliche Leben beschränkte sich auf die überkommene Liturgie sowie Familienereignisse (Taufen, Heiraten, Begräbnisse) und bestimmte Heiligenfeste. Den protestantischen Missio­naren erschienen die Formen festgefahren. Die katholischen Missionare suchten den Anschluss an Rom. Beide bemühten sich um die Hebung des Bildungsstandes für Klerus und einfache Gläubige. So entstanden die Missionseinrichtungen mit ihren Schulen und Druckerpressen. Katholische und amerikanische Mission entwickelten auch je eine eigene Form der modernen gesprochenen Sprache der Assyrer, lehrten sie in ihren Schulen und verbreiteten sie über die Produkte ihrer Druckerpressen.13 Zentrum der katholischen Mission war Khosrova (Khosrovabad) bei Salmas, wo der chaldäische Bischof seinen Sitz hatte. Seit 1890 gab es auch einen zweiten Bischof in Urmia. Eine kleine Gruppe von Chaldäern lebte außerdem in Sena (Sanandaj), im südlichen Teil des persischen Kurdistan. Sie waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Region Erbil dorthin ausgewandert. Sie lebten nicht von der Landwirtschaft, sondern waren Handwerker. Unter rund 25.000 kurdischen Einwohnern lebten am Ende des 19. Jahrhunderts etwa 65 chaldäische und 250 jüdische Familien.14 Der Unterstützung der chaldäischen Kirche in Persien diente auch die Mission der Lazaristen und Barmherzigen Schwestern. Ihr war eine private Mission des französischen Orientalisten Eugène Boré vorangegangen, der in Aserbaidschan und Neu-Jolfa eine Reihe von Schulen für Armenier gegründet hatte.15 1840 begannen französische Lazaristen 12 Hellot-Bellier 2006:81–84. 13 Joseph 1961:37–39; Yonan 1978:88; Le Coz 1995:356–360; Teule 2008:35–36; Hellot-Bellier 2014:7–49. 14 Hellot-Bellier 2014:7–50. 15 Sie wurde vom Œuvre de la Propagation de la Foi, der von Pauline Jaricot 1822 in Lyon gegründeten Missionsgesellschaft, unterstützt. Die Gründung katholischer Schulen für Armenier rief in Jolfa den Zorn des armenisch-orthodoxen Bischofs Khachatur hervor. Er brachte die armenische Bevölkerung gegen die Katholiken auf, wurde aber auf Intervention des russischen Gesandten (sic!) in Teheran von der Regierung ausgewiesen und nahm Asyl in Etchmiadzin. Allerdings wendete sich das Blatt, als

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ihre Mission in Tabriz, von wo sie bald nach Urmia (1843) umsiedelten. Im Jahr 1856 kamen die Barmherzigen Schwestern hinzu. Zwischen den Lazaristen und den amerikanischen Missionaren gab es heftige Rivalitäten, in die sich auch die Gesandten Englands und Russlands einmischten. Im Jahr 1913 betrieben Lazaristen und Barmherzige Schwestern in der Region Urmia 63 Schulen, zwei Waisenheime und das chaldäische Priesterseminar in Khosrova. 1861 eröffneten die Lazaristen eine Station in Teheran, 1900 in Tabriz und 1904 in Isfahan. Urmia war auch der Sitz des Apostolischen Delegaten in Persien, der gleichzeitig lateinischer Erzbischof von Isfahan war.16 1831 begann das American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM) der kongregationalistischen Kirche die Arbeit in Persien. 1835 eröffneten sie eine Missionsstation in Urmia mit dem Ziel, die dortigen Assyrer mit ihrem Glaubens- und Kirchenverständnis vertraut zu machen, „The Nestorian Mission“. Die „Mission to the Mohammedans“ (1834–1841) wurde bereits nach wenigen Jahren wieder aufgegeben. 1869 wurde die Nestorianer-Mission in „Mission to Persia“ umbenannt und ihr Missionsgebiet auf den ganzen Norden des Landes ausgedehnt. 1870 übergab das American Board die Arbeit in Persien und das Presbyterian Board of Foreign Missions (PBFM). Neben Urmia bauten die Presbyterianer sechs weitere Standorte auf: Teheran (1872), Tabriz (1873), Hamadan (1881), Rasht (1902), Kermanshah (1905) und Mashhad (1911). Die amerikanische Mission konzentrierte ihr Wirken in Urmia und den Dörfern auf die Schul- und Krankenhausarbeit. Diese lief neben den Aktivitäten der lokalen evangelischen Kirche und wurde aus den USA finanziert, mit Missionaren aus Amerika personell bestückt und teilweise gesteuert. Im Jahr 1909 betrieben die Presbyterianer des PBFM im Iran 62 Schulen und vier Krankenhäuser.17 Neben den Presbyterianern war eine Zeit lang auch die englische Church Mission Society (CMS) in Urmia und Umgebung präsent. Von dort startete ab 1886 „The Arch­ bishop of Canterburyʼs Mission to the Assyrian Christians“. Ab 1887 gründeten sie in mehreren Dörfern rund um Urmia und Salmas Schulen für Jungen und Mädchen. 1890 folgten ihnen die Diakonissen von Bethanien, die jedoch wegen gesundheitlicher Probleme 1897 wieder abgezogen wurden. 1903 gab die CMS Urmia auf und verlegte die Mission ganz nach Van im Osten des Osmanischen Reichs.18 Innerhalb der assyrischen Kirche des Ostens war auf Betreiben der amerikanischen Missionare 1855 die erste reformierte Gemeinde, knusha, entstanden. Sie bestand aus reformiert eingestellten Gläubigen und Priestern. Bald wuchs ihre Zahl auf 60 mit über 3.000 Mitgliedern an. Sie bildeten 1862 die Assyrian Evangelical Knusha innerhalb der Assyrischen Kirche. Als jedoch einzelne Priester und Mitglieder dieser knusha in die im folgenden Jahr des russische Gesandte wechselte. In Zusammenhang mit dem „anti-katholischen“ Ferman von 1842 (siehe Einführung Persien) wurde Bischof Khachatur die Rückkehr erlaubt. Dafür wurden mehrere französische Lazaristen ausgewiesen. O Flynn 2016:710–722. 16 Bugnini 1981:304–309, 314–317; Hellot-Bellier 2006:91–96; Hellot-Bellier 2014:175–187; O Flynn 2016:720–756. 17 Mission Work 1936:5–14; Kawerau 1958:217–233, 273–284; Waterfield 1973:133–139; Schwartz 1979; Chevalier 1985:66–68; Schwartz 1985:41–63; O Flynn 2016:604–638. 18 Coakley 1992:98–269; Hellot-Bellier 2014:187–192.

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alten Formen zurückfielen, bildete sich in Geogtapa die erste selbstständige presbyterianische Gemeinde. Vier knushas schlossen sich zu einer Synode zusammen. Sie hatte 762 Kommunikanten, darunter drei Bischöfe, sieben Priester, zahlreiche Diakone und ein Bruder des früheren Patriarchen. Die Synode wurde 1890 in die Pan-Presbyterian Alliance aufgenommen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte sie etwa 3.000 praktizierende Mitglieder sowie 7.000 Interessenten.19 Neben der katholischen Kirche und den verschiedenen protestantischen Gruppen20 suchte auch die russisch-orthodoxe Kirche ihren Einfluss auf die Christen im Nordwesten Persiens auszudehnen. Im Zuge der Expansionspolitik Russlands im Kaukasus hatten sich seit 1867 bereits mehrere russische Konsuln um Kontakte zur Kirche des Ostens bemüht. Nach mehreren vergeblichen Versuchen der nestorianischen Hierarchie, mit der russisch-orthodoxen Kirche in Gemeinschaft zu kommen, fand ein diesbezügliches Schreiben von Bischof Yonan (oder Yohannan) von Supurqan und Urmia 1895 Gehör bei der Heiligen Synode. Nach dem Besuch einer Kommission der russisch-orthodoxen Kirche in Aserbaidschan begab sich der Bischof 1898 nach Sankt Petersburg, wo er vor der Heiligen Synode den „nestorianischen Irrtümern“ abschwor und am 25. März des julianischen Kalenders (6. April 1898) feierlich in die Gemeinschaft der orthodoxen Kirche aufgenommen wurde. In Urmia wurde eine russische Mission eröffnet. 15.000 (manche Quellen behaupten sogar 20.000 bis 25.000) Assyrer sowie einige Armenier (vor allem aus gemischten Dörfern) schlossen sich der russisch-orthodoxen Kirche an. Bischof Yonan starb 1908. Zu seinem Nachfolger wurde in Petrograd Mar Elias gewählt. Die russisch-orthodoxe Mission unterhielt 68 Dorfschulen und zwei weiterführende Schulen. Der nach Urmia entsandte russische Archimandrit mischte sich 19 Durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs wurde die Gemeinde stark erschüttert. Nur einzelne Assyrer und Gemeindemitglieder kamen nach 1920 nach Urmia zurück. Erst 1929 wurde die Knusha neu organisiert und wuchs anschließend langsam. 1933 schlossen sich alle presbyterianischen Gemeinden aus dem Iran, insgesamt 2.272 Gläubige, unter dem Namen Evangelical Church in Iran zusammen. Sie bildeten drei Regionen (Nord: Urmia, Ost und West) mit jeweils einer eigenen District Assembly, „Anǧomān“. Mission Work 1936:106–109, 121–124. 20 Neben Presbyterianern und Anglikanern waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere protestantische Gruppen in Urmia und Umgebung aktiv: Die United Lutheran Church of America, die Swedish-American „Augustana Synode“, der Evangelische Verein zur Förderung der Nestorianischen Kirche (gründet 1905 in Berlin), die Deutsche Orient-Mission, die English Plymouth Brethren, Holiness Methodists, American Southern Baptists, Northern Baptists und English Congregationalists. Joseph 1961:123, 129; Hellot-Bellier 2014:160–174, 198–204. Auch die Hermannsburger Mission aus Deutschland war von 1875 bis 1841 in der Region präsent. Sie wirkte zunächst unter den Assyrern und unterstützte die sogenannten „lutherischen Nestorianer“. In Urmia entstand so etwas wie ein lutherisch-reformierter Zweig innerhalb der Kirche des Ostens. Dieser wehrte sich gegen die Union der Assyrer mit der russisch-orthodoxen Kirche. Der assyrische Bischof von Urmia, Mar Ephrem (ab 1908) wandte sich, nachdem er vergeblich finanzielle Hilfe bei der anglikanischen Mission gesucht hatte, an die amerikanischen Lutheraner, die von der Hermannsburger Mission unterstützt wurde. Durch Vermittlung der Hermannsburger konnte schließlich eine Kirche in Urmia gebaut und 1911 geweiht werden. Allerdings kam es 1913 zum Bruch der Hermannsburger mit dieser Gemeinschaft; das Weitere ging aber in den Wirren des Jahres 1915 unter, die Hermannsburger verließen Urmia und kamen nie zurück. Allerdings führten sie die 1910 begonnene Mission in Mahabad unter den Kurden trotz der Unruhen in diesem Gebiet bis 1941 fort. Dabei wurden die Missionare mehrfach Opfer von Überfällen und hatten mehr als einen Toten zu beklagen. Tamcke 2000.

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von 1909 bis zum Ersten Weltkrieg hartnäckig auch in zivile Angelegenheiten ein und verärgerte damit nicht nur muslimische Behörden, sondern auch die Amtsträger der anderen Kirchen.21 Im Süden Persiens hatte 1869 die anglikanische Church Mission Society (CMS) ihre Arbeit in Isfahan begonnen.22 Sie eröffnete im Laufe des 19. Jahrhunderts neben Isfa­ han weitere Stationen in Kerman (1897), Yazd (1898) und Shiraz (1900) und widmete sich in erster Linie der Schul- und Krankenhausarbeit. Anders als die presbyterianischen Missionare suchte die CMS nicht, eigene Gemeinden aus den Reihen der orientalischen Kirchen – im persischen Wirkungsgebiet der CMS war dies namentlich die armenisch-apostolische Kirche – zu gewinnen. So blieb die Zahl der anglikanischen Gläubigen sehr gering. Neben Ausländern bestand sie aus einer kleinen Zahl (einige Hundert) von Konvertiten aus dem Judentum, dem Islam und dem Bahaismus. 1913 wurde ein anglikanisches Bistum für Persien errichtet und der CMS-Missionar Charles H. Stileman zum ersten Bischof geweiht. Er musste allerdings schon 1913 aus Gesundheitsgründen zurücktreten und das Bistum blieb während des Ersten Weltkriegs vakant. Im September 1915 wurden alle Briten des Landes verwiesen, viele Missionare konnten allerdings schon im Sommer 1916 zurückkehren, nachdem russische Truppen weite Teile des Landes bis nach Isfahan besetzt hatten.23 21 Abramtsov 1960; Joseph 1961:120–122; Galletti 2003:127–128; Hellot-Bellier 2014:192–198. Mar Elias geriet 1915 in türkische Gefangenschaft, konnte aber fliehen. Bei der Flucht der Assyrer 1918 folgte der Bischof den Gläubigen, kam aber mit den wenigen Rückkehrern zurück nach Urmia, wo er 1929 starb. Sein Nachfolger, Mar Ivanios, wurde 1931 von der Synode von Karlowitz eingesetzt (der nicht unter Kontrolle der Sowjets stehenden russisch-orthodoxen Kirche) und bezog Residenz in Bagdad. Er begab sich 1952 in die USA und blieb dort. Die Diözese Urmia-Salmas blieb anschließend vakant. Es blieb nur die russisch-orthodoxe Mission mit Sitz in Teheran. 22 Auf die Arbeit in Isfahan ging auch die revidierte Übersetzung der Bibel in persischer Sprache zurück, die die British and Foreign Bible Society 1882 herausgab. Die erste Übersetzung des Neuen Testaments war von Henry Martyn in Indien begonnen und 1811 in Shiraz beendet worden. Lyko 1964:52. 23 1919 wurde ein neuer Bischof ernannt. In den 1920er Jahren arbeiteten die Anglikaner in Isfahan, Yazd und Kerman in Schulen und Krankenhäusern und besuchten die umliegenden Dörfer. 1922 wurde eine neue Station in Shiraz eröffnet. Der Bischof bemühte sich um die Ausbildung eines einheimischen Klerus und begann Iraner auf die Ordination vorzubereiten. 1935 wurden die ersten beiden Iraner ordiniert. Allerdings entwickelten sich die Gemeinden nur langsam. Ende der 1930er Jahren betrug die Zahl der Gläubigen nur 350. Joseph 1961:88; Waterfield 1973:156–171. Ein Teil der evangelischen Gemeinden entstammt der englischen Churchʼs Ministry to the Jews (CMJ). Durch die Bildungsarbeit konnten seit Ende des 19. Jahrhunderts einige Juden für das Christentum gewonnen werden. Mit der Machtergreifung Reza Khans und seinen Reformen verließen allerdings viele Juden den Iran, meist um dem Militärdienst zu entgehen. Das war ein harter Schlag für die hebräischen christlichen Gemeinden. Die Schule der CMJ musste 1928 geschlossen werden. Die judenchristliche Gemeinde wuchs in den folgenden Jahren enger mit der anglikanischen Gemeinde aus Konvertiten vom Islam und dem Bahaismus zusammen. In Teheran erfolgte eine Integration in die presbyterianische Gemeinde, weil die anglikanische Kirche dort nicht präsent war. Die Knabenschule in Teheran musste 1937 schließen, allerdings wurden in den Folgejahren immer wieder kurzlebige Versuche unternommen, sie wiederzueröffnen. 1968 wurde die Arbeit der CMJ in die anglikanische Diözese Iran integriert. Waterfield 1973:121–123. Über die Rolle von Frauen in der CMS-Arbeit siehe Francis-Dehqani 2000. Frauen waren in erster Linie in der Erziehung von Mädchen, der Erstevangelisierungsarbeit mit Frauen sowie in den Krankenhäusern und Gesundheitsstationen aktiv.

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Vernichtung und Vertreibung: Der Erste Weltkrieg und das Schicksal der Christen in Aserbaidschan Die Christen Aserbaidschans waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwischen dem Einfluss verschiedener Mächte hin- und hergerissen. 1906 hatten osmanische Truppen den größten Teil des Gebiets westlich des Urmia-Sees, allerdings mit Ausnahme der Stadt Urmia selbst, besetzt.24 Das Gebiet wurde als „umstrittenes Territorium“ bezeichnet. Angesichts des italienischen Einfalls in Tripolitanien und der sich abzeichnenden Balkankriege zogen sich die Osmanen 1911 von dort zurück. Die Russen hatten bereits seit den Wirren der konstitutionellen Revolution Truppen in Aserbaidschan und nutzten den osmanischen Rückzug, um nun auch Urmia zu besetzen. Damit lebten die meisten Christen Aserbaidschans de facto unter russischer Herrschaft. Die Missionare der russisch-orthodoxen Kirche, die bereits seit der Konversion eines Teils der assyrischen Bevölkerung zur russischen Kirche im Jahr 1898 in Aserbaidschan waren, gewannen erheblichen Einfluss und zogen sich den Hass der muslimischen Bevölkerung zu.25 Der assyrische Patriarch Mar Shimʼun war stark von Missionaren der anglikanischen Kirche beeinflusst und pflegte daher gute Kontakte nach England. Die Protestanten dagegen waren durch die presbyterianischen Missionare eng mit den USA verbunden. Die katholischen Chaldäer wiederum setzten wie im übrigen Orient hauptsächlich auf den Schutz Frankreichs, die traditionelle Schutzmacht der Katholiken im Osmanischen Reich; eine Rolle, für die es in Persien allerdings nicht die gleiche rechtliche Grundlage gab wie im Osmanischen Reich. Dennoch erklärte der chaldäische Bischof von Khosrova, Petros Aziz, gegenüber dem französischen Konsul im Jahr 1912: „Die Chaldäer Persiens betrachten Frankreich als Beschützer der Katholiken des gesamten Orients. […] Wir Katholiken des Orients sind daran gewohnt, Frankreich als unseren natürlichen Beschützer zu sehen, ob es das will oder nicht. Und wenn es diesen, für uns Katholiken Persiens traditionellen Titel

24 Während der osmanischen Besetzung der Region Urmia spielte sich Agha Petros Elia zum osmanischen šāhbender, einer Art Konsul, auf, ohne von den iranischen Behörden jemals als solcher anerkannt worden zu sein. Er vertrat damit all diejenigen, die einen sogenannten deḫālat unterschrieben hatten, womit sie sich dem Schutz des Sultans in Istanbul unterstellten. Die türkischen Behörden drängten zahlreiche Iraner in dieser Zeit, dieses Dokument zu unterschreiben, um ihren Einfluss zu vergrößern. Hellot-Bellier 2014:298. 25 Aber auch zwischen den christlichen Konfessionen gab es aufgrund der russischen Intrigen heftigen Zwist. So war in Khosrova von der lokalen Chaldäischen Union (Khodaya Kaldaia) 1911 ein Rat gebildet worden. Er opponierte gegen den aus der Provinz Mossul stammenden chaldäischen Bischof Petros Aziz und rief die Russen zu Hilfe. Im September begab sich der russisch-orthodoxe Archimandrit Sergios von Urmia nach Khosrova und gewann im Gefolge russischer Kosaken einige Anhänger in dem sonst chaldäischen Dorf. Russland ernannte Mirza Benyamin, Mitglied der Chaldäischen Union, zum Konsularagenten und versuchte so weiteren Einfluss im Dorf zu gewinnen. Dieser beschlagnahmte das Bischofshaus für die russischen Truppen, musste aber nach einer gemeinsamen Untersuchung von Russen und Lazaristen Khosrova 1912 verlassen und floh nach Urmia zu Archimandrit Sergios. Der chaldäische Bischof Petros Aziz konnte zurückkehren. Bugnini 1981:227–229; Eyler 1996:65–75.

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weiterhin zurückweist, dann werden wir es [Frankreich] im Namen der Menschlichkeit anrufen.“26 Der Erste Weltkrieg bedeutete für fast alle Christen der persischen Provinz Aserbaidschan Vertreibung oder Tod. Das Drama spielte sich in mehreren Akten ab. Bis zum Jahreswechsel 1914/15 kontrollierten russische Truppen die Region. Als diese Anfang Januar 1915 überraschend abzogen, flohen Tausende Christen mit ihnen. Der Rest flüchtete sich vor den türkischen und kurdischen Einheiten in die amerikanische (Protestanten) und französische Mission (katholische Lazaristen). Im Mai 1915 rückten die Russen wieder vor und vertrieben die Osmanen. Viele der Geflüchteten kehrten zurück. Allerdings war das Verhältnis zwischen kriegerischen Bergassyrern („Jelo“) und der ansässigen Bevölkerung gespannt. Es kam zu Racheaktionen und räuberischen Übergriffen von Seiten einiger Christen, die Russland in ihrem Rücken wussten. Immer wieder kam es zu Zwischenfällen, die den Hass der Muslime auf die Christen nährten. Als sich die Russen im Februar 1918 erneut zurückziehen mussten, brach in der Region das totale Chaos aus. Nachrückende türkische Truppen, marodierende Kurden und rachsüchtige lokale Muslime fielen über Christen her, die sich durch die Aufstellung eigener Einheiten zu schützen suchten. Die christlichen Einheiten verübten Übergriffe und Racheakte, so nach der Ermordung des assyrischen Patriarchen durch den Kurdenführer Simko im März 1918. Die Alliierten (Russen, Engländer und Franzosen) unterstützten die Bewaffnung der Assyrer und Armenier, um Verbündete im Kampf gegen die Osmanen zu haben. Aber die christlichen Einheiten konnten das Vorrücken der Osmanen nicht stoppen. Ende Juli nahmen die osmanischen Truppen Urmia ein. Fast die gesamte christliche Bevölkerung war in der Nacht zuvor Richtung Süden geflohen, um bei den britischen Truppen Schutz zu suchen. Die wenigen verbliebenen Christen in der Stadt überließen die Türken den Plünderungen der Kurden und der Rachelust der örtlichen Muslime. Damit war fast die gesamte christliche Bevölkerung der Region vertrieben worden oder den Massakern zum Opfer gefallen.

Flucht in den Kaukasus Mit Beginn des Ersten Weltkriegs begannen kurdische Einheiten Dörfer zu überfallen und die Bewohner zu vertreiben oder zu töten. Bereits am 28. September 1914 bedrohten kurdische Einheiten Urmia, nachdem sie fünf christliche Dörfer in der Nähe niedergebrannt hatten. Assyrer und Armenier suchten ihr Heil bei den Russen. Letztere bewaffneten assyrische und armenische Kämpfer und stellten eigene Einheiten auf: Assyrer unter Agha Petros Elia, Armenier unter Andranik Ozanian und anderen. Diese christlichen Kampfverbände beteiligten sich dann an russischen Vergeltungs­ 26 „Les Chaldéens de Perse considèrent la France comme la protectrice des catholiques dans tout lʼOrient. […] Nous autres, catholiques de lʼOrient, sommes habitués à regarder la France comme notre protectrice naturelle, quʼelle le veuille ou non, et si elle persiste à rejeter ce titre traditionnel pour nos catholiques de Perse, alors cʼest au nom de lʼhumanité que nous lʼabordons.“ Zitiert bei Hellot-Bellier 2014:255.

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aktionen für kurdische Angriffe. Unter den amerikanischen Missionaren und den französischen Lazaristen ließ dies die Sorge wachsen, dass sich Christen in den Augen der muslimischen Bevölkerung kompromittieren könnten. Am 2. Januar 1915 zogen sich die Russen überraschend aus Urmia und Salmas bis nach Khoi zurück. Mit den russischen Truppen verließen die russisch-orthodoxe Mission, die beiden anglikanischen Missionare, die Deutsche Orient-Mission und ein Lazarist, der sehr eindeutig gegen die Kurden Partei ergriffen hatte, Urmia. „Wenn die Russen von hier abziehen sollten, so müssen wir, wie wir gehen und stehen, mit ihnen laufen, sonst sind wir verloren,“ hatte bereits einige Tage vorher der für die Hermannsburger Mission arbeitende assyrische Pfarrer Luther Pera nach Deutschland gemeldet.27 Aus Angst vor den Türken und Kurden flohen tatsächlich 20.000 Christen (10.000–15.000 Assyrer, der Rest Armenier) unvorbereitet und zu Fuß mit den russischen Truppen Richtung Norden. Unter ihnen waren auch die chaldäischen Bischöfe von Salmas, Petros Aziz, und Van, Jacques-Eugène Manna. Sie suchten Schutz im Kaukasus jenseits des Grenzflusses Araxes. Angesichts des harten Winters starben viele von ihnen auf dem Weg an Kälte, Auszehrung oder Krankheiten. In Jolfa kamen rund 44.000 Christen aus der gesamten Region (den Ostprovinzen des Osmanischen Reichs und der persischen Provinz Aserbaidschan) an und mussten versorgt werden, davon etwa 24.000 Armenier und 20.000 Assyrer. Der armenisch-apostolische Bischof von Aserbaidschan, Melik Tangian, hatte Tabriz verlassen und bemühte sich um die Hilfe für die Flüchtlinge. Dafür nahm er sogar den Konflikt mit dem Katholikos von Etchmiadzin in Kauf, der ihn an seinen Sitz zurückbeordert hatte. Der katholische apostolische Delegat, Jacques-Emile Sontag, blieb in Urmia in der Mission der Lazaristen zurück. Am 4. Januar besetzten türkisch-kurdische Truppen die Stadt. 17.000 Christen aus Urmia und den umliegenden Dörfern suchten in der presbyterianischen Mission unter amerikanischer und 3.000 bei den Lazaristen unter französische Flagge Schutz. Die lokalen muslimischen Notablen setzten sich für den Schutz der Christen und der Missionen ein und unterstützten die Missionare bei der Versorgung der Menschen. Dennoch starben durch Krankheiten und Seuchen Hunderte in den völlig überfüllten Missionsstationen. Im Februar exekutierten die osmanischen Truppen über vierzig Christen aus Mawana, die sich dem Vormarsch von Kurden und Osmanen widersetzt hatten. In verschiedenen christlichen Dörfern rund um Urmia kam es zu Massakern und Massenhinrichtungen, denen mehrere tausend Menschen zum Opfer fielen.28

27 Zitiert bei Tamcke 2000:246. 28 Joseph 1961:132–134; de Mauroy 1978:8; Bugnini 1981:229–233; Le Coz 1995:364–369; Galletti 2003:129; Golnazarian-Nichanian 2009:113–129, 139–142; Weibel Yacoub 2011:76; Bellot-Hellier 2014:411–462.

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Rückkehr, Rache, Räubertum Im Mai 1915 kehrten die Russen zurück. Die Christen suchten erneut Schutz bei den russischen Besatzern. Eine Kommission zur Rückgabe der geplünderten Güter wurde eingesetzt. Sie verübte nun aber ihrerseits Racheakte an Muslimen und beschlagnahmte unrechtmäßig muslimisches Eigentum. Ab Juni 1915 wurden die Flüchtlinge im Kaukasus von den russischen Behörden aufgefordert, in ihre Heimat zurückzukehren. Für die Armenier bemühte sich Bischof Melik Tangian um die Organisation und die Hilfen für die Rückkehrer. Im Juli rückten die Türken nochmal auf Urmia vor, wurden allerdings schnell zurückgeschlagen. Rund um Urmia hielten sich nun auch die von den Türken aus dem Hakkari vertriebenen „Bergnestorianer“, von der lokalen persischen Bevölkerung nach einem ihrer Stämme „Jelo“ genannt, auf. Das Zusammenleben dieser kriegerischen Assyrer mit den Persern, Assyrern und Armeniern Aserbaidschans war nicht unproblematisch. Sie pflegten eine völlig andere Lebensart als die Ackerbauern der Urmia-Ebene. Die Russen bewegten die kriegerischen Hakkari-Assyrer zum Kampf an ihrer Seite; trainiert wurden sie von russischen und einigen britischen und französischen Offizieren. Aber nicht nur Bergassyrer waren ins persische Aserbaidschan gekommen. Organisiert vom Armenischen Komitee in Tiflis, strömten auch bewaffnete Armenier aus dem Kaukasus ins persische Aserbaidschan, um dort gegen die Osmanen und Kurden zu kämpfen (armenische Fedayi). Die lokale armenische Bevölkerung beteiligte sich dagegen kaum an den Kampfhandlungen und blickte mit Misstrauen auf die Fedayi. Jelo und Fedayi wurden von der muslimischen Bevölkerung Persiens mit den „Christen“ der Region identifiziert und prägten das Bild, das sich Muslimen von den Christen machten. Dies rief Ressentiments unter der persischen Bevölkerung hervor. Der armenische Bischofsvikar ahnte die Gefahr und schrieb in einem Brief an den Katholikos in Etchmiadzin: „Es haben sich Leute gefunden, die Plünderungen verübt und viel Gewalt angewendet haben, besonders assyrische Jelo aus den Bergen, die den Charakter der bewaffneten und wilden Kurden haben. Sie haben viel Unheil unter den Muslimen angerichtet, aber die letzteren sind nicht in der Lage, einen Unterschied zu machen zwischen Arme­ niern und Jelo, und schreiben alles den Armeniern zu.“29 Die Disziplin der russischen Truppen brach nach der Oktoberrevolution in Russland zusammen. Die Soldatenräte waren nicht in der Lage, die Truppen unter Kontrolle zu halten. Versorgungsschwierigkeiten taten ein Übriges. Im Dezember 1917 plünderten russische Soldaten zusammen mit assyrischen Jelo den Basar in Urmia. Damit wuchs der Hass der persischen Bevölkerung nicht nur auf die Russen, sondern auch auf ihre christlichen Verbündeten. Angesichts der Schwäche der Russen organisierten die 29 „Il sʼest trouvé des gens qui ont accompli des pillages et qui ont exercé beaucoup de violence, particulièrement des montagnards Assyriens-Jelo qui ont le caractère des Kurdes, armés et sauvages. Ils ont causé beaucoup de malheurs aux musulmans, mais ces derniers nʼétant pas capables de distinguer la différence entre Arméniens et Jelo, mettent tout sur le dos des Arméniens.“ Zitiert bei Golnazarian-Nichanian 2009:212–213.

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Briten im Januar 1918 in Urmia einen Central Council of Syrians. Er bestand aus sechs Mitgliedern (drei für militärische und drei für innere Angelegenheiten) und wurde von Patriarch Mar Shimʼun geleitet. Dann rief ein britischer Verbindungsoffizier zur Bildung christlicher Militäreinheiten auf. Mit der Unterstützung französischer und russischer Offiziere wurden sechs christliche Einheiten ausgehoben: vier assyrische und zwei armenische (fast 5.000 Freiwillige, davon 4.000 osmanische Untertanen, Armenier und Jelo, und 700 iranische Untertanen aus Urmia). Sie sollten die Front zu Anatolien im Falle, dass die russischen Einheiten völlig zusammenbrechen, halten. Die persische Regierung protestierte formal gegen die Organisation von Einheiten auf ihrem Staatsgebiet, Persien war offiziell neutral im Krieg. Allerdings war das Land nicht in der Lage, sein Staatsgebiet militärisch zu schützen. Die Bildung weiterer christlicher Militäreinheiten sowie Gerüchte, dass die Assyrer einen eigenen Staat gründen und Mar Shimʼun entweder zum „König“ eines solchen Staats oder zum Gouverneur von Urmia machen wollten, beunruhigten die persische Bevölkerung. Zwar waren die Gerüchte falsch, aber die entsprechenden Bekundungen Mar Shimʼuns fanden kein Gehör.30

Massaker, Selbstverteidigung und Vergeltung Anfang Februar zogen sich die russischen Truppen aus Persien zurück, türkische Einheiten rückten nach. Es folgte eine Periode völliger Unordnung. In Khoi wurden 2.000 assyrische Flüchtlinge zusammen mit der armenischen Bevölkerung abgeschlachtet, nachdem in den Hilfslieferungen für die christliche Bevölkerung Waffen gefunden worden waren. Die Angst der Muslime vor den christlichen Jelo war groß. In Dilman suchten Hunderte Christen Unterschlupf bei Muslimen. Der türkische Kommandant ließ jedoch sämtliche Häuser durchsuchen und rund 800 Armenier hinrichten. Am 19. Februar wollten in Urmia Polizisten zwei Jelo entwaffnen. Diese wehrten sich und während der entstandenen Unordnung ermordeten Assyrer aus dem Kaukasus mehrere Muslime in der Stadt. Nun fürchteten die Christen Vergeltungsmaßnahmen. In dieser Situation postierten christliche Einheiten Kanonen auf einem Hügel vor Urmia und begannen die muslimischen Stadtviertel zu beschießen. Auch in der Stadt brachen Kämpfe aus. Viele Muslime suchten Schutz in christlichen Häusern und in den Missionen. Nach drei Tagen kapitulierten die Muslime, doch undisziplinierte Einheiten von Assyrern und Armeniern plünderten weiterhin Häuser und töteten Muslime. Nach einigen Tagen griffen die persischen Kosaken ein, aber ihr Führer wurde getötet. Die Zeitung Taǧaddod in Tabriz beschuldigte die Christen insgesamt der Taten. Nun machte sich unter den Christen erst recht Angst vor Vergeltungsmaßnahmen breit.

30 Golnazarian-Nichanian 2009:165–169; Hellot-Bellier 2014:479–521. Hintergrund für die Gerüchte mögen Forderungen der 1909 von assyrischen Migranten im Kaukasus gegründeten sozialdemokratischen assyrischen Partei, Khodaya Aturaya, gewesen sein. 1917 forderte die Partei die Gründung einer „Assyrischen demokratischen Republik“ und agitierte auch im Bereich Urmia. Diese Republik sollte Hakkari, Tur Abdin, Jazira, Mossul und Urmia umfassen. Hellot-Bellier 2014:270–272.

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Unter dem Vorwand von Friedensverhandlungen lockte der kurdische Stammesführer Ismail Agha Simko den assyrischen Patriarchen Mar Shimʼun Benyamin im März 1918 nach Kohneshahr, seiner Residenz. Dort wurde jedoch der Patriarch mit seiner sechzigköpfigen Begleitung von den Kurden niedergemacht. Möglicherweise suchte Simko auf diese Weise die Sympathie der persischen Staatsmacht zu gewinnen. Christliche Kämpfer ermordeten daraufhin aus Rache in Urmia etwa 20 islamische Würdenträger und ihre Familien. Armenische Fedayi aus dem Kaukasus durchsuchten die Häuser in Urmia auf der Suche nach Sunniten, um diese zu töten. Agha Petros brach nach der Ermordung des Patriarchen am 30. März zu einer Vergeltungsaktion auf und verwüstete ein kurdisches Dorf in der Ebene von Salmas. Simko seinerseits ließ im April 280 Christen in Dilman massakrieren und wenige Tage später die Armenier von Qotur, geschätzt 5.000 Personen. Zum Nachfolger des getöteten Patriarchen wurde in der Zwischenzeit dessen jüngerer Bruder, Mar Shimʼun XXII. Paulos, gewählt. Während diese Unruhen in vollem Gange waren, verließ im April die Mannschaft des französischen Lazaretts Urmia, mit ihr gingen die Barmherzigen Schwestern. Unterdessen rückten die Osmanen immer weiter vor. Die Einheiten von Agha Petros konnten die türkischen Truppen nur kurzzeitig stoppen. Am 15. Juni 1918 nahmen die osmanischen Einheiten und ihre kurdischen Hilfstruppen Salmas ein. Die dortigen Christen, zusammen mit 18.000 armenischen Flüchtlingen aus der osmanischen Provinz Van, insgesamt 35.000 Personen, flohen in Panik Richtung Urmia. Die verbliebenen Christen wurden in der Ebene von Salmas gnadenlos von den Kurden Simkos niedergemacht. Fast 5.000 Christen sollen getötet worden sein. Die Überlebenden flohen in die osmanische Provinz Van. Dort plünderten die ausgehungerten Flüchtlinge die Häuser und Vorräte der Bevölkerung, so dass der Hass auf die Christen noch größer wurde, als er ohnehin schon war.31

Von Urmia in den Irak Als schließlich irreguläre kurdische Einheiten zusammen mit den osmanischen Truppen am 30. Juli vor Urmia auftauchten, floh fast die gesamte christliche Bevölkerung (Assyrer und Armenier), etwa 75.000 Personen. Die Briten hatten den christlichen Einheiten eine Vereinigung der Truppen in Saʼinqaleh, 150 Kilometer südöstlich von Urmia, in Aussicht gestellt. Mar Shimʼun Paulos und Agha Petros führten in der Nacht die Bewaffneten, sowie den größten Teil der christlichen Bevölkerung mitsamt der Alten, Frauen und Kinder aus Urmia Richtung Südosten. Auf der Flucht wurden sie immer wieder von Kurden angegriffen; Frauen wurden entführt, Flüchtlinge getötet. Bei Saʼinqaleh gerieten sie in einen türkischen Hinterhalt, dem viele zum Opfer fielen. Erst in Hamadan trafen sie auf die britischen Truppen. Von dort wurden die meisten nach Baquba bei Bagdad in ein Lager gebracht (35.000 Assyrer und 15.000 Armenier).

31 Golnazarian-Nichanian 2009:133–144, 175–176; Hellot-Bellier 2014:522–544.

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Andere setzten sich auf der Flucht in Hamadan oder Kermanshah ab oder begaben sich nach Tabriz oder Qazvin. Der Apostolische Delegat, Jacques-Emile Sontag, die beiden chaldäischen Bischöfe Mar Toma Audo und Petros Aziz sowie die meisten Lazaristen und Presbyterianer waren in Urmia zurückgeblieben. Die Türken ließen erst der persischen Bevölkerung mehrere Stunden Zeit, ihre Rachelust an den wehrlosen Christen, die in der Stadt verblieben waren, zu stillen. Anschließend durften die kurdischen Einheiten die Stadt plündern. Einige Christen fanden Schutz bei muslimischen Familien. Monseigneur Sontag wurde kaltblütig ermordet, Bischof Toma Audo so schwer verwundet, dass er mehrere Wochen später seinen Verletzungen erlag. In der Lazaristenmission wurden 620, in der presbyterianischen Mission 270 Christen getötet. Erst am nächsten Tag stoppten die osmanischen Truppen das Plündern und Morden.32 Nach der Flucht der meisten Christen und der Ermordung vieler der Verbliebenen lebten nur noch 800 Christen in Urmia, vor allem Frauen, die in den Gebäuden der presbyterianischen Mission Unterschlupf gefunden hatten. Die Presbyterianer wurden am 18. Oktober 1918 nach Tabriz ausgewiesen. Die persische Staatsmacht suchte unterdessen nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs und dem Ende des Ersten Weltkriegs die Kontrolle in der Provinz Aserbaidschan zurückzugewinnen. Zunächst wurde ein Attentat auf Simko verübt, das er selbst zwar überlebte, bei dem aber sein Bruder umkam. Nachdem persische Einheiten am 24. Mai 1919 die Kurden Simkos aus Urmia vertrieben hatten, machte sich die rachelustige muslimische Bevölkerung nochmals über die wenigen verblieben Christen her. Erneut wurden 450 Christen unter dem Vorwand getötet, sie hätten vorher die Kurden unterstützt. Die restlichen Christen wurden am 19. Juni in einem Konvoi von Urmia nach Tabriz in Sicherheit gebracht.33

Rückkehr und Neuaufbau Am Ende des Ersten Weltkriegs schien die Geschichte der Christen in der Region Urmia am Ende zu sein. Fast alle waren entweder vertrieben oder getötet worden. Sie lebten in Lagern im irakischen Baquba oder hatten Schutz in Tabriz, Kermanshah, Qazvin und Teheran gefunden. Das Gebiet westlich des Urmia-Sees wurde nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs von kurdischen Banden und den Einheiten Simkos beherrscht und unsicher gemacht. Dennoch bemühten sich Assyrer aus Persien bei der Friedenskonferenz in Paris um eine Zukunft für ihr Volk in Aserbaidschan. Für sie sprachen in Paris der amerikanischen Exil-Assyrer Abraham Yohannan und der Präsident des Comité national assyrien dʼOurmiah, Jesse Malek Yonan. Zusammen mit einer assyrischen Delegation aus dem Kaukasus bemühten sie sich 1919 um ein Treffen mit dem französischen Außenminister und legten ihm am 30. Juli 1919 ein 32 Bugnini 1981:233–235; Eyler 1996:125–147; Golnazarian-Nichanian 2009:176–182, 195–200; Hellot-­ Bellier 2014:544–560. 33 Golnazarian-Nichanian 2009:203; Hellot-Bellier 2014:561–567.

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Memorandum „Petition of the Persian Assyrians to the Peace Conference“ vor. Darin forderten sie das Rückkehrrecht für alle vertriebenen persischen Assyrer, Protektion durch eine befreundete Macht und den Aufbau eigener „nationaler Institutionen“. Am 28. Juli 1919 sandte die Delegation ihre Forderungen auch an die britische Regierung. Diese wurden allerdings nicht weiter verfolgt, vor allem weil Großbritannien auf der Friedenskonferenz keinesfalls seine Beziehungen zu Persien aufs Spiel setzen wollte.34 Ende 1919 suchte die Delegation zu einer Einigung mit Surma Khanom, der Vertreterin des assyrischen Patriarchen in London, zu gelangen und schlug vor, die Geschicke der Assyrer aus dem Hakkari ihr zu überlassen und selbst nur für die Assyrer aus der Ebene von Urmia-Salmas zu verhandeln. Für die persischen Assyrer forderten sie weder Autonomie noch ein eigenes Territorium, sondern Maßnahmen zum Schutz ihrer Rechte (vor allem Religionsfreiheit und Schutz ihres Eigentums). Großbritannien sollte diese garantieren. Allerdings wollte weder Surma Khanom auf die Vertretung der persischen Assyrer verzichten, noch die britische Regierung Garantien für Minderheiten in Persien aussprechen.35 Anders als die Assyrer setzten viele Katholiken auf Frankreich. Der Obere der Lazaristengemeinschaft in Teheran, Aristide Châtelet, erklärte 1919 seine Hoffnung auf eine Angliederung der Gebiete westlich des Urmia-Sees an das französische Mandatsgebiet Großsyriens und auf den Schutz der Christen durch Frankreich.36 Die Grenzen Persiens, die vor dem Ersten Weltkrieg bestanden hatten, wurden jedoch von der Pariser Friedenskonferenz bestätigt. Sonderrechte oder Garantien für Minderheiten wurden nicht vereinbart. Das Schicksal der Christen Aserbaidschans hing nach dem Rückzug von Türken und Russen nun wieder allein von der Regierung in Teheran ab. Die Lage in Aserbaidschan blieb jedoch noch einige Jahre prekär. Ende 1920 verbreiteten sich Nachrichten, dass die bolschewistischen Russen auf Tabriz vorrückten. Die Bürger westlicher Staaten wurden angewiesen, die Region zu verlassen. Die Lazaristen und Barmherzigen Schwestern verließen zusammen mit vielen Chaldäern und Armeniern sowie der amerikanischen Mission Tabriz und flohen nach Hamadan. Die Schwestern begaben sich über Teheran nach Isfahan. Einige Chaldäer wurden nach Bagdad und nach Syrien umgesiedelt. Die meisten im Land Verbliebenen konnten jedoch bereits im Sommer 1921 nach Tabriz zurückkehren.37 Anders als die Stämme aus dem Hakkari, denen die Rückkehr in ihre Heimat nach dem Krieg verschlossen blieb, konnten die Assyrer aus Urmia in ihre Dörfer zurückkehren. Die ersten kamen im Anfang 1922, allerdings gab es noch Probleme mit Simkos Kurden. Ismail Agha Simko hatte Mitte 1922 eine Rebellion gegen die iranische Zentralmacht angestoßen. Erst nachdem Reza Khans Truppen Simkos Kurden im September 1922 zerstreut hatten, kehrte etwa die Hälfte der Assyrer zurück. Sie fanden ihre Dörfer großteils zerstört oder von Muslimen bewohnt vor. Manche ließen sich als 34 35 36 37

Weibel Yacoub 2011:159–163. Weibel Yacoub 2011:207–212. Weibel Yacoub 2011:225. Elder, 1960:68; Bugnini 1981:237–238.

Im Schatten des Pfauenthrons: Die Pahlavis und die Christen

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Landarbeiter im Dienst der muslimischen Landbesitzer nieder; andere zogen in die Städte Aserbaidschans (Urmia, Tabriz) oder nach Qazvin und Teheran. Wieder andere blieben im iranischen Kurdistan (Hamadan und Kermanshah), wo sie zwischenzeitlich Zuflucht gefunden hatten.38 1923 wurde in Urmia die amerikanische Mission der Presbyterianer mit dem Fiske Seminary for Girls und der American School for Boys wiedereröffnet. 1928 gab es wieder vier assyrisch-evangelische Kirchen, das Fiske Seminary sowie 20 Grund- und Mittelschulen in den Dörfern; außerdem ein Kran­ kenhaus mit Schwesternschule.39

Im Schatten des Pfauenthrons: Die Pahlavis und die Christen Säkularisierung und Persifizierung: Die christlichen Minderheiten unter Reza Schah 1921 putschte sich der Kosakenoffizier Reza Khan an die Macht. Zunächst als Kriegsminister, kurz darauf als Ministerpräsident. In mehreren Kampagnen brachte er das Land, das an verschiedenen Stellen von Aufständen erschüttert wurde, wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung. 1925 beschloss er schließlich, sich selbst an die Stelle des dekadenten und an Politik wenig interessierten letzten Qajaren Ahmad Schah zu setzen. Das Parlament (der maǧles) stimmte im Oktober 1925 für dessen Absetzung. Eine anschließend für diesen Zweck gewählte verfassunggebende Versammlung setzte Reza Khan als neuen Schah und seine Kinder als Nachfolger ein. Die Dynastie der Pahlavi war geboren. Die Krönung fand im April 1926 statt. Reza Schah führte radikale Reformen durch: eine moderne Armee wurde aufgebaut, die Macht des schiitischen Klerus zurückgedrängt, die Ausbildung der Religionsgelehrten staatlichen Prüfungen unterworfen, religiöse Stiftungen verstaatlicht. Der Schah verordnete eine Kleidungsreform: zunächst verbot er das Tragen des Turbans und verordnete stattdessen den europäischen Hut. Einige Jahre später (1936) wurde Frauen verboten, in der Öffentlichkeit den Schleier zu tragen. 1928 wurde ein neues, europäisch inspiriertes Zivilrecht an Stelle der Scharia eingeführt, diese blieb nur noch im Familienrecht gültig. Außerdem baute der Staat ein flächendeckendes einheitliches Schulsystem von der Grundschule bis zu Universitäten auf. Durchgesetzt wurden die Maßnahmen mit der autokratischen Gewalt Reza Schahs.40 Auf die christlichen Gemeinschaften und die Missionen im Iran hatten die Reformen direkte Auswirkungen. So wurde das Personalstatut bis 1933 allein nach dem iranischen Zivilgesetzbuch bestimmt, das in Familienangelegenheiten weitgehend den Vorgaben der Scharia folgte. Erst 1933 gelang es den Abgeordneten der religiösen 38 Joseph 1961:131–144, 163–164; de Mauroy 1978:8–11; Valognes 1994:775–776, 785–786. 39 Joseph 1961:164–165; Waterfield 1973:141. 40 Die Reformen wurden zumindest vom Abgeordneten der Armenier des Nordens, Zohrab Saginian (Abgeordneter 1924 bis 1944), weitgehend mitgetragen. Yaghoubian 2014:130–133.

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Minderheiten im maǧles ein Gesetz durchzusetzen, das in diesen Fragen das Recht der jeweiligen Gemeinschaft zur Anwendung brachte.41 Die nationalistische Gesetzgebung Reza Schahs verfügte, dass in keinem Unternehmen mehr als zehn Prozent der Angestellten der armenischen oder jüdischen Minderheit angehören durfte. Die Anglo-Persian Oil Company, die eine höhere Quote hatte, war gezwungen, Arbeitsverträge zu beenden, um die Anzahl der armenischen Mitarbeiter zu senken.42 Im Rahmen der Persifizierungspolitik wurden zahlreiche armenische Dorfnamen in Aserbaidschan abgeändert. Für die Armenier bedeutete dies einen Teilverlust der armenischen Identität dieser Orte.43 1928 wurden die Kapitulationen und damit die Privilegien, die viele Missionare genossen, abgeschafft. 1931 wurden die Dorfmissionen verboten. 1932 wurde allen persischen Staatsbürgern verboten, ihre Kinder in ausländische Grundschulen zu schicken. Das bedeutete das Ende für viele Missionsgrundschulen. Mittel- und Sekundarschulen konnten allerdings weitergeführt werden.44 Seit 1927 waren die Missionsschulen vom Erziehungsministerium verpflichtet, muslimische Kinder in islamischer Religion zu unterrichten. Eine christliche Beeinflussung der muslimischen Kinder wurde untersagt. In den Folgejahren mussten die Schulen ihre gesamten Lehrpläne und Unterrichtsfächer den staatlichen Bestimmungen anpassen. 1932 wurden alle ausländischen Grundschulen verboten; Unterricht bis zur 6. Klasse wurde alleiniges Recht iranischer Schulen. 1939 wurde allen Iranern der Besuch ausländischer Schulen verboten. Die Verordnung trat 1940 in Kraft und wurde in den ersten Jahren auch durchgesetzt. Die presbyterianische Mission übergab ihre Erziehungseinrichtungen, an denen damals über 2.000 Schülerinnen und Schüler eingeschrieben waren, für 1,2 Millionen Dollar dem Staat.45 Einzig die Community School in Teheran, die ursprünglich der Ausbildung von Missionarskindern diente, blieb erhalten.46 Den französischen Ordensleuten gelang es hingegen, ihre Schulen weiter zu behalten.47

41 Golnazarian-Nichanian 2009:55. 42 Chaqueri 1998:136. 43 Sanasarian 2000:38. 44 Waterfield 1973:168–169. 45 1935 hatte die amerikanische Mission sieben Schulen im Iran: je eine Mittelschule für Jungen und Mädchen in Tabriz und Hamadan sowie eine Mädchenschule in Rasht. In Teheran war den Mittelschulen jeweils ein College angeschlossen (Alborz College und Nurbakhsh). Seit den Reformen der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bereiteten die Schulen auf die staatlichen Abschlussprüfungen vor. Außerdem hatten sie ihren Fokus von den christlichen Minderheiten auf muslimische Schüler, vor allem eine iranische Elite, verlegt. Mission Work 1936:100, 103; Richard 1990:91; Rostam-Kolayi 2008:224–226, 232–235. Die Ergänzungen zur Verfassung von 1907 hatten bereits alle Schulen der Aufsicht des Erziehungsministeriums unterstellt (Artikel 19). Das Erziehungsgesetz von 1911 statuierte „Die Nicht-Muslime haben kein Recht darauf zu verlangen, in den Schulen des Staats in ihrer Religion unterrichtet zu werden.“ (Artikel 7). Stattdessen wurde schiitischer Religionsunterricht vorgeschrieben (Artikel 17). Richard 1990:90 46 Joseph 1961:225–226; Waterfield 1973:143–144. 47 Die französischen Lazaristen hatten bereits im 19. Jahrhundert eine Knabenschule in Teheran gegründet, der seit dem Schuljahr 1913/1914 auch ein Collège angegliedert war. Bugnini 1981:237–238.

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Die genannten Maßnahmen richteten sich nur gegen die Schulen, die von ausländischen Einrichtungen betrieben wurden. Schulen in Trägerschaft der iranischen Kirchen, namentlich der armenischen, assyrischen und chaldäischen Kirche, waren nicht betroffen. Auch ein Teil der amerikanischen Missionsgrundschulen konnte unter dem Namen der 1933 gegründeten eigenständigen presbyterianischen Kirche des Iran weiter betrieben werden.48 Dennoch mussten sich auch die autochthonen kirchlichen Schulen seit den 1920er Jahren einer Reihe von Reformen unterziehen. Im Rahmen der nationalen Vereinheitlichungsmaßnahmen wies das Innenministerium 1927 die armenischen Schulen an, alle Symbole, die an die kurzlebige Armenische Republik im Kaukasus erinnerten, zu entfernen und stattdessen iranische Symbole anzubringen. 1936 wurden die armenischen Schulen angewiesen, Persisch als Unterrichtssprache zu verwenden und den Armenisch-Unterricht auf fünf Stunden pro Woche zu begrenzen. Außerdem wurde ein Aufseher von Seiten der Regierung für jede Schule ernannt. 1938 wurden die Lizenzen zum Betrieb der armenischen Schulen ganz zurückgezogen. Die Maßnahmen wurden aber nach dem Sturz Reza Schahs 1941 aufgeweicht und in der Folgezeit nicht mehr durchgesetzt. 1942 forderte der armenische Führer der Tudeh-­ Partei, Ardashir Hovhanissian, lautstark die Wiedereröffnung der armenischen und aserischen Schulen. Bis 1944 waren fast alle armenischen Schulen wieder in Betrieb. Allerdings wurde die offizielle Betriebsgenehmigung erst nach Bemühungen des armenischen Abgeordneten Sevak Saginian 1957 unter der Bedingung, dass der Armenisch-Unterricht als Wahlfach angeboten wurde und nicht das staatliche Curriculum beeinflusste, erteilt.49 Das Gebiet westlich des Urmia-Sees an der Grenze zur Türkei blieb auch während der Regierungszeit von Reza Schah unruhig. Von 1927 bis 1931 erschütterten Kurdenaufstände das türkisch-iranische Grenzgebiet, vor allem die Ararat-Region. So wie auf der türkischen Seite wurde auch der Aufstand der Kurden gegen die türkische Herrschaft im Iran durch den armenischen Dashnak unterstützt. Er unternahm verschiedene propagandistische Aktionen im Iran. Der Dashnak-Politiker Ruben Ter Minassian propagierte eine „Union der arischen Rasse“ bestehend aus Armeniern, Kurden und Iranern gegen die Türken. Der Dashnak unterstützte den kurdischen Aufstand auch militärisch durch einige Kommandos. Diese Aktivitäten brachten dem armenischen Erzbischof von Aserbaidschan sowie einigen Dashnak-Führern eine Vorladung der iranischen Regierung von Reza Schah ein. Der Monarch forderte das Ende der Unterstützung für die kurdischen Aufstände. Grundsätzlich waren die Aktivitäten des Dashnak aber im Iran geduldet. Dies änderte sich erst nach dem Treffen Reza Schahs mit Kemal Atatürk im Juni 1934. Von 1935 bis zum Ende der Herrschaft Reza Schahs 1941 musste der Dashnak im Iran seine Aktivitäten in den Untergrund verlegen. 1934 wurde Urmia

48 Die neue Kirche hatte drei Assemblies und ingesamt 2.272 Mitglieder. Die New Yorker Synode gab mit dieser Gründung ihre Kontrolle über die Gemeinden im Iran auf. Mission Work 1936:99–100; Elder 1960:74–77; Lyko 1964:69–71; Waterfield 1973:142; Rostam-Kolayi 2008:237–238. 49 Yaghoubian 2014:34–35, 136–137, 156–157.

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zum militärischen Sperrgebiet erklärt, bis 1935 mussten alle ausländischen Missionare die Region verlassen. Dies betraf vor allem die presbyterianischen Missionare.50 Die Armenier standen während der Regierungszeit Reza Schahs im besonderen Verdacht mit den Sowjets zusammenzuarbeiten. Nach dem Zusammenbruch der Armenischen Republik und der Eingliederung Armeniens in die Sowjetunion (Gründung der Armenischen SSR am 21. April 1921) waren zahlreiche Dashnak-Anhänger in den Iran geflohen und betrieben dort anti-sowjetische Propaganda. Gleichzeitig schleuste der sowjetische Geheimdienst Cheka armenische Agenten in den Iran ein, die die Aktivitäten des Dashnak überwachen sollten. Die Sympathien der iranischen Armenier waren geteilt. Es gab Anhänger des Dashnak, verschiedener sozialistischer Parteien (Tabriz Social Democratic Group, sozialdemokratische Gerechtigkeitspartei Ferqe-­ye ʿadālat), des kommunistischen Dachverbands der Gewerkschaften (Šowra-ye mottaḥede-ye etteḥādiye-ye kārgerān) und der kommunistischen Tudeh-Partei. Der Armenier Avetis Mikayelian, besser bekannt unter dem Namen Sultanzadeh, war in den 1920er Jahren führender Theoretiker der Kommunistischen Partei des Iran (Ferqe-ye komūnīst-e Īrān). Ardashir Hovhanissian wurde in den 1940er und 1950er Jahren Sprecher der Tudeh-Partei.51

Unter dem Schutz Seiner Majestät: Christen im Iran unter Mohammad Reza Schah 1941 hatten die Sowjetunion und Großbritannien den Iran, der wie im Ersten Weltkrieg seine Neutralität erklärt hatte, allerdings deutliche Sympathien für die Achsenmächte Deutschland und Italien zeigte, militärisch besetzt. Die Alliierten zwangen Reza Schah im September 1941 zur Abdankung und hoben seinen Sohn Mohammad Reza auf den Thron. Die Rote Armee blieb auch nach Kriegsende 1945 weiter im Iran und die Sowjetregierung versuchte, dort Satellitenstaaten zu errichten. Wie bereits in der Vorkriegszeit standen Armenier dabei bei den iranischen Behörden im Verdacht, die sowjetischen Aktivitäten zu unterstützen. Genährt wurde dies unter anderem durch Hoffnungen, die viele Armenier auf Josef Stalin setzten. Von ihm erwarteten sie die erneute Unabhängigkeit ihres Heimatlandes. So gab der spätere armenisch-katholische Bischof des Iran, Jean-Baptiste Apcar (auch: Abgar; Bischof 1954–1967), im Februar 1945 in der französischen Botschaft in Teheran zu Protokoll: „Auf ihn [Stalin] setzen wir all unsere Hoffnungen.“ Auch den sowjetischen Botschafter versicherte er der Solidarität des armenischen Volkes für die Rote Armee.52 50 Elder 1960:77–78; Joseph 1961:225–226; Waterfield 1973:141; Baibourtian 2013:333–334. 51 Berberian 2001:186; Yaghoubian 2014:130–131. Beide Abgeordnete der Armenier (Norden: Zohrab Saginian, Süden: J.Z. Mirzayants), die während der Regierungszeit Reza Schahs amtierten, waren Anhänger des Dashnak. Mit der Besetzung weiter Teile des nördlichen Iran durch die Rote Armee ab 1941 wurden Dashnak-Anhänger dort verfolgt. Die Sowjets unterstützten bei den Wahlen zum maǧles 1944 den armenischen Kandidaten der Tudeh-Partei, Ghazar Simonian, der entsprechend den Sitz für die nördlichen Armenier errang. Yaghoubian 2014:135–139. 52 Chaqueri 1998:140–141.

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Unter dem Schutz der Sowjetunion entstanden unmittelbar nach dem Krieg im Iran zwei quasi unabhängige Republiken: Am 12. Dezember 1945 proklamierte die von der kommunistischen Tudeh-Partei dominierte „Nationalregierung“ Aserbaidschans die Autonomie der Provinz. Kurz darauf, am 22. Januar 1946, wurde in Mahabad eine Kurdische Republik unter Führung von Mustafa Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (PDK, Ferqe-ye Demokrāt-e Kordestān) ausgerufen. Die sowjetischen Besatzungstruppen mobilisierten lokale Assyrer und Armenier als Unterstützung für die beiden pro-russischen Regierungen. Die kommunistische Tudeh-Partei war in Aserbaidschan besonders stark und hatte überproportional viele Anhänger und Mitglieder unter den christlichen Armeniern und Assyrern, vor allem unter den Arbeitern und Handwerkern sowie den Angestellten und Freiberuflern aus der Mittelklasse. Außerdem unterstützten nicht wenige Bauern die Tudeh-Partei. Mit Unterstützung der Sow­ jets vertrieben sie muslimische Landbesitzer, Beamte und Gendarmen und richteten unabhängige Dorfräte ein. Allerdings arbeiteten bei weitem nicht alle Christen mit den sowjetisch dominierten Regierungen der beiden Republiken zusammen. So begrüßte ein Teil der Armenier (vor allem die Dashnak-Anhänger) den Vormarsch der iranischen Truppen, der begonnen hatte, nachdem die sowjetischen Truppen ab März 1946 den Iran verließen. Dennoch hatten sich die Christen insgesamt durch die Kollaboration vieler Assyrer und Armenier und das Vorgehen gegen die persische Landbesitzerklasse den Hass eines bedeutenden Teils der Bevölkerung zugezogen. In den Kämpfen wurden viele Christen vertrieben. Weitere flohen, als iranische Truppen im Dezember 1946 Tabriz einnahmen und einige Tage später auch das kurdische Mahabad eroberten. Von der sowjetischen Propaganda angestachelt, emigrierten mehrere tausend Armenier im Jahr 1946 in die Sowjetunion. Zwischen 1946 und 1949 kam es in der Region immer wieder zu Übergriffen und Racheakten an Christen.53 Die Situation für einheimische und ausländische Christen blieb prekär bis zur Stabilisierung der Macht Mohammad Reza Schahs nach der Mosaddeq-Krise. Anfang der 1950er Jahre mobilisierte die Nationale Front die Öffentlichkeit für die Nationalisierung der Ölfelder, die bisher von der Anglo-Iranian Oil Company (AIOC) beherrscht wurden. Die Stimmung war entsprechend anti-britisch. Am 15. März 1951 stimmte das Parlament für die Nationalisierung der AIOC. Der Schah, bemüht die Beziehungen zu Großbritannien und dem Westen nicht zu trüben, versuchte sich dem entgegenzusetzen, war aber unter dem Druck der Straße gezwungen, den Nationalisten Mohammad Mosaddeq zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Dieser trieb die Nationalisierung mit allen juristischen Mitteln voran, getragen von großer Unterstützung des Volkes. Der Schah versuchte ihn mit Unterstützung der Briten und des amerikanischen CIA im August 1953 durch einen Militärputsch stürzen zu lassen. Der Putsch scheiterte jedoch, Mosaddeq blieb im Amt, der Schah floh nach Italien. Nationalisten und die kommunistische Tudeh-Partei kontrollierten zunächst die Straßen, allerdings schürte der CIA in 53 Joseph 1961:209–213; Yonan 1978:83–84; Valognes 1994:776; Chaqueri 1998:141–143; Yacoub 2003:157; Yaghoubian 2014:139–141.

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Teheran Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme. Am 19. August schließlich marschierten Truppen des Schahs in Teheran ein und stellten die Ordnung wieder her, Mosaddeq wurde verhaftet. Mohammad Reza konnte zurückkehren. Die Regierung Mosaddeqs ging im Rahmen des Kampfes um die Kontrolle über die Ölfelder rigoros gegen Ausländer vor. Dies traf auch ausländische Missionare. Zahlreichen Missionaren wurde die Einreise verwehrt, außerdem wurde der anglikanische Bischof William Thompson des Landes verwiesen. Das gleiche Schicksal traf die katholischen Ordensleute mit britischer Staatsbürgerschaft, die am Persischen Golf tätig waren. 1952 wurden die Schulen und das Krankenhaus der Anglikaner in Kerman geschlossen. Bis 1955 existierten in Kerman und Yazd praktisch keine Gemeinden mehr. 1951 wurde bei einer Revolte die chaldäische Kirche von Ahwaz, einem der Zentren der Ölindustrie, geplündert.54 Die von Mohammad Reza Schah nach dem Sturz Mosaddeqs eingeschlagene Politik der Westbindung und Modernisierung brachte für die christlichen Kirchen zumindest in den städtischen Zentren dann aber eine Blütezeit mit sich. Solange sie die Politik des Schahs stützten, konnten sie sich frei entfalten und unterlagen keinen Einschränkungen, was ihre Sozial- und Bildungsarbeit betraf. Zwar genossen die Kirchen weitgehende Handlungsfreiheit, auch bei der Verbreitung der christlichen Botschaft durch Predigt und Verteilung von christlichen Schriften. In einigen Fällen besuchten sogar hohe Staatsbeamte christliche Veranstaltungen. Durch die enge Verbindung von Mission und Kirche gerade im evangelischen Bereich erschienen diese Kirchen dem Volk und den Behörden jedoch als ausländische Einrichtungen und iranische Christen als politische Agenten dieser Länder. Sie wurden immer wieder verdächtigt, aus bestimmten Interessen heraus Christen geworden zu sein. Gewissensgründe fanden kaum Anerkennung.55 Der Staat sah die Kirchen eher als Instrumente seiner Sozial­politik, als dass er ihrer Botschaft besonderen Respekt gezollt hätte. Für 1960 beschreibt der Missionar Dieter Lyko das mit folgenden Worten: „Man wünscht, die Kirche als soziale Organisation in der Volksgemeinschaft zu sehen, indem sie sich in den Dienst der Aufgaben der Regierung stellt. Man erwartet von ihr Hilfsdienste bei Epidemien und Naturkatastrophen und lobt ihre Bemühungen um die untersten Volksschichten. Man nimmt in Kauf, daß sie neben den vom Staat als wichtig angesehenen Aufgaben noch eine Botschaft verkündigt, die als unwichtige Zutat zu ihrem sozialen Dienst verstanden wird.“56 Anders als in den Städten, wo die Kirchen dem Staat als Partner im Sozial- und Bildungsbereich dienten, waren die Lebensbedingungen der Christen auf dem Land schwierig. Dies führte seit den 1950er Jahren zu einer massiven Abwanderung von Assyrern und Chaldäern aus den Dörfern Aserbaidschans nach Urmia und Teheran, einige auf die Ölfelder in Khuzistan im Süden des Iran. Diese Abwanderung hält bis 54 Waterfield 1973:173–175; Yonan 1978:90–92; Bugnini 1981:313. 55 Lyko 1964:148. 56 Lyko 1964:154.

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heute an. Die christliche Bevölkerung war bereits durch die Ereignisse von 1915 bis 1919 bedeutend dezimiert. Ein starkes Erdbeben im Jahr 1930, bei dem zahlreiche Dörfer zerstört wurden, führte zu einer weiteren Abwanderung. Die chaldäischen Diö­ zesen Urmia und Salmas wurden 1934 zusammengelegt. Das Priesterseminar wurde 1937 geschlossen. Selbst bedeutende Ortschaften wie Khosrova und Ardeshahi verloren fast ihre gesamte christliche Bevölkerung. Die Landflucht setzte sich bis Ende der 1970er Jahre fort. Bis dahin waren fast keine christlichen Familien mehr in den Dörfern verblieben. Sie behielten ihre Häuser nur für einen kurzen Aufenthalt in den Sommermonaten. Manche Dorfkirchen, die zwischenzeitlich als Lager genutzt oder verfallen waren, wurden in den 1970er Jahren zwar auf Initiative von ehemaligen Dorfbewohnern renoviert. Im August trafen sich viele ehemalige Bewohner in ihren Heimatdörfern, um das traditionelle Weintraubenfest zu begehen. Zu einer Umkehr der Entwicklung konnte dies aber nicht beitragen. Von den einst zahlreichen Schulen – vor allem Grundschulen in den Dörfern – hatte die chaldäische Diözese 1978 nur eine einzige Grundschule in Urmia behalten, außerdem betrieben die Barmherzigen Schwestern eine Mädchenschule in Urmia. Zwar versuchte die chaldäische Kirche die Lebens­bedingungen der christlichen Landbevölkerung zu verbessern – so durch Aufkauf von Land und Verpachtung an Christen zu sehr günstigen Konditionen –, doch konnte auch dies die Landflucht nicht dauerhaft aufhalten. Frei werdende Landflächen wurden meist von Muslimen genutzt. Der steigende Anteil der muslimischen Bevölke­rung führte bei den Christen zu einer weiteren Verunsicherung, die die Abwanderung beschleunigte. Die Gründe für die Abwanderung aus der Region waren vielfältig. Neben den Repressionen, die Christen nach der Niederschlagung der kurdischen und aserischen Republiken zu erleiden hatten, spielte das Misstrauen gegen Christen von Seiten der Behörden wegen der Nähe der Sowjetunion eine Rolle. Die höheren Ränge von Militär und Polizei blieben ihnen daher während der gesamten Regierungszeit von Mohammad Reza Schahs verschlossen. Die rechtliche Lage war angesichts islamischer Vorstellungen prekär. Recht konnte in der islamisch geprägten Gesellschaft gegen Muslime oft nicht durchgesetzt werden. Anwälte zögerten, Christen vor Gericht in Rechtsstreitigkeiten mit Muslimen zu vertreten. Das Fehlen eines zentralen religiösen Repräsentationsorgans – wegen der Zersplitterung der Christen in Armenier, Assyrer, Chaldäer, Protestanten – schwächte die rechtliche und soziale Stellung der Christen zusätzlich. Außerdem bewogen die besseren Bildungschancen in den Städten viele Familien zur Abwanderung. Hatte die Zahl der Assyro-Chaldäer in Aserbaidschan 1950 noch gut 15.000 betragen, waren es 1978 nur noch etwa 10.000. In Teheran dagegen stieg ihre Zahl von etwa 2.500 im Jahr 1950 auf etwa 25.000 im Jahr 1978. Gerade für die Assyrer bedeutete dies einen dramatischen Wandel der Identität ihrer angestammten Heimat: Der Anteil von Christen rund um Urmia hatte vor dem Ersten Weltkrieg noch etwa 30 Prozent betragen, bis 1970 war er auf 6,2 Prozent gesunken. Die Zahl der christlichen Dörfer nahm von Jahr zu Jahr ab. Von den fünf Diözesen der Assyrischen Kirche des Ostens gab es gar keine mehr (der Sitz der einzigen assyrischen Diözese

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im Iran wurde 1962 nach Teheran verlegt), von den zwei chaldäischen Diözesen war eine verschwunden.57 Aber auch aus anderen Städten und Orten im Iran wanderten die Assyro-Chaldäer bis zu Beginn der 1970er Jahre aus: so verloren Qazvin und Tabriz, Hamadan und Kermanshah sowie der traditionell chaldäische Ort Sanandaj (Sena) in Kurdistan den größten Teil ihrer assyro-chaldäischen Bevölkerung. Der Sitz der chaldäischen Diözese Sanandaj wurde 1946 nach Teheran verlegt. Selbst in der Ölindustrie in Khuzistan genossen Christen seit der Nationalisierung 1951 nicht mehr die gleichen Privilegien wie zu Zeiten der ausländischen Gesellschaften, so dass auch dieses Gebiet in den 1970er Jahren für Migration nicht mehr besonders interessant war. Hauptgründe für die Binnenmigration waren bessere Bildungsmöglichkeiten für die Kinder und Berufsaussichten in den Städten beziehungsweise der Hauptstadt. Aber es setzte auch eine starke Abwanderung ins Ausland ein, neben Kuwait – einer temporären Station für Arbeitsmigranten – vor allem die USA, zunehmend Australien und in geringerem Umfang Westeuropa.58 Die Landflucht betraf auch die armenischen Dörfer rund um Isfahan. Bis in die 1950er Jahre hatte es dort in über 30 Dörfern, am bekanntesten waren Feridun und Charmahal, noch eine bedeutende armenische Landbevölkerung gegeben. Aber auch diese wanderte seither von dort ab, zum Teil nach Neu-Jolfa in Isfahan, zum größten Teil jedoch nach Teheran.59 Für die städtische christliche Bevölkerung brachten die Regierungsjahre von Mohammad Reza Schah jedoch eine Reihe von positiven Entwicklungen mit sich. Das Bemühen des Schahs um die Verwestlichung des Landes, die Einführung der Gleichheit aller Staatsbürger, die Religionsfreiheit, die Neutralität des Staats mit Blick auf die Religionen, die Emanzipation der religiösen Minderheiten und die Förderung der westlichen Bildungsstätten ermöglichten bis dahin ungekannte Freiheit und Wirkungsmöglichkeiten. Der Staat schützte Gebetsstätten der Nicht-Muslime und die ausländischen Orden unterhielten zahlreiche Schulen. Die katholischen Schulen zählten kurz vor der Islamischen Revolution rund 25.000 überwiegend muslimische Schüler. Die anerkannten religiösen Minderheiten waren weiterhin durch eigene Abgeordnete im Parlament vertreten. Das Wahlrecht galt jedoch nur für die Angehörigen der traditionellen Gemeinschaften (auch wenn sie evangelisch geworden waren): Armenier, Assyrer, Juden und Zoroastrier. Muslime hingegen, die Christen geworden waren, verwirkten ihr Wahlrecht, da sie keine Aufnahme in die „traditionellen“ Gemeinschaften fanden. Sichtbare, hohe politische Ämter blieben Nicht-Muslimen zwar aus Gründen der politischen Opportunität verschlossen (der Schah wollte sich nicht unnötig bei konservativen Muslimen angreifbar machen), Armenier dienten hingegen mehrfach als stellvertretende Minister. Das Wirken der assyrischen und armenischen Politiker 57 De Mauroy 1978:11; Yonan 1978:90–92; Bugnini 1981:261–274; Schwartz 1985:68–90. 58 Berthaud 1968:302–304, 327–329; de Mauroy 1978:13–59. 59 Sarkissian 1974:25; de Mauroy 1978:23.

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war allerdings bestimmt von der autoritären Politik des Schahs und dem Druck der Geheimpolizei SAVAK. Sie forderten totale Loyalität zum Schah-Regime.60 Beispielhaft für die Einbindung der Kirchen in die Politik des Schahs waren die Feiern anlässlich des 2.500-jährigen Bestehens der iranischen Monarchie im Jahr 1971. Die Kirchen wurden angewiesen, in diesem Rahmen einen ökumenischen Dankgottesdienst abzuhalten. Daran nahmen die orthodoxen Armenier, die Assyrische Kirche des Ostens, die Chaldäer, die römisch-katholische Kirche, die Protestanten und die Anglikaner teil. Anwesend waren zahlreiche Vertreter des Staats sowie zahlreiche muslimische Gäste.61 Der spätere armenische maǧles-Abgeordnete Sevak Saginian gründete 1946 eine Jugend­organisation, die 1950 offiziell den Namen Anǧomān-e ǧawānān-e Arārāt an­ nahm. Es war ein Verein zur Förderung der armenischen Kultur, der politischen Diskussion und des Sports für die armenische Jugend. Aus ihr ging auch der armenische Pfadfinderverband hervor. Der Verband wuchs schnell, gründete bald neben Teheran auch Verbände in Tabriz und Isfahan und machte durch seine große Mitgliederzahl immer wieder auf sich aufmerksam. Er genoss die Anerkennung des Schahs und wurde von ihm mehrfach gefördert, 1972 mit der Finanzierung des Ararat-Komplexes mit einer Arena für 10.000 Personen, Versammlungssälen und Unterrichtsräumen. Sevak Saginian diente der Verband als Sprungbrett für seine ununterbrochene Vertretung der Armenier im Parlament (1956–1960 für den Norden, von 1960 bis 1979 für den Süden). Während der Revolution musste er wegen seiner engen, persönlichen Bindung an den Schah das Land verlassen.62 Die armenischen Gemeinden organisierten sich nicht nur rund um die Kirchen, sondern mindestens in gleichem Maße um Kulturvereine und Schulen. Kurz vor der Revolution hatte allein die armenisch-orthodoxe Diözese Teheran 42 Schulen. Selbst wenn die Gemeinden zahlenmäßig kleiner wurden, blieben dennoch die zahlreichen armenischen Schulen erhalten, Herz der armenischen Gemeinden, oder wie Bischof Karekin Sarkissian schreibt: „Kirche und Schule sind in der armenischen Tradition unzertrennlich“.63 Die Zahl der Armenier betrug kurz vor der Revolution etwa 160.000, davon drei Viertel (135.000) in Teheran. Die Erzdiözese Jolfa-Isfahan zählte 16.000

60 Lyko 1964:158; Valognes 1994:777–778; Sanasarian 2000:39; Yaghoubian 2014:139. Seit 1967 wurden die Assyrer von Wilson Bet-Mansour vertreten. Er gründete 1969 die Zeitschrift Āṯūr, in der er seine politischen Positionen vertrat. 1973 gründete er zur Unterstützung der iranischen Politik gegen den Irak die National Liberation Party, erfuhr damit aber auch Opposition in den Reihen der Assyrer. Bet-Mansour forderte die Assyrer des Irak dazu auf, im Rahmen des kurdischen Befreiungskampfes eigene Autonomiebestrebungen umzusetzen. Infolge des Vertrags von Algier zwischen dem Iran und dem Irak (1975), in dem der Iran seine Unterstützung für die kurdische Nationalbewegung im Irak aufgab, musste Bet-Mansour von seinen öffentlichen Funktionen zurücktreten. Yonan 1978:88–89. 61 Dehqani-Tafti 1981:32. Weil die Armenier keine persisch-sprachige Predigt in ihrer Kirche dulden wollten (die der anglikanische Bischof Hassan Dehqani-Tafti hielt), fand die Feier in einer katholischen Kirche statt. 62 Yahgoubian 2014:141–168. Die nördlichen Armenier wurden ab 1960 von Felix Aghayan vertreten. 63 „The Church and the School are inseparable in Armenian tradition“. Sarkissian 1974:25.

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Gläubige, die Erzdiözese Aserbaidschan mit Sitz in Tabriz und Gemeinden in Shapur, Urmia, Maragha und Qaradagh 9.000.64 Die orthodoxen Assyrer traten öffentlich wenig in Erscheinung. Prestigeträchtige Einrichtungen hatten sie im Iran nicht. Nur der Sitz des Patriarchen befand sich kurzzeitig im Iran. Nach seiner Wahl zum Patriarchen im Jahr 1976 residierte Mar Denkha IV. bis 1978 in Teheran, wo er vorher Bischof war. Anschließend wanderte er jedoch wie sein Vorgänger in die USA aus. 1978 betrug die Zahl der assyrischen Christen 13.500, davon ein Drittel in der Region Urmia und die Hälfte in Teheran.65 Die katholischen Chaldäer hatten 1978 drei Diözesen im Iran mit insgesamt 16.000 bis 18.000 Gläubigen: Teheran (8.000 Gläubige, drei Schulen mit zusammen etwa 1.200 Schülern), Urmia (7.000–8.000 Gläubige, eine Schule mit 250 Schülern) und Ahwaz (ca. 1.500–2.000 Gläubige). Die chaldäische Erzdiözese Ahwaz verdankte ihre Existenz hauptsächlich der Tatsache, dass zahlreiche Chaldäer und Assyrer in den Süden gezogen waren, um in der Erdölindustrie und in den Häfen am Persischen Golf zu arbeiten. 1978 bestanden größere Gemeinden in Ahwaz (110 Familien), Abadan (100 Familien), Andimesk (45 Familien) sowie in den Hafenstädten Bandar Abbas und Bushehr; eine größere Gemeinde von 65 Familien lebte in Isfahan. 1973 wurde vom chaldäischen Erzbischof von Teheran, Youhannan Semaan Issayi, und dem französischen Priester Pierre Humblot das Centre Saint-Jean pour la formation chrétienne dʼadultes gegründet, um die Verwurzelung des Christentums in der persischen Kultur voranzutreiben, Schriften in persischer Sprache herauszugeben und persische Katechese zu betreiben.66 Zu Beginn der 1970er Jahre bestanden römisch-katholische (im Sprachgebrauch des Nahen Ostens: „lateinische“) Missionen in Teheran, Tabriz, Urmia und Isfahan. In Urmia betrieben die Barmherzigen Schwestern eine gutbesuchte Mädchenschule. In Teheran wurde das Collège Saint Louis der Lazaristen von 600 Jungen und die École Jeanne dʼArc der Barmherzigen Schwestern von 1.600 Schülerinnen besucht. Die Salesianer, die 1937 nach Teheran gelangt waren, um sich um die wachsende italienische Gemeinde zu kümmern, betrieben eine Knabenschule für 1.700 Jungen, davon 300 Christen (wiederum die Hälfte davon Katholiken), der Rest Muslime. Die Salesianerinnen betrieben eine Schule für Mädchen. Außerdem hatten die armenischen Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis das große Institut Maryam in Teheran (1.600 Schülerinnen, davon 20 katholische, 560 christliche und ansonsten muslimische Mädchen). In Tabriz betrieben die Lazaristen eine Jungenschule für 400 und eine Mädchenschule für 450 Kinder. Außerdem arbeiteten Kleine Brüder und Schwestern von Charles de Foucauld in einer Leprastation (eine weitere existierte in Mashhad). In Isfahan bestanden neben einer kleinen Pfarrgemeinde eine Schule für 150 Jungen (Lazaristen) und eine Mädchenschule für 800 Kinder (Barmherzige Schwestern).67 1976 wurde vom Erziehungsministerium ein Statut für die katholischen Schulen erlassen, nach dem jede 64 65 66 67

Basset 1978:10; Bugnini 1981:331–332. Basset 1978:7–8; Bugnini 1981:330. Basset 1978:12; Bugnini 1981:249–277; Valognes 1994:790. Waterfield 1973:82–84; Bugnini:1981: 298–320.

Im Schatten des Pfauenthrons: Die Pahlavis und die Christen

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Schule einen vom Ministerium ernannten Verwaltungsdirektor und einen vom Verwaltungsrat der Schule ernannten internen Direktor haben musste. Der Verwaltungsdirektor war für den ordnungsgemäßen Schulbetrieb gemäß dem staatlichen Lehrplan und den staatlichen Standards verantwortlich, der interne Direktor für die Aufnahme neuer Schüler und für die Disziplin. Für die im staatlichen Lehrplan vorgeschriebenen Fächer übernahm das Ministerium die Kosten, für andere Fächer (zum Beispiel zusätzliche Fremdsprachen) mussten die Eltern Schulgeld entrichten. Die Gebäude blieben Eigentum der Kirchen oder Ordensgemeinschaften, für ihren Unterhalt bezahlte das Ministerium aber einen jährlichen Zuschuss.68 Auf protestantischer Seite war 1951 der Church Council of Iran als Zusammenschluss der presbyterianischen „Nordkirche“ und der episkopalen „Südkirche“ gegründet worden. Das Gremium hatte jedoch nur koordinatorische und beratende Funktion. Alle Pfarrer der Nordkirche rekrutierten sich dagegen aus den „alten Kirchen“, viele von ihnen verließen jedoch kurze Zeit nach ihrer Ordination den Iran und wanderten in die USA aus. Überhaupt kamen die Gläubigen der Nordkirche in Urmia und Tabriz fast alle aus den „alten Kirchen“, größere Zahlen von Konvertiten gab es nur in den presbyterianischen Gemeinden der zentraliranischen Kirchenprovinz (Rasht, Kermanshah, Mashhad, Hamadan). Eine Schwierigkeit bildete innerhalb der presbyterianischen Kirche die Tatsache, dass die Gemeinden aus drei verschiedenen Gruppen bestanden, die wenig miteinander zu tun hatten oder zu tun haben wollten: Assyrer, Armenier und Konvertiten. Alle drei sprachen unterschiedliche Sprachen. Dies machte es schwierig, eine einheitliche Gemeinde zu gestalten. Die Südkirche hingegen bestand überwiegend aus Konvertiten (Muslime, Zoroastrier sowie in Teheran: Juden) sowie einigen Armeniern. Von den fünf einheimischen Priestern der Südkirche kamen drei Konvertiten vom Islam und zwei vom Judentum. Die anglikanische Kirche konnte nach dem Rücktritt von Bischof William Thompson einen einheimischen Bischof wählen, dessen Mutter zum Christentum konvertiert war. Hassan Dehqani-Tafti wurde 1961 in Jerusalem zum Bischof geweiht und anschließend in Isfahan inthronisiert. 1960 unterhielt die presbyterianische Nordkirche fünf Krankenhäuser, die anglikanische Südkirche zwei. In den Folgejahren mussten die Presbyterianer ihre Missionskrankenhäuser wegen zu hoher Kosten und fehlenden Personals nach und nach verkaufen. Bis 1970 blieb kein Krankenhaus mehr in den Händen der presbyterianischen Kirche, während die Anglikaner im Süden ihre beiden Krankenhäuser bis zur Islamischen Revolution, wenn auch unter Schwierigkeiten, weiterführten.69 Die Zahl der Anglikaner lag 1978 zwischen 2.000 und 4.000, davon waren die Hälfte Iraner, die andere Hälfte Ausländer. Die Kirche hatte Zentren in Isfahan, Ahwaz, Kerman, Shiraz, Teheran und Yazd. Die Presbyterianer zählten 3.000 Gläubige, eingeteilt in drei Sprachgruppen. Sie lebten überwiegend in Teheran, Urmia, Tabriz, Rasht, Arak und Mashhad. Außerdem waren verschiedene freikirchliche Gruppen aktiv.70 68 Bugnini 1981:249. 69 Lyko 1964:37, 76; 93–94, 136–139; Waterfield 1973:144–145; 173–175. 70 Bugnini 1981:334–335; Dehqani-Tafti 1981:29–30.

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Am Ende der Regierungszeit Mohammad Reza Schahs standen die Kirchen eng an der Seite des Herrschers. Die Bedingungen für ihre Arbeit waren gut, wenn auch der Geheimdienst ihre Aktivitäten wie die jeder anderen Gruppierung im Iran streng überwachte. Sozialarbeit, Betrieb von Schulen, Gottesdienste und sogar Glaubensverkündigung unter Muslimen waren erlaubt. Die Kirchen unterhielten zahlreiche Einrichtungen und genossen das Wohlwollen der Herrscherfamilie. Die Frau des Schahs, Farah Diba, hatte selbst als Tochter aus gutem Haus die Schule der Barmherzigen Schwestern in Teheran besucht. Eine Schwester des Schahs, Prinzessin Shams, und ihr Ehemann Mehrdad Pahlbod waren in den 1940er Jahren sogar zum Katholizismus konvertiert. In ihrem Palast bei Karaj (in den 1970er Jahren erbaut) hatten sie eine Kapelle eingerichtet, in der regelmäßig Gottesdienste stattfanden. Von der muslimischen Bevölkerung wurde dies als Skandal wahrgenommen.71 Die Revolution, die den Iran in den Jahren ab 1978 erschüttern sollte, traf die Kirchen schwer und änderte die Lebensbedingungen für Christen grundlegend.

Die Mollahs und die Christen: Leben in der Islamischen Republik Christen in den Wirren der Islamischen Revolution Die Geschichte der Revolution im Iran kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Sie gehört nicht nur für die Christen des Landes zu den einschneidendsten Ereignissen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die autokratische Herrschaft des Schahs, der Terror des Geheimdienstes SAVAK, die Missachtung der islamischen Traditionen des Landes durch den Herrscher, die Verschwendungssucht des Hofes, die immensen Militärausgaben und anderes führten ab Sommer 1978 zu Protesten in der Hauptstadt Teheran. Die Geheimpolizei reagierte mit massiver Gewalt. Bei den Trauerfeiern für die Opfer, nach islamischer Tradition 40 Tage nach den Ereignissen, kam es zu neuen Protesten. Ayatollah Khomeini stachelte die Demonstranten von seinem Exil aus – zunächst im irakischen Najaf, ab Oktober 1978 in Neauphle-le-Château bei Paris – zu weiteren Protesten an und machte sich die islamischen Gefühle der Masse zunutze. Im November geriet die Situation außer Kontrolle. Der Schah ernannte einen Militär zum Ministerpräsidenten, aber auch er konnte sich nicht halten. Schließlich setzte der Schah den Nationalisten und Mosaddeq-Getreuen Shapur Bakhtiar ein. Am 16. Januar 1979 verließ Mohammad Reza Schah mit seiner Familie den Iran. Er sollte nie mehr zurückkehren. Er starb am 27. Juli 1980 in Kairo an den Folgen seiner Krebserkrankung. Die Iraner feierten den Tag, an dem der Schah ging. Am 1. Februar landete Ayatollah Khomeini auf dem Flughafen von Teheran, von der Menge begeistert als 71 Den Hinweis auf diese Konversion verdanke ich Prof. Yann Richard. Die Ehe mit ihrem Musiklehrer, vom Hof als Mésalliance wahrgenommen, und die Konversion des Paares zum Christentum waren allerdings auch Grund dafür, dass die Prinzessin zunächst in Ungnade fiel. Erst nach ihrer Versöhnung mit dem Hof konnte das Paar in den Iran zurückkehren.

Die Mollahs und die Christen: Leben in der Islamischen Republik

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Imam begrüßt. Damit lag die Macht in den Händen des Ayatollah. Eine Woche später kontrollierten seine Anhänger Radio und Fernsehen sowie die Armee. Die letzte Regierung des Schahs hatte ausgedient, anstelle von Bakhtiar ernannte Khomeini Mahdi Bazargan zum Ministerpräsidenten. Am 1. April 1979 bestätigte eine Volksabstimmung mit 98 Prozent Zustimmung die Islamische Republik. Zwar hatte Ayotollah Ruhollah Khomeini anlässlich des Weihnachtsfestes 1978 die Christen aufgefordert, sich an der Revolution zu beteiligen und ihnen versichert, sie genössen auch in einer Islamischen Republik volle Rechte, ja mehr Rechte als im Unrechtsregime des Schahs. Angesichts der Autorität Khomeinis löste dies zunächst Hoffnungen, zumindest jedoch eine gewisse Erleichterung in Kirchenkreisen aus. Allerdings nahmen die revolutionären Unruhen und das Chaos während der Revolutionsmonate eine sehr negative Wendung für die Kirchen. Während der Revolution bedrängten vor allem inoffizielle, radikale Gruppen die christlichen Kirchen. Die Regierungsbehörden blieben weitgehend untätig oder waren machtlos. Angehörige des Anǧomān-e tablīġāt-e eslāmī (Islamischer Propaganda-Verein), die schon in den Jahren vor der Revolution kirchliche Aktivitäten beobachtet und Christen zum Islam aufgerufen hatten, verübten Übergriffe auf Kirchen, besetzten kirchliche Einrichtungen und griffen Christen an. Diese Aktionen waren von den Revolutionsgarden offenbar gedeckt. Sogenannte Revolutionsgerichte, deren Kompetenzen neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit zunächst unklar waren, ließen Kirchenführer verhaften und verhören, fällten in mehreren Fällen auch Urteile. Bald wurde die Kompetenz dieser Gerichte auf Fälle von konterrevolutionären Aktivitäten und Spionage beschränkt; allerdings mit dem Ergebnis, dass die Schergen dieser Gerichte bei Razzien in kirchlichen Einrichtungen nach Material suchten, das die Zusammenarbeit als Agenten mit dem Ausland, vor allem den USA und Großbritannien, beweisen sollte. Teils wurde Material zu diesem Zweck bewusst in anderen Kontext gestellt, teils einfach gefälscht. In den Medien wurde eine auf Lügen und erfundenen Geschichten beruhende Hetzkampagne gegen die Kirchen geführt. Am 10. August 1979 wurden alle ausländischen katholischen Priester und Ordensleute des Landes verwiesen. Sie mussten den Iran innerhalb eines Monats verlassen. Dies betraf 144 von 150 Priestern der römisch-katholischen Kirche. Bereits im Juni waren alle Schulen, Internate und Krankenstationen der katholischen Ordensgemeinschaften enteignet worden (sieben von 14 katholischen Schulen). Die Einrichtungen wurden entweder nationalisiert oder geschlossen, ihre Gebäude konfisziert. Nur die chaldäische und die armenische Gemeinschaft durften ihre Schulen behalten. Der katholische Erzbischof, der irische Dominikaner William Barden, wurde im Sommer 1980 ausgewiesen. Im Juli 1980 wurden die Salesianer aufgrund ihrer Verbindungen zu ihrem Provinzialat in Bethlehem verdächtigt, Spionage für Israel zu betreiben. Sie wurden inhaftiert, allerdings bereits im August freigesprochen und freigelassen.72

72 Bugnini 1981:353; Dehqani-Tafti 1981:107; Valognes 1994:787–788; Galletti 2003:244.

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Im Zuge der revolutionären Unruhen wurde am 19. Februar 1979 der anglikanische Pastor von Shiraz, Arastoo Syah, in seinem Büro ermordet. Am 11. Juni besetzten radikale Revolutionäre das anglikanische Krankenhaus in Isfahan. Ein „Revolutionskomitee“ übernahm die Leitung und plünderte die Konten des Krankenhauses; am 12. Juli geschah dasselbe mit dem Krankenhaus in Shiraz. Am 12. August wurden die Einrichtungen der Christoffel-Blindenmission in Isfahan übernommen.73 Am 19. August drang eine Bande von Revolutionären in das anglikanische Bischofshaus in Isfahan ein, bedrohte Bischof Hassan Dehqani-Tafti und seine Frau, „beschlagnahmte“ Material (so persönliche Briefe und Listen von Gemeindemitgliedern und Konfirmationsregister) und verwüstete die Räume. Am 3. Oktober wurde eine Ausbildungsfarm für Blinde bei Isfahan beschlagnahmt. Am 8. Oktober wurde Bischof Hassan Dehqani-Tafti willkürlich vor ein religiöses Gericht gezerrt und verhört. Am 20. Oktober erfolgte ein nächtlicher Angriff auf ihn und seine Frau in ihrem Haus, bei dem auf den Bischof geschossen wurde. Nachdem Bischof Dehqani-Tafti im November den Iran verlassen hatte und auf Drängen von Freunden aus Sicherheitsgründen nicht zurückkehrte, töteten am 6. Mai 1980 Unbekannte in Teheran seinen Sohn. Im August 1980 wurden alle britischen Missionare des Landes verwiesen, andere Missionare sowie iranische Priester wurden verhaftet und unter dem Vorwurf der Spionage in Haft gehalten.74 In einem Brief vom 19. September 1980 an den Revolutionsführer Ayatollah Khomeini, den er später veröffentlichte, beklagte der anglikanische Bischof Dehqani-Tafti von seinem englischen Exil aus: „Es ist jetzt über anderthalb Jahre her seit damals [der Weihnachtsbotschaft Khomeinis von 1978] und leider hat sich das, was die Episkopalkirche im Iran in diesem Zeitraum getroffen hat, als gegenteilig zu Ihren Versprechungen erwiesen. Die Hoffnung auf mehr Freiheit und Gerechtigkeit hat sich in Enttäuschung gewandelt und, wenn das Böse, die Ungerechtigkeit und Grausamkeit gegen uns nicht abgestellt werden, wird der beschämende Fleck für immer an den Verantwortlichen haften bleiben. Zuerst wurde angenommen, dass eine kleine Gruppe von Opportunisten die Situation auszunutzen suchte mit persönlichem Gewinn und Machthunger als ihrer einzigen Motivation. Aber das Böse und die Grausamkeit haben sich leider so weit ausgebreitet, dass es scheint, dass diese Gruppe geleitet und unterstützt wird von stärkerer und gefährlicherer Hand für undurchschaubare Zwecke. Diese Übeltäter haben menschliche Werte jeder Art vollkommen vergessen, sie verunglimpfen den Namen der Kirche in äußerst unehrenhafter Weise, indem sie Christen und kirchliche Mitarbeiter verfolgen, töten, inhaftieren und falsche Anschuldigungen gegen sie vorbringen. Sie nutzen die Medien als Mittel, um all das zum Ausdruck zu bringen, was ihnen über uns in den kranken Sinn kommt. […] Deshalb bitte ich Sie ergebenst darum einzugreifen, damit die Verfolgung ein Ende hat, Wiedergutmachung geleistet wird und vor allem sechs loyale Mitarbeiter und Mitglieder der Kirche, die 73 1926 hatte Ernst Christoffel ein Blindenheim in Tabriz gegründet, 1928 war ein zweites in Isfahan eingerichtet worden. Christoffel selbst wurde als deutscher Staatsbürger 1942 von den Briten verhaftet und 1945 nach Deutschland entlassen. Lyko 1964:82–83. 74 Dehqani-Tafti 1981:37–63, 90–91, 95–96.

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unter falschen und absurden Anschuldigungen und gegen alle Gerechtigkeit und menschliche Werte in jeder Religion verhaftet wurden, freigelassen werden, damit sich die dunklen Wolken, die zwischen Islam und Christentum aufgezogen sind, verziehen.“ Der Bischof erhielt allerdings keine Reaktion auf diesen Brief.75 Im Februar 1981 wurde die anglikanische Kirche für aufgelöst erklärt und alle ausländischen Mitarbeiter wurden ausgewiesen. Die anglikanische St. Lukeʼs Church in Isfahan konnte dennoch weiterarbeiten, die anglikanische Kirche in Shiraz wurde dagegen geschlossen. Mitte der 1980er Jahre milderte sich die Haltung gegenüber den Anglikanern, im Juni 1986 konnte ein neuer Bischof geweiht werden. Dafür durften vier Bischöfe in den Iran einreisen.76 Aus seinem Exil in England resümierte Bischof Hassan Dehqani-Tafti die Islamische Revolution 1981 folgendermaßen: „Die Revolution rief laut nach Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit für alle; und es waren viele, die ihr Bestes getan hätten, um eine wirklich gerechte, freie und sichere Gesellschaft zu schaffen. Aber die Fanatiker haben das Ruder übernommen. Sie wurden blind und haben andere geblendet mit Bezug auf die Tatsache, dass Gerechtigkeit und Freiheit unteilbar sind. Ihr könnt nicht ungerechterweise Eigentum, das einer Kirche gehört, stehlen und behaupten, ihr seid gerecht. Ihr könnt nicht Menschen einschüchtern, ihre jungen Männer überfallen und ermorden und es Freiheit nennen. Wenn ihr das tut, dann ist eure Revolution falsch gelaufen, ihr selbst seid die Unterdrücker geworden, auch wenn ihr es nicht merkt. Es ist ein Jammer, dass die Revolutionäre, indem sie den Fanatikern nachgegeben haben, die Sympathien vieler gemäßigter, gut gebildeter Iraner verloren haben, denen die Sache einer gerechten und freien Gesellschaft am Herzen lag. Dadurch haben sie die Revolution ihrer intellektuellen Führung und Erfahrung beraubt, die jedes System braucht, um in der heutigen Welt wahrhaft erfolgreich zu sein.“77 Zur Rolle der 75 „It is now over a year and a half since then and unfortunately, what has befallen the Episcopal Church in Iran within this period, has proved contrary to your promises. The hope for more freedom and justice has turned into disillusion and if the evil, injustice and cruelty against us is not remedied, the shameful mark will remain forever on those responsible. At first, it was assumed that a small group of opportunists were seeking to take advantage of the situation, with personal benefits and a thirst for power as their only motivations. But evil and cruelty have extended so far that unfortunately, it seems that this group is being guided and supported by stronger and more dangerous hands for mysterious purposes. These evil-doers have completely forgotten about human values of any kind, blackening the name of the Church in a most dishonourable manner by persecuting, killing, imprisoning, and bringing false accusations against Christians and church workers. They use the media as a means to express anything that comes to their unhealthy minds about us. […] Therefore, I humbly ask you to intervene so that persecution may stop, redress may be made, and above all, six loyal church workers and members who have been held under false and absurd accusations, against all justice and human values in every religion, may be set free, so that the dark clouds which have appeared between Islam and Christianity may be cleared.“ Dehqani-Tafti 1981:92–97. 76 Sanasarian 2000:123–124. 77 „The Revolution shouted loudly about justice, freedom, and security for all; and there were many who would have done their utmost to bring about a genuinely just, free, and secure society. But the extreme fanatics took over. They became blinded to the fact, and managed to blind others to it, that justice and freedom are indivisible. You cannot unjustly steal property belonging to a church and claim to be just. You cannot frighten people, ambush and murder their young men, and call it free-

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Christen schrieb er: „Was die Christen angeht, unser Dienst für unser Land war dies: Wir standen für Wahrheit und Gerechtigkeit in der Hoffnung, dass die Revolutionäre dadurch dazu gebracht würden, ihre eigene Ungerechtigkeit zu erkennen. Wir sind willentlich der Leiden Christi teilhaftig geworden, damit etwas Heilung in die verwundeten Seelen unseres Volkes fließen kann. Unsere Zahl war nicht groß; aber wenn es um die höchsten Dinge des Lebens geht, spielen Zahlen keine wirkliche Rolle. Einigen Menschen wurde geholfen. Ein muslimischer Freund erzählte mir, wie er und andere durch unser Einstehen für Wahrheit und Gerechtigkeit ermutigt wurden.“78 Während verschiedene Gruppen Übergriffe auf kirchliche Einrichtungen und Missionare unternahmen und von den Behörden die oben genannten Maßnahmen gegen Einrichtungen ergriffen wurden, die in ihren Augen als ausländische zu betrachten waren, blieben die Institutionen und Würdenträger der armenischen, assyrischen und chaldäischen Kirche weitgehend unbehelligt. Unterdessen machten sich die Revolutionsführer daran, der Revolution einen gesetzmäßigen Rahmen zu geben. Die anerkannten religiösen Minderheiten wurden in der bereits vor der Revolution üblichen Weise an diesen Beratungen beteiligt. Mit der Ausarbeitung einer Verfassung für die Islamische Republik wurde der Expertenrat (maǧles-e ḫebregān) beauftragt. Er tagte von August bis November 1979 unter Vorsitz von Ayatollah Hossein-Ali Montazeri und seinem Stellvertreter Ayatollah Beheshti. Ihm gehörten 73 Mitglieder an, davon 55 islamische Kleriker, außerdem vier Vertreter der religiösen Minderheiten: je ein Abgeordneter der Armenier (Hrair Khalatian), der Assyrer (Sargon Bet-Oshana), der Juden (Aziz Daneshrad) und der Zoroastrier (Rostam Shahzadi). Bahai waren nicht vertreten. Die Abgeordneten der Minderheiten konnten sich frei zu den vorgeschlagenen Verfassungsartikeln äußern und wurden von den beiden Vorsitzenden des Rates auch regelmäßig gegen sich wiederholende Angriffe extremistischer Abgeordneter in Schutz genommen. Erwartungsgemäß erklärten alle vier Abgeordneten ihre Zustimmung zur Islamischen Republik und zur Führerschaft Ayatollah Khomeinis. In den Diskussionen sprachen sie sich mit Blick auf den Entwurf zu Artikel 13 („Zoroastrische, jüdische und christliche Iraner sind die einzigen anerkannten religiösen Minderheiten, die im Rahmen des Gesetzes frei sind in der Ausübung ihrer religiösen Zeremonien, in Fragen des Personalstatuts und der religiösen Erziehung.“) dafür aus, den Begriff „Minderheit“ (aqaliyyat) durch „Gemeinschaften“ (ǧāmeʿe) zu ersetzen. Außerdem dom. If you do, your revolution has gone wrong, you yourself have become the oppressor, even if without realizing it. The pity of it was, that by giving in to the fanatics, the revolutionaries lost the sympathy of many moderate, well-educated Iranians who had the cause of a just and free society at heart, thereby depriving the Revolution of the intellectual leadership and experience which any system needs to be truly successful in todayʼs world.“ Dehqani-Tafti 1981:99–100. 78 „As for the Christians, our service to our country was this: we stood for thruth and justice, hoping that the revolutionaries would thereby be brought to recognize their own injustice. We willingly became partakers in the sufferings of Christ, so that some healing might flow into the wounded souls of our people. Our numbers were not large; but when it comes to the most sublime things of life, numbers do not really matter. Some people were helped. A Muslim friend told me how he and others had been encouraged by our stand for truth and justice.“ Dehqani-Tafti 1981:100.

Türkei

Abb. 1: Blick auf das mehrheitlich syrisch-orthodoxe Dorf Ain Wardo im Tur Abdin, Südosttürkei (2014). Während der Massaker von 1915 widersetzte sich die Bevölkerung des Dorfes einige Wochen den osmanischen Einheiten. Foto: Nathalie Ritzmann

Abb. 2: Die Zahl der griechischen Gläubigen in Istanbul ist sehr klein geworden. Sonntagsliturgie in der St. Georgs-Kirche des Ökumenischen Patriarchats (2008). Foto: Matthias Vogt

Abb. 3: Im Istanbuler Stadtviertel Fanar am Goldenen Horn wohnen viele der verbliebenen Griechen. Hier im Vordergrund die (inzwischen abgerissene) Bootsanlegestation. Die „Große Schule der Nation“ auf halber Höhe des Hügels zeugt vom ehemaligen Glanz der griechischen Gemeinschaft. Foto: Nathalie Ritzmann

Abb. 4: Osterfeierlichkeiten in Vakıflı Köy (Provinz Hatay), einem der letzten armenischen Dörfer der Türkei (2011). Foto: Nathalie Ritzmann

Iran

Abb. 5: Armenische Waisenkinder in einer katholischen Einrichtung in Tabriz (1923). Foto: Historisches Archiv der Kongregation für die orientalischen Kirchen, Vatikan (Armeni 1737/28 n° 1)

Abb. 6: Chaldäische Gläubige am Eingang zu einer Kirche in Salmas, Provinz West-­Aserbaidschan (2014). Foto: Matthias Vogt

Abb. 7: Das Leben der armenischen ­Gemeinschaft spielt sich hinter hohen Mauern ab. Hier der Vorplatz und der Eingang zu armenisch-orthodoxen Vank-Kathedrale in Neu-Jolfa, Isfahan. Foto: Matthias Vogt

Irak

Abb. 8: Chaldäische Flüchtlinge aus der Region Urmia (Persien) vor ihrer Kapelle in einem Lager bei Bagdad (ca. 1927). Foto: Historisches Archiv der Kongregation für die orientalischen Kirchen, Vatikan (Caldei 134/27 n° 11a)

Abb. 9: König Faisal I. trifft den chaldäischen Patriarchen Mar Emmanuel II. Thomas in Telkef, Nordirak. Ganz rechts im Bild: Joseph Khayatt, syrisch-­ katholischer Chorbischof und Abgeordneter von Mossul im Parlament des Irak (1931). Foto: Historisches Archiv der Kongregation für die orientalischen Kirchen, Vatikan (Caldei 433/31 n° 2)

Abb. 10: Im Krieg der Zentralregierung in Bagdad gegen die Kurden in den 1970er Jahren wurden auch zahlreiche christliche Dörfer zerstört (1976). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 11: Blick vom Kloster Rabban Hormizd über die Niniveh-Ebene (1976). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 12: Christliche Frauen im Dorf Alqosh in Kurdistan mit einer katholischen Ordensschwester (1976). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 13: Ein Kämpfer einer christlichen Selbst­verteidigungseinheit im irakischen Kurdistan zeigt seine Waffensammlung. Verschiedene dieser Einheiten verteidigten 2015 christliche Dörfer gegen Vorstöße des IS. Foto: Matthias Vogt

Abb. 14: Gebet der Mönche im syrisch-orthodoxen Kloster Mar Matta im ­Nordirak (2013). Foto: Matthias Vogt

Abb. 15: Traditionelle Dorfkirche im kurdischen Nordirak. Koisanjak östlich von Erbil (2013). Foto: Matthias Vogt

Abb. 16: Christliche Flüchtlinge aus der Niniveh-Ebene haben in ihrem Lager auf dem Gelände der chaldäischen Kirche Mar Elia in Ankawa bei Erbil eine Krippe aufgebaut. Das Zelt trägt die Aufschrift „Zelt Jesu“ (2014). Foto: Douglas Bazi

Abb. 17: Kindergartenzelt für christliche Flüchtlinge in Sarsink in den Bergen Kurdistans nordöstlich von Dohuk (2015). Foto: Matthias Vogt

Abb. 18: In einem Zelt in einem Flüchtlingslager in Ankawa bei Erbil wurde eine Kirche eingerichtet. Die Christen haben den vom IS zur Kennzeichnung christlicher Häuser verwendeten arabischen Buchstaben ‫( ن‬N für Nazarener) stolz auf die Rückenlehnen der Stühle geschrieben (2015). Foto: Matthias Vogt

Abb. 19: Willkommensplakat für Rückkehrer in das mehrheitlich chaldäische Dorf Karamles in der Niniveh-Ebene (April 2018). Foto: Matthias Vogt

Abb. 20: Gottesdienst in der syrisch-orthodoxen Kirche in Qaraqosh für die ersten Christen, die nach der Vertreibung zurückgekehrt sind. Die Kirche zeigt die Spuren der Verwüstung durch Brandschatzung durch den IS (April 2018). Foto: Matthias Vogt

Abb. 21: Assyrisches Dorf in den Bergen des irakischen Kurdistan (2015). Foto: Matthias Vogt

Libanon

Abb. 22: Einsiedeleien mit Kapellen sind typisch für die mönchische Frömmigkeit der Maroniten. Hier eine Szene aus den Dorf Bqaa Kafra (Wadi Qadisha) in einer Kapelle des libanesischen Nationalheiligen Mar Charbel (1993). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 23: Nach dem Bürgerkrieg liegen weite Teile des Zentrums von Beirut in Trümmern (1993). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 24: Der Gründer der Adyan-Stiftung, Fadi Daou, im Gespräch mit einem drusischen Würdenträger, einem sunnitischen Scheich und einer katholischen Ordensschwester. Foto: Adyan Foundation

Syrien

Abb. 25: Das christliche Dorf Maalula im Qalamun-­Gebirge (2001). Foto: Matthias Vogt

Abb. 26: Priester in einem christlichen Dorf (1978). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen Abb. 27: Weihnachtsgottesdienst in der zerstörten maronitischen Kathedrale von Aleppo (2016). Foto: Maronitische Erzdiözese Aleppo

Palästina und Israel

Abb. 28: Nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948 waren 88.000 christliche Palästinenser auf der Flucht. Seit 1949 koordiniert die Pontifical Mission for Palestine Hilfe. Hier das Lager für Hilfsgüter in den 1950er Jahren. Foto: CNEWA-Pontifical Mission, Jerusalem

Abb. 29: Das christliche Dorf Bar’am im äußersten Norden Israels steht seit dem Krieg von 1948 leer. Den ehemaligen Bewohnern wird bis heute die Rückkehr verweigert. Nur die Kirche durften sie vor einigen Jahren renovieren. Sie wird seither für Gottesdienste bei besonderen Anlässen genutzt. Foto: Deutscher Verein vom Heiligen Lande (DVHL)

Jordanien

Abb. 30: Schüler einer christlichen Schule zeigen am Nationalfeiertag Bilder von König Hussein II. und das Emblem des melkitisch-katholischen Erzbischofs (1993). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Ägypten

Abb. 31: Wüstenkloster Anba Bishay (1960er Jahre). Foto: Photos-Service/vivant univers

Abb. 32: Papst Shenouda III. in seinem Büro in Kairo (1977). Foto: Karl-Heinz Melters, missio Aachen

Abb. 33: Koptische Gläubige in einer historischen Kirche bei Minia (2013). Foto: Matthias Vogt

Abb. 34: Koptisches Dorf bei Minia im mittleren Niltal (2012). Foto: Matthias Vogt

Abb. 35: Moderne koptische Kirche am Nil bei Kairo (2013). Foto: Matthias Vogt

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plädierten sie dafür, das Wort „einzige“ zu streichen. Der armenische Abgeordnete schlug darüber hinaus vor, die iranischen Christen als Armenier und Assyrer zu definieren, um sie so von den westlichen Christen abzugrenzen; möglicherweise ein taktischer Vorschlag, um die besondere Solidarität der Armenier gegenüber der Islamischen Revolution unter Beweis zu stellen. Der assyrische Abgeordnete protestierte dagegen, dass gemäß Artikel 64 Assyrer und Chaldäer (wie vorher) im Parlament nur einen Abgeordneten stellen sollten, fand allerdings kein Gehör: es blieb bei je einem Abgeordneten für Assyrer, Juden und Zoroastrier und zwei für die Armenier. Damit sind Christen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit (nicht unbedingt aufgrund ihrer Religion) drei Parlamentssitze garantiert. Für den Fall der Bevölkerungszunahme sieht der Artikel gleichzeitig die Einrichtung weiterer Abgeordnetenplätze für jeweils 150.000 Armenier beziehungsweise Assyro-Chaldäer vor. Die Aufstellung der Kandidaten und die Wahlen innerhalb der Minderheitengemeinden sind bis heute ungewöhnlich offen und frei. Interventionen der Behörden sind selten. Unter den Armeniern gibt es eine heftige Konkurrenz zwischen dem eher bürgerlich-nationalistischen Dashnak (dessen Einfluss zu Zeiten des Schahs unbestritten war) und den linken Kräften, die als Tudeh-i (in Referenz zur kommunistischen Tudeh-Partei) zusammengefasst werden.79 Allerdings wurde 1983 der assyro-chaldäische Abgeordnete, Sargon Bet-Oshana, trotz seiner parlamentarischen Immunität wegen „politischer Motive“ mehrere Monate inhaftiert.80 Das Regime richtete sein Augenmerk während der beiden revolutionären Jahre 1979 und 1980 zunächst auf die lateinische und die protestantische Kirche; die orientalischen Kirchen blieben zunächst verschont. Während und nach der Revolution kam es fast nicht zur Zerstörung oder Plünderung von Kirchen oder kirchlichen Einrichtungen dieser Gemeinschaften. Ausnahmen bildeten religiöse Zentren und Friedhöfe der Armenier in Städten des Nordens (Rasht, Anzali, Gorgan und Sari) in den ersten Monaten des Jahres 1980. In einem Fall drangen Revolutionsgardisten in Teheran in eine armenische Kirche ein und protestierten gegen die „halbnackte“ Darstellung Jesu am Kreuz. Dem Bild mussten Kleider zugefügt werden. Interne Konflikte zwischen der bürgerlich-nationalistischen Dashnak-Partei und linken Kräften spiegelt die Geiselnahme des armenischen Erzbischofs von Teheran, Artak Manukian, im Jahr 1979 wider. Der Diözesanrat war zu Zeiten des Schahs ausschließlich von Dashnak-­ Anhängern besetzt. Linke Kräfte innerhalb der armenischen Gemeinschaft wollten die Revolutionswirren nutzen, um hier eine Änderung herbeizuführen. Massenproteste von Armeniern führten allerdings zur baldigen Freilassung des Erzbischofs.81 Mit dem Ausbruch des iranisch-irakischen Kriegs wurden aber auch die orientalischen Kirchen in ihrer Freiheit stark eingeschränkt, von der Polizei überwacht, ihr Vereinsleben

79 Sanasarian 1995:256–259; Chaqueri 1998:144–146; Sanasarian 2000:58–72. 80 Yacoub 1996:230; Galletti 2003:179. 81 Sanasarian 1995:258; Sanasarian 2000:74–75.

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erstickt, die Einfuhr religiöser Schriften verboten und die Schulen enger staatlicher Aufsicht und weitgehender Einmischung unterworfen.82

Diskriminierung und Ausgrenzung: Gesetzliche Rahmenbedingungen für das Leben der iranischen Christen und das Wirken der Kirchen Gemäß Prinzip 13 der Verfassung von 1979 gilt: „Zoroastrische, jüdische und christliche Iraner sind die einzigen anerkannten religiösen Minderheiten, die im Rahmen des Gesetzes frei sind in der Ausübung ihrer religiösen Zeremonien, in Fragen des Personalstatuts und der religiösen Erziehung.“ Im 14. Prinzip heißt es: „Die Regierung der Islamischen Republik Iran muss mit Blick auf die Nicht-Muslime im Sinne der gesunden Moral, der islamischen Gerechtigkeit und Ausgewogenheit handeln und ihre Menschenrechte achten.“ Dies gilt allerdings nur, insofern „sie nicht gegen den Islam und die Islamische Republik Iran handeln oder Komplotte schmieden.“ Christliche Vereine sind zulässig, sofern sie die Prinzipien der nationalen Einheit, die Vorschriften des Islam und die Grundsätze der Islamischen Republik achten (Prinzip 26). Der Gebrauch anderer Sprachen als des Persischen ist außerhalb offizieller Texte und behördlicher Aktenführung und Korrespondenz erlaubt, inklusive deren Unterricht in der Schule neben dem Persischen (Prinzip 15). Die Regelung von Personenstandsangelegenheiten gemäß dem Gesetz von 1943 wurde ausgeweitet und von den staatlichen Behörden geachtet.83 Die Ausübung ihrer Religion ist den anerkannten religiösen Minderheiten grundsätzlich erlaubt, allerdings wird der Gottesdienst in großer Diskretion und nicht in der Öffentlichkeit gefeiert. Außerdem müssen sie alle Gottesdienste, Zeremonien und Feiertage sowie deren genaue Daten vorher bei den Behörden anmelden. Auch die wiederkehrenden Feste in den jährlich von den Kirchen veröffentlichten Kalendern bedürfen der Genehmigung durch die Behörden. Reden und Predigten bei öffentlichen Veranstaltungen müssen vorher dem Ministerium für Kultur und religiöse Leitung (Vezārat-e farhang va-eršād-e eslāmī, kurz: Eršād) vorgelegt werden; sofern sie in anderen als der persischen Sprache gehalten werden zusammen mit einer persischen Übersetzung. Die Einfuhr und der Druck von Bibeln – auch in armenischer Sprache – war in den ersten Jahren nach der Revolution streng verboten. Die iranische Bible Society wurde allerdings erst 1990 geschlossen. Von Beginn der Islamischen Republik an wurde Christen die Missionierung von Muslimen streng verboten. Die religiösen Führer wurden aufgefordert, eine entsprechende Erklärung zu unterzeichnen. Allein 82 Valognes 1994:790–791. 83 Valognes 1994:779–780; Yacoub 1996:231–235. Fragen des Personalstatuts werden zunächst den kirchlichen Behörden vorgelegt und dort entschieden. Jedoch bleibt den Betroffenen, gerade im Fall von Ehescheidungen, der Weg vor ein staatliches Zivilgericht offen. Dieses muss sich nicht an die kirchliche Entscheidung halten, holt aber in aller Regel eine kirchliche Empfehlung zu dem vorgelegten Fall ein und respektiert diese meistens. Eine Unterminierung der kirchlichen Autoritäten findet in diesem Bereich also nicht statt. Sanasarian 1995:246.

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der Präsident des Rates der Protestantischen Kirchen im Iran, Bischof Haik Hovsepian-Mehr, weigerte sich, diese Erklärung zu unterschreiben (er wurde 1994 ermordet).84 Das Strafrecht der Islamischen Republik macht einen klaren Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. So wird bei Ehebruch eines nicht-muslimischen Mannes mit einer muslimischen Frau der Nicht-Muslim mit dem Tode bestraft. Ist der Ehebrecher dagegen Muslim, stehen ihm hundert Peitschenhiebe zu. Im Falle von Tötungsdelikten sieht das Strafgesetz die Todesstrafe für den Täter vor, wenn das Opfer Muslim ist. Auch auf die Tötung eines Nicht-Muslims durch einen Nicht-Muslim steht die Todesstrafe. Das Gesetz schweigt jedoch in Bezug auf die Tötung eines Nicht-Muslims durch einen Muslim. Ayatollah Khomeini erklärte, nur wenn es sich um eine Wiederholungstat handle, müsse der Muslim mit dem Tode bestraft werden, ansonsten müsse er Blutgeld (dīye) bezahlen. Die Höhe des Blutgelds war per Gesetz ebenfalls lange nicht geregelt. Stattdessen wurde auf islamisches Recht verwiesen. Damit fiel für die Tötung, beziehungsweise unbeabsichtigte Tötung (zum Beispiel bei einem Autounfall) von nicht-muslimischen Männern nur die Hälfte des Blutgeldes an, das für einen Muslim fällig wäre, für die Tötung einer nicht-muslimischen Frau sogar nur ein Viertel. 2004 wurde auf Betreiben des assyrischen Abgeordneten das Blutgeld für Muslime und Nicht-Muslime per Gesetz angeglichen (geänderter Artikel 297 des Islamischen Strafgesetzbuchs von 1991). Das Gesetz gilt allerdings nur für anerkannte nicht-muslimische Minderheiten, also nicht für Bahai und Konvertiten vom Islam). Auch das Zivilrecht unterscheidet Muslime und Nicht-Muslime. So darf ein nicht-­muslimischer Mann keine muslimische Frau heiraten. Kinder aus Mischehen werden automatisch als Muslime betrachtet, auch wenn sie (im Ausland) nach der Geburt getauft wurden. In Erbangelegenheiten fällt das gesamte Erbe dem muslimischen Familienmitglied zu, falls es ein solches gibt. Die Ansprüche der nicht-muslimischen Erben sind hinfällig und können nur durch Konversion zum Islam wieder geltend gemacht werden. Eine Bestimmung, die schon zur Zeit der Qajaren galt und von der Islamischen Republik wieder voll zur Geltung gebracht wurde (Gesetz 881b des Zivilgesetzbuchs von 1982). Dieses Gesetz findet allerdings – wie viele diskriminierende Regeln im Iran – nur sporadisch und keineswegs systematisch Anwendung. Dennoch gibt es immer wieder derartige Fälle.85 Von nicht unbedeutender gesellschaftlicher Relevanz war auch die in den frühen 1980er Jahren in der breiten Öffentlichkeit geführte Debatte um die Unreinheit von Nicht-Muslimen (naǧes/neǧāsat). Danach überträgt sich die Unreinheit von Ungläubigen durch den Kontakt mit Feuchtigkeit oder Lebensmitteln (so war bereits im 18. und 19. Jahrhunderten Juden und Christen verboten worden, bei Regen auf die Straße zu gehen, weil sich ihre Unreinheit über das Regenwasser übertrage). Christliche Kinder durften mit dieser Begründung in manchen Schulen nicht mehr die allgemeinen Wasserhähne benutzen. Aus der Produktion in der staatlichen Getränke- und Lebens84 Sanasarian 2000:74–75. 85 Sanasarian 2000:131–134.

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mittelindustrie wurden Nicht-Muslime ausgeschlossen. Sie durften dort nur noch Verwaltungsposten einnehmen, aber keine Arbeiten ausführen, die sie in Kontakt mit den Lebensmitteln hätten bringen können. Private Lebensmittelgeschäfte (zum Beispiel für Süßigkeiten und Bäckereien, deren Spezialitäten bei Muslimen sehr beliebt waren) mussten Schilder anbringen mit der Aufschrift „Speziell für Minderheiten“, um muslimische Kunden zu warnen. Verboten wurde Muslimen der Einkauf allerdings nicht. Mit Blick auf die Wahrnehmung im Ausland wurden die Geschäfte 1997 aufgefordert, die Schilder zu entfernen, ohne dass allerdings das Gesetz aufgehoben worden wäre. In der Praxis führten die Vorschriften zu einer strikteren Trennung zwischen strenggläubigen schiitischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Ein Großteil der Bevölkerung, inklusive schiitische Religionsgelehrte, beachtete diese religiöse Vorschrift allerdings nie.86 Problematisch blieb für Nicht-Muslime die Forderung nach Durchsetzung islamischer Moral-, Bekleidungs- und Speisevorschriften auch im nicht-muslimischen Kontext. Von Beginn der Revolution an drangen Extremisten, Revolutionsgarden und andere immer wieder in christliche Feiern ein, um Alkoholkonsum (der Christen grundsätzlich zugestanden war) zu unterbinden, Frauen zum Tragen des Schleiers zu zwingen und eine räumliche Trennung von Männern und Frauen durchzusetzen. Solche Vorfälle gibt es bis heute. Stellen die Eindringlinge Verstöße fest, verhängen sie willkürlich Strafen, meist Auspeitschen. Art und Häufigkeit hängen mit dem Eifer lokaler Beamter und Offiziere zusammen. Auch von den „Strafen“ können sich die Betroffenen meist „freikaufen“. Letztlich geht es offenbar mehr um ein Instrument der Einschüchterung, persönlichen Machtausübung und Bereicherung. In der Praxis hat es aber dazu geführt, dass Feiern immer strenger auf die eigene Gemeinschaft beschränkt und Muslime gar nicht eingeladen werden und sich die Gemeinschaften so im gesellschaftlichen Leben noch stärker voneinander isolieren.87 Erheblichen Einschränken unterliegen die protestantischen Freikirchen. Die meisten dieser Kirchen nehmen muslimische Konvertiten auf und machen daraus keinen Hehl. Sie haben bis heute mit regelmäßigen Drohungen, Schließungen von Kirchen, Verhaftungen von Mitarbeitern (meist Pastoren/Prediger oder Kirchendiener) und willkürlichen Anklagen zu rechnen. Ein bekanntes Beispiel ist der Konvertit Mehdi Dibaj. Er wurde 1983 verhaftet und zehn Jahre ohne Anklage in Haft gehalten. 1994 wurde er schließlich vor Gericht gebracht und wegen Apostasie und Beleidigung des Islam zum Tode verurteilt. Der Präsident der Protestantischen Kirchen, Bischof Haik Hovsepian-Mehr, setzte sich öffentlich für ihn ein und mobilisierte internationales Aufsehen für den Fall. Die Todesstrafe wurde daraufhin aufgehoben. Allerdings verschwand Bischof Hovesepian-Mehr wenige Tage nach der Freilassung Dibajs und wurde später erstochen aufgefunden. Einen Monat später wurden auch Mehdi Dibaj und Hovsepian-Mehrs Nachfolger im Amt des Präsidenten der Protestantischen Kirchen, Tateos Mikaelian, ermordet. Die Gerichtsurteile gegen die angeklagten Mörder 86 Sanasarian 1995:253–254; Sanasarian 2000:84–87. 87 Sanasarian 2000:89–93.

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fielen sehr milde aus und die Prozesse wiesen Unregelmäßigkeiten auf. Der Staat hatte offenbar wenig Interesse daran, die Hintermänner und die wahren Ursachen für die Morde zu finden.88 Aufgrund der Repressionsmaßnahmen gegen evangelikale Freikirchen gab es 1996 nur noch zwei protestantische Kirchen, in denen in persischer Sprache Gottesdienst gefeiert werden durfte: eine in Teheran und eine in Rasht. In den anderen musste in Armenisch oder Assyrisch gepredigt werden. Der Vorwurf an die Kirchen lautet häufig, sie seien „politische Organisationen“, vom Ausland finanziert. Anti-israelische, anti-zionistische, anti-imperialistische, anti-westliche Gefühle sowie Ausländerhass werden in der öffentlichen Darstellung dieser Kirchen genährt, wenn es dem Regime oder Teilen der herrschenden Klasse opportun erscheint. 89 Für die persisch-sprachigen Christen bedeutet dies, dass sie ständig im Verdacht der Spionage für oder 88 Sanasarian 2000:124–125; Richard 2014:285–286. Die Behörden behaupteten daraufhin, es habe nie ein Todesurteil gegeben. Die spätere Ermordung Dibajs wurde den Volksmojahedin zugeschrieben, die 1981 von Ayatollah Khomeini verboten worden waren. Hinweis von Y. Richard. Weitere Beispiele aus jüngerer Zeit für die Verhaftung von Mitarbeitern protestantischer Kirchen und Konvertiten: 2009 und 2012 wurde der Leiter einer Hauskirche in Rasht unter dem Vorwurf, illegale Gebetsversammlungen organisiert und Bibeln verteilt zu haben, festgenommen. 2009 wurde der Konvertit Yusef Naderkhani festgenommen und wegen Apostasie zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde allerdings vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. 2012 wurde Naderkhani freigelassen. Im Juli 2017 wurde er aber erneut verhaftet. Im Jahr 2010 startete die Regierung eine Kampagne gegen den Proselytismus und ließ über 60 Personen verhaften. Ein Teil von ihnen, Pastoren und Gläubige, wurde zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. 2011 wurden vier führende Gemeindemitglieder der Assemblies of God in Ahwaz verhaftet und nach fast einem Jahr in Untersuchungshaft wegen „Bekehrung zum Christentum und Aktivitäten gegen die Islamische Republik durch die Verkündigung des Evangeliums“, zu Haftstrafen verurteilt. Sie kamen im Dezember 2013 beziehungsweise Januar 2014 wieder frei. 2011 wurden drei Pastoren und ein Diakon in Karaj festgenommen und wegen „staatsfeindlichen Aktionen“ und „Verstoß gegen die öffentliche Ordnung“ zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. 2014 wurden sie von einem Berufungsgericht freigesprochen. Drei von ihnen wurden freigelassen, einer (Behnam Irani) blieb wegen „früherer Vergehen“ weiter in Haft. 2012 wurde ein Konvertit festgenommen und „regierungsfeindlicher Propaganda“ sowie „Handlungen gegen die nationale Sicherheit“ angeklagt. Er kam erst 2015 aus der Haft frei. 2012 wurden sechs Christen verhaftet und nach über einem Jahr in Untersuchungshaft zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie christlichen Hauskirchen angehört hätten. Anfang 2013 wurde ein amerikanischer Pastor iranischer Abstammung (Saeed Abedini) bei einem Besuch im Iran verhaftet und wegen „Gefährdung der inneren Sicherheit des Iran“ zu acht Jahren Haft verurteilt. Er kam 2016 vorzeitig frei. 2013 wurde die Kirche der Assemblies of God in Teheran von den iranischen Sicherheitskräften geschlossen. Ihr Pastor, Robert Asseriyan, wurde festgenommen, kurze Zeit später aber wieder auf freien Fuß gesetzt. 2013 wurden in Teheran mehrere Konvertiten und ein Pastor festgenommen, mehrere Monate in Gewahrsam gehalten und dann wieder auf freien Fuß gesetzt. 2013 wurden in Shiraz vier Iraner verhaftet, die vom Islam zum Christentum übergetreten waren. Sie wurden zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt, „weil sie bei Versammlungen in einer Hauskirche auch Kontakt zu ausländischen Priestern gesucht hatten und damit die nationale Sicherheit gefährden.“ 89 Sanasarian 2000:125–128.

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Kollaboration mit feindlichen Mächten stehen. Für die armenischen und assyrischen Christen macht es Abgrenzung von Konvertiten oder ihren Nachkommen notwendig, damit sie nicht selbst in diesen Verdacht geraten. Immer wieder wurde allerdings auch die katholische Kirche Gegenstand von Unterdrückungsmaßnahmen des Staats. Drei Mal wurden chaldäische Bischöfe des Landes verwiesen. So musste im Oktober 1994 Thomas Meram, Bischof von Urmia, das Land verlassen, konnte allerdings nach einiger Zeit zurückkehren.90 Das katechetische Zentrum Saint-Jean, an dem Schriften in persischer Sprache hergestellt wurden, wurde 2010 geschlossen. Es arbeitet seither in Frankreich.91

Der Kampf um die eigene Identität: der Streit um die armenischen Schulen Die Schulen der Minderheiten konnten anders als die Missionsschulen während der Revolution mehr oder weniger ungestört ihren Betrieb in gewohnter Weise fortsetzen. Erst Ende 1981 wurden verschiedene neue Regeln eingeführt. Es bleibt wie bei vielem unklar, welche Gruppen tatsächlich für diese Politik verantwortlich waren und was bezweckt werden sollte. Die Umsetzung erfolgte je nach Region und Persönlichkeit der lokal Verantwortlichen sehr unterschiedlich. Zunächst wurden die Schulen aufgefordert, ihre Namen zu ändern, vor allem die Benennung nach früheren (auch altpersischen) Königen wurde untersagt; so musste die assyrische Mädchenschule „Sussan“ ihren Namen in „Maryam“ ändern. Dann wurden alle Schulen zu reinen Mädchen- oder Jungenschulen erklärt. Dabei oblag es der Schule selbst, für welches Geschlecht sie sich entschied. Außerdem durften sich auf dem Schulgelände keine Kirchen oder Kapellen befinden. In einigen Fällen wurden Mauern zwischen Schule und Kirche errichtet. Im Fall einer assyrischen Schule, wo dies nicht möglich war, wurde die Einrichtung vom Staat übernommen und geschlossen. Die assyrische Gemeinschaft ging bis in die 1990er Jahre mit Protesten gegen diese Enteignung vor. Ab 1983 wurden auch an Minderheitenschulen muslimische Direktoren, Lehrer und Angestellte entsandt, die teils islamische Integristen waren und eine negative Einstellung zu den nicht-muslimischen Minderheiten hatten. Dies führte zu zahlreichen Problemen in der Schulpraxis. Proteste dagegen wurden vom zuständigen Ershad-Ministerium teils angehört, teils ignoriert. Für alle christlichen Schulen war die Verwendung des Lehrbuchs für nicht-islamische Religionen verpflichtend, das vom Unterrichtsministerium erstellt worden war. Der Unterricht wurde von muslimischen Lehrern erteilt und die Darstellung der christlichen Religion entsprach in keiner Weise kirchlicher Lehre und Vorstellung. Mehrfach protestierten die Kirchenführer gegen diese Unterrichtspraxis, alle Eingaben blieben jedoch unbeantwortet. Auch die Beurteilung aller Schüler gemäß islamischen Verhaltens führte zu Spannungen. Oft erhielten christliche Schüler von fanatischen Lehrern willkürlich schlechte Noten und konnten damit nicht 90 Yacoub 1996:235. 91 Balbont 2014:293–294.

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an der Aufnahmeprüfung für den Hochschulzugang teilnehmen. Die Teilnahme an der Abschlussprüfung für islamische Religion wurde für nicht-muslimische Schüler erst in den 1990er Jahren abgeschafft. Auf Antrag können sie seither davon befreit werden.92 Ein langjähriger Konflikt mit den armenischen Schulen begann im November 1981. Regierungsbehörden untersagten das Lehren der armenischen Sprache. Aus Protest schlossen die Schulen für eine Woche. Eine formale Entscheidung des Unterrichtsministeriums diesbezüglich gab es nicht. Das ganze Jahr 1982 war von Protesten, Eingaben der Bischöfe und Abgeordneten und verschiedenen Maßnahmen der Behörden geprägt. Der armenisch-orthodoxe Erzbischof von Teheran, Artak Manukian (1960– 1999) forderte in einem Brief an das Unterrichtsministerium, dass nur noch armenische Schüler in den Schulen seiner Gemeinschaft aufgenommen werden sollten, dass die armenische Religion frei gelehrt werden dürfe, dass die armenische Sprache Teil des Lehrplans bleiben müsse, dass die Atmosphäre an den Schulen der armenischen Kirche, Religion und Kultur entsprechen müsse und dass die Lehrer so weit wie möglich Armenier sein müssten. Das Unterrichtsministerium reagierte auf diese und andere Eingaben mit dem Beschluss, dass der Religionsunterricht in persischer Sprache stattzufinden habe und der Unterricht der armenischen Sprache auf zwei Stunden pro Woche beschränkt sein müsse. Für die Abschlussprüfung in Religion des Jahres 1983 wurden vom Ministerium die Fragen in persischer Sprache vorgelegt. Die meisten Schüler weigerten sich, die Prüfung abzulegen. Im November 1983 wiederholte das Ministerium seinen Entscheid und ergänzte, dass für den Religionsunterricht nur das offizielle staatliche Lehrbuch für Religion verwendet werden dürfe und dass Schülerinnen und Lehrerinnen die islamischen Bekleidungsvorschriften einzuhalten hätten. Die armenische Kirche protestierte erneut, verwahrte sich aber gleichzeitig gegen Einmischung aus dem Ausland, nachdem die westliche Presse den Fall aufgegriffen hatte. Die Regelungen blieben im Prinzip in Kraft. Umgesetzt wurden sie aber wohl nur in Teheran. In Isfahan wurden weiterhin sechs bis acht Wochenstunden Sprachunterricht in Armenisch gehalten. Auch in Rasht und Tabriz waren die Behörden flexibler. Erst in den 1990er Jahren entspannte sich die Situation. Seit 1995 waren fünf Stunden Armenisch-Unterricht auch in Teheran erlaubt.93

Anpassung als Überlebensstrategie Angesichts der Machtverhältnisse in der Islamischen Republik sind Kirchenführer immer wieder gezwungen, ihre Loyalität zum System zum Ausdruck zu bringen. 92 Yacoub 1996:235; Sanasarian 2000:82–84. Das Erziehungsministerium begründete seine Entscheidung zur Einführung eines staatlichen Lehrbuchs für „Monotheismus“ damit, dass namentlich die Armenier die religiöse Erziehung durch nationalistische Lehren ersetzt hätten. Sie würden ihre Kinder damit nicht mehr die Grundlagen ihrer Religion lehren, sondern sie für kommunistische Einflüsse öffnen. Die Tatsache, dass das Lehrbuch persisch war, war ein Widerspruch in sich, denn das Ministerium verbot, christliche Religion in persischer Sprache zu lehren, um Muslime vor dem Einfluss des Christentums zu schützen. Richard 1990:98–103. 93 Valognes 1994:784; Sanasarian 1995:247–252; Sanasarian 2000:76–82.

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Bereits im November 1982 machten sämtliche christliche Religionsführer Ayatollah Khomeini zusammen mit einer 800-Personen-starken Delegation die Aufwartung. Sie erklärten ihre Solidarität mit der Islamischen Republik und dankten Khomeini für die Aufmerksamkeit, die er ihren Belangen schenke sowie für „Freiheit und Brüderlichkeit“. Schließlich beteten sie gemeinsam für den Sieg der iranischen Truppen im Krieg gegen den Irak.94 Öffentliche Bekundungen dieser Art machen die völlige Unterwerfung der Minderheiten gegenüber der islamischen Regierung deutlich und die herrschende Angst vor einer Assoziation der Christen mit dem Ausland. Der Katholikos von Kilikien, Karekin II. Sarkissian (1932–1999), von 1971 bis 1977 Erzbischof von Isfahan, besuchte kurz nach seiner Installation 1983 den Iran und traf mit Khomeini zusammen. Immer wieder betonte er die Opferbereitschaft der armenischen Soldaten während des Iran-Irak-Kriegs. 1990 lobte er bei einem weiteren Pastoralbesuch die besondere Aufmerksamkeit der islamischen Regierung für die Belange der Armenier. 1993 verteidigte die armenische Kirche die Islamische Republik vor einem kritischen Bericht der UN-Menschenrechtskommission. Anlässlich des 100-jährigen Geburtstags von Ayatollah Khomeini (nach islamischem Kalender) hielt der armenische Diözesanrat im September 1999 eine Gedenkveranstaltung mit kulturellen und künstlerischen Darbietungen im Ararat-Club ab. Bei der offiziellen Veranstaltung für die Minderheiten, die am 28. September unter dem Titel „Tag der Anhänger der göttlichen Religionen“ am Khomeini-Mausoleum stattfand, lobten die eingeladenen Vertreter der religiösen Minderheiten die Politik des Präsidenten Mohammad Khatami und bedankten sich für die Freiheiten, die sie in der Islamischen Republik genössen. Kaum jemand zweifelt jedoch daran, dass derartige Loyalitätsbekundungen notwendig waren und sind, um die Existenz der Minderheiten im Iran zu sichern.95 Beim Besuch des armenischen Katholikos von Kilikien, Aram Keshishian im Juli 2000 versicherte Präsident Khatami dem Gast: „Ich bin stolz darauf, Präsident aller Iraner zu sein, einschließlich der geschätzten Armenier, und die Rechte aller zu verteidigen. Ich hoffe, dass Probleme, falls solche existieren, Schritt für Schritt gelöst werden können.“ Katholikos Aram versicherte im Gegenzug bei zahlreichen Empfängen während seines Besuches, die Vertreter des iranischen Staats der Loyalität und Dankbarkeit der Armenier.96 Einladungen hoher religiöser Würdenträger waren und sind ein Baustein in der Strategie der Islamischen Republik, ihre Minderheitenpolitik legitimieren zu lassen. Ebenso wie den einheimischen Vertretern der Minderheiten, die immer wieder – gerade angesichts internationaler Kritik an der Menschenrechtslage im Iran – betonen, dass sie eng an der Seite der islamischen Regierung stehen, bleibt auch den internatio­ nalen Gästen kaum etwas anderes übrig, als das Regime für seine Politik gegenüber den Minderheiten zu loben, sofern sie ihre Glaubensgenossen im Land nicht in Gefahr bringen wollen. 94 Chaqueri 1998:146–147. 95 Valognes 1994:783; Chaqueri 1998:146–151; Yaghoubian 2014:291–293. 96 Yaghoubian 2014:293–295.

Zwischen Ausgrenzung, Dialog und Emigration

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Zwischen Ausgrenzung, Dialog und Emigration: Perspektiven für das Christentum im Iran Je länger die Islamische Republik bestand und je größer die Unzufriedenheit, vor allem der gebildeten Jugend mit dem System wurde, desto größer wurde die Sorge der Mollahs, mit der Abwendung vom islamischen System könne auch die Abwendung von der islamischen Religion kommen. Nicht wenige begannen daher wieder für eine Trennung von Politik und Religion zu plädieren. Die Unzufriedenheit mit der Islamischen Republik ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass viele Iraner sich entweder ganz von der Religion abwenden oder Interesse für andere Religionen, nicht zuletzt für das Christentum, zeigen. Über Satellitensender und über das Internet erfahren sie dabei etwas über den christlichen Glauben. Gespräche mit christlichen Geistlichen können muslimische Iraner nur mit äußerster Diskretion führen. Muslimen ist das Betreten von Kirchen – mit Ausnahme zweier als Museen dienender armenischer Kirchen in Neu-Jolfa – grundsätzlich verboten. Auch Missionierung unter Muslimen ist streng untersagt. Gruppen von Konvertiten treffen sich daher zum Gebet meist in Parks und verhalten sich äußerst vorsichtig. Einzig evangelikale Gruppen nehmen muslimische Konvertiten in ihre Kirchen auf, die katholische Kirche ist in dieser Frage sehr zurückhaltend. Die Zahl derjenigen, die sich ernsthaft für das Christentum interessieren, ohne jedoch offiziell Christen werden zu können, ist schwer einzuschätzen. Manche Beobachter gehen von bis zu einer halben Million Personen aus. Die Situation der Christen im Iran bleibt wegen der gesetzlichen Rahmenbedingungen, der Diskriminierung durch Behörden, staatliche Einrichtungen und Sicherheitsorgane aller Art äußerst prekär. Es kann nicht wundernehmen, dass Christen seit den 1980er Jahren den Iran verlassen und ein besseres Leben im Ausland suchen, meist in den USA. Die eigentlich auf die Emigration von Juden spezialisierte Organisation Hias verhilft auch vielen Christen aus dem Iran zur Umsiedlung in die Vereinigten Staaten. Die Auswanderung – die allerdings kein rein christliches Phänomen ist, da zahlreiche junge Muslime auch keine Perspektive in ihrem Heimatland sehen – hat die christlichen Gemeinschaften stark zusammenschrumpfen lassen. 1978 betrug die Zahl der Christen im Iran noch rund 300.000 in einer Bevölkerung von 42 Millionen (0,7 %). Heute sind es weniger als 100.000, wahrscheinlich nur noch 80.000, in einer Bevölkerung von rund 80 Millionen (0,1 %). Die größte Gruppe stellen die Armenier mit 65.000 bis 70.000. Sie sind die einzigen, die zumindest in Teheran und Neu-Jolfa in Isfahan noch bedeutungsvolle Gemeinschaften mit eigenem kulturellen Leben aufrecht erhalten können. Die armenischen Schulen spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Assyrische Kirche des Ostens zählt nur noch 6.000 Gläubige im Iran. Die beiden chaldäischen Diözesen Teheran und Urmia-Salmas (die Diözese Ahwaz ist seit 1987 vakant, da dort fast keine Gläubigen mehr leben) haben jeweils nur noch 1.500 bis 2.000 Gläubige. Die traditionellen Siedlungsgebiete der Assyro-Chaldäer in den Dörfern rund um Urmia sind weitgehend aufgegeben. Zwar gibt es in einigen Dörfern noch eine Kirche, dort wird jedoch nur

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noch vereinzelt Gottesdienst gefeiert, da die Bistümer jeweils nur noch einen oder zwei Priester haben. Die Zahl der Gläubigen nimmt durch die Auswanderung kontinuierlich ab. Die Assyro-Chaldäer sind die Gruppe, die am schnellsten schrumpft. Es wird daher immer schwieriger, das Gemeindeleben aufrecht zu erhalten. Hinzu kommen Konflikte innerhalb der Gemeinschaft. Aufgrund der gemeinsamen Sprache und Kultur bilden orthodoxe, katholische und protestantische Assyro-Chaldäer eine Gemeinschaft, die von einem Abgeordneten im maǧles vertreten wird. Innerhalb dieser politisch-ethnischen Gemeinschaft herrscht jedoch keineswegs Einigkeit. So wurde 2009 die Assyrian Pentecostal Church in Teheran geschlossen, offensichtlich nachdem ein Mitglied der Gemeinschaft die Gemeinde wegen der Aufnahme von Muslimen angezeigt hatte. Derartige Vorfälle sind nicht selten und betreffen nicht nur die protestantischen Kirchen. Es zeigt sich darin nicht nur das Bestreben einiger, vor allem der politisch aktiven Mitglieder der Gemeinschaft, ihre Loyalität zur Islamischen Republik unter Beweis zu stellen. Es wird darin auch das unterschiedliche Bild deutlich, das sich verschiedene Gruppen von der assyro-chaldäischen Gemeinschaft machen: die einen sehen darin eine vorwiegend ethnisch definierte Gemeinschaft, in der Außenstehende keine Aufnahme finden können; die anderen sind bereit, auch neue Mitglieder – namentlich ehemalige Muslime – in die Glaubensgemeinschaft aufzunehmen. Auf Seiten der orthodoxen Armenier wird von Kirchenvertretern im Iran immer wieder die Unmöglichkeit der Aufnahme Außenstehender in die armenische Kirche, die als Nationalkirche verstanden wird, betont, so im Januar 2018 von Sebouh Sarkissian, Bischof von Teheran. Die Einschränkungen der Religionsfreiheit haben seit der Regierungszeit von Präsident Mahmud Ahmadinejat (2005–2013) wieder deutlich zugenommen. Diese Situation hat sich trotz des außenpolitisch milderen Kurses auch unter Präsident Hassan Rohani (seit 2013) nicht entscheidend verändert. Da die Maßnahmen nicht immer von den Behörden ausgehen, die direkt der Regierung unterstehen, sondern auch von den Sicherheitsorganen, die ein gewisses Eigenleben führen, ist darin auch ein Machtkampf der verschiedenen Organe zu sehen. Mehrfach wurden Kirchen und Gottesdiensträume, meist protestantische Hauskirchen, geschlossen und Geistliche verhaftet. Kirchliche Gebäude sind dabei immer wieder von Konfiskation bedroht. Auch die Vergabe von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen für ausländische Geistliche aller Kirchen erfolgt sehr restriktiv und willkürlich. Alle kirchlichen Mitarbeiter, die nicht iranische Staatsbürger sind, haben jederzeit mit ihrer Ausweisung zu rechnen, sobald sie in den Augen der Behörden oder bestimmter Sicherheitsorgane die Regeln, die das islamische System vorgibt, nicht beachten. Dies schränkt ihre Handlungsfreiheit erheblich ein. Es herrscht ein Klima der Bedrückung und Angst. Wenn außerhalb des Iran Kritik an der Menschenrechtslage im Land laut wird, erwartet die Regierung Beteuerungen der religiösen Würdenträger, dass sie volle Religionsfreiheit genießen und keinerlei Einschränkungen unterliegen. Auf internationaler Ebene bemüht sich die Islamische Republik um Dialog und ein Bild der Offenheit. So wurden die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan auch

Zwischen Ausgrenzung, Dialog und Emigration

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nach der Islamischen Revolution nicht abgebrochen. Seit 1994 gibt es regelmäßige Treffen zwischen der Organization for Islamic Culture and Relations und dem Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog. Allerdings geht es hierbei ausschließlich um theologischen Dialog, an dem die lokale katholische Kirche kaum beteiligt ist und der keine Auswirkungen auf das tägliche Leben der Christen im Iran hat. Dennoch bleiben diese Gespräche, auch wenn sie in unregelmäßigen Abständen stattfinden, ein wichtiges Forum. Zu begrüßen sind auch akademische Projekte zur Übersetzung christlicher Literatur ins Persische. Zwar ist den christlichen Kirchen selbst die Übersetzung der Bibel und anderer religiöser Schriften ins Persische und deren Verbreitung streng verboten. Dennoch wurden im akademischen Bereich, vor allem von der University of Religions and Denominations in Qom, wissenschaftliche Übersetzungen grundlegender christlicher Werke erstellt und deren Publikation vom zuständigen Ershad-Ministerium genehmigt. So erschien als erstes die Übersetzung der deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“) der Bibel, 2008 das Neue Testament mit Einführung und Kommentaren der Jerusalemer Bibel und 2014 der vollständige Katechismus der katholischen Kirche. Übersetzungen der Werke Augustinusʼ und anderer geistlicher Autoren wurden ebenfalls veröffentlicht. Die Publikationen sind aber nur möglich, weil sie nicht von Christen vorbereitet sind und vorrangig wissenschaftlichen Zwecken dienen. Damit steht erstmals seit der Islamischen Revolution wieder christliche Literatur in persischer Sprache zur Verfügung, allerdings ist sie kaum über den normalen Buchhandel zu beziehen und es ist davon auszugehen, dass Bestellungen gewissen Regeln unterliegen.97 Dessen ungeachtet gehen rechtliche, administrative und soziale Diskriminierung von Christen weiter. Dies sowie die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes befördern weiterhin die Auswanderung. Die assyro-chaldäische Gemeinde ist bis zu einer 97 Richard 2014:285. Auffallend ist das Interesse mehrerer führender schiitischer iranischer Denker und Politiker an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Christentum und einem vertieften Dialog mit Christen. Dieses Interesse war schon vor der Islamischen Revolution festzustellen und setzt sich bis heute fort. Besonders eingehend hat sich Ali Shariati (1933–1977), der als einer der Ideologen der Islamischen Revolution gilt, mit christlichen Vorstellungen beschäftigt. Darüber Richard 2000, vor allem die ausführlich zitierten Textpassagen pp. 121–124. Auch der schiitische Theologe Mohammad Mojtahed Shabestari (geboren 1936), von 1970 bis 1978 Direktor des schiitisch-islamischen Zentrums an einer Moschee in Hamburg, hat mehrere Aufenthalte in christlichen Klöstern vorzuweisen, nimmt regelmäßig an interreligiösen Dialogveranstaltungen teil und greift Ansätze der christlichen Theologie und Exegese auf. Richard 2009; Richard 2014:285. Mahdi Bazargan (1907–1995), zwar kein ordinierter schiitischer Theologe, aber wichtiger religiöser Denker, Führer der „Freiheitsbewegung“ und von Februar 1979 bis zu seinem Rücktritt aus Protest gegen die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran im November 1981 Ministerpräsident, richtete Anfang der 1990er Jahre eine sehr wohlwollende, wenngleich auch islamisch-werbende Schrift an „seine christlichen Brüder und Schwestern in Iran und überall auf der Welt“. Mehdi Bazargan, Und Jesus ist sein Prophet: Der Koran und die Christen, München, 22017, Zitat p. 23. Dieses Interesse geht sicherlich auf eine lange Tradition zurück. Dehqani-Tafti hat die Beschäftigung der persischen Geisteswelt (Religion, Poesie und Prosa) mit christlichem Gedankengut von den frühesten islamischen Zeiten bis ins 20. Jahrhundert in seinem dreibändigen Werk Masīḥ va-masīḥiyyat nazd-e Īrāniyān (englischer Nebentitel: Christ and christianity amongst the Iranians. Nur auf Persisch erschienen) nachgezeichnet, 1992–1994. Siehe auch Stümpel-Hatami 1996.

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Iran

Größe geschrumpft, dass auch die meisten im Iran verbliebenen Mitglieder ihre Zukunft im Ausland sehen. Die protestantischen Gemeinden, auch wenn sie mehrheitlich aus ethnischen Assyrern und Armeniern bestehen, werden immer wieder von Repressionen erschüttert, die durch die Aufnahme von Muslimen ausgelöst werden. Die katholischen Gemeinden des lateinischen Ritus sind sehr klein und bestehen zum größten Teil aus Ausländern und Ehefrauen von Iranern, die zeitweilig im Ausland gelebt haben. Konvertiten vom Islam können im Iran nicht aufgenommen werden. Die fortgesetzte Auswanderung ist das größte Problem der christlichen Gemeinden. Sie wird sich nicht stoppen lassen, solange sich die wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht grundsätzlich verändern. Dass Christen dabei in den Augen der Behörden und vieler Iraner, die wenig über Christen im eigenen Land wissen, als Ausländer oder Vertreter ausländischer Interessen betrachtet werden, macht es nicht einfacher. Zum Schluss soll hier jedoch noch einmal der anglikanische Bischof Hassan Dehqani-Tafti zu Wort kommen, der bereits 1981 schrieb: „Das Kreuz Jesu Christi wurde wegen der Verstrickung der Kirche mit weltlichen Mächten in der Vergangenheit oft missverstanden. Anstatt ein Zeichen des Leidens und der opferbereiten Liebe zu sein, wurde es von einigen als Zeichen des Besitzes und der Macht betrachtet. Christen müssen dies umkehren und der einzige Weg, dies zu tun, ist, bereit zu sein, um der Liebe willen zu leiden, in Schwäche, nicht in Macht. Das einzige Heilmittel für eine falsche Sicht auf das Kreuz ist das Kreuz selbst. Auch wenn nur wenige in unserer Kirche im Iran übrig bleiben, die daran glauben, wird es noch Leben geben, und wo Leben ist, da ist Hoffnung.“98

98 „The cross of Jesus Christ, because of the Churchʼs involvement in the past with worldly powers, has often been misunderstood. Instead of being the symbol of suffering and sacrificial love, it has been regarded by some as the symbol of possessions and power. Christians must reverse this, and the only way of doing so is to be ready to suffer for loveʼs sake, in weakness not in power. The only remedy for a false view of the cross is the cross itself. Even if only a few remain in our church in Iran who believe this, there will still be life, and where life is, there is hope.“ Dehqani-Tafti 1981:111–112.

Irak Mach dich auf den Weg, und geh nach Niniveh! (Jona 1,2)

Die christlichen Gemeinden in Mesopotamien von der Frühzeit bis heute Die Tradition der Kirche des Ostens

M

esopotamien, das Gebiet des heutigen Irak, bildet das Zentrum der sogenannten „Kirche des Ostens“, die sich im Jahr 410 als Kirche im Persischen Reich auf einer Synode in Seleukia-Ktesiphon, nahe dem heutigen Bagdad, konstituierte. Der Bischof von Seleukia-Ktesiphon nahm den Titel Katholikos an. Er vertrat die Christen, die nach alter Tradition vom Apostel Thomas sowie den Aposteln Mari und Addai für das Evangelium gewonnen worden waren. Sprache der Kirche war das aus Nordostsyrien stammende Syro-Aramäische. Trotz ihrer Trennung von der Kirche des römischen Reichs erlitten die Christen in Persien immer wieder schwere Verfolgungen und hatten zahlreiche Märtyrer zu verzeichnen. Im 7. Jahrhundert geriet die Kirche des Ostens unter islamische Herrschaft, erlebte aber in der Zeit der abbasidischen Kalifen, in deren Hauptstadt Bagdad der Katholikos residierte, eine ungekannte Blüte. Anhänger der Kirche des Ostens waren nicht nur am Hofe vertreten und stellten eine gebildete Elite von Übersetzern und Philosophen, sondern trugen auch den christlichen Glauben bis nach Indien und Ostasien. Patriarch Timotheos I. (778–823) ist nicht nur für die Organisation der Kirche im fernen Asien bekannt, sondern auch für seine theologische Diskussion mit dem abbasidischen Kalifen seiner Zeit. Die Kirche des Ostens wurde durch Kriegszüge Tamerlans (Timur Lenk, 1336–1405) schwer getroffen und verlor in den folgenden Jahrhunderten immer mehr an Einfluss und an Gläubigen. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Einflussgebiet der Kirche auf ein bergiges und schwer zugängliches Gebiet in Südostanatolien (Hakkari) sowie die Ebenen von Urmia und Salmas im iranischen Aserbaidschan und die Ebene östlich von Mossul (Niniveh-Ebene) zusammengeschrumpft. Streitigkeiten um eine Union mit der Kirche von Rom hatten seit dem 16. Jahrhundert zu zusätzlichen Spaltungen geführt. Nachdem einzelne Bischöfe mehrfach eine Union mit der katholischen Kirche eingegangen waren, die aber jeweils nach wenigen Jahrzehnten wieder auseinanderbrach, etablierte sich 1830 endgültig eine mit Rom unierte Kirche. Ihre Gläubigen werden als Chaldäer bezeichnet. Die Gläubigen der nicht-unierten Kirche, jahrhundertelang Nestorianer genannt, begannen sich im 19. Jahrhundert allgemein als Assyrer zu bezeichnen. Dabei nahmen sie eine traditionelle Bezeichnung, Assori, auf (die eigentlich

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Irak

nichts anderes als „Syrer“ bedeutete) und verbanden sie unter dem Einfluss britischer Missionare, die ihrerseits im Bann der Entdeckungen europäischer Archäologen standen, mit der altorientalischen Kultur der Assyrer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten Assyrer überwiegend in den Bergen der osmanischen Provinz Hakkari, wo sich auch – im Dorf Qotchanes – der Sitz ihres Pa­ triarchen befand, sowie im kurdischen Bergland rund um Dohuk. In Stämmen organisiert, teilten sie weitgehend die kriegerischen Lebensgewohnheiten der benachbarten kurdischen Stämme, entzogen sich der osmanischen Obrigkeit und den Steuereintreibern und dachten nicht daran, die Investitur ihres Patriarchen – wie bei den meisten anderen Kirchen üblich – vom Sultan in Istanbul zu erbitten. Ein kleinerer Teil der Assyrer lebte als osmanische raya, Untertanen, außerhalb der kriegerischen Stam­ mestradition. Der chaldäische Patriarch, Oberhaupt der mit Rom unierten Kirche, hatte seinen Sitz dagegen in der osmanischen Provinzhauptstadt Mossul. Seine Gläubigen verteilten sich auf das kurdische Bergland und die Dörfer der Niniveh-Ebene. Dort lebten sie entweder mit sunnitischen Arabern und kurdischen Hirten, oder mit Jesiden und Schabak, einer schiitischen Sondergemeinschaft. Mossul und die Niniveh-Ebene bilden aber zusammen mit dem weiter westlich an der Grenze zu Syrien gelegenen Sinjar-Gebirge seit alters her auch ein Zentrum der syrisch-orthodoxen Kirche. Vor allem das Mönchtum westsyrischer Tradition prägte die Gegend und das Kloster Mar Matta östlich von Mossul war jahrhundertelang Sitz des Maphrian, der den Patriarchen in den östlichen Bistümern der syrisch-orthodoxen Kirche vertrat. Heute ist das Kloster noch Sitz eines Bischofs, der Autorität über mehrere Dörfer in der Umgebung hat. Der größere Teil der syrisch-orthodoxen Christen wird vom Erzbischof von Mossul vertreten. Neben den syrisch-orthodoxen Christen gehört ein bedeutender Teil der irakischen Christen der westsyrischen Tradition der syrisch-katholischen Kirche an. Zentren der syrisch-katholischen Kirche waren bis zum Vorrücken des Islamischen Staats 2014 Qaraqosh (so der Name türkischen Ursprungs, aramäisch: Baġdīdā, arabisch: al-Ḥamdāniyya) in der Niniveh-Ebene und das nahegelegene Kloster Mar Behnam. Die Zahl der Christen im Nordirak hat sich durch die tragischen Ereignisse, die sich während des Ersten Weltkriegs in Anatolien abspielten, deutlich erhöht. Zehntausende Chaldäer, Assyrer, Syrer und Armenier gelangten damals aus Anatolien – teils auf Umwegen – in die Region Mossul und ins südliche Kurdistan. Als diese Region dem britischen Mandatsgebiet Irak zugeschlagen wurde, fanden sie dort Aufnahme. Nicht immer geschah dies ohne Reibungen mit der ansässigen arabischen und kurdischen Bevölkerung. Den Schwerpunkt des Christentums bildete bis in die 1950er Jahre die Provinz Mossul. 1935 lebten 110.885 Christen unterschiedlicher Konfessionen und Riten im Irak, davon 78.355 in den nördlichen und 31.671 in den zentralen und südlichen Provinzen.1 Bagdad hatte bis 1951 zwar eine bedeutende jüdische Bevölkerung (sie wurde nach 1

Filoni 2006:180 n. 24.

Die christlichen Gemeinden in Mesopotamien von der Frühzeit bis heute

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der Staatsgründung Israels allerdings fast vollständig ausgesiedelt), zählte allerdings vergleichsweise wenige Christen. Erst mit dem Ausbau der staatlichen Verwaltung, dem Entstehen von Bildungseinrichtungen und dem sozialen Aufstieg von Christen in die gebildete Mittelschicht und damit in die sogenannten freien Berufe zog es immer mehr Christen in die Hauptstadt. Die Kurdenkriege, die in den 1960er und 70er Jahren den Nordirak erschütterten, beschleunigten diese Entwicklung. Die chaldäische Kirche folgte dieser Entwicklung mit der Verlegung des Patriarchats von Mossul nach Bagdad im Jahr 1958. Bereits 1954 war ein Bistum in Basra errichtet worden. 1969 wurde das Priesterseminar Sankt Peter nach Bagdad verlegt und 1990 mit dem Babel College eine theologisch-philosophische Fakultät gegründet.2 Die syrisch-orthodoxe Kirche trug der wachsenden Zahl ihrer Gläubigen im Zentral- und Südirak mit der Gründung der Diözese Bagdad und Basra im Jahr 1960 Rechnung.3

Die Christen im Irak heute Die größte konfessionelle Gruppe unter den Christen des Irak stellen die mit Rom unierten Chaldäer dar. Sie bilden zwei Drittel der irakischen Christen und zählen heute nach der massiven Auswanderung noch ca. 250.000 (2003 waren es noch 500.000). Der chaldäische Patriarch, seit 2013 Mar Louis Raphaël I. Sako (geb. 1948), 2018 von Papst Franziskus in den Kardinalsrang erhoben, residiert in Bagdad. Die Kirche hat sieben Diözesen im Irak. Die chaldäische Kirche und ihr Klerus stehen seit der Gründung des Irak loyal zum Staat. Damit gelang es der chaldäischen Kirche besser als der Assyrischen Kirche des Ostens, sich in dem arabisch geprägten Land zu integrieren. Das wird in den folgenden Abschnitten deutlich.4 Eine zweite bedeutende Gruppe von Katholiken bildet die syrisch-katholische Kirche mit etwa 40.000 Gläubigen (2003: 60.000). Lebten 2003 nach kirchlichen Angaben noch 25.000 syrisch-katholische Christen in Bagdad (und Basra), ist ihre Zahl bis heute auf unter 5.000 gesunken. Die meisten sind in den Norden abgewandert, vor allem nach Qaraqosh, dessen Einwohnerzahl sich zwischen 2003 und 2014 mehr als verdoppelte. Mehrere tausend Ausländer, Angehörige der lateinischen Kirche, verließen seit 1990 das Land, so dass heute nur noch eine sehr kleine Zahl römisch-katholischer Gläubiger im Land lebt. Sie werden von einem Erzbischof in Bagdad vertreten. Die Assyrer bilden die zweitgrößte Gruppe im Irak, auch wenn sie die größte Auswanderungsbewegung erfahren hat. Der assyrische Patriarch Mar Shimʼun Ishai war 1933 aus dem Irak ausgewiesen worden und lebte seit 1940 in den USA (zu den näheren Umständen siehe unten, Der unabhängige Irak und die „Assyrische Frage“). Auf Patriarch Shimʼun Ishai, der 1975 – nachdem er eine unkanonische Ehe eingegangen war – von einem assyrischen Gläubigen ermordet worden war, folgte in Übergehung 2 Sako 2010:39–40. 3 Ḥāwā/Sākā 2013:57–58. 4 Audo 2008:211–212; Teule 2008:154–156; Sako 2010:25–40; Suermann 2010:54–55; Vogt 2014:136– 139.

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Irak

der traditionellen Erbfolge der bisherige Bischof von Teheran, Mar Denkha IV., auf dem Patriarchenthron. Er bereiste 1978 den Irak und wurde bei dieser Gelegenheit auch von Staatschef Saddam Hussein empfangen. Die Tatsache seiner iranischen Staatsangehörigkeit und seiner Residenz im Ausland blieben jedoch infolge des irakisch-iranischen Konflikts schwierig für die Beziehungen seiner Kirche zum irakischen Staat.5 Die assyrische Synode beschloss im Februar 1990 die Rückkehr des Patriarchats nach Bagdad. Wegen des Golfkriegs wurde dies jedoch nicht realisiert; Mar Denkha IV. residierte weiter in Chicago.6 Erst sein Nachfolger, Mar Gewargis Sliwa, transferierte das Pa­ triarchat in den Irak und nahm kurz nach seiner Wahl 2016 in Erbil Residenz. Die Zahl der Assyrer im Irak wurde 2003 optimistisch auf 150.000 (besser: 100.000 oder weniger) geschätzt. Heute dürften es wohl nicht viel mehr als 50.000 sein. 1964 kam es innerhalb der assyrischen Kirche zu einem Schisma. Im Streit über die Kalenderreform spaltete sich der Metropolit für Indien, Thomas Darmo, vom Patriarchat in Chicago ab und gründete mit einigen Bischöfen und mit Unterstützung des Clanführers Malek Khoshaba die „Alte katholische und apostolische Kirche des Ostens“. Die Bischöfe wählten ihn zum Patriarchen mit Sitz in Bagdad. Mar Thomas Darmo starb 1969. Ein Nachfolger wurde erst 1972 gewählt, weil man hoffte, zu einem Ausgleich mit der Assyrischen Kirche zu gelangen, was aber scheiterte. Patriarch wurde dann unter dem Namen Mar Addai II. der bisherige Bischof von Kirkuk. Er erhielt unmittelbar die Anerkennung durch Präsident Ahmad Hasan al-Bakr und seiner Kirche wurden von der Regierung alle Gebäude der assyrischen Kirche im Irak zugesprochen. Nicht umsonst hatte man aus dem Namen die ethnische Bezeichnung „assyrisch“ gestrichen und so ein deutliches Zeichen in Richtung der Regierung gesandt, dass man sich der Arabisierungspolitik nicht widersetzen werde. Die Kirche von Patriarch Shimʼun XXI., der in Chicago residierte, wurde dagegen als „politische Bewegung, gefährlich für das Interesse der Nation und des Volkes“ eingestuft. Allerdings änderten sich die Verhältnisse bereits im Jahr 1970 wieder. In Folge eines Pastoralbriefs von Mar Shimʼun, in dem er von den Gläubigen Loyalität zum irakischen Staat eingefordert hatte, wurde er nun seinerseits von der Regierung als Kirchenoberhaupt anerkannt. Die Kirche von Mar Addai hat im Irak drei Diözesen (Bagdad, Kirkuk und Niniveh) und zählte zu Beginn der 1990er Jahre rund 25.000 Gläubige, 15 Gemeinden und zehn Priester. In den zurückliegenden Jahren hat die Kirche durch Auswanderung einige Gläubige verloren, dank der engen familiären Bindungen innerhalb des Irak jedoch offenbar weniger als die anderen Kirchen.7 Die Ökumene unter den drei Kirchen der ostsyrischen Tradition (Chaldäer sowie den beiden Zweigen der Kirche des Ostens) ist angesichts der immer kleiner werdenden Gemeinden im Irak eine zentrale Frage. 1994 verabschiedeten Papst Johannes Paul II. und der assyrische Patriarch Mar Denkha IV. eine gemeinsame christologische 5 6 7

Valognes 1994:431; Le Coz 1995:391–395. Yacoub 1996:24–25; Yacoub 2003:52. Valognes 1994:420, 422; Le Coz 1995:392–393; Filoni 2006:232–233; Rassam 2016:165.

Die schwierige Staatswerdung

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Erklärung. Seither hat es mehrere ernsthafte Versuche einer echten Kircheneinheit gegeben, zuletzt als die Wahl eines Nachfolgers für den 2015 verstorbenen assyrischen Patriarchen Mar Denkha anstand. Der Bildung einer gemeinsamen Synode und der Wahl eines gemeinsamen Patriarchen standen dann aber doch zu viele Hindernisse im Weg. Kleinere Gruppen von Christen stellen Protestanten, deren Zahl 2003 noch (hoch geschätzt) 10.000 betrug (davon 5.000 Presbyterianer, 250 Adventisten, 2.000 Pfingstkirchler, 2.000 Angehörige der assyrisch-evangelischen Kirche, 500 Anglikaner sowie einige Baptisten, Kongregationalisten und Lutheraner). Heute dürfte ihre Zahl noch die Hälfte betragen. Die kurz nach der amerikanischen Invasion ins Land gekommenen evangelikalen Prediger haben trotz der großen Aufregung, die sie anrichteten, kaum Gläubige gewinnen können. Die Armenier teilen sich in zwei Gruppen. Erstens: Alteingesessene Gemeinden in Bagdad und Basra; sie waren ab dem 17. Jahrhundert aus Isfahan in Persien eingewandert und waren zum größten Teil im Handel mit Ostasien tätig. Sie sprechen bis heute armenisch. Zweitens: Eine Gruppe im kurdischen Norden rund um Zakho; sie hat sich ihrer Umwelt angepasst und spricht bis heute kurdisch.8 Etwa 20.000 Armenier waren nach dem Ersten Weltkrieg als Flüchtlinge in den Irak gekommen. Nach einigen Jahren im Lager Baquba siedelten sie sich in Bagdad, Basra, Kirkuk, Mossul und rund um Zakho an. Wegen ihrer pro-westlichen Einstellung wurden der armenisch-orthodoxe Klerus und armenische Geschäftsleute von den radikalen Regimes Abd al-Karim Qasims und der Brüder Arif mit großem Misstrauen behandelt. Nicht wenige wanderten seit dieser Zeit aus. 2003 machten sie noch etwas über 20.000 Personen aus, davon 18.000 Armenisch-Orthodoxe und 3.000 Armenisch-Katholische. Die meisten sind inzwischen ausgewandert.9 Von den ehemals 500 Griechisch-Orthodoxen und 350 Melkiten haben ebenfalls die meisten das Land verlassen. Von den 3.000 bis 4.000 Kopten, ägyptische Arbeitskräfte, verließen viele den Irak, als sich Ägypten der Koalition zur Befreiung Kuwaits anschloss. Andere folgten während des Embargos der 1990er Jahre.

Die schwierige Staatswerdung: Stämme, Konfessionen und die religiösen Minderheiten Der Irak am Ausgang des 1. Weltkriegs Britische Truppen hatten seit 1917 die mesopotamischen Provinzen des Osmanischen Reichs besetzt. Nach dem Sykes-Picot-Abkommen sollten die Provinzen Basra und Bagdad an Großbritannien, die Provinz Mossul an Frankreich fallen. Das ölreiche 8 9

Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Herman Teule. Hovannisian 1974:28–29; Yacoub 1996:25–27; Yacoub 2003:51–57; Galletti 2003:159.

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Mossul stand beim Abschluss des Waffenstillstandsvertrags von Moudros noch unter der Kontrolle osmanischer Truppen. Die Briten beeilten sich jedoch, diese wenige Tage nach Eintreten des Waffenstillstands noch zu vertreiben und damit auch im Norden Mesopotamiens die Kontrolle zu übernehmen. Bei der Friedenskonferenz in Paris stellte sich die Frage nach dem Status Mesopotamiens. Der chaldäische Patriarch Mar Emmanuel II. Thomas (1900–1947) plädierte bei seinem Besuch in Paris im Januar 1920 für den Anschluss Mossuls und Kurdistans an das französische Mandatsgebiet. Für die Chaldäer forderte er explizit keine Autonomie, sondern den Schutz Frankreichs („Je nʼaspire pas pour mon peuple à une autonomie, mais seulement à une protection efficace de la France.“). Damit suchte er für die Mehrheit der chaldäischen Christen, die damals in der Provinz Mossul lebten, wo sich auch der Sitz des Patriarchats befand, die traditionelle Schutzrolle Frankreichs für die Katholiken des Nahen Ostens weiterzuführen.10 Die Konferenz übertrug jedoch im April 1920 das Mandat für die drei ehemaligen osmanischen Provinzen Bagdad, Basra und Mossul Großbritannien. Die endgültige Grenzziehung zwischen dem britischen Mandatsgebiet und der Türkei blieb allerdings zunächst offen. Die Errichtung des britischen Mandats über das neu geschaffene Gebiet des Irak führte bereits im Mai 1920 zu Aufständen, die von schiitischen Stämmen im mittleren Euphrat-Tal getragen waren. Außerdem revoltierten Kurden im Norden, die ihre Hoffnungen auf einen kurdischen Staat getäuscht sahen. Großbritannien ging mit massivem Truppeneinsatz gegen die Aufständischen vor und setzte schließlich auf ein Bündnis mit sunnitischen Kräften, bestehend aus ehemaligen Offizieren der osmanischen Armee. Der britische Hochkommissar bot ihnen die Bildung einer nationalen, arabischen Regierung an. Diese nahm im Oktober ihre Arbeit auf. Im November wurde der letzte Widerstand der Aufständischen niedergeschlagen. Im März 1921 stellte England dann weitere Weichen für die Zukunft seines Mandatsgebiets: Faisal, der von den Franzosen im Sommer 1920 aus Damaskus vertriebene König des kurz zuvor proklamierten Arabischen Reichs, wurde als Herrscher ausersehen und am 23. August 1921 zum König des Irak gekrönt. Damit war die Vorherrschaft einer sunnitischen, moderat pan-arabisch gesinnten Führungsschicht unter britischer Oberherrschaft etabliert. Die chaldäische Kirche, Vertreterin der zahlenmäßig größten Gruppe von Christen im Irak, widersetzte sich den Bemühungen der Briten zur Staatsbildung nicht, trotz des früheren Eintretens ihres Patriarchen für ein französisches Mandat. Die Briten erkannten ihn als Oberhaupt seiner Kirche an, ernannten ihn zum Mitglied des 1920 gebildeten Advisory Council of Ministers und mit Einrichtung der Monarchie 1921 zum Mitglied des Senats.11 Die Beziehungen zwischen England und dem Irak wurden im anglo-irakischen Vertrag vom 10. Oktober 1922 geregelt. Dieser legte bereits die Grundlagen für die spätere irakische Verfassung. Im Vertrag wurde ein Grundrechtekatalog mit aufgeführt, der 10 Weibel Yacoub 2011:173–175. 11 Khadduri 1951:2–14; Fürtig 2016:18–25.

Die schwierige Staatswerdung

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unter anderem die vollständige Freiheit des Gewissens und der freien Ausübung aller Formen des Gottesdienstes, das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion oder Sprache sowie das Recht jeder Gemeinschaft zum Betrieb von Schulen in der eigenen Sprache vorsah.12 Bereits nach der Unterzeichnung des Vertrags von Sèvres (August 1921) und der endgültigen Festlegung der Mandatsgebiete für Frankreich und England hatte sich eine assyro-chaldäische Delegation in Istanbul an die britische Regierung gewandt mit der Bitte, die traditionellen Rechte ihrer Volksgruppe bei der Erarbeitung einer Verfassung für den Irak zu beachten. Mit Blick auf den chaldäischen Patriarchen forderte die Delegation die Bestätigung aller Rechte, die ihm durch den osmanischen Berat zugestanden worden waren. Während der Verhandlungen von Lau­ sanne (1922/23) forderte diesmal eine andere Gruppe, „im Namen des Conseil national assyro-chaldéen“, noch einmal die territoriale Autonomie von Mossul für die eigene Volksgruppe. Angesichts der kemalistischen Ambitionen fürchteten sie die Wiederherstellung der türkischen Souveränität über das Gebiet. Diese Forderungen fanden allerdings kein Gehör.13 Die Lage in der Provinz Mossul war in der ersten Hälfte der 1920er Jahre unübersichtlich und gespannt. Die Grenzfrage mit der Türkei war ungeklärt. Kurden strebten in dem Gebiet nach Autonomie oder Unabhängigkeit. Assyrer und Chaldäer, die während des Ersten Weltkriegs aus Anatolien vertrieben worden waren, suchten sich in den Bergen Kurdistans und der Ebene von Mossul anzusiedeln. Die Spannungen waren nicht nur Interessenvertretern der Assyrer und Chaldäer Anlass zur Sorge, auch der Völkerbund beauftragte am 30. September 1924 eine Untersuchungskommission. Der Bericht der Kommission vom 16. Juli 1925 forderte, effektive Schutzmaßnahmen für die Minderheiten zu treffen. Den Christen der Region müsse volle Religionsfreiheit zugesichert und erlaubt werden, Schulen zu eröffnen. Die Zugehörigkeit der Provinz Mossul zum Irak wurde schließlich am 16. Dezember 1925 vom Völkerbund bestätigt, allerdings unter Ausschluss des auch bis dahin schon unter türkischer Verwaltung stehenden Berggebiets Hakkari. Autonomieforderungen von kurdischer und assyro-chaldäischer Seite fanden keine Beachtung.14 Unterdessen war am 21. März 1925 unter der Bezeichnung Organic Law eine Verfassung für das Königreich Irak unter britischem Mandat in Kraft getreten. Sie erklärte den Islam zur Religion des Staats, forderte Respekt vor den Riten der verschiedenen islamischen Richtungen, garantierte im selben Artikel aber auch Religions- und Gewissensfreiheit für alle Bewohner des Landes (Artikel 13). Artikel 37 forderte eine angemessene Vertretung der Minderheiten. Laut Artikel 6.2 des Wahlgesetzes waren 12 Khadduri 1951:14; Fürtig 2016:25–29. 13 Weibel Yacoub 2011:261–263. Malek Cambar setzte als Mitglied des Rates diese Lobbyaktivitäten vor dem Völkerbund in Genf bis zum Jahr 1926 fort. 14 Joseph 1961:176–183; Filoni 2006:173; Weibel Yacoub 2011:267–269; Filoni 2015:175–176. Surma Khanom, die Schwester des assyrischen Patriarchen, begab sich im November 1925 nach Genf, um vor dem Völkerbund die Situation ihres Volkes nach den erneuten Übergriffen im Hakkari darzustellen. Aber auch durch ihr Plädoyer ließ sich der Anschluss des Hakkari an die Türkei nicht verhindern.

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vier der 88 Parlamentssitze den Christen vorbehalten (zwei für Mossul und je einer für Bagdad und Basra).15 Allerdings protestierte die chaldäische Hierarchie gegen eine festgelegte Zahl von christlichen Abgeordneten und plädierte stattdessen für eine Vertretung im Rahmen der allgemeinen Staatsbürgerschaft. Neben der Abgeordneten­ kammer sah die Verfassung einen Senat vor. Der chaldäische Patriarch war von Rechts wegen Mitglied des Senats (bis zu seiner Abschaffung 1958). Die Assyrer waren nicht vertreten, weil der Staat sie nicht als Iraker, sondern wegen ihrer Herkunft aus dem türkischen Hakkari als Fremde betrachtete. Außerdem mussten die Senatoren mindestens 40 Jahre alt sein, so dass der junge assyrische Patriarch schon aufgrund seines Alters ausgeschlossen gewesen wäre. Personenstandsangelegenheiten (Ehe, Scheidung, Vormundschaft, Erbschaft) wurden gemäß Artikel 75, 78 und 79 der Verfassung wie in osmanischer Zeit weiter von den religiösen Gerichtshöfen der einzelnen Gemeinschaften geregelt.16 Christen spielten in der irakischen Politik der Mandatszeit und der Monarchie nur eine Nebenrolle. Die Beteiligung der christlichen Minderheit an der Politik des Landes war mit Blick auf ihren geringen Anteil an der Bevölkerung jedoch in der Regel korrekt. So hatten die meisten Regierungen einen christlichen Minister in ihren Reihen, dies waren Yusuf Ghanima (1885–1950, aus einer führenden chaldäischen Familie in Bagdad stammend, nicht zu verwechseln mit dem Patriarchen gleichen Namens), der mehrfach das Amt des Finanzministers und einmal des Ministers für Versorgung innehatte, sowie Rufaʼil Butti aus Mossul (syrisch-orthodox; geb. 1900), der in zwei Kabinetten der Jahre 1953 und 1954 als Minister of State tätig war, aber bereits in den 1920er und 1930er Jahren als einer der führenden politischen Journalisten hervorgetreten war. Beide Politiker standen der nationalistischen Ḥizb al-iḫāʾ al-waṭanī (Partei der nationalen Brüderlichkeit) nah.17 Die Führer der chaldäischen Kirche, allen voran Patriarch Emmanuel II. Thomas, anschließend sein Nachfolger Yusuf VII. Ghanima (1947–1958) unterstützten die Integration der Chaldäer in den jungen irakischen Staat. Damit schufen sie für ihre Kirche eine deutlich bessere Position als sie die Assyrische Kirche des Ostens hatte, deren Führung lange für eine Autonomie der eigenen Gruppe eintrat.18 15 Bis 1935 waren acht Christen und Juden unter 88 Abgeordneten. 1946 wurde die Zahl auf je sechs Christen und sechs Juden unter 132 Abgeordneten den geänderten Verhältnissen angepasst. 16 Hourani 1947:92–93; Khadduri 1951:23–27; Joseph 1983:115; Yacoub 2003:69–70; Filoni 2006:158 n. 42; Rassam 2016:139–141. 17 Yusuf Ghanima war Journalist und Historiker. 1922 wurde er in den Administrative Council, 1923 in die Constitutional Assembly gewählt. Finanzminister 1928–1929, 1934–1935, 1946, 1947–1948; dazwischen bekleidete er hohe Posten in der Finanzverwaltung und als Direktor der Agricultural and Industrial Bank (1934–1941). 1944–1946 Minister für Versorgung. Herausgeber der Zeitung al-Siyāsa. Rufaʼil Butti gab die vielgelesene Zeitung al-ʿIrāq heraus und verfasste ein Werk über irakische arabische Gegenwartsliteratur (1923). Die Zeitung war aus der von der britischen Mandatsregierung 1917 ins Leben gerufenen und finanzierten Zeitung al-ʿArab hervorgegangen. 1920 übernahm Razzuq Daʼud Ghannam das Management und die Zeitung änderte ihren Namen zu al-ʿIrāq. 1929 gründete Rufaʼil Butti in Bagdad die Tageszeitung al-Bilād. Die Zeitung wurde von der Ḥizb al-iḫāʾ al-waṭanī gesponsert und vertrat eine nationalistische, anti-britische Linie. Hourani 1947:94; Betts 1979:183; Bash­kin 2009: passim; Rassam 2016:140. 18 Girling 2018:69–78.

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Eine wichtige Frage der 1920er Jahre war die der christlichen Schulen. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg unterlagen die Schulen der unterschiedlichen Kirchen verschiedenen staatlichen Regeln: die Schulen der syrisch-orthodoxen Kirche unterstanden wie die muslimischen Schulen direkt der von den Briten eingesetzten Regierung. Die protestantischen, armenischen und assyrischen Schulen (letztere auf dem Gebiet des Irak erst nach dem Krieg entstanden) erhielten staatliche Zuschüsse, unterstanden aber der Leitung der Kirchen. Die katholischen Schulen der Syrer und Chaldäer er­ hielten finanzielle Zuschüsse vom Staat. Die Lehrer wurden aufgrund kirchlicher Vorschläge vom Staat eingesetzt und staatliche Direktiven mussten von den kirchlichen Autoritäten gebilligt werden. Das Erziehungsministerium und die Schulbehörde unterlagen in den 1920er Jahren wie andere Ministerien auch dem Einfluss des arabischen Nationalismus. Satiʼ al-Husri, Vorkämpfer des pan-arabischen Nationalismus und von 1921 bis 1927 Generaldirektor für höhere Erziehung, setzte sich vehement dafür ein, dass alle Schulen unter die Aufsicht des Erziehungsministeriums kamen, auch die Schulen der Religionsgemeinschaften gleich welcher Art. Außerdem setzte er ein gemeinsames, von Anschauungen des Arabismus geprägtes Curriculum durch. Er strebte ein zentralistisches und einheitliches Bildungssystem an und widersetzte sich daher der Idee, in den Provinzen Teacher Training Colleges nach dem Vorbild des College in Bagdad einzurichten. Er befürchtete, dass dadurch zu stark Regionalismus und partikulare Tendenzen (schiitisch in Basra und christlich in Mossul) Eingang in die Lehrerausbildung finden könnten. Im Jahr 1923 kündigte das Erziehungsministerium der katholischen Kirche an, dass es alle Schulen direkter staatlicher Verwaltung unterstellen und die Lehrer künftig selbst einstellen werde. Es stehe den Kirchen jedoch frei, die Schulen in eigener Finanzierung selbst zu übernehmen. Dies überstieg aber bei weitem die finanziellen Möglichkeiten der Kirchen. Zwar regte sich Widerstand gegen diese Ankündigung, dennoch sah es gerade der chaldäische Patriarch Emmanuel Thomas als nicht opportun an, sich gegen das Erziehungsministerium zu stellen und die kirchlichen Schulen der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Dies hätte sein Ziel der Integration der Chaldäer in den entstehenden Staat gefährdet. Bis 1928 wurden verschiedene Kompromisslösungen gefunden. So übernahm die syrisch-katho­ lische Kirche die Schulen in Bagdad (wo wohlhabende Gemeinden die Schulen finanziell tragen konnten) und im nordirakischen Bartella vom Staat; in Mossul unterlagen sie aber weiter staatlicher Aufsicht. Der Vorschlag einer gemeinsamen katholischen Schulverwaltung und einer Zusammenlegung der syrisch-katholischen, chaldäischen und lateinischen Schulen wurde vom chaldäischen Patriarchen abgelehnt. Er argumentierte, dass keine Teilkirche die Autorität der anderen über die Verwaltung der Schulen akzeptieren würde. So gingen die meisten katholischen Schulen an den Staat über. In der Praxis verblieben die zahlreichen Dorfschulen in der Aufsicht der lokalen Priester, die auch den Katecheseunterricht erteilten. In den nun staatlich geführten Schulen gab es dann aber Klagen über die staatlichen Lehrbücher für Geschichte und arabische Sprache. Sie seien zu stark islamisch geprägt. Außerdem wurden mehr und mehr muslimische Lehrer und Direktoren eingestellt. Der Grund war, dass Christen

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aufgrund des Widerstands der Hierarchie nur selten das staatliche Teachers Training College in Bagdad besuchten (das Programm war den Bischöfen zu säkular). Dessen Abschlusszeugnis war Voraussetzung für die Einstellung als Lehrer an staatlichen Schulen. So fanden sich nicht ausreichend christliche Kandidaten für frei werdende Lehrerstellen.19 Die Jesiden standen traditionell den Christen nahe und misstrauten den Muslimen. Der Bürgermeister (qāʾimmaqām) des jesidischen Bezirks Sinjar im Nordwesten war daher traditionell ein Christ, der einzige christliche qāʾimmaqām in der Provinz Mossul (obwohl in anderen Regionen mehr Christen lebten als in Sinjar). 1931 kam es zu einem Angriff der muslimischen Bevölkerung auf den christlichen qāʾimmaqām. Sie glaubten, dass er den französischen Mandatsbehörden in Syrien in die Hände arbeite, da auch viele Jesiden mehr Sympathien für Frankreich als für England zeigten. Mehr als hundert Christen flohen daraufhin aus der Stadt Sinjar und suchten bei den Jesiden in den Bergen Schutz.20 Am 14. Februar 1931 demonstrierten Armenier in Bagdad und griffen dabei ihren eigenen Erzbischof sowie mehrere Kleriker und führende Gemeindemitglieder an. Dies berichtet der amerikanische Jesuit Edmund Walsh, der sich zu einer Mission im Irak aufhielt.21 Es dürfte sich wohl um armenische Flüchtlinge gehandelt haben, die sich durch ihre Kirchenführung nicht ausreichend vertreten fühlten.

Der unabhängige Irak und die „Assyrische Frage“ Die Jahre 1927 bis 1930 waren von der Debatte um einen erneuerten Vertrag mit Großbritannien geprägt. Am 1. November 1930 ratifizierte das Parlament einen von Ministerpräsident Nuri al-Saʼid ausgehandelten Vertrag, der zwar einerseits die Unabhängigkeit des Irak und seinen Beitritt zum Völkerbund vorsah, auf der anderen Seite aber auch langfristige Privilegien für Großbritannien: Die irakische Regierung hatte die Pflicht, in wichtigen Fragen zunächst den britischen Botschafter zu konsultieren. England sicherte sich zwei Luftwaffenstützpunkte im Irak sowie das Durchmarschrecht für seine Truppen im Kriegsfall. Außerdem kontrollierte es weiter den Erdölsektor. Gegen das Abkommen formierte sich heftiger Widerstand; die Gegner sammelten sich in der neu gegründeten Partei der nationalen Brüderlichkeit (Ḥizb al-iḫāʾ al-waṭanī). Nuri al-Sa’id rief die Befürworter in der Partei des Bundes (Ḥizb al-ʿahd) zusammen. Die Diskussionen setzten sich über die formale Unabhängigkeit des Irak, die am 3. Oktober 1932 mit dem Inkrafttreten des Vertrags und dem Beitritt zum Völkerbund wirksam wurde, fort. Das Mandat war damit zwar beendet, dennoch übte England weiter großen Einfluss auf die Politik des Irak aus und die britisch dominierte Iraq Petroleum Company (IPC) beherrschte die Erdölförderung. Diese Situation spaltete die irakische 19 Patulli Trythall 2010:123–171; Dawisha 2013:85–88. 20 Patulli Thrythall 2010:301–302. 21 Patulli Thrythall 2010:302–303.

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Gesellschaft. Nationalistische Kreise brandmarkten all diejenigen, die sich für eine Kooperation mit Großbritannien aussprachen als „Kollaborateure“ und „Parasiten“. Sie verlangten ein Ende des britischen Einflusses und agitierten gegen die Teile der herrschenden Klasse, die persönlich von den Beziehungen zu England profitierten. Außerdem richtete sich ihr Zorn gegen die Minderheiten, die auf den Schutz Groß­ britanniens zählten.22 Großbritannien hatte im Irak seit Beginn seiner Herrschaft die Kooperation mit einzelnen Gruppen gesucht, um seine Herrschaft zu stabilisieren. Dabei setzte die Mandatsmacht ähnlich wie Frankreich in Syrien und dem Libanon auf die Minderheiten. Während sich die katholischen Chaldäer für ein französisches Mandat in Mossul ausgesprochen hatten und bei Katholiken insgesamt eher Sympathien für Frankreich vermutet wurden, hatten die Assyrer schon während des Ersten Weltkriegs enge Verbindung zu England gesucht. Die kriegerischen Stämme des Hakkari in Südostanatolien waren offiziell als Alliierte Großbritanniens in den Krieg eingetreten und hatten dafür auf weitgehende Autonomie, ja sogar auf einen eigenen Staat unter Führung ihres Patriarchen gehofft. Von den Türken aus ihrer Heimat im Hakkari vertrieben, suchten sie zunächst die Vereinigung mit den russischen Truppen im Nordwesten des Iran bei Urmia. Die Assyrer bildeten eigene Einheiten unter Agha Petros Elia und kämpften an der Seite der Russen gegen die Osmanen. Nach der Oktoberrevolution 1917 von den Russen im Stich gelassen, fanden sie sich zwischen Türken, Kurden und Persern wieder. Als türkische Truppen im Sommer 1918 Salmas besetzt und kurdische Einheiten den assyrischen Patriarchen Shimʼun XIX. Benyamin ermordet hatten, beschlossen die Assyrer unter ihrem neuen Patriarchen Shimʼun XX. Paulos nach Süden zu ziehen, um sich in den Schutz der von dort vorrückenden britischen Truppen zu begeben. In Hamadan erreichten sie schließlich die britischen Einheiten und wurden von den Militärbehörden in einem Lager in Baquba, nördlich von Bagdad, angesiedelt. Dort waren sie aber auch nicht richtig willkommen und stießen auf den Widerstand der örtlichen arabischen Stämme. 25.000 Assyrer aus dem türkischen Hakkari, 10.000 Assyrer aus der persischen Region Urmia-Salmas und 15.000 Armenier aus der türkischen Provinz Van kamen in dem Flüchtlingslager an. Mit dem Ende des Kriegs und dem Sieg der Alliierten machten sich die Assyrer Hoffnungen auf die Erfüllung ihrer nationalen Ambitionen. Sie setzten dafür naturgemäß auf eine enge Kooperation mit England.23 Im Juli 1919 reiste Surma Khanom, die Schwester des Patriarchen, nach London, um dort die Interessen ihrer Gemeinschaft zu vertreten.24 Sie begriff jedoch schnell, dass eine staatliche Unabhängigkeit der Assyrer nicht durchsetzbar war. In Anbetracht dessen, erklärte sie sich mit einem 22 Fürtig 2016:30–33. 23 Die britische Regierung entsandte auf Empfehlung des Erzbischofs von Canterbury William Ainger Wigram in den Irak, um zwischen den britischen Mandatsbehörden und den Assyrern zu vermitteln. Die offizielle Mission endete 1921. Weibel Yacoub 2011:192; Rassam 2016:127, 137. 24 Sie genoss die Unterstützung der anglikanischen Kirche und wurde von Schwestern der Gemeinschaft von Bethanien in ihrem Konvent in London untergebracht.

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kurdischen Staat einverstanden, der den assyrischen Stämmen Autonomie und eigene bewaffnete Einheiten zur Verteidigung garantieren würde. Sollte auch das nicht durchsetzbar sein, plädierte sie für eine geschlossene Ansiedlung der Assyrer in einer Enklave bei Altun Kupri nördlich von Kirkuk. Aber auch diese Forderung fand kein Gehör. Die Vereinbarungen der Konferenz von San Remo vom Juli 1920 sahen zwar vor, dass die Provinz Mossul zum britischen Mandatsgebiet gehören sollte, erwähnten aber nicht die Assyrer. Unterdessen war Patriarch Mar Shimʼun XX. Paulos am 9. Mai 1920 im Flüchtlingslager von Baquba gestorben. Seine Nachfolge trat gemäß der traditionellen Erbfolge dessen erst dreizehnjähriger Neffe Mar Shimʼun XXI. Ishai an. Die Führung der Assyrer fiel damit seiner energischen Tante Surma Khanom sowie rivalisierenden Clanführern zu. Die Briten suchten unterdessen die militärische Kooperation mit den kriegerischen und englandfreundlichen Assyrern. Bereits 1919 hatten sie Assyrer – zusammen mit Arabern und Kurden – für die Streitkräfte der Mandatsmacht rekrutiert und zwei assyrische Gendarmerie-Battalione eingerichtet. Sie wurden gegen kurdische Aufständische bei Amadiya und gegen die arabische Revolte eingesetzt. Damit machten sich die Assyrer Araber wie Kurden gleichermaßen zu Feinden. Im Oktober 1920 erlaubten die britischen Behörden einem Teil der Assyrer, sich im Berggebiet bei Aqra anzusiedeln. Rund 6.000 bewaffnete Assyrer zogen unter Leitung von Agha Petros nach Aqra, stießen allerdings auf Widerstand der lokalen kurdischen Stämme. Agha Petros konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich mit seinen Leuten in die nahegelegenen alten Siedlungsgebiete durchzuschlagen, wurde von den Kurden allerdings zurückgeschlagen und endete mit seinen Leuten im Lager Mindan bei Mossul. Agha Petros selbst ging von dort nach Frankreich, um über eine Ansiedlung seiner Leute im französischen Mandatsgebiet zu verhandeln. Er starb aber schon kurz darauf in Toulouse. Im Sommer 1921 wurde das Lager Baquba aufgelöst und ein Teil der Assyrer nach Mindan umgesiedelt. Die meisten Assyrer aus Persien kehrten nach Urmia zurück (500 Familien). Der Clan der Jelo siedelte sich in der Nähe von Bagdad an. Etwa 800 Familien vom Stamm der Tiyari dʼAshit suchten in den kurdischen Gebieten im äußersten Norden des Irak eine neue Bleibe in unmittelbarer Nähe ihrer alten Heimat, die nun jenseits der türkischen Grenze lag. Die Mehrheit der Assyrer siedelte sich rund um Mossul, Dohuk, Zakho und Amadiya an. Etwa 3.000 Familien kehrten in den Hakkari zurück, darunter der junge Patriarch Mar Shimʼun und seine Tante Surma. Sie trafen zunächst nicht auf Widerstand der türkischen Behörden. Für die Mandatstruppen rekrutierten die Briten weitere assyrische Kämpfer und richteten 1922 mit den Assyrian Levies eigene Einheiten, bestehend aus rund 1.500 Assyrern, ein. Die wichtigsten Stammesführer erhielten darin Offiziersposten. Ein führendes Kommando erhielt der Vater des jungen Patriarchen, was den Einfluss seiner Familie vergrößerte und wohl auch Grund für seine späteren politischen Forderungen war. Damit schien die Frage der Assyrer für die Briten zunächst gelöst, denn es verblieb nur eine vergleichsweise kleine Gruppe im Lager Mindan. Es kam jedoch immer wieder zu Spannungen. 1923 stießen assyrische Einheiten mit Teilen der Stadtbevölkerung von

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Mossul zusammen. Im Frühjahr 1924 zogen Assyrer plündernd durch Kirkuk. In der Provinz Mossul verschärfte sich die Lage deutlich. Im August 1924 rückten türkische Truppen im Hakkari ein und plünderten und brandschatzten assyrische Dörfer. Ungefähr 8.000 Assyrer zogen sich daraufhin auf irakisches Gebiet zurück. Die türkischen Truppen verfolgten sie und marschierten auf Mossul in der Hoffnung, die zwischen Türken und Irakern umstrittene Stadt zurückerobern zu können. Sie wurden jedoch von assyrischen Einheiten, von Surma Khanom in aller Eile zusammengestellt, zurückgeschlagen. Die britische Regierung versuchte an der türkisch-irakischen Grenze ein Autonomiegebiet für sie zu schaffen. Der Vorschlag wurde jedoch vom Völkerbund nicht angenommen. Die Regierung der neuen Republik Türkei weigerte sich, sie in den türkischen Hakkari zurückkehren zu lassen. Die von dort vertriebenen Stämme fanden sich in verschiedenen Flüchtlingslagern rund um Mossul wieder.25 Der definitive Anschluss des Hakkari an die Türkei, am 16. Dezember 1925 vom Völkerbund beschlossen, beendete den Traum vom eigenen Staat für die Assyrer.26 Die Integration der Gruppe um Mar Shimʼun in den irakischen Staat gelang nicht. Der Patriarch forderte weiterhin eine Sonderstellung und Autonomie für die Assyrer unter seiner Führung. Er verstand sich nicht nur als religiöses Oberhaupt seiner Gemeinschaft, sondern auch als ihr ziviler und politischer Führer. Die katholischen Bischöfe suchten unterdessen, anders als die Assyrer, die Integration in den irakischen Staat und verzichteten auf jegliche Autonomieförderungen oder Sonderrechte. Die irakische Regierung sah die Bestrebungen Mar Shimʼuns mit Argwohn. Die Stimmung in der arabischen Bevölkerung richtete sich mehr und mehr gegen die Assyrer. Sie wurden als Fremde betrachtet und hatten in ihrer Mehrzahl nicht die irakische Staatsbürgerschaft. Stattdessen wurde ihnen 1928 der vom Völkerbund geschaffene Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Staat verweigerte die von den Assyrern geforderte Ansiedlung als „homogene Gruppe“ und wollte nur die Ansiedlung von „homogenen Einheiten“ zugestehen. Die Assyrer befürchteten dadurch die Auflösung ihrer nationalen Identität. In der aufgeheizten Stimmung um das Verhältnis des Irak zu Großbritannien zu Beginn der 1930er Jahre wurden den Assyrern ihre nationalen Ambitionen schließlich zum Verhängnis. Leicht ließ sich von den irakischen Nationalisten argumentieren, dass sie keinerlei Integration in den irakischen Staat anstrebten. Ihre Nähe zu Großbritannien machte sie zu Kollaborateuren und Protégés der Briten. Die Assyrian Levies im Dienst der Mandatsmacht ließen sie zudem als militärische Handlanger Englands und willfähriges Instrument der Imperialpolitik erscheinen. Die Konflikte zwischen bewaffneten Assyrern und der arabischen Bevölkerung, zu denen es in den 1920er Jahren 25 Der junge assyrische Patriarch wurde nach seiner Vertreibung aus dem Hakkari 1924 zum Studium nach Großbritannien (im Umfeld des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury) gesandt und kam erst 1927 in den Irak zurück. 26 Zu den Ereignissen bis hierhin siehe Joseph 1961:151–176, 190, 197; Yonan 1978:46–57; Valognes 1994:417–419; Galletti 2003:133; Filoni 2006:147–148, 164–166 n. 50; Weibel Yacoub 2011:189–191, 198– 203, 206, 216–219, 265–270; Rassam 2016:125–127, 137–138.

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immer wieder gekommen war, schürten Angst vor einem assyrischen Aufstand. Dieser schien umso wahrscheinlicher, als bestimmte politische Kreise im Irak argwöhnten, Großbritannien wolle sich durch anhaltende Spannungen zwischen der religiösen Minderheit der Assyrer und der arabischen Bevölkerung einen Grund für weitere Interventionen in die irakische Politik schaffen und die vollständige Unabhängigkeit aufschieben. Gerade die nationalistische Iḫāʾ-Partei warnte vor der „assyrischen Gefahr“. In Bagdad kam es zu Demonstrationen, bei denen die Eliminierung der gesamten assyrischen Gemeinschaft gefordert wurde. Im Juni 1932 veranlasste Mar Shimʼun seine Gefolgsleute zur Verabschiedung eines „Assyrischen Nationalpakts“. Darin wurde gefordert: die Anerkennung der Assyrer als eigenes Volk, nicht nur als religiöse Minderheit; die Rückkehr in den Hakkari oder, sofern dies nicht möglich sei, die Ansiedlung als homogene Gruppe in der Provinz Dohuk mit eigener Verwaltung unter einem arabischen Gouverneur mit englischem Berater; die Anerkennung der weltlichen und geistlichen Führungsrolle Mar Shimʼuns; die Entsendung eines assyrischen Abgeordneten in das irakische Parlament; Unterricht in assyrischer Sprache in speziellen Schulen für Assyrer sowie die Gewährung von Waffenbesitz für die Assyrer zur Selbstverteidigung. Die Erklärung wurde sowohl von den Anhängern als auch von einigen Kritikern Mar Shimʼuns unterzeichnet. Allerdings formierte sich auch eine Gegenpartei unter Führung von Malek Khoshaba (1877–1954). Sie befürwortete eine Zusammenarbeit mit den irakischen Behörden und war bereit, mit der Regierung über ein Siedlungsschema für die Assyrer zu verhandeln. Mit Unterstützung der irakischen Autoritäten bildeten sie eine Kommission, die die Ansiedlung der Assyrer vorbereiten sollte. Mit Mar Shimʼun Ishai ließ es die Regierung jedoch zum völligen Bruch kommen. Am 28. Mai 1933 forderte ihn das Innenministerium auf, auf seine zivilen Ansprüche zu verzichten, und bot an, ihn als religiöses Oberhaupt der Assyrer anzuerkennen. Dies lehnte Mar Shimʼun jedoch ab. Die Abwesenheit von König Faisal, der Anfang Juni zu einem Staatsbesuch nach England aufgebrochen war, nutzte die unter Druck stehende Regierung dazu, hart gegen die Assyrer vorzugehen. König Faisal bat zwar telegraphisch aus England um Zurückhaltung, wurde aber von der Regierung in Bagdad nicht gehört. Der Patriarch wurde zu Verhandlungen nach Bagdad gerufen, wo­ raufhin ihm die Behörden schließlich im Juni 1933 verboten, nach Kurdistan zu seiner Gemeinschaft zurückzukehren. Damit eskalierte die Situation im Norden. Am 14. und 15. Juli 1933 überquerten 700 bis 800 assyrische Stammeskrieger den Tigris, um im französischen Mandatsgebiet Syrien Schutz zu suchen. Unter der Bedingung, dass sie ihre Waffen abgeben, wurde ihnen dies von den Mandatsbehörden erlaubt. Allerdings verwehrten sie ihnen eine gemeinsame Ansiedlung als Gruppe. Das war für die Assyrer nicht akzeptabel. Am 4. August kehrten sie in den Irak zurück. Dabei wurden sie aber in Kämpfe mit der irakischen Armee verwickelt und auf syrisches Gebiet zurückgeschlagen. Auf beiden Seiten waren Verluste zu verzeichnen. Das Scharmützel nahm die irakische Armeeführung zum Anlass, gegen die verhassten Assyrer loszuschlagen. In den folgenden Tagen griffen die irakische Armee unter

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General Bakr Sidqi und kurdische Einheiten die assyrischen Flüchtlingslager und assyrische Dörfer im Nordirak an. In den Kämpfen starben nicht nur Kämpfer, sondern auch Hunderte Frauen, Kinder und Alte. Ein Unterschied zwischen den Assyrern, die unter Führung von Mar Shimʼun Sonderrechte forderten, und der Fraktion, die sich in den irakischen Staat integrieren wollte, wurde nicht gemacht. Auch viele Chaldäer, die mit dem Konflikt eigentlich nichts zu tun hatten, wurden bei diesen Operationen getötet. In Simel, wohin die lokalen Behörden die christlichen Bewohner von elf Dörfern aus der Umgebung gebracht hatten, – angeblich, um sie vor den Ausschreitungen zu schützen – wurden am 11. August Hunderte niedergemacht. Die Zahlen schwanken zwischen 315 und 700. 65 der 95 assyrischen Dörfer in der Region Dohuk und Sheikhan wurden geplündert und zahlreiche Bewohner getötet, insgesamt rund 3.000. Für die assyrische Kirche waren die Ereignisse ein herber Schlag; viele ihrer Priester wurden während der Verfolgungen getötet. Mar Shimʼun, von der Regierung für die Sache verantwortlich gemacht, wurde am 15. August 1933 die irakische Staatsbürgerschaft entzogen. Er wurde nach Zypern ausgewiesen (Surma Khanom folgte ihm wenige Tage später), von wo aus er sich 1940 nach Großbritannien, später nach Kalifornien und Chicago begab. Viele Assyrer verließen in der Folge den Irak. Frankreich akzeptierte noch 1933 2.100 Assyrer im syrischen Khabur-Tal, 1935 wurden dort weitere 4.000 Assyrer aufgenommen und 1936 noch einmal 2.500 Personen. Die im Irak verbliebenen Assyrer akzeptierten schließlich die irakische Staatsbürgerschaft und organisierten sich unter Leitung des Bischofs Mar Yosip Khnanisho.27 Der Kampf gegen die nationalen Ambitionen der Assyrer war der Auftakt für die Politisierung der irakischen Armee und ihren Aufstieg zum Standbein des irakischen Nationalismus. Bakr Sidqi, der kurdischstämmige Befehlshaber der Truppen, die gegen die Assyrer vorgegangen waren, wurde von der arabischen Bevölkerung wie ein Held gefeiert. Der Tod König Faisals am 8. September 1933 verschärfte die Gegensätze zwischen sunnitischen Offizieren, arabischen Stämmen und Schiiten, hatte Faisal doch großes Geschick im Umgang mit den unterschiedlichen Seiten gezeigt. Diese Erfahrung fehlte seinem 1921 geborenen Sohn Ghazi, der ihm auf den Thron nachfolgte. Bakr Sidqi zeichnete sich in den Jahren 1935 und 1936 bei der Niederschlagung mehrerer Aufstände schiitischer Stämme im mittleren Euphratgebiet aus und spielte 1936 beim Putsch gegen die amtierende Regierung als Generalstabschef eine entscheidende Rolle. Die Armee entwickelte sich immer mehr zum entscheidenden Spieler der Politik. Sidqi zeigte unverhohlen Sympathien für die faschistischen Mächte in Europa und verstörte somit Großbritannien. Er wurde allerdings bereits 1937 in Mossul von

27 Hourani 1947:99–103; Khadduri 1951:40, 44–45; Joseph 1961:201–209; Yonan 1978:57–73; Valognes 1994:741–746; Galletti 2003:133–135; Yacoub 2003:151–157; Filoni 2006:178–179; Teule 2008:37–38; Winkler 2009:327–329; Weibel Yacoub 2011:272–277; Donabed 2015:94–116; Filoni 2015:180–181; Rassam 2016:145–147. Zur Rolle der britischen Politik und der Church of England in diesen Ereignissen siehe Fisher 2010:234–243.

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einem pan-arabischen Nationalisten ermordet, so dass er keine dauerhafte Rolle in der irakischen Politik spielen konnte.28 Die Zeit bis zum Ende der Monarchie war von politischer Unsicherheit und regelmäßigen Militärputschen geprägt. Die bereits in den 1920er Jahren begonnene Politik der Arabisierung und Zentralisierung ging allerdings weiter. Nach einem Gesetz von 1934 mussten private und ausländische Schulen die vom Erziehungsministerium ernannten Lehrer für Geschichte, Geographie, Staatsbürgerkunde und arabische Sprache anstellen. Alle Lehrer und Schulleiter mussten vom Erziehungsministerium bestätigt werden, auch wenn diese vollständig von den Privatschulen bezahlt wurden. Irakischen Kindern wurde der Besuch ausländischer Grundschulen verboten. Dies führte zu Spannungen zwischen der chaldäischen Kirche und dem Staat. Das Patriarchat verstand die Neuerung als Bruch der Vereinbarungen, die rund zehn Jahre vorher bezüglich der Schulen getroffen worden waren, als die Kirche die chaldäischen Schulen in Badgad, Mossul und Basra dem Staat übertragen hatte. Der Staat weigerte sich nun, die Religionslehrer zu bezahlen, stattdessen wurde in den Grundschulen Islam und Koran unterrichtet. Allerdings sah der Patriarch keine Möglichkeit, die Rückgabe der Schulen zu erlangen.29 Der Faschismus in Italien und Deutschland bewegte mehr und mehr auch bestimmte Kreise im Irak. Das pan-arabische Lager um Rashid Ali al-Gailani und Offiziere um das sogenannte „Goldene Quadrat“ zeigten unverhohlen ihre Sympathie für das nationalsozialistische Deutschland. Auf der anderen Seite brach die Regierung unter Führung des pro-britischen Politikers Nuri al-Saʼid wenige Tage nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Beziehungen zu Deutschland ab. Allerdings übernahm im März 1940 Gailani die Regierungsgeschäfte. Er musste aber auf massiven Druck Churchills schon im Januar 1941 zugunsten einer pro-britischen Regierung zurücktreten. Am 1. April 1941 putschten Offiziere um das „Goldene Quadrat“ und setzten eine „Regierung der Nationalen Verteidigung“ unter Rashid Ali al-Gailani ein. Der Regent Abd al-Ilah und zentrale Figuren der bisherigen Regierung flohen. Abd al-Ilah wurde am 10. April für abgesetzt erklärt. Die Forderung Großbritanniens, Truppentransporte durch den Irak durchführen zu dürfen, wurde abgelehnt. Die Briten setzten daraufhin ihre Truppen gegen den Irak in Marsch, sie wurden unterstützt von den Assyrian Levies. Am 29. Mai erreichten sie Bagdad. Rashid Ali al-Gailani floh nach Teheran. Bei den folgenden Unruhen in Bagdad griff ein aufgebrachter Mob Juden und jüdische Einrichtungen an und tötete Hunderte von Juden. Auch eine Kirche wurde angegriffen, und einige christliche Familien ergriffen zusammen mit den Juden die Flucht. Als die Briten die Lager wieder unter Kontrolle hatten, zog der Regent Abd al-Ilah zusammen mit pro-britischen Politikern wieder in Bagdad ein. Am 9. Oktober 1941 wurde Nuri al-Saʼid wieder Ministerpräsident und knüpfte an die bereits früher von

28 Khadduri 1951:51–64; Joseph 1961:198–206; Fürtig 2016:33–37. 29 McDonnell 1994:38–39; Filoni 2006:184; Filoni 2015:184–185.

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ihm vertretene pro-britische Politik an. Gegen die Putschisten und Anhänger von Gailani wurde rigoros vorgegangen; die meisten Führer wurden hingerichtet.30

Integration oder Autonomie? Eine Zwischenbilanz Die Zeit der Monarchie lässt sich als Ringen um die Integration der assyrischen, chaldäischen und armenischen Flüchtlinge in den entstehenden arabischen Staat Irak verstehen. Die Positionen waren dabei sehr unterschiedlich. Die Assyrer unter Führung ihres Patriarchen Mar Shimʼun Ishai widersetzten sich mehrheitlich der Integration und hielten an ihren Forderungen nach Errichtung eines eigenen Staats oder zumindest eines Autonomiegebiets fest. Aber auch innerhalb der Assyrer bildete sich eine Fraktion heraus, die schließlich in den 1930er Jahren die Aufgabe der nationalen Ambitionen akzeptierte und bereit war, mit den irakischen Behörden zusammenzuarbeiten. Bei den Armeniern verlief der Prozess ruhiger, ihre Zahl im Irak war deutlich geringer. Aber auch hier zeigen sich Spannungen. Die chaldäische Kirche verfolgte von Anfang an konsequent einen Kurs der Integration. Dies hat den Chaldäern vieles von dem Unglück, das die Assyrer getroffen hat, erspart, auch wenn sie beim Vorgehen des Militärs gegen die Assyrer ebenfalls Verluste zu erleiden hatten. Ihre Loyalität zum irakischen Staat wurde von der Regierung aber nie in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz bildete gerade die Frage um die Schulen einen Streitpunkt zwischen der katholischen Kirche und dem Staat. Wie in anderen Ländern auch tat sich die katholische Hierarchie im Irak schwer damit, sich dem Führungsanspruch des Staats in Fragen der Bildung und Erziehung zu unterwerfen. Es gelang den Kirchenvertretern jedoch, den Bruch mit dem Staat zu vermeiden, so dass die chaldäische Kirche auch nach der Revolution von 1958 weiter eine bedeutende Rolle im Irak spielen konnte.

Christentum und Kommunismus: Zwischen Monarchie und dem Aufstieg der Baath-Partei Durch die Allianz von Großbritannien mit der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs ergaben sich auch im pro-britischen Irak neue Möglichkeiten für die Aktivitäten der Kommunisten. Zwar blieb die Kommunistische Partei (IKP) offiziell verboten, ihre Aktivitäten wurden aber geduldet, seit sie die pro-britische Regierung wegen ihres Kampfes gegen Hitler-Deutschland zu unterstützen begann. In der IKP waren nicht wenige Christen aktiv. In den 1930er Jahren wurden zwei von drei Ortsgruppen der IKP in Bagdad von Christen geleitet. Chefideologe und seit 1941 Erster Sekretär der IKP war Yusuf Salman Yusuf, Deckname „Fahd“, aus einer chaldäischen Familie aus Bartella, geboren 1901, erzogen in der American Missionary School in Basra (1914–1916). 30 Khadduri 1951:182–205; Filoni 2006:186–187; Filoni 2015:186; Fürtig 2016:50. Zu den Assyrian Levies während dieser Ereignisse und in der Folge siehe Fisher 2010:243–246.

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Nach einem Aufenthalt in Europa übernahm er 1938 die Führung der IKP. In dieser Rolle war er entscheidend für die Entwicklung der IKP zu einer Massenpartei in den 1940er Jahren verantwortlich. Die IKP gewann in den Kriegsjahren erheblichen Zulauf, mächtige Gewerkschaften entstanden. Legalisiert wurde die IKP allerdings nicht. Nach dem Krieg änderte sich aber die Lage mit dem Beginn des Ost-West-Konflikts. Forderungen der IKP nach der Revision der anglo-irakischen Beziehungen und größere Kontrolle der Iraker über die Ölförderung wurden nun als „kommunistische Unterwanderung“ interpretiert. Im März 1947 wurden die Partei der Nationalen Union (Ḥizb al-ittiḥād al-waṭanī) und die Volkspartei (Ḥizb al-šaʿb) als Tarnorganisationen der IKP verboten. Bereits im Januar 1947 war „Fahd“ verhaftet worden. Er verbrachte mehrere Jahre in verschiedenen Gefängnissen und wurde zusammen mit anderen kommunistischen Führern im Februar 1949 zum Tode verurteilt. Symbolisch wurden ein Christ (Fahd), ein Sunnit, ein Schiit und ein Jude öffentlich zusammen hingerichtet.31 Der Hexenjagd gegen echte oder vermeintliche Kommunisten fielen auch die 1953 ins Land gekommenen, katholischen Petits Frères von Charles de Foucauld zum Opfer. Sie wurden von den Behörden des Kommunismus, des Proselytismus und der Spionage verdächtigt. 1958 wurde ihnen schließlich die Verlängerung der Visa versagt und sie mussten das Land verlassen.32

Revolution und Republik Die Jahre vor dem Sturz der Monarchie waren geprägt vom Streit zwischen pro-westlichen Kräften auf der einen und pan-arabischen Visionen, die sich häufig mit sozialistischen Vorstellungen verbanden, auf der anderen Seite. Nuri al-Saʼid hatte Mitte der 1950er Jahre den Beitritt des Irak zu einem Verteidigungsbündnis bestehend aus Afghanistan, dem Iran und der Türkei mit den Garantiemächten Großbritannien und USA (Bagdad-Pakt) durchgesetzt. Während der Suez-Krise 1956 sah sich der Irak aufgrund des Verteidigungsabkommens gezwungen, eigene Einheiten gegen Nassers Ägypten zu entsenden. Dies rief den Zorn der Pan-Arabisten hervor, deren Anhänger voll Bewunderung auf den ägyptischen Präsidenten blickten. Die „freien Offiziere“ Ägyptens, die dort 1952 die Monarchie gestürzt hatten, fanden Nachahmer in den Reihen der irakischen Obristen. Als Nuri al-Saʼid 1958 als Gegengewicht zur Vereinigten Arabischen Republik aus Ägypten und Syrien eine Föderation der beiden haschemitischen Monarchien Irak und Jordanien erzwang, putschten in Bagdad Offiziere um Abd al-Karim Qasim und Abd al-Salam Arif. Ihre Truppen rückten am 14. Juli 1958 in Bagdad ein, zogen zum Königspalast und brachten König Faisal II., den langjährigen Regenten Abd al-Ilah und fast die ganze Königsfamilie um. Nuri al-Saʼid wurde kurz darauf auf der Flucht ergriffen und ebenfalls getötet. Die Militärführung richtete einen Revolutionären Kommandorat ein und ernannte eine formal zivile Regierung: Qasim 31 Bashkin 2009:73, 76–79, 101, 109. 32 Filoni 2006:206–207.

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wurde Ministerpräsident und gleichzeitig Verteidigungsminister, Arif stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister. Anschließend wurde die Republik ausgerufen. Bereits im Dezember wurde Abd al-Salam Arif jedoch von Qasim entmachtet.33 Qasim suchte nach der Machtübernahme die Unterstützung der Kommunistischen Partei. Im Januar 1959 wurde die Parteizeitung legalisiert. Allerdings hatten die Kommunisten wenig Sympathien für die pan-arabische Politik, da diese mit dem „proletarischen Internationalismus“ kollidierte. Für den 6. März 1959 lud die IKP-Zeitung zu einer Großveranstaltung nach Mossul ein. 250.000 Anhänger folgten der Einladung. Der lokale Militärkommandant, General Abd al-Wahhab al-Shawwaf, Mitglied der „Freien Offiziere“ und glühender Gegner der Kommunisten, ließ die Veranstaltung jedoch gewaltsam auflösen und forderte die Zentralregierung von Qasim zum Eingreifen auf. Als diese sich weigerte, unternahm er einen Putschversuch. Bei den Kämpfen in Mossul gab es zwischen den beiden Parteien Hunderte Tote. Shawwafs Leute gingen brutal gegen Kommunisten und vermutete Kommunisten vor. Da Christen im Ruf standen, Sympathisanten der Kommunisten zu sein (siehe den christlichen Parteisekretär „Fahd“ in den 1940er Jahren), wurden sie besonders häufig Opfer von Angriffen. Viele Christen flohen damals aus Angst von Mossul nach Bagdad. Die Revolte Shawwafs scheiterte jedoch. Qasim setzte sich mit Hilfe der Kommunisten durch. Shawwaf wurde ermordet, weitere Rädelsführer hingerichtet. Die brutale Niederschlagung des Aufstands und die wachsende Macht der Kommunisten rief jedoch die Baath-Partei auf den Plan. Sie war 1940 in Syrien entstanden und hatte sich im Irak zu einer pan-arabisch ausgerichteten Gegenbewegung zum kommunistischen Internationalismus entwickelt. Sie vertrat zwar sozialistisches Gedankengut, jedoch fokussiert auf die Einheit der arabischen Welt. Im Oktober 1959 unternahmen Mitglieder der Baath-Partei ein Attentat auf Qasim, das er aber überlebte. Die Partei wurde daraufhin verboten; führende Mitglieder, darunter auch Saddam Hussein, flohen nach Syrien.34 Nach der Revolution von 1958 war auch eine neue Verfassung in Kraft gesetzt worden. Sie erklärte zwar den Islam zur Religion des Staats, garantierte aber Nicht-Muslimen Religionsfreiheit (Artikel 12). Alle Iraker waren gleich vor dem Gesetz; „Diskriminierung aufgrund von Rasse, Nationalität, Sprache, Religion oder Glaube“ waren verboten (Artikel 9). Der Unterricht in den unterschiedlichen Sprachen der Minderheiten und die Publikation von Büchern waren in der Zeit von Qasim zunächst erlaubt. Diese Politik wurde aber im Zuge der Arabisierungs- und Einheitspolitik bald aufgegeben. Der erste Kurdenaufstand von 1961 führte zur Abschaffung der liberalen Kulturpolitik und zur Radikalisierung der Arabisierungspolitik, die auch die syrisch-sprachigen christlichen Gemeinden treffen sollte.35

33 Khadduri 1969:15–56; Fürtig 2016:44–64. 34 Khadduri 1969:104–112; Sako 2015:32, 88–89; Fürtig 2016:72–73; Rassam 2016:152–153. 35 Khadduri 1969:64–66; Valognes 1994:747–748.

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Christen und Kurden: Eine Schicksalsgemeinschaft? Die Zeit ab 1961 ist geprägt von einer Reihe kurdischer Aufstände im Norden und den Gegenmaßnahmen der arabischen Zentralregierung. Hauptakteur auf kurdischer Seite war Mullah Mustafa Barzani (1903–1979), Mitbegründer der 1946 ins Leben gerufenen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP). Unter seiner Leitung erhoben sich die Kurden 1961 gegen die arabische Zentralmacht. Die Kurdenaufstände beschleunigten auch die in den 1940er Jahren begonnene Verlagerung des Schwerpunkts des christlichen Lebens im Irak von der Region Mossul nach Bagdad. Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten in der Hauptstadt beförderten die Abwanderung. Diese Entwicklung verstärkte sich in den 50er Jahren. Der Transfer des Patriarchensitzes von Mossul nach Bagdad im Jahr 1958 vollzog nicht nur die Abwanderung vieler Gläubiger mit, sondern war auch ein politisches Zeichens des Integrationswillens in den irakischen Staat und der Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen.36 1960 transferierte der chaldäische Patriarch Cheikho auch das Patriarchalseminar von Mossul nach Bagdad. Das interrituelle Seminar Saint Jean verblieb allerdings in Mossul.37 Während der Kurdenaufstände 1961 bis 1964 wurden 15.000 Christen in der Region Zakho, Amadiya und Aqra zur Flucht gezwungen.38 Sie suchten Schutz in Mossul, Bagdad und Basra. Kirchenführer wurden von der Regierung der Kollaboration mit den Kurden verdächtigt und teilweise festgenommen, so der Abt des Klosters Rabban Hormizd bei Alqosh und der chaldäische Bischof von Zakho, Thomas Reis. Beide wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, die im Falle des Bischofs in Deportation umgewandelt wurde. Die Bischöfe von Amadiya und Aqra zogen sich vorsorglich für längere Zeit nach Rom zurück. Die Residenz des Bischofs von Amadiya war zuvor geplündert worden. Im Dorf Barwar ereignete sich ein Massaker an Christen,offenbar weil der assyrische Bischof von Barwari-Bala, Mar Andrawus Yaballah, die kurdische Aufstandsbewegung unterstützte. Von 184 christlichen Dörfern wurden 150 zerstört.39 Auf assyrischer Seite wurde 1961 der Verband Assyrische Union und Freiheit (Ḥūyādā w-ḥāyrūtā ātūraytā) gegründet. Er unterstützte den Aufstand Barzanis. Christen waren in der Aufstandsbewegung von 1961 bis 1970 durch den chaldäischen Chorbischof Paul Bedari vertreten. Er war Mitglied des Exekutivkomitees des Großen Kommandorats der Revolution und versuchte, diesem das Versprechen für ein „nationales Heim für die Assyrer“ in einem zukünftigen unabhängigen Kurdistan abzuringen (ohne Erfolg). Die chaldäische Kirche als ganze wurde von diesem Verhalten des Chorbischofs angesichts der Loyalität ihres Patriarchen und vieler anderer Bischöfe gegenüber der Regierung aber nicht negativ betroffen. Eine landesweit bekannte Aufständische der Kurdenbewegung war die Assyrerin Margaret Gewargis 36 Valognes 1994:747. 37 Filoni 2006:208. 38 Die Zahl der Christen in der Region Kurdistan ging von geschätzt einer Million im Jahr 1961 auf 150.000 in den 1990er Jahren zurück. Galletti 2003:159. 39 Yonan 1978:99–100; Valognes 1994:763; Galletti 2003:165–166; Filoni 2006:204; Filoni 2015:197–198.

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Malik. Sie wurde von Barzani zunächst mit der Organisation des Sanitätsdienstes beauftragt, bevor sie selbst Führerin eines Kampfbataillons wurde. Als solche wurde sie zum „Staatsfeind Nummer 1“ des Irak. 1968 wurde sie ermordet, wie es heißt auf Betreiben von Barzani selbst. Aber Christen erlebten noch weitere Enttäuschungen. Die von Toma Tomas, einem Führer der assyrisch-chaldäischen Streitkräfte innerhalb der kurdischen Revolution, geforderte Autonomie der Assyrer in einem befreiten Kurdistan, wurde von Mustafa Barzani strikt abgelehnt. Nicht alle Assyrer schlossen sich dem Kurdenaufstand an, teils aus Überzeugung, teils, weil sie unter dem Druck der Regierung oder regierungstreuer kurdischer Stämme standen. Sie waren brutaler Repression durch Barzanis Einheiten ausgesetzt. So wurden im Dezember 1961 im Dorf Annune fünfzehn Männer, zwei Priester und ein Bischof umgebracht, weil die Bevölkerung mit der Regierung zusammengearbeitet hatte.40 Die Kurdenkriege nutzten Baath-treue Offiziere im Februar 1963 zum Putsch gegen Abd al-Karim Qasim. Am 8. Februar rollten Panzer der Putschisten um den späteren Präsidenten Ahmad Hasan al-Bakr durch die Straßen Bagdads. Ein Großteil der Armeeeinheiten war zum Kampf gegen die Kurden im Norden des Landes stationiert. Einen Tag später wurde Qasim auf Befehl des von den Putschisten gegründeten „Nationalen Rates des Revolutionären Kommandorats“ standrechtlich erschossen. Die Putschisten brachten Abd al-Salam Arif ins Präsidentenamt, Ahmad Hasan al-Bakr wurde Ministerpräsident. Die Baathisten begannen sofort mit einer Jagd auf die Kommunisten, die sie als ihre hauptsächlichen Konkurrenten ansahen. Mit den Kurden suchte die neue Führung kurzzeitig den Ausgleich, begann aber bereits im Sommer 1963, sobald sie sich stabilisiert hatte, wieder einen unnachgiebigen Krieg. Allerdings geriet die irakische Baath-Führung in einen heftigen Bruderstreit mit der syrischen Baath-Partei. Die Tatsache, dass die gesamte Parteiführung dadurch gelähmt war, nutzte Abd al-Salam Arif zu einem „Putsch innerhalb des Putsches“ und entmachtete im Januar 1964 Ministerpräsident al-Bakr sowie Teile der militärischen Führung der Baath-Partei. Seinen Bruder Abd al-Rahman Arif ernannte er zum Generalstabschef und verlieh sich selbst außerordentliche Vollmachten. So mit Macht ausgestattet, begann er sein Projekt der Vereinigung des Irak mit dem nasseristischen Ägypten. Außerdem führte er Wirtschaftsreformen nach dem Beispiel Ägyptens durch: eine Bodenreform, die Verstaatlichung des Bankenwesens sowie die Nationalisierung von Schulen und Krankenhäusern. Auch die katholischen Schulen waren davon betroffen.41 Die steigenden Öleinnahmen erlaubten dem Staat zusätzliche Ausgaben und eine bis dahin nicht gekannte Sozialpolitik. Am 16. April 1966 starb Präsident Abd al-Salam Arif bei einem Hubschrauberabsturz. Sein Bruder Abd al-Rahman übernahm das Präsidentenamt und nahm als erstes den Kampf gegen die Kurden wieder auf. Mit Najib Talib ernannte er einen Offizier zum Ministerpräsidenten.42 In seinem Kabinett war zum ersten Mal seit 40 Yonan 1978:101–102; Betts 1979:186–187; Valognes 1994:441; Galletti 2003:165; Donabed 2015:141–151. 41 Die katholischen Grundschulen hatten in den 1950er Jahren ca. 30.000 Schüler, die Sekundarschulen etwa 1.000. Filoni 2006:205. 42 Zu den politischen Entwicklungen siehe Khadduri 1969:188–268; Fürtig 2016:79–91.

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über zehn Jahren wieder ein Christ Mitglied: Daʼud Farhan Sarsam (syrisch-orthodox), Minister für Stadtverwaltung und öffentliche Arbeiten.43 Im Oktober 1966 nahmen der Irak und der Vatikan volle diplomatische Beziehungen auf. Erster Nuntius wurde der bisherige apostolische Delegat Maurice Perrin.44

Die Kirche und die Herrschaft der Baath-Partei Abd al-Rahman Arif kooperierte in seiner Amtszeit mit der Baath-Partei. 1968 sah sie allerdings den Moment für die eigene Machtübernahme gekommen. Am 17. Juli 1968 erklärten ihre Führer den Präsidenten für abgesetzt. Zuvor hatte die Republikanische Garde die Rundfunkstation besetzt und sich des Verteidigungsministeriums bemächtigt. Nennenswerten Widerstand gab es nicht. Ahmad Hasan al-Bakr wurde zum Präsidenten ausgerufen. Daneben wurde der Revolutionäre Kommandorat (RKR), der vollständig mit Baathisten besetzt war, geschaffen. Er war die höchste Institution des Landes. Al-Bakr wurde auch dessen Vorsitzender. Saddam Hussein sicherte sich die Rolle des zweiten Mannes im Staat. Er trat im November 1969 als stellvertretender Vorsitzender in den RKR ein, wurde stellvertretender Staatspräsident und stellvertretender Generalsekretär der Baath-Partei. Das neue Regime bekannte sich zum Sozialismus sowie zur arabischen Einheit. In den folgenden Jahren sollten systematisch alle Organisationen, inklusive der Armee, von Mitgliedern der Baath-Partei durchsetzt werden.45 Mit Blick auf die Christen war eine der ersten Maßnahmen der Baath-Regierung die Ausweisung der Jesuiten aus dem Irak. 1932 waren amerikanische Jesuiten nach Bagdad gekommen und hatten das Baghdad College als Sekundarschule eröffnet. Sie wurde von den irakischen Eliten aller Glaubensrichtungen besucht und genoss hohes Ansehen.46 1955 genehmigte das Erziehungsministerium die Gründung der al-Hikma-Universität mit den Bachelor-Studiengängen Civil Engineering und Business Administration. Anfang der 1960er Jahre hatte die Universität, deren Abschlüsse der staatlichen Universität Bagdad gleichgestellt waren, über 300 Studenten. 1968 verstaatlichte die Baath-Regierung die Universität und wies die Jesuiten aus. Das Baghdad College wurde ein Jahr später aufgelöst, das Gebäude vom Staat übernommen. Grund dafür dürfte die Baath-Ideologie gewesen sein, nach der der Staat das Monopol über die Erziehung beanspruchte. Sekundär mag auch die Israel-freundliche Politik der USA während und nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 für die Ausweisung der amerikanischen Jesuiten eine Rolle gespielt haben.47

43 Betts 1979:183. 44 Filoni 2006:213–218. 45 Khadduri 1978:13–30; Fürtig 2016:91–99. 46 Filoni 2006:179–180. Filoni 2015:181–182. Die Vorgeschichte findet sich ausgehend von umfangreichem Archivmaterial dargestellt in Patulli Trythall 2010. 47 McDonnell 1994; Filoni 2006:207, 223; Rassam 2016:142–144, 150.

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Mit den Kurden gelang dem Baath-Regime zunächst ein Ausgleich. 1970 wurde ein Manifest ausgehandelt, in dem den Kurden eine „Selbstregierung“ in Aussicht gestellt wurde. Außerdem sollten Kurden angemessen in den gesamtstaatlichen Institutionen vertreten sein, die kurdische Sprache in den Kurdengebieten dem Arabischen gleichgestellt werden und die Kurden an den Erdöleinkünften beteiligt werden. Allerdings sollten die Vereinbarungen erst nach einer Frist von vier Jahren umgesetzt werden.48 Die Baath-Partei setzte auch eine völlig neue Verfassung in Kraft. Der Text vom 17. Juli 1970 benannte in Artikel 1 das Staatsziel: einen „vereinigten arabischen Staat und den Sozialismus“ aufbauen. Artikel 5b erkannte die nationalen Rechte der Kurden und die „legitimen Rechte aller Minderheiten im Rahmen der irakischen Einheit“ an. Für die Christen bedeutete dies die Anerkennung ihrer fünf wichtigsten Kirchen als Rechtspersonen. Artikel 4 proklamierte den Islam zwar als Religion des Staats, die Scharia fand in der Verfassung aber keine Erwähnung. Artikel 19 bekräftigte die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz ohne Ansehen des Geschlechts, der Rasse, der Sprache, der sozialen Herkunft oder der Religion. Artikel 25 garantierte Religionsund Kultfreiheit. Die Kirchen hatten weiterhin ein eigenes Personenstandsrecht und die zivilen Gerichte entschieden in diesen Fällen gemäß dem Recht der betroffenen Kirche.49 Problematisch für die katholische Kirche war aber Artikel 28 der Verfassung. Er sprach dem Staat eine zentrale Rolle bei der Erziehung zu und legte Erziehungsziele fest, die weit von dem entfernt waren, was die Kirche unter christlicher Erziehung verstand. 1970/71 kam es zur Krise zwischen Staat und Kirche. 1972 wurden alle Privatschulen staatlicher Kontrolle unterstellt. Alle Schuldirektoren mussten Mitglied der Baath-Partei sein. Irakische Lehrer konnten weiterhin unterrichten, ausländische jedoch nicht. Der Religionsunterricht wurde abgeschafft. Ausländische Ordensleute wurden per Dekret ausgewiesen. Allerdings nahm Vizepräsident Saddam Hussein im Oktober 1974 die Ausweisung zurück und erteilte neue Aufenthaltsgenehmigungen.50 1973 wurden per Dekret alle Seminaristen zum Militärdienst eingezogen. Das Priesterseminar der Dominikaner in Mossul musste geschlossen werden, weil alle Seminaristen gleichzeitig einberufen wurden. Es wurde auch später nicht wiedereröffnet, sondern die Seminaristen wurden zur Ausbildung an das Seminar in Bagdad geschickt.51 Kirchliche Aktivitäten wurden streng überwacht. 1973 wurden alle Teilnehmer einer Versammlung der Katholischen Studentenbewegung (Jeunesse étudiante catholique) in Mossul von den Behörden verhaftet, weil sie in dem Verband eine Konkurrenzorganisation zur Baath-Partei und ihren Organen sahen. Der syrisch-katholische Priester und spätere Bischof Georges Casmoussa kritisierte damals schon die regime48 Khadduri 1978:101–109. Text des Mainfests in englischer Übersetzung: 231–240. 49 Khadduri 1978:32–36; Valognes 1994:748–750; Yacoub 2000:334–335; Yacoub 2003:71. Englische Übersetzung der Verfassung bei Khadduri 1978:183–198. 50 Filoni 2006:230–231; Rassam 2016:150–151. 51 Nur das Kleine Seminar, die Sekundarschule, die Jungen auf das Priesteramt und den späteren Eintritt ins Priesterseminar vorbereitete, blieb noch bis 1985 in Betrieb. Richard 2001:245; Sako 2015:93.

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treue Haltung der Bischöfe, die bereit waren, kirchliche Aktivitäten der Parteilinie unterzuordnen.52 Die Machtübernahme der Baath-Partei brachte zunächst auch eine Entspannung in den Beziehungen des Staats zum assyrischen Patriarchen Mar Shimʼun. Ihm wurde wieder die irakische Staatsbürgerschaft zugestanden und er konnte 1970 eine Reise nach Bagdad und den Nordirak unternehmen. Staatspräsident Ahmad Hasan al-Bakr empfing ihn bei dieser Gelegenheit mit allen Ehren. Außerdem wurde er per Regierungsdekret als Kirchenoberhaupt anerkannt. Der Patriarch folgte jedoch nicht der Einladung der Regierung, sich in Bagdad niederzulassen.53 Während das Bildungssystem verstaatlicht wurde, schien das Baath-Regime im kulturellen Bereich Zugeständnisse zu machen. Per Dekret 251 vom 16. April 1972 wurden die Assyrer, Chaldäer und Syrer als eigene Völker anerkannt und ihnen kulturelle Rechte zugestanden. Der Unterricht in syrischer Sprache, der in Grund- und Sekundarschulen garantiert sein sollte, wurde in der Praxis jedoch dadurch stark eingeschränkt, dass er nur in Schulen mit christlicher Mehrheit angeboten werden sollte. Dies war fast nirgends gegeben. Auf Grundlage des Dekrets kam es allerdings zu einem Aufschwung kultureller Vereine. Außerdem erschienen zahlreiche populäre und wissenschaftliche Zeitschriften in syro-aramäischer und arabischer Sprache; vieles freilich, der Baath-Ideologie entsprechend, unter staatlicher Leitung. So ordnete das Dekret die Produktion und Ausstrahlung von Sendungen in syrischer Sprache im staatlichen Radio sowie in den staatlichen Fernsehstationen der Provinzen Kirkuk und Niniveh an. Das Informationsministerium wurde angewiesen, eine Monatszeitung in syrischer Sprache herauszugeben. Außerdem wurde von staatlicher Seite ein syrischer Schriftstellerverband ins Leben gerufen. In Bagdad wurde durch ein weiteres Dekret (vom 25. Juni 1972) eine Akademie für die syrische Sprache gegründet.54 Von der kirchlichen Hierarchie wurden diese Maßnahmen begeistert begrüßt. Allerdings mischten sich schon die vom Baath-Regime erwarteten Preisungen der politischen Führung in die Stellungnahmen. So erklärte der chaldäische Patriarch Paul II. Cheikho 1972: „Das Dekret vom 16. April 1972 verdient nur Lob und Anerkennung, denn seine Autoren, die Führer unseres Landes, wollen nur sein Gutes. Dieses Dekret ist ein bemerkenswerter Beweis für ihre Liebe zum Guten, denn es umfasst wissenschaftliche, literarische, nationale und historische Vorteile.“55 Der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Bagdad und Basra (und spätere Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche), Mor Zakka Iwas, verkündete: „Wir Syrisch-Orthodoxe, die wir die syrische Sprache sprechen, schätzen sehr die Initiative des Revolutionären Kommandorats, uns durch das Dekret kulturelle Rechte zuzuerkennen. Wir grüßen mit ganzem Herzen unsere Partei, die sozialistische arabische Baath-Partei, und wir wissen ihre progressive, revolutionäre und humanitäre 52 Casmoussa 2012:86–97. 53 Valognes 1994:430–431; Galletti 2003:135. 54 Yonan 1978:104–106; Valognes 1994:751–752; Le Coz 1995:384–386; Yacoub 1996:216–219; Yacoub 2000:335–336; Yacoub 2003:72–74; Teule 2008:157. 55 Zitiert bei Yacoub 1996:214.

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Weise, die Angelegenheiten der nationalen Minderheiten zu behandeln, zutiefst zu schätzen.“56 Ganz anders verhielten sich allerdings die Assyrer. Sie vermuteten in den Maßnahmen eine Initiative des Baath-Regimes, um Assyrer und Chaldäer für den Kampf gegen die Kurden zu gewinnen. Freilich konnte diese Kritik nur in der Diaspora geäußert werden.57 Die Beziehungen zwischen der assyrischen Kirche und dem irakischen Staat waren ohnehin angespannt. 1977 verweigerten die irakischen Behörden der assyrischen Kirche die Durchführung einer Synode in Bagdad. 1978 beantragten acht Assyrer öffentlichkeitswirksam Asyl in den USA. Der Fall beunruhigte die Assyrer im Irak. Sie befürchteten Repressalien des Regimes. Der neue Patriarch Mar Denkha IV. (seit 1975) begab sich eilig nach Bagdad, um seine Loyalität zum Regime zu erklären und so Konsequenzen für die irakische Gemeinschaft abzuwenden. Dies gelang offensichtlich und der Patriarch wurde bei dieser Gelegenheit auch von Staatschef Saddam Hussein empfangen.58 1974 brach der Kurdenkonflikt erneut mit voller Schärfe aus. Das Baath-Regime verweigerte Kurdenführer Mustafa Barzani die 1970 in Aussicht gestellte Kandidatur für das Amt des Vizepräsidenten. Außerdem gab es Streit um die Grenzen des autonomen Gebiets. In dieser Situation bot der Schah von Persien, interessiert an einer Schwächung des nach der Verstaatlichung der Ölindustrie (1972) aufstrebenden Nachbarn Irak, Barzani militärische und wirtschaftliche Unterstützung an. Im April begann Barzani einen erneuten Krieg gegen die Zentralregierung. Er wurde von beiden Seiten mit aller Härte geführt. Während und im Nachgang des Kriegs, der bis Sommer 1975 dauerte, wurden auch zahlreiche christliche Dörfer evakuiert und die Bewohner im Süden des Irak angesiedelt. Damit erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie viele Kurden der Region. Allerdings profitierten die Christen anders als die Kurden von einer Generalamnestie und konnten sich so besser in die Gesellschaft einfügen. Das Ende des Kriegs wurde durch ein in Algier geschlossenes Abkommen zwischen Schah Mohammad Reza Pahlawi und Saddam Hussein ermöglicht. Darin wurde vereinbart, dass der Iran seine Unterstützung für die kurdischen Aufständischen gegen die Zuerkennung der Talweglinie im Schatt al-Arab (bisher hatte der Irak den Schatt al-Arab bis zum östlichen/linken Ufer kontrolliert) aufgibt. Ohne die Unterstützung Irans musste Mustafa Barzani kurz darauf kapitulieren. Er ging ins amerikanische Exil. Die Führung der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) übernahm sein Sohn Masʼud. Barzanis Rivale Jalal Talabani gründete jedoch eine eigene Partei, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und warf Barzani vor, die Kurden in die Katastrophe geführt zu haben.59

56 Zitiert bei Yacoub 1996:219. 57 Yacoub 1996:220–222. 58 Yonan 1989:107–108; Valognes 1994:753. 59 Zu den politischen und militärischen Entwicklungen: Khadduri 1978:109–110, 148–153. Fürtig 2016:105–108. Zu den Christen: Galletti 2003:166; Donabed 2015:179–188 mit einer Liste der zerstörten Dörfer.

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Saddam Hussein und der starke Staat: Möglichkeiten und Grenzen christlichen Lebens 1979 trat Saddam Hussein in die erste Reihe und stellte Ahmad Hasan al-Bakr kalt. Am 16. Juli trat al-Bakr von allen Ämtern zurück und schlug Saddam als Nachfolger vor. Kritiker in den Reihen des Revolutionären Kommandorats wurden von Saddam Hussein rücksichtslos ausgeschaltet und hingerichtet. Er errichtete eine brutale Diktatur auf der Basis einer Clique aus seiner Heimatstadt Tikrit am mittleren Tigris.60 Mit der Machtübernahme Saddam Husseins wurden alle kirchlichen und kulturellen Einrichtungen der strengen Kontrolle der Baath-Partei unterstellt. Die Akademie für syrische Sprache war bereits 1978 in die Irakische Akademie eingegliedert worden. Die Aktivitäten der Kulturvereine wurden ab 1980 wie die Aktivitäten anderer Gruppen immer strengerer staatlicher Aufsicht, Lenkung und Zensur unterstellt. Publikationen unterlagen der Zensur, die so weit ging, dass einzelne Passagen der Bibel, die das Volk Israel erwähnten, gestrichen werden mussten. Am 25. Februar 1980 wurde im Amtsblatt verkündet, dass der Revolutionäre Kommandorat allen Ausländern nur noch Aufenthaltsgenehmigungen für maximal fünf Jahre erteile. Das bedeutete, dass die 17 ausländischen Priester und Ordensschwestern, auf die das lateinische Erzbistum Bagdad seine Arbeit stützte, von Ausweisung bedroht waren. Auf Druck des Nuntius wurde die Maßnahme allerdings ausgesetzt und die Kirchenleute konnten zunächst bleiben.61 1981 sollte für den Literaturunterricht in den Schulen ein Lehrbuch eingeführt werden, das dem Koran sehr breiten Raum einräumte. Nach Protesten der Hierarchie wurde es zurückgezogen.62 Die vom Religionsministerium erstellten Schulbücher für den Religionsunterricht wurden von der katholischen Hierarchie zurückgewiesen. Auf direkte Bitte von Patriarch Cheikho an Saddam Hussein wurde das Buch vom Präsidenten selbst zurückgezogen und angeordnet, dass ein neues Werk gemäß den Wünschen der katholischen Bischöfe zu erstellen sei.63 Mit Gesetz Nr. 32 von 1981 behielt sich der irakische Staat das Recht auf die Ernennung von Bischöfen nach deren Wahl durch die jeweilige Kirche vor. Außerdem musste ein Vertreter der Regierung an allen kirchlichen Versammlungen und Gremiensitzungen teilnehmen.64 Während die meisten Christen (Chaldäer, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische) die Arabisierungspolitik des Baath-Regimes hinnahmen und auch während der Kurdenaufstände zum Regime in Bagdad hielten, regte sich in assyrischen Kreisen Widerstand. 1977 zwang das Regime die Assyrer, sich bei der Volkszählung als „Araber“ eintragen zu lassen. In den 1980er Jahren wurde neben fast allen assyrischen Dörfern (genauso wie neben kurdischen Dörfern) vom Baath-Regime ein kollektives Araberdorf installiert, um das Gebiet zu arabisieren. 1979 gründete der Assyrer Yonadam 60 61 62 63 64

Fürtig 2016:112–120. Filoni 2006:236. Valognes 1994:754; Filoni 2006:236. Sleiman 2006:55. Yacoub 1996:31–32; Yacoub 2000:337; Galletti 2003:161.

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Yusuf Kanna, Kampfname Yaʼqub, die Partei „Assyrische Demokratische Bewegung“ (Assyrian Democratic Movement, ADM, Syrisch: Zowʿā Dimoqrāṭayā Atorāyā). Sie kämpfte an der Seite von Masʼud Barzani. 1982 wurde ein erstes Kontingent assyrischer Kämpfer zur militärischen Unterstützung des kurdischen Widerstands gebildet.65 1984 und 1985 gab es zahlreiche Verhaftungen in assyrischen Kreisen, die sich der Arabisierungspolitik widersetzten. Im August 1984 wurden 53 Assyrer verhaftet, von denen drei im Februar 1985 ohne Gerichtsurteil hingerichtet wurden. Im Januar 1985 starb ein Priester im Gefängnis in Kirkuk, der trotz behördlichen Verbots die Totenfeier für einen getöteten assyrischen Militärangehörigen geleitet hatte. Der assyrische Bischof der Region Niniveh, Mar Zaya Bobo Dobato, musste mit seiner Familie das Land verlassen. Der chaldäische Priester Yohanna Sher wurde am 28. März 1986 ermordet. Der assyrische Erzbischof von Zakho, Stephanos Kacho, wurde 1986 von einem Militärfahrzeug verfolgt und starb bei einem „Unfall“.66 Angesichts des Drucks durch das Baath-Regime suchten christliche Vereine und die Kirchen Kompromisse und Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem Staat. Sie übernahmen weitgehend die Ideologie des Baath-Regimes, gewährten dem Staat politische und diplomatische Unterstützung und erhielten im Gegenzug Schutz und finanzielle Zuwendungen. So finanzierte der Staat einen Großteil der 25 in Bagdad gebauten chaldäischen Kirchen, die dort aufgrund des Zuzugs der christlichen Bevölkerung aus dem Norden seit Beginn der 1960er Jahre notwendig wurden. Von den Kirchenführern wurde strikte Loyalität dem Regime gegenüber erwartet; diese musste regelmäßig in öffentlichen Deklarationen zum Ausdruck gebracht werden. Im Gegenzug wurde weitgehende Kultfreiheit gewährt, konnten liturgische Veranstaltungen und Prozessionen auch in der Öffentlichkeit stattfinden, wurde die Genehmigung zum Bau von Kirchen ohne Schwierigkeiten gewährt und der Unterhalt kirchlicher Gebäude von Saddam Hussein mit finanziellen Mitteln großzügig unterstützt. Kirchenführer, darunter der chaldäische Patriarch Raphaël Bidawid (1989–2003), zeigten große Nähe zu Saddam Hussein. Nach Bidawids Antrittsbesuch bei Saddam Hussein wurde verkündet, dass der Staat der chaldäischen Kirche ein Grundstück in Bagdad zur Verfügung stelle sowie großzügige finanzielle Unterstützung für den Bau eines neuen Patriarchats und „der größten Kathedrale des Orients“ in Aussicht gestellt habe. Allerdings wurden die Bauvorhaben wegen des kurz danach ausgebrochenen Golfkriegs nie umgesetzt.67 Der irakisch-iranische Krieg, 1980 von Saddam Hussein gegen einen vermeintlich von der Islamischen Revolution geschwächten Iran um die Erlangung der Erdölfelder in Ahwaz vom Zaun gebrochen, brachte großes Leid über die gesamte Bevölkerung und stoppte den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des Irak sowie den Ausbau des Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystems. Während des Kriegs standen die kirchlichen Eliten immer eng an der Seite Saddam Husseins und unterstützten den Kampf 65 Valognes 1994:752–753; Galletti 2003:166–167, 173–176. 66 Donabed 2015:193–199. 67 Valognes 1994:748–751; Le Coz 1995:386–387; Yacoub 1996:32–33, 222–226; Galletti 2003:160; Yacoub 2003:74–75; Girling 2018:94–95.

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gegen den Iran mit zahlreichen patriotischen Deklarationen. Die Sorge vor einer schiitischen Machtübernahme und der Gründung einer Islamischen Republik nach dem Vorbild des Iran mögen neben der säkularen und neutralen Politik des Baath-Regimes der Grund dafür gewesen sein. Christen kämpften im Krieg an der Seite ihrer muslimischen Landsleute. Bis zum Ende des Kriegs 1988 erlitten viele von ihnen den Tod. Besonders schmerzhaft war für die Christen daher, dass sie trotz ihres Einsatzes bei den Verhandlungen über die Freilassung der Gefangenen am Ende des Kriegs nicht berücksichtigt wurden. Hinzu kam, dass Christen unter besonders schlechten Bedingungen in der Gefangenschaft der revolutionären Islamischen Republik Iran zu leiden hatten (viele wurden von den muslimischen Gefangenen getrennt, beschimpft und geschlagen). So sollen sich 1992 noch mehr als 500 Christen in iranischer Kriegsgefangenschaft befunden haben.68 Bei der Repressionskampagne, die Saddam Hussein nach dem Ende des irakisch-iranischen Kriegs 1988 unter dem Namen al-Anfāl („die Beute“) gegen die Kurden führte, wurden christliche Dörfer im Norden genauso zerstört wie kurdische, so Shese, Araden, Bebede, Dere und das Kloster Mar Odisho. Trauriger Höhepunkt der Kampagne war der Einsatz von Nervengas gegen die kurdische Bevölkerung von Halabja, die allein über 5.000 Tote forderte. Zahlreiche Christen wanderten nach Bagdad ab. 1,5 Millionen Kurden flohen vor den Kämpfen in den Iran, nach Syrien und in die Türkei, mit ihnen auch zahlreiche Christen.69 Das Baath-Regime huldigte dem Modernismus, der Naturwissenschaft und Technik, krempelte durch die Entwicklung der Ölindustrie und die Verstaatlichung breiter Wirtschaftszweige die sozialen Strukturen um, richtete ein gutes öffentliches Schulsystem ein, entwickelte die Gesundheitsfürsorge und öffnete das Land westlichem Einfluss. Das Baath-Regime öffnete Christen alle Ränge der Armee, des öffentlichen Dienstes und der politischen Aktivität auf Basis der Ideologie und im Sinne der Baath-Partei. Das hat Unterschiede zwischen Christen und Muslimen sowie zwischen den anderen Gruppen verwischt. Der Chaldäer Tariq Aziz konnte in dieser Zeit höchste Regierungsämter (Außenminister, Vize-Ministerpräsident) einnahmen, allerdings nicht wegen seiner christlichen Religion, sondern wegen seiner totalen Loyalität.70 Loyalität war das, was das Regime für den Schutz der Christen als Gegenleistung erwartete. J. Yacoub fasst die Erwartungen des Regimes treffend zusammen: „die herrschende Partei unterstützen, den Lobpreis des Herrschers singen, die Politik der Behörden unterstützen, an der nationalen Mobilisierung teilnehmen, sich den Anstrengungen der Kriegsführung anschließen und daran teilhaben (Krieg gegen den Iran, Golfkrieg). 68 Galletti 2003:161, 173. 69 Die bei Yacoub wiedergegebene Schätzung von 35.000 christlichen Flüchtlingen in Syrien, 70.000 im Iran und 160.000 in der Türkei scheinen allerdings weit übertrieben. Yacoub 1996:40–42. Donabed 2015:199–202. 70 Er hatte sogar seinen christlichen Namen, Mikhaʼil Yohanna, abgelegt und dafür einen neutralen arabischen Namen angenommen, um seine Herkunft zu verdecken. Religiös bekannte er sich zum Agnostizismus. Er verteidigte nie die Rechte der christlichen Gemeinschaft. Sleiman 2006:54–55.

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Keinerlei Zugeständnisse wurden auf diesen Gebieten geduldet bei Androhung strengster Unterdrückungsmaßnahmen.“71 1990 löste Saddam durch die Eroberung und Annektion Kuwaits eine internationale Krise aus. Der UN-Sicherheitsrat forderte den Rückzug der Iraker aus dem Emirat und drohte mit einer militärischen Intervention. Angesichts der Weigerung Saddams schmiedete US-Präsident George Bush eine internationale Koalition unter Beteiligung mehrerer arabischer Staaten zur Befreiung Kuwaits. Im Irak nahm das Regime unterdessen die erwarteten Loyalitätsbekundungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entgegen. Der chaldäische Patriarch Raphaël Bidawid verteidigte öffentlich das Vorgehen der Regierung und lud zu einem internationalen „Friedenskongress“ nach Bagdad, dessen Kosten die irakische Regierung trug. Der Kongress forderte, den Rückzug aus Kuwait von der Lösung der Palästinafrage abhängig zu machen (einer der Teilnehmer war der melkitische Bischof Hilarion Cappucci, der als Patriarchalvikar von Jerusalem 1974 wegen Waffenschmuggels für die Palästinenser von den israelischen Behörden festgenommen worden war und mehrere Jahre im Gefängnis verbracht hatte). Mehrere Teilnehmer wurden im Anschluss an die Tagung von Staatschef Saddam Hussein empfangen. Der Apostolische Nuntius im Irak blieb dem Treffen jedoch fern.72 Am 16. Januar 1991 begannen nach dem Ablauf des Ultimatums des UN-Sicherheitsrats die Militäroperationen gegen den Irak; Ende Februar musste der Irak kapitulieren. Aufstände von Schiiten im Süden und Kurden im Norden ließ Saddam Hussein blutig niederschlagen. Hunderttausende flohen über die Grenze in die Türkei und den Iran. Erst durch die Einrichtung von Flugverbotszonen beruhigte sich die Situation im Norden so weit, dass mit amerikanischer Unterstützung die Kurden eine faktische Autonomie mit eigenen Militäreinheiten aufbauen konnten. Die Vereinten Nationen legten dem Irak Wiedergutmachungsleistungen und die kontrollierte Zerstörung aller Massenvernichtungswaffen auf. Zur Durchsetzung wurden Sanktionen erlassen und ein sehr weitgehendes Embargo gegen den Irak verhängt.73 Der Vatikan unterstützte das Embargo nicht, weil darunter vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden habe.74 Die katholischen Patriarchen des Nahen Ostens kritisierten in ihrer Erklärung zum Abschluss ihres ersten gemeinsamen Treffens vom 19. bis 24. August 1991 die internationalen Mächte und ihre Reaktion auf die Golfkrise sowie das Embargo gegen den Irak scharf: „Es wäre möglich gewesen, die Golfkrise auf friedlichem Weg zu lösen. Die Großmächte haben den Weg der Gewalt und der Zerstörungen bevorzugt. Die Golfregion hat wegen dieser Entscheidung schwerste Behandlung erfahren und das irakische Volk ist immer noch einer ungerechten Politik 71 „soutenir le parti au pouvoir, faire lʼéloge du prince, appuyer la politique des autorités en place, participer à la mobilisation nationale, adhérer et contribuer à lʼeffort de guerre du pays (guerre contre lʼIran et guerre du Golfe). Aucune concession nʼest tolérée sur ces points sous peine dʼune répression sévère.“ Yacoub 1996:34. 72 Valognes 1994:441–442; Girling 2018:95. 73 Zu den politischen Entwicklungen siehe Fürtig 2016:134–155. 74 Filoni 2006:243.

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und ungerechten Regelungen ausgesetzt, die es mit Hunger bedrohen, zur Auswanderung zwingen und durch die wirtschaftliche Blockade, die ihm auferlegt ist, der lebensnotwendigen Mittel berauben.“75 Nach dem Golfkrieg erlangte der kurdische Norden de facto weitgehende Autonomie unter dem Schutz von Amerikanern und Briten. Militärisch wurde der irakische Teil Kurdistans von Peshmarga, kurdischen Kampfeinheiten, kontrolliert.76 Während die meisten Kurden, die während der irakischen Operationen auf türkisches Territorium geflohen waren, in ihre Heimat zurückkehrten, zögerten viele Christen, weil sie Übergriffe von kurdischer Seite befürchteten. Problematisch war auch, dass 40 assyrische Dörfer in einer Zone lagen, die von der Kurdischen Arbeiterpartei PKK kontrolliert wurde. Obwohl das Gebiet auf der irakischen Seite der Grenze lag, griff das türkische Militär dort immer wieder an, so dass die Region quasi unbewohnbar war.77 In den kurdischen Gebieten hatten alle Minderheiten (Assyrer, Chaldäer, Araber, Turkmenen, Armenier, Jesiden) laut Gesetz vom 8. April 1992, das die Wahl des kurdischen Nationalrats regelte, das Recht, eigene Kandidaten zu benennen. Der „assyro-­ chaldäo-syrischen“ Minderheit wurden fünf Sitze im Nationalrat garantiert und sie wurde von der 7-Prozent-Hürde befreit. Im ersten kurdischen Parlament von 1992 saßen unter 105 Abgeordneten fünf Christen, davon vier vom Assyrian Democratic Movement (ADM) und einer von der Christian Union of Kurdistan (Ittiḥād masīḥiyyī Kurdistān), geführt von Sarkis Aghajan Mamendo. Ein christlicher Minister saß im Kabinett der kurdischen Regierung (Yonadam Yusuf Kanna vom ADM, Minister für Öffentliche Arbeiten, Wohnung und Umwelt). Da die restlichen Sitze zu gleichen Teilen unter den beiden rivalisierenden Kurdenparteien KDP (Kurdish Democratic Party von Masʼud Barzani – Erbil/Dohuk) und PUK (Patriotic Union of Kurdistan von Jalal Talabani – Sulaimaniya) aufgeteilt wurden, kam den christlichen Abgeordneten ein gewisser Einfluss bei Entscheidungen zu; sie bildeten quasi das „Zünglein an der Waage“.78 Den Assyro-Chaldäern wurde per Gesetz die Pflege und der Unterricht ihrer Sprache (Sureth) und ihrer Geschichte zugestanden. 1993 wurde vom Erziehungsministerium eine Kommission zur Erarbeitung von entsprechenden Schulbüchern eingesetzt und Sureth seither in Grundschulen auch als Unterrichtssprache verwendet. 2003 gab es 27 christliche Schulen im autonomen Kurdengebiet. Außerdem waren mehrere Kulturvereine tätig. Die christlichen Feste wurden 1993 per Beschluss des kurdischen Parlaments zu Feiertagen für Christen erklärt.79 75 „Il était possible de résoudre la crise du Golfe par des voies pacifiques. Les grandes puissances ont préféré les voies de la violence et des destructions. La région du Golfe a subi le pire des traitements du fait de ce choix, et le peuple irakien ne cesse dʼêtre exposé à une politique et à des dispositions injustes qui le menacent de famine, lui imposent lʼémigration et le privent des moyens essentiels de survie, à cause du blocus économique qui lui a été imposé.“ Zitiert bei Yacoub 1996:65. 76 In den Reihen der Peshmerga kämpften 1992 auch 2.000 assyrische Soldaten. 77 Valognes 1994:752–753, 763–764; Galletti 2003:166–176. 78 Valognes 1994:764–65; Yacoub 1996:83–85; Yacoub 2000:340–341; Galletti 2003:168–169; Yacoub 2003:82–83; Petrosian 2006:124; Teule 2008:157–158; Teule 2012:181–182. 79 Yacoub 1996:86–88; Galletti 2003:169–170; Yacoub 2000:341–342; Yacoub 2003:83–84.

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Allerdings kam es auch in den 1990er Jahren zu Übergriffen auf Christen in Kurdistan. Immer wieder war auch die Rede davon, dass sich Kurden christliches Land aneigneten. Der christliche Abgeordnete Francis Yusuf Shabo wurde möglicherweise wegen seiner Kritik daran am 1. Juni 1993 vor seinem Haus in Dohuk ermordet. Bei Kämpfen zwischen den beiden großen rivalisierenden Kurdenparteien PDK und PUK gerieten zwischen 1994 und 1996 auch christliche Dörfer mehrfach zwischen die Fronten. Mehr als einmal wurden Dörfer geplündert und teilweise zerstört.80 Aber auch der Arm der Zentralregierung in Bagdad reichte noch in das Kurdengebiet hinein: 1992 wurden drei Mitglieder des ADM vom Baath-Regime zu Tode verurteilt und ein weiterer von Agenten der Saddam-Regierung in Ainkawa ermordet. 2001 wurde Franso Hariri, Mitglied des Zentralkomitees der PDK und Gouverneur von Erbil, von der islamistischen Bewegung Anṣār al-Islām oder auf Betreiben des Saddam-Regimes getötet.81 Für die Bevölkerung des Irak außerhalb der Kurdengebiete waren die 1990er Jahre von den verheerenden Folgen des Embargos geprägt. Zwar erlaubte das „Oil for Food Program“ den Verkauf einer bestimmten Menge Öls zum Einkauf lebensnotwendiger Dinge, dennoch war dem Land jedwede wirtschaftliche Entwicklung und der Wiederaufbau der kriegsbeschädigten Gesundheits- und Sozialsysteme verwehrt. Saddam Hussein stellte dies als Folge der ungerechten Politik des Westens dar und lenkte damit von seiner eigenen Verantwortung ab. Allerdings warnten auch manche Kirchenvertreter vor den gesellschaftlichen Folgen des Embargos. So äußerte sich der lateinische Erzbischof von Bagdad, Jean Benjamin Sleiman, im November 2002 zu den Gefahren für das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Irak: „Dieses Embargo wird im Irak als Embargo der Christen gegen die Muslime wahrgenommen. Einer der verhängnisvollen Effekte ist das Gefühl der Demütigung, das es hervorruft. Das Volk fühlt sich von den Nationen ausgestoßen. Das ist vielleicht noch schlimmer als der Mangel an Nahrung und Medikamenten. Das könnte dramatische Konsequenzen für das Zusammenleben von Muslimen und Christen haben. Es ist eine Zeitbombe. Dadurch wird der Terrorismus genährt. Auf der Ebene der Kultur und der Bildung hat das Embargo zur Folge, dass es überhaupt keine intellektuelle Erneuerung gibt. Korruption und Inflation kommen hinzu.“82 Mit dem wirtschaftlichen Niedergang, bedingt durch die internationale Isolierung des Landes und die Sanktionen, setzte Saddam Hussein statt auf Säkularismus und 80 Yacoub 1996:88–91; Yacoub 2000:343–345; Galletti 2003:170–171, 173; Yacoub 2003:86–88. 81 Der ADM setzte sich in den 1990er Jahren gegen eine Teilung des Irak ein, weil sie die Assyrer Kurdistans nicht von ihren Landsleuten im Süden des Landes trennen wollten. Er nahm aber auch gegen US-Präsident George Bush Stellung, weil die Sanktionen die gesamte Zivilbevölkerung des Landes trafen. Valognes 1994:752–753; Galletti 2003:166–167, 173–174, 176. 82 „Cet embargo est perçu, en Irak, comme un embargo des chrétiens contre les musulmans. Un de ses effets néfastes est le sentiment dʼhumiliation quʼil génère. Ce peuple se sent mis au banc des nations. Cʼest peut-être plus grave encore que le manque de nourriture et de médicaments. Cela risque dʼavoir des conséquences dramatiques pour les relations de coexistence entre musulmans et chrétiens. Cʼest une bombe à retardement. Cʼest là que se nourrit le terrorisme. Sur le plan de la culture, de lʼéducation, lʼembargo a pour conséquence une absence totale de régénérescence intellectuelle. La corruption et lʼinflation sʼajoutent à cela.“ Zitiert bei Yacoub 2003:13.

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Moderne auf eine stärkere Rolle der Religion. Saddam begann, sich in der Öffentlichkeit als frommen Muslim darzustellen und die islamischen Gefühle der Bevölkerung für sich auszunutzen. Viele Errungenschaften, die das Regime bis dahin erreicht hatte, wurden seit dem zweiten Golfkrieg zunichte gemacht. Die Sozialfürsorge wurde, bedingt durch das Embargo, stark eingeschränkt, die wirtschaftliche und technische Entwicklung gestoppt. In der Modernisierungspolitik hatten die Christen eine große Chance gesehen, umso größer waren ihre Sorgen angesichts von Islamisierungstendenzen und der Abwendung vom Westen. Die Beziehungen zu den Christen verschlechterten sich. Nur eine Episode bildete darin, dass Saddam Hussein Papst Johannes Paul II. die Pilgerreise nach Ur, dem Geburtsort Abrahams, verweigerte, die dieser in Vorbereitung auf das Heilige Jahr 2000 unternehmen wollte.83 Größere Auswirkungen hatte ein Gesetz, wonach es Christen verboten wurde, ihren Kindern nicht-arabische Namen zu geben. Die Verwaltung war aufgefordert, auch gegen den Willen der Eltern arabische Namen für die Kinder einzutragen. In den Ausweispapieren wurde die Bezeichnung „Christ“ durch „Nicht-Muslim“ ersetzt. 2001 wurden alle nicht-arabischen Bewohner der Provinz Kirkuk, darunter Assyrer und Chaldäer, aufgefordert, ihre Nationalität „zu berichtigen“. Wer als solche nicht „Araber“ eintrug, hatte mit erheblichen Nachteilen zu rechnen, wurde oft auch in die kurdischen Gebiete ausgewiesen. Ziel war die Arabisierung der ölreichen Provinz Kirkuk und ihre Sicherung für die Zentralregierung.84 Für die Christen des Irak begann in den 1990er Jahren die Phase der massiven Auswanderung. Als Gründe dafür werden genannt: 1. eine immer härtere Politik der inneren Sicherheit zur Stabilisierung des Systems und die Zuspitzung der diktatorischen Herrschaft Saddam Husseins; 2. der Niedergang des Gesundheitssystems, einst ein Vorzeigeprojekt der Baath-Regierung; 3. der ständige Druck durch die Alliierten auf den Irak und militärische Drohungen; 4. das Ende der neutralen Religionspolitik Saddam Husseins seit dem Ende des Kuwait-Kriegs und die starke, politisch geförderte Islamisierung des Landes. Zwischen dem Kuweit-Krieg 1991 und der amerikanischen Invasion 2003 verließen schätzungsweise 250.000 Christen das Land, etwa ein Viertel der christlichen Bevölkerung. Bereits in der unmittelbaren Folge des zweiten Golfkriegs hatten rund 12.000 Christen meist über Jordanien den Irak verlassen. Im Jahr 2003 lebten 30.000 Christen in Jordanien, 35.000 in Syrien, weitere in der Türkei und Griechenland, meist in Erwartung eines Visums für Nordamerika, Europa oder Australien.85

83 Filoni 2006:246; Suermann 2010:70; Filoni 2015:221–222. 84 Galletti 2003:163; Filoni 2006:250. Das Dekret zum Verbot christlicher und nicht-arabischer Namen wurde 2004 aufgehoben. Sleiman 2006:61. 85 Valognes 1994:762–765; Yacoub 2003:30, Sleiman 2006:101; 165; Girling 2018:96–99.

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Die US-Invasion und ihre Folgen: Ende der christlichen Gemeinschaft? Der Sturz Saddam Husseins und die neue Ordnung Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erwog die US-Regierung von Präsident George Bush ernsthaft den Sturz des irakischen Herrschers Saddam Hussein. Der Vatikan dagegen lehnte einen „Präventivkrieg“ gegen den Irak ab. Noch im Februar 2003 entsandte Papst Johannes Paul II. Kardinal Roger Etchegaray nach Bagdad, mit dem Ziel einen Krieg in letzter Minute zu verhindern und die Solidarität des Papstes mit dem irakischen Volk auszudrücken.86 Nichtsdestotrotz griffen amerikanische und britische Truppen, unterstützt von einer Anzahl europäischer Alliierter, den Irak am 20. März 2003 an. Am 1. Mai verkündete Präsident Bush den Sieg über den Irak. Saddam Hussein war geflohen und wurde erst 13. Dezember aufgespürt und verhaftet. Nach einem Prozess in Bagdad wurde er am 30. Dezember 2006 hingerichtet. Kurz nach dem Sturz Saddam Husseins, am 29. April 2003, versammelten sich die Patriarchen und Bischöfe aller Kirchen des Irak und forderten für das Land ein demokratisches System sowie die Wahrung der religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Rechte der Christen. Sie verlangten keine Privilegien, warnten aber auch vor Diskriminierung.87 Für die irakischen Christen, vor allem für die chaldäische Kirche, fiel der Sturz Saddam Husseins mit einer Führungskrise zusammen. Patriarch Bidawid, der dem Baath-Regime nahegestanden hatte, starb im Juli 2003. Die Synode konnte sich nicht auf einen Nachfolger einigen, so dass schließlich Rom Emmanuel III. Delly zum Patriarchen ernannte. Er genoss wenig Unterstützung in den Reihen der irakischen Bischöfe. Zudem erhielt er gleich zu Beginn seiner Amtszeit Drohungen von Seiten islamistischer Extremisten, die ihn der Kollaboration mit den ausländischen Mächten bezichtigten und ihn aufforderten, das Land zu verlassen. Die mangelnde Unterstützung aus den Reihen der eigenen Kirche mag dazu beigetragen haben, dass er sich in vielen politischen Fragen stark zurückhielt mit dem Ergebnis, dass viele Christen des Landes eine hörbare Stimme, die für ihre Anliegen eintrat, vermissten.88 Diese Rolle nahmen nun einzelne Bischöfe im Irak und in der Diaspora (vor allem in den USA) ein, so dass die chaldäische Kirche immer weniger als Einheit zu erkennen war. Erst die Wahl des Erzbischofs von Kirkuk, Louis Sako, zum Patriarchen im Januar 2013 sollte diese Entwicklung beenden.89

86 Filoni 2006:252–253; Filoni 2015:207–209. 87 Die französische Fassung des Briefs ist abgedruckt in POC 53 (2003):387–388; Filoni 2006:253–254; Suermann 2006:183; Suermann 2010:74; Filoni 2015:224–225. 88 Auch seine Ernennung zum Kardinal durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2007, die nach den Worten des Papstes die Notlage der irakischen Christen verdeutlichen sollte, konnte an dieser schwachen Stellung nichts ändern. 89 Girling 2018:113–125.

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Der von den Amerikanern eingesetzte Regierungsrat unter Paul Bremer führte ein Proporzsystem zur Vergabe von Regierungsämtern und Verwaltungsposten entlang ethnisch-konfessioneller Trennlinien ein. Dies führte zu einer fatalen Konfessionalisierung der Gesellschaft, in der die einzelnen Gruppen mehr auf die eigenen Vorteile als auf die Interessen des Gesamtstaats bedacht waren. Auch die chaldäischen Bischöfe des Irak beklagten damals in einem Schreiben an Paul Bremer, dass die chaldäische Gemeinschaft trotz ihrer Bedeutung nicht im Regierungsrat vertreten sei. Dieser umfasst allerdings einen assyrischen Minister, Yonadam Yusuf Kanna vom Assyrian Democratic Movement (ADM).90 Parteien formierten sich entlang der religiösen und ethnischen Trennlinien. Säkular oder national ausgerichtete Parteien hatten kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Sachlicher Widerstand zu bestimmten Programmpunkten der anderen Parteien wurde so schnell zu ethnisch-religiösen Fragen hochgespielt. Dies führte zu einer enormen Verschärfung der politischen Situation. Der Irak geriet an den Rand eines konfessionellen Bürgerkriegs, spätestens bei dem Anschlag auf die schi­ itische Goldene Moschee in Samarra am 22. Februar 2006. Mit 34.000 Todesopfern erreichte die Zahl der Toten 2006 einen traurigen Rekord. Danach gelang es dem US-Militärkommando, mit der „Operation Surge“ sunnitisch-arabische Stämme einzubinden und so ein Abflauen der Kämpfe und größere Sicherheit zu erreichen. 2008 schien ein Bürgerkrieg abgewendet.91 Am 31. Januar 2005 wurde eine Übergangsparlament (Transitional National Assembly) gewählt, das einen Verfassungsentwurf ausarbeiten sowie eine Übergangsregierung92 und ein Präsidentschaftskomitee wählen sollte. Gleichzeitig fanden auch Wahlen zum kurdischen Regionalparlament sowie den Provinzräten der anderen 17 irakischen Provinzen statt. Zu den Wahlen traten acht christliche Parteien an, die sich allerdings nicht primär konfessionell, sondern vielmehr ethnisch als assyro-­ chaldäische Parteien verstanden. Da keine Sitze für ethnische Minderheiten reserviert waren, hatten christliche Kandidaten nur dann eine Chance, wenn sie auf einer der größeren Listen standen. So taten sich die christlichen Parteien zu drei Listen zusammen: Die National Rafidayn List (hauptsächlich bestehend aus dem Assyrian 90 Rassam 2016:199. Der ADM hatte bereits 2003 eine Initiative zur Einigung der unterschiedlichen christlichen Konfessionen unter dem gemeinsamen Namen „Chaldo-Assyrer“ gefasst. Als Name der Sprache einigte man sich – als Zugeständnis an Chaldäer und Syrer – auf Suryānī (anstelle von Ašūrī). Der Name Chaldo-Assyrer fand Eingang in Artikel 53d der Übergangsverfassung vom 30. Juni 2004, der die „administrativen, kulturellen und politischen Rechte der Chaldo-Assyrer“ erwähnt. Die katholische Hierarchie war allerdings mit dieser Bezeichnung nicht zufrieden. In der endgültigen Verfassung von 2005 heißt es schließlich wieder (Artikel 121): „die administrativen, politischen, kulturellen und erzieherischen Rechte der verschiedenen Völkerschaften wie der Turkmenen, Chaldäer, Assyrer und aller anderen Komponenten [der Bevölkerung]“. Petrosian 2006:117–118; Teule 2008:158–159; Teule 2012:182–184. 91 Fürtig 2016:174–177. 92 In der Übergangsregierung wurde die Chaldäerin und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Hammurabi Human Rights Organization, Pascale Isho Warda, Ministerin für Einwanderung und Flüchtlinge. In der im Mai 2005 gebildeten zweiten Übergangsregierung vertrat Basima Yusuf Butrus die Christen als Ministerin für Wissenschaft und Technologie.

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Democratic Movement), die Assyrian National Assembly und die Bet-Nahrayn Democratic Party. Allein die National Rafidayn List errang einen eigenen Parlamentssitz (Yonadam Yusuf Kanna), daneben zogen fünf weitere christliche Kandidaten auf den Listen anderer Parteien (vier von der Democratic Patriotic Alliance of Kurdistan, einem Zusammenschluss der beiden Kurdenparteien KDP und PUK; einer von der Iraqi List Iyad Allawis) ins Parlament ein. Die sechs Christen im Parlament in Bagdad gehörten somit drei unterschiedlichen Fraktionen an und vertraten sehr unterschiedliche politische Positionen: ADM vertrat eine Föderation der Region Kurdistan mit dem Zentralstaat, die Iraqi List eine starke Zentralregierung und die Kurdische Allianz eine weitgehende Autonomie Kurdistans. Bei den Wahlen zum kurdischen Regionalparlament wurden fünf Christen gewählt.93 Der Verfassungsentwurf, den das Übergangsparlament ausarbeitete, erklärte in Artikel 2 den Islam zur Religion des Staats und zu einer Grundlage der Gesetzgebung. Er legte weiterhin fest, dass kein Gesetz erlassen werden dürfe, das den Vorschriften des Islam widerspricht, keines, das den Prinzipien der Demokratie zuwiderläuft, und keines, das den Grundfreiheiten, die in den folgenden Artikeln der Verfassung definiert wurden, widerspricht. Außerdem wurde allen Irakern zugestanden, die in internationalen Menschenrechtsabkommen vereinbarten Rechte wahrzunehmen (Artikel 44). Eventuelle Gegensätze zwischen islamischen Vorschriften, Prinzipien der Demokratie, Grundfreiheiten und Menschenrechten wurden nicht erkannt. Artikel 14 sicherte Rechtsgleichheit ohne Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, Volkszugehörigkeit, Nationalität, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Konfession, Glauben, Überzeugung oder wirtschaftlichem und sozialem Status zu. Artikel 42 garantierte „Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit“, Artikel 43 die Ausübung religiöser Riten bei besonderer Erwähnung schiitischer Praktiken.94 Mit Blick auf den Verfassungsentwurf richteten die Oberhäupter der katholischen Kirchen einen offenen Brief an den Präsidenten, die Regierung und das Parlament, in dem sie gegen Artikel 2 protestierten und forderten, die Rolle der nicht-islamischen Religionen neben dem Islam zu sichern. Für die Christen forderten sie die volle Möglichkeit der Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben.95 93 Suermann 2006:186–187; Teule 2008:158–159; Suermann 2010:77–78; Teule 2012:183. Zu den christlichen Parteien, die zum Teil Ableger der internationalen assyrischen bzw. chaldäischen Parteien sind, siehe auch Petrosian 2006:135–138. 94 Suermann 2010:78–79; Suermann 2014:8–10; Girling 2018:119–121. 95 Sleiman 2006:86; Rassam 2016:203. Wortlaut des Schreibens: Naǧm al-Mašriq 43 (2005):420–421. Trotz der Garantien in der Verfassung ist die Diskriminierung von Christen und Angehörigen anderer religiöser Minderheiten auch in der Gesetzgebung immer wieder an der Tagesordnung. So forderte der chaldäische Patriarch Louis Raphaël Sako im September 2015 eine Änderung des Gesetzes, nach dem minderjährige Kinder bei der Konversion eines Elternteils grundsätzlich als Muslime registriert werden. Dies widerspreche Artikel 37, Absatz 2, der Verfassung, wonach der Staat keinen Zwang bei der Wahl einer Religionszugehörigkeit ausüben darf. Ein entsprechender Änderungsantrag zum Gesetz wurde vom Parlament am 27. Oktober 2015 mehrheitlich abgelehnt. Dieser hatte vorgesehen, dass Minderjährige bis zum 18. Lebensjahr weiterhin der ursprünglichen Religion angehören und mit dem Erreichen der Volljährigkeit dann selbst über ihre Religionszugehörigkeit entscheiden können. Nach-

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Am 15. Oktober 2005 wurde die Verfassung in einem Referendum angenommen. Die auf Grundlage der neuen Verfassung im Dezember 2005 durchgeführten Parlamentswahlen waren stark konfessionell geprägt. Parteien hatten sich entlang ethnischer und konfessioneller Linien gebildet, allen voran die schiitische United Iraqi Alliance (UIA). Allein die Iraqi List des früheren Ministerpräsidenten Iyad Allawi war säkular ausgerichtet und hatte sunnitische, schiitische, kurdische und christliche Kandidaten aufgestellt. Sie errang allerdings nur 25 von 275 Parlamentssitzen. Erneut traten drei christliche Parteienbündnisse an: Die National Rafidayn List (mehrheitlich ADM), die Bet-Nahrayn Democratic Party und die Assyrian General Conference. Christliche Kandidaten konnten nur die drei vom Wahlgesetz für Christen reservierten Parlamentssitze erringen.96 Das schiitische Parteienbündnis Islamic Supreme Council of Iraq und die Daʿwa-Partei erlangten die Mehrheit. Nuri al-Maliki wurde Ministerpräsident. In seiner Regierung bekleideten zwei Chaldäer verschiedene Ministerposten.97 Nach einigen Jahren, in denen er eine eher ausgewogene, nationalistische und nicht explizit konfessionell-schiitische Politik verfolgte, setzte Maliki nach dem Abzug der US-Truppen 2011 immer offener auf eine pro-schiitische Politik, um seine Macht zu erhalten. Dies führte zu einer fatalen Situation, in der sich die Sunniten des Landes immer

dem Patriarch Sako das Gespräch mit mehreren Vertretern der anderen Minderheitenreligionen gesucht und mit einer Anrufung internationaler Menschenrechtsgremien gedroht hatte, stimmte das irakische Parlament dann in einer überraschenden Kehrtwende am 17. November doch der Änderung des Gesetzes zu. Im Oktober 2016 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Herstellung, die Einfuhr und den Verkauf von alkoholischen Getränken verbot. Dies hätte zahlreichen christlichen Importeuren und Produzenten von Alkoholika, aufgrund ihrer Religion eine Domäne christlicher Erwerbstätigkeit, die Existenzgrundlage entzogen. Die Autonome Region Kurdistan kündigte daraufhin an, das Gesetz in ihrem Bereich nicht umzusetzen. Christliche Parteien kündigten eine Verfassungsklage an, weil das Gesetz gegen Minderheitenrechte und Religionsfreiheit verstoße. 96 Das auf Grundlage der Verfassung erlassene Wahlgesetz sah eine Vertretung der Minderheiten vor, darunter der Christen. Zunächst waren es drei Christen (je einer aus Bagdad, Basra und Mossul). Im September 2008 wurde die Abschaffung dieser Regelung diskutiert. Christliche Führer protestierten gegen das Vorhaben. Der Artikel wurde schließlich bestätigt. Rassam 2016:210. Von den christlichen Listen war 2005 nur die National Rafidayn List erfolgreich; sie errang einen Sitz (erneut Yona­ dam Kanna vom ADM). Über die Kurdistan Alliance gelangten Abd al-Ahad Afram Sawa (Chaldean Democratic Party) und Fawzi Franso Toma Hariri (KDP) ins Parlament. Auch bei späteren Wahlen konnten Christen nie mehr als die für sie reservierten Parlamentssitze erringen. Das Wahlgesetz vom 8. November 2009 legte für die Parlamentswahlen 2010 eine Quote von fünf Abgeordneten für Christen fest (von 325 Abgeordneten insgesamt). Drei davon errang die National Rafidayn List (darunter erneut Yonadam Kanna), zwei die Liste des Chaldean Syriac Assyrian Popular Council (CSAPC), die eng mit der kurdischen KDP zusammenarbeitete. Teule 2012:184–185. Bei den Wahlen vom 30. April 2014 waren erneut fünf Sitze (von diesmal 328) für Christen reserviert. Die Rafidayn List und CSAPC errangen je zwei Sitze und die neu gegründete Uruk Democratic List (offizieller arabische Name: Qāʾima al-warkāʾ al-dīmūqrāṭiyya) einen. Die Christen waren weiterhin gespalten zwischen denjenigen, die mit der Zentralregierung zusammenarbeiten wollten (Rafidayn List) und denjenigen, die sich an die Kurden hielten (CSAPC). Teule 2015:587–588. 97 Widjan Mikhail Salim von der Iraqi National List wurde Ministerin für Menschenrechte, Fawzi Franso Toma Hariri wurde Minister für Industrie und Bodenschätze. Teule 2008:158; Suermann 2010:79; Teule 2012:184; Rassam 2016:251–252, n. 12.

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weiter benachteiligt sahen und dazu neigten, terroristische Gruppen zu unterstützen. Die Gewalt erreichte 2013 einen erneuten Höhepunkt.

Terror und Gewalt: Christen vor dem Exodus Die Lebenswirklichkeit der Iraker wird allerdings seit 2003 weniger von der verfassungsmäßigen und politischen Ordnung des Staats als vielmehr von einer beispiel­ losen Welle des Terrorismus geprägt. Christen und andere religiöse Minderheiten sind dabei keineswegs die einzigen Opfer. Christen haben als relativ kleine Minderheit aller­dings das Gefühl, besonders bedroht zu sein. Anders als die Kurden und die sunnitischen und schiitischen Araber gehören Christen keinen starken Clan- und Stammesstrukturen an. Sie waren und sind damit Übergriffen – die dem Recht des Stärkeren folgen – weitgehend schutzlos ausgeliefert. Außerdem blieb in weiten Teilen der muslimischen Bevölkerung das Gefühl verbreitet, dass die Religion von Christen und anderen Nicht-Muslimen auf religiöser Ebene von geringerem Wert sei. Dies müsse in ihrem rechtlichen Status Niederschlag finden (ḏimma-Status). Nach 2003 waren Christen außerdem oft dem Vorwurf ausgesetzt, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten.98 Dies alles führte dazu, dass seit dem Einmarsch der US-Armee im Irak im März 2003 weit mehr als die Hälfte der Christen das Land verließ. Der Grund für den beispiellosen Exodus ist in erster Linie die Sicherheitslage. Die schlechte wirtschaftliche Situation spielt zwar, vor allem in der Hauptstadt Bagdad sowie in den abgelegenen Dörfern des kurdischen Nordirak, auch eine Rolle, der Hauptgrund ist und bleibt aber die Tatsache, dass es im Irak fast täglich zu Terroranschlägen kommt. Zwischen 2003 und Ende 2014 wurden im Irak mehr als 1.000 Christen getötet, 68 Kirchen wurden angegriffen. Tausende Personen wurden – meist zur Erpressung von Lösegeld – entführt und gefoltert.99 Ein spektakulärer Bombenanschlag im August 2003 auf das Büro der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Bagdad, bei dem 22 Menschen, darunter der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für den Irak, ums Leben kamen, bildete den Auftakt in der Reihe von Anschlägen sunnitischer Extremisten, die das Land mehrfach an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Die beiden Anschläge auf die Goldene Moschee von Samarra, eines der wichtigsten schiitischen Heiligtümer, in den Jahren 2006 und 2007 drohten Racheakte der Schiiten hervorzurufen. Bis heute kommt es regelmäßig zu Anschlägen auf schiitische Märkte und Heiligtümer. 2006 starteten Islamisten Vertreibungsaktionen in Dora, einem der Stadtviertel Bagdads, in dem sich viele kirchliche Institutionen befanden und wo viele Christen lebten. Christen und Schiiten wurden gezielt bedroht, entführt und überfallen. Sie sollten verschwinden, damit Dora rein sunnitisch würde. Von den 3.000 christlichen Familien verließen 2.500 innerhalb weniger Wochen das Stadtviertel; die meisten gingen nach 98 Sleiman 2006:63–76; Girling 2018:120. 99 Sako 2015:69.

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Kurdistan, viele ins Ausland. Die Entführung des Rektors und des Vizerektors des chaldäischen Priesterseminars im Dezember 2006 führten schließlich zur Verlegung des Seminars nach Ainkawa bei Erbil in der Autonomen Region Kurdistan, eine Maßnahme von hoher symbolischer Bedeutung für den Stand des Christentums in Bagdad. Gewöhnliche Kriminelle machten sich das von den Islamisten hergestellte Klima der Angst zunutze und verübten Entführungen zur Erpressung von Lösegeld. In den Jahren 2006 und 2007 erlebten andere gemischte Stadtviertel von Bagdad wie al-Mansur und al-Amin ähnliche Vorfälle. Durch Drohungen, Angriffe und Entführungen wurden Schiiten aus sunnitischen Vierteln vertrieben und umgekehrt. Rund ein Dutzend gemischter Viertel wurde auf diese Weise „gesäubert“. Die UN geht davon aus, dass allein in Bagdad 120.000 Personen zwischen März 2006 und März 2007 aufgrund konfessioneller Gewalt aus ihrem Stadtviertel wegzogen. Im gesamten Land waren es über 700.000. Der chaldäische Kurienbischof Andraos Abouna schätzte 2006, dass 75 Prozent der christlichen Bewohner Bagdads aus der Stadt fortgezogen waren.100 Auch der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul, Georges Casmoussa, wurde am 17. Januar 2005 Opfer einer Entführung. Er wurde von Unbekannten verschleppt und mit dem Tod bedroht, jedoch noch am selben Tag freigelassen.101 Neben Erzbischof Casmoussa wurden zwischen 2006 und 2008 mindestens zwölf weitere Priester entführt, geschlagen, gefoltert und nach einigen Tagen wieder freigelassen. Mindestens einer von ihnen wurde in der Gefangenschaft getötet. Ums Leben kam auch der chaldäische Erzbischof von Mossul, Paul Faraj Raho. Er wurde am 29. Februar 2008 von Unbekannten entführt. Seine zwei Begleiter und der Fahrer wurden sofort getötet. Die Entführer wollten mehrere Millionen Dollar Lösegeld und Waffen erpressen. Einige Tage später wurde der Erzbischof tot aufgefunden.102 Die kaltblütige Ermordung von Kirchenvertretern war in diesen Jahren fast an der Tagesordnung. So wurde am 9. Oktober 2006 in Mossul der syrisch-orthodoxe Priester Paulos Iskandar ermordet; am 26. Oktober 2006 der protestantische Pastor Mundhir Saqa, am 3. Juni 2007 der chaldäische Priester Raghid Ganni zusammen mit drei Diakonen. Am 2. April 2008 wurde in Bagdad der syrisch-orthodoxe Priester Yusuf Abbudi vor seinem Haus erschossen.103 Im Herbst 2008 wurden in Mossul 15 Christen innerhalb von wenigen Tagen von Islamisten ermordet. 2.351 Familien (rund 12.000 Personen) verließen daraufhin Mossul und suchten Schutz in den mehrheitlich christlichen Dörfern der nahegelegenen Niniveh-Ebene und in Alqosh. Ende 2009/Anfang 2010 kam es zu einer weiteren Welle der Gewalt gegen Christen in Mossul, bei der 14 Christen getötet und rund 50 verletzt wurden. Am 2. Mai 2010 wurde ein Buskonvoi mit christlichen Studenten aus 100 Suermann 2006:188–191; Winkler 2009:332; Dawisha 2013:263–264; Alichoran 2014:197; Rassam 2016:204–205; 221; Girling 2018:121–124. 101 Suermann 2006:193; Casmoussa 2012:129–136; Casmoussa 2014:202–207. 102 Alichoran 2014:196–197; Sako 2015:72–73; Rassam 2016:208. Liste von entführten und getöteten Priestern sowie Angriffen auf Kirchen bei Rassam 2016:239–240. 103 Alichoran 2014:196–197; Sako 2015:73–74; Rassam 2016:206–207; Girling 2018:123–124. Zu Raghid Ganni siehe ausführlich Girling 2018:200–201.

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der Niniveh-­Ebene, die an der Universität Mossul studierten, angegriffen. Mehrere Personen wurden getötet, fast 200 verletzt. 2011 wurden in Kirkuk mehrere christliche Ärzte entführt, weil die Entführer annahmen, dass man von ihnen besonders hohe Lösegelder erpressen könne.104 Im März 2012 wurde in Mossul ein christlicher Fotograf entführt und ermordet, im Januar 2013 eine christliche Lehrerin mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Laut Statistiken der irakischen Menschenrechtsorganisation Hammurabi wurden zwischen 2003 und 2009 732 Christen getötet und 182 entführt.105 Neben der Ermordung und Entführung von Christen fanden aber auch Anschläge auf kirchliche Gebäude und Gottesdienste statt. Bereits am 1. August 2004 wurden zeitgleich sechs Kirchen angegriffen, fünf in Bagdad und eine in Mossul. Zwölf Christen kamen dabei ums Leben, weitere 60 wurden verletzt. Am 9. und 10. September folgten Angriffe auf eine chaldäische Kirche in Bagdad und die Gotteshäuser der Sieben-Tags-Adventisten und der National Evangelical Church in Bagdad. Am 16. Oktober verübten Terroristen eine weitere Anschlagsserie auf sechs Kirchen unterschiedlicher Konfession in Bagdad. Am 8. November gab es Anschläge auf zwei Kirchen in Bagdad, am 7. Dezember auf zwei Kirchen und den chaldäischen Bischofssitz in Mossul. Die Liste ist zu lang, um hier vollständig wiedergegeben zu werden. Erwähnung sollen aber noch die koordinierten Attacken auf acht Kirchen und kirchliche Gebäude am 29. Januar 2006 in Bagdad und Kirkuk sowie auf sieben Kirchen am 6. Januar 2007 in Bagdad und Mossul finden. Zwischen 2004 und 2009 gab es insgesamt 70 Angriffe auf Kirchen, Gotteshäuser und kirchliche Gebäude, überwiegend in Bagdad und Mossul, in geringerem Maße auch in Kirkuk.106 Einen traurigen Höhepunkt in der Geschichte von Terrorakten auf christliche Einrichtungen bildete der Angriff auf die syrisch-katholische Kathedrale Sayyidat al-Naǧāt in Bagdad am 31. Oktober 2010. Mehrere Terroristen drangen während des Gottesdienstes in die Kirche ein, erschossen die beiden zelebrierenden Priester am Altar und zündeten Sprengsätze, als Polizeikräfte versuchten, die Kirche zu stürmen. 58 Gemeindemitglieder kamen dabei ums Leben.107 Kurz darauf wurde ein syrisch-­ orthodoxer Priester getötet und ein Dutzend chaldäischer Priester entführt und zum Teil gefoltert. Die Kirche zahlte hohe Lösegelder für ihre Befreiung.108 Aber auch damit endeten die Anschläge nicht. Am 20. März 2012 wurde eine syrisch-orthodoxe Kirche in Bagdad angegriffen, zwei Menschen getötet und mehrere verletzt. Der Angriff ereignete sich im Rahmen einer Anschlagsserie auf staatliche und schiitische Einrichtungen des Landes. Am 16. September 2012 wurde ein Bombenanschlag auf die chaldäische Kathedrale von Kirkuk verübt und erheblicher Sachschaden angerichtet. Am 24. Juni 104 Alichoran 2014:198; Sako 2015:75; Rassam 2016:263–264. 105 Casmoussa 2012:138. Ingesamt waren in den Jahren 2004 bis 2009 109.032 Todesopfer zu beklagen, davon 66.081 Zivilisten, 23.984 Terroristen, 15.196 irakische Soldaten und 3.771 Soldaten der alliierten Truppen. Filoni 2015:226. 106 Eine Liste der angegriffenen Kirchen bei Rassam 2016:241–245. 107 Alichoran 2014:198; Sako 2015:75–77; Rassam 2016:264–266. 108 Sako 2015:77–78.

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2013 fand ein bewaffneter Angriff auf eine assyrische Kirche in Bagdad statt, auch diesmal im Rahmen einer Serie von Anschlägen auf Ziele in Bagdad, Tikrit und Mossul. Angesichts dieser Ereignisse beobachteten Kirchenvertreter den Abzug der US-­ amerikanischen Truppen aus dem Irak Ende 2011 mit gemischten Gefühlen. Einerseits wurden die US-Soldaten als Besatzungsmacht empfunden, andererseits gab es Stimmen, die sich mit Blick auf die Möglichkeiten der irakischen Sicherheitskräfte besorgt äußerten. So warnte der chaldäische Weihbischof von Bagdad, Shleiman Warduni, dass die irakische Armee noch nicht in der Lage sei, die Ordnung im Land aufrecht zu erhalten. „[Die Armee] ist zerrissen durch ethnische Spaltungen, die sich über die Jahre verschärft haben. Dies hat eine tiefe Spaltung zwischen Sunniten, Schiiten, Arabern, Kurden, Turkmenen und sogar unter den Christen selbst gebracht.“109 Angesichts der zahllosen Anschläge verließen Zehntausende Christen den Irak und suchten Schutz in den umliegenden Ländern. 2008 soll ihre Zahl bei ca. 93.000 gelegen haben (Syrien: 70.000, Jordanien: 15.000, Libanon: 5.000, Türkei: 3.000).110 Viele betrachteten diese Länder aber nur als Durchgangsstationen. Aber auch innerhalb des Irak gab es Wanderungsbewegungen. Aufgrund der unhaltbaren Zustände in Bagdad und Mossul suchten Zehntausende Christen Schutz in der vergleichsweise sicheren Autonomen Region Kurdistan. Auch aus dem schiitischen Süden, in dem seit den Aufständen von 1991 ein immer fundamentalistischeres Klima herrschte, kamen viele Christen nach Kurdistan. Dort behielten die Sicherheitskräfte die Lage, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Griff. Anschläge auf Christen und Kirchen gab es so gut wie nicht.111 Viele Familien aus Bagdad kehrten in die Dörfer im Nordirak zurück, die ihre Eltern und Großeltern seit den 1950er Jahren verlassen hatten. Die christliche Bevölkerung dort nahm enorm zu. Für die Kirchen bedeutete dies die Einrichtung neuer Pfarreien und eine beschleunigte Vermischung der Konfessionen und Riten. Waren die Dörfer und Kleinstädte bis in die 1980er Jahre konfessionell weitgehend homogen, wurde die dann einsetzende Durchmischung durch die zahlreichen Auswanderer aus Bagdad, Mossul und dem Süden seit 2003 enorm beschleunigt. So bildete sich in der überwiegend syrisch-katholischen Stadt Qaraqosh in der Niniveh-Ebene eine bedeutende chaldäische Gemeinde. Dies führte auch zu einem neuen Gefühl einer gemeinsamen christlichen Identität. In anderen Orten gewannen dagegen nicht-christliche Gruppen an Gewicht; so in Tel Keif bei Mossul, in dem Christen durch die Aktivitäten einer wahabitischen Moschee immer weiter an den Rand gedrängt wurden und in großer Zahl auswanderten,112 oder in Bartella, wo die 109 „This is compounded by ethnic divisions exacerbated over the years that have brought deep divisions between Sunnis, Shiʼites, Arabs, Kurds, Turkomans and even among the Christians themselves.“ Interview zitiert bei Rassam 2016:211. 110 Audo 2008:209. 111 Aufsehen erregte allerdings die Plünderung von Alkoholgeschäften, Bars und Hotels von Christen in Zakho am 2. Dezember 2011 durch einen aufgewiegelten Mob. Übergriffe in anderen Dörfern folgten. Allerdings gingen die kurdischen Sicherheitskräfte entschlossen gegen die Angreifer vor. Rassam 2016:266–267. 112 Vgl. Girling 2018:125–126. Zur Entwicklung der chaldäischen Christen in den Diözesen des Irak siehe detailliert Girling 2018:141–206.

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Schabak, eine schiitische Sondergemeinschaft, immer mehr an Raum gewannen. Problematisch blieb aber die wirtschaftliche Situation vieler Christen im Norden. Die meisten hatten in den Städten als Angestellte, Beamte oder in den freien Berufen gearbeitet. In den Bergsiedlungen des Nordens und den Bauerndörfern der Niniveh-Ebene gab und gibt es für sie kein Auskommen. Wer kann, bemüht sich um ein Visum für das Ausland.

Kurdistan: Der sichere Hafen? Die Kurden bemühten sich in dieser Zeit ernsthaft um die Integration der Christen und suchten ihre Sympathien und ihre Unterstützung zu gewinnen. Bei den Wahlen zum kurdischen Regionalparlament im Januar 2005 traten die KDP und PUK wie bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen auf nationaler Ebene als Parteienbündnis unter dem Namen Democratic Patriotic Alliance of Kurdistan an. Diesem Bündnis schlossen sich vier christliche Parteien an: ADM, Chaldean Cultural Society, Bet-Nahrayn Democratic Party und Chaldean Democratic Union. Die Allianz gewann 104 der 111 Parlamentssitze. Davon gingen fünf an Christen (zwei an ADM und je einer an die drei anderen Parteien). Im Kabinett saßen drei christliche Minister, darunter Sarkis Aghajan Mamendo als Finanzminister und Vize-Ministerpräsident. Sarkis Aghajan spielte in den folgenden Jahren eine entscheidende Rolle für die Unterstützung christlicher Projekte in Kurdistan. In einem breit angelegten Programm wurde der Wiederaufbau von etwa 120 christlichen Dörfern in der Region Dohuk sowie einiger weiterer rund um Zakho und Erbil gefördert. Außerdem wurden mit Geldern der kurdischen Regionalregierung zahlreiche Kirchen, kirchliche Einrichtungen, Bischofshäuser für alle Konfessionen, Seminare und eine Residenz für den chaldäischen Patriarchen in Ainkawa gebaut. Ziel war es offensichtlich, zu zeigen, dass die Zukunft der Christen nicht im gewaltgeschüttelten Zentralirak, sondern in der Autonomen Region Kurdistan liege. Sarkis Aghajan bemühte sich darüber hinaus um die Gründung einer Dachorganisation für die christlichen Parteien. Im März 2007 wurde in Ainkawa bei Erbil der Popular Chaldean Syriac Assyrian Council (PCSAC, al-Maǧlis al-šaʿbī al-kaldānī al-suryānī al-ašūrī) ins Leben gerufen. Er sollte die Anliegen der chaldäischen, syrischen und assyrischen Bevölkerung vertreten. Allerdings gelang es nicht, den ADM zur Mitarbeit zu bewegen und der Council entwickelte sich schnell selbst zu einer politischen Partei. Sie errang bei den kurdischen Regionalwahlen am 25. Juli 2009 drei Sitze. Die ADM-geführte National Rafidayn List erreichte zwei Sitze. Ein weiterer Sitz war der armenischen Minderheit vorbehalten. Der neuen Regierung gehörte allerdings nur noch ein christlicher Minister an. Sarkis Aghajan war nicht mehr im Kabinett. Sein Ausscheiden traf die christlichen Kirchen hart, hatten sie doch lange von seiner großzügigen finanziellen Unterstützung profitiert. Diese wurde seit 2010 nicht fortgesetzt.113 113 Teule 2012:186–192; Rassam 2016:198, 216; 250–251 n. 9. Bei den Regionalwahlen in Kurdistan am 21. September 2013 kandidierten Christen wie üblich auf unterschiedlichen Wahllisten. Die meisten christlichen Parteien traten unter dem Dach des PCSAC an. Hinzu kam die Rafidayn List unter Führung des ADM von Yonadam Kanna. Weitere christliche Kandidaten – vorwiegend Armenier – ließen

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Am 24. Juni 2009 wurde vom Kurdischen Regionalparlament eine Verfassung für die Autonome Region Kurdistan verabschiedet. Sie trat damit jedoch noch nicht in Kraft, sondern sollte in einer Volksabstimmung bestätigt werden. Dies ist bis heute nicht geschehen. Die Verfassung erwähnt neben Kurden, Turkmenen und Arabern auch „Chaldo-Assyro-Syrer“ sowie Armenier als Teil des „Volkes Kurdistans“ (Artikel 5). Artikel 6 drückt die Achtung vor der islamischen Identität der Mehrheit des Volks im irakischen Kurdistan aus und garantiert gleichzeitig die religiösen Rechte der Christen, Jesiden „und anderer“ sowie Glaubens- und Kultfreiheit. Anschließend greift der Artikel das Verbot der irakischen Verfassung auf, Gesetze zu erlassen, die dem Islam, den Prinzipien der Demokratie oder den Grundfreiheiten widersprechen. Artikel 20 gewährt Rechtsgleichheit und verbietet Diskriminierung, unter anderem aufgrund von Religion und Sprache. Artikel 30 erlaubt nicht-muslimischen Gemeinschaften, Gremien zur Regelung ihrer Personenstandsangelegenheiten nach eigenen religiösen Vorschriften einzurichten.114

Aufstieg und Fall des Islamischen Staats In der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 2014 nahmen Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats in Irak und Syrien (ISIS) überraschend die Stadt Mossul ein. Die irakische Armee zog sich quasi ohne Widerstand zurück; auch der Gouverneur floh aus der Stadt. Die meisten Christen flüchteten in den folgenden Tagen aus Mossul und suchten Schutz in den christlichen Dörfern der umliegenden Niniveh-Ebene. Noch im Juni rief der Führer von ISIS, Abu Bakr al-Baghdadi, ein islamisches Kalifat aus und nahm den Kalifentitel an. Um ihren universalen Anspruch zu untermauern, benannte sich die Terrorgruppe in diesem Zusammenhang in „Islamischer Staat“ (IS) um.115 In den vom IS kontrollierten Gebieten wurde eine strenge Form des islamischen Rechts eingeführt. Das gesamte Leben wurde der Scharia unterworfen. In Mossul verwehrte der IS christlichen Verwaltungsangestellten, weiterhin zur Arbeit zu kommen, da sie als Angehörige einer Minderheit kein Recht dazu hätten. Christen wurde eine Sondersteuer (ǧizya) auferlegt. Frauen wurden gezwungen den islamischen Schleier zu tragen, Schönheitssalons und Barbierläden geschlossen. Die Kirchen der Stadt wurden besetzt, die Kreuze von den Dächern entfernt. Der chaldäische und der syrisch-orthodoxe Bischofssitz wurden trotz der Einwände eines lokalen Imams vom IS besetzt und geplündert. Auf dem Dach wurde die schwarze Fahne des IS gehisst. Einige Wochen später wurde auch der syrisch-katholische Bischofssitz geplündert und niedergebrannt. sich individuell unterschiedlich auf verschiedenen Listen aufstellen. Das Wahlgesetz behielt Christen sechs Sitze vor (von insgesamt 111 Sitzen: fünf für chaldäische, assyrische, syrisch-orthodoxe und syrisch-katholische Kandidaten und einen Sitz für armenische Christen). Als Ergebnis der Wahlen wurden allerdings nur die sechs für Christen reservierte Plätze auch von solchen besetzt. Aus den normalen Wahllisten schafften es keine Christen ins Regionalparlament. Teule 2015:588–589. 114 Suermann 2014:11–13. 115 Rassam 2016:267–269.

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Am 28. Juni wurden zwei Ordensschwestern von der Kongregation der Chaldäischen Schwestern zusammen mit mehreren Waisenkindern auf der Fahrt von Mossul nach Dohuk von Unbekannten entführt. Sie kamen jedoch am 15. Juli unversehrt wieder frei. Die IS-Behörden in Mossul ordneten an, an Christen und Schiiten keine Nahrungsmittelrationen mehr auszugeben. Häuser von Christen wurden mit dem Buchstaben N (für naṣāra, Nazarener), solche von Schiiten mit R (für rāfiḍa, Abtrünnige) gekennzeichnet. Christen wurden vom IS ultimativ aufgefordert, zum Islam überzutreten, die ǧizya zu bezahlen oder unter Zurücklassung ihres Besitzes das Gebiet des „Islamischen Staats“ zu verlassen, ansonsten drohe ihnen der „Tod durch das Schwert“. Das Ultimatum dafür lief in der Nacht vom 26. auf den 27. Juli, ab. Die letzten 3.000 Christen verließen daraufhin Mossul Richtung Tel Keif, Batnaya und Alqosh. An den Checkpoints wurde ihnen ihr gesamter Besitz abgenommen: Autos, Geld, Schmuck … außerdem Papiere und Dokumente. Sie durften nur die Kleider, die sie am Leib trugen, behalten. Bereits einige Tage zuvor, am 20. Juli, hatten Kämpfer des IS das syrisch-orthodoxe Kloster Mar Behnam bei Mossul besetzt und die Mönche sowie einige dort lebende Familien gezwungen, das Kloster zu verlassen. Angesichts dieser Ereignisse bemühte sich der chaldäische Patriarch Louis Raphaël I. Sako, die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen im Irak nicht ganz abreißen zu lassen. In einem Statement vom 21. Juli 2014 erinnerte er die irakischen Muslime an die Lehren ihrer Religion bezüglich des friedlichen Zusammenlebens. Darin hieß es unter anderem: „Es ist beschämend, dass Christen ausgestoßen und vertrieben werden und ihre Zahl reduziert wird. Es ist offensichtlich, dass dies kurz- und langfristig katastrophale Folgen für das Zusammenleben zwischen der Mehrheit und den Minderheiten, sogar unter den Muslimen selbst, haben wird. Auf diese Weise steuert der Irak auf eine humanitäre, kulturelle und historische Katastrophe zu.“116 An einen Dialog mit dem IS glaubte der Patriarch allerdings nicht. Die Islamisten wiederholten immer wieder „zwischen uns gibt es nur das Schwert“, so der Patriarch.117 Am 26. Juli beklagte Sako, dass der IS auch Moscheen zerstöre: „Diese Gruppen sind sehr stark und eine große Bedrohung nicht nur für Christen, sondern auch für Muslime, für die ganze Welt. Ihre Ideologie ist sehr gefährlich. Sie haben auch die Moschee des Propheten Jona zerstört, die auch ein wichtiges Zeichen für Christen war. Die Tradition besagt, dass sie auf den Ruinen einer chaldäischen Kirche gebaut wurde. Sie wurde total zerstört. Aber auch andere Moscheen.“118 Die Bischöfe des Nordirak baten die Weltgemeinschaft und die Regierung in Bagdad am 22. Juli 2014 in einem eindringlichen Appell um Schutz für die Christen und andere Minderheiten im Land. Der Irak und die Staatengemeinschaft müssten mehr 116 http://www.asianews.it/news-en/Patriarch-of-Baghdad:-Christians-are-part-of-Iraq,-this-stormwill-pass-31676.html (21.07.2014; abgerufen am 22.07.2014). 117 http://www.asianews.it/news-en/Baghdad-patriarch:-as-the-time-for-dialogue-is-no-more,-­ Christians-flee-Mosul-31662.html (18.07.2013; abgerufen am 23.07.2014). 118 http://de.radiovaticana.va/news/2014/07/26/irak_vatikan:_%E2%80%9Eis_ist_eine_gefahr_ f%C3%BCr_die_ganze_welt/ted-815753 (26.07.2014; abgerufen am 30.07.2014).

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Druck auf die militanten Islamisten ausüben, um der Zerstörung von Kirchen, Klöstern, Handschriften, Reliquien und christlichem Kulturerbe Einhalt zu gebieten, hieß es in dem Aufruf der Kirchenführer der chaldäischen, syrisch-katholischen, syrisch-orthodoxen und armenisch-orthodoxen Kirche. Der chaldäische Patriarch Louis Raphaël I. Sako wandte sich anschließend in einem Schreiben an den UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon mit der Bitte, alles dafür zu tun, die humanitäre Katastrophe, die ethnischen Säuberungen und die vom UN-Sicherheitsrat in seiner Deklaration befürchteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beenden.119 Anfang August wurde die Weltgemeinschaft aufgeschreckt, als die Kämpfer des IS die Stadt Sinjar 125 Kilometer westlich von Mossul einnahmen, in der viele Jesiden und Christen lebten (vor allem Syrisch-Orthodoxe, aber auch einige Katholiken und Armenier). Dabei wurden laut Berichten mindestens 70 Jesiden getötet, Christen sei eine Sondersteuer von 80 Dollar pro Person auferlegt worden. Die meisten Bewohner flohen jedoch in die umliegenden Berge oder nach Dairabun und Feshkhabur. Mit ihnen flohen auch etwa 20.000 turkmenische Schiiten, die nach der Eroberung von Tel Afar nach Sinjar geflüchtet waren. Tausende Jesiden, darunter Frauen und Kinder, die in der Sommerhitze im unwirtlichen Gebirge Schutz suchten, waren vom Tod durch Verdursten oder Verhungern bedroht. Eine dramatische Rettungsaktion der internationalen Gemeinschaft setzte ein. Jedoch konnte auch sie nicht verhindern, dass jesidische Männer, deren der IS habhaft wurde, gnadenlos als „Ungläubige“ hingerichtet und Frauen und Mädchen auf dem Sklavenmarkt in Mossul verkauft wurden. Unterdessen sollte es für die Bewohner der Niniveh-Ebene noch schlimmer kommen. Die Niniveh-Ebene gehört zu den traditionellen Siedlungsgebieten der Christen im Irak. Dort befinden sich mehrere christliche Dörfer, die meist von einer Konfession geprägt sind. In manchen Dörfern lebten auch Christen mit Jesiden zusammen. Seit den 1970er Jahren waren von der Regierung allerdings auch immer mehr sunnitische Araber in vielen der Dörfer angesiedelt worden. Der größte Ort in der Niniveh-Ebene war mit rund 80.000 Einwohnern Qaraqosh, wo mehrheitlich syrisch-katholische Christen lebten und der syrisch-katholische Bischof von Mossul residierte. Bereits kurz nach der Einnahme Mossuls war Qaraqosh von Kämpfern des IS mit Granaten beschossen worden. Viele Einwohner flohen vor der Gefahr, kehrten jedoch wenige Tage später wieder zurück. Es schien, als stehe die Stadt wieder unter dem Schutz der kurdischen Peshmerga. Auch Angriffe auf den wenige Kilometer vor den Toren Mossuls gelegenen christlichen Ort Tel Keif wurden von den Peshmerga zurückgeschlagen. Dennoch flohen immer mehr christliche Familien von dort sowie aus den Nachbardörfern Batnaya und Tel Usquf aus Angst vor weiteren Angriffen. In der Nacht vom 6. auf den 7. August nahmen Truppen des IS schließlich die christlichen Orte Qaraqosh, Bartella, Karamles, Tel Keif, Batnaya und Tel Usquf ein, nach119 http://www.asianews.it/news-en/Baghdad-Patriarch-to-Ban-Ki-moon:-UN-cannot-stand-by-in-silence-as-Christians-are-being-massacred-31705.html (24.07.2014; abgerufen am 24.07.2014). Suermann 2015:606.

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dem sich die kurdischen Peschmerga überraschend von dort zurückgezogen hatten. Damit befanden sich die wichtigsten christlichen Orte im Nordirak in den Händen des IS. Mehr als 130.000 Christen flohen in Panik nach Erbil und Dohuk, mit ihnen mehrere zehntausend Jesiden. Manche gelangten von dort weiter nach Sulaimaniya, Kirkuk und einige hundert nach Bagdad.120 Die Bevölkerung der Niniveh-Ebene hatte sich mitten in der Nacht aufgemacht, um vor dem IS zu fliehen. Mitnehmen konnten die Menschen nur das Nötigste. An den Check-Points zum kurdisch kontrollierten Teil bildeten sich riesige Schlangen. Viele mussten dort ihre Fahrzeuge zurücklassen, um rechtzeitig hinter die Stellungen der Peshmerga zu gelangen. Die meisten Flüchtlinge, etwa 60.000, kamen in Ainkawa, dem christlichen Vorort von Erbil, an. In unmittelbarer Nähe zur kurdischen Hauptstadt, die auch für die Amerikaner von strategischer Bedeutung war, fühlten sie sich sicher. Sie fanden zunächst Aufnahme rund um kirchliche Einrichtungen, meist unter freiem Himmel. Nach und nach wurden leerstehende Gebäude besetzt, so ein Einkaufszentrum am Rande Ainkawas, das sich im Rohbau befand, sowie ein Krankenhaus, das ebenfalls noch nicht fertiggestellt war. Schnell wurden Zelte aufgebaut, meist ebenfalls auf kirchlichem Gelände. Am Stadtrand von Ainkawa entstanden mehrere Lager für christliche und jesidische Flüchtlinge. Die Sommerhitze – im Erbil erreichen die Temperaturen in den Sommermonaten regelmäßig 45 ° Celsius – war ein großes Problem, ebenso die Versorgung mit Trinkwasser und Babynahrung sowie die Einrichtung von sanitären Anlagen. Bis zum Winter wurden die meisten Zelte durch Container ersetzt. In der Regel teilten sich zwei Familien (jeweils fünf bis sechs Personen pro Familie) einen Container der Ausmaße drei mal sechs Meter. Ein für die Menschen auf Dauer sehr belastender Zustand. Ein Teil der Familien fand im zweiten Jahr der Vertreibung eine provisorische Bleibe in angemieteten Häusern und Wohnungen rund um Erbil, aber auch hier waren mehrere Familien gezwungen, sich den knappen Platz zu teilen. Für die Kinder wurden Schulen und Kindergärten aufgebaut, für die Versorgung von Verletzten und Kranken Gesundheitszentren und Kliniken eingerichtet. Organisiert wurde die Hilfe zunächst von den örtlichen Bischöfen, vor allem der chaldäische Erzbischof von Erbil, Bashar Matti Warda, tat sich durch die tatkräftige und großflächige Versorgung der Flüchtlinge hervor. Hinzu kamen Hilfsorganisation wie Caritas Irak und der Jesuit Refugee Service. Priester und Ordensschwestern, zum großen Teil selbst vertrieben und in provisorischen Unterkünften untergebracht, kümmerten sich mit großem Einsatz um die Flüchtlinge. Die irakischen Dominikanerinnen führten in Kooperation mit lokalen Partnern auch eigene Hilfsprogramme durch. Von staatlicher irakischer und kurdischer Seite wurde für die christlichen Flüchtlinge wenig geleistet. Kirchliche Hilfsleistungen wurden von den kurdischen Behörden dankbar aufgenommen und auch nicht behindert. Finanziell sah sich die kurdische Regionalregierung allerdings wegen der seit 2014 andauern-

120 Siehe zum Fall von Mossul auch Rassam 2016 pp. 269–276 und zu internationalen Reaktionen auf die Ereignisse Rassam 2016:280–309.

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den Wirtschaftskrise und der enormen Belastungen durch den militärischen Kampf gegen den IS nicht in der Lage, christliche Flüchtlinge zu versorgen. Im Norden Kurdistans, in den Bergen rund um Dohuk und in der Tigris-Ebene bei Zakho, sah die Lage etwas anders aus als in Erbil. In Ainkawa waren die meisten Flüchtlinge in unmittelbarer Nähe um die Stadt konzentriert. Das machte ihre Versorgung vergleichsweise einfach, auch wenn enorme finanzielle und logistische Anstrengungen unternommen werden mussten. Im Norden dagegen verteilten sich die Flüchtlinge auf eine Vielzahl von Dörfern sowie auf unterschiedliche Stadtviertel des Verwaltungs- und Wirtschaftszentrums Dohuk. Das war für die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge eine besondere Herausforderung. Die chaldäischen Diözesen Alqosh und Amadiya-Dohuk sowie die Pfarreien der unterschiedlichen Kirchen stellten Raum zur Verfügung, wo sie konnten, und kümmerten sich um die Versorgung mit Trinkwasser sowie – im scharfen Klima der Berge besonders wichtig – Heizung im Winter. Verschiedene Organisation – allen voran Caritas Irak und die vom assyrischen Priester Emanuel Youkhana geleitete, ökumenisch arbeitende Hilfsorganisation CAPNI (Christian Aid Program Northern Iraq) – bemühten sich in Kooperation mit den örtlichen Pfarreien und Ordensgemeinschaften um die Versorgung der christlichen und jesidischen Flüchtlinge, richteten mobile Kliniken ein, um die verstreuten Gruppen erreichen zu können, organisierten Aktivitäten für Vorschulkinder in sogenannten Child friendly spaces und sorgten für die Integration der Kinder in die örtlichen Schulen. In Sulaimaniya und Kirkuk fanden ebenfalls einige Tausend christliche Flüchtlinge Aufnahme und wurden in kirchlichen Einrichtungen untergebracht. Die chaldäische Erzdiözese Kirkuk zeichnete sich dadurch aus, dass sie christliche Studenten dabei unterstützte, ihr Studium fortzusetzen. Der Studienbetrieb an der Universität Kirkuk läuft auf Arabisch, ebenso wie in Mossul und der Filiale der dortigen Universität bei Qaraqosh, wo viele Christen studierten. In Erbil und Dohuk ist die Unterrichtssprache dagegen Kurdisch, was den meisten Christen die Fortsetzung ihres Studiums unmöglich machte. Mit finanzieller Unterstützung für den Transport sowie die Unterbringung von Studentinnen in Kirkuk ermöglichte Erzbischof Yousif Thomas Mirkis mehreren hundert Studenten die Fortsetzung beziehungsweise den Abschluss ihres Studiums. Mit Blick auf die Vertreibung und Verfolgung sprachen die Patriarchen der christlichen Kirchen in verschiedenen Stellungnahmen von einer „humanitären Katastrophe“ und dem „echten Risiko eines Völkermords“ (Louis Raphaël I. Sako, chaldäisch)121, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Mor Aphrem II. Karim, syrisch-orthodox)122, „Völkermord religiöser Natur“ (Mar Denkha IV., assyrisch)123, und dem „Blutbad des 121 http://saint-adday.com/permalink/6399.html (07.08.2014; abgerufen am 07.08.2014); Sako 2015:23– 27. 122 http://www.asianews.it/news-en/For-Syriac-Orthodox-patriarch,-Mosul-must-be-retaken-31707. html (24.07.2014; abgerufen am 25.07.2014). 123 Mar Denkha IV. in einem offenen Brief an den UNO-Generalsekretär Ban-ki Moon http://www. aina.org/news/20140807043330.htm (07.08.2014; abgerufen am 12.08.2014).

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Jahrhunderts“ (Ignatius Joseph III. Younan, syrisch-katholisch).124 Angesichts der Ver­ treibung der Christen und der Massaker an den Jesiden forderten nun auch Kirchenvertreter ein internationales militärisches Eingreifen. Für die Regionen des selbst ernannten islamischen „Kalifats“ forderte Patriarch Sako Anfang September 2014 von der UNO die Entsendung von Blauhelmsoldaten. Sie sollten in Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften und kurdischen Peschmerga die Niniveh-Ebene zurückerobern und die Sicherheit der Rückkehrer garantieren. Außerdem sollten zum Schutz der Dörfer in die lokalen Polizeieinheiten auch Vertreter der verschiedenen in der Niniveh-Ebene lebenden Minderheiten aufgenommen werden. Doch „nur staatliche Kräfte sollten für diesen Schutz zuständig sein“, während das Entstehen unterschiedlicher Milizen auf ethnischer und religiöser Basis „den Irak möglicherweise vernichten wird“, warnte Patriarch Sako. Von den USA forderte Sako den Einsatz von Bodentruppen, um die vom IS-besetzten Gebiete zurückzuerobern und zu sichern.125 Der IS setzte unterdessen sein Zerstörungswerk fort. Am 24. November 2014 ließ er das Kloster der Sacred Heart Sisters im Norden von Mossul sprengen. Das benachbarte Georgskloster wurde dabei verschont, weil es wie manch andere Kirche vom IS als Gefängnis genutzt wurde. Im März 2015 wurden Teile des historischen Klosters Mar Behnam gesprengt, von den Islamisten medienwirksam inszeniert und per Internet­video weltweit verbreitet. Zum Jahrestag der Einnahme Mossuls am 10. Juni 2015 wurde die syrisch-orthodoxe Mor Ephrem-Kirche offiziell in eine Moschee umgewandelt. Bereits in den Monaten zuvor hatte der IS die umliegenden kirchlichen Gebäude als Sitz seiner Regierung genutzt. Kurz darauf wurde auch die chaldäische Mar-Yusuf-Kirche im Innenstadtviertel Maidan in eine Moschee umgewandelt. Am 24. April 2016 ließ der Islamische Staat die vor der Besetzung von den Dominikanern betreute Marienkirche mit ihrem weithin sichtbaren Uhrenturm sprengen. Nach einem Bericht des kurdischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten wurden zwischen Juni 2014 und Ende 2016 mindestens 100 Kultstätten (christliche Kirchen und jesidische Tempel oder Kultstätten anderer religiöser Minderheiten) im Stadtgebiet von Mossul und in der Provinz Niniveh geschändet oder zerstört. Bereits im Sommer 2015 hatte der chaldäische Erzbischof von Erbil, Bashar Matti Warda, die Vertreibung der Christen aus Mossul und der Niniveh-Ebene einen „kulturellen Genozid“ genannt. „Da ist ein Genozid im Gange – es geht nicht allein um die Tötung von Menschenleben, sondern es geht um weit mehr“: Das Ziel der Islamisten sei es, die Geschichte und die Traditionen der Christen im Irak zu zerstören. „Die Erinnerung und Bewahrung unserer Tradition hängt von den tausenden Gläubigen ab, die jetzt auf der Flucht sind. Doch gleichzeitig hat sich in ihren Köpfen ein neues Bild eingeprägt – jenes der Vertreibung. Wir hoffen sehr, dass diese Erfahrung nicht die Erinnerung an die alten Traditionen verdrängt.“126 124 Radio Vatikan Newsletter, 17.08.2014. 125 http://www.asianews.it/view4print.php?l=en & art=32065 (04.09.2014; abgerufen am 01.10.2014). 126 http://de.radiovaticana.va/news/2015/06/12/irak_kultur-genozid_im_gang/1150959 (12.06.2015; abgerufen am 17.07.2015). Zitiert bei Vogt 2017:154–155.

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Am 16. Oktober 2016 begann nach mehrfacher Verschiebung die Kampagne zur Rückeroberung von Mossul. Die Regierung in Bagdad stützte sich dabei auf sogenannte Volksbefreiungsmilizen (ḥašd al-šaʿb), die von Schiiten, meist aus dem Südirak, gebildet wurden. Sie unterstützten die Regierungstruppen bei den Militäroperationen. An der Kampagne beteiligten sich auch verschiedene christliche Milizen, die sich allerdings überwiegend ethno-religiös definierten. Patriarch Sako hatte sich bereits vorher mehrfach von diesen Milizen distanziert und ihre Eingliederung in die regulären irakischen beziehungsweise kurdischen Einheiten gefordert.127 Die Orte Bartella, Qaraqosh und Karamles wurden als erstes zurückerobert: Bartella am 20. Oktober, Qara­qosh am 22. Oktober und Karamles am 24. Oktober 2016. Kirchenvertreter, die sich in Qaraqosh und Bartella ein Bild von der Lage gemacht hatten, berichteten, dass zwischen 75 und 85 Prozent der Gebäude durch Kampfeinwirkung und Luftschläge soweit zerstört seien, dass sie wahrscheinlich abgerissen und neu errichtet werden müssten. Auch viele äußerlich weitgehend unversehrte Gebäude seien ausgebrannt und es sei fraglich, ob die Bausubstanz erhalten werden könne. Der Wiederaufbau würde wenigstens drei oder vier Jahre dauern und erhebliche finanzielle Mittel erfordern. Ohne Hilfe würde sich der Wiederaufbau kaum realisieren lassen, da die Christen bei ihrer Flucht ihr Hab und Gut hatten zurücklassen müssen und nur das Nötigste mitnehmen konnten. Ein gesichertes Einkommen hatten in den letzten beiden Jahren nur jene Flüchtlinge, die vor der Flucht in der öffentlichen Verwaltung oder im staatlichen Bildungs- und Gesundheitswesen tätig waren. Ihnen wurde von der Regierung das Gehalt weiterhin ausgezahlt, auch wenn sie ihrer Tätigkeit nicht nachgehen konnten. Diejenigen, die im Privatsektor gearbeitet hatten, hatten dagegen mehr als zwei Jahre lang keinerlei Einkünfte. Die Bauern konnten immerhin darauf bauen, dass sie im Fall einer möglichen Rückkehr wieder ihr Land bewirtschaften können. Allerdings mussten die nutzbaren Flächen zunächst entmint und von Blindgängern gesäubert werden. Angesichts der Militärkampagne der irakischen und kurdischen Truppen veröffentlichten Kirchenführer bei einem gemeinsamen Treffen in Ainkawa auf Einladung von Patriarch Sako am 30. Oktober 2016 eine Erklärung, in der sie auf die von Artikel 2 der irakischen Verfassung garantierte freie Ausübung der Religion verwiesen und diese Garantie in der Praxis einforderten. Christen wollten als gleichwertige Staatsbürger ihre Fähigkeiten und Kompetenzen in den Aufbau der Gesellschaft einbringen. Von der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung verlangten die Kirchenführer Sicherheitsgarantien für Mossul und die Dörfer der Nini­veh-Ebene, Wiedergutmachung für verlorenes Eigentum und den Wiederaufbau der vom IS zerstörten Infrastruktur. Mit Blick auf den Status der Niniveh-Ebene plädierten sie dafür, diese Frage erst nach der vollständigen Rückeroberung und Sicherung sowie der Rückkehr der Bevölkerung im friedlichen Dialog mit allen interessierten Seiten zu klären.128 127 Oehring 2017a:37–38. 128 An dem Treffen nahmen teil: der chaldäische Patriarch Louis Raphaël I. Sako, der assyrische Patriarch Mar Gewargis III. Sliwa, der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul Youhanna Boutros Moshe, der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Mossul Mor Nikodemos Dawood Sharaf, der chaldäische

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Bis Ende 2017 waren laut Bericht der Internationalen Organisation für Migration etwa 30.000 Christen in ihre Dörfer zurückgekehrt, besonders nach Tel Usquf und Qaraqosh. Viele zögerten jedoch. Das Misstrauen saß tief. Nach der Flucht der Christen hatten manche muslimischen Nachbarn nichts Eiligeres zu tun, als sich den zurückgelassenen Besitz der Geflüchteten anzueignen. Auch nach der Rückeroberung hatte es Plünderungen von Häusern durch die Volksbefreiungsmilizen und sogar durch die Peshmerga gegeben. Anschließend waren die Häuser in Brand gesteckt worden, um die Taten zu verwischen oder dem Islamischen Staat in die Schuhe zu schieben. Die Christen waren sich nicht sicher, wie sie mit ihren ehemaligen Nachbarn wieder zusammenleben sollten oder ob sie vor den kurdischen beziehungsweise irakischen Milizen wirklich sicher waren. Bis zum Frühjahr 2018 waren dennoch rund 5.000 Familien nach Qaraqosh zurückgekehrt, mit weiteren 2.000 Familien konnte man rechnen. Damit hätte Qaraqosh noch die Hälfte der christlichen Einwohner, die es vor der Eroberung durch den IS hatte. Nach Bashiqa und Bahzani waren sowohl Christen (die meisten von ihnen syrisch-orthodox) als auch Jesiden zurückgegangen. Das Zusammenleben zwischen den beiden Religionsgruppen funktionierte dort gut. Dies ließ sich jedoch über das Zusammenleben von Christen und Schabak in Bartella nicht sagen; dort gab es spürbare Spannungen. Christen kritisierten, dass die Schabak von der Zentralregierung und den schiitischen Milizen besonders gefördert und ihnen widerrechtlich Eigentum von Christen zugesprochen werde.129 In der nördlichen Niniveh-Ebene befand sich Tel Usquf im Wiederaufbau. Batnaya hatte dagegen sehr schwere Schäden erlitten (80 Prozent der Häuser wurden zerstört), so dass nur wenige Menschen dorthin zurückgehen konnten; der Wiederaufbau war für die erste Phase zu teuer. Zögerlich waren auch die ehemaligen Bewohner von Tel Keif; der Ort liegt zu nah an Mossul und galt weiterhin als nicht sehr sicher. An eine Rückkehr nach Mossul dachte bis zum Sommer 2018 kaum eine christliche Familie, nur einige Einzelpersonen waren nach Mossul zurückgegangen, meist jedoch nur um den Verkauf ihres Besitzes vorzubereiten. Eine irakische Dominikanerin aus Ainkawa, Schwester Nazek Matty, fasste ihre Sicht auf Vertreibung und Rückkehr auf dem Katholikentag in Münster im Mai 2018 so zusammen: „Heute, nach der Rückkehr von einigen tausend Familien in die Ebene von Niniveh, geht es vor allem darum, das Vergangene zu verarbeiten und in die Zukunft zu blicken. Der Krieg hat viele Wunden hinterlassen, Menschen wurden in ihrer Würde verletzt und Beziehungen zu den Nachbarn zerstört. Das Bedürfnis nach Heilung und Versöhnung ist groß. Das jahrelange Exil hat auch unsere Beziehung zu Gott verändert und uns von unseren Traditionen und Überzeugungen entfremdet. Wir sind in unser Land zurückgekehrt – aber wir müssen immer noch zueinander und zu Gott zurückkehren. Die andere Sorge gilt unserer Beziehung zu unseren Nachbarn. Sie haben uns Erzbischof von Erbil Bashar Matti Warda, der chaldäische Weihbischof von Bagdad Basil Yaldo sowie Timothaous Qas Isha von der Alten Kirche des Ostens. http://www.asianews.it/index.php?l=en&idn=1&art=39010&mag=visualizzaperlastampa (31.10.2016; abgerufen am 09.11.2016). 129 Oehring 2017a:72–73; Oehring 2017b:26.

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fliehen sehen, und dann gingen sie in unsere Häuser und raubten uns aus. Sollen wir ihnen vergeben? Wie sollen wir die Beziehung zu ihnen gestalten? Wir brauchen Initiativen – auch von ihrer Seite. Wir sind bereit, wieder mit den Muslimen zusammenzuleben, aber sie müssen uns als Bürger anerkennen, die Respekt verdienen.“130

Niniveh: Vergangenheit und Zukunft der irakischen Christen Das biblische Niniveh, bei dessen Ruinen die arabischen Eroberer die moderne Stadt Mossul errichteten, bildet die mythische Vergangenheit der irakischen Christen. Auf die Hauptstadt des assyrischen Reichs blicken die Christen, die sich seit dem 19. Jahrhundert als Assyrer bezeichnen und sich damit in die Nachfolge des antiken Großreichs stellen, voller Stolz. In Erinnerung an den Propheten Jona fasten die Christen des Landes bis heute drei Tage vor der österlichen Bußzeit und suchen Vergebung für ihre Sünden. Die Dörfer und Städte der Niniveh-Ebene bilden das Herz des irakischen Christentums. Auf politischer Ebene stellte die Rückeroberung der Niniveh-Ebene die Parteien erneut vor die Frage eines Sonderstatus der Region. Assyrische Parteien und einzelne Kirchenführer hatten bereits seit dem Einmarsch der Alliierten 2003 immer wieder für eine Autonomie unter christlicher Führung plädiert. So unterstützte der assyrische Patriarch Mar Denkha IV. die Einrichtung einer christlichen Provinz unter Kontrolle der Autonomen Region Kurdistan (ARK). Von den Parteien tritt ADM seit langem für eine Form der Selbstverwaltung (idāra ḏātiyya) der Niniveh-Ebene ein, die allerdings zum Gebiet der Zentralregierung in Bagdad gehören soll. Der christliche Finanzminister der Autonomen Region Kurdistan, Sarkis Aghajan, kämpfte mit seinem Popular Chaldean, Syrian, Assyrian Council (PCSAC) dagegen für die Errichtung einer autonomen christlichen Provinz (Selbstregierung – ḥukm ḏātī) im Bereich der ARK. Sie sollte eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und eigene Sicherheitskräfte haben.131 Die Führung der chaldäischen Kirche dagegen vertritt eine gegenteilige Position. Der chaldäische Patriarch Emmanuel III. Delly und verschiedene katholische Bischöfe hatten sich schon 2007 gegen eine christliche Provinz als „sicheren Hafen“ für Christen ausgesprochen. Louis Sako, damals Erzbischof von Kirkuk, lehnte das Projekt explizit ab und forderte, der ganze Irak müsse nicht nur für Christen, sondern für all seine Bürger ein „sicherer Hafen“ werden. Am 2. Juli 2007 veröffentlichten die chaldäischen Bischöfe von Zakho, Erbil, Kirkuk und Amadiya eine Erklärung in diesem Sinne. Ähnlich äußerten sich Führer der syrisch-orthodoxen Kirche und der Alten Kirche des Ostens.132 Am 21. Januar 2014 billigte die irakische Regierung einen Plan, der die Schaffung einer zusätzlichen Provinz (muḥāfaẓa) in der Niniveh-Ebene vorsah. Der Zuschnitt der geplanten Provinz war so, dass die Bevölkerung zu mindestens 40 Prozent aus 130 Abgedruckt in Jahresbericht Weltkirche 2017:16–17. 131 Teule 2012:186–192; Teule 2015:590; Rassam 2016:198, 216; 250–251 n. 9. 132 Suermann 2015:603–604; Rassam 2016:217–219.

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Christen bestanden hätte. Sie sollte über einen eigenen Haushalt, eigene Behörden und eigene Sicherheitskräfte verfügen. Allerdings wiesen Beobachter darauf hin, dass der Anteil von 40 Prozent Christen sehr optimistisch geschätzt war. Tatsächlich sollen sie 2014 nur noch einen Bevölkerungsanteil von nur 22 bis 23 Prozent gehabt haben, neben Jesiden, Kurden, Schabak und Turkmenen.133 Da die Niniveh-Ebene jedoch wenige Monate später vom IS erobert wurde, konnte der Plan nicht verwirklicht werden. Von Vertretern der katholischen Kirche wurde er auch weiterhin nicht gutgeheißen. So hielt ihn der chaldäische Erzbischof von Kirkuk, Yousif Thomas Mirkis, für „unrealistisch und wenig intelligent“, da er eine Spaltung des Landes auf konfessioneller Basis begünstige „und damit dem Wohl und der Zukunft der Christen im Irak nur schaden kann“. Die einzige realistische Perspektive zum Erhalt der christlichen Gemeinden im Irak sei die Förderung eines politischen Bewusstseins unter sunnitischen und schiitischen Gruppen. „Andernfalls wird es auf fatale Weise zu einer Spaltung kommen. Jeder wird seinen eigenen Teil des Kuchens für sich in Anspruch nehmen und es werden kleine Staaten entstehen, die sich stets im Streit mit den eigenen Nachbarn befinden. Und dies trägt nicht zu unserem Wohl bei, im Gegenteil, es steht unserer Zukunft im Weg.“134 In offenen Gegensatz zu dieser Position der chaldäischen Kirche stellten sich im Frühjahr 2017 die Bischöfe der syrischen Tradition, darunter auch der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul, Youhanna Boutros Moshe.135 Sie forderten in einer gemeinsamen Erklärung Schutzgarantien für die Niniveh-Ebene unter Beteiligung der Vereinten Nationen. Des Weiteren sollten die christlichen Bewohner der Niniveh-Ebene selbst über die Form ihrer Verwaltung im Sinne einer Autonomie oder einer eigenen Provinz wählen können und die Verantwortung für die Sicherheit in den christlichen Dörfern durch eigene Einheiten übertragen bekommen. Die Rechte der Chaldäer, Assyrer und Syrer sollten im Sinne der „Rechte der indigenen Völker“ vom irakischen Staat anerkannt werden. Der Staat wurde aufgefordert, die Infrastruktur wiederaufzubauen und Entschädigungen für die Schäden an privatem Eigentum zu bezahlen. Schließlich seien jegliche demographischen Veränderungen gegenüber der Lage vor 2003 zu unterlassen. Das chaldäische Patriarchat distanzierte sich erwartungsgemäß von dieser Erklärung und verwies am 13. Mai auf eine Stellungnahme von Patriarch Sako, wonach der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur Priorität haben müsse, erst danach könne man sich mit der Art der Verwaltung beschäftigen. Die Christen dürften sich nicht „gegen andere Gruppen positionieren oder Unmögliches fordern“. 136

133 Teule 2015:590; Oehring 2017a:78. Siehe zum Thema Niniveh-Ebene auch Oehring 2017a:31–33. 134 Fides, 27.11.2014. 135 Des Weiteren der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Mossul, Nikodemos Dawood Sharaf, und der syrisch-orthodoxe Abtbischof des Mar Matta Klosters, Timotheos Moussa Shamani. Bereits im August 2014 hatte der syrisch-orthodoxe Patriarch Mor Ignatius Aphrem II. Karim die Einrichtung einer (autonomen) Region in der Niniveh-Ebene gefordert, in der sich Christen selbst verteidigen könnten. Teule 2015:591. 136 Radio Vatikan Newsletter 15.05.2017.

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Das größte Hindernis bei der Suche nach einem Status für die Niniveh-Ebene sind aber die Konflikte zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Autonomieregierung in Erbil. Seit der Rückeroberung kontrollieren sie jeweils einen Teil der Niniveh-Ebene. Solange keine Einigkeit darüber herrscht, zu welchem Gebiet die Region gehören soll, sind alle Fragen nach Autonomie hinfällig. Nach dem Referendum zur Unabhängigkeit Kurdistans am 25. September 2017 gab es zudem heftige Gefechte zwischen militärischen Einheiten beider Seiten. Nachdem sich die kurdische Bevölkerung mit großer Mehrheit für die vollständige Unabhängigkeit ausgesprochen hatte, rückte die Zentralregierung mit Truppen nach Kirkuk vor und besetzte die seit 2014 kurdisch kontrollierte Hochburg der Ölförderung. Auch in der Niniveh-Ebene kam es zu Zusammenstößen zwischen Einheiten der Zentralregierung und den Peshmerga. Dabei erlitt unter anderem der christliche Ort Baqofa Schaden. In dieser Situation riefen fünf Bischöfe Kurdistans137 in einer gemeinsamen Erklärung vom 1. Oktober 2017 dazu auf, den Streit zwischen ARK und Bagdad über die Zugehörigkeit der Niniveh-Ebene zu beenden und den Wiederaufbau zu beginnen, damit Christen zurückkehren können und nicht weiterhin das Land verlassen. Die Niniveh-Ebene könne nicht geteilt werden und solle als einheitliches Territorium erhalten bleiben. Außerdem forderten die Bischöfe, dass nur noch offizielle Regierungstruppen Waffen tragen dürften (ein Aufruf gegen die Verstetigung der christlichen Milizen). Christliche junge Männer wurden aufgefordert, sich den offiziellen Streitkräften anzuschließen.138 Am 29. Oktober 2017 rief dann das chaldäische Patriarchat zur Verständigung sowie zum Erhalt der Einheit der Niniveh-Ebene auf. Die christlichen Milizen, darunter die Nineveh Plain Guards, die den von Bagdad kontrollierten schiitischen Volksbefreiungsmilizen nahesteht, sollten in die nationale Polizei eingegliedert werden. Außerdem sollten die Anstrengungen für den Wiederaufbau der Dörfer und Städte in der Niniveh-Ebene verstärkt werden.139 Einen Lackmus-Test für die Integration der Christen in das politische System des Irak nach der Befreiung vom IS sowie für die Zukunft der Niniveh-Ebene waren die Parlamentswahlen vom 12. Mai 2018. Christen traten auf sieben verschiedenen Listen an, darunter einige auf der Liste von Ministerpräsident Haydar al-Abadi. Die Liste von Muqtada al-Sadr gewann die meisten Sitze, und seine Ankündigung, eine nicht-konfessionelle Regierung zu bilden, löste unter Kirchenführern des Landes einige Hoffnungen aus. Christliche Kandidaten konnten wie bei früheren Wahlen wieder nur die fünf für Christen reservierten Sitze erringen. Erstmals seit vielen Jahren erhielt das Assyrian Democratic Movement (ADM) keinen Parlamentssitz. Zwei Sitze fielen an die Babylon-Brigaden (eine den schiitischen Volksbefreiungsmilizen nahestehende 137 Bashar Warda (chaldäisch), Nikodemos Dawood Sharaf (syrisch-orthodox), Abris Awshalem Tyari Jonsen (assyrisch), Rabban al-Qas (chaldäisch) und Timotheos Moussa Shamani (syrisch-orthodox). 138 Statement of the Heads of the Christian Churches in the Kurdistan Region on the Referendum Crisis, 01.10.2017. 139 The Vision of the Chaldean Patriarchate concerning the future of the Christian towns in the Nine­veh Plain, 29.10.2017.

Die Perspektiven: Gehen oder Bleiben?

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Milizenpartei, die für einen Anschluss der Niniveh-Ebene an das Gebiet der Zentral­ regierung eintritt) und je einer an den Chaldean Syriac Assyrian Popular Council (CSAPC), an die Rafidayn List und an die Chaldean Coalition. Das Wahlergebnis, das allerdings von manchen angezweifelt wurde, zeigt erneut die Zerrissenheit der christlichen Parteien. Ausdruck findet dies in ihrer Haltung zum politischen Status der Niniveh-Ebene. Durch den Erfolg der Babylon-Brigaden, von denen sich katholische Kirchenführer im Vorfeld der Wahlen mehrfach distanziert hatten, wurde zudem der Verdacht genährt, schiitische Milizen wollten die Christen der Niniveh-Ebene für eigene Zwecke instrumentalisieren. Ein politisches Programm für die Integration der Christen in das, was vom irakischen Staat im Sommer 2018 angesichts der Vetternwirtschaft und Korruption noch übrig war, zeichnete sich ebenso wenig ab wie eine einheitliche Vorstellung davon, wie die Zukunft des christlichen Kernlands im Irak, der Niniveh-Ebene, aussehen sollte.

Die Perspektiven: Gehen oder Bleiben? In der vom IS heimgesuchten Region lebte mehr als ein Viertel der irakischen Christen. Die Dschihadisten sind zwar zurückgedrängt, aber die Menschen kehren erst zögerlich in ihre Dörfer zurück. Dass Christen nach Mossul zurückgehen, ist für viele nach dem, was dort in den letzten 15 Jahren geschehen ist, kaum denkbar. Das Vertrauen in die kurdischen Peshmerga und in die schiitischen Milizen, die für die irakische Zentralregierung die Rückeroberung der Niniveh-Ebene erreicht haben, ist bei den Christen gering. Hatten Christen bei einer ersten Inspektion ihrer Häuser unmittelbar nach der Befreiung diese weitgehend unversehrt vorgefunden, mussten sie einige Wochen später feststellen, dass sowohl Peshmerga als auch irakische Milizen zahlreiche Häuser geplündert und in Brand gesteckt hatten. Alle Flüchtlingslager für Christen sind inzwischen aufgelöst (das letzte Lager in Ainkawa wurde am Ende des Sommers 2018 geschlossen). Dennoch bleiben viele Christen in Ainkawa oder Dohuk. Hauptgrund dafür sind die besseren Arbeitsmöglichkeiten. Die Isolation der Orte in der Nini­ veh-Ebene ist ein großes Problem für die wirtschaftliche Entwicklung. Aufgrund der Streitigkeiten zwischen der Zentralregierung und Kurdistan um die Zuständigkeit für die Region ist die Niniveh-Ebene nach allen Seiten mehr oder weniger blockiert. Der Zugang zu den Märkten in den Großstädten Mossul und Erbil ist damit für die Bauern in den Dörfern kaum möglich. Auch Arbeitsmöglichkeiten in den Städten sind bei gleichzeitigem Wohnsitz in der Niniveh-Ebene wegen der Check-Points nicht gegeben. Für viele ein Hindernis, in ihre alte Heimat zurückzukehren. In der Zeit von 2014 bis 2017 hat bereits mehr als ein Drittel der Binnenflüchtlinge das Land verlassen. Gelingt der Wiederaufbau nicht bald, ist zu befürchten, dass das Christentum in diesem Teil des Nahen Ostens ganz verschwindet. Angesichts der Tatsache, dass es im Nordirak eine über Jahrhunderte gewachsene Kultur des Zusammenlebens von unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Völkern gibt und diese Region

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eine uralte christliche Tradition hat, wäre dies nicht nur eine menschliche, sondern auch eine kulturelle Katastrophe. Der chaldäische Patriarch Louis Sako plädiert trotz der Vertreibung aus Mossul und der Niniveh-Ebene für einen Verbleib der Christen. Er schreibt: „Unsere Präsenz hat einen Sinn! Unsere Ausbildung, unsere Qualifikationen, unsere Religion, unsere Moral verleihen uns Einfluss auf unsere Mitbürger. Wir sind nicht durch Zufall hier. Wir haben eine Berufung, wir sind Träger einer Botschaft: Frieden, Öffnung, gegenseitiger Respekt, Liebe, Vergebung, Dialog und Zusammenarbeit für ein besseres Leben. Das ist es, was die Christen an Werten der ganzen Gesellschaft anzubieten haben.“140

140 „Notre présence a un sens ! Notre formation, nos qualifications, notre religion, notre morale, nous donnent une influence sur nos concitoyens. Ce n’est pas par hasard que nous sommes là. Nous avons une vocation, nous portons un message : la paix, l’ouverture, le respect des uns et des autres, l’amour, le pardon, le dialogue et le travail ensemble pour une vie meilleure, voilà ce que les chrétiens peuvent offrir comme valeurs à la société tout entière.“ Sako 2015:40–41.

Libanon Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt. (Jes. 35,2)

Konfessionen und Konfessionalismus Die Christen des Libanon

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er Libanon zeichnet sich durch das Nebeneinander zahlreicher Gemeinschaften aus, die unterschiedlichen Religionen, Konfessionen und teilweise Ethnien angehören. Eine Darstellung der Geschichte des Libanon ist nicht möglich, ohne zunächst einen genaueren Blick auf dieses Mosaik geworfen zu haben. Die lange Zeit größte und bis heute politisch bedeutendste Gemeinschaft bilden die Maroniten. Die Verbindung mit dem libanesischen Bergland sowie die Solidarität zum unabhängigen Staat Libanon sind ebenso Teil der maronitischen Identität wie ihre aus der syro-aramäischen Sprache stammende kirchliche Liturgie und ihre Zugehörigkeit zur mit Rom verbundenen maronitischen Kirche. Ihren Ursprung führen sie auf den heiligen Mönch Mar Maron zurück, der im 4. Jahrhundert im Taurus-Gebirge als Eremit lebte. Schüler des heiligen Maron gründeten im Orontes-Tal ein Kloster, das zum geistlichen Zentrum für zahlreiche christliche Dörfer wurde. Nach der islamischen Eroberung und der Vakanz auf dem Stuhl von Antiochien wählten die Mönche des Klosters um das Jahr 685 Johannes Maron zum Patriarchen. So sagt es jedenfalls die Überlieferung. Dies bedeutete die Gründung einer eigenen Kirche. Angesichts des Drucks durch islamische Herrscher zogen sich die Maroniten aus dem fruchtbaren Tal des Orontes immer weiter in die unwegsamen Berge des Libanon zurück. Während der Kreuzzüge und der Installation einer lateinischen kirchlichen Hierarchie in den Kreuzfahrerstaaten beteuerten die Maroniten ihre Treue zum Papst und wurden 1182 offiziell in die Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen. Zusammen mit den Drusen bestimmten die Maroniten seit dem 16. Jahrhundert die Geschichte des Libanon. Machten sie in der osmanischen mutaṣarrifiyya des Mont Liban die große Mehrheit der Bevölkerung aus (je nach Schätzung zwischen 57 und 76 Prozent), bildeten sie bei der Gründung des Libanon in seinen gegenwärtigen Grenzen nach Anschluss der überwiegend muslimisch bewohnten Küstenstädte und der Bekaa-Ebene nur noch etwa 30 Prozent der Bevölkerung. Durch Emigration und geringere Geburtenraten ist ihr zahlenmäßiger Anteil bis heute auf 20 bis 25 Prozent gesunken. Sie bilden jedoch weiterhin in den Gebieten Zghorta und Keserwan die große Mehrheit der Bevölkerung, stellen im Matn etwa die Hälfte und im Chouf etwas weniger als ein Drittel der Bewohner. In Beirut lebt eine nennenswerte Anzahl von Maroniten erst seit

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dem ausgehenden 19. Jahrhundert; ihr Anteil dort ist mit deutlich unter 10 Prozent eindeutig geringer als in den traditionellen Siedlungsgebieten. Traditionell bilden die Maroniten die bäuerliche Schicht der Berge, wo sie seit dem Ende des Feudalsystems im 19. Jahrhundert kleinen und mittleren Grundbesitz bearbeiten. Hauptanbaupflanzen waren bis ins 19. Jahrhundert Maulbeersträucher für die Seidenproduktion, seither Obst und Nüsse: Äpfel, Aprikosen, Pflaumen und Kirschen sowie Pistazien und Mandeln. In den ländlichen Regionen verfügen Maroniten, die Kirche und die maronitischen Orden über erheblichen Grundbesitz. Der Einfluss der ehemaligen maronitischen Feudalaristokratie ist noch bis weit in die Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er Jahren hinein spürbar geblieben und die reichen maronitischen Familien stellen bis heute die politische Elite ihrer Gemeinschaft. Angefochten wird deren Einfluss nur durch die politischen Aktivitäten des maronitischen Klerus. Der Patriarch, Bischöfe, Pfarrpriester und Mönche haben wiederholt in die politischen Geschicke des Libanon eingegriffen, sei es beim Aufstand der maronitischen Bauern gegen die Feudalherrschaft Mitte des 19. Jahrhunderts, der vom niederen Klerus tatkräftig unterstützt wurde; sei es bei der Errichtung des Großlibanon unter französischer Mandatsherrschaft, die vom maronitischen Patriarchen im Namen der libanesischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris 1919 gefordert wurde; sei es durch das Wirken der maronitischen Mönche auf Seiten der christlichen Milizen während des Bürgerkriegs oder die 2005 vom Patriarchen nachdrücklich erhobenen Forderungen nach einem Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon. Erst durch den Bürgerkrieg gelang es einzelnen Maroniten, die weder dem Klerus noch den traditionell führenden Familien entstammten, aufzusteigen und teils zu höchsten politischen Ämtern zu kommen. Zwar gibt es eine Reihe sehr reicher maronitischer Geschäftsleute, insgesamt stehen sie aber hinter den urbanen Eliten der Sunniten und Griechisch-Orthodoxen zurück, die über Jahrhunderte erheblichen Immobilienbesitz in den Städten erworben haben und im Handels- und Bankengeschäft sehr aktiv waren. Maroniten nahmen seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr eine Rolle in den freien Berufen und in der Verwaltung ein und bildeten somit eine breite Mittelschicht heraus. Durch die vergleichsweise frühe Einführung eines Grundschulsystems in den maronitischen Pfarreien und Klöstern (Beschluss der maronitischen Synode von Luwayza 1736) und den Einfluss der lateinischen Missionare hatten die Maroniten über Jahrhunderte einen Bildungsvorsprung, der sich erst seit den 1950er Jahren zu verwischen begann. Für das Selbstverständnis der Maroniten sind folgende Punkte prägend: der monastische Ursprung der Gemeinde, das Mönchtum bildet bis ins 20. Jahrhundert hinein ein tragendes Element; die Sage vom Exodus, vom Auszug aus Nordsyrien, um die eigene Glaubensüberzeugung zu retten und sich der Unterwerfung unter die islamischen Herrscher zu entziehen; der Libanon als Heimat der Maroniten; die Überzeugung von der „immerwährenden Rechtgläubigkeit“ und der Bindung an den Papst in Rom. Zusammengenommen führen diese Überzeugungen in das Streben der Maroniten nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der islamischen Herrschaft in einem

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christlich-maronitisch geprägten Libanon. Gegen Ende des Bürgerkriegs standen die Maroniten vor der Frage, ob die Preisgabe des maronitischen Mont Liban zugunsten des Großlibanon ein Fehler war. Sie verstanden ihre Öffnung für die arabisch-islamisch geprägten Städte der Küste als Dienst an der arabischen Welt und empfanden die Reaktion vieler Muslime als Undankbarkeit. Kritiker warfen ihnen dagegen vor, sie hätten sich im neuen Staat weiter wie ein Staatsvolk gebärdet, was im Mont Liban gerechtfertigt gewesen sein mag, den Verhältnissen des Großlibanon aber nicht mehr angemessen wäre.1 Sie selbst sehen den Libanon jedoch als Auftrag. So formuliert der maronitische Patriarch Béchara Raï: „Für uns Maroniten symbolisiert das Land Gabe und Mission; wer es aufgibt, verliert seine Persönlichkeit und legt seine Geschichte ab.“2 Und die maronitische Kirche führt im Wappen ihres Patriarchen den Jesaja-Vers „Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt.“ (Jes. 35,2). Die griechisch-orthodoxen Christen, zweitgrößte christliche Gemeinschaft des Landes, gehören dem Patriarchat von Antiochien an. Der Patriarch hat seinen Sitz seit dem 14. Jahrhundert in Damaskus. Sie stehen in der Tradition der byzantinischen Reichskirche und wurden deshalb über Jahrhunderte auch als Melkiten (von arabisch: malik beziehungsweise aramäisch malkā, „König“ als Bezeichnung für den byzantinischen Kaiser) bezeichnet. Heute wird diese Bezeichnung fast nur noch für den im 18. Jahrhundert entstandenen, mit Rom unierten Zweig der Kirche gebraucht. Die Griechisch-Orthodoxen ziehen die Benennung rum-orthodox (Rūm ist die arabische Bezeichnung für [Ost-]Rom) vor. Damit wollen sie zum Ausdruck bringen, dass ihre Kirche nichts mit Griechenland zu tun hat. Liturgiesprache war zwar seit frühesten Zeiten das Griechische, auf dem Land bis zum 12. Jahrhundert auch das Aramäische, diese wurden aber vollständig durch das Arabische ersetzt. Im 19. Jahrhundert kam die griechisch-orthodoxe Kirche von Antiochien in engen Kontakt mit Russland. Über die Konflikte zwischen griechischem Klerus und arabischen Laien wurde bereits im Kapitel über das 19. Jahrhundert (Abschnitt Syrien) berichtet. Diese Kontakte haben sich im 20. Jahrhundert erhalten. Das traditionelle Gebiet des Patriarchats von Antiochien erstreckt sich auf die modernen Staaten Syrien, Libanon, den Südosten der Türkei und den Irak. Hinzu kommen zahlreiche Bistümer in der Diaspora. Zwischen den Bischöfen des Libanon und Syriens kam es in den letzten hundert Jahren immer wieder zu gewissen Spannungen. Hintergrund sind unterschiedliche politische und kirchenpolitische Vorstellungen, die oft auch mit der unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung der beiden Länder zusammenhängen (Westbindung des Libanon, Ostblockbindung Syriens ab den 1960er Jahren). Einzelheiten werden in den kommenden Abschnitten sowie im Kapitel über Syrien aufgeführt.3 1 Kewenig 1965:37–40; de Bar 1983:109–112; Clam 1990:50–59; Valognes 1994:658–663; Suermann 2010:105–108. 2 „Pour nous maronites, la terre symbolise le don et la mission ; celui qui l’abandonne perd sa personnalité et renonce à son histoire.“ Raï 2016:37. 3 Ähnliches gilt für die Beziehungen der beiden griechisch-orthodoxen Patriarchate von Antiochien und Jerusalem. Seit 2014 ist die Kircheneinheit wegen des Streits um die Ernennung eines

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Die Griechisch-Orthodoxen im Libanon stellen seit Jahrhunderten zusammen mit den Sunniten als Geschäftsleute mit beträchtlichem Immobilienbesitz die reichen Eliten der Städte Beirut, Saida und Tripolis. Allerdings bilden Griechisch-Orthodoxe auch die arme Landbevölkerung im Norden: in Batroun, Koura und rund um Tripolis. In den Städten existiert auch eine breite Arbeiterschaft und eine Schicht kleiner Handwerker, die politisch eher links sind und sich von ihren Eliten nicht vertreten fühlen. So bestand lange ein krasser Gegensatz zwischen reicher Bourgeoisie auf der einen und armer, ungebildeter Landbevölkerung auf der anderen Seite. Dieser hat sich seit den 1950er Jahren jedoch durch die Bildung einer städtischen Mittelschicht und die Bildungsfortschritte im ländlichen Raum aufgelöst, ohne dass die Geldaristokratie ihren Einfluss verloren hätte. Kulturell vollständig arabisiert, geschäftlich mit dem innersyrischen Raum verbunden und in enger geographischer Gemeinschaft mit den sunnitischen Muslimen der Städte, waren griechisch-orthodoxe Christen lange eher an einem Anschluss des Libanon an Syrien interessiert, denn an einem unabhängigen Libanon. Zusammen mit den katholischen Melkiten stellen sie auch eine Art Brücke zwischen den Sunniten und Maroniten dar. Bis zum Ende des Zarenreichs russischen Bemühungen um Protektion ausgesetzt, standen sie anders als die Katholiken in keiner besonderen Beziehung zur Mandatsmacht Frankreich. Dennoch haben sich die meisten recht schnell mit dem eigen­ständigen Libanon arrangiert. In Krisen konnten sie so oft als Vermittler zwischen Maroniten und Sunniten auftreten. 1932 machten sie 9 Prozent der Bevölkerung aus. Heute dürfte ihr Anteil etwas niedriger (bei etwa 8 Prozent) liegen. Von den Maroniten und ihrem Festhalten an einem christlich-maronitisch geprägten Staat grenzen sich die Griechisch-Orthodoxen meist scharf, oft auch polemisch ab und bezeichnen dies als Isolationismus. Sie betonen stattdessen ihren Wunsch nach einem Zusammen­ leben mit den Muslimen und einem geeinten Libanon sowie ihre Offenheit für Reformen innerhalb des Staatswesens. Zu Zeiten des syrischen Einflusses wurde der Anteil der Griechisch-Orthodoxen im Kabinett zuungunsten der Maroniten erhöht, weil sich damit der Anteil der Christen halten ließ, sie aber Syrien tendenziell freundlicher gegenüberstanden. Eine eigene Miliz bildeten sie im Bürgerkrieg nicht.4 1942 gründen einige Studenten – unter ihnen Laien und Priester – die orthodoxe Jugendbewegung (Mouvement de la Jeunesse Orthodoxe, MJO). Viele Jugendliche aus der Gründergeneration hatten am Institut Saint-Serge für orthodoxe Theologie in Paris studiert. Der MJO sollte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten der wichtigste Faktor in der Erneuerung der griechisch-orthodoxen Kirche in Syrien und dem Libanon Bischofs für Qatar, die beide für sich beanspruchen, aufgehoben. Im Hintergrund dürfte aber auch stehen, dass sich das Patriarchat von Antiochien seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Vorkämpfer des Arabismus entwickelt hat, während die Leitung des Patriarchats von Jerusalem am hellenischen Charakter ihrer Einrichtung festhält. Hinzu kommen Rivalitäten zwischen dem Patriarchat von Moskau, dem traditionellen Partner von Antiochien, und der orthodoxen Kirche in Griechenland, Hauptstütze von Jerusalem. 4 Kewenig 1965:40–42; de Bar 1983:52–53; Valognes 1994:663–665; Suermann 2010:111–112.

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sein. Beeinflusst vom arabischen Nationalismus, lehnten es die Jugendlichen ab, das Schicksal der orientalischen Christen in die Hände der europäischen Staaten zu legen. Sie setzten sich nachdrücklich für eine Verankerung ihrer Kirche in der orientalischen Gesellschaft ein. Mitglieder des MJO kämpften auf politischer Ebene für die Unabhängigkeit ihrer Länder vom europäischen Mandat und für die Rechte des palästinensischen Volkes. In diesem Zusammenhang erklärten sie 1968 auch die grundsätzliche Legitimität von Gewalt und Revolution im Rahmen des palästinensischen Befreiungskampfes. Mit ihren Forderungen nach Abschaffung des Konfessionalismus und nach Sozialreformen zugunsten der benachteiligten Bevölkerungsschichten stehen sie den linken Parteien nahe. Auf religiöser Ebene arbeiten sie an der spirituellen, pastoralen und sozialen Erneuerung ihrer Kirche und an einer besseren Ausbildung von Klerus und Laien. Die theologische Hochschule in Balamand geht auf diese Initiativen zurück. Eines der führenden Mitglieder des MJO war der spätere Bischof Georges Khodr; auch Patriarch Ignatios IV. Hazim war stark von der Bewegung beeinflusst.5 Soziologisch eng verwandt mit den Griechisch-Orthodoxen sind die katholischen Melkiten (zum Ursprung der griechisch-melkitisch-katholischen Kirche, so die vollständige Bezeichnung, siehe die Einleitung zum Kapitel Syrien). Sie sind am stärksten im südlichen Mont Liban (Chouf und Jazzin, wo sie allerdings 1983/1985 vertrieben wurden) sowie in der Bekaa (vor allem in Zahlé) und in den Städten Beirut, Saida und Tyros vertreten und bilden dort eine städtische Mittel- und Oberschicht. Die Melkiten erfuhren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Zuwanderung durch Flüchtlinge aus Palästina sowie durch die Auswanderung von Handels- und Geschäftseliten aus Syrien und Ägypten nach den Militärputschen und der Verstaatlichung weiter Teile der Wirtschaft. Vollständig in das arabische Umfeld inkulturiert, hält sich die Kirche in politischer Hinsicht im Libanon stark zurück. Die Verteilung der kirchlichen Hierarchie auf den Libanon und Syrien trägt sicherlich zu dieser Zurückhaltung bei. Eine eigene Miliz hatten die Melkiten nicht. Allerdings engagierten sich einige Melkiten in den anderen christlichen Milizen. Bekanntestes Beispiel ist Elie Karamé, der 1984 Nachfolger von Pierre Gemayel als Führer der Partei der Phalanges wurde. Der melkitische Offizier Saad Haddad schuf 1978 unter dem Schutz israelischer Truppen den „Freien libanesischen Staat“ im Südlibanon. Während einige Bischöfe des Südlibanon mit dem israelischen Besatzer zusammenarbeiteten, versuchten andere, sich von den Auseinandersetzungen fernzuhalten.6 1957 gründete Grégoire Haddad, der spätere melkitische Erzbischof von Beirut (1968–1975), den Mouvement social als überparteiliche und überkonfessionelle Bewegung mit dem Ziel, das Engagement für die sozio-ökonomische Entwicklung des Libanon zu stärken. Der Mouvement führte in Kooperation mit dem Staat und internationalen Organisationen Projekte in den Bereichen Erziehung (Alphabetisierung, 5 De Bar 1983:46–47, 52; Kuderna 1983:312–313; Valognes 1994:290–291; Roussos 2005:152–154; Suermann 2010:112–113. 6 Kewenig 1965:42–43; de Bar 1983:65; Valognes 1994:665–667; Suermann 2010:108–109.

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Berufsausbildung, Jugendclubs, Kindergärten), Gesundheit (Aufklärung, medizinisch-soziale Zentren), Arbeitsbeschaffung (Werkstätten, Kooperativen) und Wohnungsbau durch. Vor dem Bürgerkrieg hatte die Bewegung rund 3.000 Mitglieder und Freiwillige, diese Zahl ging im Krieg aber stark zurück. Haddad versuchte 1976 durch die Gründung des Courant laïc et démocratique eine Alternative zu schaffen. Die Gruppe, bestehend aus 80 Personen, arbeitete Forderungen nach einer Demokratisierung und Sozialisierung auf Ebene des Staats und der Wirtschaft sowie nach der vollständigen Laizisierung des Staats aus. Die Aktivitäten versandeten jedoch recht schnell. Haddad geriet wegen seines politischen Engagements innerkirchlich heftig in die Kritik. 1974 und 1975 beschäftigte sich die melkitische Bischofssynode mehrfach mit seinem Fall und im August 1975 wurde er schließlich gegen seinen Willen als Erzbischof von Beirut abgesetzt und für sein soziales Engagement freigestellt; er blieb jedoch Vollmitglied der Synode. 1968 hatte Bischof Haddad bereits ein Manifest der Jeunesse Etudiante Chrétienne (JEC) mitunterzeichnet, das Kritik an der Amtskirche übte und grundlegende gesellschaftliche Reformen forderte. Die Kirche solle ihre Privilegien, ihren Reichtum, ihre politische Macht und ihre Unterstützung für den Kapitalismus aufgeben, sich stattdessen an der Befreiungsbewegung der Dritten Welt und dem Kampf gegen Unterentwicklung beteiligen und sich als Teil der arabischen Welt mit dem Kampf des palästinensischen Volkes solidarisieren. Das Manifest fand großen Widerhall in der libanesischen Presse. Von kirchenoffizieller Seite wurden die Beteiligten jedoch gemaßregelt, der JEC-Generalsekretär musste zurücktreten. Nach 1970 zog sich die JEC dann wieder stärker auf kulturelle und spirituelle Aktivitäten zurück.7 Die Armenier sind eine recht neue Gemeinschaft im Libanon, sie sind erst seit den Verfolgungen Ende des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl in den Libanon gekommen. Die Massaker während des Ersten Weltkriegs, die Übergabe der von französischen Truppen besetzten Gebiete an die Türkei 1921 und schließlich die Übertragung von Alexandrette/Iskenderun an die Türkei 1939 haben die Zahl der Armenier im Libanon anschwellen lassen. Sie bildeten somit bei der Unabhängigkeit des Libanon 1943 etwa 6 Prozent der Bevölkerung. Als Flüchtlinge, die meist ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, siedelten sie sich fast ausschließlich in Beirut an und bilden in dessen nördlichen Vororten, vor allem Bourj Hammoud, die Mehrheit der Bevölkerung. Einige Armenier finden sich auch in Zahlé und Chtaura sowie in dem landwirtschaftlichen Dorf Anjar in der Bekaa-Ebene. Viele sind in großer Armut im Libanon angekommen und waren in den ersten Jahren auf die Hilfe internationaler Organisationen angewiesen. Als kleine Handwerker und Geschäftsleute sowie in den freien Berufen, vor allem als Ärzte, haben sie sich in der Folge hochgearbeitet und bilden heute eine Mittelschicht. Konfessionell teilen sie sich auf die armenisch-orthodoxe Kirche, welche bei weitem den größten Anteil der armenischen Gläubigen zählt, die armenisch-katholische Kirche und die protestantische armenische Gemeinschaft auf. Allerdings bilden das Zugehörigkeitsgefühl zum armenischen Volk sowie die armenische Sprache und 7

Kuderna 1983:293–298, 309–312.

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Kultur die primären Identitätsmerkmale. Das private armenische Schulwesen spielt beim Erhalt der Kultur und Identität eine wichtige Rolle. Am politischen Geschehen des Libanon nahmen sie lange nur am Rande teil, interessierten sich dagegen mehr für die Geschicke des armenischen Volkes und die Realisierung des nationalen Traums, sei es durch Ansprüche an die Türkei in ihren alten Siedlungsgebieten, sei es in der Sowjetrepublik Armenien beziehungsweise seit 1991 in der unabhängigen Republik Armenien.8 So rangen bis zum Ende des Kalten Kriegs zwei Parteien um die Gunst der Armenier im Libanon und in Syrien. Da sie sich ausschließlich um armenische Belange kümmerten und keinerlei Veränderungen in den arabischen Gesellschaften anstrebten, in denen die Armenier „im Exil“ leben, konnten sie weitgehend ungehindert von den Regierungen wirken. Der Hnchak verteidigte die Vereinnahmung der armenischen Republik in die Sowjetunion und setzte sich auch sonst für sowjetische Belange ein. Er fand vor allem Anhängerschaft im baathistischen Syrien und in den progressiven Kreisen von Beirut. Der Dashnak dagegen nahm seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine pro-westliche Position ein und stand für ein unabhängiges Armenien. 1958 unterstützte er den libanesischen Präsidenten Camille Chamoun im Konflikt mit den pro-arabischen Progressisten und begrüßte die US-amerikanische Intervention (siehe unten, Abschnitt Das Schicksal des Nationalpakts bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs). Während des Bürgerkriegs versucht er seine Kontrolle über die armenische Gemeinschaft gegen Vereinnahmungsversuche des christlichen Milizenführers Bachir Gemayel zu halten. Er genoss Sympathien beim Katholikossat von Sis/Kilikien (Sitz im Libanon), das sich grundsätzlich der aus seiner Sicht zu pro-sowjetischen Haltung des Katholikossats von Etchmiadzin widersetzte.9 Man kann sogar von einer Art gemeinsamer Verwaltung der Kirchengüter, vor allem der armenischen Schulen, durch den Dashnak und das Katholikossat von Sis sprechen. Einfluss übte schließlich auch die Terrorgruppe ASALA (Armée secrète arménienne pour la libération de lʼArménie – Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens) aus, die Terrorakte gegen die Türkei und türkische Einrichtungen verübte und dafür die Sympathie der UdSSR genoss. Mit dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs und dem nachlassenden Interesse Syriens und des Iran an der Unterstützung terroristischer Gruppen ließen auch die Aktivitäten der ASALA nach.10 In einem ähnlichen Kontext wie die Armenier kamen die syrisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Christen in größerer Zahl erst am Ende des Ersten Weltkriegs in den Libanon. Eine zweite Welle folgte bei den politischen Unruhen in Syrien rund um

8 Kewenig 1965:43–45; Hovannisian 1974:29–31; Kuderna 1983:324–338; Valognes 1994:485, 667–669. 9 1956 versuchte der Katholikos von Etchmiadzin massiv im Sinne des Kreml Einfluss auf die Wahl des Katholikos von Sis zu nehmen. Als Reaktion wählte das Gremium den Dashnak-Kandidaten, der unter dem Namen Zareh I. inthronisiert wurde. Etchmiadzin erkannte seine Legitimität bis zu seinem Tod 1963 nicht an. Erst danach normalisierten sich die Beziehungen wieder. Eine wirkliche Verbesserung der Beziehungen ließ sich aber erst nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Wegfall der politischen Implikationen erreichen. Valognes, 1994:488–489. 10 Hourani 1954:135–136; Valognes 1994:481–484.

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dessen Unabhängigkeit 1946.11 Assyrer und Chaldäer kamen nach 1933 als Flüchtlinge aus dem Nordirak und ließen sich in Baouchriye (einem östlichen Stadtviertel von Beirut) nieder. Weitere folgten nach der Revolution im Irak 1958. Seit der US-amerikanischen Invasion im Irak 2003 und erneut mit dem Erstarken des Islamischen Staats im Nordirak 2014 hat ihre Zahl stark zugenommen.12 Die lateinische Kirche hat nach 1948 rund 45.000 christliche palästinensische Flüchtlinge aufgenommen, die zum lateinischen Patriarchat von Jerusalem gehörten. Etwa 10.000 davon sind im Libanon geblieben, die restlichen sind in den Westen ausgewandert. Gut die Hälfte von ihnen erhielt in den 1960er Jahren die libanesische Staatsangehörigkeit.13 Die protestantischen Kirchen, die durch das Wirken meist amerikanischer Missionare im 19. Jahrhundert entstanden sind, wurden von der französischen Mandatsmacht zivilrechtlich zunächst nicht anerkannt. Die Anerkennung des Conseil suprême de la communauté évangélique au Liban et en Syrie erfolgte erst 1937. Der Rat vertritt zwölf Gemeinschaften, deren größten die Synode évangélique national de Syrie et du Liban, die Union des Eglises évangéliques arméniennes du Proche-Orient und die Eglise évangélique nationale de Beyrouth sind. Die wichtigste theologische Ausbildungsstätte der protestantischen Kirche im Libanon mit einer Bedeutung für den gesamten Nahen Osten ist die Near East School of Theology (NEST), gegründet 1932, mit Sitz in Beirut in unmittelbarer Nähe zur American University. Obwohl die Zahl der Protestanten im Libanon im Vergleich zu den meisten anderen christlichen Gemeinschaften sehr gering ist, haben sie eine erhebliche Bedeutung für das Bildungssystem: nicht nur die American University of Beirut, sondern zahlreiche Sekundarschulen werden von protestantischen Gemeinschaften betrieben.14

Muslime und Drusen Die Sunniten bilden den Großteil der städtischen Bevölkerung in Beirut, Tripolis und Saida und die Mehrheit der Landbevölkerung im Akkar im Norden des Landes. Bis zum sogenannten Nationalpakt von 1943 strebten sie großteils nach einer Vereinigung des Libanon oder zumindest der 1920 dem Libanon zugeschlagenen Gebiete mit Syrien. Auch später, so beim Erstarken des arabischen Nationalismus während der Herrschaft Gamal Abdel Nassers in Ägypten, wurden Forderungen nach einer Vereinigung mit Syrien beziehungsweise der Vereinigten Arabischen Republik laut. Sunniten bildeten die religiösen und administrativen Eliten der Städte und wurden in osmanischer Zeit politisch und religiös von den osmanischen Behörden und religiösen Einrichtungen vertreten. Eine autonome Vertretung der Sunniten im Sinne der anderen Gemeinschaf11 De Bar 1983:150–151; Valognes 1994:669. 12 De Bar 1983:152; Valognes 1994:670. 13 De Bar 1983:165; Valognes 1994:670, Suermann 2010:110–111. 14 De Bar 1983:175–192. Über die Entstehung des protestantischen Schulsystems im Libanon siehe Salibi 1965:130–138.

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ten gab es daher zunächst nicht (siehe dazu unten, Abschnitt Der Konfessionalismus). Sie wurde erst mit der Einrichtung des Amtes des Muftis der Republik 1936 geschaffen, der von seinen Funktionen und seinem Rang in etwa einem christlichen Patriarchen gleichgestellt wurde. Politisch geführt werden die Sunniten von einer Handvoll einflussreicher Familien (Karamé in Tripolis; Sulh, Salam und Yafi in Beirut; Sulh und seit den 1990er Jahren Hariri in Saida). Seit dem Nationalpakt kommt ihnen zusammen mit den Maroniten die führende Rolle im Staatswesen zu. 1932 bildeten sie mit 22 Prozent die zweitgrößte Gemeinschaft; inzwischen sind sie deutlich hinter die Schiiten zurückgefallen.15 Die Schiiten, im Libanon auch Metwali genannt (von arabisch mutawālī, „die sich dem Wālī Allāh [= Ali] Zuschreibenden“), leben fast ausschließlich in der Bekaa-Ebene und im Süden: Tyros, Jabal Amil, Chouf. Seit den Kämpfen und Angriffen israelischer Truppen im Südlibanon während des Bürgerkriegs hat sich auch in den südlichen Außen­vierteln und Vororten von Beirut (der sogenannten Dahiya) eine große Zahl von Schiiten angesiedelt; sie prägen dort das Stadtbild. Bis in die 1960er Jahre waren 90 Prozent aller Schiiten arme Bauern, die einer kleinen Zahl einflussreicher und außerordentlich reicher Feudalherren, wenn auch nicht mehr rechtlich, so doch tatsächlich unterstanden. Der Bildungsgrad war und ist unter den Schiiten bei weitem der niedrigste unter den Gemeinschaften des Libanon. Der bis in die 1970er Jahre wenig geschulte Klerus übte lange Zeit kaum Einfluss auf die Gemeinschaft aus. Politisch traten nur einzelne Führer aus der Feudalaristokratie in Erscheinung. Dies hat sich durch die Gründung der „Bewegung der Entrechteten“ von Imam Moussa Sadr 1974 geändert. Politisch vertreten durch die Amal-Bewegung, ausgestattet mit einer eigenen Miliz und seit der Islamischen Revolution 1979 vom Iran finanziell und politisch unterstützt, haben sich die Schiiten seit den 1980er Jahren einen Platz im politischen Gefüge des Libanon erstritten. Seit dem Aufstieg der Hisbollah und ihren militärischen Schlägen gegen Israel in den 1990er Jahren haben sie zudem eine zweite, inzwischen deutlich mächtigere Vertretung als die Amal. Bildeten die Schiiten zu Beginn des eigenständigen Libanon nur 19 Prozent der Bevölkerung, hat sich ihr Anteil heute auf schätzungsweise ein Drittel erhöht, womit sie die zahlenmäßig größte Gemeinschaft stellen.16 Die Drusen, eine im 11. Jahrhundert aus der Schia hervorgegangene Gruppe, in deren Glaubensansichten sich schiitische Theologie und neoplatonische Anschauungen mischen, gehören zu den traditionellen Trägern der libanesischen Identität. Unter Druck des offiziellen sunnitischen Islam fanden die Lehren der Drusen vor allem in den Berggebieten des Libanon, des Hermon, des Hauran und des Golan Anhänger. Zusammen mit den Maroniten bildeten sie in osmanischer Zeit die Herren des Mont Liban. Soziologisch gliedern sie sich bis heute in eine reiche, ehemalige Feudalaristokratie und die große Schicht der drusischen Bauern. Ihre Siedlungsgebiete bilden der Chouf, Aley und der Matn. In den Städten lebt bis heute nur eine kleine Minderheit 15 Kewenig 1965:48–51; de Bar 1983:28–37. 16 Kewenig 1965:51–53; de Bar 1983:17–24.

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der Drusen. Auf kultureller Ebene blieben sie aufgrund der strengen Scheidung in eine eingeweihte religiöse Elite (ʿuqqāl) und die ungebildete religiöse Masse (ǧuhhāl) ähnlich wie die Schiiten hinter den anderen Gemeinschaften zurück. Durch ihre militärische Tapferkeit und ihre ausgeprägte gemeinschaftliche Solidarität gehörten sie aber immer zu den politisch führenden Gruppen im Libanon. Durch den Anschluss der Küstenstädte und der Bekaa haben sie beträchtlich am Bevölkerungsproporz verloren: im „alten“ Mont Liban machte ihr Anteil zwischen acht und zwölf Prozent aus, 1932 stellten sie dagegen nur noch sechs Prozent. Politische Bedeutung gewannen sie durch den Parti socialiste progressiste (PSP) von Kamal Joumblatt. Seit den 1960er Jahren hatten sie so einen erheblichen Einfluss in der libanesischen Politik. Ihre Eliten stellten während des Bürgerkriegs die Speerspitze des islamisch-progressiven Lagers dar. 17 Die palästinensischen Flüchtlinge machen eine eigene Gruppe in der libanesischen Gesellschaft aus. Nach 1948 kamen rund 100.000 Palästinenser in den Libanon, überwiegend sunnitische Muslime; Christen bildeten 1965 24 Prozent der Palästinenser im Libanon. Nach der israelischen Besetzung des Westjordanlandes 1967 und der Vertreibung der PLO-Führung aus Jordanien 1970 stieg die Zahl der Palästinenser auf über 400.000 an. Die meisten leben in Lagern mit eigener Verwaltung. Die libanesische Staatsbürgerschaft haben nur wenige erhalten. Über ihre Rolle im libanesischen Staatswesen und die Legitimität ihres bewaffneten Kampfs gegen Israel von libanesischem Boden aus sind heftige Kontroversen entstanden. Diese waren einer der bedeutendsten Faktoren, die 1975 in den Bürgerkrieg führten.18

Libanon, Heimat der orientalischen Christen? Im Libanon befinden sich die meisten zentralen Einrichtungen der Kirchen und Sitze der Patriarchen; so das maronitische Patriarchat (Bkerké), das syrisch-katholische Patri­archat (Beirut, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs), das Katholikossat von Kili­ kien (Sis) der armenisch-orthodoxen Kirche (Antélias, seit 1930), das Patriarchat der armenisch-katholischen Kirche (Bzommar, seit 1928), der Sitz der Union des Eglises évangéliques arméniennes du Proche-Orient (Beirut, seit 1920) sowie der Conseil Suprême de la communauté évangélique au Liban et en Syrie (seit 1937). Der griechisch-orthodoxe und der griechisch-melkitisch-katholische Patriarch haben neben ihrem Hauptsitz in Damaskus jeweils eine bedeutende Residenz im Libanon (orthodox: Kloster Balamand, melkitisch: Raboué und Ain Traz); außerdem hat der Middle East Council of Churches seinen Sitz in Beirut (seit seiner Gründung 1974). Die großen Hochschulen befinden sich ebenfalls im Libanon: die American University of Beirut (hervorgegangen aus dem Syrian Protestant College, gegründet 1866), die Université Saint Joseph der Jesuiten (Beirut, gegründet 1875; seit 1975 unabhängig vom Jesuiten­ orden), die griechisch-orthodoxe theologische Hochschule in Balamand (gegründet 17 Kewenig 1965:53–55; de Bar 1983:130–137. 18 Kewenig 1965:55–56; Kuderna 1983:170.

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1971, seit 1988 Ausbau zur Universität) und die armenische Haigazian University (Beirut, gegründet 1955, seit 1996 im Status einer Universität). Diese Konzentration christlicher Einrichtungen, die teilweise eine Bedeutung für den gesamten Nahen Osten haben, gibt dem Libanon sein eigentümliches Gepräge und seine vom Christentum stark beeinflusste Identität. Sie nährt auch das Bild vom Libanon als sicherem Hort für die Christen des Nahen Ostens; so erklärte bereits 1933 der maronitische Patriarch Arida „Im ganzen Orient haben die Christen angesichts der großen Staaten, die nach dem Krieg geschaffen wurden, keine andere Heimstatt als den Libanon. Hier haben sich alle christlichen Patriarchen niedergelassen, wie man feststellen wird. Heißt das aber nun, dass dieser Libanon als Heimstatt der Christen nur den Christen gehört? Keineswegs. Nichts hindert, dass er ein gemeinsames Vaterland für die Angehörigen aller anderen Religionen wird.“19

Der Konfessionalismus Der Libanon unterscheidet sich von den anderen in diesem Buch behandelten Ländern dadurch, dass es keine eindeutige Mehrheitsbevölkerung gibt. Weder die Maroniten (seit vielen Jahren auch nicht mehr alle Christen zusammengenommen), noch Sunniten, noch Schiiten stellen mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Um die einzelnen Konfessionen in angemessener Weise an der Verwaltung beziehungsweise Regierung des Landes zu beteiligen, wurde im 19. Jahrhundert, wie wir in der Einleitung gesehen haben, ein Proporzsystem entwickelt. Nicht erst seit der Unabhängigkeit des Landes bildet dieses System, Konfessionalismus genannt, die Besonderheit des Libanon unter den Staaten des Nahen Ostens. Es empfiehlt sich daher, einen genaueren Blick darauf zu werfen, bevor wir die Geschichte des Landes und seiner Christen im Einzelnen nachzeichnen. Im Rahmen des konfessionalistischen Systems spielen die Gemeinschaften (französisch: communauté, englisch: community, arabisch: ṭāʾifa)20 eine bedeutende gesellschaftliche Rolle. Ihnen kommt politische und zivilrechtliche Bedeutung zu. So werden politische Ämter beispielsweise gemäß der Zugehörigkeit zu einer der Gemeinschaften vergeben und Ehen können nur nach den Regeln der einzelnen Religionsgemeinschaf19 „Il ne reste plus aux chrétiens dans tout lʼOrient, dʼautre foyer que ce Liban, en face des vastes Etats créés après-guerre. Cʼest ici que sont venus sʼabriter tous les Patriarches chrétiens, ainsi quʼon peut le constater. Est-ce à dire que ce Liban, foyer chrétien ne doive être quʼaux Chrétiens? Nulle­ment. Rien nʼempêche quʼil demeure une patrie commune aux membres de toutes les autres religions.“ So gegen­über der in Kairo erscheinenden Zeitung LʼOrient (9. März 1933), zitiert nach Rabbath 1937:167– 168. 20 Das deutsche Wort „Gemeinschaft“ gibt den Gehalt des französischen beziehungsweise englischen Worts nur unzureichend wieder, wird hier aber mangels einer griffigen Alternative verwendet. Kewenig gibt folgende Definition für den Konfessionalismus im Libanon: „Die Religionsgemeinschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie sind als solche Träger von Rechten und Pflichten. Als quasi-autonome Personalkörperschaften besitzen sie eine begrenzte, ihnen durch den Staat zugewiesene, gesetzgebende und rechtsprechende Gewalt, die sich auf alle Mitglieder derselben Gemeinschaft erstreckt.“ Kewenig 1965:36.

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ten geschlossen werden. Der Konfessionalismus geht eng einher mit dem Proporzsystem, nach dem alle öffentlichen Ämter an die Angehörigen der religiösen Gemeinschaften gemäß einem System vergeben werden, das ihrer numerischen Stärke und in gewisser Weise auch ihrer historischen Bedeutung entspricht. Die Verfassung von 1926 formuliert dies in Artikel 95 so: „Übergangsweise und gemäß den Bestimmungen von Artikel 1 der Mandatscharta sind die Gemeinschaften zur Förderung von Gerechtigkeit und Eintracht gleichmäßig vertreten im öffentlichen Dienst und in der Zusammensetzung des Ministerrats, ohne dass dies jedoch dem Wohl des Staats schaden darf.“21 Im Parlament sind die Religionsgemeinschaften seit 1943 nach einem bestimmten Schlüssel, bis zum Abkommen von Taʼif (1990) im Verhältnis 6/11 für Christen und 5/11 für Muslime, seither im Verhältnis 1:1, vertreten. In der Regierung sind in der Regel die sechs großen Gemeinschaften vertreten: Maroniten, Sunniten, Schiiten, GriechischOrtho­doxe, Drusen und Melkiten. Gleiches gilt für die Direktorenposten in den Behörden. Angehörige der kleineren Minderheiten haben keine Aussicht auf diese Posten. Die Religionsgemeinschaften wurden 1936 per Dekret als Körperschaften, vertreten durch ihre religiösen Führer, anerkannt und ihren Statuten Gesetzeskraft verliehen. Jedem Volljährigen wurde das Recht zuerkannt, seine Gemeinschaft zu verlassen und einer anderen seiner Wahl beizutreten. Diese Bestimmung stieß jedoch auf Widerstand der Religionsführer, so dass sie 1938 angepasst wurde, ohne jedoch die Kritik ganz zum Schweigen zu bringen. Aufgrund der Proteste von muslimischer Seite wurden die Dekrete in ihrer Anwendung auf die Muslime 1939 ausgesetzt. Sie hatten sich dagegen gewehrt, als eine von mehreren gleichwertigen Gemeinschaften angesehen zu werden.22 Ihre eigentliche Bedeutung erhielten die Religionsgemeinschaften jedoch erst seit der Unabhängigkeit des Libanon. Grundsätzlich wird dabei zwischen den christlichen und der jüdischen Gemeinschaft auf der einen Seite und den muslimischen Gemeinschaften, inklusive Drusen, auf der anderen unterschieden. Die muslimischen Gemeinschaften können die Regelung ihrer Angelegenheiten über ihre Gremien zwar selbst gemäß ihren religiösen Vorschriften bestimmen, bleiben in deren Ausführung gemäß der islamischen beziehungsweise osmanischen Tradition aber eng mit dem Staat verbunden. Ihre Funktionäre sind Staatsbeamte und werden vom Staat bezahlt. Die christlichen Gemeinschaften und die jüdische Gemeinschaft dagegen genießen weitgehende Autonomie vom Staat, verfügen nicht nur über eigene Regelwerke, sondern auch über eigene Strukturen und Gerichtshöfe. Für die christlichen und die jüdische 21 „A titre transitoire et, conformément aux dispositions de lʼarticle 1er de la Charte du Mandat et, dans une intention de justice et de concorde, les Communautés seront équitablement représentées dans les emplois publics et dans la composition du ministère, sans que cela puisse cependant nuire au bien de lʼÉtat.“ Artikel 9 der Verfassung von 1926 garantiert vollständige Gewissensfreiheit und stellt alle anerkannten Religionen unter den Schutz des Staats. Artikel 10 garantiert die Unabhängigkeit der kommunitären Schulen und Erziehungseinrichtungen. Valognes 1994:656; Corm 2012:91. 22 Verordnung Nr. 60 L.R. von 1936, ergänzt durch Verordnung 146 L.R. von 1938. Artikel 14 der Verordnung Nr. 60, der die Einrichtung von Gemeinschaften des allgemeinen Rechts (communautés de droit commun) für Personen vorsah, die keinem religiösen Personalstatus zuzuordnen sind, wurde vom libanesischen Staat nie umgesetzt. Kewenig 1965:99–100, Rabbath 1973:89–97; Corm 2012:91–92.

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Gemeinschaften regelt das Gesetz vom 2. April 1951 die Anerkennung (elf Gemeinschaften und eine jüdische) und den Bereich ihrer Kompetenz. Diese ist sehr weitgehend in Fragen der Familie, des Ehe-, Adoptions- und Erbrechts („Personalstatut“). Staatliche Organe sind zur Ausführung der Entscheide der kommunitären Instanzen verpflichtet. So werden aus den religiösen Gemeinschaften quasi politische Einheiten mit weitgehender Autonomie, geregelt durch interne Gesetze. Die muslimischen Gemeinschaften, die sich traditionell durch den Staat vertreten sahen, wurden ab 1955 nach dem Vorbild der christlichen und jüdischen organisiert. Als erste erhielten die Sunniten 1955 Rechtsstatus und interne Regelungen gemäß dem hanafitischen Recht; die Drusen folgten 1962, die Schiiten 1967. Problematisch ist vor allem, dass in Fragen des Familienrechts keine von den Religionsgemeinschaften unabhängigen Regelungen bestehen. Eine Zivilehe gibt es nicht; Ehen können nur in einer Religionsgemeinschaft und nach deren Regeln geschlossen und aufgelöst werden, unter Umständen nur nach Übertritt einer Partei zur Religion der anderen. Gemischte Ehen werden daher oft im Ausland (meist in Zypern) vor zivilen Stellen geschlossen; diese können im nächstliegenden libanesischen Konsulat anerkannt werden. Schwierigkeiten gibt es auch in Erbfällen bei unterschiedlicher Religionszugehörigkeit der Betroffenen. Eine Beteiligung des libanesischen Staatsbürgers in Gesellschaft und Politik ist nicht direkt, sondern nur durch seine Gemeinschaft und gemäß deren Bedingungen möglich: politische Vertretung, öffentliche Ämter, Personalstatut. In Zusammenhang mit dem Proporzsystem, in dem die unterschiedlichen Gemeinschaften eifersüchtig darüber wachen, dass ihre Rechte und Privilegien eingehalten werden, hindert dies das Entstehen eines Nationalgefühls.23 Der libanesische Soziologie, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Georges Corm geht so weit zu behaupten, dass die Religionsgemeinschaften den Staat ersetzen: „Der aus den Institutionen von 1926 und 1943 hervorgegangene Staat konnte nie eine autonome Existenz erlangen, weil es die libanesische politische Klasse einfacher fand, ihre Macht aus den Apparaten der Gemeinschaften zu ziehen, die durch die aufeinanderfolgenden Krisen der libanesischen Gesellschaft seit dem Verschwinden der traditionellen Feudalherren im Mont Liban noch gestärkt wurden. Diese kommunitären Appa­rate ziehen ihre Macht selbst aus ihrer wirtschaftlichen Stärke, aus ihrem Einfluss durch die Religions- und Erziehungseinrichtungen sowie aus ihren Verbindungen mit regionalen und internationalen externen Mächten.“24 Man muss Corm nicht bis zum Vorwurf des Totalitarismus, ja Faschismus und Rassismus folgen, den der Kommunitarismus seiner Meinung nach annimmt. Die Macht der kommunitären 23 Rabbath 1973:83–136; Betts 1978:189–192; de Bar 1983:21, 28–30; Corm 2012:109–110. 24 „LʼÉtat issu des institutions de 1926 et de 1943 nʼa en fait jamais pu acquérir dʼexistence autonome, la classe politique libanaise trouvant plus simple de tirer son pouvoir des appareils communautaires, considérablement renforcés par les crises successives de la société libanaise depuis la disparation de la grande féodalité traditionnelle de la montagne. Ces appareils communautaires tirent eux-mêmes leurs forces de leur puissance économique, de leur influence au travers des institutions spirituelles et éducatives, et de leurs liens avec les forces externes régionales ou internationales.“ Corm 1986:157–158.

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Identität, die vom religiösen Bildungssystem reproduziert, in Kirchen und Moscheen gestärkt und von der politischen Klasse zur Bindung einer Klientel ausgenutzt wird, ist von Corm aber treffend beschrieben. Der Libanon ist das einzige arabische Land ohne Staatsreligion. Er ist dennoch kein laizistischer oder säkularer Staat, wie das konfessionalistische System beweist. Die Begriffe „Gleichgewicht“ und „Gemeinschaft“ haben größere Bedeutung als „Mehrheit“ und „Nation“. Das konfessionalistische System ist im Libanon äußerst unpopulär, weil es Gelegenheit bietet für Hinterzimmerpolitik, Korruption, die Monopolisierung der Macht in der Hand weniger Familien aus der alten Feudalaristokratie, Demagogen, die die Gemeinschaften gegeneinander aufbringen, und Warlords. Außerdem friert es das Gewicht und die Rolle der einzelnen Gemeinschaften ein und verstetigt sie, so dass Änderungen daran quasi unmöglich werden. Dadurch entfernt es sich immer weiter von der gesellschaftlichen Realität, wird immer weniger repräsentativ und verhindert Anpassungen an die Anforderungen einer sich verändernden Welt. Eine gangbare Alternative, die das Gleichgewicht zwischen den Gemeinschaften wahren würde, ist bisher aber auch nicht vorgelegt worden, so dass die meisten Führer am Konfessionalismus festhalten. Obwohl führende Politiker und die meisten libanesischen Parteien die Überwindung des Konfessionalismus bereits seit der Mandatszeit fordern, sind alle Versuche, ein ziviles Personalstatut einzuführen, die Kompetenzen der religiösen Gerichtshöfe zu beschränken, die Ämterverteilung gemäß dem religiösen Proporz aufzugeben und die Wahlgesetzgebung und Zusammensetzung des Parlaments nicht weiter an den Konfessionalismus zu binden, gescheitert. Nicht nur die religiösen Hierarchien sind gegen jeden konkreten Versuch Sturm gelaufen, auch Politiker und Parteien haben eine defensive Haltung eingenommen. Jede Seite wäre nur dann bereit gewesen, die Privilegien der eigenen Gemeinschaft aufzugeben, wenn auch die andere Seite gleichzeitig Einschnitte verzeichnet hätte.25 In der Praxis hat sich der Konfessionalismus so sogar noch verschärft. Im Grunde gehört die öffentliche Verurteilung des Konfessionalismus zu den Konventionen libanesischer Politik.26 Nach dem Blick auf die Besonderheiten des Libanon können wir nun in die Darstellung der Geschichte der Christen des Libanon einsteigen.

25 So warnten 1953 die katholischen Bischöfe vor einer vorzeitigen Abschaffung der proportionellen Repräsentation; eine Forderung, die nur als Vorwand für die Errichtung eines kirchenfeindlichen Regimes diene. 1954 wehrten sie sich in einem Aufruf ebenfalls gegen die Forderung von Muslimen, die Verteilung der Staatsämter gerechter zu verteilen. Kewenig 1965:92. 26 Kewenig 1965:154–179; Kuderna 1983:58.

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Das Projekt „Grand Liban“ Arabischer und libanesischer Nationalismus Im Libanon und in Syrien hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein arabischer Nationalismus entwickelt, der vor allem von Christen getragen wurde. Die muslimischen Eliten dagegen betrachteten weiterhin die Zugehörigkeit der arabischen Provinzen zum osmanischen Reich und dem Sultan-Kalifen in Istanbul als essentiellen Bestandteil ihrer islamischen Identität. Auf christlicher Seite wurde der arabische Nationalismus vor allem von Griechisch-Orthodoxen und Protestanten getragen. Ein führender Vertreter war Butrus al-Bustani (1819–1883), Protestant maronitischer Herkunft, der mit seiner Zeitschrift Nafīr Sūriyya erheblichen Einfluss auf nationalistische Kreise ausübte. Am Syrian Protestant College in Beirut hatte sich der syrisch-arabische Nationalismus weiterentwickelt und jüngere Intellektuelle erreicht. Sie lehnten den Osmanismus der muslimischen Intellektuellen ebenso ab wie pan­ islamische Ideen. Beide trieben ihrer Ansicht nach einen Spalt zwischen Christen und Muslime. Sie hofften dagegen, durch einen säkularen, arabischen Staat diese Spaltung überwinden zu können. Blieb diese Idee bis zur Jungtürkischen Revolution 1908/1909 ein weitgehend christliches Unterfangen, sollte sich dies durch die Türkifizierungspolitik des Komitee für Einheit und Fortschritt entscheidend ändern. Nun schlossen sich auch Muslime den arabisch-nationalistischen Ideen an und plädierten für die Unabhängigkeit der arabisch-sprachigen Provinzen vom Osmanischen Reich. Diesem arabischen Nationalismus setzten die katholischen Maroniten und Melkiten des Libanon ein alternatives Projekt entgegen: die Unabhängigkeit des Libanon. Dadurch sollte die christliche Identität des Mont Liban gesichert werden. Während des Ersten Weltkriegs wurden die Gegensätze zwischen den beiden Richtungen durch die brutale Unterdrückung durch die osmanischen Behörden überdeckt. 1915 und 1916 wurden 33 führende Vertreter des arabischen Nationalismus in Beirut und Damaskus öffentlich gehängt. Beide Nationalismen – der arabischer wie der libanesischer Prägung – fanden darin ihre Märtyrer.27 Die arabische Revolte unter Scharif Hussein und seine Bestrebungen, ein arabisches Reich unter Einschluss des Libanon aufzubauen, beunruhigten jedoch bald die libanesischen Nationalisten. Sie wandten sich an Frankreich, die traditionelle Schutzmacht der Christen, um Unterstützung für ihre Sache zu gewinnen und eine Eingliederung des Libanon in das 1918 ausgerufene arabische Königreich unter Faisal zu verhindern. Zwar wurden die libanesischen Natio­nalisten kurzzeitig von der Einsetzung eines scharifischen Statthalters in Beirut beunruhigt, aber bereits eine Woche später, am 7. Oktober 1918, rückten britische 27 Während des Ersten Weltkriegs planten die osmanischen Behörden unter dem Gouverneur Cemal Pascha, den maronitischen Patriarchen Elias Hoyek zu deportieren. Eine Intervention des Heiligen Stuhls bei der Hohen Pforte verhinderte die Ausführung der Pläne. Allerdings wurde Pierre Chébli, maronitischer Erzbischof von Beirut, nach Adana verbannt, wo er noch während des Kriegs verstarb. Zoghbi 1991:193–195.

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Truppen in Beirut ein und übergaben die Amtsgewalt gemäß dem Sykes-Picot-Abkommen in französische Hände. Das Projekt „Grand Liban“ war somit eng mit der Nahostpolitik Frankreichs verbunden.28 Eine der führenden Persönlichkeiten bei der Schaffung des Grand Liban unter französischem Mandat war der maronitische Patriarch Elias-Pierre Hoyek (1843–1931, Patriarch ab 1898). Für ihn war klar: die Zukunft der Maroniten lag in einem eigenständigen Libanon und dieser war nur unter dem Schutz Frankreichs denkbar. So war es nur folgerichtig, dass Patriarch Hoyek mit der Führung der libanesischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris beauftragt wurde. Nach der Vertreibung der Osmanen hatte der Conseil administratif du Mont-Liban, der Regierungsrat bestehend aus zwölf Mitgliedern als Vertretern der verschiedenen Gemeinschaften, seine Arbeit wieder aufgenommen. Er formulierte am 20. Mai 1919 seine Vorstellungen für den zukünftigen Libanon: Die Unabhängigkeit des Libanon in seinen historischen und geographischen Grenzen, die Bildung einer demokratischen Regierung, Übereinkunft mit Frankreich zur Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse mit den Nachbarländern sowie Ausarbeitung einer Verfassung. Am 16. Juni 1919 beauftragte der Conseil den maronitischen Patriarchen mit der Leitung der libanesischen Delegation. Die Delegation hätte mit Vertretern der unterschiedlichen Gemeinschaften besetzt sein sollen. Allerdings glaubte man, dass England der Entsendung einer politischen Delegation, die für den Großlibanon unter französischer Protektion einträte, ablehnend gegenüberstünde. So reiste schließlich eine rein kirchliche Delegation nach Frankreich: Der Patriarch wurde begleitet von vier Bischöfen: einem griechisch-katholischen und drei maronitischen. Patriarch Hoyek erklärte das Ziel seiner Mission so: „Erstens für den Libanon die vollständige Unabhängigkeit fordern, die er verdient und auf die er ein Recht hat. Zweitens die Wiederherstellung der natürlichen und historischen Grenzen des Libanon verlangen, so wie sie vom französischen Generalstab 1862 gezogen wurden. Schließlich wollen wir unsere Beziehungen mit Frankreich festigen und noch vertraulicher fortführen.“29 Diese Forderungen übermittelte der Patriarch der Friedenskonferenz in Form eines Memorandums.30 In Damaskus proklamierte unterdessen Emir Faisal das Königreich Großsyrien. Den arabischen Staat Faisals lehnte Hoyek – anders als der griechisch-orthodoxe Pa­triarch – strikt ab. Gegenüber einem französischen Journalisten erklärte er 1919: „Ich habe ihn [Faisal] nie gesehen und gedenke auch nicht, ihn zu sehen. Wir haben nichts gemein. Unser Vorgehen ist unterschiedlich. Der Libanon ist eindeutig durch seine geographische Beschaffenheit bestimmt. Die Christen sind dort überall in der Mehrheit. Er muss 28 Salibi 1965:153–162; Rabbath 1973:267–273. 29 „Mon voyage à Paris a un triple but: tout dʼabord demander pour le Liban lʼabsolue indépendance quʼil mérite et à laquelle il a droit. En second lieu, réclamer la restitution au Liban de ses limites naturelles et historiques telles quʼelles ont été tracées par lʼétat-major français dans la carte de 1862. Enfin, nous voulons affermir et continuer plus intimement que jamais nos relations avec la France.“ Le Matin, 22. August 1919, zitiert nach Rabbath 1973:284. 30 Rabbath 1973:281–287; Ammoun 1997:233–239.

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also sein eigenes Leben haben und darf mit keiner benachbarten Macht fusionieren.“31 Der Patriarch sandte besorgte Depeschen nach Paris. Der Conseil administratif ent­ sandte erneut eine Delegation nach Frankreich. Wieder sollte Patriarch Hoyek sie leiten; er musste die Leitung aus Gesundheitsgründen allerdings seinem Patriarchalvikar übergeben.32 Allerdings war im Conseil administratif die Meinung zur zukünftigen Rolle Frankreichs alles andere als einheitlich: von den französischen Behörden wurden sieben Mitglieder des Conseil (darunter der Bruder des Patriarchen selbst sowie Drusen und Sunniten) bei dem Versuch festgenommen, sich nach Damaskus zu begeben. Sie wollten bei Faisal um die Anerkennung eines Großlibanon werben, der nicht unter französischem Mandat stünde. Für Patriarch Hoyek, den maronitischen Erzbischof von Beirut, Ignace Mobarak (ein einflussreicher Mitstreiter des Patriarchen für das französische Mandat), und den Drusenführer Nessib Joumblatt war dies Anlass, erneut ihre Loyalität gegenüber Frankreich zu erklären.33 Am 28. April 1920 sprach die Konferenz von San Remo Frankreich das Mandat für Libanon und Syrien zu. Bei Patriarch Hoyek und mit ihm bei den meisten Maroniten und vielen Melkiten traf dies auf große Zustimmung. Für die Sunniten und Griechisch-Orthodoxen, die mehrheitlich für eine Vereinigung mit Syrien und, wenn überhaupt für ein Mandat, dann für ein britisches, eintraten, bedeutete dies hingegen eine Enttäuschung.34 Mit der Übernahme der Mandatsgewalt im Libanon proklamierte der französische Hochkommissar bei seinem Amtsantritt am 31. August 1920 den Großlibanon. Die Maroniten waren am Ziel: das Projekt „Grand Liban“ war verwirklicht und Frankreich garantierte gegenüber syrischen Ansprüchen seinen Fortbestand. Allerdings hatte sich durch die Erweiterung des Mont Liban um die muslimischen Bezirke Tripolis, Akkar, Saida und Bekaa das Bevölkerungsverhältnis zwischen Christen und Muslimen verschoben: beide waren nun annähernd gleichauf, mit einer hauchdünnen Mehrheit für die Christen. Manche stellten sich die Frage, ob der Libanon wirklich die Heimstatt der orientalischen Christen sein könne, die manch einer – wie der maronitische Erzbischof Ignace Mobarak – anstrebte. Für die Kritiker stellte die Ablehnung der Muslime, die nun fast die Hälfte der Einwohner des Libanon ausmachten, eine Gefahr für den Staat dar. Sie forderten – wie der syrische Nationalist und Christ Edmond Rabbath35 – anstelle 31 „Je ne lʼai jamais vu ni ne pense le voir. Nous nʼavons rien de commun. Notre action est séparée. Le Liban est nettement défini par le relief du sol. Partout les chrétiens y sont en majorité. Il doit donc avoir sa vie propre, ne se confondre avec aucune puissance voisine.“ Zoghbi 1991:209 unter Verweis auf F. des Issarts & Khoury, Le grand ami de la France: S.B. le Patriarche Elias Hoyek, Paris, 1937:107. 32 Salibi 1965:163; Ammoun 1997:249–254. 33 Ammoun 1997:260–261. 34 Rabbath 1937:164; Salibi 1965:163–164. Noch bei der Ausarbeitung der Verfassung für den neuen Staat im Jahr 1925 äußerten sich die Bedenken der Sunniten gegen die Verstetigung des Staatswesens in seinen 1920 festgelegten Grenzen. Gefolgt wurden sie dabei von vielen Griechisch-Orthodoxen in den Städten und vielen Drusen, die eine Trennung von den Drusen des Hauran fürchteten. Salibi 1965:169–170. 35 Rabbath 1937:161–162. Er schrieb 1937: „Frontières historiques irréelles, frontières naturelles mouvantes, préoccupations économiques et financières égoïstes, telles furent les raisons déterminantes de la création grande-libanaise. De là commencent les maux de la Montagne et les difficultés

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eines unabhängigen, einen autonomen Libanon im Rahmen eines großsyrischen Staats. Andere – wie Georges Samneh – hätten lieber einen (klein-)libanesischen Staat für die Christen („foyer chrétien“) gesehen, ansonsten bliebe nur der Anschluss an Syrien.36 Unter französischer Führung wurde das politische System ausgearbeitet, das für den Libanon bis heute konstitutiv sein sollte. Wie bereits in der osmanischen mutaṣarrifiyya des Mont Liban, beruhte es auf dem Proporz zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften und Konfessionen. Christen besetzten in den Institutionen die Mehrheit, auch wenn ihr Anteil im Großlibanon nur bei knapp über der Hälfte der Bevölkerung lag. So setzte der französische Hochkommissar 1920 eine Commission administrative ein, die aus sechs Maroniten, drei Griechisch-Orthodoxen, einem Melkit, vier Sunniten, zwei Schiiten und einem Drusen bestand. 1922 wurde die Kommission durch einen Conseil représentatif ersetzt, dessen Zusammensetzung sich ebenfalls am konfessionellen Proporz orientierte, dessen Abgeordnete aber in gemischten Wahlbezirken zu wählen waren. Aus dem Conseil ging nach der Erarbeitung und Inkraftsetzung einer Verfassung 1926 das erste Parlament der Libanesischen Republik unter französischem Mandat hervor.37 Die 1926 von den Mandatsbehörden in Kraft gesetzte Verfassung für den Libanon sah in Artikel 9 die absolute Gewissensfreiheit vor. Außerdem wurde den Religionsgemeinschaften garantiert, dass sie das Personalstatut ihrer Gläubigen selbst regeln durften. Die traditionellen religiösen Gerichte wurden von den Mandatsbehörden respektiert, allerdings erst nachdem der Versuch, die staatlichen Gerichte zulasten der religiösen Gerichtshöfe zu stärken, am Widerstand der maronitischen Kirche und der muslimischen Gemeinschaften gescheitert war.38 Laut Artikel 7 der Verfassung waren alle Libanesen vor dem Gesetz gleich und hatten nach Artikel 12 freien Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Letzteres wurde jedoch dadurch eingeschränkt, dass den Religionsgemeinschaften gleiche Vertretungsrechte im öffentlichen Dienst und der Regierung zugesprochen wurden (siehe den bereits zitierten Artikel 95 der Verfassung). Aus jedem Wahlbezirk wurde eine Anzahl Abgeordneter gemäß dem Proporzsystem

politiques qui nʼont pas fini dʼassaillir lʼœuvre de la France en Syrie. Alors que, conformément à ses destinées politiques, le Liban aurait pu se contenter de lʼautonomie tout simplement, susceptible dʼassurer un minimum de libertés et de garanties à ses communautés chrétiennes, il préféra le luxe dʼune indépendance impraticable. Au bout de quelques années, elle devint impossible. Les révisions constitutionnelles quʼelle nécessite, en sont la preuve. De toutes parts aujourdʼhui, elle fait eau. Les réactions quʼelle suscite à tout moment ne se comptent plus. Les irrédentistes demeurent intransigeants. Les nationalistes de lʼintérieur regardent toujours vers la „ligne bleue“ de lʼAnti-Liban. La désagrégation attend cet Etat artificiel, le jour où la force française qui le protège, sera amenée à desserrer son étreinte.“ Rabbath 1937:186–187. 36 Zamir 1985:112–113; Salibi 1998:184. 37 Salibi 1965:164–165; Kewenig 1965:72; Ammoun 1997:265–268. 38 Kewenig 1965:107–109. Anfang 1930 trennte der Justizminister die zivilen von den religiösen Gerichten. Vorher war auch in Fragen des Personenstandsrechts von Nicht-Muslimen von Scharia-­ Gerichten entschieden worden. Nun wurden konfessionelle Gerichtshöfe geschaffen und die Gemeinschaften ihrer eigenen Rechtsprechung unterstellt. Ammoun 1997:342.

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entsandt; allerdings wurden die Kandidaten jeweils von allen Wahlberechtigten des Wahlbezirks gewählt, nicht nur von ihren Religionsgenossen.39 Erster Präsident der Republik wurde zur Überraschung vieler kein Maronit, sondern Charles Debbas, ein frankophiler griechisch-orthodoxer Christ. Die Mandatsmacht erhoffte sich dadurch, die Unterstützung der bisher skeptischen griechisch-orthodoxen Gemeinschaft für das Projekt Libanon zu gewinnen und den Eindruck zu vermeiden, einseitig die Maroniten zu fördern. Außerdem erschien den Muslimen ein griechisch-orthodoxer Präsident wesentlich akzeptabler als ein Maronit. Der maronitische Patriarch Hoyek, der gefordert hatte, das höchste Staatsamt könne angesichts ihres numerischen und politischen Gewichts rechtmäßig nur den Maroniten zukommen, wurde mit dem Versprechen abgefunden, der nächste Präsident werde ein Maronit sein.40

Phönizier, Mittelmeervolk oder Araber? Das Projekt „Grand Liban“ war mit der Proklamation des Mandats und der Inkraft­ setzung der Verfassung Wirklichkeit geworden. Über die Identität des Landes und seiner Bewohner gab es aber weiterhin die verschiedensten Vorstellungen. Nicht nur zwischen Christen und Muslimen bestand keine Einigkeit darüber. Auch unter den Christen gab es mehrere Auffassungen von der Rolle des Libanon:41 1. Die Libanesen seien Nachkommen der Phönizier und hätten nichts mit den Arabern zu tun. Die Rolle des Libanon sei die eines Vermittlers zwischen dem Nahen Osten und dem Westen, ohne dass das Land der einen oder anderen Seite ganz zugehöre. 2. Die Libanesen gehörten zu den Arabern und hätten ein gemeinsames Schicksal mit ihnen. Überkommene Unterschiede müssten überwunden und der Libanon integraler Teil der arabischen Welt werden. Diese Position wurde mehrheitlich von den Griechisch-Orthodoxen und ihrer kirchlichen Hierarchie vertreten. 3. Der Libanon sei Rückzugsraum für religiös und ethnisch Verfolgte aus der Region. Um ihnen Schutz zu bieten sei Protektion durch eine europäische Macht erforderlich. Wir haben bereits gesehen, dass ein Teil der Maroniten diese Position vertrat. Auch westliche, meist französische, Missionare wünschten den Libanon zu einem sicheren Hafen für Christen zu machen und die traditionelle Rolle Frankreichs als Protektor der orientalischen Christen zu sichern.42 4. Da die Christen des Libanon weit fortschrittlicher seien als die übrige Bevölkerung der Region, solle sich der Libanon als vollen Teil der westlich-christlichen Welt 39 Hourani 1954:181–182; Kewenig 1965:72–73; Ammoun 1997:307. Zum Funktionieren des konfes­ sionellen Wahlsystems siehe Kewenig 1965:76–80. 40 Salibi 1965 p. 170; Ammoun 1997:310–313. 41 Zu den Positionen siehe Hourani 1954:133–135. 42 Bei der Aushandlung eines Vertrags zur Beendigung der französischen Mandatsherrschaft 1936 warfen diese Kreise Frankreich vor, seine „historischen Rechte“ und seine Verantwortung als Schutzmacht der orientalischen Christen aufzugeben. Solche Positionen wurden zum Beispiel in der Jesuitenzeitschrift al-Bašīr zum Ausdruck gebracht, die unter den europäisch gebildeten Christen des Nahen Ostens eine breite Leserschaft hatte. Rabbath 1973:423.

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beziehungsweise der Mittelmeerwelt verstehen und von der arabischen Welt abgrenzen. Muslime wurden in diesem Bild des Libanon potentiell als Gefahr gesehen. Dies war eine typische Position maronitischer Intellektueller, die kulturell stark von Frankreich geprägt waren. Im maronitischen Kernland des Libanon vertraten Émile Eddé (1936 bis 1941 Präsident des Libanon) und seine Anhänger diese Position. 5. Der Libanon sei die Brücke zwischen westlicher und arabischer Welt. Er müsse seine christliche Identität bewahren, ohne sich jedoch von der arabischen Welt abzusondern. Die Rolle des Libanon sei die eines Vermittlers westlicher Werte an die arabische Welt. Er müsse zwar eng mit dem Westen zusammenarbeiten, dürfe aber nicht zu seinem Klienten werden, sonst würde er sich der arabischen Welt entfremden. Im südlichen Teil des Mont Liban, wo Maroniten eng mit Drusen, aber auch Schiiten und Sunniten zusammenlebten, setzte sich diese Position vor allem in Kreisen um den maronitischen Politiker Béchara al-Khoury (Präsident von 1943 bis 1952) durch. Sie wurde prägend für den unabhängigen Libanon.43

Von der Krise des Grand Liban zum Nationalpakt Wie von manchen Kritikern befürchtet, geriet das Projekt des Grand Liban, der unter christlicher Führung stehen sollte, schon bald in die Krise. Die muslimischen Libanesen verlangten die Macht im Staat für sich. 1931 forderten Sunniten, Schiiten und Drusen auf einem muslimischen Kongress, dass das Amt des Staatspräsidenten einem Muslim zukommen müsse.44 Im Vorfeld der Wahl eines neuen Präsidenten, die für Mai 1932 vorgesehen war, kam es zum Machtkampf: der Sunnit Mohamed El-Jisr, Präsident der Abgeordnetenkammer, erklärte seine Kandidatur und ließ sich auch durch die Intervention des französischen Hochkommissars Henri Ponsot nicht davon abbringen. Das maronitische Patriarchat zeigte sich besorgt. Nach einem Treffen mit Patriarch Antoine Arida (1932–1955) setzte der Hochkommissar am 9. Mai 1932 kurzerhand die Verfassung außer Kraft und verlängerte per Verordnung die Amtszeit des bisherigen Präsidenten Charles Debbas. Aber damit war die Krise keineswegs überwunden. Die Maroniten waren zwar an der Festschreibung ihrer Führungsrolle im Staat, keineswegs aber an der Aussetzung der verfassungsmäßigen Ordnung interessiert. Der maronitische Erzbischof von Beirut, Ignace Mobarak, predigte an Ostern 1933 gegen die Außerkraftsetzung der Verfassung. Aber nur langsam setzte der Hochkommissar die Institutionen wieder ein. Anfang 1934 ließ er die Wahl einer neuen Abgeordnetenkammer zu. Den neuen Präsidenten, Nachfolger von Charles Debbas, ernannte der Hochkommissar aber selbst: Habib El-Saad, der Kandidat des maronitischen Patriarchen Antoine Arida. Das Parlament durfte erst im Januar 1936 wieder einen Präsidenten wählen. Allerdings tat der Hochkommissar alles dafür, dass Émile Eddé, ein enger Freund Frankreichs und 43 Salibi 1965:172–174. 44 Ammoun 1997:346.

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Gegner des arabischen Nationalismus, gewählt wurde. Dieser ernannte einen Sunniten zum Ministerpräsidenten und begründete somit eine Tradition, die später im Nationalpakt festgeschrieben werden sollte. Sie war insofern weitblickend, als sie den Sunniten, die weiterhin dem unabhängigen Libanon in seinen 1920 festgelegten Grenzen ablehnend gegenüberstanden, mehr Vertrauen in das politische System verschaffte.45 Der Libanon stand nun aber erneut vor der Frage, wie sein Verhältnis zu Frankreich aussehen sollte. Kreise um Erzbischof Mobarak hatten bereits seit einiger Zeit ein Ende des Mandats gefordert. An seine Stelle sollte ein Vertrag zwischen Frankreich und dem Libanon treten, der dem Libanon den Weg in die Unabhängigkeit aufzeigen und seine besonderen Beziehungen zu Frankreich regeln sollte. England hatte mit seinem Mandatsgebiet Irak bereits einen solchen Vertrag abgeschlossen. Auch in Syrien gab es Forderungen nach einem solchen Vertrag mit Frankreich. Vor diesem Hintergrund traf sich im Libanon die maronitische Bischofssynode zusammen mit den Ordensoberen und legte am 6. Februar 1936 dem Hochkommissar das sogenannte „Dokument von Bkerké“ vor, in dem folgendes gefordert wurde: der Erhalt des Libanon in seinen aktuellen Grenzen; die tatsächliche Unabhängigkeit und die Anerkennung der nationalen Souveränität sowie „brüderliche Beziehungen“ des Libanon zu Syrien; die Erarbeitung einer neuen demokratisch-parlamentarischen Verfassung, die den Libanesen aller Glaubensrichtungen die gleichen Freiheitsrechte einräumt; Abschluss eines Vertrags mit Frankreich sowie Eintritt des Libanon in den Völkerbund. Die Regierung unter Präsident Eddé und die Opposition, geleitet von Béchara El-Khoury, schlossen sich den Forderungen nach Aushandlung eines Vertrags zur Unabhängigkeit des Libanon an. In den Kreisen der Unionisten, die weiter für den Anschluss des Libanon an Syrien kämpften, löste dies allerdings Widerstand aus. Der Mufti der Republik verlangte eine Volksabstimmung über die Frage der Vereinigung mit Syrien. Im Oktober 1936 fand eine „Nationale islamische Versammlung“ mit Vertretern der Sunniten aus Beirut, Tripolis und Saida (Muʾtamar al-Sāḥil) statt, die sich für die Einheit mit Syrien aussprach.46 Die Syrische Nationalpartei des griechisch-orthodoxen Lehrers Antoun Saadé, die zahlreiche protestantische und orthodoxe Studenten der American University of Beirut, einige Schiiten und Drusen sowie Sunniten vereinte, forderte auf mehreren Demonstrationen ein unabhängiges Großsyrien und den Zusammenschluss des Libanon mit dem Nachbarland.47 Die öffentlichen Proteste von Muslimen und Anhängern der Syrischen Nationalpartei führten auf maronitischer Seite zur Gründung der Katāʾib, französisch: Phalanges libanaises, die unter Führung von Pierre Gemayel den For­ derungen der Unionisten durch die Organisation pro-libanesischer Demonstrationen entgegenzuwirken suchten.48 45 Salibi 1965:176–179; Rabbath 1973:393–395, 398; Ammoun 1997:349–351, 357–359, 363–365, 383–384. 46 Salibi 1965:179–180; Rabbath 1973:407–410; Ammoun 1997:369–375. 47 Salibi 1965:180; Rabbath 1973:420; Ammoun 1997:382. 48 Die Phalanges waren aus einem Jugendverband entstanden, der sich für einen freien und unabhängigen Libanon einsetzte. Sie waren zwar im Prinzip für Angehörige aller Religionsgemeinschaften

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Der Vertrag zwischen Frankreich und dem Libanon wurde zwar ausgehandelt und von der libanesischen Abgeordnetenkammer ratifiziert. Die Maroniten hatten sich erneut gegen die Sunniten und die Griechisch-Orthodoxen durchgesetzt. Auf französischer Seite wurde die Ratifizierung aber hinausgezögert und mit der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg obsolet.49 Der Zweite Weltkrieg führte zu erheblichen Versorgungsengpässen und drohte eine Hungersnot über den Libanon zu bringen. Angesichts von Demonstrationen in Beirut legten Präsident Eddé und Ministerpräsident Abdallah Beyhum am 4. April 1941 ihre Ämter nieder. Ihr politischer Spielraum unter dem Vichy-treuen Hochkommissar war ohnehin sehr gering. Per Verordnung wurde Alfred Naccache zum Präsidenten ernannt. Er blieb auch im Amt, als Truppen des Freien Frankreich (Exilregierung von General Charles de Gaulle) und Englands im Juni 1941 den Libanon und Syrien besetzten. Um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen hatte General Catroux beim Einmarsch am 8. Juni 1941 im Namen von Charles de Gaulles die Unabhängigkeit des Libanon und Syriens proklamiert. In der Praxis ließ diese allerdings auf sich warten. Dies war für die Libanesen nicht akzeptabel. Béchara El-Khoury organisierte den Widerstand. Dabei wurde er unterstützt vom maronitischen Patriarchat. Beim Weihnachtsempfang 1941 forderte Patriarch Antoine Arida die tatsächliche Unabhängigkeit des Landes, basierend auf dem Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gemeinschaften gemäß ihrer zahlenmäßigen Bedeutung.50 Im Anschluss an den Empfang formulierten die anwesenden Politiker, darunter Béchara El-Khoury, ein Manifest, in dem sie einmal mehr die Unabhängigkeit des Landes forderten und die Nichtigkeit aller Entscheidungen der aktuellen Regierung erklärten. Sie stehe nicht repräsentativ für das libanesische Volk. Eine legitime Regierung könne nur aus Parlamentswahlen hervorgehen.51 Wahlen wurden von General Catroux aber erst auf massiven britischen Druck hin angesetzt. Vorbereitend wurde im März 1943 Präsident Naccache zum Rücktritt gezwungen und der Protestant Ayoub Tabet als Präsident eingesetzt. Das vorgelegte Wahlgesetz rief jedoch den Widerstand der Muslime hervor, da es das Wahlrecht für Auslandslibanesen vorsah, die meisten von ihnen Christen.52 Das am 17. Juni proklamierte Dekret zum Wahlverfahren sah eine Abgeordnetenkammer mit 32 Sitzen für offen, die sich dem Ziel eines selbständigen Libanon verbunden fühlten, waren in der Praxis aber von Maroniten geprägt, meist solchen, die in jesuitischen Schulen ausgebildet worden waren. Ihr wichtigster Gegenspieler wurde die pan-arabisch orientierte muslimische Organisation al-Naǧǧāda, eine Art muslimische Pfadfinderbewegung, die für die Belange der Muslime im Libanon eintrat. Hourani 1954:198; Salibi 1965:181; Rabbath 1973:421–422. 49 Salibi, 1965:181–182; Rabbath 1973, 410–419; Ammoun 1997:376–381. 50 „Nous voulons une indépendance fondée sur lʼégalité des droits, de telle sorte que chaque communauté puisse obtenir ses droits en proportion de son importance.“ Zitiert bei Rabbath 1973:446–447. 51 Salibi 1965:185–186; Rabbath 1973:446–447; Ammoun 1997:416–418. 52 Nach dem Zensus von 1932 waren 82 Prozent der Auslandslibanesen, die sich für den Beibehalt der libanesischen Staatsbürgerschaft entschieden hatten, Christen; die Maroniten allein machten 50 Prozent aus. Zwischen 1937 und 1939 nahmen knapp 160.000 Auslandslibanesen die Staatsbürgerschaft gemäß Artikel 34 des Vertrags von Lausanne an, 84 Prozent davon Christen, auch hier machten allein die Maroniten fast 60 Prozent aus. Betts 1978:77–78.

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die Christen und 22 Sitzen für die Muslime vor. Die Reaktion sunnitischer Politiker war erneut ablehnend. Catroux forderte schließlich Tabet zum Rücktritt auf und ernannte an seiner Stelle den Griechisch-Orthodoxen Petro Trad zum Präsidenten. Ihm gelang ein Kompromiss bezüglich der Sitzverteilung: 30 für die Christen und 25 für die Muslime. Die Wahlen wurden für den 20. August und 5. September 1943 angesetzt.53 Das neu gewählte Parlament wählte am 21. September 1943 Béchara El-Khoury zum Präsidenten. Béchara El-Khoury stand für die Kooperation des Libanon mit der arabischen Welt und die Überwindung seiner Isolation. Khoury ernannte den Sunniten Riad El-Solh zum Ministerpräsidenten einer Regierung, in der alle großen Gemeinschaften des Libanon vertreten waren. Allerdings kam es nun zum offenen Konflikt mit Frankreich. Die Regierung von Charles de Gaulle erwartete, dass alle weiteren Schritte mit ihr abzustimmen seien. Khoury und Riad El-Solh dagegen beriefen sich auf die Proklamation der Unabhängigkeit des Libanon durch General Catroux, die nicht an Bedingungen oder einen franko-libanesischen Vertrag geknüpft seien. Dementsprechend stellte Riad El-Sulh in einer Rede, die eng zwischen ihm und Béchara El-Khoury abgestimmt war, das Konzept vor, das später als „Nationalpakt“ bekannt werden sollte: Kern der Rede war die Berufung auf die vollständige Unabhängigkeit des Libanon. Diese sollte nicht durch eine westliche Macht garantiert sein. Gleichzeitig wurde auf die Vereinigung mit arabischen Staaten verzichtet. Riad El-Solh kündigte ferner die Überarbeitung der Verfassung an, mit dem Ziel, alle Artikel zu streichen, die einer vollständigen Unabhängigkeit im Weg stünden. Mit der Formel des Nationalpakts hatten Maroniten und Sunniten eine Basis für die Zusammenarbeit in einem unabhängigen Großlibanon gefunden. Beide Seiten verzichteten auf eine ihrer bisherigen Kernforderungen: die Maroniten auf die Protektion durch Frankreich, die Sunniten auf die Vereinigung mit Syrien. Ergänzt wurde diese Formel durch die Bekräftigung des Proporzsystems. Dies sollte das Gleichgewicht zwischen den Religionsgemeinschaften sicherstellen. Alle Staatsämter sollten an die wichtigsten Gruppen des Landes verteilt werden: das Amt des Staatspräsidenten an einen Maroniten, das des Regierungschefs an einen Sunniten, das des Parlamentspräsidenten an einen Schiiten.54 Für den Moment schien dies eine tragfähige Lösung zu sein. In der weiteren Geschichte sollte sie aber noch zahlreichen Prüfungen unterzogen werden.55 Die französische Mandatsmacht reagierte ablehnend auf die Ankündigung der Verfassungsrevision. Die dafür vorgesehene Parlamentssitzung versuchte sie zu verhindern, jedoch ohne Erfolg. Die Änderungen an der Verfassung wurden am 9. November von Präsident El-Khoury unterzeichnet und traten damit in Kraft. Am 11. November setzte der französische Generaldelegat Jean Helleu per Verordnung die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf, ließ Präsident El-Khoury, den Ministerpräsidenten 53 Salibi 1965:186–188; Ammoun 1997:433–436. 54 Die Maroniten sicherten sich zudem die einflussreichsten Posten in Regierung und Sicherheitsapparat: den des Oberkommandierenden der Armee, des Chefs der Sûreté Générale, des Außenministers sowie die wichtigsten Botschafterposten in der westlichen Welt. 55 Hourani 1954:296–298; Valognes 1994:651, 655.

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und die meisten Minister verhaften und erklärte Émile Eddé zum Staatschef. Dieser akzeptierte, doch auf der Straße formierte sich Protest. Der Libanon stand nun weitgehend geeint gegen Frankreich. Die Regierung von Charles de Gaulle in Algier ent­ sandte erneut General Catroux nach Beirut. Dieser konsultierte verschiedene Politiker und begab sich nach Bkerké, wo ihm der Patriarch und die anwesenden Bischöfe ihre Sympathie gegenüber Frankreich versicherten, aber die sofortige Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung verlangten. Angesichts der Proteste auf den Straßen (einer der führenden Kirchenleute, die dazu aufriefen, war erneut Ignace Mobarak) und unter dem Druck Großbritanniens setzte Catroux schließlich am 23. November Präsident und Ministerpräsident wieder in ihre Ämter ein. Damit wurde der Libanon, nun auch von französischer Seite anerkannt, ein unabhängiges Land.56

Das Schicksal des Nationalpakts bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs Die Amtszeit von Präsident Béchara El-Khoury war turbulent. Die Wahlen von 1947 waren von massiven Fälschungen überschattet. Das neu konstituierte Parlament beschloss dennoch, seine Arbeit aufzunehmen. Der maronitische Erzbischof von Beirut, Ignace Mobarak, protestierte dagegen und rief zum zivilen Ungehorsam auf. Er wurde allerdings auf Drängen der Regierung von seinem Patriarchen, Antoine Arida, zur Mäßigung aufgefordert. Das neu gewählte Parlament beschloss schließlich eine Verfassungsänderung zugunsten von Präsident Béchara El-Khoury und bestimmte ihn noch vor Ablauf seiner ersten Amtszeit im Mai 1948 für ein zweites Mandat. Proteste gegen Korruption und Wahlfälschung und ein Generalstreik führten aber schließlich zum Rücktritt von El-Khoury im September 1952. Sein Nachfolger wurde Camille Chamoun, der eine dezidiert pro-maronitische Politik verfolgte.57 Der Aufstieg Gamal Abdel Nassers in Ägypten und seine Popularität in den anderen arabischen Ländern brachte den Libanon erneut in ein Dilemma: viele Sunniten blickten nach Ägypten und waren fasziniert vom Arabismus des ägyptischen Präsidenten. Auf der anderen Seite bot der US-Präsident mit der Eisenhower-Doktrin 1957 wirtschaftliche und militärische Unterstützung für die Länder des Nahen Ostens an, die sich dem Kommunismus, dem Nasser zuneigte, widersetzten. Präsident Camille Chamoun und die Regierung von Sami El-Solh erklärten sich für die Eisenhower-Doktrin. Im März wurde das Abkommen mit den USA unterzeichnet. Die Opposition kritisierte das Abkommen. Sie beklagte den Bruch des Nationalpakts, der besagte „weder Orient noch Okzident“. Durch das Abkommen mit den Vereinigten Staaten sahen sie den Libanon nun doch dem Schutz einer westlichen Macht unterstellt. Die Opposition bestand bei weitem nicht nur aus Anhängern Nassers und der sunnitischen Muslime, auch einflussreiche christliche Politiker fanden sich unter den Kritikern der Eisenhower-Doktrin. Selbst der maronitische Patriarch Pierre-Paul Méouchy (1955–1975) 56 Salibi 1965:189–190; Rabbath 1973:452–469; Ammoun 1997:439–483. 57 Salibi 1965:193–95; Ammoun 2004:112–121.

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ergriff Partei für die Opposition und wurde dafür von Vertretern der Maroniten, die zum größten Teil hinter der Politik von Camille Chamoun standen, heftig kritisiert. In einem Zeitungsinterview erklärte Méouchy am 20. April 1958 er sehe, „keinerlei Vorteil durch die Anwendung dieser Doktrin“ und forderte für den Libanon „eine Haltung der strikten und effektiven Neutralität“ bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zur arabischen Welt.58 Der melkitische Patriarch Maximos Sayegh (1947–1967) erklärte im Juni auf der gleichen Linie: „Wir sind der Meinung, dass der Libanon immer eine Politik der vollständigen Unabhängigkeit verfolgen muss, ohne mit einem anderen Land zu fusionieren, dabei aber die herzlichsten Beziehungen mit allen Ländern der Welt unterhält, vor allem mit den arabischen Nachbarländern.“59 Die Opposition schloss sich im Front dʼunité nationale (FUN) zusammen und bereitete sich auf die bevorstehenden Parlamentswahlen vor. Auf Seiten Chamouns standen die Phalanges libanaises von Pierre Gemayel, wie überhaupt die Mehrheit der Christen im Matn und Keserwan die pro-amerikanische Politik Chamouns unterstützte. Selbst der Drusenführer und Chef des Parti socialiste progressiste, Kamal Joumblatt, sprach sich für die Eisenhower-Doktrin aus. Von einer Spaltung entlang konfessioneller Linien kann also nicht die Rede sein. Die Wahlen spielten sich in einer Atmosphäre von Protesten und zunehmender Gewalt ab. Am Wahltag kam es in Miziara im Norden des Landes zu einer Schießerei zwischen den rivalisierenden Parteien während eines Trauergottesdienstes. 25 Tote und 30 Verletzte waren zu beklagen. Präsident Chamoun erhielt bei den Wahlen für seine Anhänger im Parlament zwar die erhoffte Mehrheit, sah sich aber dem Vorwurf der Wahlfälschung ausgesetzt. Im November 1957 beschloss die syrische Nationalversammlung die Vereinigung des Landes mit Ägypten. Am 1. Februar 1958 erfolgte die Gründung der Vereinigten Arabischen Republik. Dies war für die Anhänger Chamouns erneut Anlass zur Sorge, da es der Diskussion um eine Beteiligung des Libanon an dem Projekt neue Nahrung gab. Patriarch Méouchy erklärte dazu, „der souveräne, unabhängige und freie Libanon“ müsse seine Zusammenarbeit sowohl mit dem Westen als auch mit der arabischen Welt fortsetzen.60 Auf der anderen Seite sprachen sich sunnitische Politiker für den Anschluss an die Vereinigte Arabische Republik aus. Tausende Libanesen pilgerten nach Damaskus, um ihre Solidarität mit dem pan-arabischen Projekt zu bekunden. In dieser Situation kamen Gerüchte auf, Präsident Chamoun, dessen Amtszeit im September 1958 ablief, denke darüber nach, sich durch eine Verfassungsänderung ein zweites Mandat zu ermöglichen. Die Spaltung wurde immer tiefer, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern waren an der Tagesordnung. Die Ermordung eines (christlichen) oppositionellen Journalisten am 8. Mai 1958 brachte das Pulverfass 58 POC 8 (1958):186. 59 „Nous considérons que le Liban doit toujours suivre une politique de complète indépendance sans qu’il fusionne avec un autre pays, mais tout en entretenant les relations les plus cordiales avec tous les pays du monde, en particulier avec les pays arabes voisins.“ POC 8 (1958):192–193. 60 POC 8 (1958):90.

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schließlich zur Explosion. Im Chouf griff die Opposition unter Kamal Joumblatt zu den Waffen, im sunnitischen Norden führte Rachid Karamé die Kämpfer an, in West-Beirut Saeb Salam.61 Straßensperren wurden aufgebaut. Mehr als die Hälfte des Landes stand nicht mehr unter der Kontrolle der Regierung. Rücktrittsforderungen wurden an den Präsidenten gestellt. Chamoun lehnte dies ab und wies General Fouad Chéhab an, die Armee einschreiten zu lassen. Dieser weigerte sich unter Verweis auf die konfessionelle Zusammensetzung des Militärs; ein solcher Befehl würde die Streitkräfte zerreißen. Camille Chamoun konnte sich nur auf die Phalanges Libanaises von Pierre Gemayel stützen. Aber auch der maronitische Patriarch Méouchy sprach sich gegen eine Verlängerung des Mandats von Chamoun aus.62 Dem Präsidenten blieb nur, sich unter Verweis auf die Eisenhower-Doktrin an die USA zu wenden. Diese zögerten zunächst, militärische Unterstützung zu gewähren. Nach dem blutigen Aufstand gegen das monarchische System von König Faisal im Irak griffen sie aber doch ein, offenbar aus Furcht vor dem Wechsel des Libanon in das Lager von Nasser. Am 15. Juli 1958 gingen in Beirut Marinesoldaten von Bord, womit die Kämpfe zwischen den beiden libanesischen Lagern sofort endeten. Angesichts der Absichten Nassers war Chamoun für viele Christen der Retter des Libanon. Für viele Muslime dagegen blieb er zusammen mit seinem Außenminister Charles Malek als der Mann in Erinnerung, der den Libanon zum Vasallen des amerikanischen Imperialismus gemacht hatte. Der Nationalpakt drohte zu brechen.63 Ende Juli wählte das Parlament General Fouad Chéhab zum Nachfolger von Camille Chamoun. Ihm fiel die Aufgabe zu, das Land zu versöhnen. Ein erstes Kabinett, nach der Amtseinführung am 23. September 1958 ernannt, scheiterte nach wenigen Wochen, weil es zu sehr den Anstrich der Opposition gegen Chamoun und seine Politik trug. Chéhab setzte ein Kabinett der „nationalen Rettung“ ein, bestehend aus Vertretern der ehemaligen Opposition und Anhängern Chamouns; zwei Sunniten und zwei Maroniten, entgegen der üblichen Repräsentation der unterschiedlichen Gemein­schaften des Landes. Die Einsetzung des Kabinetts hatte den gewünschten Erfolg: der Streik endete, die Straßensperren wurden abgebaut. Ein Slogan machte die Runde, der sich einige Jahrzehnte später wiederfinden sollte: „Kein Sieger und kein Verlierer!“ (lā ġālib wa-lā maġlūb). Am 25. Oktober bat der Außenminister die USA um den Rückzug der Marines unter Beibehaltung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Die amerikanischen Soldaten zogen ab. Dann wurde der Ausstieg des Libanon aus der Eisenhower-Doktrin verhandelt. Man kam zu einem für beide Seiten zufriedenstel61 Die Armenier in Beirut waren gespalten: Die Parteien Dashnak und Ramgavar sowie die armenischen Katholiken unterstützten Präsident Chamoun. Der Hnchak kämpfte auf Seite seiner Gegner. Bei innerarmenischen Kämpfen waren über 50 Tote zu beklagen. Libaridian 1979:48–50; Kuderna 1983:342–343. 62 POC 8 (1958):187, 277. 63 Salibi 1965:198–203; Kewenig 1965:116–133; Rabbath 1973:536–542; Betts 1978:192–195; Ammoun 1994:228–258.

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lenden Ergebnis. Der libanesische Außenminister erklärte die Eisenhower-Doktrin für gegenstandslos, hieß aber gleichzeitig die nicht an Bedingungen geknüpfte amerikanische Wirtschaftshilfe willkommen. Auf der anderen Seite wurden die diplomatischen Beziehungen mit der Vereinigten Arabischen Republik wiederaufgenommen. Ein Treffen zwischen den Präsidenten Chéhab und Nasser am 25. März 1959 führte schließlich zu einer definitiven Verständigung: Der Libanon stellte sich nicht gegen die VAR, ging aber auch keine Allianz mit ihr ein. Die VAR akzeptierte die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität des Libanon und mischte sich nicht in dessen innere Angelegenheiten ein. Die Vereinbarungen des Nationalpakts waren wieder hergestellt; die Politik der Regierung hatte das Gleichgewicht zwischen den arabischen Ländern und dem Westen wiedergefunden.64

Der Bürgerkrieg: Kampf der Maroniten um ihr Land Überblick Der Bürgerkrieg stellte den Libanon und seine Christen vor eine Zerreißprobe. Der Riss ging bis tief in die einzelnen Gemeinschaften hinein, vor allem bei den Maroniten. Seit Beginn der 1970er Jahre stellte sich die Frage nach der Legitimität des palästinensischen Widerstands von libanesischem Boden aus. Die israelischen Gegenschläge hatten die Gefahr vor Augen geführt, der der Libanon dadurch ausgesetzt war. Ein sogenanntes arabisches Lager, geführt von Drusenführer Kamal Joumblatt und nach dessen Ermordung 1977 von seinem Sohn Walid, in dem sich auch die Mehrzahl der griechisch-orthodoxen und viele melkitische Christen wiederfanden, unterstützte die palästinensische Seite. Die meisten Maroniten dagegen fürchteten, die zunehmende Macht der Palästinenser im Libanon könnte die Autorität der staatlichen Institutionen untergraben und somit auch die Führungsrolle der Maroniten im Libanon beenden. In ihrer eigenen Führungsrolle sahen sie die Garantie für den Fortbestand eines Libanon, der für Christen ein sicherer Hafen im Nahen Osten war. In der maronitischen Gemeinschaft, sahen sie die raison dʼêtre des Libanon, in ihrer Rhetorik verwendeten sie Begriffe wie die Verteidigung der Freiheit der Christen des Libanon und ihrer Sicherheit, die Zurückweisung des ḏimma-Status, die Verteidigung der Präsenz der 64 Salibi 1965:203–204; Ammoun 2004:261–293. Am 31. Dezember 1961 versuchten Anhänger und Mitglieder der Syrischen Volkspartei (PPS) einen Putsch mit dem Ziel, den Libanon nach dem Ende der VAR doch noch in einen großsyrischen Staat zu führen. Die PPS hatte weiterhin einige Anhänger in den Reihen der Offiziere. Der Putsch scheiterte jedoch nach wenigen Stunden. Ammoun 2004:328– 340. Präsident Chéhab war auch innenpolitisch bemüht, das Gleichgewicht zwischen Christen und Muslimen wiederherzustellen. Mit dem Gesetzesdekret 112 von 1959 wurde unter Verweis auf Artikel 95 der Verfassung festgelegt, dass alle öffentlichen Ämter je zur Hälfte an Christen und Muslime zu vergeben seien. Damit wurde eine Verfassungsbestimmung, die ausdrücklich als Übergangslösung gedacht war („à titre transitoire …“) verstetigt in der Absicht, die Konflikte zwischen den beiden Seiten abzubauen. Ammoun 2004:296.

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Christen im Nahen Osten. Unter diesem Eindruck bildete sich unter den Maroniten eine extreme Haltung heraus, die für einen christlichen Kleinstaat im maronitischen Kernland nördlich von Beirut eintrat. Dafür waren sie bereit, die nationalen Institutionen zu opfern und sich weitgehend von ihren muslimischen Nachbarn zu isolieren. Kirchlicherseits waren die Mönche des Ordre libanais maronite (OLM) führende Vertreter dieser Richtung. Mit der Université de Kaslik gaben sie sich ein intellektuelles Zentrum. Aber nicht alle Maroniten teilten diese Haltung. Eine zweite Fraktion trat für den Erhalt des libanesischen Staats ein, allerdings weiterhin unter eigener Führung. Sie wurden als „Legalisten“ bezeichnet. Das maronitische Patriarchat sah sich einem Balanceakt ausgesetzt. Einerseits wollte es angesichts der tiefen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Maroniten nicht für eine Seite Partei ergreifen. Andererseits hielt die maronitische Kirche immer am Bestand des Libanon, seinen staatlichen Organen und am Zusammenleben von Christen und Muslimen fest. Zu eng war das Projekt „Grand Liban“ mit dem Namen von Patriarch Elias Hoyek verbunden. Außerdem warnten sie vor einer dauerhaften Isolierung der Maroniten. Der extremistische Teil der Maroniten fühlte sich daher von seiner Kirchenführung immer weniger verstanden und vertreten. Anders als die Maroniten setzten die griechisch-orthodoxen Christen des Libanon und die Mehrzahl der katholischen Melkiten auf die Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen. Ein christlicher Kleinstaat oder eine autonome christliche Provinz waren für sie keine Lösung. Die extremen Vorstellungen eines Teils der Maroniten machten ihnen Angst. Sie befürchteten, dass das Zusammenleben mit den Muslimen dauerhaft beschädigt werden könnte. Die Patriarchen der beiden Kirchen, die in Damaskus residierten und zahlreiche Gläubige auch in Syrien vertraten, mussten zudem politisch die Balance zwischen den Interessen ihrer Gläubigen im Libanon und den politischen Erwartungen Syriens finden. Die Armenier bemühten sich, eine „positive Neutralität“ zu wahren, die Katholikos Karekin Sarkissian als „positives, nicht-militärisches Engagement“ beschrieb, um den Ausdruck Neutralität, der in der Gefahr stand, als Indifferenz verstanden zu werden, zu vermeiden. Die armenischen Milizen dienten daher auch nur der Verteidigung der armenischen Wohnbezirke. Die Allianzen wechselten während des 15-jährigen Bürgerkriegs häufig. Zwar zeichneten sich darin immer wieder auch religiöse Lager ab, diese waren aber nie von großer Dauer. Insgesamt lässt sich nicht von einem religiösen Konflikt sprechen. Das extremistische maronitische Lager gab zwar immer wieder vor, für die „Christen des Libanon“ zu sprechen, viele Christen fühlten sich von ihm aber gar nicht vertreten. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen maronitischen Milizen zeigen die tiefe Spaltung der Maroniten, die bis zur Bereitschaft eines Teils zur Zusammenarbeit mit Israel reichte. Allianzen mit Syrien gingen die maronitischen Milizen je nach äußeren Umständen ein und beendeten sie wieder. Nur mit den Palästinensern, deren zunehmender Einfluss am Anfang des Bürgerkriegs stand, gingen sie nie ein Bündnis ein. Bei den Kämpfen waren Christen sowohl Opfer (Racheakte der Palästinenser zu Beginn des Konflikts, Artilleriebeschuss des christlichen Kernlands

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durch die Syrer, Vertreibung aus dem Chouf durch die Drusen) als auch Täter (Auslöschung der Palästinenserlagers Tel el-Zaatar, Massaker an Palästinensern in Sabra und Chatila). Gleiches gilt für Morde an Straßensperren und Entführungen. Die Reform der Institutionen und die Überwindung des starren konfessionalistischen Systems wurden immer wieder als Lösungsansatz in den Konflikt eingebracht. Dies erwies sich jedoch als ausgesprochen schwierig, weil jede Seite vermutete, dass die anderen sich durch ihre Vorschläge nur eigene Vorteile im neuen System verschaffen wollten. Eine glaubwürdige Vermittlungsinstanz, die einen unabhängigen Vorschlag hätte einbringen können, gab es nicht. Syrien versuchte mehrfach, eigene Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen, ist damit aber immer am erbitterten Widerstand der beiden maronitischen Lager (sowohl der „Extremisten“ als auch der „Legalisten“) gescheitert. Auf den folgenden Seiten wird der Fortgang der Ereignisse beschrieben. Dabei ist keine vollständige Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs angestrebt. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Beteiligung christlicher Akteure und der Reaktion der Kirchenführungen auf die Ereignisse. Die Darstellung mag teilweise sehr detailliert erscheinen. Vieles ist aber notwendig zum Verständnis, warum der Weg zum Frieden so schwierig war und warum libanesische Christen heute, im Angesicht des syrischen Bürgerkriegs, so reagieren, wie es im Kapitel über die Situation in der Gegenwart dargestellt ist.

Christen und Palästinenser: Der Weg in den Bürgerkrieg Der Juni-Krieg 1967 zwischen Israel und den arabischen Ländern brachte für den Libanon ein neues existentielles Problem. Zwar hatte das Land eine Kriegserklärung an Israel vermieden und war nicht an den Kämpfen beteiligt. Ab 1967 strömten aber immer mehr bewaffnete palästinensische Kämpfer, Fedajin (von arabisch fidāʾiyīn), in den Libanon, um vom Süden aus Operationen gegen Israel durchzuführen. In den muslimischen Regionen sowie in den linken Parteien waren die Sympathien für das palästinensische Volk und die Fedajin groß. Auf Seiten der christlichen Parteien von Camille Chamoun, Raymond Eddé und Pierre Gemayel fürchtete man dagegen, in einen arabisch-israelischen Konflikt hineingezogen zu werden. Präsident Charles Hélou und die Regierung standen vor dem Dilemma, einerseits die pro-palästinensischen Sympathien berücksichtigen zu müssen, die sich in zahlreichen Kundgebungen und der linken Presse manifestierten, und andererseits die zunehmende militärische Stärke und Gewaltbereitschaft der Fedajin in Betracht zu ziehen und die Sicherheit des Landes zu garantieren. Eine israelische Blitzoperation, in der eine Kommandoeinheit am 28. Dezember 1968 einen großen Teil der zivilen libanesischen Flugzeuge auf dem Flughafen von Beirut zerstörte, führte dem Land vor Augen, wie machtlos es gegen das israelische Militär war. Mit seinen 12.000 Soldaten war der Libanon weder in der Lage, das Eindringen von palästinensischen Kämpfern nach Israel zu verhindern noch das Land vor israelischen Operationen zu schützen.

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Dennoch wurden die Forderungen, die Fedajin gewähren zu lassen, immer lauter. Bei Demonstrationen kam es zu Gewalt mit zahlreichen Toten und Verletzten. Die Regierung wurde zwischen den Forderungen von Sympathisanten und Kritikern der Fedajin handlungsunfähig. Im Oktober 1969 forderte ein von der Fatwa-Behörde einberufener Allgemeiner Islamischer Kongress das Ende aller militärischen Maßnahmen gegen die Fedajin und volle Handlungsfreiheit für den palästinensischen Widerstand. Einen Tag später schloss sich eine Delegation von Bischöfen (Joseph Khoury, maronitisch; Ghofrail Saliby, griechisch-orthodox; Grégoire Haddad, melkitisch; und Ephrem Jarjour, syrisch-katholisch) den Forderungen an und erklärte, es gäbe keinerlei Spaltung zwischen den Konfessionen mit Blick auf die Legitimität der Aktionen der Fedajin. Die Bischöfe verwiesen aber auch auf die nationale Souveränität des Libanon.65 Der melkitische Patriarch Maximos V. Hakim, vormals Bischof von Haifa, trat im Ausland immer wieder öffentlich für die „gerechte Sache der Palästinenser“ ein, hielt sich aber mit Äußerungen im Libanon zum Problem der Fedajin zurück. Die melkitische Synode; bestehend aus den Bischöfen des gesamten Nahen Ostens (und der Diaspora), veröffentlichte im August 1971 ein sehr vorsichtiges Kommuniqué, in dem die Aufmerksamkeit der Christen weltweit auf die Frage des Heiligen Landes gezogen und an das christliche Gewissen angesichts der „schweren Prüfung“ appelliert wurde.66 Das Exekutivkomitee der melkitischen Gemeinschaft im Libanon überreichte dagegen am 17. Juni 1970 dem Premierminister ein Memorandum, in dem es hieß, der palästinensische Widerstand habe zwar die notwendige weltweite Aufmerksamkeit für die Palästinafrage gebracht, die Kommandoaktionen der Fedajin verletzten jedoch eklatant die Souveränität und Sicherheit des Libanon. Die Unterzeichner forderten die palästinensischen Kämpfer auf, ihre von libanesischem Boden ausgehenden Aktionen einzustellen. Diese führten nur zu Zerstörungen im Libanon, ohne einen tatsächlichen Gewinn für die palästinensische Sache zu bringen.67 Die Zusammenstöße zwischen libanesischer Armee und palästinensischen Kämpfern nahmen auch nach der Wahl von Sleiman Frangié zum Präsidenten 1970 weiter zu. Hinzu kamen israelische Vergeltungsschläge für Angriffe der Fedajin aus dem Liba­non heraus. Das Land wurde zwischen den sich widersprechenden Forderungen quasi unregierbar. Im Mai 1973 ging die libanesische Armee schließlich rigoros gegen bewaffnete Palästinenser in den Lagern vor. Das erklärte Ziel von Präsident Frangié war nicht die Vertreibung der palästinensischen Widerstandskämpfer, wie in Jordanien 1970 geschehen, sondern die Durchsetzung der nationalen Souveränität des Libanon und seiner staatlichen Organe. Aber die Operation wurde abgebrochen zur größten Zufriedenheit der libanesischen Linken, geführt von Kamal Joumblatt, und breiter sunnitischer Kreise. Viele Christen, allen voran Pierre Gemayel und seine Phalanges libanaises, zeigten sich dagegen enttäuscht und sahen den Staat und seine Autorität am Ende. 65 Ammoun 2004:410–446; POC 19 (1969):385–386. 66 De Bar 1983:67–68. 67 De Bar 1983:69.

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Sie witterten eine Gefahr für den Bestand des Libanon. Ihre Schlussfolgerung war, dass sie eigene paramilitärische Einheiten aufbauen müssten, um das Vakuum zu füllen, das die Unfähigkeit des Staats und der Armee hinterließen.68 Am 13. April 1975 brachten Schüsse auf die Menschenmenge bei der Einweihung einer Kirche in Ain el-Remmaneh das Pulverfass schließlich zur Explosion. Man vermutete Fedajin hinter dem Anschlag, so dass bewaffnete Bewohner von Ain el-Remmaneh zusammen mit Milizionären der Phalanges noch am selben Tag einen Bus mit palästinensischen Kämpfern angriffen. 27 Tote waren zu beklagen, alles Palästinenser. Die Lage eskalierte. In Beirut und andernorts wurden Straßensperren aufgebaut, Passanten nach Sichtung ihres Ausweises aufgrund ihrer Konfession kaltblütig ermordet (so am 30. Mai in West-Beirut, wo 24 Christen getötet und Hunderte gefoltert und verstümmelt wurden). Überall flammten Kämpfe zwischen Fedajin und Phalanges auf, Entführungen und Gegen-Entführungen zum Freipressen von Gefangenen versetzten das Land in Angst und Schrecken. Der schiitische Führer Moussa Sadr rief zwar Ende April eindringlich zum Frieden auf, blieb aber ungehört. Die als besonders palästinenserkritisch geltenden maronitischen Mönche Boutros Azzi und Boulos Naaman trafen zur Lösung der Krise sogar mit Yasser Arafat und weiteren Palästinenserführern zusammen, jedoch ohne konkretes Ergebnis.69 Am 23. April 1975 gab die Konferenz der maronitischen und melkitischen Ordens­ oberen eine Erklärung heraus, in der die Ordensleute die allgemeine Anarchie bedauerten und die Entwaffnung der libanesischen Bevölkerung ablehnten, solange die Palästinenser nicht ihre Waffen abgegeben hätten. Sie erklärten ihre „Unterstützung für die Phalanges und jede andere Partei, Bewegung oder Sammlung, die die gleiche libanesische Ideologie wie die Kataëb teilen und die Verteidigung des Libanon übernehmen.“ Erster Unterzeichner war der Ordensobere des Ordre libanais maronite, Charbel Kassis.70 Am 27. April forderten die maronitischen Bischöfe in einem Kommuniqué die Regierung auf, „ihre Souveränität auf dem gesamten Territorium auszuüben“ und Recht und Gesetz „ohne Unterschied durchzusetzen, um die Sicherheit zu garantieren“.71 Die katholischen Patriarchen und Bischöfe des Libanon riefen dagegen zur Besonnenheit auf. Sie legten am 22. Juli 1975 eine eingehende Analyse der politischen und sozialen Situation des Landes vor und stellten eine Reihe von Forderungen auf: die Palästinenser, die natürlich das Recht hätten, ihre Heimat wiederzugewinnen, müssten die Souveränität und die Sicherheit ihres Gastlandes respektieren; die Regierung müsse sich stärker für die Entwicklung der unterentwickelten Gebiete des Landes einsetzen und die Vermögenden ihrer finanziellen Verantwortung gegenüber dem Staat und den Armen gerecht werden; niemand dürfe sich in konfessionelle Blocks zurückziehen, 68 Ammoun 2004:520–521. 69 Ammoun 2004:537–554. 70 „appui aux Phalanges et à tout autre parti, mouvement ou rassemblement qui partage la même idéologie libanaise des Kataëb et assume la défense du Liban.“ POC 25 (1975):347. 71 POC 25 (1975):347.

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stattdessen müssten die staatlichen Institutionen gestärkt werden. Der Nationalpakt und die proportionale Verteilung der Ämter behalte weiter seine Bedeutung, solange keine bessere Lösung gefunden sei, die allen gerecht werde.72 Die Synode der griechisch-orthodoxen Bischöfe bekannte sich im August 1975 in einem Hirtenbrief zum politischen Pluralismus, verurteilte den Isolationismus bestimmter christlicher Kreise, betonte den arabischen Charakter der orthodoxen Kirche und rief zur Unterstützung der palästinensischen Sache auf.73

Milizen und Allianzen Angesichts der Ereignisse formierten sich ab 1975 konfessionelle und politische Milizen: Auf Seiten der Schiiten Amal (Afwāǧ al-muqāwama al-lubnāniyya, Libanesische Widerstandseinheiten) als Miliz von Moussa Sadr. Auf Seiten der Maroniten die Katāʾib (Phalanges) von Pierre Gemayel als stärkste und einflussreichste Gruppe, daneben die Miliz des Parti national libéral (PNL) von Camille Chamoun, Marada von Tony Frangié in Zghorta (Nordlibanon) sowie einige kleine, teilweise extremistische Gruppen wie die Gardiens du cèdre und Tanzim. Militärisch arbeiteten die Milizen der Katāʾib, PNL, Gardiens du cèdre, Tanzim und seit 1979 die Ligue syriaque in den Forces libanaises zusammen. Politisch unterstanden sie dem Front libanais, bestehend aus den Katāʾib, dem PNL und dem Ordre libanais maronite (OLM, geführt von Charbel Kassis, seit 1980 von Boulos Naaman). Sie verstanden sich als die wahren Vertreter der Christen, die religiösen Führer würden deren Interessen nicht in ausreichendem Maße verteidigen. So bezeichnete Bachir Gemayel seinen Vater Pierre und Camille Chamoun einmal als die „wahren Patriarchen“ (véritables patriarches).74 Auf Seiten der Linken entstand die Miliz des Drusenführers Kamal Joumblatt; daneben kleine bewaffnete Gruppen der Kommunistischen Partei (PCL), des Parti syrien nationaliste et social (PSNS) und der Organisation de lʼAction communiste au Liban (OACL). Sie arbeiteten unter dem Dach des Mouvement national libanais (MNL) zusammen und wurden von den Palästinenserorganisationen unterstützt und ausgebildet.75 Die Palästinenser verfügten ihrerseits über die Milizen der Fatah, der Ṣāʿiqa (unter syrischer Führung), der Palästinensischen Befreiungsfront, der Volksfront zur Befreiung Palästinas und einige vom Irak unterstützte Kämpfer.76 Politisch standen sich zwei Lager gegenüber: ein wirtschaftsliberales Lager, das sich für den Fortbestand des konfessionellen Proporzsystems gemäß dem Nationalpakt von 1943 aussprach. Hauptvertreter dieses Lagers waren die Phalanges von Pierre Gemayel. Es war somit stark maronitisch geprägt. Auf der anderen Seite das soge72 POC 25 (1975):300–306. 73 POC 26 (1976):86–90, 162–163. 74 Kuderna 1983:94–152, 182–204. „Véritables patriarches“ in LʼOrient-Le Jour, 4. März 1981, zitiert bei Kuderna 1983:131. 75 Kuderna 1983:278–284. 76 Ammoun 2004:556.

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nannte islamo-progressive Lager aus linken Gruppen, geführt von Kamal Joumblatt, mehrheitlich muslimisch/drusisch aber auch mit einigen Christen. Diese Seite setzte sich für ein sozialeres Wirtschaftssystem sowie für politische Reformen mit dem Ziel der Überwindung des Konfessionalismus ein.77

Keine Reformen unter der Drohung von Kanonen! Im August 1975 beunruhigte das Kommuniqué eines engen Vertrauten des sunnitischen Muftis der Republik die christliche Gemeinde: Er erklärte, es könne den Muslimen nicht länger zugemutet werden, in einem Staat zu leben, der von Christen geführt werde. Die Muslime wollten eigentlich einen islamischen Staat; sie könnten sich aber als Mittelweg damit abfinden, dass die Christen auf ihre privilegierte Stellung verzichteten und eine „nationale Regierung“ unter Beachtung der Gleichheit und des Gleichgewichts zwischen den Religionsgemeinschaften gebildet würde. Die Erklärungen zum islamischen Staat verhärteten auf christlicher Seite die Fronten. Es entstand eine Verteidigungshaltung gegenüber vermuteter muslimischer Pläne zur Umwandlung des Libanon in einen islamischen Gottesstaat. Eine extreme Reaktion war die Forderung nach der Teilung des Libanon und der Errichtung eines reduzierten christlichen, beziehungsweise maronitischen, Staats sowie ähnlicher Kleinstaaten für Drusen, Schiiten und Sunniten. In abgemilderter Form vertraten die Mönche um Boulos Naaman diesen Gedanken, allerdings nicht in Form einer Teilung des Libanon, sondern in Form eines föderativen Staats aus weitgehend autonomen, konfessionell mehr oder weniger homogenen Provinzen.78 Bereits am 12. August 1975 hatte der Mouvement national einen Vorschlag zur weitgehenden Aufhebung des Konfessionalismus auf den Tisch gelegt: konkret forderte er, die drei höchsten Staatsämter (Präsident, Ministerpräsident, Parlamentspräsident) nicht länger an die Konfession zu binden, das Wahlrecht so zu ändern, dass eine einzige Liste für das ganze Land zur Wahl stehe ohne Bindung an die Konfession der Kandidaten, und den Konfessionalismus auf allen Ebenen der Verwaltung sowie in der Armee abzuschaffen. Angesichts der Bedrohungslage waren die Vorschläge jedoch von christlicher Seite mit dem oft zitierten Satz: „Keine Reformen unter der Drohung von Kanonen“79 abgelehnt worden. Im September 1975 unternahm Syrien einen ersten Vermittlungsversuch. Auf Vorschlag der syrischen Unterhändler wurde ein nationales Versöhnungskomitee eingerichtet. Darin waren zwanzig Repräsentanten der wichtigsten Gruppen vertreten. Zwei Punkte wurden kontrovers diskutiert: ein sunnitischer Vertreter schlug vor, Artikel 1 der Verfassung („Der Libanon ist ein unabhängiges Land.“) abzuändern in „Der Libanon ist ein unabhängiges arabisches Land.“ Erneut wurde die Anbindung des Libanon an 77 POC 25 (1975):345–346. 78 Ammoun 2004:559–560, 578. 79 Ammoun 2004:558.

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die arabische Welt und seine Identität diskutiert. Pierre Gemayel lehnte den Vorschlag brüsk ab. Den Vorschlag, ebenfalls von sunnitischer Seite eingebracht, den Konfessionalismus aufzuheben, beantwortet Raymond Eddé als Vertreter der Maroniten mit der Forderung nach einer vollständigen Säkularisierung des Staats und der Gesellschaft, der Abschaffung des Personalstatuts und der Einführung der Zivilehe – eine für die muslimische Seite unannehmbare Forderung. Die Arbeit befand sich in einer Sackgasse und das Komitee stellte nach einigen Monaten seine Treffen ein.80 Anfang November 1975 äußerten sich die Ordensoberen erneut in sehr engagierter Weise und verteidigten die Rechte der Christen gegen Ansprüche der Muslime. Außer­dem verurteilten sie unmissverständlich die Aktionen der Palästinenser, die von libanesischem Boden aus ihre Operationen gegen Israel durchführten.81 Im Juni 1976 erneuerte der Obere des Ordre libanais maronite seine Erklärungen in dieser Richtung.82 Die maronitischen Mönche, die in fast jedem Dorf einen Konvent und zahlreiche Schulen hatten, spielten eine erhebliche Rolle bei der Mobilisierung der christlichen Bevölkerung. Sie beförderten eine teils aggressive Verteidigungshaltung bei den Christen und wurden vom Vatikan mehrfach aufgefordert, sich zurückzuhalten. Der Ordensgeneral Boulos Naaman handelte sich 1983 sogar eine offizielle Warnung Roms ein, sich aus der Politik herauszuhalten. Erst sein Nachfolger Basile el-Hachem wandte sich wieder mehr kirchlichen Aktivitäten zu. Ideologisches Zentrum des Ordens war die 1949 in Kaslik als Ausbildungszentrum für maronitische Priester und Ordensleute gegründete Hochschule, aus der 1962 die Université du Saint-Esprit hervorgegangen war. Während des Bürgerkriegs verfolgte die Universität – ganz im Sinne der Ordensleitung – eine Politik, die zwar den multikonfessionellen Charakter des Libanon betonte, sich aber gegen jegliche Kompromisse von christlicher Seite gegenüber den Muslimen aussprach. Drusenführer Walid Joumblatt warf ihr 1984 vor, ein „Hort verschwörerischer Mönche“ zu sein; im islamisch-progressiven Lager wurde zudem vermutet, dort würde eine Teilung des Libanon zugunsten eines rein christlichen Staats vorbereitet. Es verwundert daher nicht, dass die Universität im Laufe des Bürgerkriegs mehrfach von der syrischen Armee und drusischen Milizen unter Beschuss genommen wurde.83 Im Dezember 1975 ermordeten Kämpfer der Phalanges in einer Vergeltungsaktion für den Tod eines Kameraden in Beirut zwischen 100 und 150 Muslime, die meisten Hafenarbeiter, die zufällig aufgrund ihres Personalausweises ausgewählt wurden.84 Im weiteren Verlauf flohen Zehntausende Menschen aus ihren Dörfern, um in sicheren Gebieten und im Umfeld ihrer eigenen Gemeinschaft Schutz zu suchen. So verließen die christlichen Bewohner von Damour bei Saida im Januar 1976 angesichts von Massakern der progressiv-palästinensischen Kräfte ihr Dorf; auch Saadiyat wurde 80 81 82 83 84

Ammoun 2004:565–568. POC 25 (1975):366–367. POC 26 (1976):269. Valognes 1994:390–391; Corm 2012:190. Ammoun 2004:576–577.

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aufgegeben. Auch in der Bekaa, bei Zahlé und Deir el-Ahmar sahen sich christliche Dörfer Angriffen ausgesetzt.85 Der syrische Präsident Hafiz al-Assad, der über die syrische Unterstützung für die palästinensischen Kämpfer und den Mouvement national bereits weite Teile des libanesischen politischen Spektrums kontrollierte, suchte ab 1976 auch die Sympathien des überwiegend christlichen Front libanais zu gewinnen, um seinen Einfluss im Libanon dauerhaft zu sichern und eine Lösung für den Konflikt im Sinne der syrischen Interessen durchzusetzen. Bei einem Besuch von Präsident Sleiman Frangié und Ministerpräsident Rachid Karamé in Damaskus schlug Assad Reformen des politischen Systems vor. Diese wurden von Frangié nach der Rückkehr nach Beirut als „Document constitutionnel“ vorgestellt: der Vorschlag sah die Einschränkung der Kompetenzen des Präsidenten vor (das Amt wäre aber weiterhin von einem Maroniten zu besetzen gewesen) und die Abschaffung des Konfessionalismus bei der Besetzung öffentlicher Ämter außer auf höchster staatlicher Ebene. Die religiösen Führer der Sunniten, Schiiten und Drusen akzeptierten die Vorschläge – allerdings erst auf heftigen syrischen Druck hin. Auf christlicher Seite hielten Camille Chamoun und Pierre Gemayel die Änderungen für das Maximum der Konzessionen, die gemacht werden könnten. Kamal Joumblatt dagegen stellte sich vehement dagegen und forderte die vollständige Säkularisierung des Staats. Er suchte zunehmend Abstand vom syrischen und palästinensischen Einfluss und ging eine Allianz mit abtrünnigen Teilen der libanesischen Armee, der Armée du Liban arabe (ALA), ein.86

Syrien, Retter der Christen Im März 1976 startete Kamal Joumblatt mit Unterstützung der palästinensischen Kräfte eine breit angelegte Militäroperation gegen die Stellungen der christlichen Milizen. Ziel war es, den Krieg in die christlichen Gebiete des Matn und damit ins Kernland der Maroniten hineinzutragen. In Beirut und im Matn wurden die christlichen Milizen zurückgeschlagen. Am 25. März musste Frangié vor den Angriffen aus dem Präsidentenpalast fliehen und sich in Zouk Mikaël im christlichen Kernland niederlassen. Der Angriff der Milizen von Joumblatt schien unaufhaltbar. In dieser Situation begab sich Joseph Abou Khalil, Chefredakteur der Phalanges-Zeitschrift al-ʿAmal, in geheimer Mission nach Israel und bat um Waffen- und Munitionslieferungen. Die Unterstützung wurde zugesagt. Auf der anderen Seite suchte Assad weiter das Vertrauen der Maroniten zu gewinnen. Im April überschritten syrischen Truppen mit Panzern die Grenze und rückten in die Bekaa-Ebene vor. Yasser Arafat beeilte sich, einem Waffenstillstand bis zur Wahl eines neuen Präsidenten zuzustimmen – eine vorgezogene Präsidentenwahl war Teil des syrischen Plans für den Libanon. Allerdings taten Joumblatts Einheiten alles dafür, die Wahlversammlung des Parlaments durch Angriffe auf die 85 Ammoun 2004:581–582. 86 Ammoun 2004:582–589.

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Zufahrtswege zu verhindern. Dennoch wurde am 8. Mai Élias Sarkis zum Nachfolger von Sleiman Frangié gewählt. Er trat sein Amt aber turnusgemäß erst im September 1976 an.87 Die Belagerung von zwei christlichen Dörfern, Kobeyat und Andekit im Norden des Landes, und Massaker an der unbewaffneten Bevölkerung durch die Armée du Liban arabe boten Hafiz al-Assad den Anlass, am 1. Juni mit einem massiven Aufgebot von syrischen Truppen, Panzern und schweren Waffen im Libanon einzumarschieren. Sie entsetzten die beiden Dörfer im Norden, während andere Truppen in Zahlé und in die Bekaa-Ebene einrückten. Noch-Präsident Frangié und Pierre Gemayel begrüßten die Intervention; Chamoun blieb reserviert. Die Führer der Schiiten sahen in der syrischen Intervention eine Absicherung der schiitisch bewohnten Bekaa-Ebene und des Südens und zeigten sich zufrieden. Die politischen Führer der Sunniten waren gespalten. Der Maronit Raymond Eddé rief zum Kampf gegen die syrischen Invasoren auf und stellte sich damit an die Seite von Drusenführer Kamal Joumblatt und PLO-Chef Yasser Ara­fat. Für Joumblatt sollte der Rückzug der syrischen Truppen in der Folge Vorbedingung für jeglichen Waffenstillstand sein.88 Gestärkt durch das Eingreifen Syriens auf Seiten der Christen, begannen im Juni 1976 die Milizen von Camille Chamouns PNL zusammen mit kleineren Gruppen eine Offensive auf das Palästinenserlager Tel el-Zaatar im Osten von Beirut. Wenige Tage später schlossen sich die Milizen der Phalanges der Offensive an. Die Schlacht wurde von beiden Seiten mit äußerster Rücksichtslosigkeit geführt. Ein palästinensischer Gegenschlag erfolgte abseits des Kampfgebiets gegen christliche Dörfer rund im Chekka bei Tripolis. Eine islamistische Gruppe unter dem Namen Ǧunūd Allāh (Soldaten Gottes) verübte Massaker an der Dorfbevölkerung. Tel el-Zaatar fiel schließlich in die Hände der christlichen Milizionäre. Sie verübten brutale Vergeltung für die Taten in Chekka und anderen Orten. Das Lager wurde aufgelöst, die Bewohner vertrieben. Damit war das christliche Ost-Beirut an das christliche Gebiet im Mont Liban direkt angebunden. Ein christlicher Teilstaat, Projekt des Front libanais und der OLM-Mönche, rückte näher.89 Hafiz al-Assad gelang es unterdessen gemeinsam mit Elias Sarkis bei einem Gipfel der arabischen Staaten, die im Libanon stationierten syrischen Truppen in eine arabische Eingreiftruppe (Forces arabes de dissuasion, FAD) zu integrieren und dem libanesischen Staatspräsidenten zu unterstellen. Die Präsenz syrischer Einheiten gewann dadurch eine zusätzliche Legitimität. Im November 1976 trat die Vereinbarung in Kraft. Syrische Truppen sicherten die Straße Beirut-Damaskus, rückten in den Matn und den Chouf ein und sicherten schließlich die libanesische Hauptstadt. Gegen die Stationierung im Süden wandte sich jedoch Israel in Form eines Ultimatums. Die In­ stallation der Truppen verlief weitgehend friedlich; der Krieg schien beendet.90 87 88 89 90

Ammoun 2004:601–619. Ammoun 2004:630–636. Ammoun 2004:639–643. Ammoun 2004:656–664.

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Der christliche Kleinstaat und die Spaltung der Maroniten Im Januar 1977 veröffentlichten die Führer des Front libanais (darunter Camille Chamoun, Pierre Gemayel, Sleiman Frangié sowie die OLM-Mönche Charbel Kassis, Boutros Azzi und Boulos Naaman) ihr Programm für die Zukunft des Libanon: der Natio­ nalpakt von 1943 sei hinfällig, an seine Stelle solle ein föderales System treten; die Palästinenser sollten zum größten Teil umgesiedelt und auf die arabischen Länder verteilt werden; syrische Truppen dürften nicht den christlichen Teil Beiruts besetzen, sondern müssten die Sicherung dieser Viertel den Milizen der Forces libanaises überlassen. Damit wäre ein christlicher Kleinstaat im maronitischen Kernland entstanden und der Libanon faktisch geteilt worden. Die Forderungen standen in völligem Kon­ trast zur Politik von Präsident Elias Sarkis. Es stellte sich die Frage nach der Macht und Autorität des Präsidenten. Mit zwei Ex-Präsidenten (Chamoun und Frangié), Pierre Gemayel und den Mönchen des OLM genoß der Front libanais erheblichen Einfluss im christlichen Lager. Wöchentliche Treffen der wichtigsten christlichen Politiker gaben dem Front zusätzlich den Anschein einer Parallelregierung.91 Die Reaktion der Kirchenführung ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Am 15. Mai 1977 erklärten die katholischen Patriarchen und Bischöfe des Libanon in einem Kommuniqué ihr dreifaches „Nein“: Nein zur Teilung des Libanon, Nein zur Abschaffung des politischen Konfessionalismus und Nein zu einer Demokratie, die allein auf dem Gesetz der Zahlen beruhe. Stattdessen forderten sie einen Libanon, in dem die Eigenheiten jeder Gruppe respektiert würden.92 Aber die Einheit im maronitischen Lager währte nicht lange. Im Mai 1978 kam es zum Bruch zwischen dem Front libanais und Sleiman Frangié. Frangié hielt eisern am Bündnis mit Syrien fest und sah darin eine Garantie für die Christen des Libanon. Außerdem wehrte er sich gegen die Stationierung der Forces libanaises im Norden, den seine eigene Miliz (Marada) kontrollierte. Kämpfe zwischen Marada und Katāʾib brachen aus. Der maronitische Patriarch versuchte zu vermitteln und lud die Beteiligten nach Bkerké ins Patriarchat ein. Allerdings wurde wenige Tage später ein führendes Mitglied der Phalanges im Norden ermordet. Einheiten der Katāʾib unter Samir Gea­ gea griffen daraufhin das Anwesen von Sleiman Frangié in seinem Heimatort Ehden an und trafen auf heftigen Widerstand. Am Ende des Tages waren zahlreiche Tote zu beklagen, darunter Tony Frangié, Sleimans Sohn und Führer der Marada. Der Trauergottesdienst wenige Tage später wurde von Patriarch Paul-Antoine Khoreiche (1975–1986) in Anwesenheit zahlreicher Bischöfe selbst geleitet, aber der Bruch zwischen Frangié und den Katāʾib war unwiderruflich.93 Die Bildung eines maronitischen Kleinstaats nördlich von Beirut lag auch nicht im Interesse Syriens. Damit war die Allianz zwischen christlichen Milizen und den 91 Ammoun 2004:674, 679. 92 POC 27 (1977):131–139, 176. 93 Ammoun 2004:723–726.

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syrischen Truppen zunächst beendet. Syrien nutzte die Spaltung zwischen Phalanges und Sleiman Frangié aus. Zunächst wurden syrische Einheiten der Arabischen Eingreiftruppe (FAD) im Norden stationiert, dann beschossen syrische Einheiten das christliche Ost-Beirut. Israel reagierte mit einem Luftangriff auf palästinensische Stellungen im Süden Beiruts und Ministerpräsident Menahem Begin verkündete, Israel werde nicht untätig einem Völkermord an den Christen des Libanon zusehen. Daraufhin intensivierte Damaskus seine Angriffe. Ab dem 22. Juli lag der christliche Ort Hadeth im Südosten Beirut unter Beschuss, dann wurde das christliche Ashrafiyya wochenlang unter heftigen Artilleriebeschuss genommen, ebenso die Orte in den benachbarten Bergen. Die Katāʾib hielten so gut es ging die Stellung. Tausende Wohnungen, fünf Krankenhäuser sowie mehrere Schulen und Kirchen wurden zerstört. Erst nach rund hundert Tagen wurde ein Waffenstillstand erreicht: Syrien setzte durch, dass die FAD im ganzen Libanon stationiert und diejenigen, die mit Israel kollaboriert hatten, namentlich die christlichen Grenzeinheiten im Südlibanon, sanktioniert wurden. Die Kämpfe waren damit zunächst beendet, aber in weiten Teilen des christlichen Lagers machte sich die Überzeugung breit, man kämpfe nun gegen zwei Gegner: gegen die Palästinenser und gegen Syrien.94 Der griechisch-orthodoxe Patriarch Elias IV. Mouawwad (1970–1979) und der melkitische Patriarch Maximos V. Hakim, die beide in Damaskus residierten, hatten in öffentlichen Stellungnahmen das Eingreifen Syriens begrüßt.95 Maximos V. wies darüber hinaus in einem Zeitungsinterview den Schutz Israels für die Christen des Libanon empört zurück: „Man beachte, dass wir gegen jegliche Teilung des Libanon sind. Wir distanzieren uns von der Schaffung eines christlichen Staats. Wir lehnen es kategorisch ab, in diesem Staat zu leben, wenn er entstehen sollte. Wir, die Christen, verurteilen jeglichen Kontakt mit Israel, denn wir wissen, dass es an seiner Expansion zulasten der benachbarten Staaten arbeitet. Wir sind uns bewusst, dass Israel nicht den Frieden will, sondern danach strebt, kleine, miteinander verfeindete, konfessionelle Staaten zu schaffen, von denen es [Israel] der stärkste wäre. Wir lehnen es ab, dass sich Israel zu unserem Protektor macht oder die Christenheit verteidigt in dieser Region der Erde, die uns so am Herzen liegt und wo seit so vielen Jahrhunderten Muslime und Christen nebeneinander in einer Atmosphäre vollkommener Einheit, gegenseitiger Achtung und Loyalität gegenüber dem großen arabischen Vaterland leben.“96 94 Ammoun 2004:729–743. 95 POC 28 (1978):328–330. 96 „Nous sommes, bien entendu, contre toute partition du Liban et nous dénonçons la création dʼun État chrétien, nous refusons catégoriquement de vivre au sein de cet État sʼil devait voir le jour. Nous, les chrétiens, condamnons tout contact avec Israël, car nous savons quʼil œuvre pour son expansion au détriment des États voisins. Nous sommes conscients quʼIsraël ne veut pas la paix et se déploie pour que soient créés de petits États confessionnels antagonistes dont il sera le plus fort. Nous refusons quʼIsraël se constitue notre protecteur ou quʼil défende la chrétienté dans cette région de la terre, si chère à notre cœur, où vivent côte à côte depuis tant de siècles les Musulmans et les Chrétiens, dans une atmosphère de pleine entente, dʼaffection mutuelle et de loyauté envers la grande patrie arabe.“ Le Monde, 18. Juli 1978 zitiert in POC 28 (1978):329.

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In einigen maronitischen Kreisen, wenn auch nicht kirchenoffiziell, wurde die Deklaration Maximosʼ heftig kritisiert. Der maronitische Patriarch Khoreiche unterstützte seinen melkitischen Amtskollegen jedoch, indem er ebenfalls in einem Zeitungsinterview erklärte: „Die libanesischen Parteien werfen sich gegenseitig vor, für oder gegen eine Teilung zu arbeiten. Es sind die Feinde des Libanon [gemeinst ist Israel], die diese Karten benutzen, indem sie sich für den Moment als Freunde der lebensgefährlich bedrohten Christen bezeichnen. In Wahrheit aber wollen sie den Libanon zu einem kleinen konfessionellen Staat nach dem Beispiel ihres eigenen machen.“97 Die Armenier hatten gleich zu Beginn des Bürgerkriegs ihre Neutralität erklärt, um innere Spannungen wie in der Krise von 1958 zu vermeiden. Die Lage der armenischen Viertel am nördlichen Rand von Beirut in unmittelbarer Nachbarschaft zum Palästinenserlager Tel el-Zaatar sowie an den strategisch wichtigen Brücken über den Beirut-Fluss führten jedoch dazu, dass sie immer wieder von den Kämpfen betroffen waren. Die armenischen Milizen, vor allem der Dashnak, widersetzten sich 1978 und 1979 mehrfach der Infiltration durch die christlichen Milizen in Bourj-Hammoud und Nabaa. Die beiden Orte nahmen eine strategisch wichtige Verbindung zwischen dem christlichen Teil des Libanon und Ashrafiyya ein. Es kam immer wieder zu Kämpfen mit zahlreichen Opfern. Im Oktober 1978 wurde zudem das Denkmal von Ameriyé, das an den Völkermord an den Armeniern 1915 erinnerte, von Unbekannten gesprengt. Die armenische Kirchenleitung, allen voran Katholikos Karekin II., erklärte zwar, sie wolle weiter gute Beziehungen zu den maronitischen Führern halten, aber das Verhältnis blieb gestört.98 Aber auch innerhalb der Führungsebene des Front libanais, der den christlichen Rückzugsraum nördlich von Beirut beherrschte, kam es zum Streit. Seit Frühjahr 1979 war es immer wieder zu Kämpfen zwischen den christlichen Milizen der Katāʾib und dem PNL von Camille Chamoun gekommen. Sie nahmen Anfang 1980 an Heftigkeit zu. Am 7. Juli beschloss Bachir Gemayel einen Überraschungsangriff auf die Kämpfer des PNL in Ost-Beirut, im Matn und Keserwan und es gelang ihm, die Kontrolle zu übernehmen. Der militärische Sieg in diesem „Bruderkrieg“ führte zum „Dokument von Kaslik“. Darin wurde die Macht geteilt: Bachir wurde unumschränkter Militärführer, Chamoun übernahm die politische Führung, Pierre Gemayel wurde Präsident des Conseil législatif, bestehend aus 25 Mitgliedern. Das christliche Gebiet hatte damit so etwas wie eigene Institutionen geschaffen, und der Zerfall des Libanon schien kurz bevorzustehen.99 Allerdings distanzierte sich der maronitische Patriarch Khoreiche wiederholt vom Front libanais und verwies auf die legalen, staatlichen Organe, so bei seiner Weihnachtsansprache 1979. Außerdem wies er im August 1980 den Anspruch 97 „Les partis libanais adverses sʼaccusent mutuellement de prôner ou de rejeter la partition. Ce sont les adversaires du Liban (Israël) qui utilisent cette carte, se disant pour lʼinstant les amis des Chrétiens en danger de mort. En fait, ils veulent réduire le Liban à un petit État confessionnel à lʼimage du leur.“ POC 28 (1978):330–336. Zitat aus Le Figaro, 31. Juli 1978. 98 POC 28 (1978):352–355; POC 29 (1979):379–380; Kuderna 1983:349–360. 99 Ammoun 2004:764–767.

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des Front libanais zurück, für die Christen zu sprechen. Die Parteien sprächen vielmehr ausschließlich im Namen ihrer Anhänger.100 Der griechisch-orthodoxe Bischof Georges Khodr warnte Christen in dieser Zeit immer wieder davor, sich in eine eigene Identität zurückzuziehen. So erklärte er bei einer Konferenz im Jahr 1980: „Der Nachfolger Christi ist, wie sein Herr, am Kreuz geboren. Er ist nicht Träger des Kreuzes gegen irgendjemanden. Wir sind berufen, Christen (Christus-gleiche) zu sein, nicht Kreuzfahrer. Das „Haus der Christenheit“ ist keine Gemeinschaft, die sich selbst behaupten muss und über und gegen das „Haus des Islam“ steht.“101 Der Aufstieg Bachirs, der immer unmissverständlich den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon gefordert hatte, beunruhigte Hafiz al-Assad. Er ließ daher Zahlé, die bedeutendste christliche Stadt des Libanon am Eingang der Bekaa-Ebene, beschießen und belagern. Es galt zu verhindern, dass dieses Zentrum eine militärische Verbindung mit Ost-Beirut einging, das bereits fest unter Bachirs Kontrolle stand. Unter internationalem Druck musste Assad die Belagerung allerdings Ende Dezember 1980 abbrechen. Das Ergebnis war, dass die Bevölkerung Zahlés nun einhellig Bachir Gemayel und die Forces libanaises unterstützte und Bachirs Einfluss damit noch größer wurde.102

Ein Bündnis mit Israel? In enger Abstimmung mit Bachir Gemayel, aber wohl ohne dessen explizite Zustimmung, marschierten am 4. Juni 1982 israelische Soldaten im Libanon ein und stießen bis Beirut vor. Von kirchlicher Seite kritisierte allein Georges Haddad, melkitischer Bischof von Tyros, öffentlich das Vorgehen der israelischen Armee. Die anderen Kirchenführer hielten sich zurück, wohl weil sie nicht gegen die Teile der eigenen Gläubigen sprechen wollten, die bereit waren, Israel als Alliierten zur Vertreibung der palästinensischen Widerstandskämpfer zu akzeptierten.103 Erst bei der israelischen Belagerung Beiruts ergriffen die orientalischen Patriarchen das Wort, äußerten sich aber sehr vorsichtig. So forderten sie den Abzug aller ausländischen Truppen aus dem Libanon (ohne Israel oder Syrien zu nennen) und riefen die arabischen Staaten auf, ihre Verantwortung für die palästinensische Sache wahrzunehmen. Es ist spürbar wie die maronitischen und die beiden in Syrien residierenden Patriarchen der griechisch-orthodoxen und melkitischen Kirche nur schwer eine gemeinsame Sprache fanden.104 Als Ergebnis der israelischen Offensive mussten PLO und sämtliche palästinensischen Kämpfer den südlichen Teil des Libanon verlassen. Eine UNO-Einheit 100 Kuderna 1983:161–162. 101 „The follower of Christ, like his master, is born upon a cross and not bearer of a cross against anybody. We are called to be Christians (Christ-like), not crusaders. The „Household of Christianity“ is not a self-asserting community as over and against the ‚Household of Islam‘.“ Khodr 1981:176. 102 Ammoun 2004:773–775. 103 POC 32 (1982):359–361. 104 POC 32 (1982):372–373.

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sicherte den Abtransport. PLO-Chef Arafat bestieg am 30. August 1982 in Beirut ein Schiff und kehrte dem Libanon den Rücken. Die Forces libanaises hatten sich an der Offensive zur größten Enttäuschung der israelischen Seite aber nicht beteiligt. Bachir Gemayel war klar, dass eine solche gemeinsame Operation das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Libanon auf Dauer unmöglich gemacht hätte.105 Dennoch blieb Bachir Gemayel der Kandidat Israels für die Nachfolge von Präsident Elias Sarkis, dessen Amtszeit im September 1982 ablief. Boulos Naaman hatte sich bereits früher eindeutig für Bachir ausgesprochen. Gegen den Widerstand Joumblatts und vieler Sunniten wurde Bachir Gemayel am 23. August 1982 zum Präsidenten gewählt. Viele Libanesen sahen darin auch die Hoffnung, dass die maronitischen „Separatisten“ mit der Wahl Bachirs wieder für die nationalen Institutionen gewonnen werden könnten. Doch noch bevor Bachir ins Amt eingeführt wurde, kam es zu einem Geheimtreffen zwischen ihm und der israelischen Führung. Es wurde jedoch kurz danach vom israelischen Rundfunk öffentlich gemacht. Dieser berichtete, Bachir Gemayel habe den Abschluss eines Friedensvertrags zwischen dem Libanon und Israel in Aussicht gestellt. Gemayel dementierte. Doch bereits am 14. September wurde er Opfer eines Anschlags auf das Hauptquartier des Phalanges in Ashrafiyya. Am 21. September wählte das Parlament Bachirs Bruder Amine Gemayel zum Staatspräsidenten. Er trat zwei Tage später sein Amt an. Aus Rache hatten Anhänger Bachirs bereits am 17. September die Palästinenserlager Sabra und Chatila überfallen und unter den Augen der israelischen Soldaten, die das Gebiet kontrollierten, Tausende palästinensische Zivilisten getötet.106 Dies konnten die maronitischen Bischöfe nicht unkommentiert lassen, taten sich aber schwer mit der Formulierung. So griffen sie in ihrer Erklärung einen Satz von Papst Johannes Paul II. auf, der beim Angelusgebet in Rom gesagt hatte, es gäbe „keine ausreichenden Worte“ um die Grausamkeit zu beschreiben. Mit der Übernahme der Formulierung des Papstes bemühten sich die Bischöfe bei ihrer Kritik am Vorgehen der christlichen Milizen offensichtlich um eine distanzierte Darstellung, um sich nicht allzu sehr von Teilen des eigenen Kirchenvolks zu entfremden.107

Kampf zwischen Christen und Drusen Unter US-amerikanischer Vermittlung arbeiteten Israel und der Libanon ein Abkommen aus, das den Rückzug der israelischen Truppen vorsah, allerdings unter der Bedingung, dass Syrien gleichzeitig seine Einheiten aus dem Libanon abziehe. Damaskus jedoch widersetzte sich jeglicher israelisch-libanesischer Vereinbarung und brachte das Abkommen schließlich zum Scheitern. Im September 1983 begann Israel seine Truppen einseitig aus dem Chouf abzuziehen. Bereits seit längerem hatte es dort Gefechte zwischen den Forces libanaises und den Einheiten des Parti socialiste progres105 Ammoun 2004:799–809. 106 Ammoun 2004:810–824. 107 POC 32 (1982):386.

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siste (PSP) von Drusenführer Walid Joumblatt gegeben. Patriarch Khoreiche erinnerte in diesem Zusammenhang an das jahrhundertelange Zusammenleben von Christen und Drusen. Er forderte zum Respekt vor den staatlichen Behörden und der Armee auf und verlangte den Rückzug aller Milizen und ausländischen Truppen: „Daher richten wir einen eindringlichen Appel an alle ohne Unterschied, der Legalität zu vertrauen, ihr die Führung der Angelegenheiten des Landes anzuvertrauen und ihr zu helfen, alle ausländischen Elemente des Landes zu verweisen. Wir verlangen von allen, die Milizen zurückzuziehen, die Waffen verschwinden zu lassen, die Straßensperren aufzuheben und alle illegalen Praktiken zu unterlassen, damit die Bürger sich in Sicherheit fühlen unter dem Schutz der legalen Behörden, die sie alle gleich und gerecht zu behandeln haben.“108 Seine Mahnung blieb ungehört. Die Gefechte brachen mit voller Härte aus. Mit syrischer Unterstützung gingen drusische Einheiten gegen christliche Dörfer vor. Die Einheiten der Forces libanaises konnten dem massiven Aufgebot nur kurzzeitig Widerstand leisten. Tausende wurden massakriert, Zehntausende flohen. Ende September vereinbarten die beiden Parteien einen Waffenstillstand, der den geregelten Abzug fast aller Christen aus dem Chouf ermöglichte.109 Der griechisch-katholische Patriarch Maximos V. wies im Zusammenhang mit diesen Ereignissen den Eindruck zurück, es handele sich um einen Religionskrieg zwischen Drusen und Christen. Er forderte zur Versöhnung sowie zum Abzug aller privaten Milizen und zur Stationierung der Armee auf. Vom Staat verlangte er, „sich zu öffnen“ (quʼil sʼélargisse), um alle Libanesen zu repräsentieren.110 Angesichts der anhaltenden Belagerung von Deir al-Qamar durch die Truppen Joumblatts wurde der Ton der Bischöfe aber schärfer. Patriarch Khoreiche beklagte bei der Eröffnung der Versammlung der Patriarchen und Bischöfe des Libanon Ende November 1983: „[…] die Christen des Libanon verteidigen weder Vorteile und Privilegien, sondern ihr heiliges und jahrhundertealtes Recht, ihren Glauben in Freiheit, Würde und ehrlicher Brüderlichkeit mit ihren Mitbürgern zu leben. Zu Tausenden haben sie mit ihrem Leben bezahlt für diesen Willen, so zu sein und so zu leben.“ In scharfen Worten klagt er die Zerstörung, Vertreibungen und Morde sowie die Belagerung von Deir al-Qamar an. „Es handelt sich um eine erzwungene Umsiedlung der Bevölkerungen. Dieser Zustand ist ein Angriff auf die Zivilisation und eine Schande für die libanesische Nation.“111 150.000 Menschen waren allein 108 „Cʼest pourquoi nous adressons un pressant appel à tous, sans distinction, de faire confiance à la légalité, de lui confier la direction des affaires du pays, de lʼaider à faire sortir tous les étrangers. Nous demandons à tous de retirer les milices, de faire disparaître les armes, dʼenlever les barrages, de renoncer à toutes les pratiques illégales (taxes et impôts), afin que les citoyens se sentent en sécurité sous la protection de lʼautorité légale, qui les traitera sur un même pied dʼégalité avec justice et équité.“ Ansprache am 5. September 1983. POC 33 (1983):322–323. 109 Ammoun 2004:843–862. 110 POC 33 (1983):327–328. 111 „[…] les chrétiens du Liban ne défendent ni avantages, ni privilèges mais le droit sacré et séculaire de continuer à vivre leur foi dans la liberté, la dignité, et dans une sincère fraternité avec tous leurs compatriotes. Par milliers, ils ont payé de leurs vies cette volonté dʼêtre ainsi et de vivre. … Il sʼagit de cette migration forcée des populations. Un tel état de choses est un affront à la civilisation et une honte pour la nation libanaise.“ POC 33 (1983):346–348. Im Angesicht der Vertreibungen zeichneten die

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aus dem Chouf geflohen, insgesamt wurden 250.000 aus dem südlichen Mont Liban vertrieben (Chouf, Aley, Matn). Während der Kämpfe wurden über 110 christliche Dörfer zerstört und die Bewohner vertrieben, 17.000 Häuser und 120 kirchliche Gebäude zerstört und 1.375 Christen getötet.112 Bis Ende April 1985 zogen sich die Israelis bis in einen acht bis zehn Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zurück, wo sie mit der (christlichen) Südlibanesischen Armee zusammenarbeiteten. Dort im äußersten Süden hatten bereits einige Zeit vorher drei christliche Dörfer eine Enklave gebildet, unterstützt von der israelischen Armee und in enger Verbindung mit den Milizen von Camille Chamoun und Bachir Gemayel. Die Führer des Front libanais hatten darin einen strategischen Vorteil gesehen. Sie hofften, die drusischen Milizen von zwei Seiten einschließen zu können. Der griechisch-orthodoxe Patriarch Ignatios IV. Hazim hatte im März 1985 in einem Zeitungsinterview mit der syrischen Zeitung al-Šarq die Zusammenarbeit der Südlibanesischen Armee mit Israel kritisiert: „Diese Protestbewegung, die wir für einen Fehler halten, stellt unserer Meinung nach nicht eine spontane Bewegung dar und kann nur zur Teilung [des Landes] führen. Wir lehnen jegliche Bewegung ab, die eine Unterstützung oder einen Deckmantel für eine israelische Strömung darstellen kann.“113 Mit dem Rückzug Israels aus dem südlichen Teil Libanons flohen die meisten Christen aus dem Gebiet aus Angst vor den Milizen des PSP. Im Distrikt Iqlim el-Kharroub und der Region Saida wurden 1985 von den drusischen Einheiten 57 christliche Dörfer zerstört, Christen aus 25 gemischten Orten vertrieben, 200 Christen getötet, 73.000 vertrieben, 18.000 Häuser angezündet oder geplündert, 82 Kirchen, 24 Schulen und 17 Konvente zerstört. Manche Dörfer wurden durch Planierung der Häuser unbewohnbar gemacht. Aus der Bekaa flohen Christen zu gleicher Zeit vor Übergriffen der Hisbollah und der seit 1983 dort installierten iranischen Revolutionsgarden. Mehr als die Hälfte der 500.000 Christen verließen die Bekaa. Viele suchten in Zahlé Schutz.114 Ab Februar 1985 eroberten Milizen des PSP zusammen mit Kämpfern der schiitischen Amal West-Beirut. Angesichts der völligen Machtlosigkeit von Präsident Amine Gemayel, übernahmen am 12. März 1985 schließlich Einheiten von Samir Geagea und Élie Hobeika die Kontrolle über das christliche Gebiet zwischen Jbeil und Beirut, katholischen Bischöfe in der Abschlusserklärung ihrer Versammlung vom 1. Dezember 1983 ein Bild des Libanon, wie sie ihn sich vorstellten: Zusammenleben der Religionen, Respekt der Verschiedenheiten und Religionsfreiheit; Ende der fremden Besetzung des Landes; ein demokratisches und republikanisches System, in dem weder die zahlenmäßige Mehrheit die Minderheit unterdrückt, noch die Minderheit sich gegen die Mehrheit „tyrannisch“ durchsetzt; für eine authentische Laizisierung des Staats; Respekt der legalen, staatlichen Organe, einschließlich der Armee; ein liberales Wirtschaftssystem, Garantie des Eigentums, Freiheit der Gewerkschaften und Berufsverbände; Schutz der Familie durch den Staat. POC 33 (1983):350–352. 112 Valognes 1994:693. 113 „Ce mouvement de contestation, que nous considérons comme une erreur, ne constitue pas, à notre avis, un mouvement spontané, et ne peut que servir la partition. Nous refusons tout mouvement qui peut constituer un appui ou une couverture à un quelconque courant israélien […]“ POC 35 (1985):127–128. 114 Valognes 1994:693–694; Ammoun 2004:668–669; 874–875.

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inklusive Ashrafiyya. Die Einheiten der Forces libanaises schlossen sich ihnen an. Als Mouvement de la décision chrétienne entzogen sie Präsident Gemayel so den Rest seines Einflusses, den er im Land noch hatte. Ein Exekutivkomitee bestehend aus Samir Geagea, Élie Hobeika und Karim Pakradouni übernahm die Führung. Die Integration der maronitischen Separatisten in die nationalen Institutionen war gescheitert, der christliche Kleinstaat weiterhin Realität.115

Befreiungskrieg und Bruderkrieg: Durch das Chaos zum Abkommen von Taʼif Damaskus bemühte sich unterdessen um ein Abkommen ohne Präsident Amine Gemayel. Am 28. Dezember 1985 unterzeichneten Walid Joumblatt für den PSP, Élie Hobeika für das christliche Exekutivkomittee und Nabih Berri für den schiitische Amal ein Abkommen, das die Beschneidung der Kompetenzen des Präsidenten zugunsten des Ministerrates vorsah, die gleiche Verteilung der Parlamentssitze an Christen und Muslime sowie eine „strategische Komplementarität“ und privilegierte Beziehungen zwischen dem Libanon und Syrien. Der Vertrag entsprach vollkommen den Interessen Syriens. Die Forces libanaises lehnten ihn ab. Samir Geageas Einheiten griffen die Anhänger Hobeikas an, entmachteten ihn und vertrieben ihn nach Damaskus. Durch die Spaltung zwischen Hobeika und Geagea schien der christliche Kleinstaat am Ende. Amine Gemayel spielte auf Zeit, erkannte das Abkommen nicht an; verweigerte sich aber auch nicht vollständig den Forderungen von Damaskus, es dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen.116 Der griechisch-orthodoxe Patriarch Ignatios IV. Hazim begrüßte das Abkommen. Auch die Hierarchie der griechisch-katholischen Kirche stand ihm im Allgemeinen positiv gegenüber. Der Administrator des maronitischen Patriarchats, Ibrahim Hélou (Rom hatte am 26. November 1985 Hélou, Bischof von Saida und Deir el-Qamar, zum Apostolischen Administrator ernannt und damit Khoreiche von seinen Aufgaben als Patriarch entbunden117), verhielt sich zurückhaltend. Ein im Januar 1986 von ihm einberufener maronitischer Kongress begrüßte in seiner Erklärung zwar die Ziele des Abkommens, verwies aber darauf, dass es den legalen Autoritäten, also dem Präsidenten und dem Parlament, vorgelegt und von ihnen approbiert werden müsse, um in Kraft zu treten.118 Alle entscheidenden Fragen waren weiter offen: die Reform der Institutionen, die privilegierten Beziehungen zu Syrien, die Legitimität des Kampfes der Palästinenser, ihre Einbürgerung im Libanon und der libanesische Widerstand gegen die israelische Besatzung. Zum Ende der Amtszeit von Präsident Amine Gemayel 1988 zeichneten sich zwei Positionen ab. Die einen forderten die Wahl eines neuen Präsidenten vor dem Ende seiner Amtszeit. Die anderen – unterstützt von Syrien – strebten zunächst eine Re115 116 117 118

Ammoun 2004:872–974. Ammoun 2004:876–886. POC 35 (1985):343–345. POC 36 (1986):107–116.

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form der Institutionen an. Im Februar trafen in Kuwait auf Einladung der Arabischen Liga die religiösen Führer der sechs größten libanesischen Gemeinschaften zusammen. Der neue maronitische Patriarch Nasrallah Sfeir (1986–2011) plädierte dort für eine sofortige Wahl des Präsidenten, anders als der griechisch-orthodoxe Patriarch Ignatios IV. Hazim und der griechisch-melkitisch-katholische Patriarch Maximos V., die den syrischen Vorschlag zu Reformen als Voraussetzung für die Präsidentenwahl unterstützten.119 Die Wahl des Präsidenten wurde zu einem Machtspiel. Syrien wollte seinen Getreuen Sleiman Frangié durchsetzen, aber Amine Gemayel, Samir Geagea und Michel Aoun widersetzten sich dem. Jeder schielte selbst nach dem Amt. Der neue maronitische Patriarch Nasrallah Sfeir rief die Führer der Christen angesichts der drohenden Vakanz des Präsidentenamts mehrfach zu einer Einigung auf, jedoch ohne Erfolg. Am 19. September bemühte sich Sfeir nochmals um eine Lösung in letzter Minute, wieder erfolglos. Wenige Stunden vor Ablauf seines Mandats übertrug Präsident Amine Gemayel schließlich die Führung des Staats an General Michel Aoun, Verteidigungsminister und Oberkommandierender der libanesischen Streitkräfte. Dem widersetzte sich jedoch Ministerpräsident Salim El-Hoss, der den Anspruch erhob, mit seiner Regierung das Land weiter zu führen. Der Libanon hatte nun zwei Regierungen. General Aoun versuchte das Land mit Gewalt zu einen. Im Februar 1989 begann er gegen die Milizen der Forces libanaises, geführt von Samir Geagea, vorzugehen, um die Autorität der nationalen Streitkräfte durchzusetzen. Es kam zu mehrtägigen Kämpfen zwischen den Einheiten der beiden christlichen Führer. Unter Vermittlung von Patriarch Sfeir kam schließlich ein Waffenstillstand zustande.120 Aoun versuchte dann aber seine Autorität noch weiter durchzusetzen und ordnete an, alle illegalen Einfuhrstellen und Häfen zu blockieren. Dies stieß auf den Widerstand Syriens. Am 14. März begannen syrische Einheiten, Stellungen der libanesischen Armee zu bombardieren. General Aoun ließ sich auf den Krieg ein, gab Anweisung, der syrischen Armee Widerstand zu leisten und rief zum „Befreiungskrieg“ (guerre de libération) auf. Samir Geagea schloss sich dem widerwillig an. Der Irak und Frankreich unterstützten Aouns Truppen mit Waffenlieferungen. Es kam zu erbitterten Kämpfen; die syrischen Einheiten bombardierten rücksichtslos die Stadtzentren und die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes. Tausende starben, Milliardenschäden wurden angerichtet. Erst im September wurde unter internationalem Druck ein Waffenstillstand erreicht.121 Unterdessen bahnten sich in Taʼif in Saudi-Arabien Verhandlungen an. Patriarch Sfeir sprach sich für die sich abzeichnende Lösung aus. Gegen den Widerstand von General Michel Aoun wurde am 22. Oktober 1989 in Taʼif das Document dʼentente na119 Valognes 1994:398–399. 120 Zum Engagement von Patriarch Sfeir POC 38 (1988):343–355; Corm 2012:136 kritisiert, dass mit dem Kommuniqué von Patriarch Sfeir die christlichen Milizen auf eine Ebene mit der regulären libanesischen Armee gestellt wurden. 121 Ammoun 2004:887–913.

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tionale angenommen. Es sah eine Reform der Institutionen vor (Beschneidung der Kompetenzen des Präsidenten zugunsten des Ministerrats, Verteilung der Parlamentssitze je zur Hälfte an Christen und Muslime, proportionale Berücksichtigung aller Gemeinschaften und Regionen bei gleichzeitiger Abschaffung des konfessionellen Wahlrechts), die Abschaffung des Konfessionalismus in der Verwaltung und im Militär (außer bei den obersten Ämtern), die Auflösung und Entwaffnung aller Milizen innerhalb von sechs Monaten, die Umstationierung der syrischen Truppen und Aufnahme von bilateralen Verhandlungen zu deren Rückzug, außerdem privilegierte Beziehungen zwischen Syrien und dem Libanon unter Garantie der Unabhängigkeit und Souveränität beider Länder.122 Michel Aoun weigerte sich jedoch stur, das Abkommen anzuerkennen und wurde in seinem Widerstand von zahlreichen christlichen Demonstranten unterstützt. Sie sahen in den Vereinbarungen das Ende der christlichen Vormachtstellung im Libanon. Patriarch Sfeir dagegen rief zur Anerkennung des Abkommens auf. Unter syrischer Aufsicht trat unterdessen am 5. November das Parlament zusammen, stimmte für das Abkommen von Taʼif und wählte René Mouawad zum Präsidenten. Aoun weigerte sich, die Ergebnisse anzuerkennen und den Präsidentenpalast zu verlassen. Am 22. November wurde Mouawad bei einem Attentat getötet. Das Parlament wählte wenige Tage später an seiner Stelle Élias Hraoui. Dieser entsetzte Michel Aoun aller seiner Ämter; aber Demonstranten und die Regierung Frankreichs unterstützten ihn weiter. Am 6. Dezember 1989 warnten die maronitischen Bischöfe davor, dass die Divergenzen über das Abkommen von Taʼif zu einem erneuten Aufflammen der Gewalt oder zu einer Teilung des Landes führen könnten. „Um eine Rückkehr der Gewalt zu verhindern, besteht die Lösung in der uneingeschränkten Souveränität, dem Rückzug der ausländischen Truppen sowie dem Bewahren der Einheit des Libanon, der Koexistenz der Religionsgemeinschaften, der Freiheiten und Menschenrechte.“123 Michel Aoun machte Patriarch Sfeir in scharfem Ton Vorwürfe wegen seiner Position mit Blick auf Taʼif; einer Position, die von der Mehrheit der Christen nicht geteilt werde. Der Patriarch seinerseits sah sich genötigt, seine Rolle und die Rolle der maronitischen Kirche in seinem Fastenbrief 1990 zu verteidigen.124 Aoun machte sich unterdessen mit dem Versuch, den christlichen Widerstand durch die Auflösung der Forces libanaises zu einen, deren Führer Samir Geagea endgültig zum Feind. Es kam zur militärischen Auseinandersetzung im christlichen Lager („Bruderkrieg“): neun Monate lang bekämpften sich die Truppen Aouns und die Milizen Geageas trotz der Aufrufe und Vermittlungsbemühungen des Patriarchen, des Apostolischen Nuntius und zahlreicher anderer Kirchenführer zu einem Waffenstillstand (Sfeir am 17. Februar 1990 im Radio: „Hört auf zu kämpfen, habt Mitleid mit den Menschen. Christus 122 Ammoun 2004:912–917. 123 „La solution pour empêcher le retour à la violence réside dans une souveraineté non limitée, le retrait des troupes étrangères, la préservation de lʼunité du Liban, de la coexistence des communautés, des libertés et des droits de lʼhomme.“ POC 39 (1989):396. 124 POC 40 (1990):121–125.

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und seine Gebote sind euch fremd“ und am 2. März: „Ich warne alle, die Befehl geben, das Feuer zu eröffnen, und jene, die ihnen gehorchen. Sie ziehen sich die Exkommunikation zu.“125) Am 9. Oktober 1990 bat Präsident Hraoui Syrien, einzugreifen und die Kämpfe zu beenden. Die syrische Luftwaffe bombardierte den Präsidentenpalast, in dem Michel Aoun weiter residierte. Dieser gab schließlich auf und unterstellte seine Truppen der Regierung von Präsident Hraoui. Damit begann im Libanon die Zeit der Zweiten Republik.126 Der Bürgerkrieg war beendet, viele Probleme jedoch weiter ungelöst. Der Konfessionalismus war weiterhin nicht überwunden; sein Bewusstsein war zu fest in den Köpfen verankert und jede Verschiebung hätte ein neues Aufflammen der Kämpfe hervorrufen können. Die syrischen Truppen zogen erst 2005 ab. Die Hisbollah ließ sich nicht entwaffnen und spielte nunmehr die Rolle der palästinensischen Fedajin im Kampf gegen Israel. Israel zog sich zwar im Jahr 2000 aus dem Sicherheitsstreifen im Südlibanon zurück, griff aber weiter militärisch Ziele im Libanon an, sobald es sich bedroht fühlte, so im Krieg 2006.

Wiederaufbau auf tönernen Füßen Kein Sieger und kein Verlierer: Die Christen des Libanon nach dem Bürgerkrieg Am Ende des Bürgerkriegs 1990 hatte der Libanon Schätzungen zufolge 63,5 Prozent Muslime (davon 29 Prozent Schiiten, 27 Prozent Sunniten) und 36,5 Prozent Christen (22 Prozent Maroniten).127 Andere Schätzungen gehen von 57 Prozent Muslimen (davon 24 Prozent Schiiten, 29 Prozent Sunniten) und 43 Prozent Christen (25 Prozent Maroniten) aus.128 Der Bürgerkrieg hatte die Auswanderung von Christen, die bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte, noch beschleunigt. Zwar waren Christen keineswegs die einzigen, die vom Bürgerkrieg in die Emigration getrieben wurden, aber die Beziehungen zahlreicher Familien zu Verwandten in Frankreich oder auf dem amerikanischen Kontinent hatte es ihnen leichter gemacht als anderen Libanesen. In den Jahren 1975 bis 1980 machten Christen zwischen 50 und 75 Prozent der libanesischen Auswanderer aus. In den 1980er Jahren war die Mehrheit der Auswanderer dagegen muslimisch. Zwischen 1975 und 1984 verließen gut 700.000 Christen den Libanon. Das waren knapp 70 Prozent der Emigranten. Ab 1985 wird der Anteil der Christen an den 125 „Arrêtez de vous battre, ayez pitié des gens. Le Christ et ses commandements vous sont étrangers … Je préviens ceux qui donnent lʼordre dʼouvrir le feu et tous ceux qui leur obéissent quʼils sont passibles dʼexcommunication.“ POC 40 (1990):141, 145. 126 Ammoun 2004:917–923. 127 Zählt man jedoch die fast 2,8 Millionen Auslandslibanesen mit libanesischem Pass hinzu, von denen 1990 schätzungsweise zwei Drittel Christen waren, ändern sich die Proportionen völlig. Valognes 1994:637. 128 Labaki 2008 auf Basis einer Umfrage des Reach Consulting Institute, Beirut.

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Auswanderern konstant mit 17 Prozent angegeben.129 Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine politische Zahl, die vorgetragen wird, damit sich das Bevölkerungsverhältnis offiziell nicht mehr verändert. Am Ende des Bürgerkriegs war jedoch klar: Die Christen hatten ihre hauchdünne Mehrheit an der libanesischen Bevölkerung verloren. Ein Zensus wurde aber nicht durchgeführt. Offiziell gelten die Verhältnisse von 1943 weiter, die die Grundlage für den Nationalpakt waren. Im Parlament retteten die Christen ein Sitzverhältnis von 1:1 für sich. Jeder wusste, dass sie damit überrepräsentiert waren. Aber für die Christen zählte die Tatsache, dass sie politisch nicht in die Minderheit gedrückt wurden. Das Amt des Präsidenten, der vorher die Exekutive führte, war auf eher zeremonielle Angelegenheit beschränkt. Die Führung der Exekutive lag nun beim sunnitischen Ministerpräsidenten. Dies bedeutete einen signifikanten Machtverlust für die Maroniten. Um dem Frieden eine Chance zu geben, einigte man sich aber auf die Formel, die schon den Waffengang 1958 beendet hatte: „Kein Sieger und kein Verlierer!“ (lā ġālib wa-lā maġlūb). Unter den Christen bildete sich in den 1990er Jahren ein politisches Vakuum. Samir Geagea wurde 1994 wegen verschiedener Vergehen zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Die Forces libanaises wurden am 23. März 1994 aufgelöst, ihr Vermögen eingezogen. Michel Aoun befand sich im Exil in Frankreich. Amine Gemayel hatte ebenfalls nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident den Libanon verlassen. Das Verschwinden der führenden christlichen Politiker aus der Öffentlichkeit stärkte die Rolle des maronitischen Patriarchen. 1992 riefen die christlichen Führer zu einem Boykott der Parlamentswahlen auf, was die Stellung der christlichen Politiker weiter schwächte, auch wenn weiterhin eine Hälfte der Parlamentssitze von Christen eingenommen wurde. Von christlicher Seite wurde der Zuschnitt der Wahlbezirke kritisiert: christliche Kandidaten wurden mehrheitlich von muslimischen Wählern gewählt130, während quasi alle schiitischen und sunnitischen Wahlkreise so zugeschnitten waren, dass die Kandidaten jeweils von einer Mehrheit der eigenen Klientel gewählt wurden. Damit sahen Christen ihre Interessen im Parlament nicht mehr angemessen vertreten. Allen voran Patriarch Nasrallah Sfeir hatte im Laufe des Jahres 1992 wiederholt vor verfrühten Parlamentswahlen gewarnt. Freie und authentische Wahlen seien erst möglich, wenn die ausländischen Truppen (gemeint waren die syrischen und israelischen Einheiten) das Land verlassen hätten und die Binnenflüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt seien. Außerdem forderte er ein Wahlrecht für die Auslandslibanesen. Der griechisch-katholische Patriarch Maximos V. teilte die Meinung zur Rückkehr der Flüchtlinge als Voraussetzung für die Durchführung von Wahlen. Der Urnengang fand dennoch im September 1992 statt, boykottiert von den meisten christlichen Parteien. Das politische Leben wurde beherrscht von pro-syrischen ehemaligen Milizenführern 129 Rückwirkend auf die Jahre 1986 bis 1991 angewandte Werte des von 1992 bis 2006 von der Direction générale de la Sûreté Générale angegebenen Durchschnittswerts von 17 Prozent Christen an den Emigranten. Labaki 2008. 130 Nur 18 von 64 christlichen Kandidaten wurden in mehrheitlich christlichen Wahlkreisen bestimmt.

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(PSP, Amal) und dem Präsidenten, dessen Macht fast ausschließlich von syrischer Unter­stützung abhing. Die meisten Christen fühlten sich in dieser politischen Kon­ stellation nicht vertreten.131 Die Rückkehr der vertriebenen Christen aus dem südlichen Matn, Chouf, Aley, Iqlim al-Kharroub und Saida begann im September 1992 und zog sich bis in die 2000er Jahre hin. Drusenführer Walid Joumblatt unterstützte die christlichen Bischöfe und ermutigte die überwiegend maronitischen und griechisch-katholischen Christen, in die Gebiete, aus denen sie zwischen 1983 und 1985 vertrieben worden waren, zurückzukehren. Caritas und Pontifical Mission, eine Einrichtung des Heiligen Stuhls, koordinierten die Hilfen für die rückkehrwilligen Christen. Ein Treffen zwischen Patriarch Sfeir und Walid Joumblatt in Bkerké am 4. September 1993 sollte den Besuch des Pa­ triarchen im Chouf als Zeichen aus Aussöhnung zwischen Christen und Drusen vorbereiten.132 Der Besuch fand allerdings erst im Sommer 2001 statt. Er gilt als historischer Moment für die Versöhnung nach den blutigen Zusammenstößen zwischen Christen in Drusen in der Region 1983/1985.133 Am 2. August 1993 kam es schließlich zu dem seit Beginn des Bürgerkriegs immer wieder erwogenen, aber nie zustande gekommen Gipfel der Religionsführer. In Bkerké trafen sich um den maronitischen Patriarchen Nasrallah Sfeir der griechisch-orthodoxe Patriarch Ignatios IV. Hazim, der melkitische Patriarch Maximos V. Hakim, der syrisch-katholische Patriarch Antoine II. Hayek, der armenisch-orthodoxe Katholikos Karekin II. Sarkissian, der armenisch-katholische Patriarch Jean-Pierre XVIII. Kasparian, Vertreter des syrisch-orthodoxen und des chaldäischen Patriarchen, die Bischöfe der Lateiner und Assyrer, der Präsident des Rates der evangelischen Kirchen sowie mehrere Bischöfe verschiedener Konfessionen. Von muslimischer Seite nahmen der sunnitische Mufti der Republik, der Vizepräsident des Rates der Schiiten, das religiöse Oberhaupt der Drusen sowie weitere Gelehrte der jeweiligen Gemeinschaften teil. Die Religionsführer verurteilten in einer gemeinsamen Erklärung die Aggressionen Israels, forderten die arabischen Länder auf, ihre Versprechungen gegenüber dem Liba­non einzuhalten und baten die befreundeten Staaten um Hilfe für die Opfer des Bürgerkriegs.134 Aus dem Gipfeltreffen ging eine interreligiöse Arbeitsgruppe hervor, die im Januar 1995 eine gemeinsame Erklärung vorlegte. Darin wurde die strukturelle Schwäche des Staats beklagt und von allen Bürgern uneigennütziges gesellschaftliches Engagement gefordert. Die „privilegierten Beziehungen“ zu Syrien wurden anerkannt, aber gleichzeitig die Souveränität und Unabhängigkeit beider Länder betont. Die Religionsvertreter postulierten ein Recht auf Widerstand gegen die israelische Besetzung des Südlibanon, forderten aber auch die Wachsamkeit des Staats mit Bezug auf seine Integrität. Schließlich betonten sie die Notwendigkeit des Zusammenlebens von Christen und Muslimen, das durch ein ausgeglichenes politisches System am 131 132 133 134

POC 42 (1992):173–189, 212–223; Corm 2014:230–232. POC 42 (1992):189–196, 438–442; POC 43 (1993):176–179, 404–405, 434–436. Corm 2014:274. POC 43 (1993):440–446.

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besten geschützt werde. Die Abschaffung des Konfessionalismus wurde dagegen nicht erwähnt.135 Um die Rolle der katholischen Kirche im Libanon zu definieren, berief Papst Johannes Paul II. 1991 eine Bischofssynode für den Libanon ein. Sie fand im November 1995 in Rom statt. Teilnehmer waren die katholischen Patriarchen und Bischöfe des Libanon sowie einige Bischöfe aus den Nachbarländern und anderen katholischen Diözesen. Außerdem waren einige Vertreter der orthodoxen und evangelischen Kirchen sowie der Muslime und Drusen eingeladen. Das nachsynodale Schreiben „Eine neue Hoffnung für den Libanon“ (Une espérence nouvelle pour le Liban) fasste die Ergebnisse der Synode aus Sicht des Papstes zusammen. Johannes Paul II. übergab es offiziell bei seiner Libanon-Reise am 10. Mai 1997. Neben dem Aufruf zur besseren Zusammenarbeit der katholischen Ostkirchen untereinander, zur ökumenischen Zusammenarbeit und zum Dialog mit dem Islam erregte der Abschnitt zur Rolle des Libanon in der arabischen Welt Aufsehen, war doch die Frage nach der Identität des Landes und seiner Integration in die arabische Umwelt seit der Gründung des Staats und während des Bürgerkriegs immer wieder Gegenstand von Debatten gewesen. Johannes Paul II. hielt dazu unter der Überschrift „Solidarität mit der arabischen Welt“ fest: „Ich möchte darauf bestehen, dass es für die Christen des Libanon notwendig ist, ihre Verbindungen der Solidarität mit der arabischen Welt zu erhalten und zu festigen. Ich lade sie ein, über ihre Integration in die arabische Kultur nachzudenken, zu der sie so viel beigetragen haben, als vorzüglicher Ort, um in Einklang mit den anderen Christen der arabischen Länder einen authentischen und tiefgehenden Dialog mit den Gläubigen des Islam zu führen.“136

Zwischen Syrien und der Hisbollah 1995 wurde der Geschäftsmann Rafic Hariri, der durch seine engen Verbindungen zum saudischen Königshaus ein Milliardenvermögen erworben hatte, Ministerpräsident. Er begann ein milliardenschweres Wiederaufbauprogramm, das vor allem das zerstörte Zentrum von Beirut in den Blick nahm und den Libanon in eine riesige Staatsverschuldung führte. Hariri unterhielt beste Beziehungen zu Saudi-Arabien, Frankreich und den westlichen Ländern, verstand es aber auch, sich als Verbündeten Syriens darzustellen. Der Einfluss Syriens im Libanon polarisierte unterdessen die Gesellschaft: Auf der Seite Syriens standen die schiitischen Parteien (Hisbollah, Amal). Unter den Christen unterstützte im Norden des Landes der Maronit Sleiman Frangié, Enkel des 135 POC 46 (1996):235–236. 136 Johannes Paul II., Une espérance nouvelle pour le Liban, 10. Mai 1997, 93. „Je voudrais insister sur la nécessité pour les chrétiens du Liban de maintenir et de resserrer leurs liens de solidarité avec le monde arabe. Je les invite à considérer leur insertion dans la culture arabe, à laquelle ils ont tant contribué, comme un lieu privilégié pour mener, de concert avec les autres chrétiens des pays arabes, un dialogue authentique et profond avec les croyants de l’Islam.“ Über die Synode siehe auch Suermann 2010:129–131.

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ehemaligen Präsidenten gleichen Namens, die Stationierung der syrischen Armee im Land, außerdem Teile der aufgelösten Forces libanaises.137 Der maronitische Patriarch Nasrallah Sfeir forderte dagegen immer wieder den Rückzug der syrischen Truppen und das Ende der syrischen Einflussnahme. Auf seiner Seite standen all diejenigen, die die Souveränität des Libanon und seiner staatlichen Organe stärken wollten.138 Mit dem Rückzug Israels aus dem Südlibanon ergab sich eine neue Situation. Im Mai 2000 zog sich die israelische Armee aus dem sogenannten Sicherheitsstreifen zurück. Mit ihr verließen 5.000 bis 6.000 Personen – Kämpfer der Südlibanesischen Armee, einer seit 1982 von Israel unterstützten christlichen Miliz – das Land Richtung Israel. Die befürchteten Racheakte von Seiten schiitischer Hisbollah-Einheiten an der christlichen Bevölkerung im Süden blieben aus. Der Rückzug Israels aus dem Südlibanon wurde als Sieg der Hisbollah verstanden, die damit stark, weit über die schiitische Bevölkerung hinaus, an Ansehen gewann. Der militärische Widerstand der Hisbollah gegen Israel, der nach 2000 damit gerechtfertigt wurde, dass Israel weiterhin das kleine Gebiet der Shebaa-Farmen bei Marjeyoun besetzt hielt, war die Begründung dafür, dass sie ihre bewaffnete Miliz behalten durfte. Diese wurde nicht wie die anderen Milizen gemäß dem Abkommen von Taʼif aufgelöst und sichert ihr bis heute erheblichen politischen Einfluss. Neben Syrien bildete somit die Hisbollah einen zweiten politischen Faktor, der der staatlichen Souveränität Grenzen setzte.139 Der syrischen Präsenz im Libanon standen zahlreiche Christen weiterhin sehr kritisch gegenüber. Im September 2000 machten die maronitischen Bischöfe in einer Erklärung Syrien für einen Großteil der Missstände im Libanon verantwortlich. Nach dem israelischen Rückzug aus dem Südlibanon bestehe kein Grund mehr für die Präsenz syrischer Truppen. Die Bischöfe forderten unmissverständlich ihren Abzug.140 In ihrer Erklärung vom September 2004 beklagten die maronitischen Bischöfe erneut die syrische Hegemonie: „Heute weiß jeder, dass nicht die Libanesen, sondern die Syrer das letzte Wort im Libanon haben. […] Wir sagen es frei heraus: Syrien ist im Libanon allein verantwortlich seit seinem Einmarsch 1976 und erst recht seit Taʼif; so als handelte es sich um eine syrische Provinz.“141 Bereits seit 2001 hatte sich eine Gruppe christlicher Persönlichkeiten, die gegen die syrische Präsenz kämpften, um den maronitischen Bischof von Antélias, Youssef Béchara, geschart und unter dem Namen Rassemblement de Qornet Chahwan entsprechende Deklarationen herausgegeben.

137 Corm 2014:272–273. 138 POC 43 (1994):405–406. 139 POC 50 (2000):195–196; Corm 2014:263–265. 140 POC 50 (2000):416–418. 141 „Aujourd’hui, tout le monde sait que le dernier mot au Liban n’appartient pas aux Libanais, mais aux Syriens. […] Nous le disons franchement; la Syrie est seule responsable au Liban depuis son entrée en 1976 et surtout depuis Taëf, comme s’il s’agissait précisément d’une province syrienne.“ POC 55 (2005):191.

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Libanon

Die Gruppe verurteilte 2004 auch die von Syrien geplante Verfassungsänderung zur Verlängerung des Mandats von Präsident Emile Lahoud.142 Am 14. Februar 2005 wurde Rafic Hariri, der einige Monate zuvor als Ministerpräsident zurückgetreten war, in Beirut durch einen Bombenanschlag ermordet. Sein Tod und die vermutete Rolle Syriens darin spalteten die Gesellschaft bis zum Äußersten. Anti-syrische Kräfte, die die Forces libanaises von Samir Geagea, den Courant patriotique von Michel Aoun, die Anhänger von Walid Joumblatt und einen Teil der Kommunisten zusammenbrachten, riefen zu Demonstrationen auf. Dem setzen am 8. März die pro-syrischen Parteien, geführt von der Hisbollah, eine Großdemonstration im Zentrum von Beirut entgegen, die an die Verdienste Syriens im Libanon erinnerte. Am 14. März, genau einen Monat nach der Ermordung Hariris fand eine riesige Gegendemonstration statt. Es entwickelten sich die beiden politischen Strömungen des 8. März (pro-syrisch) und des 14. März (anti-syrisch), die in den folgenden Jahren das politische Geschehen und die öffentliche Diskussion beherrschen sollten. Die maronitischen Bischöfe hatten bereits am 17. Februar die Spaltung in zwei Lager beklagt und erneut den Rückzug Syriens gefordert, ohne jedoch das Land direkt zu nennen: „Damit der Libanon von einer Rückkehr der Spaltungen und Kämpfe, die er erlebt hat, verschont bleibt, muss ein Ende der Bevormundung, unter die er gestellt wurde, und jeder ausländischen Einmischung erreicht werden.“143 Die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission durch den UN-Sicherheitsrat zur Untersuchung der Ermordung Hariris und deren Arbeit spaltete die Gesellschaft weiter. Die Regierung wurde durch den Rückzug der pro-syrischen schiitischen Minister handlungsunfähig. Doch dann führte die anti-syrische Stimmung sowie massiver amerikanischer und französischer Druck noch im April 2005 zum Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon. Damit endete ein Kapitel, das 1976 mit dem Eingreifen Syriens in den Bürgerkrieg begonnen hatte.144 Mit dem Rückzug Syriens wurden die Karten im Libanon neu gemischt. Im Mai 2005 kehrte Michel Aoun aus dem Exil zurück und vollzog eine politische Kehrtwende. Vom fanatischen Gegner der Präsenz Syriens – zum Ende des Bürgerkriegs hatte er die libanesische Armee noch in einen Krieg mit den syrischen Truppen geführt – wendete er sich zu einem Verbündeten der pro-syrischen Hisbollah. Während der Westen versuchte, die Untersuchungen zur Ermordung Rafic Hariris zur Isolierung Syriens zu nutzen, unterzeichneten General Aoun und Hisbollah-Führer Hasan Nasrallah am 6. Februar 2006 eine Kooperationsvereinbarung und setzten somit der Syrien-kriti142 POC 55 (2005):192–193. Die Beziehungen von Qornet Chahwan zum maronitischen Patriarchat kühlten sich mit der Amtsübernahme von Patriarch Béchara Raï im Jahr 2011 jedoch merklich ab. Vor allem die Stellungnahmen des Patriarchen zum Bürgerkrieg in Syrien, die von der Gruppe als Parteinahme für Bashar al-Assad und die mit ihm verbündete Hisbollah verstanden wurden, trugen dazu bei. POC 62 (2012):394–395. 143 „Pour que le Liban demeure à l’abri d’un retour aux divisions et aux luttes qu’il a connues, il faut aboutir à la levée de la tutelle sous laquelle il a été placé et à la cessation de toute ingérence étrangère.“ POC 55 (2005):471–472. 144 Corm 2012:308–312.

Wiederaufbau auf tönernen Füßen

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schen Parlamentsmehrheit unter Führung von Samir Geagea und Saad Hariri ein Gegengewicht gegenüber.145 Die Hisbollah fühlte sich stärker denn je. Im Juli 2006 entführte sie zwei israelische Soldaten. Die israelische Reaktion war massiv: 33 Tage lang bombardierte die israelische Armee Ziele nicht nur im Südlibanon, sondern im ganzen Land und zerstörte einen erheblichen Teil der Infrastruktur. Ein Vormarsch von Bodentruppen kam angesichts des massiven Widerstands der vom Iran aufgerüsteten Hisbollah-Milizen jedoch nicht voran. Diese schossen Tausende Raketen auf den Norden Israels ab und schafften es so, den Krieg auch nach Israel hineinzutragen. Das Ende der Kampfhandlungen, das nach knapp über einem Monat vom UN-Sicherheitsrat verlangt wurde, wurde im Libanon als Sieg der Hisbollah über Israel gefeiert.146 Die christlichen, muslimischen und drusischen Religionsführer trafen sich am 1. August zu Beratungen in Bkerké. In einer Erklärung verurteilten sie die israelische Aggression und forderten die Umsetzung aller Vereinbarungen, die in Taʼif getroffen wurden, namentlich die volle Kontrolle der staatlichen Organe über das gesamte Territorium auf allen Ebenen: Politik, Sicherheit, Justiz und Sozialwesen. Dies ging implizit auch an die Adresse der Hisbollah, die zwar als Teil der nationalen Einheit und für ihren Widerstand gegen Israel gelobt wurde, aber an vielen Stellen im Süden des Landes die staatlichen Organe ersetzte. Damit wurde ein Wiederaufflammen konfessioneller Gegensätze befürchtet, zumal viele Christen den Aufstieg der Hisbollah mit großer Sorge beobachteten.147 Ab Anfang 2007 nahm die Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten tatsächlich zu. Im Januar 2007 rief die Hisbollah zu einem Generalstreik auf, um Ministerpräsident Fouad Siniora zum Rücktritt zu zwingen und die Einsetzung einer Regierung der nationalen Einheit unter Beteiligung aller Parteien durchzusetzen. In Beirut wurden Barrikaden aufgebaut. Patriarch Sfeir bezog eindeutig Partei für die anti-syrischen Kräfte des 14. März und Ministerpräsident Siniora. Er handelte sich damit die Kritik der pro-syrischen Politiker Sleiman Frangié und Michel Aoun ein, die ihn aufforderten, sich aus der Politik herauszuhalten.148 Die Bewegungen des 8. und des 14. März blockierten sich gegenseitig. Die für November 2007 geplante Wahl eines neuen Präsidenten konnte mangels Einigung nicht stattfinden. Mit dem Ende der Amtszeit von Präsident Emile Lahoud, der für eine gemäßigt pro-syrische Politik stand, trat eine Vakanz ein. Das Walten der Syrien-kritischen Regierung Siniora führte zu einer weiteren Spaltung des Landes. Die Entscheidung der Regierung vom 3. März 2008, das Telekommunikationsnetz der Hisbollah abbauen zu lassen und den Sicherheitsbeauftragten des internationalen Flughafens, der als Hisbollah-nah galt, zu entlassen, führte zu einer akuten Krise. Die Hisbollah demonstrierte ihre Macht, indem sie die Kontrolle an neuralgischen Punkten in Beirut übernahm, diese aber nach wenigen Stunden in die Hände der Armee übergab. Ihre militärische Überlegenheit war damit unter Beweis 145 146 147 148

Corm 2012:315–323. Corm 2012:325–337. POC 57 (2007):202–203. Siehe dazu POC 59 (2009):432–433, 436–437.

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gestellt. Um die Spannungen abzubauen, lud die Regierung Qatars Mitte Mai zu einer Konferenz nach Doha ein. Die beiden Strömungen fanden dort zu einer Lösung, die unter anderem die Wahl des Armeechefs Michel Sleiman zum Präsidenten vorsah, die Revision der Wahlkreise (so dass nun wieder 49 von 64 christlichen Abgeordneten in mehrheitlich christlichen Wahlkreisen bestimmt wurden) und die Bildung einer Regierung unter Beteiligung der beiden Lager sowie neutraler Kräfte. Die akute Krise war damit zunächst überwunden.149 Patriarch Sfeir forderte unterdessen weiterhin die Entwaffnung der Hisbollah, der einzigen Miliz, die trotz der Vereinbarungen von Taʼif ihre Waffen nicht abgegeben hatte. Sie müsse in die libanesischen Streitkräfte eingegliedert werden, denn es könne nicht zwei Armeen im Staat geben.150

Vorzimmer des syrischen Bürgerkriegs: der Libanon seit 2011 Der Ausbruch der Proteste gegen das Assad-Regime in Syrien im März 2011 heizte im Libanon die Diskussion zwischen den Kritikern Syriens aus dem Lager des 14. März (anti-syrisch/anti-Assad) und dem Lager des 8. März (pro-syrisch/pro-Assad) wieder an.151 Der Arabische Frühling hatte im Libanon im Februar und März 2011 nur kurzzeitig zu Protesten geführt. Dabei wurden die Abschaffung des Konfessionalismus und die Einführung der Zivilehe gefordert. Zu einem Sturz der Regierung wie in Tunesien oder Ägypten kam es aber nicht.152 Dafür geriet der Libanon in den Einflussbereich des syrischen Bürgerkriegs. Ab 2012 nahmen die Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung von Bashar al-Assad im Libanon zu, namentlich zwischen der Hisbollah, die auf der Seite Assads stand, und den Sunniten, vor allem in den Städten Tripolis und Saida, die mehrheitlich die syrische Opposition unterstützten. Immer öfter kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Anschlägen. Eine Partei des dritten Wegs bemühte sich in der „Deklaration von Baabda“ um Distanz von den Problemen Syriens; die Teilung in pro- und anti-syrische Lager nütze weder den Christen noch den Muslimen und schade dem nationalen Zusammenhalt. Stattdessen forderte sie, dass man sich auf die Probleme des Libanon konzentriere und das Land zu einem Beispiel der Demokratie, Freiheit und der christlich-muslimischen Zusammenarbeit mache. Der maronitische Patriarch Béchara Raï, seit März 2011 Nachfolger von Nasrallah Sfeir, versuchte unterdessen in seinen Stellungnahmen, die christliche Position zur Syrienkrise zu entpolitisieren und humanitäre und soziale Aspekte in der Vordergrund zu stellen.153 Das Ende der Amtszeit von Präsident Michel Sleiman am 25. Mai 2014 führte den Libanon erneut in ein Patt der beiden Parteien: Samir Geagea (Bewegung des 14. März) 149 150 151 152 153

Corm 2012:346–359. POC 60 (2010):209–210. Corm 2012:379. Corm 2012:380. Cannuyer 2013:19–23.

Vorzimmer des syrischen Bürgerkriegs: der Libanon seit 2011

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und Michel Aoun (Bewegung des 8. März) beanspruchten beide das Amt für sich. Trotz zahlreicher Appelle auch der Bischöfe gelang monatelang keine Einigung, so dass das Amt bis zur Wahl Michel Aouns am 31. Oktober 2016 vakant blieb. Eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben des Libanon ist seit 2004 die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Ländern des Nahen Ostens, zunächst aus dem Irak, später aus Syrien. Mit der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen stellen sich ähnliche Fragen wie in den 1960er und 70er Jahren mit Blick auf die Palästinenser. Die demographischen Gegebenheiten, vor allem die numerischen Verhältnisse zwischen den Religionsgemeinschaften, verschieben sich, auch wenn die libanesische Politik die Augen davor verschließt.154 Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon lag nach UN-Angaben 2010 bei rund 456.000. 2010 hatten sich die maronitischen Bischöfe gegen eine dauerhafte Ansiedlung dieser Flüchtlinge im Libanon ausgesprochen, weil dies nicht nur das Rückkehrrecht der Palästinenser in ihre Heimat gefährde, sondern auch „eine größte Gefahr für den Libanon“ sei.155 Zu den Palästinensern kamen ab 2003 irakische Flüchtlinge. Es wird geschätzt, dass die Zahl der Iraker, die zwischen 2003 und 2008 in den Libanon kamen, 40.000 bis 50.000 Personen betrug, davon etwa 12.000 Christen. Hilfe leisteten vor allem die Caritas und für die christlichen Flüchtlinge die chaldäische Diözese Beirut.156 Ab 2012 kamen auch Hunderttausende syrische Flüchtlinge in den Libanon. Sie fanden Aufnahme in den Armenvierteln von Beirut und in inoffiziellen Lagern in der Bekaa-Ebene sowie im Norden. Der libanesische Staat duldet keine offiziellen Flüchtlingslager für Syrer aus Sorge, diese könnten sich wie die Palästinenserlager verstetigen. Bis Ende 2012 wurde die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf 175.000, Ende Juni 2013 bereits auf über eine halbe Million geschätzt. Im Jahr 2015 stieg die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf über 1,5 Millionen an. Erst seit Sommer 2018 kehrt ein Teil der Flüchtlinge dauerhaft nach Syrien zurück. Der maronitische Patriarch Béchara Raï geht angesichts der Flüchtlingszahlen soweit zu sagen, der Libanon sei zum „Vorzimmer des Exodus“ des Syrienkriegs geworden.157 Die sozialen Spannungen sind heute enorm: 2015 wurden mehr syrische als libanesische Kinder eingeschult, 40.000 Geburten libanesischer Kinder standen 70.000 Geburten syrischer Kinder auf libanesischem Boden gegenüber. Der Arbeitsmarkt ist extrem angespannt: die billigen Arbeitskräfte nehmen Libanesen die Jobs weg, vor allem im unteren Lohnsektor, die Arbeitslosigkeit insgesamt nimmt zu. Mieten und Lebenshaltungskosten steigen immer weiter an, ganz zu schweigen von der Verschlechterung der Sicherheitslage (durch terroristische Anschläge oder politisch motivierte Gewalt) und die Zunahme der Kriminalität. Dem Staat fällt es zunehmend schwer, seine Auf154 Der Libanon hat die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 nie unterzeichnet und gewährt grundsätzlich kein Asylrecht. Auch der Zugang zum Arbeitsmarkt und der Sozialversorgung für Flüchtlinge sowie das Recht auf Immobilienbesitz sind stark eingeschränkt. Dies gilt sowohl für palästinensische, also auch für irakische und syrische Flüchtlinge. 155 POC 61 (2011):190–192. 156 POC 59 (2009):197; POC 61 (2011):192. 157 Raï 2016:143.

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gaben wahrzunehmen. Dies wirkt sich wiederum auf die Kirchen aus. So stellte der Staat im November seine Subventionszahlungen an die katholischen Schulen ein. Sie befinden sich seither in einer finanziellen Krise, manche sind sogar von der Schließung bedroht.158 Der Anteil der Christen an den Flüchtlingen aus Syrien lässt sich schwer ermitteln. Zunächst haben die reichen Familien Syrien verlassen. Sie mieteten im Libanon Wohnungen und fielen kaum auf. Kirchlich integrierten sie sich in die bestehenden Gemeinden. Zunehmend kamen aber auch ärmere Familien und die Ersparnisse der Mittelklasse erschöpften sich. Diese Menschen suchten Unterkunft in einfachsten Wohnungen, Kellern, Garagen und anderen prekären Wohnsituationen. In Lagern leben christliche Flüchtlinge nicht, diese sind fast ausschließlich von sunnitischen Flüchtlingen bewohnt. Die melkitische Erzdiözese Zahlé schätzte die Zahl der christlichen Familien aus Syrien, die in der Bekaa-Ebene Zuflucht gesucht hatten, im Jahr 2014 auf 1.000, das entspricht rund 5.000 Personen. Andere lebten im Raum Beirut in ähnlichen Verhältnissen. 2015 kamen rund 10.000 assyrische und syrisch-orthodoxe Flüchtlinge der vom IS eroberten Khabur-Region in Syrien hinzu. Sie siedelten sich überwiegend in den Außenbezirken von Beirut an.159 Mit dem Vormarsch des Islamischen Staats im Irak nahm auch die Zahl christlicher Flüchtlingsfamilien von dort wieder zu. Sie dürfte im Sommer 2018 bei rund 25.000 gelegen haben. Die chaldäische Diözese Beirut gab die Zahl der chaldäischen Familien aus dem Irak im Februar 2017 mit rund 3.200 an. Sie leben in Baouchrie, Bourj Hammoud, Dekwaneh und Zalqa im Großraum Beirut. Das syrisch-katholische Patriarchat gab an, dass 2016 rund 1.300 syrisch-katholische Familien aus dem Irak im Libanon gelebt haben. Da mittlerweile allerdings syrisch-katholische Flüchtlinge aus dem Irak im Rahmen von Umsiedlungsaktionen des UNHCR nach Australien, Europa und Kanada ausgewandert sind, dürfte ihre Zahl inzwischen abgenommen haben. Es wird allerdings geschätzt, dass sich rund 1.000 syrisch-katholische Familien, also etwa 5.000 Personen, weiterhin im Libanon aufhalten.160 Die Zahl der Flüchtlinge bedroht den Proporz zwischen den Konfessionsgruppen im Libanon. Daher haben sich seit Beginn der Krise in Syrien auch die (christlichen, muslimischen und drusischen) Religionsführer immer wieder mahnend zu Wort gemeldet. So warnten sie bereits nach ihrem Gipfeltreffen im März 2015 davor, dass der Libanon nicht in der Lage sei, so viele Flüchtlinge aufzunehmen: „Zwar drückt der Libanon sein Mitleid mit der Situation der Flüchtlinge aus, dennoch schätzt er, dass ihre Zahl und ihre geographische Verteilung auf das gesamte Land seine Aufnahme158 Zum Verlust der staatlichen Subventionen kommt hinzu, dass im Jahr 2017 per Gesetz die Lehrergehälter auch für Privatschulen um 50 Prozent erhöht wurden. Viele katholische Schulen stellt dies vor erhebliche Probleme. Bis Juli 2018 mussten bereits 500 Lehrer entlassen werden. Eine entsprechende Erhöhung des Schulgelds, um die Verluste der Subventionen und die Ausgabensteigerungen auszugleichen, entspräche nicht dem Geist der Schulen, die auch für ärmere Familien offen sein sollen. Die zahlreichen Interventionen der Bischöfe sind bis Sommer 2018 ohne Ergebnis geblieben. 159 POC 65 (2015):395–396. 160 Oehring 2017a:94–95.

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fähigkeit überschreitet und ein Problem darstellt auf der Ebene der Sicherheit, des Wohnraums, der Arbeitsplätze, der Gesundheit, der Bildung, der Infrastruktur (Wasser und Elektrizität), der Nahrungsmittelversorgung und des Transports.“161 Seit Sommer 2017 wird der Ton auf Seiten der maronitischen Kirche schärfer. Im Juli 2017 forderte der maronitische Patriarch Béchara Raï Präsident Michel Aoun auf, die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat voranzutreiben. Er machte die Anwesenheit der Flüchtlinge dafür verantwortlich, dass wirtschaftliche und soziale Lasten, Sicherheitsbedenken und Zukunftsangst unter den Libanesen wüchsen. Dadurch würden junge Libanesen zur Auswanderung veranlasst. Trotz humanitärer Solidarität mit den Vertriebenen müsse daher die baldige Rückkehr der Flüchtlinge nach Syrien eingeleitet werden. Am 2. August forderten die maronitischen Bischöfe von der Regierung einen Plan zur Rückführung der Flüchtlinge. In diesem Sinne forderte der maronitische Bischofsrat im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 6. Mai 2018 erneut die künftigen Parlamentarier und Regierungsmitglieder auf, sich mit Präsident Aoun bezüglich der Lösung des Flüchtlingsproblems zu beraten, um einen „globalen Plan“ auszuarbeiten, der darauf abzielt, die Rückführung von syrischen Flüchtlingen zu ermöglichen. Erneut warnte die maronitische Kirche damit vor einem dauerhaften Verbleib der syrischen Flüchtlinge im Libanon. Dies hätte nach Ansicht der Bischöfe unvorhersehbare Auswirkungen auf die ohnehin schon schwierige Wirtschaftslage und würde letztlich das demographische Profil des Landes verändern und eine weitere Belastung für das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften bedeuten.

Abgrenzung oder Zusammenarbeit? Der Libanon am Scheideweg Angesichts der Krisen und Kriege in Syrien und dem Irak nehmen Christen aus der gesamten Region den Libanon mehr denn je als sicheren Hafen wahr. Sie kommen damit auf eine der Gründungsideen des Libanon zurück. Aber zunehmend ist dieser Rückzugsort für Christen im Nahen Osten bedroht. Demographie und Auswanderung haben Christen zu einer Minderheit im Land werden lassen. Politisch gespalten zwischen Verbündeten der sunnitischen und schiitischen Parteien, versuchen sie das „Zünglein an der Waage“ zu sein, demonstrieren damit aber nur – wie bei der 29 Monate lang blockierten Präsidentenwahl zwischen Mai 2014 und Ende Oktober 2016 – ihre Ohnmacht. Manche glauben, dass das konfessionalistische System nicht mehr lange funktionieren kann. Dabei wollen sie aber den Pluralismus im Libanon und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Gruppen als Vorbild auch für die anderen Länder des Nahen Osten unbedingt erhalten. Zu ihnen gehört beispielsweise die Stiftung Adyan zur Förderung 161 „Tout en exprimant sa compassion pour la situation des réfugiés, le Liban estime que leur nombre et leur dispersion géographique sur toute l’étendue du territoire dépasse sa capacité d’accueil et fait problème en matière de sécurité, d’habitat, d’emploi, de santé, d’éducation, d’infrastructure (eau et électricité), d’alimentation et de transport.“ POC 65 (2015):401–402.

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der interreligiösen Verständigung. Ihre Gründer und Leiter, der maronitische Priester Fadi Daou und die muslimische Theologin Nayla Tabbara, sehen die Zukunft der Region in einer „interkulturellen Staatsbürgerschaft“ (intercultural citizenship). Im Unterschied zum Säkularismus, der im Libanon wie in der gesamten Region als westliches Konzept abgelehnt wird, nimmt diese Idee die positiven Aspekte aus den unterschiedlichen Religionen und Kulturen auf. Fadi Daou arbeitet in seiner Stiftung mit Menschen aus verschiedenen Religionen zusammen und überzeugt Religionsführer, an der Verwirklichung der Ziele mitzuarbeiten. So zeigt er anschaulich, worum es ihm und seinen Mitstreitern geht: Gesellschaftliches Mitwirken, das offen ist für alle; keine Isolation im Raum der eigenen Kirche oder Moscheegemeinde; keine Politik, die sich ausschließlich um die eigenen Interessen dreht, sondern Suche nach gemeinsamen Projekten und Identifikation gemeinsamer Symbole.162 Zwar genießt die Gruppe die Unterstützung vieler Bischöfe und muslimischer Religionsgelehrten. Auch staatliche Einrichtungen wie das Erziehungsministerium arbeiten mit der Stiftung zusammen. Dennoch sollte man ihren Einfluss nicht überschätzen, zu tief sitzt die Tradition des Konfessionalismus im Libanon.163 Viele Christen wählen dennoch die Alternativen zu dieser gesellschaftlichen Partizipation unter Überwindung der konfessionellen Grenzen: Auswanderung und Abgrenzung. Die Zahlen der Auswanderer haben sich relativiert. Inzwischen verlassen Menschen aller Religionszugehörigkeiten den Libanon. Nicht weil sie verfolgt werden, sondern weil sie bessere wirtschaftliche Perspektiven im Ausland sehen. Den Bevölkerungsproporz verändert dies kaum. Dennoch sehen Christen die Auswanderung weiterhin mit Sorge. Bedrohlicher als die Auswanderung ist die Flucht in die eigene Identität, die Konzentration der Christen auf die überwiegend oder rein christlichen Gebiete und der Rückzug der Christen aus gemischten Stadtvierteln und Dörfern. Für viele scheint dies zunächst der einfachste Weg zu sein: in rein christlichem Milieu kann man die eigenen Traditionen besser pflegen, muss weniger Rücksicht auf die anderen nehmen, fühlt sich nicht bedroht durch die Parolen der Hisbollah oder radikal­ islamische Prediger, die den islamistischen Widerstand gegen das alawitische System in Syrien unterstützen. Auf Dauer bedroht dieser Rückzug vieler Christen aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Libanon – wenn es ihn je gab. Die Rolle der Christen wird immer wieder als der Zement der Gesellschaft beschrieben, der die unterschiedlichen Bausteine aneinanderbindet. Bisher wohnen Christen in der Nachbar162 Als ein solches Symbol gilt beispielsweise der 25. März, Festtag der Verkündigung der Geburt Jesu an Maria, den die Regierung 2010 zum nationalen Feiertag erklärte. Die jungfräuliche Geburt Jesu, der auch im Islam als Prophet verehrt wird, sollte Christen und Muslime des Libanon in einem gemeinsamen Fest zusammenführen. POC 60 (2010):455–457. 163 Siehe dazu auch Vogt 2016:16. Eine Selbstdarstellung der Ziele der Stiftung findet sich in: Toolkit for Education on Intercultural Citizenship in the Arab World, http://www.adyanonline.com/course/ view.php?id=67 (abgerufen am 23.07.2018). Die theologischen Grundlagen ihrer Arbeit haben Fadi Daou und Nayla Tabbara niedergelegt in ihrem gemeinsam verfassten Buch Lʼhospitalité divine: Lʼautre dans le dialogue des théologies chrétienne et musulmane, Zürich, Berlin, 2013, deutsch: Göttliche Gastfreundschaft : der Andere – Christliche und muslimische Theologien im Dialog, Berlin, 2017.

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schaft von Sunniten und von Schiiten. Die beiden islamischen Konfessionsgruppen dagegen leben schon seit langem säuberlich voneinander getrennt. Wenn sich jetzt auch noch die Christen zurückziehen, verlieren sie ihre Rolle als Vermittler zwischen Sunniten und Schiiten und sie verzichten auf eine Idee, die am Anfang des Libanon stand: Brückenbauer zu sein zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt oder, wie es der maronitische Patriarch Béchara Raï formuliert: „Wir haben den arabischen Gesellschaften unsere Kultur vermittelt, unsere christlichen Werte, unseren Begriff von Freiheit, unseren Ansatz der Menschenrechte, der Demokratie und vor allem die Offenheit für den Anderen: diesen Nächsten, der uns ähnlich ist. Wir haben auch viel an geistlichen und menschlichen Werten von den Muslimen empfangen. Wir haben dazu beigetragen, gemeinsam Geschichte zu schreiben, unabhängig von den herrschenden Regimen.“164

164 „Nous avons véhiculé dans les sociétés arabes notre culture, nos valeurs chrétiennes, notre conception de la liberté, notre approche des Droits de l’homme, de la démocratie et surtout notre ouverture à l’autre : ce prochain qui porte en lui la ressemblance. Nous avons aussi beaucoup reçu des valeurs spirituelles et humaines des musulmans. Nous avons contribué à écrire ensemble une histoire, indépendamment des régimes en place.“ Raï 2016:45–46.

Syrien Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. (Apg. 9, 3)

Von Paulus zur Jungfrau von Saidnaya: Christentum in Syrien von der Frühzeit bis heute

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or Damaskus in Syrien wurde aus dem Christenverfolger Saulus der Heidenmissionar Paulus (Apg. 9, 1–25). „In Antiochia nannte man die Jünger zum erstenmal Christen.“ (Apg. 11, 26). Petrus wirkte in Antiochien, das am Orontes im historischen Syrien liegt, und der heilige Ignatius, bekannt für seine Theologie des Martyriums, war einer der ersten Bischöfe der Stadt. Antiochien war die Hauptstadt der römischen Provinz Syria. Damit wurde es auch nach der Christianisierung schnell ein kirchliches Zentrum. Der Bischof der Stadt trug den Titel eines Patriarchen, neben den Bischöfen von Rom, Alexandrien und Konstantinopel (451 später kam noch Jerusalem hinzu). Die Standorte der beiden theologischen Schulen von Nisibis und Edessa liegen zwar heute auf dem Gebiet der Türkei, zählen aber zu den Zentren des syrischen Christentums des 4. und 5. Jahrhunderts. Ephraem der Syrer (ca. 306–373) wird nicht nur in den Ostkirchen bis heute als Autor zahlreicher Hymnen hoch verehrt. Die Heiligen Sergius und Bacchus, Offiziere der römischen Grenztruppen in Syrien, erlitten zu Beginn des 4. Jahrhunderts das Martyrium am Euphrat bei der heutigen Stadt Rusafa, dem antiken Sergiopolis. Dort entwickelte sich in der Spätantike ein reger Märtyrerkult und eine vielbesuchte Soldatenwallfahrt. Mitte des 5. Jahrhunderts wirkte in Nordsyrien der Säulenheilige Simeon. In strenger Askese verbrachte er Jahre auf der Spitze einer Säule. Später entstand auch dort eine große Wallfahrtsbasilika. Bis heute erinnern die Ruinen an die einst blühende spätrömische Kultur in der Region. Kurz nach der islamischen Eroberung Syriens – 635 fiel Damaskus, 637 Homs und 639 Aleppo in die Hände der Muslime – lebte Johannes von Damaskus, mit arabischem Namen Yaḥyā ibn Sarǧun ibn Manṣūr. Wie sein Vater stellte er sich in den Dienst der Umayyadenkalifen, die ihre Hauptstadt in Damaskus hatten. Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er in einem Kloster in Palästina. Der heilige Johannes von Damas­ kus war einer der ersten christlichen Autoren, der über den Islam schrieb; aller­ dings behandelte er die neue Religion als eine Häresie des Christentums. Während der Umayyaden­zeit (661–750) erlebte Syrien eine kulturelle Blüte, aber auch die erste Welle der Islamisierung des bis dahin weitgehend christlichen Landes. Unter dem Umayyadenkalifen al-Walīd ibn Marwān (705–715) wurde die Johannesbasilika von Damaskus, in der das Haupt Johannes des Täufers aufbewahrt wurde, in eine Moschee

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umgewandelt. Arabisch wurde zur Umgangssprache der Bevölkerung, die vorher in den Städten meist griechisch, auf dem Land syro-aramäisch gesprochen hatte. Mit der Lockerung der Beziehungen zur byzantinischen Reichskirche, deren Sprache immer das Griechische blieb, setzte sich später auch Arabisch als Kirchensprache des Patriarchats von Antiochien immer mehr durch.1 Nur die kaum städtisch geprägte nicht-chalzedonische Kirche, nach ihrem Reorganisator Jakob Barradäus (ca. 500–578) auch „Jakobitische Kirche“ genannt (später nahm sie offiziell den Namen syrisch-­ orthodoxe Kirche an), hielt noch länger – an manchen Orten bis heute – an der syro-­ aramäischen Sprache für den Gottesdienst fest. Mit der Gründung der neuen Hauptstadt Bagdad durch die Abbasiden (750–1258) rückte Syrien wieder mehr in die Rolle einer Grenzprovinz des Kalifenreichs. Die Kreuzzüge berührten das Gebiet des heutigen Syrien eher am Rande. Nur in der Küstenebene entstanden Kreuzfahrerstaaten, so das Fürstentum Antiochien (1098–1267). Die ägyptische Dynastie der Mamluken brachten das Gebiet wieder fest in islamische Hand. 1516 eroberten die Osmanen das heutige Syrien. Unter ihrer Herrschaft sollte das Land bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bleiben. In osmanischer Zeit entwickelte sich Aleppo zu einem Zentrum des Christentums. Die Stadt war ein wichtiger Umschlagplatz im Handel zwischen Asien und Europa. Alle wichtigen Orient-Handelshäuser hatten dort ihre Vertreter. Mit ihnen kamen die Konsuln der europäischen Mächte, um dort die Interessen ihrer Kaufleute zu vertreten. Im Gefolge der Händler kamen aber auch katholische Missionare, meist aus Frankreich. Frankreich übernahm mit dem Vertrag zwischen König Franz I. und dem osmanischen Sultan Süleyman dem Prächtigen 1536 – den sogenannten Kapitulationen – erstmals die Rolle einer Schutzmacht über die katholischen Pilger im Heiligen Land und über die katholischen Orden an den Heiligen Stätten. Diese Ansätze entwickelte Frankreich weiter zu einem Protektorat über die katholischen Christen im Osmanischen Reich. Als Auswirkungen dieser Verträge und durch das Interesse der 1622 vom Papst gegründeten Kongregation De Propaganda Fide, die auch für die Gläubigen der orientalischen Kirchen zuständig war, siedelten sich immer mehr französische Ordensleute in Aleppo an: Jesuiten, Karmeliten und Kapuziner. Im 17. Jahrhundert bemühten sich zwei rivalisierende Kandidaten um den Patriarchenthron von Antiochien um ihre Anerkennung durch den Papst (seit dem 14. Jahrhundert hatte die Patriarchen ihren Sitz in Damaskus). 1683 wurde ein Schüler der westlichen Missionare Bischof von Sidon und Tyros und gewann die dortigen Gläubigen für eine Union mit Rom. Auch in Aleppo bildete sich ein Zentrum der sogenannten Unionisten. In Damaskus wurde immerhin ein Teil der Gläubigen für eine Union mit Rom gewonnen. 1724 wählte das Volk von Damaskus einen ehemaligen Schüler der Propaganda zum Patriarchen. Allerdings setzte die Synode der Kirche, die in Konstantinopel zusammengetreten war, unmittelbar darauf einen Gegenkandidaten ein, der eine Union ablehnte. Kyrillos VI. Tanas (1724–1759), 1 In Syrien war neben dem Griechischen bis zum 12. Jahrhundert auch Syro-Aramäisch als Kirchensprache des Patriarchats von Antiochien üblich, vor allem außerhalb der Städte.

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der romtreue Patriarch, betrachtete sich jedoch als legitimen Amtsträger, auch wenn er vom osmanischen Sultan nicht als solcher anerkannt wurde. Er musste aus Damaskus in ein Kloster im Libanon fliehen und erhielt dort 1729 seine Anerkennung durch Rom. Dies kann als Gründung der griechisch-melkitisch-katholischen Kirche betrachtet werden, die seither eine eigene Hierarchie neben der griechisch-orthodoxen Hierarchie des Patriarchats von Antiochien hat. Um den Einfluss Konstantinopels auf das orthodoxe Patriarchat von Antiochien zu stärken, wurde die Hierarchie dieser Kirche seit dem 18. Jahrhundert weitgehend hellenisiert, so dass nur noch griechisch-sprachige Kandidaten die Ämter der Bischöfe und Patriarchen einnahmen. Dies weckte Widerstand unter den arabisch-sprachigen Gläubigen und war ein Vorteil für die mit Rom unierte melkitische Kirche, deren Bischöfe und Patriarchen allesamt Einheimische waren. Im 19. Jahrhundert beförderte Russland den arabischen Nationalismus der orthodoxen Gläubigen. Sankt Petersburg wollte mehr Einfluss auf die Kirche gewinnen und sie dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel, das fest unter osmanischer Kontrolle stand, entfremden. Die Gläubigen forderten immer vehementer die Einsetzung eines arabischen Patriarchen und arabischer Bischöfe. Mit der Wahl Meletios II. Doumani im Jahr 1899 gelangte erstmals seit langem ein arabischer Kandidat auf den Patriarchenthron (bis 1906). Seither hat sich auch der gesamte Episkopat arabisiert. Ignatios IV. Hazim (1979–2012), der aus der orthodoxen Jugendbewegung MJO hervorgegangen ist (siehe das Kapitel über den Libanon, Abschnitt Die Christen des Libanon), war ein besonderer Verfechter des arabischen und orientalischen Charakters seiner Kirche. Aber auch die katholischen melkitischen Patriarchen, allen voran Maximos V. Hakim (1967–2000), wurden nicht müde, die Verwurzelung ihrer Kirche in der orientalischen Kultur und der arabischen Sprache zu betonen. Neben der griechisch-katholischen Kirche entstand in Syrien auch die syrisch-katholische Kirche. Die „Jakobiten“ hatten in Syrien und Mesopotamien eine lange Tradition, und ihre Kirche hatte nicht erst während der islamischen Herrschaft eine Reihe großer Gelehrter hervorgebracht, so den Patriarchen Michael den Syrer (1126–1199, Patriarch ab 1166), nicht zuletzt für seine historischen Werke bekannt, und den Bischof und Gelehrten Gregorios bar ʿEbrōyō (Barhebräus, 1226–1286). Im 17. Jahrhundert kam es erstmals zum Bruch innerhalb der Kirchen zwischen Anhängern einer Union mit Rom und den Traditionalisten. 1656 wurde ein jakobitischer Kaufmannssohn, der zum Katholizismus übergetreten war, vom maronitischen Patriarchen zum ersten „syrisch-katholischen“ Bischof von Aleppo geweiht. Die Linie wurde zwar anfangs von den osmanischen Behörden anerkannt, erlosch aber 1721 wieder. Erst 1783 trat der jakobitische Metropolit von Aleppo, Michel Jarweh, zur katholischen Kirche über, zusammen mit vier weiteren Bischöfen. Sie erklärten ihn in Mardin (im Tur Abdin) zum Patriarchen und der Papst bestätigte diesen Titel. So war neben der syrisch-orthodoxen die syrisch-katholische Kirche entstanden. Eines ihrer Zentren blieb Aleppo, wo das Wachstum der mit Rom unierten Kirchen durch das Wirken lateinischer Missionare und der französischen Konsuln befördert wurde.

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Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Syrien zusammen mit dem Libanon zu einem Zufluchtsort für Christen aus Anatolien. Mehrere zehntausend Armenier und Syrer flüchteten in den ersten Jahren nach dem Krieg nach Syrien und siedelten sich zum Teil im nordöstlichen Grenzgebiet zur Türkei nahe ihrer alten Siedlungsgebiete rund um die Städte Qamishli, Hassake und al-Malikiyya an. Andere zogen in die Städte, vor allem nach Aleppo, Homs und Damaskus. Besonders Aleppo zog viele Christen an. Aleppo wurde so zum Zentrum der Armenier in Syrien, aber auch die armenische Gemeinde in Damaskus vergrößerte sich deutlich durch die Zuwanderung aus Anatolien. Sie waren überwiegend als Handwerker und Geschäftsleute tätig. Aus Aleppo sind infolge des aktuellen Bürgerkriegs mindestens zwei Drittel der Christen geflohen, darunter viele Armenier (vor dem Bürgerkrieg sollen es 60.000 gewesen sein). Ihre Rückkehr wird auch mit den Möglichkeiten zusammenhängen, dort wieder Geschäfte zu betreiben. Der syrisch-orthodoxe Patriarch Ignatius Aphrem I. Barsoum (1933–1957) verlegte den Sitz des Patriarchats vom Kloster Deir al-Zaafaran im türkischen Tur Abdin 1933 nach Homs in Syrien. Dort besitzt die syrisch-orthodoxe Kirche mit der Kathedrale Umm al-Zunnār, in der ein Gürtel der Jungfrau Maria verehrt wird, eine der ältesten Kirchen des Landes. Sein Nachfolger Ignatius Jakob III. (1957–1980) transferierte den Sitz des Patriarchats schließlich 1959 nach Damaskus. Syrisch-orthodoxe Christen leben überwiegend in den Städten und in der Jazira, wohin sie nach dem Ersten Weltkrieg gelangt sind. Aber auch einige Dörfer, so die beiden Orte Sadad und Hofar südlich von Homs, sind traditionell syrisch-orthodox. In Maʼarrat Saidnaya, im Qalamun-Gebirge nordwestlich von Damaskus gelegen, ließ Patriarch Ignatius Zakka I. Iwas (1980–2014) eine Residenz mit großer Klerikerschule anlegen, an der bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs auch viele Seminaristen der syrisch-orthodoxen Kirche aus Indien studierten. Traditionell leben auch zahlreiche Maroniten in Syrien, wo die Kirche im Orontes-­ Tal ihren Ursprung nahm. Sie leben heute überwiegend in Damaskus und Aleppo sowie in der Küstenebene zwischen Lattakia und Tartus. Aleppo ist auch weiterhin Zentrum der syrisch-katholischen Kirche. In Damaskus gibt es neben den orientalischen Kirchen auch eine sehr aktive Gemeinde der Nationalen evangelischen Synode Syriens und des Libanon. Weitere evangelische Gemeinden gibt es in Homs, Hama, Aleppo und den Städten der Küsten­ebene. In der Jazira (Hassake, Qamishli, al-Malikiyya) reorganisierten sich die Gemeinden der aus der Türkei vertriebenen armenisch- und (as)syrisch-evangelischen Christen. In den 1930er Jahren kamen rund 10.000 assyrische Christen nach den Massakern im Irak nach Syrien und erhielten von den französischen Mandatsbehörden die Erlaubnis, sich im Khabur-Tal, einem östlichen Zufluss des Euphrat, niederzulassen. Bis heute leben sie dort in etwas mehr als 30 Dörfern, wurden allerdings vom Islamischen Staat 2015 für einige Zeit vertrieben. Die beiden Kirchen der byzantinischen Tradition, die rum- oder griechisch-orthodoxe Kirche von Antiochien und die melkitisch-katholische Kirche, sind traditionell in

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den Städten stark (Damaskus, Homs, Aleppo, Tartus), haben aber auch eine bedeutende Bevölkerung auf dem Land, so im Süden im Hauran, im Qalamun-Gebirge nordwestlich von Damaskus (bekannt ist dort vor allem der aramäisch-sprachige Ort Maalula und der Marienwallfahrtsort Saidnaya), rund um Homs und im sogenannten „Tal der Christen“ (Wādī l-Naṣāra) zwischen Homs und Tartus nahe der libanesischen Grenze. Nicht nur für die katholischen Christen Syriens war der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2001 von großer Bedeutung. Das Programm hatte einen starken ökumenischen Charakter und setzte mit dem Besuch der Umayyaden-Moschee, wo das Haupt Johannesʼ des Täufers verehrt wird, auch ein Zeichen für die christlich-muslimische Verständigung.2 In den Jahren nach 2003 suchte eine große Zahl von Christen aus dem Irak Schutz in Syrien. Offiziell waren es im Jahr 2008 35.000, inoffiziell wurde ihre Zahl aber auf etwa 100.000 geschätzt.3 Sie gehörten der chaldäischen, assyrischen und der syrisch-orthodoxen Kirche an. Ein großer Teil von ihnen lebte in Damaskus, vor allem im Stadtviertel Jaramana. Die Beziehungen zu den lokalen Christen waren nicht immer spannungsfrei. Mit ihren eigenen Geschäften bildeten sie einen Fremdkörper im gewachsenen Beziehungsgeflecht zwischen einheimischen christlichen und muslimischen Geschäftsleuten. Die meisten Iraker haben Syrien seit Beginn des Bürgerkriegs wieder verlassen, manche in den kurdischen Nordirak, andere in den Libanon, nach Jordanien oder Richtung Westen.4 Die Beziehungen zum Islam spielten für die Kirchenleitungen eine gewisse Rolle für das öffentliche Bild der Kirche. Im Hintergrund stand und steht auch stets die Befürchtung, durch Gesetzgebung in einen Minderheitenstatus zurückgeworfen zu werden. Durch die autoritäre Herrschaft des Baath-Regimes und dessen laizistische, über viele Jahre islamkritische Haltung zogen die Kirchenleitungen in Syrien allerdings auch oft die Beziehungen zum säkularen Regime einer Zusammenarbeit mit islamischen Gelehrten vor. Sie glaubten, Veränderungen und Besitzstandswahrung auf dem Weg über die politisch Herrschenden besser erreichen zu können als über den Dialog mit den Gläubigen und Führern der Mehrheitsreligion. Dies hat nicht besonders zu einem positiven Kirchenbild unter tendenziell Assad-kritischen sunnitischen Muslimen beigetragen. Von einiger Strahlkraft, die auch weit über Syrien hinausreicht, ist dagegen die 1991 vom italienischen Jesuiten Paolo dallʼOglio im historischen syrisch-katholischen Kloster Mar Musa am Rande der Wüste ins Leben gerufene Klostergemeinschaft. Sie bemüht sich explizit um die Förderung des Dialogs mit dem Islam auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, will Ansprechpartner für Muslime aus Syrien sein und Raum für Begegnungen zwischen Christen und Muslimen bieten. Dafür hat sie eine Bibliothek eingerichtet, organisiert Konferenzen und sucht neue Formen des Gottes2 3 4

Teule 2010:104. Rassam 2016:221–222. Teule 2010:102–103; Wieland 2012:87–88.

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dienstes, die auch muslimische Gäste ansprechen. Das Bemühen der Gemeinschaft wurde von Teilen der katholischen Kirchenleitung allerdings kritisch gesehen.5 Als Paolo dallʼOglio sich mit dem Beginn des Aufstands in Syrien dann sehr explizit in die Reihen der Assad-Kritiker einreihte, distanzierten sich verschiedene Kirchenführer noch weiter von ihm. Im Jahr 2013 wurde er in Raqqa entführt. Bis heute gibt es keine sicheren Nachrichten zu seinem Verbleib. Vor dem Bürgerkrieg lebten rund 1,7 Millionen Christen in Syrien (davon 426.500 Katholiken). Das entsprach etwa 7,5 Prozent der Bevölkerung. Die Kirchen geben allerdings meist einen Anteil von 10 bis 12 Prozent an. Die meisten Christen, etwas mehr als eine Million, gehörten der rum-orthodoxen Kirche an, gefolgt von der griechisch-melkitisch-katholischen Kirche (235.000 Gläubige). Die Gläubigen der syrisch-orthodoxen machten 170.000, der syrisch-katholischen Kirche 64.000 aus. Die Zahl der Armenier betrug 80.000 bis 100.000, die meisten davon orthodox, etwa 26.500 katholisch. Die Maroniten zählten etwa 58.000 Gläubige. Die Chaldäer, inklusive Flüchtlinge aus dem Irak, machten etwa 30.000 aus; die Assyrer im Khabur-Tal 10.000–15.000. Die Zahl der Protestanten dürfte einige tausend betragen haben.6 Kirchenvertreter schätzen, dass seither etwa zwei Drittel der Christen aus ihren Heimatorten geflohen sind. Allerdings haben viele von ihnen in der Küstenebene und in Damaskus Zuflucht gefunden, so dass schwer einzuschätzen ist, wieviele Christen Syrien wirklich verlassen haben. Im Libanon geht man von einer Zahl von einigen Zehntausend syrischen Christen aus, in Jordanien nur von einigen Tausend, so dass man vermuten kann, dass viele tatsächlich noch in Syrien leben. Die Geschichte der Christen in Syrien ist geprägt von Wellen der Auswanderung und der Zuwanderung. Die Emigration von Christen aus Syrien und dem Libanon begann bereits im 19. Jahrhundert und erreichte einen ersten Höhepunkt nach den Auseinandersetzungen zwischen Christen und Drusen von 1860. Ziel war damals vor allem die Neue Welt. Nach dem Ersten Weltkrieg sind dann zahlreiche Christen aus den Nachbarländern nach Syrien eingewandert oder vielmehr dorthin geflohen: Armenier, Syrisch-Orthodoxe, Syrisch-Katholische und Chaldäer aus Anatolien und in den 1930er Jahren Assyrer aus dem Irak. Die Nationalisierungspolitik der sozialistischen Regierungen der 1960er Jahre führte vor allem bei den begüterten griechisch-orthodoxen und melkitisch-katholischen Christen zu einem neuen Hoch bei der Auswanderung. Zwischen 2003 und 2011 kamen fast hunderttausend irakische Christen nach Syrien. Seit dem Beginn des Bürgerkriegs ist die Bewegung wieder umgekehrt. Christen verlassen das Land. Der syrische Christ Habib Moussalli beschrieb dieses Phänomen 1996 so: „Man kann sagen, dass die Christen in Syrien in einem ständigen Kommen und 5 Teule 2010:100. Siehe zum Beispiel die Darstellung in Paolo dallʼOglio, Amoureux de lʼIslam, croyant en Jésus, Paris, 2009. 6 Die Zahlen für die Katholiken sind dem Annuario Pontificio 2012 entnommen und dürften wie kirchliche Zahlen für die anderen Kirchen eher zu hoch als zu niedrig liegen. Die Zahlen für die anderen Kirchen sind aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und einer kritischen Einschätzung unterworfen.

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Gehen christlicher Flüchtlinge leben, in einem ‚ununterbrochenen Luftzug‘. Der Gedanke der Emigration ist ständig präsent in ihrem Kopf. Es ist eine Eventualität, eine ständige Möglichkeit.“7

Quo vadis, Syrien? Die politische Rolle der Christen in der französischen Mandatszeit Où va la Syrie? – wohin steuert Syrien? So fragte 1929 in einem Buchtitel Robert de Beauplan, französischer Journalist und glühender Anhänger des parti colonial, der Verfechter einer expansiven Kolonialpolitik Frankreichs. Er sah die Aufgabe Frankreichs im Schutz der Christen vor fanatischen Muslimen: „Die Gegner des Mandats, was sie wollen ist ein unabhängiges Syrien, wo 1.500.000 Muslime eine halbe Million Christen unterjochen würden. Wenn das einträte, wäre dies nicht nur das Ende des westlichen Einflusses im Orient. Es wäre die Eröffnung eines Zeitalters von Unruhen und Massakern. Der Großlibanon ist ein Bollwerk gegen aggressiven Panarabismus und islamische Verfolgung. Die Einrichtung des Mandats hatte zum Ziel, genau dies zu verhindern: die anarchische Entfesselung von Fanatismen, den furchtbarsten Religionskrieg.“8 Die Christen Syriens mussten sich am Ende des Ersten Weltkriegs entscheiden: für das französische Mandat oder für die Ziele der arabischen Nationalisten. Der These Beauplans wird kaum einer in vollem Umfang zugestimmt haben. Wir werden aber sehen, dass die Antworten auf die Frage durchaus unterschiedlich ausfielen.

Die Christen und der König: Syrien zwischen Emir Faisal und dem französischen Mandat Der Erste Weltkrieg brachte für die Bevölkerung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs einschneidende Veränderungen mit sich. Seit 1916 kämpften arabische Einheiten im sogenannten Arabischen Aufstand an der Seite Großbritanniens gegen osmanische Truppen. Der Scharif von Mekka führte die Bewegung an. England hatte den Arabern Hoffnung gemacht auf ein unabhängiges arabisches Reich, das die Länder des Fruchtbaren Halbmonds sowie weite Teile der Arabischen Halbinsel umfassen sollte. Die Hoffnungen der Araber wurden weiter genährt durch die Vierzehn-Punkte-­ Erklärung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 abgegeben hatte. Am 1. Oktober 1918 zogen Truppen des arabischen Emirs Faisal in Damaskus ein. Er begann sofort mit dem Aufbau einer arabischen Verwaltung in den bisher osmanischen Provinzen. Die bisherige türkisch-sprachige und von der osmanischen Kultur geprägte Elite überging er dabei 7 Moussalli 1996:318. 8 Robert de Beauplan, Où va la Syrie? Le mandat sous les cèdres, Paris: J. Tallandier, 1929:53. Zitiert bei White 2011:43.

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zugunsten arabischer Beamter. Schnell wurde jedoch klar, dass die Versprechungen, die England den Arabern gemacht hatte, inkompatibel mit dem Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich waren. Beim Friedenskongress von Paris drängten die beiden Mächte auf die Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche im Nahen Osten zum Nachteil der Araber. In Damaskus konstituierte sich unterdessen ein „Syrischer Nationalkongress“, bestehend aus 100 Delegierten aus dem großsyrischen Raum (Libanon, Syrien, Palästina und Transjordanien). Sie übergaben der amerikanischen King-Crane-Kommission, die die Haltung der lokalen Bevölkerung zu den geplanten Mandaten erforschen sollte, im August 1919 ihre Forderungen. Sie umfassten die sofortige politische Unabhängigkeit des Gebiets zwischen der Türkei, dem Irak, dem Hijaz und Ägypten, die Beendigung der zionistischen Einwanderung nach Palästina und die Einsetzung Faisals als König im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie. In Paris fanden diese Forderungen aber kein Gehör.9 Stattdessen zog Großbritannien seine Truppen aus Syrien zurück, um so Frankreich die Übernahme der Kontrolle zu erlauben. Der Nationalkongress reagierte mit der Proklamation der Unabhängigkeit (Groß-)Syriens am 8. März 1920. Die in den letzten Tagen des Königreichs in Kraft gesetzte Verfassung garantierte die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz (Artikel 11) und die Freiheit der Glaubensausübung (Artikel 14). Die Bedeutung dieser beiden Bestimmungen hatte Faisal mit Blick auf die bedeutende christliche Minderheit mehrfach betont.10 Für viele griechisch-orthodoxe Christen bedeutete die Unabhängigkeitserklärung im Rahmen eines Großsyriens die Erfüllung jahrzehntelanger Hoffnungen. Unter Christen im orthodoxen Patriarchat von Antiochien hatte sich seit dem 19. Jahrhundert ein arabischer Nationalismus herausgebildet, der sie von den meisten Christen anderer Konfessionen unterschied. Kirchen- und Liturgiesprache war seit Jahrhunderten das Arabische. Mit osmanischer Unterstützung hatte jedoch seit dem beginnenden 18. Jahrhundert der Fanar, das orthodoxe Patriarchat in Konstantinopel, versucht, seinen Machtanspruch auch im Patriarchat von Antiochien durchzusetzen. Als Bischöfe und Patriarchen wurden fast nur noch griechisch-sprachige Kandidaten zugelassen. Unter den arabischen Gläubigen und dem niederen Klerus in Syrien hatte dies eine Gegenbewegung hervorgerufen. Sie betonte die arabische kulturelle Identität und verlangte die Arabisierung der Kirchenleitung. 1899 gelang mit der Wahl und Bestätigung von Meletios II. Doumani die Einsetzung eines arabischen Patriarchen auf dem Stuhl von Antiochien. Geschäftlich waren orthodoxe Händler und Handwerker eng mit sunnitischen Partnern in den südlichen Provinzen des Osmanischen Reichs verbunden. 9 Bereits im Vorfeld der Friedenskonferenz waren diese Forderungen von einem Comité syrien, bestehend aus dem Maroniten Shukri Ghanem, dem Melkiten Georges Samneh und dem Sunniten Jamil Mardam Bey, vorgetragen worden. Rabbath 1973:278–281. 10 Die Teilhabe der christlichen Bürger zeigte sich durch die Ernennung von Iskandar Ammoun zum Justizminister in der Regierung des kurzlebigen Reichs. Ammoun, maronitischer Christ, setzte sich für eine weitgehende Autonomie des Libanon ein, aber im Rahmen eines großsyrischen Staats. Valognes 1994:708; Ammoun 1997:189–191. Zur Geschichte des Königreichs Syrien siehe Rabbath 1973:298– 323.

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Die Errichtung eines großsyrischen Reichs deckte sich also mit den Geschäftsinteressen der orthodoxen Notabeln. Kirchlich korrespondierte das Reich Faisals weitgehend mit den beiden Patriarchaten von Antiochien (mit Sitz in Damaskus) und Jerusalem. Nicht zufällig gehörte der griechisch-orthodoxe Patriarch Gregorios IV. Haddad (1906– 1928) zu den glühendsten Unterstützern König Faisals.11 Auch die syrisch-orthodoxe Kirche, zumindest jedoch der Erzbischof von Homs (und spätere Patriarch), Severius Aphrem Barsoum, scheint – was Syrien angeht – auf der Seite Faisals gestanden zu haben. Jedenfalls vertrat Severius Barsoum bei seinem Auftritt auf der Friedenskonferenz von Paris derart deutlich arabische Interessen, dass er von anderen arabischen Vertretern als „Bischof des Arabismus“ (muṭrān al-ʿurūba) gefeiert wurde. Später nahm die syrisch-orthodoxe Kirche über ihn Kontakt zu König Faisal auf.12 Anders verhielt es sich auf katholischer Seite. Der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Ephrem II. Rahmani (1898–1929) lehnte die Herrschaft Faisals strikt ab und forderte in einem Memorandum an die Friedenskonferenz vom 18. Juni 1919 ein französisches Mandat über das gesamte Gebiet Großsyriens inklusive Palästinas und der Provinz Mossul.13 Der Traum von der Unabhängigkeit währte jedoch nicht lange. Nachdem die Konferenz von San Remo Syrien und den Libanon französischem Mandat unterstellt hatte, begann Frankreich mit den Vorbereitungen für die militärische Besetzung Kernsyriens. König Faisal und seine Anhänger stellten eilig einen Haufen syrischer Freiwilliger zusammen, die sich den vom Libanon heranrückenden französischen Truppen entgegenstellten. Am 23. Juli 1920 wurden sie bei Maisalun, nahe der heutigen syro-libanesischen Grenze, geschlagen. Am folgenden Tag rückten die französischen Soldaten in Damaskus ein und zwangen Faisal zur Abdankung. Als dieser am 27. Juli am Bahnhof von Damaskus in den Zug stieg, um Syrien zu verlassen, gehörte der orthodoxe Patriarch Gregorios zu den wenigen Würdenträgern, die sich einfanden, um ihn zu verabschieden – ein Abschied, der aber nicht das Ende der Hoffnungen seiner Gemeinde auf ein großsyrisches, arabisches Reich bedeutete.14 Eine völlig andere Position vertraten weite Teile der griechisch-katholischen Gemeinde Syriens. Entstanden durch den engen Kontakt französischer Missionare, Händ11 Nach dem Tod Gregoriosʼ IV. (1928), kam es in der griechisch-orthodoxen Kirche fast zum Schisma. Eine Gruppe von griechisch-orthodoxen Christen aus dem Libanon hatte beim französischen Hochkommissar eine Petition zur Errichtung einer autokephalen Kirche im Libanon, unabhängig vom Pa­ triarchat in Damaskus, eingereicht. Der Vorschlag wurde im Rahmen der Diskussion um die Aufstellung neuer Regeln für die Patriarchenwahl erörtert. Schließlich hielt man aber an einer einzigen Kirche fest. Die Wahlen fanden im Februar 1929 in Beirut statt. Gewählt wurde Arsenios Haddad, der Kandidat der libanesischen Partei. Damit wollte sich die syrische Partei nicht abfinden und wählte ihrerseits Alexander Tahhan. Beide Kandidaten wurden installiert, Arsenios in Lattakia, Alexander in Damaskus. Nach einem Schiedsspruch akzeptierte Arsenios schließlich die Wahl Alexanders, wurde aber von seinen Anhängern quasi als Patriarch des Libanon betrachtet und agierte bis zu seinem Tod im Jahr 1933 auch so. Erst danach akzeptierte auch die libanesische Partei Alexander. Hopwood 1969:178–179. 12 Joseph 1983:101; de Courtois 2002:193; Taylor 2005:104–110. 13 Die Forderungen wurden von seinem Generalvikar Gabriel Tappouni (dem späteren Patriarchen) in einem Brief an die King-Crane-Kommission wiederholt. De Courtois 2002:191–193; Weibel Yacoub 2011:163–166. 14 De Bar 1983:46.

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ler und Konsuln mit einheimischen Christen, waren die unierten Christen Syriens und des Libanon auf unterschiedliche Weise eng mit Frankreich verbunden. Französische Protektion hatte christlichen Händlern seit dem 17. Jahrhundert geschäftliche Vorteile im Mittelmeerhandel verschafft. Ihre Kenntnisse des Französischen und Italienischen machte sie für europäische Diplomaten und Händler unverzichtbar. Die Errichtung einer mit Rom unierten Kirche schuf einen Ansprechpartner für Rom und damit auch eine besondere Nähe zu Frankreich, das sich als Schutzmacht der Katholiken im Osmanischen Reich verstand. Griechisch-katholische Händler bildeten einen Großteil der reichen Handelsbourgeoisie Aleppos, wo die Kirche die meisten Gläubigen gewinnen konnte. Aber auch die Damaszener Gemeinde war nicht unbedeutend. Durch die Missionsschulen besaßen Katholiken einen deutlichen Bildungsvorsprung vor den meisten anderen Gläubigen. Einzig die Orthodoxen konnten dem eine kleine Bildungselite, die an protestantischen Schulen und am Syrian Protestant College (der späteren American University of Beirut) ausgebildet wurde, entgegensetzen. Angesichts der engen Verbindung mit Frankreich verwundert es nicht, dass die französische Mandatsmacht in den unierten Gemeinden Syriens Unterstützer suchte und fand. Geschäftsinteressen trafen sich mit Interessen der Kirchenleitung. Kulturell schwankten die unierten Christen zwischen arabischer Kultur und westlichen Einflüssen, die sich sowohl in einer gewissen Latinisierung der Liturgie und Frömmigkeit (Rosenkranzgebet, Herz-Jesu-Frömmigkeit, Ikonographie) als auch in der Übernahme westlicher Werte und philosophischer Konzepte zeigte. Politische Stabilität war eine notwendige Voraussetzung, damit sie ihre Handelsaktivitäten ungestört verfolgen konnten. Mit Aufständen gerieten ihre materiellen Interessen in Gefahr. Allerdings hielten sie sich mit offener Unterstützung für die französische Mandatsmacht zurück, weil sie anti-christliche Reaktionen der muslimischen Bevölkerung fürchteten. Ohnehin waren sie wenig beliebt, weil ihre privilegierten Beziehungen zum Western ihnen materielle Vorteile – oft zum direkten Nachteil ihrer muslimischen Konkurrenten – einbrachten, so exklusive Kredite europäischer Banken und bevorzugte Handelskontakte. Dies ließ sie muslimische Konkurrenten aus dem Rennen werfen.15 Die große Mehrheit der syrischen Bevölkerung stellten allerdings die sunnitischen Muslime. Am Ende der osmanischen Zeit und zu Beginn des Mandats wurden sie durch eine städtische sunnitische Oberschicht repräsentiert. Obwohl die Notablenfamilien unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren, nämlich arabisch, türkisch und kurdisch, fühlten sie sich doch durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum herrschenden sunnitischen Islam untereinander verbunden. Gemeinsamer Glaube und das Durchsetzen der religiösen Moralvorstellungen und sozialen Verhaltensweisen gaben der Gesellschaft das Gepräge und den Notablen ihr Ansehen. Die relative Homogenität dieser Schicht ermöglichte auch ihre Führungsrolle in Politik und im Denken wie dem aufkommenden Nationalismus. Der französischen Herrschaft standen sie von Anfang an kritisch gegen-

15 Khoury 1989:207–208.

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über; aus religiöser Sicht galt sie ihnen, anders als das osmanische Kalifat, als illegitim.16 Politisch ließ sich diese Schicht nicht umgehen, ebensowenig wie die neue, an modernen Schulen ausgebildete, in den modernen Zweigen der osmanischen Verwaltung erfahrene und von westlichen Vorstellungen geprägte Bildungselite. Zwar versuchte die Mandatsmacht die Minderheiten, vor allem die sogenannten „kompakten Minderheiten“ der Alawiten (im Nordwesten) und Drusen (im Süden), gegen die sunnitische Mehrheit auszuspielen, tatsächlich ließen jedoch die Mehrheits- und Kräfteverhältnisse keinen Zweifel daran, wer das gesellschaftliche und politische Leben Syriens prägte. Dies sollte man auch im Auge behalten, wenn man in besonderer Weise die Rolle von Christen und ihren Beitrag in der syrischen Gesellschaft betrachtet. Widerstand gegen die französische Mandatsmacht formierte sich von unterschiedlichen Seiten. Frankreich hatte das historische Gebiet Großsyriens in fünf Staaten aufgeteilt: 1. den Libanon (Mont Liban erweitert um die Küstenstädte Beirut, Tripolis, Saida und Tyros sowie die Bekaa-Ebene), 2. Lattakia, 3. Aleppo, 4. Damaskus (mit Homs und Hama) und 5. Jabal Druze; der osmanische Sanjak Alexandretta bildete eine besondere Verwaltungseinheit innerhalb des Staats von Aleppo. Gerade Aleppo traf die Auflösung des Osmanischen Reichs und die Errichtung von Grenzen zwischen den nun unabhängigen Staaten schwer. Es verlor weite Teile seines nördlichen Hinterlandes, das jetzt in der Republik Türkei lag, und drohte seinen Handelshafen Alexandretta (Iskenderun) zu verlieren. Kulturell und teilweise ethnisch stand Aleppo der Türkei sehr nahe. Die Teilung Syriens durch die Mandatsmacht und die Grenzziehung im Norden lösten daher Unmut aus. Hinzu kam ein zunehmender Islamismus. Beides waren Faktoren, die dazu führten, dass kurz nach der französischen Machtübernahme im Norden Syriens Unruhen ausbrachen. Der Islam bildete einen Identifikationsfaktor, der gegen das als christlich wahrgenommene und explizit als Schutzmacht der Minderheiten, nicht zuletzt der Katholiken, auftretende Frankreich ins Feld geführt werden konnte. Zwar blieb das Ausmaß der Unruhen begrenzt – zum befürchteten Volksaufstand kam es in Aleppo nicht –, aber die benachteiligten muslimischen Schichten der Stadt nutzen die Situation, um immer wieder Gewalt gegen Christen auszuüben. Der Aufstand dauerte von Herbst 1919 bis Dezember 1920, einzelne Unruheherde wurden auch in den folgenden Wochen noch ausgelöscht.17 In Damaskus war der Widerstand gegen Frankreich weniger von islamischen Gefühlen als vielmehr vom syrischen Nationalismus geprägt. Dieser war von den säkularen Bildungseliten getragen und wurde von einer ganzen Reihe von Christen, die meisten griechisch-orthodox oder aus dem orthodoxen Milieu hervorgegangene Protestanten, mitgetragen. 1925 wurde die Volkspartei (Ḥizb al-šaʿb) gegründet. Führende Mitglieder waren Faris al-Khoury (Protestant; Vizepräsident) und der orthodoxe Christ und Großgrundbesitzer Tawfiq Shamiyya. Die Partei setzte sich für ein unabhängiges Syrien in seinen natürlichen Grenzen ein. Dieses Ziel sollte mit „legalen Mitteln“ er16 Khoury 1987:13. 17 Zum Aufstand in Aleppo siehe Khoury 1989:102–110.

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reicht werden, also über die für Oktober 1925 angesetzten Wahlen. Die Partei vertrat einen strikt säkularen Kurs, vermied religiöse Formulierungen in ihrem Programm und hatte keine religiösen Führer in ihren vorderen Reihen. Sie betonte, dass sich alle religiösen Gruppen für ein unabhängiges Syrien einsetzten und dass die individuellen Rechte nach der Unabhängigkeit garantiert werden müssten. Muslimische religiöse Autoritäten unterstützten zwar die Volkspartei, spielten aber bei der Entstehung des arabischen Nationalismus keine führende Rolle.18

Zwischen Drusen, Nationalisten und Franzosen: Christen im Großen Syrischen Aufstand 1925 brach ein massiver Aufstand gegen die französische Herrschaft aus. Er begann als Auflehnung der Drusen im Südwesten des Landes gegen die französische Kolonialmacht in Damaskus, weitete sich bald auch auf Hama und andere Landesteile aus und erreichte schließlich auch Damaskus selbst. Er wird in der Geschichtsschreibung als „Großer Syrischer Aufstand“ bezeichnet. Christen waren während dieser Ereignisse zur Parteinahme gezwungen, was sie oft in eine schwierige Lage brachte. Nach Festnahmen in Damaskus waren mehrere führende Mitglieder der Volkspartei in den Jabal Druze geflohen. Dort beriefen sie zusammen mit den aufständischen Drusen unter deren Führer Sultan al-Atrash am 9. September 1925 eine provisorische Regierung ein mit dem erklärten Ziel der Unabhängigkeit eines vereinigten Syrien. Im Jabal Druze beteiligten sich einzelne christliche Dorfchefs am Aufstand an der Seite der Drusen.19 Andere Christen flohen nach Damaskus, weil sie wie muslimische und manche drusische Bauern mit Repressionsmaßnahmen rechneten, wenn sie sich Sultan al-Atrash nicht anschlossen.20 Im Oktober 1925 besetzten aufständische Einheiten Damaskus. Im christlichen Viertel Bab Tuma, das die französischen Truppen zusammen mit der restlichen Altstadt überraschend geräumt hatten, brach Panik aus. Viele Christen versammelten sich im British Hospital am Rande des Viertels. Führer muslimischer Jugendeinheiten begaben sich allerdings schnell in das christliche und jüdische Viertel, um sicherzustellen, dass es nicht zu Übergriffen auf die Minderheiten kam.21 Aufständische Einheiten verlangten von einem griechisch-orthodoxen Notablen 30 Männer als Kämpfer sowie 50 Gewehre und Munition. Alle Männer müssten zum Patriarchat gehören, also orthodox sein; offenbar um ihre Loyalität zu den Aufständischen zu sichern, die den Katholiken nicht zugetraut wurde. Der Aufruf zeigt, dass es um einen nationalen Aufstand ging, der nicht zu Lasten der Christen gehen sollte. Die Franzosen reagierten auf 18 Khoury 1989:143–147. 19 So ʿUqla al-Quṭāmī aus Ḫarbā, einem Dorf im Hauran; er war ein persönlicher Freund des Drusenführers Sultan al-Atrash. 20 Khoury 1989:151; Provence 2005:61–62. 21 Auch Amir Saʼid, der Enkel von Abd al-Qadir, der sich schon 1860 für den Schutz der Christen in Damaskus eingesetzt hatte, bemühte sich in Bab Tuma um die Sicherheit der christlichen Bewohner.

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die Besetzung von Damaskus mit einem mehrtägigen Bombardement der Stadt, das zu zahlreichen zivilen Opfer führte und internationale Kritik hervorrief.22 Schwierigkeiten bereitete den Franzosen während des gesamten Aufstands die Sicherheit in den ländlichen Gebieten. Im Qalamun warben Aufständische um die Gunst der christlichen Dörfer, so in Maalula, wo sie unter den Orthodoxen einige Unterstützer fanden. Katholische Dorfbewohner riefen dagegen wiederholt die Mandatsbehörden um Schutz an. Da ihre militärischen Möglichkeiten sehr begrenzt waren, bewaffnete die Mandatsmacht vorwiegend griechisch-katholische und maronitische Dörfer im Hauran, im Qalamun und bei Nabk, damit sie sich gegen Übergriffe schützen konnten. Grundsätzlich betrachteten die Aufständischen Dörfer, die von unierten Christen bewohnt waren, als potentielle Verbündete Frankreichs. Im November 1925 griffen daher drusische Einheiten Dörfer kurz hinter der libanesischen Grenze an. Im maronitischen Dorf Kawkaba richteten sie ein Massaker an der lokalen Bevölkerung an. Für Übergriffe seiner Leute auf orthodoxe Dörfer entschuldigte sich Sultan al-Atrash dagegen schriftlich beim griechisch-orthodoxen Patriarchen in Damaskus.23 Aber auch durch die Truppen der Mandatsmacht kam es zu Plünderungen und Verwüstungen von Dörfern. Diese trafen sowohl christliche als auch muslimische und drusische Gemeinden.24 Frankreich rekrutierte zum Kampf gegen die Aufständischen armenische und tscherkessische Flüchtlinge in den Lagern. Ihre Rolle als Flüchtlinge aus Anatolien in fremder Umgebung machte sie abhängig von den französischen Behörden. Viele der traumatisierten Armenier schlossen sich gern der französischen Schutzmacht an und verübten teils schlimme Gräueltaten im Rahmen der Kampfhandlungen. Racheaktionen trafen daher auch armenische Flüchtlingslager, so im Oktober 1925 in al-Qadam bei Damaskus. Dort waren Armenier beschuldigt worden, zusammen mit irregulären französischen Einheiten Dörfer der Ghuta, des Umlands von Damaskus, geplündert zu haben.25 Die Besetzung von Damaskus und die Bombardierung der Hauptstadt durch die Franzosen bildeten den Höhepunkt des Aufstands. In der Folge gelang es den Franzosen nach und nach, die Kontrolle über das Land wiederzugewinnen. Die Ruhe war allerdings erst 1927 endgültig wiederhergestellt. Innerhalb der christlichen Gemeinde hinterließ der Aufstand einen tiefen Riss: hatten orthodoxe Christen oftmals mit den 22 Khoury 1989:179; Provence 2005:103–105, 119–120. 23 Khoury 1989:181; Provence 2005:61–62, 116, 122–124, 146. 24 So verlangte der griechisch-melkitisch-katholische Erzbischof von Hauran und Jabal Druze, Nicolas Cadi, im September 1925 Kompensation von den Mandatsbehörden für den Verlust von Schafen und Rindern in den Dörfern seines Erzbistums. Provence 2005:92–93. 25 Khoury 1989:192; Lust-Okar 1996; Provence 2005:62, 103, 121–122, 130–131. Bereits bei der französischen Besetzung der Jazira hatte Frankreich Einheiten bestehend aus christlichen Flüchtlingen rekrutiert. Der Hochkommissar rief dazu eine assyrische Einheit ins Leben, für die der assyro-chaldäische Führer Malek Cambar im Kaukasus und der chaldäische Priester Joseph Tfinkdji in Kilikien junge Männer rekrutierten. In Alexandretta angekommen, wurden sie vom dortigen chaldäischen Patriarchalvikar, Paul Chammas, aufgefordert, Frankreich zu dienen. Die Einheit wurde in Deir el-Zor statio­ niert, aber bereits 1922 aufgelöst und in andere Einheiten eingegliedert. Weibel Yacoub 2011:256–259; Donabed 2015:65, 71.

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Aufständischen sympathisiert, standen die meisten katholischen Christen eher an der Seite Frankreichs. Manche, wie Teile der armenischen Flüchtlinge, ließen sich sogar zur aktiven Unterdrückung des Aufstands instrumentalisieren.

Beteiligung am nationalen Projekt: Christen in der Politik der späten 1920er und 30er Jahre Der gescheiterte Aufstand ließ in den Reihen der Nationalisten das Bewusstsein reifen, dass die Unabhängigkeit des Landes nur in Kooperation mit der Mandatsmacht Frankreich zu erreichen war. Es begann die Phase der sogenannten „ehrenhaften Kooperation“, in der die Befürworter der Unabhängigkeit darauf setzten, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Frankreich sein Mandat über Syrien schließlich aufgeben würde. Aber es gab weiterhin keine Einigkeit unter den Nationalisten mit Blick auf die Frage, in welchen Grenzen ein unabhängiges Syrien existieren sollte. Dies betraf vor allem die Frage des Libanon und dessen mehrheitlich sunnitische Distrikte, aber auch Palästina und Transjordanien. Im unmittelbaren Ziel war man sich aber einig: die syrischen Teilstaaten sollten in einem einzigen Staatswesen zusammengefasst und die Eigenstaatlichkeit der „kompakten Minderheiten“ von Drusen und Alawiten aufgehoben werden. Weiterhin stand die Erarbeitung einer Verfassung und die Aushandlung eines Vertrags mit Frankreich, der verbindlich den Weg in die Unabhängigkeit weisen sollte, im Vordergrund. Christen beteiligten sich in den Reihen der Nationalisten in unterschiedlicher Form an diesen Bestrebungen. Das Engagement von einzelnen stand dabei nicht notwendigerweise für die Meinung der Mehrheit der Christen oder der Konfession, aus der sie kamen. Auffallend bleibt, dass sich das aus osmanischer Zeit ererbte Patro­ nage- und Klientelsystem und ein System der Gemeinderepräsentation fortsetzte. Führende christliche Politiker vertraten auf politischer Ebene jeweils eine Gemeinde. Zur Schaffung einer eigenen Basis trat Faʼiz al-Khoury sogar von der protestantischen in die griechisch-orthodoxe Gemeinde über, weil sein Bruder Faris bereits die Protestanten von Damaskus politisch vertrat. Neben den beiden Khoury-Brüdern26 waren Tawfiq Shamiyya (griechisch-orthodox)27, Henri Hindiyya (Aleppo, armenisch-katholisch), Salim Jambart (Aleppo, griechisch-katholisch)28 und Latif al-Ghanima (Aleppo, 26 Die beiden Christen Faris al-Khoury und Tawfiq Shamiyya waren wegen ihrer nationalistischen Aktivitäten in der Volkspartei während des Großen Aufstands von den Franzosen verhaftet worden. Faris al-Khoury beteiligte sich gegen Ende des Aufstands an einem Aufruf an die französischen Behörden, der von den moderaten Nationalisten gestartet wurde, um den Aufstand zu beenden und eine Amnestie zu erreichen. Im Mai 1926 wurde Faris al-Khoury zusammen mit zwei weiteren nationalistischen Vertretern der Volkspartei kurzzeitig Erziehungsminister. Er wurde jedoch bereits kurz darauf festgenommen mit dem Vorwurf, Kontakte zu den Rebellen zu unterhalten. Provence 2005:85, 127–128; Khoury 1989:197–200, 334, n. 45. 27 Tawfiq Shamiyya wurde 1926 Minister für Öffentliche Arbeiten. Khoury 1989:329. 28 Nach den Wahlen 1931/1932 wurde Salim Jambart (Liberalkonstitutionalist) als Erziehungsminister ins Kabinett berufen. Khoury 1989:371–372.

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syrisch-­katholisch)29 bekannte christliche Figuren in der Politik.30 Griechisch-orthodoxe Christen waren dabei oft besonders nationalistisch. Mitarbeiter der französischen Mandatsbehörden nannten sie deshalb häufig „cousins de lʼislam“.31 Am Ende der Großen Revolte bildete sich der Nationale Block (al-kutla al-waṭaniyya). Er war bereit, mit Frankreich zu kooperieren, um die Unabhängigkeit Syriens zu erreichen. Seine Anfänge liegen auf einer Konferenz, die 1927 in Beirut im Vorfeld der für 1928 angesetzten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung stattfand. Die Bewegung schaffte es, sich an die Stelle der radikaleren Volkspartei zu setzen, deren revolutionärer Ansatz nach der Niederschlagung des Aufstands als gescheitert zu betrachten war. Aus einer zunächst losen Verbindung von gemäßigten Nationalisten bildete sich mehr und mehr eine feste Organisation heraus. Sie gab sich auf ihrem vierten Kongress in Homs 1932 ein Programm. Die Führung bestand zu über 90 Prozent aus sunnitischen Muslimen, einige Christen spielten jedoch auch eine Rolle in den Führungsorganen, so die Brüder al-Khoury und Tawfiq Shamiyya. Auffallend ist zu Beginn der Bewegung, dass ihr in Aleppo keine Christen angehörten, obwohl Christen dort fast ein Drittel der Bevölkerung stellten und eine wichtige Rolle in der Bourgeoisie spielten. Der Nationale Block verstand sich als säkulare Bewegung und forderte in seinem Programm die Einheit, territoriale Integrität und Unabhängigkeit Syriens sowie eine Selbstbestimmung des Libanon. Minderheiten wurden im Programm nur kurz in dem Satz, dass ihre „Freiheit und Gleichheit der Rechte und Pflichten zu wahren“ seien, erwähnt.32 Nach den Wahlen im Teilstaat Syrien (Damaskus und Aleppo, ohne die Teilstaaten Jabal Druze und Lattakia) 1928 wurde Ibrahim Hananu zum Präsidenten des Komitees für die Erarbeitung einer Verfassung gewählt, Fawzi al-Ghazzi und Faʼiz al-Khoury bildeten das Redaktionskomitee. Auch der christliche Jurist Edmond Rabbath (syrisch-katholisch) arbeitete an dem Entwurf mit. Die Verfassunggebende Versammlung verstand sich als Institution in Opposition zu der von der französischen Mandatsmacht eingesetzten Regierung.33 Der Verfassungsentwurf, der im Sommer 1928 vorgestellt wurde, war sehr liberal und spiegelte die demokratisch-bürgerliche Gesinnung des Nationalen Blocks. Er sah die Gleichheit aller Bürger vor (Artikel 6),34 volle Religions29 Latif al-Ghanima, ein syrisch-katholischer Anwalt, war 1928 in Aleppo auf der Liste der Nationalisten für seine Gemeinde gewählt worden. 1931 trat er dagegen für die pro-französischen Liberalkonstitutionalisten an. Khoury 1989:371–372. 30 Im Syrian-Palestine Congress, der im Exil von Kairo aus operierte, spielte der syrisch-orthodoxe Christ Michel Lutfallah, Sohn eines libanesischen Auswanderers nach Ägypten, eine wichtige Rolle. Er arbeitete im Exekutivkomitee mit und finanzierte aus seinem beträchtlichen Vermögen nationalistische Aktivitäten in Syrien. Mit Blick auf eigene Ambitionen als Anwärter auf einen Thron im Libanon vertrat er jedoch eine Position zugunsten der Unabhängigkeit des Groß-Libanon. Khoury 1989:222–224, 232–239. 31 White 2011:58. 32 Khoury 1989:248–277. 33 Khoury 1989:336; Valognes 1994:709. 34 In Artikel 6 hieß es: „Die Syrer sind gleich vor dem Gesetz. Sie genießen alle die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte; sie haben die gleichen Pflichten und unterliegen den gleichen Auflagen.

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und Gewissensfreiheit sowie die Garantie der jeweils eigenen Personalstatusregelungen für die Religionsgemeinschaften und das Recht, eigene Schulen zu betreiben (Artikel 15).35 Er enthielt aber auch sechs Artikel, die für Frankreich nicht akzeptabel waren, darunter die territoriale Integrität Syriens unter Einschluss des Libanon, Transjordaniens und Palästinas. Der französische Hochkommissar Ponsot suspendierte daher im August die Versammlung und vertagte sie im Februar 1929 auf unbestimmte Zeit. Dennoch wurde die Verfassung von ihm im April 1930, zusammen mit Grundgesetzen für Lattakia, Jabal Druze, den Sanjak Alexandretta sowie der Verfassung für den Libanon in Kraft gesetzt; allerdings ergänzt um die Einschränkung, dass nur die Verfassungsbestimmungen wirksam seien, die nicht den Rechten und Pflichten des Mandats widersprachen.36 Auf einer pan-arabischen Konferenz im libanesischen Qarnaʼil entstand im Sommer 1933 die panarabisch-nationalistisch orientierte League of National Action (LNA). Sie lehnte die vom Nationalen Block vertretene Politik der „ehrenhaften Kooperation“ mit den französischen Mandatsbehörden ab und warnte vor allen Kompromissen, vor allem in Zusammenhang mit dem franko-syrischen Vertrag. Die LNA bildete einen starken Zweig in Syrien, vor allem in Damaskus, Homs (wo sie stark von der lokalen griechisch-orthodoxen Gemeinde unterstützt wurde) und Hama; in Aleppo konnte sie dagegen kaum Fuß fassen. Einfluss erlangte sie durch ihre Jugendorganisation (alŠabāb al-waṭanī), die aus den Pfadfinderbewegungen hervorgegangen war. Darin waren griechisch-orthodoxe Jugendliche stark vertreten.37 Nachdem die französischen Behörden die Büros des Nationalen Blocks in Damaskus geschlossen und mehrere führende Mitglieder verhaftet hatten, riefen seine Führer als Zeichen des Widerstands im Januar 1935 zum Generalstreik auf. Der Streik wurde landesweit befolgt, auch die meisten Geschäfte im christlichen Viertel von Damaskus blieben geschlossen. Als Teil der Gegenmaßnahmen zwang der französische Hochkommissar die beiden Khoury-Brüder, ihre Dozentenposten an der juristischen Fakultät niederzulegen. Erst Anfang März gelang es Unterhändlern in Paris, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Rückkehr von exilierten Politikern und die Zwischen ihnen kann es keine Ungleichheit in der Behandlung aufgrund der Religion, der Konfession, der Rasse oder der Sprache geben.“ „Les Syriens sont égaux devant la loi. Ils jouissent tous des mêmes droits civils et politiques; ils sont tenus aux mêmes devoirs et soumis aux mêmes charges. Il ne sera établi entre eux aucune inégalité de traitement, du fait de la religion, de la confession, de la race ni de la langue.“ 35 Artikel 15 lautete: „Die Gewissensfreiheit ist absolut. Der Staat respektiert alle Konfessionen und Religionen, die im Land etabliert sind; er garantiert und schützt die freie Ausübung aller Formen des Gottesdienstes, die mit der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten in Einklang stehen; er garantiert ebenfalls allen Bevölkerungen, egal welchem Ritus sie angehören, den Respekt ihrer religiösen Interessen und ihres Personalstatuts.“ „La liberté de conscience est absolue, lʼÉtat respecte toutes les confessions et religions établies dans le pays; il garantit et protège le libre exercice de toutes les formes du culte compatibles avec lʼordre public et les bonnes mœurs; il garantit également à toutes les populations, à quelque rite quʼelles appartiennent, le respect de leurs intérêts religieux et de leur statut personnel.“ 36 Beaupin 1937:128–131; Hourani 1954:192–193; Khoury 1989:340–348. 37 Khoury 1989:400–433.

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Genehmigung für das erneute Erscheinen nationalistischer Zeitschriften zu erreichen. Damit endete der Streik.38 Im März 1935 wurde eine Delegation zur Verhandlung des syrisch-französischen Vertrag nach Paris entsandt. Ihr gehörten von christlicher Seite Faris al-Khoury, Edmond Homsi (griechisch-katholisch, Aleppo) und Edmond Rabbath (Aleppo) an. Die katholischen Bischöfe beklagten in einem Schreiben an den französischen Hochkommissar, dass die Kirchen nicht vertreten seien. Die christlichen Politiker verträten die Regierung beziehungsweise die nationalistischen Parteien, nicht aber die christlichen Gemeinschaften. Im Namen ihrer Kirchen forderten sie, dass die Unabhängigkeit Syriens von Sicherheitsmaßnahmen flankiert sein müsse. Diese sollten dafür sorgen, dass „Harmonie zwischen allen Staatsbürgern herrscht ungeachtet ihrer Religion“.39 Der Vertrag, den die Delegation aushandelte, orientierte sich eng am anglo-irakischen Vertrag von 1930, sah die Unabhängigkeit Syriens vor und die Beendigung der Rolle Frankreichs als Schutzmacht der Christen. In einigen christlichen Kreisen, die auf ein dauerhaftes Mandat Frankreichs in Syrien gehofft hatten, löste dies Sorge aus. Die Ausschreitungen von 1933 gegen die Assyrer im Irak ließen Ähnliches für Syrien befürchten. Der syrisch-katholische Patriarch, Kardinal Gabriel Tappouni, kritisierte bei einer Reise nach Paris und in den Vatikan im November 1937 das Abkommen und forderte Garantien für die Minderheiten, zumal es in der Jazira tatsächlich zu Übergriffen auf Christen gekommen war (siehe unten, Jazira, Sammelbecken für Flüchtlinge). In einem Briefwechsel zwischen dem syrischen Ministerpräsidenten Mardam und dem französischen Außenministerium wurden schließlich bestimmte Garantien festgeschrieben.40 Der griechisch-orthodoxe Patriarch Alexander III. Tahhan lehnte solche Garantien, anders als die Katholiken, aber ab. Bei einem Treffen mit Führern der Nationalisten erklärte er: „Ich verstehe den Lärm nicht, der über die Frage der Minderheiten gemacht wird. Wir sind alle Araber und wir brauchen keinen besonderen Schutz außer dem der allgemeinen Gesetze in einem arabischen Land.“41 Der mühsam ausgehandelte Vertrag trat allerdings nie in Kraft. Das französische Parlament schob die Ratifizierung zunächst auf und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veränderte die Situation schließlich grundlegend.42

38 Khoury 1989:457–463. 39 Die Bischöfe entstammten offenbar den drei in Syrien vertretenen Riten: griechisch-, syrisch- und armenisch-katholisch. White 2011:143–144, 151–152. 40 Darin hieß es: „Le gouvernement syrien assurera le maintien des garanties de droit public stipulées dans la Constitution syrienne en faveur des individus et des communautés et donnera plein effet à ces garantis.“ Beaupin 1937:128–136. 41 Zitiert bei White 2011:58. Der (syrisch-katholische) Parlamentsabgeordnete Latif al-Ghanima aus Aleppo forderte, dass der Text des Vertrags zunächst vertraulich den christlichen Abgeordneten zugeleitet werde, damit sie vor der Debatte im Plenum die aus ihrer Sicht notwendigen Garantien für die Minderheiten erörtern und gegebenenfalls den Text überarbeiten könnten. Außerdem schlug er vor, unter „Minderheiten“ auch Kurden, Tscherkessen und Türken zu fassen (neben Christen, Alawiten, Drusen und Juden), um im Parlament eine breitere Basis für die Verankerung der Garantien für Minderheiten zu haben. White 2011:144–146. 42 Hourani 1954:200–203, 217, 338–340; Khoury 1989:464–468, 487; Valognes 1994:710.

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Jazira, Sammelbecken für Flüchtlinge Die Lage in der Jazira war im Vergleich zum restlichen Syrien sehr unterschiedlich. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war das Gebiet dünn besiedelt und hauptsächlich von arabischen Beduinen bevölkert gewesen. 1920 wurde das Gebiet von seinem natürlichen Handelszentrum Diyarbakir (nun in der Türkei) sowie von Mossul (nun im britischen Mandatsgebiet Irak) abgeschnitten. Die Franzosen förderten die Ansiedlung von Flüchtlingen in der Region. Diese gehörten überwiegend religiösen und ethnischen Minderheiten an: Kurden, Armenier, syrisch-orthodoxe und syrisch-katholische Christen, Assyrer und Chaldäer. Die Christen waren vor den Massakern in Anatolien während des Ersten Weltkriegs dorthin geflüchtet. Kurden kamen, als die Türkei 1925 den kurdischen Scheich-Said-Aufstand und in den 1930ern die kurdischen Unruhen in der Provinz Dersim niederschlug.43 Ein Teil der Christen kam auch über Aleppo in die Jazira, um dort Geschäfte als Banker und Geldverleiher zu machen. Sie kauften hypothekiertes Land zu günstigen Preisen auf und gerieten so in Konflikt mit lokalen Bauern und Beduinen. Zum neuen Zentrum der Region wurde Qamishli, das überhaupt erst durch die Flüchtlinge zur Stadt heranwuchs. In den 1930er Jahren bestand die Bevölkerung der Jazira aus 69.000 Christen (davon 35.000 Syrisch-Orthodoxe und Katholiken, 25.000 Armenier, 9.000 Assyrer), 20.000 Kurden, 1.500 Juden und 9.500 überwiegend arabischen Stammesangehörigen. Die Jazira wurde in den 1930er Jahren von einem Gouverneur verwaltet, der von der Regierung in Damaskus entsandt war. Eine kurdisch-christliche Allianz widersetzte sich dem arabischen Nationalismus und verlangte nach weitgehender Autonomie der Provinz unter französischem Schutz. Hassakes Christen (zwei Drittel der Bevölkerung, ca. 4.000 Personen) forderten ab 1933 nachdrücklich eine Autonomie der Provinz unter einem französischen Gouverneur und lokal rekrutierten Beamten. Im Februar 1936 startete Qamishlis christlicher Bürgermeister zusammen mit zwei Kurdenführern eine Kampagne für die Autonomie. Im Juli 1937 brach eine offene Revolte von Christen und Kurden gegen die Damaszener Verwaltung aus. Es kam zu Gefechten mit arabischen Stämmen, die die Union mit Damaskus unterstützten. Am 9. August drangen bewaffnete Kämpfer eines kurdischen Stammes, der im Unterschied zur Mehrheit der Kurden auf der Seite des arabischen Gouverneurs der Jazira stand, in das Dorf Amuda ein. Das christliche Viertel wurde in Brand gesetzt und mehr als zwei Dutzend Christen ermordet. Die Franzosen stellten schließlich die Ordnung wieder her. Der syrisch-katholische Bischof Hanna Hebbé war selbst aktiv in den kurdisch-christlichen Aufstand involviert. Wohl auf seine Veranlassung intervenierte Kardinal Tappouni in Paris im Sinne eines Sonderstatus für die Jazira, jedoch zunächst ohne Erfolg. Erst am 2. Juli 1939 wurde die Provinz angesichts der fortgesetzten Unruhe schließlich unter französische Verwaltung gestellt, ebenso wie Lattakia und Jabal Druze.44 43 White 2011:107–111. 44 Beaupin 1937:128–136; Hourani 1954:140–142, 216–217; Joseph 1983:106–107; Khoury 1989:525–534; Valognes 1994:710.

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Radikalisierung und Konfessionalisierung In Anlehnung an faschistische Jugendverbände in Europa, vor allem in Deutschland und Italien, entstanden in den 1930er Jahren auch in Syrien paramilitärische Jugendverbände, die sich teilweise aus den Pfadfinderbewegungen heraus entwickelten. Die größte waren die „Stahlhemden“, die eng an den Nationalen Block angelehnt waren. Sie rekrutierten gezielt auch christliche Jugendliche, um dem Eindruck entgegenzuwirken, sie wollten konfessionelle und religiöse Spannungen schüren. Ein spezielles Komitee, in dem zwei Muslime und fünf Christen saßen (darunter Faris al-Khoury), war mit der Rekrutierung christlicher Jugendlicher beauftragt.45 In Aleppo entstand eine christliche nationalistische Organisation mit dem Namen „Weiße Armbinde“ (al-šāra al-baiḍāʾ) unter Führung eines ehemaligen Offiziers. Der Verein forderte die Abtrennung Aleppos von Damaskus und zog vor allem Katholiken an. Er baute einen paramilitärischen Verband mit 5.000 Mitgliedern auf. Mit ähnlichen Zielen war der Verein auch in der Jazira präsent. In Aleppo kam es 1936 zu gewalt­ samen Auseinandersetzungen zwischen „Stahlhemden“ und „Weißbinden“. Im Mai 1936 hatte es einen muslimischen Boykott gegen christliche Cafés und Kinos in der Stadt gegeben. Außerdem wurden christliche Webereien boykottiert, weil sie Aufträge nur an christliche Weber vergaben, während muslimische Tuchfabriken sowohl Christen als auch Muslime beschäftigten. Im Oktober provozierten die „Weißbinden“ schließlich Kämpfe mit den „Stahlhemden“ im Streit um Gemüsepreise. Acht Menschen wurden getötet, 150 verletzt. Die christlichen Bischöfe unterstützten die Organisation nicht. Sie riefen zur Mäßigung auf und traten den extremen Forderungen der „Weißbinden“ entgegen.46 Neben den christlichen entstanden auch verschiedene islamische Verbände, oft in Anlehnung und als Antwort auf christliche Wohltätigkeitsvereine und Clubs. Die Muslimbrüder begannen in den 1940er Jahren unter ihnen eine Vorreiterrolle einzunehmen. Neben Studenten des islamischen Rechts zogen sie Basarhändler und Handwerker an, die sich vom europäischen Handel und ihren christlichen Partnern vor Ort mehr und mehr an den Rand gedrängt fühlten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schlossen sich auch immer mehr Arbeiter den Muslimbrüdern an, die es verstanden – anders als die demokratischen Eliten – die (islamische) Sprache des Volkes zu sprechen.47 In dieser Situation bemühten sich die französischen Mandatsbehörden 1936 um die Umsetzung der vollständigen Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die rechtliche Gleichstellung der Bürger ohne Ansehen der Religion. Mit zwei Verordnungen aus den Jahren 1936 und 193848 sollte den Vorgaben von Artikel 6 der syrischen Verfassung von 45 Khoury 1989:471–476. 46 Khoury 1989:469–470 47 Khoury 1989:608–609. 48 Verordnung 60/L.R. vom 13. März 1936, ergänzt durch die Verordnung 146/L.R. vom 18. November 1938.

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1930 („Die Syrer sind gleich vor dem Gesetz. Sie genießen alle die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte; alle haben die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten.“) sowie von Artikel 8 der Mandatscharta („Es gibt keinerlei Ungleichbehandlung zwischen den Einwohnern Syriens und des Libanon aufgrund von Unterschieden in Rasse, Religion oder Sprache.“) Rechnung getragen werden. Die Verordnung sah vor, dass jeder Volljährige seine Religionsgemeinschaft verlassen konnte, also auch Muslime ihre Religion wechseln oder ablegen könnten (Artikel 11 der Verordnung). Außer­ dem folgte aus der Verordnung, dass muslimische Frauen mit nicht-muslimischen Männern verheiratet sein könnten und Kinder nicht automatisch Muslime würden, wenn ein Elternteil sich zum Islam bekannte. All dies rief heftigen Protest von Seiten der sunnitischen Religionsgelehrten hervor, den sie in einem Manifest vom 10. Februar 1939 öffentlich machten. Die nationale syrische Regierung wies die Gerichte daraufhin an, die Verordnungen nicht anzuwenden. Das wiederum veranlasste den französischen Hochkommissar zu einer Intervention. Er erklärte, nur er allein könne als Vertreter der Mandatsmacht über die Aussetzung der Verordnung entscheiden. Ministerpräsident Jamil Mardam trat deshalb am 18. Februar aus Protest zurück. In Damaskus und Aleppo riefen daraufhin Studenten einen Generalstreik aus, der allerdings von christlichen Händlern in Damaskus kaum befolgt wurde. Dies wiederum führte zu Übergriffen von Jugendbanden auf Geschäfte, die sich nicht am Streik beteiligten. Der französische Hochkommissar setzte daraufhin die Verordnungen zeitweilig aus und erbat die Einschätzung einer von der syrischen Regierung eingesetzten Kommission. Während sich die muslimischen Kommissionsmitglieder dem Protest der islamischen Religionsgelehrten anschlossen, schlug das christliche Mitglied vor, die Meinung der kirchlichen Hierarchie einzuholen. Die katholischen Bischöfe plädierten in einem Schreiben an den Hochkommissar vom 28. März 1939 für die Umsetzung der vollständigen Gewissensfreiheit gemäß den Vorgaben der Verfassung und der Mandats­charta. Sie verwiesen darauf, dass es nicht nur Muslimen, sondern auch Christen verboten sei, von ihrem Glauben abzufallen, wehrten sich aber gegen staatlichen Zwang in Fragen des religiösen Gewissens, insbesondere, wenn nur Muslimen der Glaubenswechsel verboten sei, Christen und Juden jedoch legal Muslime werden könnten. Die Mehrheit der Sunniten dürfe in Syrien den Minderheiten keinesfalls koranische Vorgaben auferlegen, genauso wenig wie im Libanon Christen den Anhängern der anderen Religionsgemeinschaften Vorschriften des Evangeliums auferlegen dürften. Die Bischöfe plädierten für eine „suprakonfessionelle Gesetzgebung“, da nur dies das Zusammenleben in einem von mehreren Religionen geprägten Land sicherstellen könne. Trotz dieses Plädoyers der katholischen Bischöfe setzte der Hochkommissar 1939 per Verordnung49 die Anwendung der beiden Dekrete von 1936 und 1938 auf Muslime aus. Dies bedeutete zwar eine nicht unerhebliche rechtliche Einschränkung der Religionsfreiheit. Sie war jedoch im Alltag von minimaler Auswirkung, da ein Religions49 Verordnung 53/L.R. vom 30. März 1939,

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wechsel ohnehin ein seltenes Phänomen war ebenso wie Mischehen zwischen Christen und Muslimen. Die Kultusfreiheit blieb weiter bestehen ebenso wie die Autonomie der Kirchen in Fragen des Personenstandsrechts, sofern alle Parteien Christen waren, was fast immer der Fall war. Der Streit zeigt jedoch die unterschiedlichen Auffassungen von Christen und Muslimen zur Frage der Säkularisierung der Gesellschaft und der Religionsfreiheit.50

Der Zweite Weltkrieg und der Weg in die Unabhängigkeit Die politische Lage in Syrien blieb angespannt. Im Juli 1939 setzte Hochkommissar Puaux die Verfassung aus, löste das Parlament auf und legte die Regierungsgeschäfte in die Hand eines Direktoriums, das aus den obersten Ministerialbeamten bestand. In der Jazira wurde eine direkte französische Verwaltung eingesetzt. Heftige Reaktionen nicht nur von Seiten der Nationalisten rief die Übergabe des unter Sonderverwaltung stehenden Sanjaks Alexandretta an die Türkei aus. Frankreich wollte damit offen­ sichtlich die Neutralität der Türkei im bevorstehenden Konflikt mit den Achsenmächten Deutschland und Italien sichern. Nachdem die türkische Bevölkerung des Sanjaks zunächst besondere Garantien erhalten hatte, übergab Frankreich aufgrund des heftigen Drängens der türkischen Regierung das Gebiet im Sommer 1939 an die Türkei. Für die syrischen Nationalisten war dies ein gravierender Verstoß gegen die Bestimmungen des Mandats und eine grobe Ungerechtigkeit gegenüber dem syrischen Volk. Die Armenier des Sanjak – 1937 hatte ihre Zahl 25.000 betragen, viele davon Flüchtlinge aus Kilikien – fürchteten Übergriffe der Türken und verließen fast vollständig (rund 22.000) das Gebiet mit Ziel Syrien. Von den 24.000 anderen Christen siedelten rund 5.000 nach Syrien über, außerdem 10.000 Alawiten und 10.000 sunnitische Araber. Für die christlichen Händler Aleppos war die Trennung zwischen der Metropole und ihrem Handelshafen Alexandretta wirtschaftlich katastrophal.51 Während des Zweiten Weltkriegs führte Angst vor dem zunehmenden Einfluss von Nazi-Deutschland im Juni 1941 zur Besetzung Syriens durch britische Truppen und Einheiten des Freien Frankreichs. Die Besetzung ging mit dem im Namen von Charles de Gaulle ausgesprochenen Versprechen einher, Syrien schnell in die Unabhängigkeit zu entlassen. Am 28. September 1941 erklärte der französische General Catroux Syrien für unabhängig. Im Februar 1942 wurden die bisher unter direkter französischer Verwaltung stehenden Provinzen Lattakia und Jabal Druze der Kontrolle der syrischen Regierung unterstellt. Anfang 1943 stellten die französischen Behörden die verfassungsmäßige Ordnung in Syrien wieder her und setzten eine Regierung zur Vorbereitung von Wahlen ein. Am 17. August 1943 trat das Parlament erstmals zusammen und wählte Shukri al-Quwatli zum Staatspräsidenten und den Christen Faris al-Khoury

50 Hourani 1954:225–226; Khoury 1989:575–580; Dick 1995:71–77; White 2011:162–199. 51 Beaupin 1937:137; Khoury 1989:513.

Die politische Rolle der Christen in der französischen Mandatszeit

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zum Parlamentspräsidenten. Allerdings unternahmen die Franzosen noch keinerlei Schritte, um sich aus der Verantwortung für das Land zurückzuziehen.52 Gegen Ende des Kriegs nahmen im Libanon und in Syrien daher die Proteste gegen die französische Präsenz zu. Im Mai 1945 kam es zu großen Demonstrationen, die das französische Militär mit dem Beschuss von Damaskus beantwortete. Großbritannien intervenierte, weil es Reaktionen im eigenen arabischen Mandatsgebiet befürchtete, und veranlasste die französischen Truppen, sich in die Kasernen zurückzuziehen. Die Briten übergaben die Kontrolle wieder der syrischen Regierung. Im Winter 1945–1946 zog sich das französische Militär schließlich ganz aus Syrien zurück. Formal trat die Unabhängigkeit Syriens schließlich am 13. April 1946 in Kraft; bereits 1945 war es der Arabischen Liga beigetreten.53

* Die Zeit der französischen Mandatsherrschaft und des nationalistischen Widerstands bot Christen relativ breiten Raum für die Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben. Die Positionen von Christen waren dabei keineswegs einheitlich. Oft wichen auch die Meinungen der kirchlichen Hierarchie von denen der christlichen Laien ab. Christen waren hin- und hergerissen zwischen syrischem Natio­nalismus, französischem Protektorat und dem Schutz der eigenen Identität und eigener Wirtschaftsinteressen. Griechisch-orthodoxe Christen arbeiteten vorwiegend in den Nationalbewegungen unterschiedlicher Ausrichtung mit. Dort waren auch manche katholischen Laien aus der Bildungselite aktiv, auch wenn die katho­lischen Bischöfe für eine Kooperation mit den französischen Mandatsbehörden standen. In der Jazira kämpften die Christen der syrischen Tradition (syrisch-orthodoxe und syrisch-katholische Gemeinschaft) in einer Allianz mit den Kurden für die Autonomie vom arabisch-geprägten Restsyrien und forderten Schutzgarantien von Frankreich. Beginnende Bestrebungen zur stärkeren Islami­ sierung der Gesellschaft machten Christen schließlich wachsam für die eigene Identität und den Schutz ihrer gesellschaftlichen Rolle, die sie nach dem Ende des Osmanischen Reichs einzunehmen begannen. Mit der Unabhängigkeit Syriens und den autoritären Regimen, die sich ab den 1950er Jahren etablierten, sollten die Möglichkeiten für die aktive Beteiligung am Gemeinwesen für die bisherigen christlichen Bildungseliten – ebenso wie für andere unabhängige Eliten – jedoch stark zurückgehen.

52 Hourani 1954:246–250, 256; Khoury 1989:592–596. 53 Khoury 1989:616–618.

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Republik und Militärdiktatur: Autoritäre Säkularisierung und die Reaktion der Kirchen Die ersten Jahre der Unabhängigkeit waren von politischer Instabilität und zahlreichen Militärputschen geprägt. Zwischen 1949 und 1954 übernahm das Militär vier Mal die Macht, bevor mit Shukri al-Quwatli, einem Vertreter der nationalistisch gesinnten Bildungselite, 1955 wieder ein ziviler Präsident die Führung des Landes übernahm. In Anlehnung an die Entwicklungen in der Türkei war die Politik der Militärführer genauso wie der Zivilregierungen in vielen Teilen vom Kemalismus mit seinem Staatsdirigismus und seinem radikalen Laizismus bestimmt, so die Unterstellung der religiösen Stiftungen unter staatliche Kontrolle und die Einführung eines säkularen Strafrechts. Außerdem wurde das Tragen islamischer religiöser Kleidung an eine staatliche Genehmigung gebunden.54 In der Debatte um die Verfassung, die während des Jahres 1950 geführt wurde, spielte die Stellung des Islam eine wichtige Rolle. Anhänger der Muslimbrüder forderten, den Islam zur Staatsreligion zu erheben. Dagegen formierte sich Widerstand aus den politischen und religiösen Eliten der Christen. Die orthodoxen und die katholischen Bischöfe protestierten gegen diese Bestimmung. Sie erschien ihnen als Rückschritt gegenüber der Verfassung von 1930, die keine Staatsreligion vorgesehen hatte. Die Verfassung, die 1950 in Kraft trat, garantierte die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz unabhängig von ihrer Religion. Allen Religionen wurde Gottesdienstfreiheit gewährt und die Autonomie der kirchlichen Gerichte in Personenstandsangelegenheiten gemäß der jeweils eigenen Tradition festgeschrieben. Eine Staatsreligion gab es nicht. Allerdings wurde die Verfassung 1953 um die Bestimmung ergänzt, dass der Islam die Religion des Präsidenten der Republik sein müsse. Gegen diese Bestimmung hatten die religiösen Autoritäten der Kirche keine Einwände, entsprach es doch ohnehin den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Allerdings bestimmte die Verfassung auch, dass die islamische Jurisprudenz (al-fiqh al-islāmī) eine Hauptquelle der Gesetzgebung sei (Artikel 3), was bei vielen Christen die Angst vor einem Rückfall in den ḏimma-­Status nährte.55 Im Parlament waren seit 1947 alle Religionsgemeinschaften nach einem Proporzsystem vertreten (1947: 116 Muslime, 18 Christen, ein Jude; 1950: 100 Muslime, 14 Christen). Für die Kabinettsposten gab es keine Proporzregelungen, dennoch gehörten jeder Regierung mehrere christliche Minister und Staatssekretäre an. Faris alKhoury war sogar in den Jahren 1954–1955 Ministerpräsident (wie bereits 1944–1945).56 Die Zeit der Militärputsche und Militärdiktaturen führte zu einer relativen Säkularisierung des Landes unter den ideologischen Vorzeichen von politischem und sozialem Reformismus und der Uniformisierung der Gesellschaft. Dabei war die Rolle des Islam angesichts der breiten muslimischen Bevölkerungsmehrheit allerdings nicht 54 Pierret 2013:18–19. 55 Valognes 1994:711; Teule 2010:91–92; Pierret 2013:174. 56 Betts 1978:178–79.

Republik und Militärdiktatur

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ernsthaft in Frage gestellt. Anders sah es mit der Identität der christlichen Minderheit aus. Kirchenführer beklagten in diesen Jahren mehrfach öffentlich, dass sich Christen wie „Flüchtlinge im eigenen Land“ fühlten.57 Die autoritären Tendenzen des Staats, die sich unter anderem in der Furcht vor ausländischer Einflussnahme äußerte, wirkte sich vor allem im Schul- und Erziehungsbereich auch. So wurden im April 1952 alle Jugendbewegungen, darunter die katholischen Pfadfinder, der direkten Kontrolle des Staats unterworfen und in den säkularen nationalen Pfadfinderverbänden vereinigt. Die katholischen Pfadfinder lösten sich daraufhin auf, weil sie den religiösen Charakter ihrer Bewegung nicht mehr gewährleistet sahen.58 Das Schulwesen, das aufgrund der langen kirchlichen Tradition und dem Wirken der Ordensgemeinschaften stark christlich geprägt war,59 wurde 1952 uniformisiert und strengen staatlichen Vorgaben unterstellt. Dekret 175 vom März 1952 forderte die vollständige Ausrichtung der privaten Schulen an den offiziellen Lehrplänen. Das Erziehungsministerium wurde ermächtigt, auch in die innere Organisation der Schulen einzugreifen. Die Gründung neuer ausländischer Schulen wurde verboten. Die Bischöfe protestierten gegen diesen Eingriff, da sie die Erziehung der Jugend als Teil ihres pastoralen Auftrags sahen. Trotz der Verhandlungen mit der Regierung gelang es ihnen nicht, das Recht auf Erziehungsfreiheit in der 1953 neu erlassenen Verfassung zu verankern. Allerdings wurde 1954 vom Ministerium für Öffentliche Erziehung ein Rat für private Erziehung eingerichtet. In diesen Rat wurde auch der Direktor des melkitischen patriarchalen Kollegs in Damaskus berufen. Die Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Staat verbesserte sich im Erziehungsbereich jedoch nur kurzfristig. Neue repressive Maßnahmen, darunter das Verbot, mehrere wegen des Vorwurfs des Proselytismus geschlossene katholische Schulen wiederzueröffnen, führten schließlich zu einer Petition der Bischöfe an den Präsidenten, das Dekret von 1952 aufzuheben. 1958 wurde privaten Schulen per Gesetz verboten, konfessionelle Namen zu tragen, was erneut heftigen Protest der Bischöfe hervorrief. Dennoch änderten viele Schulen ihre Namen.60 Die politische Instabilität und die anti-westliche Stimmung im Land, die durch die negativen Erfahrungen während der Kolonialzeit und die Gründung des Staats Israel bedingt waren, führten zu einem Aufstieg linker Parteien. Die Syrische Kommunistische Partei und die Arabische Baath-Partei gewannen dabei die meisten Anhänger und standen in heftiger Konkurrenz zueinander. Michel Aflaq, Sohn eines griechisch-­ orthodoxen Getreidehändlers aus dem Damaszener Viertel Maidan und einer der Gründer der Baath-Partei, argumentierte, dass die arabische Bewegung unveräußerlich mit dem Islam verbunden sei und der Prophet Muhammad „die Natur der arabischen 57 So der griechisch-katholische Patriarch Maximos IV. Saigh in seiner Osterpredigt 1954. Betts 1978:180. 58 Teule 2010:101, n. 68. 59 Laut Statistik des Ministeriums für Öffentliche Erziehung: Primarschulen: 307 private, 38 ausländische, 1.500 staatliche Schulen. Sekundarschulen: 70 private, 18 ausländische, 55 staatliche Schulen. POC 2 (1952):388; Teule 2010:100, n. 67. 60 Teule 2010:100–102.

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Seele“ verkörpere. Die Araber hätten die Aufgabe, einen „arabischen Humanismus“ zu schaffen. Dabei sollten europäische Konzepte wie die Trennung von Nationalismus und Religion nicht übernommen werden.61 Dem Baath gelang es, in der Armeeführung zahlreiche Anhänger zu gewinnen. Die Franzosen hatten in der syrischen Mandatsarmee die sogenannten „kompakten Minderheiten“ Alawiten und Drusen stark gefördert, weil sie anders als die Sunniten als weniger aufgeschlossen für die Ideen des syrischen Nationalismus und der Unabhängigkeit galten. Alawiten aus den armen, bergigen Regionen des Nordens machten einen großen Teil der Rekruten aus. Die Offiziersränge wurden von sunnitischen Arabern aus dem ländlichen Bereich, der ebenfalls wenig mit der nationalistischen Bewegung in Verbindung stand, gebildet. In den 1960er Jahren stiegen dann Alawiten auch in die Offiziersränge auf. Die Militärregierungen sahen sie – wie vormals die Franzosen – als neutrale Partei im Kampf der politischen Kräfte. Die Baath-Ideologie war für sie attraktiv: säkulare Ideologie, Kampf gegen den Konfessionalismus, Streben nach Landreform, Schaffung egalitärer Wirtschaftsstrukturen. Im Sinne seiner Politik der arabischen Einheit drängte der Baath zur Union mit dem revolutionären Ägypten Gamal Abdel Nassers, der selbst einen pan-arabischen Kurs verfolgte. Die 1958 eingegangene Union der beiden Länder hielt aber nicht lange und wurde nach erneutem Eingreifen des syrischen Militärs 1961 wieder aufgelöst.62 Während der Union mit Ägypten wurde im Rahmen der Unterdrückung jeglicher Opposition und der strengen Pressezensur jegliche kirchliche Mission untersagt und per Gesetz die Benutzung aller Bücher, auch christlicher Literatur, verboten, wenn sie „im Gegensatz zum arabischen Nationalgeist die öffentliche Ordnung und Moral oder Religion und Glauben in Frage stellen“.63 Das Proporzsystem nach Religionsgemeinschaften bei den Parlamentswahlen wurde abgeschafft, jedoch eine Minimalpräsenz von Christen im Parlament garantiert.64

Die Herrschaft der Baath-Partei: Kultusfreiheit und Konformismus Säkularisierung und Verstaatlichung: Christliche Identität in Gefahr? Mit dem Militärputsch baathistischer Offiziere am 8. März 1963 begann der Aufbau des Baath-Regimes in Syrien. Das parlamentarische System und die politischen Parteien wurden abgeschafft; oberstes Machtorgan bildete der Revolutionsrat. Allerdings wurden alle wichtigen Entscheidungen von Anfang an von einer Clique baathistischer Offiziere bestimmt. Bei einem erneuten, blutigen Putsch übernahm der linke Zweig des Baath 1966 die Macht und verfolgte eine radikal-sozialistische Politik, die 61 62 63 64

Khoury 1989:605–606. Khoury 1989:629–630. Kopp 1998:264. Betts 1978:180.

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sie in einen tiefen Gegensatz zu traditionellen und islamischen Kreisen führte. Alle besonderen politischen Rechte der Religionsgemeinschaften, darunter die garantierte Vertretung der Christen im Parlament, wurden abgeschafft.65 Der Baath bekämpfte vehement die aus seiner Sicht reaktionären islamischen Gelehrten. Vertreter der Religionen wurden nicht in die entstehenden Massenorganisationen aufgenommen.66 Das Regime startete eine radikale Arabisierungspolitik und versuchte andere Ethnien zu assimilieren. So wurde zum Beispiel die Eintragung von nicht-arabischen Namen von Regierungsbeamten oft verweigert. Diese Politik traf die kulturellen Vereine und Aktivitäten der aramäischen und assyrischen Christen in der Jazira (Hassake, Khabur-­Tal und Qamishli). Sie wurden entweder verboten oder von Mitgliedern der Baath-Partei übernommen und im Sinne der Regierungspolitik geführt. Auch den gemeinschaftlichen Organisationen der Armenier stand das Regime kritisch gegenüber, weil sie sich der Arabisierungspolitik widersetzen. Viele Armenier wanderten daher aus, meist in den Libanon und von dort in den Westen. Viele griechisch-orthodoxe und melkitische Christen, die der Handelsbourgeoisie angehörten, wurden von der sozialistischen Wirtschaftspolitik verstört. Sie beeinträchtigte ihre Geschäftsinteressen, und so wanderten viele in den 1960er Jahren ebenfalls aus Syrien aus.67 In den Rahmen der Säkularisierungs- und Gleichschaltungsbestrebungen gehört auch die Schul- und Erziehungspolitik. Sie sollte nachhaltige Auswirkungen auf das christliche Schulsystem haben. Durch den Erlass 127 vom 9. September 1967 enteignete das Erziehungsministerium im Rahmen der allgemeinen Verstaatlichungspolitik alle kirchlichen Schulen. Kirchenführer fast aller Konfessionen (mit Ausnahme der syrisch-orthodoxen Kirche) forderten die Rückgabe der 118 verstaatlichten Schulen. Die Regierung setzte Polizei und Militär ein, um die Gebäude gewaltsam zu beschlagnahmen. Außerdem ordnete sie die Beobachtung von kulturellen Gruppen und Katechismusklassen an. Die Repressalien gipfelten in der Weigerung von Beamten, christliche Namen in Behördenpapiere einzutragen. Im Prinzip handelte es sich zunächst um die Arabisierung der Schulen und die Einsetzung von Direktoren durch die Regierung. Die katholischen Bischöfe verfassten ein deutliches Protestschreiben, das auch von einigen orthodoxen Bischöfen und protestantischen Kirchenführern unterschrieben wurde. Die meisten katholischen Schulen widersetzten sich den Forderungen des Erlasses, was zu ihrer Schließung oder Nationalisierung führte. Die überwiegende Zahl der orthodoxen (vor allem armenischen) Schulen dagegen arrangierte sich mit den neuen Regelungen und konnte weiter bestehen. Erst einige Jahre später, nach der Machtübernahme von Hafiz al-Assad, wurde die Politik etwas abgemildert. 1972/73 konnten einige katholische Privatschulen wieder eröffnet werden, zahlreiche andere blieben jedoch in staatlicher Hand.68 65 Betts 1978:180–181. 66 Pierret 2013:20–21. 67 Yonan 1978:125–128; Valognes 1994:723. 68 Yonan 1978:132–133; Kopp 1998:264; Teule 2010:102; Kopp 2017:22. Islamische religiöse Ausbildungsstätten waren nicht betroffen, weil das Baath-Regime bis in die 1980er Jahre angesichts seiner

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Mit der Hinwendung Syriens zum sozialistischen Lager intensivierte die griechisch-orthodoxe Kirche ihre traditionell guten Beziehungen zum Moskauer Patriarchat. Bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Moskauer Patriarchat und im Hintergrund die Sowjetregierung um Einfluss auf das Patriarchat von Antiochien bemüht. Patriarch Alexander III. Tahhan (1929–1958) hatte mehrere Reisen in die Sowjetunion unternommen und sich den anti-westlichen „Friedenserklärungen“ der russischen Kirche angeschlossen, so dem Aufruf von Stockholm 1951. 1957 war er nach Moskau gereist, hatte an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution teilgenommen und Chruschtschow getroffen. Dem Aufstieg Nassers und seiner pan-arabischen Politik stand er aufgeschlossen gegenüber und entfremdete damit die libanesischen Bischöfe seiner Kirche, die mit Sorge auf die ägyptische Politik blickten. Auch andere Bischöfe waren in der Sowjetunion ausgebildet und sprachen russisch. Als Nachfolger Alexanders wurde ein libanesischer Kandidat gewählt, Theodosios VI. Abu Rijali (1958–1970), der dem dortigen Ministerpräsidenten Rachid Karamé nahestand.69 Dies mag der Grund dafür gewesen sein, warum radikale Baath-Kreise in Syrien innerhalb der antiochenischen Synode einen „progressiven“ Flügel bildeten. Er konstituierte 1966 eine eigene Synode. In Konkurrenz zur regulären Synode wählte sie einen Bischof für Lattakia und verhinderte mit Unterstützung der Regierung die Einführung des kanonisch gewählten Bischofs Habib Hazim (des späteren Patriarchen). 1969 wählten die „Progressiven“ unter Missachtung der kanonischen Bestimmungen sogar einen eigenen Patriarchen. Jedoch wurden die Dissidenten von den rechtmäßigen kirchlichen Behörden abgesetzt. Unter ebenfalls nicht ganz kanonischen Bedingungen (nämlich ohne die Konsultation der Laien bei der Aufstellung der Kandidatenliste) wählte sodann die reguläre Synode Elias IV. Mouawwad zum Patriarchen. Dieser stand der Baath-Regierung so nah, dass er sich durchsetzen konnte.70 Die grundsätzliche Solidarität des griechisch-orthodoxen Patriarchats zum Baath-Regime sollte sich unter der Herrschaft der Assad-Familie fortsetzen und weiter mit guten Beziehungen zum Patriarchat in Moskau und pro-sowjetischen Deklarationen einhergehen. Dies gilt bis heute. Im Januar 2014 besuchte Patriarch Johannes X. Yazigi Moskau. Dabei vertrat das Moskauer Patriarch offensiv die Interessen der russischen Außenpolitik.71 Aufgrund ihrer pro-westlichen Orientierung und des Einflusses des anti-sowjetischen Dashnak war der armenisch-orthodoxe Klerus während der radikalen Phase des Baath in den 1960er Jahren dem Regime zunächst suspekt. Der im Libanon residierende Katholikos von Kilikien durfte nicht zum Besuch der armenischen Gemeinden nach Syrien einreisen. Erst mit der Machtübernahme Hafiz al-Assads entspannte sich

säkularen Ausrichtung kein Interesse daran hatte, die religiöse Erziehung in staatliche Hand übergehen zu lassen. Pierret 2013:43. 69 Hopwood 1969:179. 70 De Bar 1983:42–45; Valognes 1994:314–315. 71 Pinggéra 2014:88–89.

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das Verhältnis. Die Abwanderung zahlreicher armenischer Geschäftsleute setzte sich angesichts der rigiden Wirtschaftspolitik jedoch fort.72 Radikale Maßnahmen und die Niederlage im Juni-Krieg gegen Israel 1967, die für Syrien mit dem Verlust der Golanhöhen verbunden war, führten zu immer größerer Unzufriedenheit in der Bevölkerung und in bestimmten Offizierskreisen. Einer der Wortführer war der Luftwaffenchef und Verteidigungsminister Hafiz al-Assad. Als die Parteiführung versuchte, Assad zu entmachten, ließ er am 13. November 1970 kurzerhand die Führung verhaften und übernahm selbst die Macht. Er leitete ein Reformprogramm ein und suchte die Unterstützung von Kräften und Parteien außerhalb der Baath-Partei. Diese schloss er unter der Führung des Baath zur Nationalen Progressiven Front zusammen. Dann wandte er sich von den radikal-sozialistischen Maßnahmen der Vorgängerregierung ab, begann eine gemäßigte Liberalisierung der Wirtschaft und förderte Handwerks- und Kleinbetriebe. Die entscheidende Rolle im Machtgefüge spielte aber weiterhin ein relativ kleiner Zirkel aus Offizieren und Geheimdienstchefs, die wie Assad selbst zum größten Teil der alawitischen Minderheit angehörten. Diese Gruppe kontrollierte das Militär und den zivilen Partei- und Staatsapparat. Die laizistische Ideologie der Baath-Partei animierte nicht wenige christliche Araber zur Mitarbeit,73 verstörte dagegen strenge Muslime, vor allem Sunniten, die darin Atheismus sahen. Der ideologische Arabismus des Baath schloss außerdem nicht-arabische Minderheiten wie die Kurden und auf christlicher Seite die Armenier74 und Assyrer75 praktisch von der politischen Beteiligung aus. Am 30. Januar 1973 verabschiedete der Volksrat eine Verfassung, die Syrien als „demokratisch-sozialistisch-souveränen Volksstaat“ und präsidiale Republik bezeichnete. Nach Artikel 3 der Verfassung waren alle Bürger vor dem Gesetz gleich. Die Verfassung erkannte keine nationalen Minderheiten an, gewährte aber in Artikel 35 allen Bürgern Glaubensfreiheit. Der Islam war nicht Staatsreligion; allerdings wurde festgelegt, dass die islamische Jurisprudenz (al-fiqh al-islāmī) eine Hauptquelle der Gesetzgebung sei und der Staatspräsident Muslim sein müsse. Die Bestimmungen der vorherigen Verfassung wurden in diesen Punkten nicht verändert. Wie in den frü­ heren Verfassungen wurde jeder Religionsgemeinschaft ein eigenes Personalstatut

72 Hovannisian 1974:25–28. 73 So waren Mitte der 1970er Jahre von elf Ministern fünf Christen. Kopp 1998:265. In der 1992 gebildeten Regierung waren allerdings nur noch drei Christen im Rang von Staatsministern vertreten. In der Volksversammlung wurden nur vier Christen unter 250 Abgeordneten gewählt. Offenbar stellte die Baath-Partei nur ungern christliche Kandidaten auf, um nicht zusätzlichen Groll der Sunniten zu provozieren. Christen fanden sich dagegen in der zweiten Reihe und auf Beraterpositionen rund um den Präsidenten. Valognes 1994:716. 74 Die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak existierten in Syrien offiziell nicht. Dennoch standen ihnen viele in der Gemeinschaft aktive Armenier sehr nah. 75 Assyrer gründeten 1957 in Syrien die Assyrian Democratic Organization (ADO, Mṭakastā āṯūrāyā dīmōqraṭāyā). Ziel der Organisation war und ist die Vertretung der Interessen des assyrischen Volkes. Während der Baath-Herrschaft war ADO in Syrien verboten.

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garantiert, durch das sie eine zivilrechtliche Jurisdiktion im Familien- und Personalbereich ausüben konnte.76 Zur Festigung der Macht von Hafiz al-Assad und dem Offizierscorps in seinem Umfeld wurde die gesamte Gesellschaft der ideologischen Durchdringung der Baath-Partei ausgesetzt. Die Massenorganisationen wie die Gewerkschaften, die Berufsverbände und Jugendbewegungen wurden gleichgeschaltet und der Kontrolle des Baath unterstellt. Die Anerkennung der ideologischen Führerschaft des Baath wurde auch den Kirchen abverlangt. Da die säkular-laizistische Ideologie auch den Einfluss der traditionellen islamischen Autoritäten stark beschränkte, wenn nicht ganz zugunsten der staatlichen Lenkung ausschaltete, willigten die meisten Kirchenführer in diese Politik ein und beschränkten die Aktivitäten auf den rein innerkirchlichen Bereich. Im Sozialbereich wurde eine enge Kooperation mit staatlichen Institutionen gesucht. Nur dadurch war kirchlich-caritatives Wirken möglich. Zensur kirchlicher Medien war genauso üblich wie im sonstigen Medienbereich. Das Wirken der Geheimdienste machte vor dem Raum der Kirche so wenig halt wie vor anderen gesellschaftlichen Bereichen. Nach dem islamistisch geprägten und von den Muslimbrüdern dominierten Aufstand der Jahre 1979 bis 1982, der in der blutigen Niederschlagung, verbunden mit der Zerstörung weiter Teile des Zentrums von Hama endete, eröffnete das Baath-Regime die schlimmste Phase seiner autoritären Regierung. Religiöse Aktivitäten in den Moscheen wurden strikter Kontrolle unterstellt und außerhalb der Gebetszeiten ganz verboten. Islamische Religionsgelehrte wurden noch weiter vom politischen Prozess ausgeschlossen, als dies vorher schon der Fall war. Gleichzeitig übernahm der Staat einen Teil der islamischen Religionsausbildung in eigene Hände mit dem Ziel eine neue, baathistisch gesinnte Schicht von Religionsgelehrten heranzubilden.77 Den massiven Menschenrechtsverletzungen in Syrien wollen Kirchenführer in den 1990er Jahren nach eigener Aussage mit schriftlichen Eingaben im Hintergrund entgegengetreten sein. Öffentlich wollte man dieses Unrecht aber nicht anprangern, weil die von ihnen so genannte „politics of silence“ wesentlich bessere Ergebnisse für die Betroffenen bringe. In der Öffentlichkeit lebten Christen und vor allem Kirchenvertreter in einer nahezu uneingeschränkten Loyalität zum Präsidenten. Von der Loyalität erwarteten sie sich Schutz vor Gewalt durch islamistische Kräfte. Dieser wurde über Jahrzehnte von der Regierung tatsächlich gewährt und Übergriffe waren äußerst selten. Daher mahnten auch die Patriarchen aller Konfessionen bei ihren Gläubigen immer wieder die Unterstützung des Präsidenten an.78

76 Kopp 1998:265; Teule 2010:92. Das Verfassungsvorhaben hatte zu einem ersten Aufstand der Muslimbrüder geführt, der auch von anderen muslimischen Religionsführern mitgetragen wurde. Das ursprüngliche Vorhaben, den Artikel, wonach der Staatspräsident Muslim sein musste, fallen zu lassen, wurde daraufhin aufgegeben. Die Muslimbrüder riefen dennoch zum Boykott des Verfassungsreferendums auf; jedoch erfolglos, die Verfassung wurde angenommen. Valognes 1994:715. 77 Pierret 2013:39, 70–71. 78 Kopp 1998:266.

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Der Bau von Kirchen und anderen kirchlichen Einrichtungen stellte unter dem Baath-Regime kein Problem dar. Für eigene Gebäude profitierten die Kirchen sogar von den Vorzugspreisen für Baumaterial, die für staatliche Bauvorhaben galten. In den großen Städten entstanden zahlreiche neue und nach außen deutlich sichtbare Kirchen.79 Der grundsätzliche Schutz durch die Regierung und die minderheitenfreundliche Religionspolitik änderten nichts daran, dass Christen auf dem Land, wo sie in gemischten Dörfern lebten, dem Druck der Sunniten ausgesetzt waren und zumindest vorsichtig sein mussten. Viele wanderten in die Städte ab, die kirchliche Infrastruktur im ländlichen Raum wurde immer dünner, was weitere Abwanderung nach sich zog.80

Das Ende der Säkularisierungspolitik und die Islamisierung des öffentlichen Lebens Am 10. Juni 2000 verstarb Hafiz al-Assad. Zu seinem Nachfolger wurde genau einen Monat später sein Sohn Bashar gewählt. Er hatte in England studiert und bis zur Übernahme des Präsidentenamts dort gelebt. Es begann zunächst eine Zeit der politischen Öffnung, die als „Damaszener Frühling“ bezeichnet wurde. Die Rede- und Diskussionsfreiheit war deutlich erhöht, einige politische Oppositionelle konnten sich wieder öffentlich äußern. Allerdings dauerte diese Zeit nicht lange an. Auf den Frühling folgte bereits ab Herbst der „Damaszener Winter“. Oppositionelle verschwanden wieder in den Gefängnissen und das Regime machte sehr deutlich, bis zu welchem Grad es Wider­spruch erlaubte. Die Opposition wurde wieder streng kontrolliert. Der harte Kurs in der Religions- und Säkularisierungspolitik der Baath-Partei war bereits in den 1990er Jahren merklich gelockert worden. Für die christlichen Kirchen bedeutete dies, dass kirchliche Schulen wieder selbständig arbeiten konnten. Anfang der 1990er Jahre gab es etwa 40 kirchliche Schulen mit insgesamt rund 30.000 Schülern. Allerdings kontrollierte der Staat den Erziehungs- und Bildungsbereich sehr genau. Lizenzen für Neugründungen christlicher Schulen wurden nicht erteilt. Kirchenführer akzeptierten dies weitgehend als Teil der Eindämmungspolitik gegenüber islamistischen Tendenzen, die nur gelingen könne, wenn das Bildungswesen fest in staatlicher Hand sei und die laizistische Baath-Ideologie vermittle.81 Mit Blick auf den Islam versuchte sich das Regime die religiösen Gefühle der Bevölkerungsmehrheit zunutze zu machen. Dies führte zu einer gewissen Islamisierung in den Reihen des Regimes selbst. Ehefrauen von Ministern erschienen nun verschleiert in der Öffentlichkeit. Ins Ausland geflohene Religionsgelehrte konnten nach Syrien zurückkehren. Bashar al-Assad erlaubte kurz nach seinem Amtsantritt das Tragen von 79 Moussalli 1996, 311–312. Ein besonders imposantes Bauprojekt ist die 1980 begonnene Residenz des syrisch-orthodoxen Patriarchen in der Nähe des Pilgerorts Saidnaya. Dort wurde auch ein Priesterseminar errichtet. Valognes 1994:351. 80 Valognes 1994:720. 81 Valognes 1994:718; Kopp 1998:265.

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Schleiern in Schulen und das Einrichten von Gebetsräumen in den Universitäten. Den islamischen Religionsgelehrten gelang es, ihren gesellschaftlichen Einfluss wieder zu vergrößern. 2005 wurde die Gründung islamischer Banken erlaubt. Die Zeit ab 2005 wird sogar als „Islamischer Frühling“ bezeichnet. Das Regime gewährte islamischen und islamistischen Gruppen deutlich mehr Spielraum als vorher. Die Zahl der Scharia-Schulen vervierfachte sich bis 2008. In Aleppo wurde 2006 eine Scharia-Fakultät eingerichtet. Die aus der Staatskasse bezahlten Gehälter des Moschee-Personals wurden um 50 Prozent erhöht und einige bisher verbotene islamische Gruppierungen konnten wieder offen agieren. Der Einfluss der Salafisten nahm ebenfalls zu; einerseits durch das Einsickern entsprechender Ideen durch Arbeitsmigranten, die mehrere Jahre in den Golfländern verbracht hatten, andererseits durch die Verbreitung salafistischen Gedankenguts über das Internet und Satellitenfernsehsender.82 Ab 2008 änderte sich die Religionspolitik jedoch wieder radikal. Der Staat griff erneut hart gegen islamistische Bestrebungen durch, Scharia-Schulen wurden nationalisiert. Gebetsräume in Einkaufszentren wurden zur Bewahrung des Säkularismus geschlossen; religiöse Symbole in Fahrzeugen verboten, um dem zunehmenden Konfessionalismus Einhalt zu gebieten. Das Tragen des Gesichtsschleiers an Universitäten wurde verboten und Gesichtsschleier tragende Lehrerinnen auf Verwaltungsposten versetzt. Im Ramadan 2010 fand das öffentliche Fastenbrechen zum ersten Mal seit Jahrzehnten ohne Bankett des Präsidenten statt.83 Politisch spielten Christen in der Zeit des Baath-Regimes keine bedeutende Rolle, auch wenn einzelne christliche Politiker immer wieder in den Reihen der Regierung auftauchten. Die politische Szene wurde vollkommen vom Baath-Regime beherrscht. Handlungsspielraum gab es für niemanden, weder für christliche Politiker noch für Politiker anderer Glaubensrichtungen. Die Möglichkeiten zum politischen Aufstieg bemaßen sich am Grad der Loyalität zum Regime. Das Baath-Regime durchdrang aber nicht nur die Politik, sondern das gesamte gesellschaftliche Leben. Daher fiel es auch den Kirchen schwer, außerhalb des Gottesdienstes zu wirken. Kirchliche Schulen und konfessionelle Pfadfindergruppen waren vollkommen der Baath-Ideologie unterworfen und damit den staatlichen Schulen und Jugendgruppen quasi gleichgeschaltet. Gesellschaftliches Engagement aus christlicher Überzeugung, namentlich Einsatz für Gerechtigkeit und Beteiligung am politischen Leben, waren darin ausgeschlossen. So waren die Kirchen – wie alle anderen Gruppen der Gesellschaft mit Ausnahme der im Untergrund wirkenden Muslimbrüder und der im Ausland organisierten politischen Opposition – kein eigener Faktor, sondern nur Erbringer religiöser Dienstleistungen in dem vom Baath-Regime gesetzten Rahmen.

82 Pierret 2013:86–87, 108–109, 144–145, 160, 199–202. 83 Pierret 2013:212–216.

Zwischen Staatsmacht und Islamisten

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Zwischen Staatsmacht und Islamisten: Christen im syrischen Bürgerkrieg Von Protesten zum Bürgerkrieg Nachdem im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ im Januar 2011 die autoritär regierenden Präsidenten Tunesiens und Ägyptens durch Massenproteste gestürzt worden waren, begannen im März 2011 auch in Syrien Proteste. Noch im Januar hatte Präsident Bashar al-Assad verkündet, dass in seinem Land die Dinge anders lägen als in Ägypten und Tunesien. Seine Regierung genieße das Vertrauen und die Unterstützung des Volkes. Im März kam es aber bereits zu größeren Kundgebungen, zunächst im Süden des Landes, später auch in Damaskus und schließlich in Hama und Homs. Da sich echte Oppositionsparteien wegen der strengen Überwachung durch die Sicherheitsapparate nicht in Syrien, sondern nur im Ausland organisieren konnten, übernahmen vor Ort sogenannte lokale Koordinierungskomitees die Organisation der Proteste. Sie bestanden meist aus säkular ausgerichteten Jugendlichen, die auf dem Weg über friedliche Demonstrationen Reformen und einen politischen Übergang erreichen wollten. Über das Internet und soziale Netzwerke verbreiteten sie die Forderungen der Demonstranten im ganzen Land. Das Regime reagierte mit äußerster Gewalt, setzte Scharfschützen ein und duldete Aktionen regierungstreuer Heckenschützen (arabisch: šabiḥa), um die Protestierenden einzuschüchtern. Die brutale Repression durch das Regime führte auch dazu, dass sich einige oppositionelle Gruppen bewaffneten. Einzelne Armee-Einheiten fielen ab und bildeten die Freie Syrische Armee (FSA). Die Propaganda der Regierung behauptete von Anfang an, dass es sich bei all diesen Oppositionellen um Terroristen handele, ohne zu beachten, dass sie selbst die Spirale der Gewalt in Gang gesetzt hatte. Mehr und mehr kam es zu heftigen militärischen Auseinandersetzungen und zum Kampf um einzelne Stadtviertel. Aus dem Ausland wurde die Opposition mit Waffen beliefert. Seit Ende 2011 herrschte offener Bürgerkrieg. Die staatliche Armee ging mit schweren Waffen gegen bewaffnete Einheiten der Opposition vor und griff mit Fassbomben Gebiete an, in denen sich überwiegend Zivilisten aufhielten. Seit Oktober 2015 wird die syrische Armee bei ihren Operationen von Russland unterstützt, nachdem bereits vorher der Iran und die schiitische Hisbollah aus dem Libanon dem Regime militärische Unterstützung geboten hatten. Regierung und Aufständische beschuldigten sich gegenseitig, Chemiewaffen einzusetzen. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wurde und wird von keiner Seite genommen. Durch die Kämpfe wurden ganze Stadtviertel zerstört. Das Stadtzentrum von Homs, das lange von Aufständischen kontrolliert wurde, wurde durch eine Offensive der Regierungstruppen völlig verwüstet. Die historische Altstadt von Aleppo wurde durch die Kämpfe stark beschädigt. Dörfer und Städte im Umland von Damaskus wurden durch Bombenabwürfe der Regierungsarmee in Schutt und Asche gelegt. Tausende Wohnungen sind zerstört und Hunderttausende Menschen obdachlos geworden. Auch die öffentliche Infrastruktur – Schulen,

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Syrien

Krankenhäuser, Industriebetriebe – wurde schwer beschädigt. Die Gräuel des Kriegs treffen Christen und Muslime gleichermaßen.

Radikalisierung und Aufstieg der islamistischen Extremisten Die Protestbewegung in Syrien war zunächst von zivilen und säkularen Kräften getragen, die auf friedlichem Wege grundlegende Änderungen in Syrien erreichen wollten. Die Opposition bestand aus einer Reihe von Gruppierungen innerhalb und außerhalb Syriens. Bis zum Beginn des Aufstands im März 2011 war es aufgrund des vom Assad-­ Regime ausgeübten extremen Drucks und der geheimdienstlichen Kontrolle nicht möglich, tatsächliche Oppositionsgruppen im Land auf die Beine zu stellen. Nur einige, vom Regime zugelassene „Oppositionsparteien“, die den Führungsanspruch der Baath-­Partei akzeptierten und in der National Progressive Front (NPF) zusammen­ geschlossen waren, konnten innerhalb Syriens tätig sein. Einzig die Muslimbruderschaft war in der Lage, sich in Syrien mit Beginn des Aufstands einigermaßen zu organisieren. Vor dem Krieg wurde sie vom Regime brutal unterdrückt und überwacht, hatte aber eine lange Tradition und genoss große Bekanntheit. Außerdem wurde und wird sie von streng islamisch bis islamistisch ausgerichteten Staaten und Gruppen unterstützt. Im Syrischen Nationalrat, dem Zusammenschluss verschiedenster Oppositionsgruppen im Ausland, spielte sie ihre Rolle zwar bewusst herunter, verfügte dort aber über erheblichen Einfluss. Am 25. März 2012 legte sich die syrische Muslimbruderschaft in einem „Gelübde“ auf Werte wie Aufbau eines demokratischen Staats, Einsatz für Menschenrechte, rechtliche Gleichheit von Mann und Frau und eine ausgewogene Repräsentation aller religiösen und konfessionellen Gruppen in einem freien Syrien fest und erkannte die kulturelle Pluralität als Wert an sich an.84 Dennoch blieben in weiten Kreisen der christlichen und säkular geprägten Bevölkerung Syriens Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Bekenntnisses. Der Einfluss der Muslimbruderschaft geht jedoch inzwischen wieder spürbar zurück. Je fester die Assad-Regierung das Land wieder unter Kontrolle hat, desto mehr werden die Aktivitäten der Muslimbrüder unterdrückt. Der Einfluss der Muslimbruderschaft sowie das Einsickern islamistischer Kämpfer erweckten insbesondere bei den Christen den Eindruck, die Opposition werde von islamistischen Gruppen dominiert. Unter ihnen besteht bis heute die Furcht einer Macht­übernahme durch diese Gruppen mit negativen Folgen für die Religionsfreiheit für alle nicht-islamischen, beziehungsweise nicht-sunnitischen Gruppen. Mit Beginn des Konflikts nahm ein bedeutender Teil der islamischen Religionsgelehrten (ʿulamāʾ), vor allem der weniger bedeutenden unter ihnen außerhalb der großen Städte, eine regierungskritische Haltung an und unterstützte offen die Proteste gegen das Assad-Regime, so in Daraa und Homs. In Aleppo verhielten sich die ʿulamāʾ zunächst zurückhaltend. Sie waren eng mit den Händlern sowie der Mittel- und Ober84 Lübben 2012.

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schicht verbunden. Diese hatten kein Interesse an den Unruhen der unteren Schichten und einem Systemwechsel. Einige führende ʿulamāʾ, vor allem solche in engem Kontakt mit der Regierung wie der Großmufti, Ahmad Badr al-Din Hassun, und der Prediger der Umayyaden-Moschee, Muhammad al-Buti, stellten sich hinter das Regime und verurteilten die Proteste.85 Unter den Christen Syriens engagierten sich in der Anfangsphase des Aufstands vor allem junge Leute, Studenten und Akademiker. Sie kritisierten ihre Kirchenführer teilweise heftig dafür, dass sie sich öffentlich weiter an die Seite des Assad-Regimes stellten.86 Ein bekannter Name der Opposition ist Ayman Abdelnour, Mitbegründer des Vereins „Christliche Syrer für die Demokratie“, der im Februar 2013 im türkischen Antakya entstand und in dem sich Intellektuelle, Geschäftsleute und Kirchenvertreter im Exil für ein „vereintes und freies Syrien für alle“ einsetzen. Außerdem arbeitet Abdelnour für die Oppositionswebsite All4syria.87 Der Christ Georges Sabra, bereits vor dem Aufstand als führender Oppositioneller bekannt, wurde im November 2012 zum Vorsitzenden des Syrischen Nationalrats gewählt. Der Nationalrat war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon stark zerrissen und von widerstreitenden Interessen Saudi-Arabiens, Qatars und des Westens beherrscht. Kurz darauf ging er in die Nationale Koalition der Kräfte der Opposition und der Revolution ein. Georges Sabra wurde darin einer der vier Vizepräsidenten.88 Mitglied im Syrischen Nationalrat war seit 2011 auch die Assyrian Democratic Organization (ADO), die sich für die Rechte der Assyrer einsetzt. Sie arbeitet von Qamishli im Kurdengebiet aus, stößt aber immer wieder mit den dortigen kurdischen Behörden zusammen.89 Das Engagement der säkularen Gruppen in der Opposition, darunter die Beteiligung von Christen, verschwand aber mit der zunehmenden Gewalt. Die brutale Reaktion der Regierung auf die Proteste führte dazu, dass sich auch Teile der Opposition bewaffneten; zunächst zum Selbstschutz, aber schnell gewannen bewaffnete Kräfte auch auf Seiten der Opposition die Oberhand.90 Waffenlieferungen aus dem Ausland, das Einströmen von Kämpfern aus den Nachbarländern – unter ihnen auch viele islamistische Extremisten – und die ideologische Unterstützung durch Saudi-Arabien und Qatar führten dazu, dass der Ruf nach demokratischen Reformen immer mehr von islamistischem Gedankengut überlagert wurde. Mitte 2012 begannen extremistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra und andere mit al-Qaʼida verbündete Milizen für die 85 Pierret 2013:216–224. 86 Shammas 2012. 87 Kodmani 2014:215. 88 Baczko/Dorronsoro/Quesnay 2016:168–169. 89 Hinweis von Prof. Herman Teule. 90 Anders als im libanesischen Bürgerkrieg organisierten Christen in Syrien keine größeren Milizen. Es wurden allerdings an verschiedenen Orten Einheiten zum Selbstschutz gebildet, obwohl die syrischen Bischöfe ihre Gläubigen wiederholt dazu aufgerufen hatten, nicht zu den Waffen zu greifen. So formierten sich ab Ende 2012 im „Tal der Christen“ (im Westen des Landes) christliche (vor allem griechisch-orthodoxe) Einheiten, deren Kämpfer bald in die vom Regime organisierten, informellen Nationalen Verteidigungskräfte (quwwāt al-difāʿ al-waṭanī) integriert wurden. In Aleppo kämpften armenische Einheiten an der Seite der staatlichen Armee gegen die Aufständischen.

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Syrien

Errichtung eines islamischen Staats in Syrien zu kämpften und Angehörige anderer Religionen zu bedrängen und zu vertreiben. Anfang 2014 kam der sogenannte Islamische Staat, zunächst unter dem Namen Isla­mischer Staat in Irak und Syrien (ISIS), als einer der Hauptakteure hinzu. In einer extremen Form vertrat er islamistisches Gedankengut, richtete systematisch „Ungläubige“ auf grausame Weise hin, legte der Bevölkerung islamische Gesetze in ihrer strengsten Form auf (absolute Geschlechtertrennung, Vollverschleierung der Frau, Zwang zum Gebet, Ideologisierung des Erziehungs- und Bildungssystems, Verbot von Alkohol und Zigaretten, Zwangsrekrutierung von Kindern für den Dschihad …), und zerstörte jahrhundertalte Kulturgüter. Grund für den Aufstieg der Islamisten war einer­seits die Unterstützung durch bestimmte Länder in der Region. Diese belieferten die Islamisten mit Waffen und ließen Kämpfer ungehindert nach Syrien einreisen. Aufgrund der Propaganda des Islamischen Staats im Internet strömten aus vielen Teilen der Welt Tausende islamistische Kämpfer nach Syrien, um dort ihre Vorstellung vom Dschihad zu verwirklichen. Andererseits trägt aber auch das Regime von Bashar al-Assad eine Schuld an der Islamisierung des Konflikts: zu Beginn der Protestbewegung entließ die Regierung Islamisten aus den Gefängnissen, um das Bild der Opposition auf internationaler Ebene zu diskreditieren. Auch die Sprache der Regierung, die alle Oppositionellen ohne Unterschied als „islamistische Terroristen“ bezeichnete, trieb Teile der sunnitischen Bevölkerung in die Arme der Radikalen. Assad stellte sein Regime demgegenüber als Rettung vor den Grausamkeiten des IS und anderer Islamisten dar, um so Unterstützung auf internationaler Ebene zu erhalten.

Zerstörte Häuser – zerstörte Seelen. Die humanitäre Lage Die humanitäre Lage in Syrien ist katastrophal. Mehr als 400.000 Tote sind seit Beginn des Kriegs zu beklagen. Mehr als eine Million Menschen wurden verletzt. Vor dem Krieg lebten rund 22,5 Millionen Menschen in Syrien. Bis Sommer 2018 waren über 5,5 Millionen ins Ausland geflohen, 6,1 Millionen Menschen waren innerhalb Syriens auf der Flucht. Von den fünfeinhalb Millionen Syrern, die seit dem Beginn des Kriegs ins Ausland geflohen sind, lebten laut UN-Angaben 3,5 Millionen in der Türkei, eine Million im Libanon, über 650.000 in Jordanien, 250.000 im kurdischen Nordirak und 130.000 in Ägypten. Nach einem Bericht des UN-Menschenrechtsrats vom Februar 2015 wurden allein bis zu diesem Zeitpunkt rund 5.000 Schulen in Syrien zerstört. 1,5 Millionen Kinder gingen nicht zur Schule. Andere Schätzungen gingen allerdings davon aus, dass es tatsächlich bis zu 2,5 Millionen Kinder waren, die keine Schule besuchen konnten. Die UN-Gesundheitsbehörde WHO warnte in einem Bericht 2014, dass 60 Prozent der Krankenhäuser in Syrien beschädigt oder zerstört worden seien. Inzwischen liegt die Zahl aufgrund der heftigen Kämpfe noch höher. Außerdem ließ das Regime systematisch Gesundheitseinrichtungen in Gebieten bombardieren, die von Rebellen gehalten wurden. Tausende Ärzte und Krankenhausmitarbeiter sind aus dem Land geflohen,

Kartenteil

N

Edirne/Adrianopel

Saloniki

S

Konstantinopel

Bursa/Prousa

GRIECHENLAND

Ankara/Angora

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TÜRKEI

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Konya

Antalya Rhodos Kreta

Zypern

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LI M i t t e l m e e r

Tripolitanien

ÄGYPTEN

Kairo Nil

Grenzen der Staaten/Mandatsgebiete nach dem Ersten Weltkrieg

PA

Alexandrien

Karte 1: Patriarchen- und Bischofssitze im Osmanischen Reich und unmittelbar angrenzenden Gebieten kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Karte: Peter Palm, Berlin

N

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S

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Artvin Etchmiadzin

Amasya/Amaseia Tokat Sivas

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a/Angora

I

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Vansee Van

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ya

Urmia Diyarbakir

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PERSIEN

Urfa/Edessa

Mardin

Adana

Mossul Aleppo

Kirkuk Eup h

rat

Zypern

Larnaka Tripolis

LIBANON

Homs

IRAK

SYRIEN

Tigris

Hama

Baalbek

Beirut Saida

Damaskus

Griechisch-orthodox. Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel Griechisch-orthodox. Patriarchat von Alexandrien

Tyros Banias

Akko

Griechisch-orthodox. Patriarchat von Jerusalem Griechisch-orthodox. Patriarchat von Antiochien Melkiten

Bosra

Jerusalem

Armenisch-orthodox Armenisch-katholisch Syrisch-orthodox

PA L Ä S T I N A

Syrisch-katholisch Maroniten

TRANSJORDANIEN

Chaldäer Assyrer Koptisch-orthodox Koptisch-katholisch Lateiner Patriarchat bzw. Katholikossat

Bagdad

TÜRKEI Aleppo ca. 200 000 Christen

. Iskenderun Hassake

Aleppo

Homs ca. 80 000 Christen

Idlib

Lattakia Libanon ca. 1 700 000 Christen

Hama

Deir el-Zor

N

SYRIEN

Homs Damaskus ca. 200 000 Christen

Tadmor

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(Palmyra)

Libanon

Beirut

LIBANON

TÜRKEI

Amman ca. 160 000 Christen

al-Malikiyya

Qamishli

Damaskus

s

Hassake

UN-Pufferzone

Haifa Nazareth

Tigr i

Nusaybin

Golanhöhen v. Israel besetzt

IRAK

SYRIEN

Suwaida

ISRAEL

Jerusalem Bethlehem Gaza

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Tel Aviv

PA L Ä S T INA

Deir el-Zor

Amman

0

50

100 km

JORDANIEN

Syrisch-Orthodoxe und Katholiken Griechisch-Orthodoxe Melkiten Anzahl der Christen 200 000 Maroniten 100 000 Lateiner 50 000 Armenier 20 000 10 000 Assyrer 5000–10 000 2000–5000 1000–2000 Chaldäer weniger als 1000

SAUDI-ARABIEN

0

50

100

150 km

Karte 2: Konfessionelle Verteilung von Christen in der Levante im Jahr 2010 vor Ausbruch des Syrienkonflikts. Karte: Peter Palm, Berlin

SYRIEN

r

Akkar Halba

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Tripolis

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Tripolis

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Koura

Dinniyeh und Minieh

Hermel und Bekaa

Zghorta Bsharré Batroun

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Hermel

Jbeil

Jbeil

Keserwan Jdeida

LIBANON

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(siehe unten) Beirut

Baabda B a a b d a

Baalbek

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S

Zahlé

Aley Beit al-Din

Chouf

West Bekaa und

SYRIEN

Saida Saida

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Zahrani Nabatiyeh

Nabatiyeh Tyros (Sour)

Tyros

(Sour)

Hasbaya

Hasbaya und

Marjeyoun Tibnin

Beirut 3

Bint Jbeil

Beirut

Bint Jbeil

3

ISRAEL

2 Beirut 2

Maroniten Griechisch-Orthodoxe Melkiten Armenier Protestanten Minderheiten

2

Sunniten Schiiten Drusen Alawiten 0

10

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20

30 km

Karte 3: Konfessionelle Verteilung der Parlamentssitze in den Wahlkreisen des Libanon gemäß dem Abkommen von Doha (2008). Karte: Peter Palm, Berlin

S c h w a r z e s

M e e r

GEORGIEN Istanbul

Tiflis

Samsun

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TÜRKEI Kayseri

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Urfa

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Mersin

Rhodos

Aleppo Hama

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LIBANON

el-Arish

SYRIEN

Damaskus

IRAK

Haifa Tel Aviv

Bagdad Babylon

Amman

Jerusalem Gaza

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rat

PALÄSTINA

Beirut

Homs

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M i t t e l m e e r

Dohuk Mossul

Tigris

Z Y P E R N Nikosia

Mardin Qamishli

Antakya

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Kars

Erzincan

Eup

Konya

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ARMENIEN

Trabzon

Totes Meer

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Suez

Aqaba

ÄGYPTEN

N

Sharm el-Sheikh

SAUDI-ARABIEN

Assiut Nil

S Luxor

Assuan Nasser-See

R o t e s M e e r

weitgehende Rechtssicherheit soziale und administrative Diskriminierung starke soziale und administrative Diskriminierung Kriegs-/Kampfgebiete sehr starke staatliche Diskriminierung terroristische/islamistische Gruppen Islamischer Staat (2015) 0

100

200

300 km

Karte 4: Grad der Religionsfreiheit bzw. Diskriminierung von Christen im Nahen Osten 2015. Karte: Peter Palm, Berlin

S c h w a r z e s

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M i t t e l m e e r

Dohuk Mossul

KUWAIT

Sinai

S

SAUDI-ARABIEN ÄGYPTEN

Nil

Rotes Meer 0

100

200

300 km

Binnenflucht grenzüberschreitende Flucht in der Region (primär und sekundär) Emigration nach Europa/Übersee (primär, sekundär und tertiär) Islamischer Staat (Anfang 2015) Kriegs- und Kampfgebiete (2015)

Karte 5: Flucht- und Migrationsbewegungen von Christen im Nahen Osten ab 2011. Auf unmittelbare Flucht oder Vertreibung im eigenen Land (primär) folgt häufig Migration in die sicheren Staaten Jordanien, Libanon oder die Türkei (sekundäre Migration) und nach einem längeren Aufenthalt dort die Emigration nach Europa oder Übersee (tertiäre Migration). Karte: Peter Palm, Berlin

Marsah Matruh

m e e r M i t t e l 1990

2010

Alexandrien

2011

Port Saïd

Damanhur

1972

El-Alamein

Kafr al-Shaikh

1987

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Kafr Damyan

1996

Ismailia 2007

1991

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2003/2004 Kairo im Raum Kairo:

Shubra 1988

Gol

al-Fayyum

Samalut

1978

al-Minia

Abu Qurqas

1989 2009

Mallawi Delga Sanabu 1992

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Maghagha

1990

1994

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1981

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Oase El-Farafra

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1992 1987

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1987

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1978 al-Tawfiqiyya al-Zawiya al-Hamra 1981 1987 Rod al-Farag 1990 Ain Shams 1987 Massara

1972

Sanhur

L i b y s c h e W ü s t e

1972

2010

1994

1997

Al-Nawahid Nag Hammadi

Oase El-Dakhla Oase El-Kharga

2007

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Nil

Angriff auf Kirche Plünderung von Häusern und Geschäften Ermordung von Kopten gewaltsame, interreligiöse Auseinandersetzungen Massaker an Kopten 0 50

Assuan 100

150 km

1993

Nasser-See

Karte 6: Anschläge auf Christen und christliche Einrichtungen in Ägypten von 1972 bis 2011. Karte: Peter Palm, Berlin

Zwischen Staatsmacht und Islamisten

321

was die Gesundheitsversorgung noch prekärer macht. 70 Prozent der pharmazeutischen Industrie wurde erheblich beschädigt oder zerstört. Da vor dem Krieg 90 Prozent der Medikamente in Syrien selbst hergestellt wurden, hat dies zu erheblichen Engpässen an Medikamenten geführt. Aus dem Ausland eingeführte Medikamente werden zum Teil zu horrenden Preisen verkauft. Die Wirtschaft des Landes liegt zu weiten Teilen am Boden. Fabriken, Handwerksbetriebe und Bürogebäude wurden zerstört. Die Arbeitslosigkeit in einigen Regionen betrug bis zu 80 Prozent, zum Beispiel in Aleppo, vor dem Krieg das wirtschaftliche Zentrum des Landes und eine blühende Handelsstadt. Dort erholt sich die Situation seit der Einnahme des Ostteils der Stadt durch die Regierungsarmee nur langsam. Die landwirtschaftliche Produktion ist eingebrochen. Dies führt zu Versorgungsschwierigkeiten mit Lebensmitteln. Der Wechselkurs des Syrischen Pfundes gegenüber dem US-Dollar ist seit Beginn des Kriegs auf ein Fünftel gesunken. Das treibt die Preise in die Höhe und viele Familien, vor allem des Mittelstandes und der Unterschicht, ins Elend. Im Sommer 2018 waren in Syrien rund 13 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. In besonderer Not leben diejenigen, die nicht zum ersten Mal, sondern bereits mehrfach vertrieben wurden und im schrumpfenden Einflussgebiet der Regimegegner leben. In der Region Idlib leben eine Million intern Vertriebene. Mehr als 300.000 mussten Ende des Jahres 2017 erneut vor Bombardierungen und Kämpfen fliehen. Ein großes Problem stellt die Politisierung der humanitären Hilfe dar. Die Regierung in Damaskus versucht weiterhin, die von Aufständischen gehaltenen Gebiete von internationaler Hilfe abzuschneiden. Hilfsorganisationen, die trotzdem dort tätig sind, riskieren ihre Arbeitsgenehmigung für das von der Regierung kontrollierte Gebiet. Da sich die meisten Binnenflüchtlinge im Küstengebiet aufhalten, das fest in der Hand der Regierung ist, sowie in der Hauptstadt Damaskus, kann es sich kaum eine Organisation leisten, sich die Regierung zum Feind zu machen. Auf der anderen Seite erlauben viele Rebellengruppen die Verteilung von Hilfen nur an bestimmte Teile der Bevölkerung oder ziehen einen Teil davon für die Versorgung der Kämpfer ein. Die Bevölkerung ist Faustpfand der Regierung und der Islamisten gleichermaßen. Der Schutz von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen vor Übergriffen und Gewalt ist oft nicht gewährleistet. Außerdem wird das humanitäre Völkerrecht von allen kriegführenden Parteien ständig verletzt, zum Beispiel durch die Bombardierung von Krankenhäusern und Schulen, den Einsatz von Giftgas gegen Zivilisten oder die Belagerung von ganzen Städten und Regionen über Jahre hinweg. Hinzu kommen die Schattenwirtschaft, die Durchseuchung der Gesellschaft mit Kriegsgewinnlern und die damit einhergehende Korruption. Kirchliche und christlich inspirierte Hilfsorganisationen haben mit diesen Schwierigkeiten genauso zu kämpfen wie staatliche oder UN-Organisation und NGOs. Die wichtigsten Akteure auf kirchlicher Seite sind Caritas Syria und verschiedene katholische Ordens- und Laiengemeinschaften, das Department of Ecumenical Relations and Development des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Antiochien und der Middle East Council of Churches als ökume-

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Syrien

nische Einrichtung.91 Der Apostolische Nuntius in Syrien, Mario Zenari, wird nicht müde, auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen und für die Hilfen zu werben: „Zerstörte Häuser kann man wieder aufbauen. Die Zerstörungen in den Seelen sind sehr viel schwieriger zu heilen.“92

„Man will, dass die Christen verschwinden!“: Christen im Bürgerkrieg Bis Ende 2012 wurden Christen in von der Opposition gehaltenen Gebieten – abgesehen von einigen Regionen, in denen damals schon islamistische Gruppen dominierten – weder unterdrückt noch kirchliche Gebäude gezielt angegriffen.93 In der Folge häuften sich allerdings Übergriffe auf Christen in bestimmten Gebieten. So wurden Kirchen und Klöster profaniert, Kreuze von den Dächern gestoßen, Ikonen und Einrichtungen zerstört und Zivilisten angegriffen. Die Freie Syrische Armee verurteilte derartige Aktionen zwar und schrieb sie kriminellen Banden und extremistischen Gruppen zu, konnte sie aber auch nicht verhindern. Christen wurden mehr und mehr Opfer von Erpressungen, Einschüchterungen und Entführungen. In manchen Gebieten schränkten sie daher ihre sozialen Kontakte stark ein, um das Risiko so gering wie möglich zu halten, zum Beispiel in den rebellenkontrollierten Stadtteilen von Aleppo.94 Ab Anfang 2013 spitzte sich die Lage für Christen zu. Im Februar wurde in einem Vorort von Damaskus ein griechisch-orthodoxer Priester entführt und ermordet. Im selben Monat wurden in der Nähe von Aleppo zwei Priester entführt. Wenige Wochen später, am 22. April, verschleppten Unbekannte den syrisch-orthodoxen und den griechisch-orthodoxen Erzbischof von Aleppo, Gregorios Yuhanna Ibrahim und Paul 91 Zu Hilfsinitiativen in Syrien siehe Arbache/Aghia 2018:9–11. 92 KNA, 01.06.2016. 93 So zum Beispiel Oehring 2013. Problematisch war in den von Rebellen kontrollierten Gebieten allerdings von Anfang an die rechtliche Lage von Christen. Nach der Beendigung der Herrschaft des Baath-Regimes bestand dort die Notwendigkeit, ein eigenes Rechtssystem aufzubauen. Nur sehr wenige Richter waren jedoch zur Opposition übergelaufen, denn sie gehörten zu den vom Regime privilegierten Schichten. Es stand in den aufständischen Gebieten also kaum Personal zur Verfügung, das mit dem säkularen syrischen Recht vertraut war. Als Alternative bot sich die Scharia als Rechtsgrundlage an. Sie genoss beim größten Teil der Bevölkerung hohe Legitimität. Lokale Scheichs, die allerdings oft nur wenig formale Ausbildung in den Scharia-Wissenschaften erfahren hatten, übernahmen die Rechtsprechung. Im Herbst 2012 gab es dann Bemühungen, im Norden Syriens koordiniert den Kodex der Arabischen Union einzuführen, der 1996 von einer Kommission von islamischen Rechtsgelehrten auf Initiative der Golfstaaten auf Basis der Scharia entwickelt worden war. Die Vereinheitlichung des Rechtssystems – ebenso wie der Aufbau von Polizeistrukturen – stieß allerdings immer mehr auf den Widerstand bewaffneter Gruppen, die im eigenen Sinne Einfluss nahmen. Angesichts des zunehmenden Einflusses von Islamisten nahm auch die nicht kodifizierte Scharia-Rechtsprechung mit der Durchsetzung islamischer Vorschriften in der Öffentlichkeit (Tragen des Schleiers für Frauen, Durchsetzung des Ramadan-Fastens) wieder zu. Die Vereinigung der „Freien syrischen Anwälte“ sprach sich bei der Diskussion um die Einführung der Scharia-Rechtsprechung gegen die von den Scheichs geplanten diskriminierenden Maßnahmen gegenüber Christen aus. Baczko/Dorronsoro/Quesnay 2016:145–151, 326. 94 Larivera 2013:565; Baczko/Dorronsoro/Quesnay 2016:325–327. Ein Bild der Zerstörungen im Qalamun-­Gebirge, im Frühjahr 2014 von Regierungstruppen zurückerobert, zeichnet der griechisch-­ melkitisch-katholische Erzbischof der Region, Arbach 2014.

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Yazigi. Seither gibt es keine zuverlässigen Nachrichten über ihren Verbleib. Die Identität der Entführer blieb wie in vielen Fällen unklar. Es wurde darüber spekuliert, ob es sich um ausländische islamistische Kämpfer oder um Kriminelle handelte, die Lösegeld erpressen wollten. In jedem Fall war die christliche Bevölkerung durch derartige Übergriffe auf Symbolfiguren der Kirchen massiv verunsichert, weil sie ihr vor Augen führten, wie schutzlos sie in der Situation von Chaos und Gewalt bewaffneten Gruppen ausgeliefert war. So erklärte nach einem Anschlag auf drei Kirchen im Zentrum von Aleppo der chaldäische Bischof der Stadt, Antoine Audo: „Für uns sind das sehr klare Botschaften, die man uns da gibt: Man will, dass die Christen aus Aleppo verschwinden!“95 Das Umland von Aleppo sowie die Provinz Idlib waren für Christen ab 2013 äußerst gefährlich. Dort operierte die islamistische Nusra-Front und kontrollierte zahlreiche Orte. Immer wieder kam es zu Drangsalierungen von Christen, Entführungen oder Festnahmen von Geistlichen durch islamistische Milizen bis hin zur Erstürmung von Kirchen und Klöstern und der Ermordung von Priestern, Ordensleuten und Gläubigen. So wurde im Juni 2013 der franziskanische Konvent in al-Ghassaniya von islamistischen Kämpfern gestürmt und teilweise zerstört. Dabei wurde ein Mönch getötet. Im Dezember 2013 fiel mit Kanaye ein weiteres christliches Dorf in die Hände islamistischer Kämpfer, die dort das Läuten der Glocken verboten, Schleierzwang für Frauen einführten und den Bewohnern islamische Gesetze aufzwangen. Auch in der Euphratregion in der Gegend von Hassake und Deir al-Zor wurde die Lage zunehmend kritisch. Kirchenführer aus der Region warnten vor dem zunehmenden Einfluss islamistischer Kämpfer, die die christliche Bevölkerung bedrohten. So seien aus einzelnen Dörfern nahe der türkischen Grenze alle Christen vertrieben worden. Christenfeindliche Graffiti an den Hauswänden dokumentierten die radikal­ islamischen Hintergründe der dortigen Rebellen. Weitere Brennpunkte waren das Umland von Homs und das Qalamun-Gebirge zwischen Syrien und dem Libanon. Mehrfach wurden dort von unterschiedlichen islamistischen Gruppen Überfälle auf mehrheitlich von Christen bewohnte Dörfer verübt, so im Oktober 2013 auf Sadad und Hofar, wo nach dem Abzug der Islamisten Massengräber mit 30 Leichen christlicher Bewohner gefunden wurden. Bereits im September 2013 hatten islamistische Truppen das christliche Dorf Maalula in der Bergregion nordwestlich von Damaskus eingenommen und mehrere Menschen wegen ihres christlichen Glaubens getötet. Sie richteten erhebliche Zerstörungen an den Kirchen, Klöstern und Wohnhäusern des Dorfes an. Zwar konnte es bereits nach kurzer Zeit von Regierungstruppen zurück­ erobert werden, allerdings wurden Anfang Dezember die orthodoxen Nonnen aus dem Kloster der heiligen Thekla entführt und erst März 2014 wieder freigelassen. Am 7. April 2014 wurde in Homs der 75-jährige niederländische Jesuit Frans van der Lugt von Unbekannten erschossen. Er hatte bis zuletzt bei den Menschen in der von syrischen Regierungstruppen belagerten Altstadt von Homs ausgeharrt und auf 95 Vogt 2013:590–591; Vogt 2015, dort auch das Zitat von Bischof Audo; Oehring 2017c:10–12.

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die Not der Zivilbevölkerung hingewiesen. Südöstlich von Homs, in Qaryatein, wurden im Mai 2015 der Prior des Klosters Mar Elian, Jacques Mourad, und sein Begleiter verschleppt. Wenige Wochen später wurde auch das Dorf vom Islamischen Staat erobert und der historische Teil des Klosters aus dem 6. Jahrhundert zerstört. Jacques Mourad gelang im Oktober 2015 die Flucht aus den Händen des IS.96 Am dramatischsten war die Lage – nicht nur, aber besonders für Christen – entlang des Euphrats, von der türkisch-syrischen Grenze über Raqqa bis nach Deir ez-Zor. Dort sowie im angrenzenden Khabur-Tal wütete seit Anfang 2013 der „Islamische Staat in Irak und Syrien“ (ISIS), der sich seit Juni 2014 einfach „Islamischer Staat“ (IS) nennt. Bereits im Januar 2013 wurden in dieser Region Christen aus ihren Dörfern vertrieben und Kirchen zerstört. Am 28. Juli 2013 verschwand in Nordsyrien der Jesuitenpater Paolo dall’Oglio. Er war am Vortag in Raqqa eingetroffen, um mit ISIS über die Freilassung der entführten Bischöfe und Priester zu verhandeln. Seit Februar 2014 galt in Raqqa für Christen das islamische Recht: sie durften keine religiösen Symbole zeigen, Gottesdienste nur in geschlossen Räumen abhalten, mussten eine Sondersteuer (ǧizya) bezahlen und durften Kirchen nicht renovieren. Fast alle Christen sind seither aus der vom ISIS kontrollierten Region geflohen. Im Frühjahr 2015 eroberten Truppen des Islamischen Staats die Dörfer christlicher Assyrer im Khabur-Teil, nahmen die Menschen, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, als Geiseln und zerstörten systematisch Kirchen und Wohnhäuser von Christen. Inzwischen ist der Islamische Staat aus dem größten Teil Syriens vertrieben. Die Situation hat sich für die dort lebenden Menschen deutlich verbessert. Vom Khabur-Tal abgesehen, kehren Christen dennoch bisher nicht in diese Regionen zurück. In den von der Regierung gehaltenen Gebieten war und ist die Lage für Christen deutlich besser. Zehntausende Christen aus den umkämpften Städten Homs und Aleppo sowie aus den von Rebellen gehaltenen Gebieten haben Zuflucht in der Küstenebene gefunden, vor allem in den beiden Städten Tartous und Lattakia, sowie in der Hauptstadt Damaskus. Alle diese Gebiete wurden während des gesamten Kriegs von der Regierung kontrolliert und waren, trotz immer wiederkehrender Granateinschläge in Damaskus, relativ sicher. Die Tatsache, dass Christen in den von der Regierung gehaltenen Gebieten Schutz suchen, zeigt, dass sie Vertrauen in das aktuelle Regime haben, was ihren Schutz vor islamistischen Extremisten angeht. Die Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte nehmen sie dabei in Kauf. Sie gelten für Christen nicht anders als für Angehörige anderer Religionen; außerdem sind die Menschen seit Jahrzehnten daran gewöhnt. Ein Problem bleibt für viele aber der Militärdienst. Tausende junge Männer – nicht nur Christen – versuchen sich dem durch Flucht ins Ausland (Christen meist in den Libanon) zu entziehen. Ihre Familien bleiben dabei meistens in Syrien, sofern sie in einigermaßen sicheren Gebieten leben. Offene Opposition zur Regierungspolitik ist weiterhin nicht möglich und spielt für die meisten Menschen angesichts des blutigen Konflikts und der Bedrohung durch islamistische Kräfte auch nicht die Rolle, 96 Siehe zu seiner Entführung die Eigendarstellung in Mourad 2018.

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die sie zu Anfang der Aufstandsbewegung einnahm. Zunehmend kritisch ist die wirtschaftliche Lage. Viele haben ihr Einkommen verloren und leben vom Ersparten, was inzwischen auch für die Reicheren zur Neige geht. Außerdem sind wegen der hohen Nachfrage Wohnungsmieten extrem teuer. So denken auch in den regierungskontrollierten Gebieten immer mehr Christen über Auswanderung nach, weil sie in Syrien langfristig für sich und ihre Kinder keine Perspektive mehr sehen. Eine Sonderstellung nimmt das von den Kurden kontrollierte Gebiet im äußersten Norden Syriens ein. Kurden, geführt von der Partei der Demokratischen Unionspartei (Partiya Yekitîya Demokrat, PYG), der syrischen Schwesterpartei der in der Türkei aktiven Kurdischen Arbeiterpartei PKK, gelang es, dort eine relativ sichere Zone einzurichten. Mit der Regierung in Damaskus versucht man die Konfrontation zu vermeiden, auch wenn es immer wieder zu Zwischenfällen kommt. Dem Vorrücken des Islamischen Staats und anderer extremistischer Gruppen leisteten die kurdischen Einheiten dagegen heftigen Widerstand und qualifizierten sich so als Verbündete für die westliche Militärallianz zur Bekämpfung des IS. Für die Regionen Afrin, Kobane (arabisch: Ain al-Arab) und Jazira – die Kurden nennen das gesamte Gebiet Rojava – strebt die PYG einen Autonomiestatus an. Im Frühjahr 2018 brach allerdings der Konflikt mit der Türkei offen aus, als türkische Truppen zusammen mit arabischen Kämpfern der syrischen Rebellen die kurdische Region Afrin nördlich von Aleppo angriffen und einnahmen. Christen – Syrisch-Orthodoxe, Syrisch-Katholische, Assyrer und Chaldäer – leben dort relativ sicher. In der PYG-Regierung arbeiten auch mehrere christliche Minister mit. Bereits Ende 2013 etablierte sich in Hassake der von assyrischen und syrisch-orthodoxen Parteien getragene „Syrische Militärrat“. Er versteht sich als Verteidigungsmiliz der Christen gegen islamistische Extremisten. In Qamishli entstand eine syrisch-orthodox geprägte Miliz (Sutoro). Militärrat und Sutoro arbeiten mit der PYG-Regierung zusammen. Die Assyrian Democratic Organization (ADO) steht der PYD jedoch kritisch gegenüber. Es kommt immer wieder zu Konflikten zwischen der PYG-Regierung und den politischen Aktivisten der Syrisch-Orthodoxen und der Assyrer.97 Vertreter der christlichen Kirchen sehen sowohl das Autonomieprojekt als auch die Bildung christlicher Milizen kritisch. Der syrisch-katholische Erzbischof von Hassake, Behnam Hindo, der für die Region zuständig ist, sprach sich schon früh gegen eine kurdische Autonomie aus, warnte wiederholt vor einem kurdischen Vormachtstreben zu Lasten der anderen ethnischen und religiösen Gruppen (Araber, Assyrer, Syro-­Ara­ mäer, Armenier) und brachte seine Befürchtung zum Ausdruck, dass durch Einschüchterungen und Vertreibungen von Christen die Demographie in der Region zugunsten der Kurden verändert werden solle. Auch der assyrische Bischof, Mar Aprim Athniel, soll sich gegen die Autonomie ausgesprochen haben. Beide Bischöfe warnten davor, die

97 Baczko/Dorronsoro/Quesnay 2016:101–201; Oehring 2017c:12–14.

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Milizen der assyrischen Parteien als „Milizen der christlichen Glaubensgemeinschaft“ zu betrachten.98

Aus den „Fehlern der Vergangenheit“ lernen oder den „rechtmäßig gewählten Präsidenten“ stützen? Die Kirchen und der Syrienkonflikt Vertreter der Kirchen Syriens äußerten sich wiederholt sehr besorgt angesichts der Möglichkeit eines politischen Umsturzes. Bereits 2008 hatte der melkitische Erzbischof von Aleppo, Jean-Clément Jeanbart, vor einer übereilten Übertragung der westlichen Demokratie nach Syrien gewarnt: „Angesichts der jahrhundertelangen Isolierung unter der osmanischen Herrschaft und der Tatsache, dass sie vom Westen sowie seiner kulturellen und demokratischen Entwicklung abgeschnitten waren, können die Völker des Mittleren Osten unter den aktuellen Umständen keine Demokratie aufbauen, die nicht konfessionell geprägt ist und die fundamentalen Rechte der Minderheiten, weniger noch die der Individuen, respektiert: Gottesdienstfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichheit zwischen Mann und Frau sowie zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen etc.“99 In einem offenen Brief an die Staatschefs Europas und Amerikas warnte der melkitische Patriarch Gregorios III. Laham (2000–2017) gleich zu Beginn der Proteste in Syrien vor einer Revolution und ihren Folgen für die Christen: „Unsere arabischen Länder sind nicht bereit für Revolutionen oder die Demokratie nach europäischem Typ und Modell. […] Der Christ im Besonderen ist sehr beunruhigt angesichts der Krisen und der blutigen Revolutionen. Die Christen werden die ersten Opfer dieser Revolutionen sein, besonders in Syrien aber auch in den anderen arabischen Ländern. Eine neue Welle der Auswanderung wird die unmittelbare Folge sein.“100 Diese Haltung behielten die meisten Kirchenführer mit Beginn des Aufstands in Syrien bei. Sie setzten sich für einen allmählichen und friedlichen Übergang ein. Es herrschte offenbar große Angst vor einem Absinken des Landes in Chaos und Gewalt bei einem Sturz des Regimes. Die Warnungen zogen sich quer durch die christlichen 98 Im Spätsommer 2018 verschärfte sich der Konflikt zwischen den Kirchen und der PYG-Regierung. Bereits 2016 war von der kurdischen Regierung ein Gesetz erlassen worden, wonach Privatschulen eine Genehmigung der kurdischen Bildungsbehörden benötigten. Laut diesem Gesetz darf der Lehrplan nicht auf den Lehrplänen der Baath-Regierung in Damaskus basieren. Ende August wurden 14 Schulen der syrisch-orthodoxen und armenisch-orthodoxen Kirche in der Region geschlossen, weil sie nicht das allgemeine syrische Curriculum aufgeben wollten. Ihre Befürchtung war, dass die Abschlüsse von der Regierung in Damaskus nicht mehr anerkannt würden. Im Hintergrund steht, dass die christlichen Kirchen in ihrer Mehrheit die Abtrennung Kurdistans von Syrien ablehnen und eine Isolation der Gegend befürchten. Die Änderung der Lehrpläne wäre aber genau ein Schritt in diese Richtung. Sutoro und der Syrische Militärrat trugen die Schließung der christlichen Schulen mit. Am 12. September konnten die Schulen wieder öffnen. Unklar ist allerdings, welchen Lehrplan sie verwendeten. 99 Jeanbart 2008:14–15. 100 „Nos pays arabes ne sont pas préparés pour les révolutions, ni même pour la démocratie selon le type et le modèle européen. […] Le chrétien, en particulier, est très fragilisé devant les crises et devant les révolutions sanglantes. Les chrétiens seront les premières victimes de ces révolutions, en Syrie surtout, mais aussi dans les autres pays arabes. Une nouvelle vague d’émigration suivra aussitôt.“ POC 61 (2011):435–436.

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Kirchen. Patriarch Gregorios forderte im Juli 2012 ein sofortiges Ende der Kämpfe und betonte, die katholische Kirche in Syrien verlange „Reformen, Freiheit, Demokratie, Korruptionsbekämpfung, Entwicklungsförderung und Redefreiheit“. Die Belieferung der Opposition mit Waffen durch das Ausland zerstöre die Opposition selbst und gefährde die nationale Einheit. Auch ein militärisches Eingreifen des Westens wurde und wird immer wieder zurückgewiesen, vor allem nach dem Einsatz von Giftgas im August 2013.101 Nur einzelne kirchliche Stimmen wagten vorsichtige Kritik am Regime oder Sympathiebekundungen für die Forderungen der Demonstranten. Im August 2012 rief der syrisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo, Gregorios Yuhanna Ibrahim, alle Konfliktparteien aus dem In- und Ausland dazu auf, einen runden Tisch zu bilden, um über die Etablierung eines Nationalrats zu beraten, der dazu in der Lage sei, „Vertrauen und Respekt“ aller Bürger Syriens wiederherzustellen. Insbesondere gehe es dabei um die Festlegung von Grundprinzipien einer neuen Verfassung, die allen Bürgern gleiche Rechte sichern sollte, und um die Ausarbeitung eines „Verhaltenskodex“ für die Sicherheits- und Geheimdienste zur „Verhinderung der Fehler der Vergangenheit“. Er rief zur Vorbereitung von freien und fairen Parlamentswahlen und zur Wahl eines Präsidenten auf, der in der Lage sei, „die Interessen Syriens aufrecht zu erhalten und einen sicheren, stabilen, friedlichen und demokratischen Staat aufzubauen.“102 Anonym äußerten sich auch einzelne andere Kirchenvertreter aus Syrien kritisch gegenüber dem Assad-Regime, dem es gelinge, sich als einzigen Garanten der Religionsfreiheit und der Minderheitenrechte darzustellen. Kirchenvertreter wandten sich wiederholt gegen die Isolation der Regierung von Präsident Assad; so der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Joseph III. Younan. Er rief mehrfach dazu auf, die syrische Regierung in eine Lösung des Konflikts miteinzubeziehen. In diesem Zusammenhang sprach er sich dafür aus, dass die Menschenrechte, insbesondere die Religionsfreiheit, eingehalten und die Rechte aller Bürger auch in der Praxis garantiert werden: „Worauf es überall ankommt, das sind die Menschenrechte. […] Wir Christen verlangen keine Sonderrechte, wir wollen nur die gleichen Rechte wie alle anderen. Wir wollen Gewissensfreiheit, wir wollen Religionsfreiheit. […] Diese Gleichheit vor dem Recht und Gesetz gibt es nicht. Das ist es, was unser Überleben in der gesamten Region ernsthaft gefährdet.“103 Die fünf (orthodoxen und katholischen) Patriarchen von Antiochien schrieben am 8. Juni 2015 in einer gemeinsamen Verlautbarung, dass der einzige Weg für ein Ende der Krise eine „politische Lösung“ sei. Die Lösung müsse von internationalen und regionalen Kräften durch den entschlossenen Kampf gegen den Islamischen Staats unterstützt werden. Zugleich müsse jede Art von Hilfe für die Extremisten unterbunden werden.104

101 102 103 104

Fides 17.07.2012. http://de.radiovaticana.va/Articolo.asp?c=612819 (14.08.2012; abgerufen am 15.08.2012). Die Tagespost, 20.12.2014, S. 22. Fides 09.06.2015. Siehe auch Vogt 2015:8–9.

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Auch der Vatikan setzt sich nachdrücklich für eine Lösung auf dem Verhandlungsweg ein und macht sich Sorgen um das friedliche Zusammenleben der Religionsgemeinschaften. Dies bringen die päpstlichen Beobachter beim UN-Menschenrechtsrat in Genf und der Apostolische Nuntius in Syrien, Mario Zenari (seit November 2016 Kardinal) immer wieder zum Ausdruck. Letzterer fordert auch nachdrücklich ein größeres Engagement der Kirche in Syrien für die Werte der katholischen Soziallehre. Armee, Geheimdienste und šabiḥa-Milizen missbrauchten Kinder als menschliche Schutzschilde.105 Papst Benedikt XVI. forderte bei seiner Libanonreise im September 2014 einen Stopp der Waffenlieferungen nach Syrien; diese seien eine „schwere Sünde“. Stattdessen müssten „Ideen des Frieden, der Kreativität“ nach Syrien gebracht werden.106 Auch Papst Franziskus rief wiederholt alle Konfliktparteien zur Versöhnungsbereitschaft auf und erinnerte an das Leid der Zivilbevölkerung. Der Gewalt sowie „jeder religiösen, kulturellen und sozialen Diskriminierung“ müsse ein Ende gesetzt werden.107 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Positionierung von Christen in Syrien – und dies betrifft nicht nur Vertreter der Kirchen, sondern auch einen Großteil der christlichen Bevölkerung – weniger von eigenen politischen Überzeugungen abhängt, sondern von Hypothesen bezüglich des Ausgangs des Konflikts und dessen Konsequenzen für ihre Lebensbedingungen in Syrien. Vor allem die Unklarheit über die Ziele der Opposition lässt die meisten zögern, sich für diese einzusetzen.108 So lässt sich auch verstehen, dass die Unterstützung für Bashar al-Assad von offizieller kirchlicher Seite immer dann manifestiert wird, wenn das Regime militärische Erfolge erzielt. Präsident Assad zeigt sich immer wieder an der Seite von Bischöfen und Patriarchen; so nach der Einnahme der Stadt Homs im Mai 2014 und bei der Bischofssynode der syrisch-orthodoxen Kirche im Juni 2015. Von Religionsführern, allen voran christlichen Würdenträgern, erwartet das Regime, dass sie sich demonstrativ auf seine Seite stellen. Patriarch Gregorios III. betonte zwar 2013, die Kirchen seien keinerlei Druck von Seiten des Regimes unterworfen und verträten eine unabhängige Position, ohne ein bestimmtes Regime zu unterstützen, gleichzeitig erklärte der Patriarch aber seine Loyalität zum „rechtmäßig gewählten Präsidenten“.109

105 http://www.asianews.it/news-en/Vatican-Nunzio:-For-the-Church-in-Syria-it-is-time-to-go-onthe-offensive-and-not-stand-and-watch-24257.html (16.03.2012; abgerufen am 20.04.2012). 106 Pressekonferenz mit Papst Benedikt XVI. auf dem Flug in den Libanon, 14.09.2012, http://www. vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2012/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20120914_ incontro-giornalisti_ge.html (abgerufen am 28.06.2013). 107 So beim Angelusgebet am 2. Juni 2013, http://www.vatican.va/holy_father/francesco/angelus/ 2013/documents/papa-francesco_angelus_20130602_ge.html (abgerufen am 28.06.2013), und in seiner Ansprache an die Vertreter katholischer Hilfswerke für die Ostkirchen (ROACO) am 20. Juni 2013 http://www.vatican.va/holy_father/francesco/speeches/2013/june/documents/papa-francesco_ 20130620_assemblea-roaco_it.html (abgerufen am 24.06.2013). 108 Awad 2013:76. 109 So nachdrücklich zum Beispiel in einem Beitrag der offiziellen Patriarchatszeitschrift Le Lien 78 (2013). Seine Haltung zur Regierung Assad legt der Patriarch auch in Gregorios III. 2016: 39–70 dar. Zu den Loyalitätsbekundungen siehe auch Mohns 2013; Kodmani 2014:213–214; Oehring 2017:6–9.

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Die Loyalität zum Regime wurde ganz offen, seit es mit russischer Unterstützung im Herbst 2015 größere militärische Geländegewinne machte, die Ende 2016 zur vollständigen Einnahme Aleppos führten. So warnte der syrisch-katholische Patriarch, Ignatius Joseph III. Younan, nun offen vor einem Sturz Assads: „Ein diktatorisches Regime ist tausendmal besser für die Christen und alle anderen Minderheiten als ein islamischer Totalitarismus.“ Sollte die Regierung stürzen, würde sie durch die fanatischsten Kräfte des politischen Islam ersetzt werden.110 Auch der Apostolische Vikar von Aleppo, Georges Abou Khazen, warnte vor einer Entmachtung Assads. Ein derar­ tiger Schritt „ohne Einigkeit aller Parteien und ohne Bildung einer zentralen Koalitionsregierung wird ein Machtvakuum schaffen und uns in ein Chaos wie in Libyen stürzen“, sagte der Franziskaner am 5. Oktober 2015. Stattdessen seien Friedens- und Dialoginitiativen notwendig. Die Kirche in Syrien stehe nicht hinter der aktuellen Syrien­politik Europas und der USA, die „durch die Unterstützung und Bewaffnung von Dschihadisten einer der Gründe für die Destabilisierung des Landes“ sei. Die Parteien würden so anstatt zum Dialog zum bewaffneten Kampf gedrängt. Als „unmittelbare Konsequenz“ dieser Politik sei die Hälfte der syrischen Bevölkerung auf der Flucht und würden Minderheiten einschließlich der Christen verfolgt und entwurzelt.111 Vorsichtiger äußerte sich Antoine Audo, chaldäischer Bischof von Aleppo, im Jahr 2016. Aber auch er erklärte, dass sich eine Mehrheit der Syrer in fairen Wahlen für ihn als ihr Staatsoberhaupt entscheiden würde, und betonte, dass die Syrer ihren eigenen Weg zu einem friedlichen Miteinander finden müssten. Hilfe von außen sei dabei willkommen, jedoch keine „Kommandos“. Die Großmächte sollten nicht versuchen, den syrischen Konfliktparteien eine politische Lösung für den Bürgerkrieg aufzuzwingen. Die Syrer seien in dieser Frage sehr empfindlich und würden sich keinem Diktat von außen beugen.112 Auf Kritik von kirchlicher Seite stieß auch das Wirtschaftsembargo gegen Syrien. Am 23. August 2016 erhoben die in Damaskus residierenden Patriarchen Johannes X. Yazigi, Gregorios III. Laham und Ignatius Aphrem II. die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen, weil diese vor allem die Zivilbevölkerung träfen und humanitäre Maßnahmen behinderten.113

Perspektiven: Sicherheit und Konformismus Am Ende des Sommers 2018 kontrollierte die Regierung von Bashar al-Assad wieder den größten Teil des Landes. Aleppo war Ende 2016 vollständig zurückerobert worden. Regierungstruppen und kurdische Einheiten hatten den Islamischen Staat 2017 und 2018 weitgehend aus dem Euphrat-Tal vertrieben. Seit Anfang 2018 hatte die Regierungsarmee das Umland von Damaskus und den Süden des Landes wieder unter 110 111 112 113

KNA, 01.10.2015. Radio Vatikan Newsletter, 05.10.2015. EPD 16.03.2016. POC 67 (2017):209.

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ihre Kontrolle gebracht. Im Großen und Ganzen blieb nur die Provinz Idlib in der Hand islamistischer Aufständischer. Angesichts dieser Situation breitete sich unter den Christen Syriens eine gewisse Hoffnung auf das baldige Ende des Kriegs aus. Vom Assad-Regime versprechen sich Christen die Sicherung ihrer Rechte als Minderheit, wie es bereits vor dem Krieg der Fall war. Geschickt hatte das Regime seit Beginn des Bürgerkriegs die Angst der Christen vor einer Herrschaftsübernahme durch Islamisten genutzt, um diese auf seine Seite zu ziehen. Die meisten Kirchenführer hatten sich schon recht früh hinter die Regierung gestellt, 2018 bestand an ihrer Loyalität zum Regime nicht mehr der geringste Zweifel. Als Signal des Regimes an die Christen ist auch zu verstehen, dass 2017 ein Christ zum Parlamentspräsident gewählt wurde. Das ist aber kein Zeichen dafür, dass Christen wieder aktiver in der Politik in Syrien mitarbeiten können. Das Regime duldet keine eigenständige politische Beteiligung. Alles geschieht unter Führung des inneren Zirkels der Baath-Partei um die Assad-Familie und unter Kontrolle der Geheimdienste. Gesellschaftliche und politische Beteiligung ist in dieser Situation von Christen genauso wenig zu erwarten wie von den anderen Teilen der Gesellschaft. In der aktuellen Situation geht es den Christen und den Kirchen allein um das Überleben in Syrien und um wirtschaftliche Perspektiven. Sie wollen ihren Glauben und ihre persönliche Lebensweise ohne den Druck islamistischer Extremisten bewahren können. Dies scheint ihnen das Assad-Regime am besten gewährleisten zu können. Die Rückkehr von Christen in die Gebiete, aus denen sie vertrieben wurden oder geflohen sind, hängt zunächst von der Sicherheitslage ab. Sicherheit können derzeit nur die Assad-Regierung und – im Nordosten – die kurdischen Einheiten bieten. Zweitens stellt sich für Christen die Frage, ob sie einen Arbeitsplatz finden oder ihre Geschäfte, die sie vor dem Krieg betrieben haben, wiederaufnehmen können. In Aleppo, wo die meisten Christen des Landes lebten, verbessert sich diese Situation bisher nur langsam. Dennoch verzeichnen die Kirchen die Rückkehr einiger Familien. Sie bemühen sich darum, den Verbliebenen und Zurückgekehrten mit Projekten ein Einkommen zu verschaffen und sie bei der Renovierung ihrer Häuser oder Wohnungen zu unterstützen. Außerdem versuchen sie bei der Überwindung von Kriegstraumata und bei der Versöhnung zu helfen. Christliches Engagement für Gerechtigkeit und einen Frieden, der nicht auf Unterdrückung von Andersdenkenden beruht, ist in der aktuellen Situation nicht möglich, wird aber auch nur von wenigen angesichts der wahrgenommenen Bedrohung durch Krieg und Islamismus als Priorität gesehen. Zu erwarten ist eine neue Phase des Konformismus, bis vielleicht in einigen Jahren wieder über mehr Freiheiten und Demokratie in Syrien nachgedacht werden kann.

Palästina und Israel Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen. (Ps. 122,6)

Das Heilige Land und seine Gemeinden Das Drei-Mal-Heilige Land

„I

ch bin der Herr, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat, um dir dieses Land zu eigen zu geben. […] Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Euphrat.“ (Gen. 15,7,18) Mit dieser Zusage an Abraham verspricht Gott nach der Hebräischen Bibel ihm und seinen Nachkommen das Land Kanaan. Sie sollte Wirklichkeit werden mit dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten unter Führung Moses und Aarons, der Landnahme unter Josua, der Einnahme Jerusalems unter König David. Das religiöse Zentrum des Volkes Israel sollte der Tempel werden, den König Salomo in Jerusalem errichten ließ. Die Verheißungen der Propheten erinnerten das Volk Israel während des Babylonischen Exils (586–539 v. Chr.) stets an seine Heimat. Durch den Bau des zweiten Tempels nach der Rückkehr aus dem Exil und im Kampf der Makkabäer (ca. 168–134 v. Chr.) gegen die Hellenisierung der Kultur und Religion behauptete das Volk Israel seinen Glauben an die Abraham gegebenen Verheißungen. In den jüdischen Aufständen gegen die römische Herrschaft der Jahre 66 bis 70 und 132 bis 135 vergos­sen Juden ihr Blut zur Verteidigung ihres Landes. Mit der Niederschlagung des Bar-­Kochba-Aufstands durch römische Truppen wurden die Juden im Jahr 135 aus dem größten Teil ihres „gelobten Landes“ ausgewiesen, Jerusalem unter dem Namen Aelia Capitolina sprachlich und religiös romanisiert. Nur im Norden blieb eine bedeutende jüdische Bevölkerung präsent. So bildete Tiberias am See Genezareth ein Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit. Dort wurden die Texte für den sogenannten Jerusalemer Talmud gesammelt. Unter islamischer Herrschaft arbeiteten die „Masoreten des Westens“ an einer Ausgabe der Hebräischen Bibel (zwischen 780 und 930). Im 19. Jahrhundert lebten Juden fast nur noch in den vier „heiligen Städten“ der Juden in Palästina: Jerusalem, Tiberias, Safed und Hebron. An der Hoffnung auf die Rückkehr nach Zion hielt das jüdische Volk aber auch in der Diaspora über Jahrhunderte fest, nicht zuletzt durch die zahlreichen Bezüge zu Zion in der synagogalen Liturgie. „Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef

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verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria. Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. […] Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben.“ Mit diesen Worten des Evangelisten Lukas (1,26–31) beginnt für Christen die Geschichte Jesu Christi, Höhepunkt der Heilgeschichte. Die Geburt Jesu in Bethlehem, sein Wirken in Galiläa, sein Leiden und Sterben in Jerusalem, seine Auferstehung und die Erscheinungen des Auferstandenen in Jerusalem, Emmaus und Galiläa und schließlich seine Himmelfahrt „in der Nähe von Bethanien“ (Lk. 24,50) am Ölberg heiligen für Christen in besonderer Weise das Land, das Gott im Alten Bund dem Volk Israel versprochen hatte. Das Wirken der ersten Apostel, die Entstehung der Urgemeinde in Jerusalem und das Pfingstereignis bestätigen die besondere Rolle des „Heiligen Landes“ und der Mutterkirche von Jerusalem, auch wenn mit der Heidenmission des Apostels Paulus, der Reise des heiligen Petrus nach Rom und der Aussendung der anderen Apostel in alle Himmelsrichtungen das Christentum schnell über die Grenzen des Volkes Israel und des Heiligen Landes hinausreichte. Nach den Christenverfolgungen im römischen Reich änderte sich die Lage für die Christen in der römischen Provinz Palästina schlagartig mit dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins (313) und dem Besuch seiner Mutter Helena im Heiligen Land. Der Überlieferung nach fand sie um das Jahr 326 bei Grabungen in Jerusalem das Heilige Kreuz, das seither als Reliquie besonders verehrt wurde. Konstantin und Helena ehrten die heiligen Stätten in Palästina mit einem groß angelegten Bauprogramm: in Jerusalem wurde eine riesige Basilika errichtet, an die eine Martyriumskapelle (an der Stelle der Kreuzigung Jesu) und die Anastasis (über dem Grab Jesu als Ort seiner Auferstehung) angeschlossen waren, in Bethlehem entstand die Geburtskirche und auf dem Ölberg die Eleona-Kirche am Ort der Himmelfahrt Christi. Damit wurde auch baulich das Konzept eines christlichen „Heiligen Landes“ deutlich. Kirchlich wurde Jerusalem im Jahr 451 in den Rang eines Patriarchats erhoben, neben Rom, Alexandrien, Antiochien und Konstantinopel. Bereits vorher hatte sich die römische Provinz Palästina zu einem Zentrum des christlichen Mönchtums entwickelt. Hier seien von den zahlreichen heiligen Mönchen nur Hieronymus genannt, der sich 386 in Bethlehem niederließ und dort ein Leben in Askese und Buße führte, und Sabas, der sich im 5. Jahrhundert in der jüdischen Wüste ansiedelte. Aus seiner Zelle, laura, ging das Sabas-Kloster hervor. Einen harten Schlag für das christliche Jerusalem stellte die Einnahme durch die Perser im Jahr 614 dar. Sie führten das Kreuz Christi weg, allerdings konnte es der byzantinische Kaiser Heraklius 630 nach seinem Sieg über die Perser triumphal nach Jerusalem zurückbringen. „Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei Nacht von der heiligen Kultstätte nach der fernen Kultstätte, deren Umgebung wir gesegnet haben, reiste, um ihn etwas von unseren Zeichen sehen zu lassen.“ Mit diesen Worten deutet der Koran (Sure 17,1) die wundersame Nachtreise des Propheten Muhammad von Mekka nach Jerusalem und von dort in den Himmel an. Der Überlieferung nach ist mit der „fernen Kultstätte“ (al-masǧid al-aqṣā) die Stelle gemeint, an der Abraham seinen Sohn – der islamischen

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Tradition nach nicht Isaak, sondern Ismael – opfern sollte, der Berg Moria, besser bekannt als der Tempelberg in Jerusalem. Von dort reiste Muhammad, so die islamische Prophetenbiographie, in den Himmel und konnte Einblick in Paradies und Hölle nehmen. Außerdem wurden ihm bei der Vision Gottes die islamischen Pflichtgebete auferlegt, bevor er zur Erde zurückkehrte. Der Kalif ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb errichtete an der Stelle die al-Aqsa-Moschee. Der Umayyadenkalif ʿAbdalmalik ibn Marwān (685–705) ließ in unmittelbarer Nähe, über dem Felsen, auf dem der Fußabdruck des Propheten verehrt wird, den Felsendom erbauen. Damit wurde auch der islamische Charakter der Heiligen Stadt Jerusalem, deren Name auf arabisch Bait al-Maqdis („Ort des Heiligtums“) oder al-Quds („die Heilige“) lautet, baulich zum Ausdruck gebracht. Für die Christen blieben Jerusalem und Palästina heilige Stätten, auch wenn sie seit dem 7. Jahrhundert unter islamischer Kontrolle standen. 636 unterlagen die byzantinischen Heere am Fluss Yarmuk im Ostjordanland den muslimischen Truppen. Im Jahr 637 oder 638 eroberten die Muslime Jerusalem. Der griechische Patriarch Sophronios übergab die Kontrolle der Stadt an den muslimischen Kalifen ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb. Fortan lebten die Christen des Heiligen Landes unter muslimischer Herrschaft. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangte Jerusalem erst wieder, als Nachrichten von der Zerstörung der Grabeskirche durch den Fatimidenkalifen al-Hākim (996–1021) das christliche Europa erreichten. Sie wurden Anlass für den ersten Kreuzzug. 1095 rief Papst Urban II. zur Befreiung der Heiligen Stätten auf, 1099 erreichten die Kreuzfahrer Jerusalem, wo sie allerdings nach der Eroberung der Stadt ein Blutbad anrichteten. Im Heiligen Land entstand ein christliches Königreich. Auf den Patriarchenthron von Jerusalem erhoben die Kreuzfahrer einen lateinischen Kandidaten als Nachfolger für den geflohenen und wahrscheinlich kurz danach verstorbenen griechischen Patriarchen; der Ursprung des lateinischen Patriarchats Jerusalem. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl veranlassten allerdings die griechische Kirche zur Wahl eines eigenen Patriarchen, der aber in Konstantinopel residierte. 1187 eroberte Saladin (arabisch: Ṣalāḥ al-Dīn), der islamische Herrscher über Ägypten, Syrien und Nordmesopotamien Jerusalem und beendete damit die Herrschaft der Kreuzfahrer über die Stadt. Mit dem Fall Akkos im Jahr 1291 durch den Mamlukensultan aus Ägypten endete die Geschichte der Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land. Es stand fortan wieder vollständig unter muslimischer Kontrolle. Die Mamluken und seit 1517 die Osmanen regelten in den folgenden Jahrhunderten den Zugang zu den Heiligen Stätten und bestimmten das Leben der Christen. Jerusalem war in osmanischer Zeit ein Ort von nur geringer Bedeutung. Die Stadt gehörte zur Provinz Damaskus, bis sie im 19. Jahrhundert ins Zentrum internatio­ naler Aufmerksamkeit geriet. Mit der Öffnung des Osmanischen Reichs und der Entwicklung neuer Verkehrstechnologien nahmen Pilgerreisen aus Westeuropa und Russ­land in ungekanntem Maße zu. Die europäischen Mächte errichteten ab den 1830er Jahren Konsulate in Jerusalem zur Wahrung ihrer Interessen. Protestantische und katholische Missionsbestrebungen wurden im Heiligen Land deutlich und Eretz Israel, das Land Israel, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand

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der zionistischen Hoffnungen auf die Sammlung des jüdischen Volkes in einem eigenen Staat. Theodor Herzls programmatisches Buch Der Judenstaat (1896) benannte Paläs­tina als Ort für die Verwirklichung dieser Hoffnungen. Ab 1882 erreichten mehrere Wellen jüdischer Einwanderer (hebräisch ʿaliya, pl. ʿaliyot, wörtlich: Aufstieg [nach Jerusalem]), meist aus Osteuropa, wo Juden regelmäßig Pogromen ausgesetzt waren, Palästina. Bis 1914 kamen so zwischen 55.000 und 70.000 Juden in die bis da­ hin osma­nische Provinz.

Heiliges Land – Heilige Kirchen Im Heiligen Land sind nicht zuletzt wegen der Heiligen Stätten fast alle christlichen Konfessionen präsent. Die griechisch-orthodoxe Kirche genießt besondere Vorrechte, die aus dem ersten Jahrtausend stammen und in osmanischer Zeit bestätigt wurden. Sie wird vom Patriarchen von Jerusalem geführt, der in der Ausübung seines Amtes von 14 Titularbischöfen unterstützt wird. Sie alle sind Mitglied der Bruderschaft vom Heiligen Grabe (Hagiotaphiten). Die Bruderschaft versteht ihre Aufgabe in der Wahrung der Rechte der orthodoxen Kirche an den Heiligen Stätten und in der Erhaltung des hellenischen Charakters des Patriarchats, den es seit der Amtszeit von Patriarch Germanos (1534–1579) angenommen hat. Die Tatsache, dass der höhere Klerus fast ausschließlich griechisch ist und griechisch spricht, die Priester und Gläubigen aber arabisch, führt immer wieder zu Spannungen und Vorwürfen von Seiten der Gläubigen, die Hierarchie vertrete ihre Interessen gegenüber dem israelischen Staat nicht mit genügendem Nachdruck. Soziale und humanitäre Aktivitäten werden vor allem von den zahlreichen Laienverbänden durchgeführt, die ohne Beteiligung des höheren Klerus arbeiten und das mangelnde Interesse der Hierarchie an den Alltagsproblemen der Gemeinden auszugleichen versuchen. 1958 wurde ein Gemeinderat gegründet, der mehrheitlich aus Laien besteht und ein Drittel des Budgets der Kirchen, Schulen und Sozialeinrichtungen kontrollieren sollte. Seit der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel 1967 konnte er jedoch nicht mehr zusammentreten, und der konservative Klerus ist auch interessiert daran, diesen Zustand zu erhalten. Der hohe Klerus kümmerte sich lange Zeit kaum um die Belange der arabischen Gläubigen und verhält sich mit Blick auf die israelischen Behörden äußerst vorsichtig (anders als die melkitisch-katholischen Hierarchen). Mit den israelischen Behörden im besetzten Westjordanland unterhielten sie in der Regel gute Beziehungen. Dies brachte ihnen in der palästinensischen Bevölkerung den Ruf ein, Sympathien für die Besatzungsmacht zu haben. Seit den 1990er Jahren bereitet den arabischen Gläubigen auch die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Sorge. Dies hat die orthodoxen Gemeinden nicht-arabischer Sprache deutlich anwachsen lassen. Die Tatsache, dass diese orthodoxen Gläubigen vollständig im israelisch-jüdischen Milieu leben und quasi keinen Kontakt zu den arabischen Gemeinden haben, führt dazu, dass der rein arabische Charakter der griechisch-orthodoxen Gemeinde schwindet. Damit werden aber auch die Ansprüche der arabischen

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Laien auf Mitsprache in der Verwaltung der Güter des Patriarchats und die Forderung nach Ernennung eines arabischen Patriarchen geschwächt.1 Griechisch-orthodoxe Christen leben in Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour, Ramallah sowie einigen Dörfern von Judäa; außerdem in Jaffa, Ramla, Lydda und Akko sowie in Nazareth und einigen galiläischen Dörfern.2 Auf dem Gebiet der Bildung kann sich die griechisch-orthodoxe Kirche nicht mit der katholischen Kirche messen. Sie hat nur zwei Sekundarschulen in Jerusalem und eine Grund- und Mittelschule in Ramallah. Viele orthodoxe Kinder besuchen daher die Schulen des lateinischen Patriarchats oder der katholischen Orden. Von Seiten des orthodoxen Patriarchats werden daher immer wieder Proselytismus-Vorwürfe gegen die katholische Kirche laut. Neben der griechisch-orthodoxen Kirche stehen die Kirchen und Einrichtungen der russisch-orthodoxen Kirche (Kirchen, Klöster, Schulen und Pilgerhospize). Sie waren von der Kaiserlich-orthodoxen Palästina-Gesellschaft, gegründet 1882 in Sankt Peters­burg, ins Leben gerufen worden. Nach der Oktoberrevolution von 1917 gingen sie zum größten Teil an die „Weiße Kirche“ mit Hauptsitz in New York über, die die von der Sowjetregierung beeinflusste Hierarchie des Moskauer Patriarchats nicht anerkannte. Die Stätten in Ost-Jerusalem unterstanden überwiegend dieser russischen Exilkirche.3 Bei der Gründung des Staats Israel ging der gesamte Kirchenbesitz wieder an das Moskauer Patriarchat über. 1952 wurde die Russische Palästina-Gesellschaft zur Verwaltung des Besitzes im Heiligen Lande gegründet. Nur die Einrichtungen, die seit 1948 im jordanisch kontrollierten Teil Palästinas lagen, blieben auch nach 1967 in der Hand der russischen Auslandskirche. 1997 übergab die Palästinensische Autonomiebehörde ein Kloster der russischen Auslandskirche in Hebron, 2000 ein Kloster in Jericho an das Moskauer Patriarchat, nachdem jeweils Polizeikräfte der Autonomiebehörde die Gebäude gegen den heftigen Protest der Priester und Nonnen geräumt hatten. Die Beziehungen zwischen den beiden russischen Kirchen bleiben trotz einer Vereinbarung zur kanonischen Kommunion aus dem Jahr 2007 angespannt. Die römisch-katholische Kirche wird durch den lateinischen Patriarchen von Jerusalem repräsentiert, zu dessen Amtsbereich auch Jordanien und Zypern gehören. Das Patriarchat entstand 1099 während der Kreuzzüge, wurde aber mit dem Ende der Kreuzfahrerstaaten zu einem reinen Ehrentitel. 1847 wurde es wiedererrichtet und war bis 1987 ausschließlich von Italienern besetzt. Erst mit Patriarch Michel Sabbah wurde erstmals ein palästinensischer Christ in das Amt berufen. Seit 1948 hatte das 1 Valognes 1994:300–303, 317; Vatikiotis 1994; Katz/Kark 2005:527, 529; Roussos 2005:145–148. 1992 gründeten einige griechisch-orthodoxe Palästinenser ein arabisches orthodoxes Initiativkomitee, das für die palästinensische Sache gegen die griechische Hierarchie der Kirche eintrat und ihr vorwarf, die sozialen, schulischen und pastoralen Aufgaben zu vernachlässigen. Außerdem beschuldigte sein Sprecher das Patriarchat, Immobilien und Ländereien „an den [israelischen] Feind“ verkauft zu haben. Im selben Jahr wurden in Jordanien ebenfalls Vorwürfe laut, dass die 1958 beschlossene Mitverwaltung der Laien nicht umgesetzt würde; dies sei nur durch die Unterstützung der jordanischen Regierung für die griechische Hierarchie möglich. Valognes 1994:318–319; Katz/Kark 2005:522–524. 2 Colbi 1969:8–10; Betts 1978:67; Colbi 1988:151–154, 176–177, 191–192, 220–224; Tsimhoni 1993:46–55. 3 Colbi 1969:10–12; Colbi 1988:154–155, 177–178, 224–225.

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Patriarchat allerdings schon einen arabischen Weihbischof. Die beiden Patriarchal­ vikare für Israel und für Jordanien waren seit 1964 beziehungsweise 1965 Araber. Zur lateinischen Kirche gehören eine Vielzahl von Orden und Kongregationen (1969: 45, 1990: 93, 2018: 102), nicht selten französischer Herkunft. Sie unterhalten zahlreiche Bildungs- und Sozialeinrichtungen im Heiligen Land. Die lateinischen Katholiken machen etwas weniger als die Hälfte der Katholiken im Heiligen Land aus. Lateinische Christen leben überwiegend in Jerusalem und Bethlehem sowie in den Städten Nazareth, Jaffa und Haifa. Die Mehrheit der Katholiken stellen die Melkiten, die vor allem in Galiläa ansässig sind (in Haifa, Nazareth, Shafa ʻAmru und anderen Orten). Neben dem melkitischen Erzbischof von Haifa, Akko und Galiläa, werden sie von einem Patriarchalvikar in Jeru­salem vertreten. Die melkitische Kirche hat sich in besonderer Weise dem arabischen Nationalismus verschrieben und rühmt sich, die „arabischste“ der katholischen Kirchen im Heiligen Land zu sein. Etwa 5.500 Maroniten (seit 1996 mit einem eigenen Bischof mit Sitz in Haifa, vorher abhängig von der maronitischen Erzdiözese Tyros im Libanon) leben in Haifa, Isfiya auf dem Karmelrücken sowie in einigen Dörfern nahe der libanesischen Grenze. Kleine Gruppen von Chaldäern, katholischen Armeniern (450 Gläubige) und Syrern (1.000 Gläubige) bilden den Rest der katholischen Bevölkerung des Heiligen Landes.4 Der größte katholische Orden sind die Franziskaner. Bereits 1342 wurde der Kustodie vom Heiligen Land von Papst Clemens VI. die Wahrung der Rechte der katholischen Kirche an den heiligen Stätten anvertraut. Über Jahrhunderte waren die Franziskaner die wichtigsten Vertreter der katholischen Kirche im Heiligen Land. Zur Kustodie gehören auch Einrichtungen in Syrien und Zypern und das Orientalische Institut in Kairo.5 Die Armenier sind in Jerusalem mit einem Patriarchen und einer Zahl von weniger als 1.500 Gläubigen vertreten. Fast alle Armenier leben im armenischen Viertel in der Altstadt von Jerusalem und pflegen wenige, aber wachsende Kontakte zur nicht-armenischen Bevölkerung. Ihr gesellschaftliches Leben spielt sich weitgehend hinter den Mauern des Jakobs-Klosters im armenischen Viertel ab. Da das armenische Katholikossat von Sis (Kilikien) nach dem Ersten Weltkrieg in den Libanon verlegt worden war und auch die meisten Armenier dorthin und nach Syrien geflohen waren, wurden die beiden Länder 1922 vom armenischen Patriarchat Jerusalem abgetrennt. Manche Armenier waren auch nach Palästina geflohen. Der Patriarch in Jerusalem war damit in den 1930er Jahren für rund 10.000 Gläubige im Mandatsgebiet von Palästina und Transjordanien, 4.000 davon in Jerusalem, zuständig. Viele der Flüchtlinge verließen Palästina jedoch schon bald wieder. Seit den 1940er Jahren hat ihre Zahl kontinuierlich abgenommen. Während des israelisch-arabischen Kriegs von 1948 flüchteten viele 4 Médebielle 1962a:11–49; Colbi 1969:6–8; Issa 1977:272–275; Colbi 1988:156–161, 170–175, 188–190, 209–220; Tsimhoni 1993:105–131; Valognes 1994:585. 5 Colbi 1969:7.

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Armenier hinter die Mauern des armenischen Viertels in der Altstadt von Jerusalem. Nach dem Krieg konnten sie nicht in ihre Heimatorte, meist Jaffa und Haifa, zurückkehren. In der Folge wanderten zahlreiche Armenier aus. Die Organisation des armenischen Patriarchats beruht vor allem auf der Bruderschaft des Heiligen Jakob, die den Konvent bildet und aus weiteren religiösen Würdenträgern außerhalb des Heiligen Landes besteht.6 Syrer und Kopten haben jeweils einen Erzbischof in Jerusalem. Die koptische Kirche streitet seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der äthiopischen Kirche um den Besitz des Klosters Deir al-Sultan an der Grabeskirche. Die äthiopische Gemeinde bestand lange aus einer kleinen Zahl von Familien, die sich für den Rest ihres Lebens an die Heiligen Stätten zurückzogen, um ein Leben in Gebet und Frömmigkeit zuzubringen. Häufig stammten sie aus der kaiserlichen Familie oder herrschenden Kreisen. Seit dem Exil des Kaisers in Jerusalem während der italienischen Besetzung Äthiopiens von 1936 bis 1941 waren auch Personen aus seiner Entourage in Jerusalem. Aufgrund der guten politischen Beziehungen zwischen Israel und Äthiopien kommen mehr und mehr Gastarbeiter nach Israel, seit einigen Jahren auch zunehmend Flüchtlinge. Äthiopier leben rund um die äthiopischen Klöster in West-Jerusalem und der Altstadt und mischen sich in ihren sozialen Beziehungen sowohl mit Juden als auch mit Arabern. Damit bilden sie eine Besonderheit unter den orientalischen Christen im Heiligen Land. Gründe dafür mögen die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern als auch die Nähe der äthiopischen kirchlichen Liturgie zum Synagogengottesdienst und anderen jüdischen Bräuchen sein.7 Preußen und England errichteten 1841 ein gemeinsames anglikanisch-lutherisches Bistum in Jerusalem. Der Amtsinhaber sollte nach der Vereinbarung abwechselnd von Großbritannien und Preußen ernannt und vom Erzbischof von Canterbury im anglikanischen Ritus geweiht werden. Die Bemühung des ersten Bischofs Michael Salomon Alexander um die Missionierung von Juden im Nahen Osten wurden nach dessen Tod von Bischof Samuel Gobat aufgegeben, der sich auf die orientalischen Christen konzentrierte. Preußen entschied sich allerdings 1886, die Kirchenunion zu verlassen. Die anglikanische Kirche setzte das Bistum allein fort. Sie erlebte eine Blüte während der Mandatszeit, hatte aber auch in dieser Zeit nie mehr als 3.000 Gläubige. Sie war geprägt von einem Miteinander der Diözese und der Missionsgesellschaften der Church Mission Society (CMS) sowie der London Society for the Promotion of Christianity amongst the Jews (LSPCJ), nach dem Ersten Weltkrieg umbenannt in Church Mission to the Jews (CMJ). Die LSPCJ war stark messianisch geprägt und sah in der Rückkehr der Juden ins Heilige Land und ihrer Konversion zum Christentum Zeichen der Wiederkunft des Herrn. Die Balfour-Deklaration und die Errichtung des britischen Mandats für Palästina sahen sie daher mit großer Hoffnung, da diese 6 Hovannisian 1974:24–25; Colbi 1988:161–162, 178, 198–199, 239–242; Tsimhoni 1993:64–67; Valognes 1994:476–477, 586–587. 7 Colbi, 1988:178–179, 199–200, 242–244; Tsimhoni 1993:95–103.

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theologische Vision nun auch politisch Wirklichkeit werden konnte. Diese Haltung entfremdete die hebräisch-anglikanische Gemeinde allerdings vom anglikanischen Bistum und den arabisch-anglikanischen Gläubigen.8 Die Interessen der arabischen Christen wurden in der anglikanischen Kirche durch den bereits 1905 eingerichteten Palestine Native Church Council vertreten. 1952 formulierte es den Wunsch nach Ernennung eines arabischen Bischofs. Allerdings zögerte Canterbury, da es die Beziehungen zum Staat Israel und die Aufsicht über die hebräisch-anglikanische Gemeinde nicht einem arabischen Bischof anvertrauen wollte. So wurde 1957 die Erzdiözese Jerusalem mit einem englischen Amtsinhaber und der Aufsicht über den gesamten Nahen Osten und Nordafrika eingerichtet und darunter ein anglikanisches Bistum für Jordanien (inklusive des damals jordanisch kontrollierten Westjordanlandes), Syrien und den Libanon mit Sitz Jerusalem und einem arabischen Bischof. 1976 wurde das Erzbistum aufgelöst. Seither besteht nur noch die Diözese Jerusalem mit Zuständigkeit für Israel, die palästinensischen Gebiete, Jordanien, Libanon und Syrien. Sie bildet zusammen mit den drei anderen anglikanischen Diözesen in der Region (Zypern und Golfstaaten, Ägypten, Iran) eine Synode. Die Bemühungen um die Arabisierung der Kirchenleitung gingen mit nationalistischen Aktivitäten zahlreicher arabischer Gemeindemitglieder einher, die bereits in den 1930er Jahren begonnen hatten. Naim Ateek war seit den 1970er Jahren ein führender Theologe, der an einer palästinensischen Befreiungstheologie arbeitete und das Sabeel-Zentrum ins Leben rief. In den 1940er Jahren war von einem anglikanischen Pfarrer das Bir Zayt College gegründet worden, aus dem in den 1970er Jahren die Bir Zayt University hervorging. Dort lehrte auch Hanan Ashrawi, die als Anglikanerin Sprecherin der jordanisch-­ palästinensischen Delegation bei den Friedensgesprächen war und später Ministerin in der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde.9 Die deutsche lutherische Gemeinde ging seit 1886 unabhängig vom anglikanischen Bistum Jerusalem eigene Wege. Ihre Aktivitäten wurden unterstützt durch den 1853 in Berlin entstandenen Jerusalems-Verein. Bis zum Ersten Weltkrieg förderte Kaiser Wilhelm II. den Verein und besuchte 1898 selbst das Heilige Land. Dabei weihte er am Reformationstag die deutsche evangelische Erlöserkirche in der Altstadt von Jeru­salem ein. Im Anschluss an die Reise entstanden die Einrichtungen der Kaiserin-­ Auguste-Viktoria-Stiftung auf dem Mount Scopus.10 Der Jerusalems-Vereins gründete 8 Eine kleine Gruppe getaufter Juden war aus den Aktivitäten der London Society for Promoting Christianity amongst the Jews (LSJ) hervorgegangen. Das Herz dieser Arbeit bildete die Christ Church in Jerusalem. Die Anzahl dieser Hebrew Christians blieb jedoch immer sehr gering. Von zionistischer Seite wurden sie stark diskriminiert, so war ihnen die Aufnahme in den jüdischen Gewerkschaftsbund Histadrut in den 1930er Jahren versperrt. Die kleine hebräische Gemeinde übernahm nach der Vereinigung Jerusalems 1967 wieder die Christ Church im Ostteil der Stadt, von wo sie 1948 vertrieben worden war. Löffler 2008:223–227. 9 Colbi 1969:13; Issa 1977:278–280; Colbi 1988:146–147, 179–180, 192–194; Raheb 1990:31–58; 147–148; Tsimhoni 1993:137–148; Heyer 2000, 345–348; Hummel 2003. 10 Während der Reise übernahm der Kaiser auch ein vom Sultan erworbenes Grundstück auf dem Zionsberg und übergab es an den (katholischen) Deutschen Verein vom Heiligen Lande (DVHL). Dieser ließ dort die Dormitio-Abtei errichten und die Nutzung der Gebäude deutschen Benediktinern über-

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weitere Gemeinden in Bethlehem (wo auch die evangelische Weihnachtskirche gebaut wurde), Beit Jala und Hebron. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unterstellte die britische Mandatsverwaltung den Besitz der deutschen evangelischen Kirchen in Palästina der Verwaltung für Feindvermögen. Nach dem Krieg wurden für einige Einrichtungen Treuhandvereinbarungen mit dem Lutherischen Weltbunds geschlossen. Nach der Gründung des Staats Israel fassten deutsche Christen angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands dort nur schwer wieder Fuß und konzentrierten sich zunächst auf Wiedergutmachungsinitiativen in Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen.11 Eine arabische evangelische Gemeinde war zu einem bedeutenden Teil aus den Absolventen der Schule des Syrischen Waisenhauses der Familie Schneller hervorgegangen. 1929 wurde die palästinensisch-evangelische Gemeinde Jerusalem gegründet. Sie blieb jedoch eng an die deutsche lutherische Gemeinde gebunden. 1958 erhielt die evangelisch-lutherische Kirche in Jordanien (ELCJ) eine eigene Verfassung, in der der deutsche Propst aber immer noch eine führende Rolle spielte. 1976 erfolgte schließlich die Loslösung der ELCJ von der deutschen Propstei. 1979 wurde für die lutherische Kirche in der Person von Daʼud Haddad ein eigener Bischof ins Amt eingeführt. Die deutsche Gemeinde unterstand weiterhin der Leitung durch den Propst der Erlöser­ kirche.12 Bischof Mounib Younan (1995–2018) genießt international hohes Ansehen und hat sich sowohl durch ökumenische Initiativen als auch durch sein Eintreten für die Rechte der Palästinenser einen Namen gemacht. Durch ihre Schulen, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen spielt die evangelische Gemeinde eine deutlich größere Rolle, als die Anzahl ihrer Gläubigen, die seit 1960 stabil etwa 1.400 beträgt, vermuten ließe. Unter den evangelikalen Kirchen, die ihre Mitgliederzahl in Israel und Palästina insgesamt mit weniger als 5.000, verteilt auf 35 Gemeinden, angeben, sind die Baptisten die stärksten. Die meisten Baptisten sind arabische Israelis, überwiegend in Haifa, Nazareth und Galiläa. In Tel Aviv besteht auch eine Gemeinde von Baptisten in den Reihen des Filipinos.13 tragen. Der Deutsche Verein vom Heiligen Lande war 1895 als Zusammenschluss des Vereins vom Heiligen Grabe (gegründet 1855) und des Palästina-Vereins der Katholiken Deutschlands (gegründet 1885) entstanden. Er steht bis heute in enger Verbindung zum Erzbistum Köln. Er errichtete neben der Dormitio-Abtei in Jerusalem das Paulus-Haus als Hospiz für katholische Pilger aus Deutschland und übernahm Pilgerhospize der Vorgängervereine (zum Beispiel in Tabgha). In Räumlichkeiten des DVHL wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die nach dem Lazaristenpater Friedrich Wilhelm Schmidt benannte Schmidt-Schule für Mädchen untergebracht. Der DVHL ist seither Schulträger. Weitere Einrichtungen des DHVL im Heiligen Land sind das Benediktinerkloster in Tabgha mit der Brotvermehrungskirche sowie ein Alten- und Behindertenheim in El-Qubeibeh. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Einrichtungen des DVHL wie die der deutschen evangelischen Gemeinden von den Briten der Verwaltung für Feindvermögen unterstellt, 1948 allerdings zurückgegeben. 11 Colbi 1969:13; Issa 1977:280–282; Colbi 1988:148–150, 181–182, 231–234; Raheb 1990:31–205; Löffler 2008, 68–88. 12 Raheb 1990:205–219, 225–226; Tsimhoni 1993:149–155; Heyer 2000:348; Löffler 2008:270–272, 354–388. 13 Die Association of Baptist Churches (ABC) gründete zusammen mit des Assemblies of God, den Open Brethren und der Church of the Nazarene 2005 den Convention of Evangelical Churches in Israel (CECI). Ziel ist die Anerkennung der evangelikalen Kirchen durch den Staat Israel als Religionsgemein-

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Der Gottesdienst der Kirchen an den Heiligen Stätten, ihr Erhalt, die Wahrung der Besitzrechte und die Betreuung der Pilger macht einen wichtigen Teil des Charakters der Kirchen im Heiligen Land aus. Die Besitzrechte und Privilegien der einzelnen Kirchen an den Heiligen Stätten sind im sogenannten Status quo von 1757, modifiziert 1852, geregelt. Diese aus osmanischer Zeit stammende Regelung hat seither keinerlei Veränderung erfahren, nicht zuletzt, weil die Kirchen eifersüchtig über ihre Rechte und Privilegien wachen. Nicht selten kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen Gläubigen der einzelnen Kirchen, in die sich bisweilen auch der Klerus verwickeln lässt. Dies ist besonders an den hohen Feiertagen der Fall, vor allem, wenn der westliche und der orthodoxe Ostertermin zusammenfallen, weil dann alle Kirchen ihre Zere­monien zeitnah zueinander an den Orten des Geschehens vollziehen wollen. Rechte an besonderen Teilen der Grabeskirche genießen die griechisch-orthodoxe, die katho­lische, die armenische, koptische, syrische und äthiopische Kirche. Den Schlüssel verwalten hingegen seit Jahrhunderten traditionell zwei muslimische Familien. Den Besitz an der Geburtskirche in Bethlehem teilen sich Griechen, Armenier, Kopten und Syrer. Die Katholiken haben keine Rechte in der alten Basilika selbst, wohl aber in der Geburtsgrotte unter der Basilika, und sie verfügen über eine eigene Kirche, die direkt der byzantinischen Kirche angeschlossen ist.14 In Nazareth befindet sich die Verkündigungsbasilika im Besitz der römisch-katholischen Kirche. Anfang der 1960er Jahre wurde über der alten Kirche eine riesige Basilika errichtet, um dem wachsenden Pilgerstrom gerecht zu werden. Die griechisch-orthodoxe Kirche verfügt über eine kleinere Kirche, die ebenfalls an den Besuch des Engels bei der Jungfrau Maria erinnert. In Jerusalem kompensierten die Protestanten ihre fehlenden Rechte an der Grabeskirche durch die Einrichtung einer alternativen Gedenkstätte an einer Stelle etwas außerhalb der Stadtmauern, an der im 19. Jahrhundert eine antike Grabstätte entdeckt wurde und die seither als „Gartengrab“ verehrt wird.

Das Leben der Gemeinden Im Staat Israel (inklusive Jerusalem) leben etwa 130.000 palästinensische Christen. Ihre Alltags- und Gottesdienstsprache ist Arabisch. Die Mehrheit lebt in Ost-Jerusalem, Galiläa, Haifa und den umliegenden Dörfern sowie in den Städten Jaffa, Ramla und Lydda (arabisch: Ludd). Daneben – und fast ohne Kontakt zu den palästinensischen Christen – leben etwa 40.000 hebräisch-sprachige christliche Israelis, die voll in die jüdische Gesellschaft Israels integriert sind.15 Sie stammen überwiegend aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie aus Osteuropa. Die meisten von ihnen sind russisch-­ orthodox und werden von eigenen Priestern betreut. Sie alle sind israelische Staatsschaft. Ein erstes Ersuchen um Anerkennung aus dem Jahr 2011 wurde allerdings abgelehnt. Der Convention bemüht sich aber weiterhin um dieses Ziel. Mansour 2012:76–77; Ajaj/Miller/Sumpter 2016:35–51. 14 Colbi 1969:23; Colbi 1988:255–271. 15 Zahlen gemäß den offiziellen israelischen Statistiken für das Jahr 2015. POC 67 (2017):195–196.

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bürger. Hinzu kommen etwa 160.000 christliche Migranten; sie setzen sich zusammen aus 65.000 legalen und illegalen Arbeitsmigranten, vorwiegend aus Asien (Philippinen, Indien, Sri Lanka), 35.000 Asylsuchenden (meist aus Afrika, sehr viele aus Eritrea) und etwa 60.000 Personen, die mit Touristenvisum eingereist und nun auf der Suche nach Arbeit sind (vorwiegend aus Osteuropa, insbesondere aus Rumänien). Nicht zu vergessen ist schließlich das professionelle kirchliche Personal, das sich bei vielen Kirchen zu einem erheblichen Teil aus ausländischen Ordensleuten, Priestern und Bischöfen zusammensetzt: Griechen und Zyprioten im griechisch-orthodoxen Patriarchat von Jerusalem; Italiener und andere Europäer, zunehmend aber auch Asiaten und Afrikaner in der römisch-katholischen Kirche; Libanesen, Syrer, Ägypter und Iraker in den orientalischen Kirchen und katholischen Ostkirchen; Deutsche, Briten, Schweden und Amerikaner in der lutherischen und anglikanischen Kirche sowie anderen protestantischen Gemeinschaften. Außerdem verdienen noch die mehreren Tausend messianischen Juden Erwähnung, die an Jesus als den Messias glauben, sich selbst aber nicht als Christen bezeichnen. Die Lebenswelten der unterschiedlichen christlichen Gruppen in Israel sind grundverschieden. Arabische Christen werden ebenso wie Muslime als Bürger zweiter Klasse behandelt und unterliegen einer spürbaren behördlichen und sozialen Diskriminierung. So sind christlich-palästinensischen Israelis, die den Eintrag „Araber“ in den offiziellen Dokumenten haben, Berufe im sicherheitsrelevanten Bereich untersagt. Sie unterliegen auch nicht der Wehrpflicht. Christlich-arabische Israelis haben sich über Jahrzehnte in säkularen Parteien, allen voran in der Kommunistischen Partei, für gleiche Rechte eingesetzt. In den Kreisen arabischer Israelis hat jedoch seit den 1990er Jahren islamisches und islamistisches Gedankengut immer stärker an Boden gewonnen, so dass das gemeinsame christlich-muslimische politische Engagement stark zurückgegangen ist. Immer häufiger kommt es auch auf lokaler Ebene zu Konflikten zwischen Muslimen, Christen und Drusen. Die israelischen Behörden unternehmen wenig, um derartige Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften zu reduzieren. Bereits in den 1950er Jahren wurde versucht, eine eigene drusische, von der paläs­ tinensischen unterschiedene Identität zu schaffen und so die arabische Gesellschaft Israels zu spalten. Unterstützt wurden diese Versuche von einem Teil der traditionellen drusischen Notabeln (die Drusen hatten im ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 zum größten Teil Israel unterstützt).16 Arabische Christen in Israel haben derartigen Spaltungsversuchen weitgehend widerstanden. In jüngster Zeit gibt es jedoch Bestre16 Die Beziehungen der arabischen Christen zu den Drusen waren und sind eher schlecht oder zumindest gespannt. Drusen unterstützten anders als die allermeisten Christen die zionistische Bewegung und kämpften 1948 an der Seite jüdischer Einheiten, ein Verhalten, das unter den anderen Palästinensern als Verrat gewertet wurde. Seit 1957 unterliegen sie der Wehrpflicht. Arabische Christen dagegen betonten in der Regel ihre Solidarität mit den muslimischen Arabern. Erst nach dem Krieg von 1967 bildete sich eine Gruppe von Drusen, die nicht mit Israel kooperierte. 1973 und 1974 wurden mehrere Drusen festgenommen, die für Syrien im israelisch besetzten Golan als Spione tätig gewesen sein sollen. Betts 1978:176–177. 2005 griffen Drusen in al-Maghar im östlichen Galiläa christliche Häuser an. Mansour 2012:52.

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bungen, unter den Christen eine eigene, „aramäische“ Identität zu schaffen, die sich von der arabisch-palästinensischen unterscheidet. Ein griechisch-orthodoxer Priester sowie ein maronitischer Armeeoffizier setzten sich mit Erfolg dafür ein, die Identität „Aramäer“ in die Ausweispapiere eintragen lassen zu können und „Aramäer“ für den israelischen Militärdienst zu rekrutieren.17 Das Vorhaben stößt allerdings in weiten Kreisen der arabischen Christen sowie beim größten Teil der kirchlichen Hierarchie auf heftigen Widerstand. So hat die katholische Justitia et Pax-Kommission 2013 vor einer weiteren Spaltung der israelischen Gesellschaft durch die Einführung eines zusätzlichen Identitätsmerkmals gewarnt.18 In einer anderen Welt leben die hebräisch-sprachigen Gemeinden Israels. Die Ursprünge der hebräisch-sprachigen katholischen Gemeinde in Israel gehen auf die Konversion einiger Juden zum christlichen Glauben zurück.19 Auf diese Gemeinde gründete sich auch die von einem Dominikaner gegründete jüdisch-arabische Kooperative „Newe Shalom“. Die große Mehrheit der Gläubigen besteht allerdings aus Arbeitsmigranten und Flüchtlingen. 1955 richtete das lateinische Patriarchat das Opus Sancti Jacobi (seit 1990 Vikariat) für die Seelsorge unter den nicht-arabischen katholischen Bürgern Israels ein. In dieser Zeit stammten die meisten aus Polen und waren in jüdisch-­katholischen Mischehen nach Israel eingewandert. Die nicht-arabischen, dauer­haft in Israel ansässigen Christen machen heute etwa ein Viertel der christlichen Bevölkerung aus. Zählt man die nur zeitweilig in Israel lebenden Arbeitsmigranten und Asylsuchenden hinzu, ist diese Gruppe sogar größer als die der arabisch-sprachigen Christen. Sie strömten seit dem Beginn der 1990er Jahre nach Israel ein. Der Ausbruch der zweiten Intifada machte es Palästinensern aus den besetzten Gebieten zunehmend schwer, nach Israel zu gelangen, um dort zu arbeiten. Diese billige Arbeitskraft wurde durch Arbeiter aus Asien und Afrika ersetzt. Außerdem benötigte die alternde israelische Gesellschaft immer mehr bezahlbare Pflegekräfte, die überwiegend in Asien rekrutiert wurden, unter ihnen besonders viele katholische Filipinas.20 Die größte Gruppe von Migranten lebt im südlichen Tel Aviv. Dort wurde 2015 auch eine neue katholische Kirche mit einem Sozialzentrum für die hebräisch-sprachigen Christen und die Migranten eröffnet. In Tel Aviv sind auch zahlreiche evangelische und evangelikale Gemeinden aktiv. Evangelikale Missionare richten sich an die Migranten, aber auch an die muslimische und christliche einheimische Bevölkerung sowie an Juden. 17 Ajaj/Miller/Sumpter 2016:31. 18 Neuhaus 2014:310–315. 19 Die christliche Mission blieb in Israel ein heikles Thema. Am 14. Juli 1963 gaben die Kirchen in Israel eine gemeinsame Erklärung zur Mission unter Juden heraus. Darin betonten sie, dass man nicht die Armut einiger Bevölkerungsteile ausnutzen wolle, um durch das Angebot materieller Vorteile Bekehrungen zum Christentum zu erzielen. Wenn Juden sich zum Christentum bekannten und die Taufe empfingen, blieben sie dennoch Teil des jüdischen Volkes. 1977 wurde von der Knesset gegen den Protest der Kirchen ein Antimissionsgesetz verabschiedet. Dieses wurde allerdings nicht zur Anwendung gebracht, weil die Staatsanwaltschaft keine entsprechenden Anklagen einbrachte. Tsimhoni 1993:160; Heyer 2000:326. 20 Médebielle 1963:56; Heyer 2000:324; Penka 2006; Neuhaus 2014:315–318.

Das Heilige Land und seine Gemeinden

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Ihre Kirchen und Gottesdiensträume sind oft in Ladenlokalen, Wohnungen und den in Israel überall vorgeschriebenen Bombenschutzräumen untergebracht. In Palästina, also den palästinensisch verwalteten Gebieten des Westjordanlands und dem Gaza-Streifen, leben – bis auf das ausländische kirchliche Personal – fast nur palästinensische Christen. Sie alle sind voll in die palästinensische Lebenswelt integriert und nehmen den Staat Israel – anders als die in Israel selbst lebenden Araber, die unterschiedliche Einstellungen zum jüdischen Staat haben – in der Regel als Besatzer und Gegenspieler zu den eigenen nationalen Ansprüchen wahr. Ihre Zahl (ohne Jeru­salem) beträgt rund 42.500 (2008).21 Sie leben überwiegend in Bethlehem (maximal 30 Prozent christliche Bewohner), Beit Sahour (65 Prozent) und Beit Jala (60 Prozent), sodann gibt es größere christliche Gemeinden in Ramallah (22 Prozent), Taybeh, Zabab­deh und Jifneh-Bir Zeit. Im Gazastreifen lebten 2008 noch 1.400 Christen, heute dürften es nur noch 1.100 sein. Verschiedene Initiativen bemühen sich bis heute darum, die Solidarität zwischen christlichen und muslimischen Arabern, sei es in Israel, sei es in den Palästinensergebieten, zu stärken. Dies gilt insbesondere für Stellungnahmen der arabischen Kirchenführer zum Nahostkonflikt22 und die von Palästinensern entwickelte Theologie. Institutionell verankert sind in diesem Bereich das von dem melkitisch-katholischen Intellektuellen Geries Khoury gegründete Al-Liqa‘ Center mit Sitz in Bethlehem23 und das von dem anglikanischen Geistlichen Naim Ateek ins Leben gerufene Sabeel Ecumenical Liberation Center in Jerusalem. Von großem Einfluss ist auch der lutherische Pfarrer und Theologe Mitri Raheb in Bethlehem. Das „Kairos-Palästina Dokument“, das 2009 von palästinensischen Theologen unterschiedlicher Konfession als „Hoffnungsschrei“ gemeinsam erarbeitet wurde, ist ein weiteres Zeugnis des Zusammenstehens gegen die fortdauernde israelische Besatzung.

* Christen machen heute im Staat Israel (inklusive Jerusalem) knapp 2 Prozent der Bevölkerung aus. Zählt man die Migranten hinzu, sind es knapp 4 Prozent. Juden machen 75 Prozent der Bevölkerung und Muslime knapp 18 Prozent aus.24 Im Westjordanland stellen Christen etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung unter 98,5 Prozent Muslimen. Im Gaza-Streifen sind Christen eine winzige Minderheit von weniger 21 Zahlen gemäß dem Palestinian Central Bureau of Statistics, wiedergegeben und bearbeitet in Al Qass Collings/Kassis/Raheb 2012:11. Neuere Angaben zu den palästinensischen Gebieten liegen mir leider nicht vor. 22 Siehe die Auswahl derartiger Stellungnahmen in der Folge des Juni-Krieges 1967 bei Löffler 1976. 23 Siehe zum al-Liqaʼ Center Suermann 2001:23–28 und den gesamten Band als Einblick in die palästinensische Theologie. Das al-Liqa‘ Center ist nach dem plötzlichen Tod seines Gründers und Leiters im Januar 2016 in eine Krise geraten, so dass seine Zukunft keineswegs sicher ist. 24 Unter den Arabern Israels (inklusive Jerusalem) bilden Christen natürlich einen deutlich höheren Anteil. Laut den israelischen Statistiken für das Jahr 2013 machten Muslime knapp 83 % der Araber aus, Christen 9 % und Drusen 8 %.

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als 0,1 Prozent unter einer fast rein muslimischen Bevölkerung. Auf dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet Palästina leben heute somit 48 Prozent Juden, 46 Prozent Muslime, 1,7 Prozent Christen (2,9 Prozent inklusive Migranten).25 Zu Beginn des britischen Mandats hatten die Zahlen völlig anders ausgesehen: 551.000 Muslime (81 Prozent), 65.300 Juden (9,5 Prozent), 62.500 Christen (9 Prozent).26 Wie in keinem anderen Land hat sich der Kontext für Christen im Heiligen Land also seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verändert. Die jüdische Einwanderung, von der britischen Mandatsmacht durch die Balfour-Erklärung von 1917 offiziell befördert, der daraus entstehende Konflikt zwischen Juden und Arabern, die Gründung des Staats Israel, die arabisch-israelischen Kriege, die Besetzung des Westjordanlands und die palästinensischen Aufstände der ersten und zweiten Intifada hatten erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Christen. Diese Entwicklungen wollen wir in den folgenden Abschnitten nachzeichnen.

Die Christen und die Palästina-Frage: Die Zeit des britischen Mandats Am 2. November 1917 sandte der damalige britische Außenminister Lord Balfour folgenden Text an den prominenten britischen Zionisten Baron Rothschild: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“ Wie kaum ein anderes Dokument sollte dieser Text, der später als Balfour-Erklärung bekannt wurde, das Schicksal zweier Völker beeinflussen: das der palästinensischen Araber und das der Juden. Während er bei zionistischen Juden Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr nach Eretz Israel, die biblische Heimat des jüdischen Volkes, hervorrief, löste der Brief unter Arabern erhebliche Unruhe aus. Mit der Besetzung des bis dahin osmanischen Palästina durch britische Truppen unter General Edmund Allenby gelangte das Gebiet zudem unter britische Kontrolle. Allenby zog am 9. Dezember 1917 in Jerusalem ein; der Norden Palästinas wurde bis zum Herbst 1918 von britischen Truppen eingenommen. Damit waren die Briten in der Lage, ihre in der Balfour-Erklärung niedergelegte Politik umzusetzen. Durch die jüdische Einwanderung wurde das Leben der palästinensischen Bevöl­ kerung entscheidend verändert. Am Kampf gegen diese Einwanderungspolitik und den wachsenden Einfluss der zionistischen Bewegung auf die Geschicke Palästinas 25 Die Zahlen für 2017 basieren auf den Angaben des CIA Worldfactbook. https://www.cia.gov/library/ publications/the-world-factbook/geos/we.html (abgerufen am 30.07.2018). Für Christen wurden die o. g. Angaben zugrundegelegt. 26 Die Zahlen für 1918 entstammen der Schätzung der britischen Militärbehörden. Krämer 2015:184.

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beteiligten sich palästinensische Christen auf unterschiedliche Weise: in der Presse, in der palästinensischen Nationalbewegung und in der sogenannten Opposition. Es gelang jedoch nicht, eine gemeinsame arabische Front gegen die britische Mandatsmacht und die gut koordinierte Politik der Zionisten aufzubauen. Auch die Christen Palästinas vertraten unterschiedliche Positionen und die Meinung der christlichen Laien stand, wie wir sehen werden, teils in krassem Gegensatz zur Politik der Kirchen­ führungen.

Christlich-muslimische Vereinigung: Gemeinsamer Widerstand gegen die jüdische Einwanderung Bereits im November 1918 legten palästinensische Araber den britischen Behörden eine Petition vor, in der es hieß: „Wir Araber, Muslime und Christen, hatten immer ehrliche Sympathien für die verfolgten Juden und ihr schweres Geschick in anderen Ländern; genauso wie wir für die verfolgten Armenier und andere schwache Völker Sympathien hatten. Wir hoffen auf ihre Erlösung und ihr Wohlergehen. Aber es besteht ein großer Unterschied zwischen dieser Sympathie und der Aufnahme eines solchen Volkes in unserem Land (das von ihnen zu ihrer nationalen Heimstätte gemacht werden soll), wobei es über uns herrschen und unsere Angelegenheiten regeln soll.“27 Kurz darauf sandte die neu gegründete muslimisch-christliche Vereinigung aus Jaffa ein Memorandum an General Edmund Allenby. Darin betonte sie, dass Palästina arabisch sei, seine arabische Sprache von Großbritannien anerkannt werden solle und Palästina keinesfalls „den Klauen der Juden“ überlassen werden dürfe. Über Palästina dürfe nicht entschieden werden, ohne die Meinung der arabischen Bevölkerung zu berücksichtigen.28 Erste Demonstrationen gab es im Februar 1920. Aus Protest gegen die Ankündigung der Mandatsbehörden, die Balfour-Erklärung umzusetzen, zog nach dem Freitagsgebet in Haifa ein Demonstrationszug von der Großen Moschee zur katholischen Kirche. Dort vereinigten sich Muslime und Christen und übergaben den Militärbehörden eine Petition, in der sie gegen die Einrichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden protestierten. Im April desselben Jahres kam es dann zu Unruhen und Gewalt beim Nabi-Musa-Pilgerfest. Aufgebrachte Pilger zogen plündernd durch das jüdische Viertel zur al-Aqsa-Moschee.29

27 „We Arabs, Moslem and Christian, have always sympathized profoundly with the persecuted Jews and their misfortunes in other countries, as much as we sympathized with the persecuted Armenians and other weaker nations. We hope for their deliverance and prosperity. But there is a wide difference between this sympathy and the acceptance of such a nation in our country … ruling over us and disposing of our affairs.“ Zitiert bei Lesch 1979:86. Kreutz 1990:39. 28 Ayyad 1999:75–76; Krämer 2015:186–187. 29 Krämer 2015:242–248. Einen nicht unerheblichen Faktor für die frühen Konflikte zwischen Juden und Arabern bildeten kulturelle Unterschiede zwischen der palästinensischen konservativen Gesellschaft (gleich ob islamisch oder christlich) und den zionistischen Einwanderern mit ihren sozialisti-

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Eine wichtige Stimme gegen die Politik der Balfour-Erklärung war die arabische Presse Palästinas. Nachdem die osmanischen Behörden die meisten Zeitungen während des Ersten Weltkriegs verboten hatten, nahmen sie in der Zeit von 1919 bis 1921 ihre Arbeit wieder auf und erschienen erneut. 19 der 25 Zeitungen, die vor dem ersten Weltkrieg in Palästina erschienen, hatten christliche Herausgeber, so al-Karmil („Der Karmel“, Haifa, herausgegeben von Najib Nassar, 1908–1936/1942), al-Nafīr („Das Signalhorn“, Haifa, ab 1908, herausgegeben von Iliya Zakkas), Filasṭīn („Palästina“, Jaffa, 1911–1967, herausgegeben von ʻIsa al-ʻIsa und seinem Cousin Yusuf al-ʻIsa) und al-Quds („Jerusalem“, ab 1908 in Jerusalem herausgegeben von Jurji/Georges Habib Hananya). Während der britischen Mandatszeit kamen mehrere Zeitungen mit muslimischen Herausgebern hinzu, christlich verantwortete Blätter machten aber immer noch die Hälfte der Zeitungen aus. Al-Karmil und Filasṭīn waren beide bereits in osmanischer Zeit anti-zionistisch eingestellt und warnten vor den Gefahren, die der Zionismus sowohl für die Christen als auch für die Muslime Palästinas mit sich bringe. Filasṭīn verteilte kostenlos Ausgaben an Vorsteher von Dörfern rund um Jaffa, um auch die Landbevölkerung auf die Gefahren des Zionismus aufmerksam zu machen. Allein durch seinen Titel beförderte Filasṭīn („Palästina“) das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Identität der Palästinenser und spielte damit eine bedeutende Rolle bei der Entstehung eines palästinensischen Nationalgefühls. Al-Karmil verfolgte zwischen 1924 und 1936 eine eher pro-britische Regierungslinie, schwenkte 1936 unter dem Namen al-Karmil al-ǧadīd („Der neue Karmel“) aber wieder auf einen nationalistischen Kurs ein.30 Auf arabischer Seite bildeten sich schon während des Ersten Weltkriegs eine Reihe islamisch-christlicher Vereinigungen, deren erklärtes Ziel die Bekämpfung der Balfour-Erklärung und die Unabhängigkeit Palästinas war. Sie schlossen sich im Januar 1919 im Dachverband der Palästinensischen muslimisch-christlichen Vereinigungen (al-Ǧamʿiyyāt al-islāmiyya al-masīḥiyya al-filasṭīniyya) zusammen. Die Hälfte der Jerusalemer Delegierten auf dem Gründungskongress waren Christen, die meisten davon katholisch. Insgesamt betrug die christliche Beteiligung am Kongress 20 Prozent. Die Vereinigung von Jerusalem nahm eine Führungsrolle ein. Die Vereinigungen setzten sich aus den Häuptern der führenden muslimischen und christlichen Familien zusammen. Für Christen war eine besondere Vertretung – meist größer als ihr proportionaler Anteil an der lokalen Bevölkerung – reserviert. Die Führung der Vereinigungen spiegelten die traditionellen Eliten wieder, die ihr Prestige auf religiösen Status, Landbesitz oder Familientraditionen in der osmanischen Verwaltung gründeten. Die muslimisch-christlichen Vereinigungen operierten in erster Linie mit Petitionen, schen und aus religiös-konservativer Sicht freizügigen moralischen Vorstellungen, inklusive Bekleidung und Stellung der Frau. 30 Tsimhoni 1978b:81; Ayalon 1995:95–101; Shomali 1995; Khalidi 2010:55–59, 122–127, 161–162; Campos 2011:225, 237, 240. Im Juni 1924 fand in Haifa ein Journalistenkongress statt, auf dem Eigentümer und Redakteure der wichtigsten Zeitungen Palästinas zusammenkamen und eine Art journalistischen Code verabschiedeten. Darin war neben anderen Grundsätzen auch die Verpflichtung enthalten, keine religiösen Spannungen zu schüren, die einen Keil in die arabische Bewegung Palästinas treiben könnten. Ayyad 1999:108–109.

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Kongressen, Manifesten, Demonstrationen und Streiks. Sie spielten eine entscheidende Rolle in der Nationalbewegung. Dort, wo Vereinigungen existierten, war die Arbeit deutlich strukturierter, die Aktivitäten besser organisiert und das Fundraising besser. Allerdings gab es an einigen Orten auch eine Konkurrenz zwischen getrennten christlichen und muslimischen Vereinigungen (zum Beispiel in Haifa).31 Aus den Kongressen, die führend von den muslimisch-christlichen Vereinigungen mitorganisiert wurden, ging die Arabische Exekutive hervor. Im Anschluss an den Dritten palästinensisch-arabischen Kongress im Dezember 1920 wurde ein Arabisches Exekutivkomitee unter Führung des kurz zuvor abgesetzten Bürgermeisters von Jerusalem, Musa Kazim al-Husseini, gewählt, der auch Vorsitzender des Dachverbands der muslimisch-christlichen Vereinigungen war. Sekretär wurde der Christ Khalil al-Sakakini. Das Exekutivkomitee war interreligiös und interkonfessionell zusammengesetzt und strebte nach Anerkennung durch die britischen Behörden. Diese wurde ihm allerdings mit dem Argument verweigert, es stehe nicht repräsentativ für die Bevölkerung (ein Argument, das gegen die Vertretung der jüdischen Organisationen auch hätte ins Feld geführt werden können). In der Arabischen Exekutive, die jeweils von den Kongressen gewählt wurde, waren mehrere Plätze für Christen reserviert.32 Neben den muslimisch-christlichen Vereinigungen entstanden allerdings auch rein muslimische Vereinigungen. Die Zeitung Filasṭīn warf ihnen vor, die arabische Bevölkerung zu spalten und das Werk der Zionisten zu sein.33 Die muslimisch-christlichen Vereinigungen und die Arabische Exekutive taten alles dafür, um den Eindruck einer gemeinsamen Front von christlichen und muslimischen Palästinensern gegen das britische Mandat und die Politik der Balfour-Erklärung aufrecht zu erhalten. Die 31 Aufgrund von Aufrufen der arabischen Presse Palästinas wurde bereits 1910 eine erste muslimisch-christliche Vereinigung gegründet, die gegen Landverkäufe an Zionisten kämpfte. Treibende Kraft dahinter war der christliche Zeitungsverleger Najib Nassar. Anfang 1920 entstand eine muslimische-christliche Vereinigung in Gaza. In Haifa waren die christliche und die muslimische Vereinigung von Anfang an getrennt. Die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen waren in Haifa seit dem Ende der osmanischen Zeit wegen der wirtschaftlich dynamischen Entwicklung der Christen, die den Neid der Muslime hervorrief, angespannt. 1918 entstand dort eine Muslim Association, im folgenden Jahr wurde eine Christian Association gegründet, die ähnliche Ziele verfolgte. In Nablus gab es seit 1919 eine Muslim-Christian Association, die 1931 ihren Namen in Patriotic Arab Association änderte. Dies war wohl Ausdruck der militanteren Politik, die sie verfolgte, und der geringen Rolle, die Christen in der muslimisch dominierten Region von Nablus spielten. Nazareth spielte eine untergeordnete Rolle in der Nationalbewegung; eine Muslim Christian Association (MCA) entstand dort vergleichsweise spät. In Tiberias gab es nur eine Muslim Association ohne christliche Parallelorganisation wie in Haifa. In Hebron erfolgte die Gründung einer MCA ebenfalls recht spät, ebenso in Safed. In Beisan bildete sich anfangs keine formale Vereinigung, die Ziele der nationalen Bewegung wurden dort vor allem von Jubran Iskandar Kazma, einem griechisch-orthodoxen Christen, getragen. Erst 1924 erfolgte die Gründung einer MCA. Tul-Karm, Jenin und Akko hatten keine MCA. Zu den Vereinigungen: Porath 1974:28–34, 274–283; Krämer 2015:236–242. 32 Krämer 2015:250. 33 Ayyad 1999:97. Porath 1974:215–216 bestätigt die Einschätzung, dass die National Muslim Association spirituell und materiell von der zionistischen Exekutive unterstützt wurde, um eine Opposition gegen die Arabische Exekutive und die führenden muslimisch-christlichen Vereinigungen zu bilden.

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1921 gegründete National Muslim Association (NMA) dagegen klagte über eine Bevorzugung von Christen bei der Besetzung von Verwaltungsposten und über ihren überproportionalen Einfluss. Die NMA war vor allem im Norden Palästinas in Opposition zur Arabischen Exekutive aktiv. Sie war besonders stark in Gegenden, in denen Christen eine führende Rolle in den muslimisch-christlichen Vereinigungen spielten, so in Beisan. In Jerusalem wurde sie von Raghib al-Nashashibi und der Zeitung Mirʾāt al-Šarq („Spiegel des Orients“, 1919–1939), betrieben von Bulus Shihada (einem Christen), unterstützt. Mit dem Ende der finanziellen Zuwendungen durch die Zionisten verschwand die National Muslim Association allerdings schon 1923 innerhalb weniger Monate.34 Anders als die muslimisch-christlichen Vereinigungen, die die Unabhängigkeit Palästinas forderten, befürworteten das Arabische literarische Forum (al-Muntadā al-adabī) und der Arabische Club (al-Nādī al-ʿarabī) die Vereinigung Palästinas mit Syrien unter König Faisal. Diese Option schied in der Praxis allerdings schon 1920 aus. Die Association of Catholic Youth in Jerusalem arbeitete seit 1919 eng mit dem literarischen Forum zusammen; beide Vereine wurden von Frankreich unterstützt. Die pro-französischen Katholiken befürworteten eine Vereinigung Palästinas mit dem französischen Mandatsgebiet Syriens. Der lateinische Patriarch Luigi Barlassina und der melkitische Bischof von Galiläa, Grégoire Haggiar (auch Hajjar geschrieben), unterstützten offen anti-zionistische Aktivitäten. Nach der Konferenz von San Remo, die endgültig ein eigenes Mandat für Palästina einrichtete, ließ das Engagement vieler Katholiken, darunter der beiden führenden Kirchenmänner Barlassina und Haggiar deutlich nach. Da es keine Hoffnung mehr auf eine Vereinigung mit dem französischen Mandatsgebiet gab, war ihre hauptsächliche Motivation zur Beteiligung an der arabischen Nationalbewegung weggefallen. Einige Katholiken, so der Maronit Wadiʼ al-Bustani aus Haifa, arbeiteten dennoch weiter und zeichneten sich durch ihre teils extremen politischen Aktivitäten aus. Auf griechisch-orthodoxer Seite dagegen fürchteten der Patriarch und die Bischöfe die Bestrebungen zu einer Arabisierung des Pa­ triarchats mehr als den Zionismus. Der Patriarch und ein Teil der traditionellen Führung, so Yaʼqub Farraj, befürworteten daher eine Zusammenarbeit mit der britischen Mandatsverwaltung. Im Gegensatz dazu setzten sich viele jüngere und westlich gebildete griechisch-orthodoxe Christen, so Khalil al-Sakakini, Yusuf al-ʻIsa und ʻIsa al-ʻIsa, im Verein al-Nahḍa al-urṯūḏuksiyya („Die orthodoxe Renaissance“) für den arabischen Nationalismus ein. Manche, wie die ʻIsa-Brüder in Jaffa, schlossen sich sogar der extremistischen Organisation al-Fidāʾiyya an.35 Am 1. Juli 1920 setzte Großbritannien in Jerusalem eine Zivilregierung unter dem Zionisten Sir Herbert Samuel ein. Die großsyrischen Ambitionen Faisals wurden von 34 Porath 1974:215–220. 35 Porath 1974:295–298; Tsimhoni 1978b. Der anglikanische Bischof Rennie MacInnes war der Balfour-Erklärung gegenüber ebenfalls skeptisch eingestellt. Er bezweifelte, dass es möglich sei, gegen den Willen der arabischen Bevölkerung die Zusagen der Erklärung durchzusetzen, und befürchtete einen langandauernden Konflikt. Löffler 2008:212–217.

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den Franzosen mit der Besetzung Libanons und Syriens und der Schlacht von Maisalun am 24. Juli 1920 zunichtegemacht. Damit war auch die Integration Palästinas in den syrischen Staat keine realistische Option mehr. Die arabische Seite entsandte daraufhin eine Delegation nach London. Ihr gehörten mehrere Christen an (eigentlich hätte der melkitische Bischof Haggiar zur Delegation gehören sollen, allerdings wurde er nicht gewählt). Sie führte im August Gespräche mit dem Colonial Office und forderte eine nationale Regierung, die Aufgabe des Plans zur Einrichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina, das Ende der jüdischen Einwanderung sowie die Vereinigung Palästinas mit den arabischen Nachbarländern. Die Gespräche führten jedoch zu keinem Ergebnis.36 Stattdessen setzten die Briten neben dem Hochkommissar, der volle legislative und exekutive Kompetenzen hatte, einen rein britischen Exekutivrat sowie einen Advisory Council ein. Letzterer bestand aus zehn britischen Beamten und zehn ernannten Mitgliedern, die die lokalen Gemeinschaften vertreten sollten: vier Muslime, drei christliche Araber und drei Juden.37 Am 24. Juli 1922 billigte der Rat des Völkerbunds das britische Mandat über Palästina und das Transjordanland, nahm am 16. September allerdings das Ostjordanland von der Geltung der Balfour-Deklaration und damit von jüdischer Besiedlung aus. Für Palästina dagegen war die Balfour-Erklärung Teil des Mandatsvertrags und damit völkerrechtlich bindend. In Artikel 2 hieß es dazu: „Der Mandatar soll dafür verantwortlich sein, daß das Land unter solche politische, administrative und wirtschaftliche Bedingungen gestellt wird, welche die Errichtung der Jüdischen Nationalen Heimstätte, wie in der Einleitung niedergelegt, und die Entwicklung von Selbstverwaltungsinstitutionen sowie die Wahrung der bürgerlichen und religiösen Rechte aller Einwohner Palästinas, ohne Unterschied der Rasse und Religion, sichern.“ Artikel 4 sah eine „angemessene jüdische Vertretung“ vor, die die Mandatsregierung beraten sollte. In der Praxis war dies die Zionistische Weltorganisation, die allerdings keineswegs für alle Juden Palästinas sprechen konnte, schon gar nicht für den sogenannten „Alten Yishuv“, die schon vor Beginn der zionistischen Einwanderung im Land ansässigen Juden. Ein entsprechendes arabisches Gremium fehlte. Artikel 6 des Mandatsvertrags verpflichtete Großbritannien zur Förderung einer „geschlossenen Ansiedlung von Juden auf dem Lande mit Einschluß der nicht für öffentliche Zwecke erforderlichen Staatsländereien und Brachländereien“, allerdings „unter der Sicherung, daß die Rechte und die Lage anderer Teile der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden.38 Der Vatikan protestierte gegen den Entwurf des Mandatsvertrags und die Passagen, die spezielle Privilegien für die jüdische Bevölkerung vorsahen. Bereits im Juni 1921 hatte sich Papst Benedikt XV. wegen der zionistischen Bestrebungen in einer Ansprache an die Kardinäle besorgt geäußert : „Unsere Ängste sind nur allzu sehr wahr geworden. Es ist bekannt, dass die Position der Christen in Palästina sich 36 Porath 1974:137–147. 37 Krämer 2015:199. Die Muslime waren darin deutlich unterrepräsentiert, so dass ihr Anteil 1922 erhöht wurde. 38 Krämer 2015:191–200.

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nicht nur nicht verbessert hat, sondern schlechter geworden ist unter dem neuen zivilen Regierungssystem, das eingerichtet wurde und das – wenn nicht von der Absicht seiner Gründer her, so doch in seiner Wirkung – dazu neigt, das Christentum der Posi­ tion zu entkleiden, die es bisher innehatte, und an seine Stelle die Juden zu setzen.“39 Am 6. März 1922 legte Kardinalstaatssekretär Gasparri dem Völkerbund ein Memorandum vor, in dem es unter anderem hieß: „Ein Mandat würde all dem [gemeint ist die Mandatsverpflichtung zur Entwicklung der Bevölkerung] widersprechen, wäre es das Instrument, um einheimische Bevölkerungen einer anderen Nationalität unterzuordnen.“ Der Vatikan warnte zwar vor den Folgen der Völkerbundsbeschlüsse für das palästinensische Volk, ergriff jedoch nicht Partei für die Forderungen arabischer Natio­nalisten nach der vollständigen Unabhängigkeit Palästinas. In dieser Frage übte er Zurückhaltung; nicht zuletzt, weil auch die christliche Bevölkerung des Heiligen Landes nicht einer Meinung war. Nach dem Bericht der King-Crane-Kommission hatten sich 1919 die meisten Katholiken für ein französisches Mandat in Palästina ausgesprochen, während die Orthodoxen ein britisches bevorzugten. Die Kommission hatte auch festgestellt, dass die meisten Christen eine sofortige Unabhängigkeit unter einer arabischen Regierung fürchteten.40 Als Vertreter aller Araber, auch der Christen, wurde von den Briten der 1922 gegründete Oberste Muslimische Scharia-Rat (Supreme Muslim Sharia Council), dessen Vorsitzender der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini (ca. 1895–1974), war, anerkannt. Der Rat kontrollierte auch die islamischen Stiftungen und verfügte damit über erhebliche Finanzmittel und großen Einfluss.41 In Angelegenheiten des Personalstatuts hatten wie in osmanischer Zeit die jeweiligen Kirchengerichte Kompetenz (Palestine Order in Council von 1922). Außerdem bestätigte der Erlass die Regelungen des Status quo bezüglich der Rechte der einzelnen Kirchen an den Heiligen Stätten.42

39 „Our fears have been only too well realized. It is known that the position of Christians in Palestine has not only not been improved, but is has become worse under the new civil regime which has been established and which tends – if not in the intention of its founders, certainly in its effects – to deprive Christianity of the position which it has hitherto held and to substitute for it the Jews.“ Kreutz 1990:40. 40 „A mandate would be contrary to all of this were it the instrument for subordinating native populations to the advantage of another nationality.“ Rokach 1987:15 (sie datiert das Memorandum auf den 15. Mai 1922); Kreutz 1990:41–43. Beim Besuch der King-Crane-Kommission in Jerusalem 1919 hatte die arabische Seite drei Forderungen unterbreitet: 1. die vollkommene Unabhängigkeit Syriens vom Taurus-Gebirge im Norden bis Rafah im Süden, 2. die innere Autonomie Südsyriens, also Palästinas und Transjordaniens, innerhalb des syrischen Staats, 3. die Ablehnung der zionistischen Einwanderung und einer jüdischen Heimstätte gemäß der Balfour-Erklärung; die seit alters in Palästina lebenden Juden sollten allerdings gleichberechtigte Bürger sein. Krämer 2015:190. 41 Krämer 2015:257–258. 42 Himadeh 1938:6–7; Colbi 1988:144; OʼMahony 1994:20–25; OʼMahony 1995:253–259. Anders als die orthodoxen und katholischen Kirchen fanden die protestantischen Kirchen während der britischen Mandatszeit keine offizielle Anerkennung durch die Behörden mit dem Argument, sie hätten in osmanischer Zeit nirgends eine solche Anerkennung erhalten. Dies stellte die protestantischen Kirchen vor ein Problem bei Eheschließungen und anderen Fragen des Personalstatuts.

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Der jüdische Yishuv baute ab den 1920er Jahren eigene Institutionen der Verwaltung und Organisation auf, die parallel zur Mandatsverwaltung arbeiteten, sich aus Spendengeldern finanzierten und somit weitgehend unabhängig waren. Die bedeutendste war der Vaʼad leʼumi, der Nationalrat. Dies erlaubte den Juden nicht nur eine eigene, von der arabischen gesonderte Organisation, sondern auch eine unabhängige Vertretung gegenüber den Mandatsbehörden. Daneben beauftragten die Mandatsbehörden die Jewish Agency in Eretz Israel 1930 mit der Zuteilung von Einwanderungsbewilligungen für Juden. Faktisch bildeten Vaʼad leʼumi und die Jewish Agency eine Art Parallelregierung. Dies rief nicht nur den Argwohn der Araber, sondern auch ein gewisses Missbehagen in einigen britischen Kreisen hervor.43 Aber auch innerhalb der Kirchen gab es Spaltungen: das griechisch-orthodoxe Pa­ triarchat von Jerusalem, das von ethnischen Griechen dominiert wurde, vertrat offiziell eine pro-britische Politik. Die meisten orthodoxen Gläubigen, organisiert und vertreten durch den Verein al-Nahḍa al-urṯūḏuksiyya, verstanden sich dagegen als arabische Nationalisten. Als die muslimisch-christlichen Vereinigungen 1923 den Boykott der Wahlen zum Legislative Council erklärten, rief der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem, Damianos (1897–1931), zu einer Beteiligung an den Wahlen auf. Sein Aufruf fand allerdings bei den arabischen Gläubigen kaum Gehör. Nur 5,5 Prozent der Christen beteiligten sich an den Wahlen. Unter den Muslimen lag die Wahlbeteiligung bei 18 Prozent, unter der jüdischen Bevölkerung dagegen bei 50 Prozent.44 Mit Blick auf kirchliche Belange forderten die arabischen Gläubigen die Einsetzung eines arabischen höheren Klerus anstelle der ausschließlich griechischen Bischöfe. Sie sahen sich gleich mehrfach unterdrückt: durch die Briten, die Juden und die Griechen. Der Verkauf von Land an Juden durch das griechische Patriarchat, bedingt durch die finanzielle Not, in die es während des Ersten Weltkriegs geraten war, förderten die Opposition gegen den hohen Klerus. Die Ernennung eines griechischen Metropoliten für Nazareth, der keinerlei Arabischkenntnisse hatte und gegen den Wunsch der loka­ len Gemeinde ins Amt gekommen war, regte den Widerstand 1922 weiter an. Im Juli organisierten Mitglieder der Nahḍa urṯūḏuksiyya einen Kongress in Haifa, bei dem Vertreter aus dem gesamten Patriarchatsgebiet (Palästina und Transjordanien) zusammenkamen. Der Kongress forderte die Stärkung der Laien in der Verwaltung der Kirchengüter (zwei Drittel der Sitze in den gemischten Räten sollten den Laien zukommen), die Ernennung von Arabern in hohe Kirchenämter und die Entlassung von Geistlichen, die kein Arabisch konnten (darunter explizit des Metropoliten von Nazareth). Der Sechste Arabische Kongress nahm die Forderungen des griechisch-ortho­ doxen Kongresses in sein Programm auf. Beim zweiten orthodoxen Kongress 1931 wurde die Ernennung eines arabischen Kandidaten als Nachfolger für den verstor­ benen Patriarchen Damianos gefordert. Der Streit zwischen den arabischen Laien und dem Patriarchat war so heftig und die Schuldenkrise so bedeutend, dass das 43 Krämer 2015:225–226. 44 Porath 1974:152–156; Tsimhoni 1978:102–103.

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Patriarchat ständiger Gegenstand der Aufmerksamkeit der Mandatsregierung blieb, sei es durch die Einsetzung mehrerer Kommissionen zur Klärung der offenen Fragen, der Gründung einer Finanzkommission zur Regulierung der Schulden des Patriarchats (im Jahr 1921) sowie durch mehrere Vorschläge zur Revision der Verfassung des Patriarchats, die jedoch alle entweder von den arabischen Laien oder dem Patriarchat selbst abgelehnt wurden und bis zum Ende des britischen Mandat 1948 zu keinem Ergebnis kamen.45 Der lateinische Patriarch Luigi Barlassina (1920–1947) war dagegen ein ausgesprochener Fürsprecher der arabischen Bevölkerung. Er unterstützte die Aktivitäten der muslimisch-christlichen Vereinigungen und verurteilte öffentlich den Zionismus. Zu den zionistischen Vereinen und zu den britischen Mandatsbehörden hatte er ein gespanntes Verhältnis. Einzig zum ersten britischen Hochkommissar, Sir Herbert Samuel, pflegte er – wahrscheinlich auf Druck des Vatikan hin – recht gute Beziehungen. Während seines Patriarchats wurden zahlreiche katholische Einrichtungen im Heiligen Land aufgebaut, Kriegsschäden beseitigt und zwölf neue lateinische Pfarreien gegründet. Außerdem entstanden während seiner Amtszeit zahlreiche Kirchenneubauten an Pilgerstätten (Berg Tabor: Kirche der Verklärung; Gethsemane: Basilika der Todesangst; oberhalb Kapharnaums: Kirche der Seligpreisungen).46 In der Mandatsverwaltung waren Christen und Juden gegenüber den Muslimen überrepräsentiert.47 Dies lag unter anderem daran, dass das Bildungsniveau unter Muslimen deutlich niedriger war als unter den anderen Bevölkerungsgruppen. Zwar waren arabische Verwaltungsangestellte bereit, zu deutlich niedrigen Gehältern zu arbeiten als Juden, aber die zionistischen Organisationen subventionierten die Anstellung jüdischer Beamter, um den Anteil der eigenen Angestellten in der Mandatsverwaltung zu erhöhen. Angesichts der Klagen von muslimischer Seite über die überproportionale Vertretung von Christen in der Verwaltung bemühten sich die britischen Behörden, diesen Überschuss zu verringern. Dies führte allerdings zu neuen Konflikten innerhalb der arabischen Bevölkerung.48 Die Gemeinschaften lebten weitgehend getrennt voneinander. Auch wenn man sich im Alltag und auf der Straße begegnete, hieß dies nicht, dass persönliche Beziehungen gepflegt wurden oder Kenntnisse über die Lebensumstände der anderen bestanden. Der Fortbestand der osmanischen Regelungen zum Personalstatut, nach 45 Hopwood 1969:201–207; Porath 1974:295–298; Tsimhoni 1978; Roussos 1995:219–221; Krämer 2015:237–238. ʻIsa al-ʻIsa war einer der führenden Aktivisten in der orthodoxen Bewegung. In seiner Zeitung Filasṭīn ließ er in einer eigenen Rubrik Nachrichten aus der orthodoxen Gemeinschaft erscheinen. Filasṭīn berichtete ausführlich über den Streit im griechisch-orthodoxen Patriarchat und unterstützte die Ansprüche der palästinensischen Gläubigen auf größeren Einfluss auf die Leitung ihrer Kirche. Shomali 1995:232. 46 Tsimhoni 1978b:84–86; Kreutz 1990:38, 46; Zimmer-Winkel 2010:151. 47 1922 waren fast 40 % der Angestellten des Senior Service Christen, 47 % im Junior Service. Im Senior Service sank der Anteil der Christen bis 1930 auf 34 %, im Junior Service auf 37 % (1929). Dies ging allerdings nicht zugunsten der Muslime, sondern zugunsten der Juden, die ihre Position ausbauen konnten. Löffler 2008:419. 48 Krämer 2015:206.

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dem Eheschließung, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaften in die Autonomie der einzelnen Religionsgemeinschaften und ihrer religiösen beziehungsweise juristischen Instanzen fielen, förderte diese Trennung. Die Teilung des Bildungswesens vertiefte die Trennung zwischen den Gemeinschaften ebenfalls: Die jüdischen Privatschulen waren hebräisch- oder europäisch-sprachig. Die christlichen Schulen wurden teils von Missionaren, teils von den lokalen Kirchen getragen und waren zum Teil europäisch-sprachig. Die arabisch-muslimischen Schulen wurden entweder vom Obersten Muslimischen Scharia-Rat kontrolliert oder es handelte sich um öffentliche, arabisch-sprachige Schulen, die aus den osmanischen Staatsschulen hervorgegangenen waren.49 Eine Ausnahme bildete die Patriotic Constitutional School (al-Madrasa al-dustūriyya al-waṭaniyya). Sie war bereits 1909 vom griechisch-orthodoxen Christ Khalil al-Sakakini als säkulare Privatschule in Jerusalem gegründet worden. Als wegweisendes Projekt sollten dort Muslime, Christen und Juden eine Erziehung im Sinne der liberalen Verfassungsbewegung erhalten. Die Schule behielt in der Mandatszeit ihre Bedeutung.50 Trotz der Bemühungen um die Verbesserung des muslimischen Schulwesens unterschieden sich die Bildungsstände erheblich. So betrug die Analphabetenrate 1931 unter den Muslimen 75 Prozent unter Männern und 97 Prozent unter Frauen, unter Christen 24 Prozent unter Männern und 56 Prozent unter Frauen, während unter Juden die Rate im Durchschnitt nur bei 14 Prozent lag. 1944/45 besuchten fast alle jüdischen und christlichen Kinder eine Schule, allerdings nur ein Drittel der muslimischen Kinder.51 Christen lebten während der Mandatszeit überwiegend in den Städten (1935: 79 Prozent; im Vergleich zu 27 Prozent der Muslime), vor allem in Jerusalem, Bethlehem, Ramallah, Jaffa, Haifa und Nazareth. Was die Berufe anging, arbeiteten 1931 18 Prozent der Christen in der Landwirtschaft (gegenüber 64 Prozent der Muslime und 15 Prozent der Juden), 25 Prozent in Industrie und Gewerbe (gegenüber 10 Prozent der Muslime und 29 Prozent der Juden), 19 Prozent im Handel (gegenüber 13 Prozent der Muslime und 22 Prozent der Juden) und 8 Prozent in freien Berufen und in der Verwaltung (gegenüber 1,5 Prozent der Muslime und 10 Prozent der Juden). Analog zur Urbanisierung stellt man also eine Konzentration von Christen im Handwerk und in den freien Berufen sowie in der Verwaltung fest. Christen empfanden daher die jüdischen Einwanderer, die oftmals die gleichen Berufe in Gewerbe und freien Berufen ausübten, als stärkere Konkurrenz als die Muslime, die mehrheitlich in der Landwirtschaft tätig waren.52

49 Krämer 2015:207–213. 50 Khalidi 2010:50; Campos 2011:84–85. Khalil al-Sakakini hatte 1910 auch eine Zeitung mit den Namen al-Dustūr („Die Verfassung“) gegründet, in der er seine Ideen verbreitete. Die Zeitung musste ihr Erscheinen während des Ersten Weltkriegs allerdings einstellen. Daneben klagte er über die Unterdrückung durch den griechischen Klerus seiner Kirche und forderte die Befreiung von ihrem „Joch“. Shomali 1995:229; Campos 2011:53. 51 Krämer 2015:211. 52 Himadeh 1938:12–14, 33–34; Kreutz 1990:38, 48; Krämer 2015:217–218.

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Die Christen und der Mufti: Entfremdung zwischen christlichen und muslimischen Palästinensern Die Eintracht zwischen Christen und Muslimen war allerdings nicht immer ungetrübt. Dies führte dazu, dass das Engagement von Christen in der Nationalbewegung schon ab 1923 spürbar abnahm. Dafür lässt sich unter den Christen Palästinas eine erhöhte Bereitschaft zur Kooperation mit der Mandatsverwaltung feststellen sowie vermehrt politische Aktivitäten in den Reihen der Opposition. Dafür werden mehrere Gründe geltend gemacht: Die Sympathien vieler Muslime für den Befreiungskampf Kemal Atatürks in Anatolien, der sich unter anderem gegen die Griechen richtete, bereitete gerade unter dem griechisch-stämmigen Klerus Palästinas Sorge. Einige Kleriker hatten sich mit der griechischen Bevölkerung Anatoliens und der griechischen Militäraktion solidarisiert. Dies hatte die muslimische Bevölkerung Palästinas verärgert. Ein weiterer Grund mag der Streit um die Nachfolge des 1924 verstorbenen Bürgermeisters von Nazareth sein; dieser hatte konfessionelle Züge angenommen. Des weiteren stifteten die zunehmende Präsenz ausländischer christlicher Missionare sowie die Organisation zweier internationaler Missionskongresse in Jerusalem 1924 und 1928 Unmut unter den Muslimen und trübten das Verhältnis zwischen den beiden Religionsgemeinschaften.53 Hauptgrund für die Entfremdung vieler Christen von der palästinensische Nationalbewegung dürfte aber deren zunehmend islamischer Charakter gewesen sein. Der Supreme Moslem Council unter dem Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, spielte in der Nationalbewegung eine immer wichtigere Rolle, ja der Mufti wurde zu ihrer Symbolfigur. Einen ersten Höhepunkt fand die Islamisierung in den Klagemauer-Unruhen von 1929. Für viele Christen war dies ein Grund zur Verstörung. Es trieb nicht wenige von ihnen in die Reihen der politischen Opposition um den Jerusalemer Bürgermeister Raghib al-Nashashibi. Zwar bemühte sich der Mufti nach außen um die Einheit von Christen und Muslimen, aber vielen Christen schien er ein doppeltes Spiel zu spielen. Im Kampf um die Führungsrolle in der Nationalbewegung, die in den 1930er Jahren von der Opposition unter Raghib al-Nashashibi immer mehr in Frage gestellt wurde, nutzte der Mufti nämlich den zunehmenden religiösen Eifer der Muslime für seinen Kampf um die Macht.54 Der Mufti, Amin al-Husseini, hatte bereits seit den 1920er Jahren versucht, die Aufmerksamkeit der Muslime weltweit auf Palästina zu lenken. Dazu trieb er gezielt die Verschönerung der islamischen Stätten voran mit dem Ziel, die Heiligkeit Jerusalems in den Augen der Muslime zu steigern. Außerdem wollte er die Bedrohung der heiligen 53 Krämer 2015:237–238. 1924 war eine Tagung der „Mohammedanermission“ in Jerusalem abgehalten worden, gegen die verschiedene muslimische Vereine protestierten. Beim Kongress 1928 waren 200 protestantische Missionstheologen aus aller Welt in Jerusalem zusammengekommen. Der Kongress selbst war nicht auf große lokale Öffentlichkeitswirkung angelegt. Jedoch nutzte ihn der Mufti, um gegen die als religiös liberaler geltenden Nashashibis seine konservativ-muslimische Haltung herauszustellen und die muslimischen Massen für sich zu mobilisieren. Löffler 2008:422–426. 54 Porath 1974:298–303.

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Stätten durch die zionistische Einwanderung ins Bewusstsein rufen. Das Gleichgewicht zwischen Juden und Muslimen war gerade an der Klagemauer äußerst prekär. Sie wurde von Juden als westliche Umfassungsmauer und letzter Überrest des hero­dia­ nischen Tempels verehrt, von Muslimen dagegen als Ort des Aufstiegs des Propheten Muhammad in den Himmel. Restriktionen durch die britischen Behörden gegenüber betenden Juden am Yom-Kippur-Fest 1928 führten am Gedenktag der Tempelzerstörung (Tishʼa be-Av) 1929 zu Demonstrationen zionistischer Jugendlicher an der Klagemauer. Die Muslime sahen dadurch den Tempelberg bedroht. Am folgenden Tag, an dem der Geburtstag des Propheten Muhammad begangen wurde, griff nach dem Gebet ein muslimischer Mob die jüdischen Viertel Mea Shearim und Yemin Moshe an. Die Unruhen dauerten eine Woche; am Ende waren rund 250 Tote (je etwa zur Hälfte Juden und Araber) zu beklagen. Die von den britischen Behörden verurteilten Rädelsführer wurden von der arabischen Bevölkerung als Helden gefeiert. Zwar hatten sich den Ausschreitungen gegen die Juden auch einige arabische Christen angeschlossen, die Parolen waren jedoch rein islamisch und auf die Verteidigung der al-Aqsa-Moschee konzentriert. Die Unruhen hatten so stark islamisch-religiösen Charakter, dass sich Christen kaum damit identifizieren konnten.55 Zur Entfremdung zwischen Christen und Muslimen trug auch die 1928 gegründete Vereinigung Muslimischer Junger Männer (Young Menʼs Muslim Association, YMMA) bei. Sie hatte offen anti-christlichen Charakter und kämpfte gegen die Überrepräsentation von Christen in der Verwaltung. Dadurch kam es zu Spannungen mit den arabischen Christen. In verschiedenen Städten griffen muslimische Banden sogar Christen an. In Lydda schändeten sie eine Kirche. Auf der anderen Seite rief die YMMA zum bewaffneten Widerstand gegen die Zionisten auf, so bei einer Versammlung in Nablus im September 1931. Die Spaltung in Anhänger und Gegner des Muftis wurde in den 1930er Jahren immer deutlicher. Christen suchten dabei zunehmend Abstand von Amin al-Husseini. Die Nashashibi-Familie hatte im November 1929 die Palestinian Arab National Party gegründet. Parteiorgan wurde die Zeitung Mirʾāt al-Šarq des Christen Bulus Shihada. Die Partei war zwar anti-zionistisch und forderte eine Regierung und ein Parlament für Palästina, befürwortete jedoch eine stärkere Kooperation mit den britischen Mandatsbehörden und kritisierte die Fundamentalopposition der Nationalbewegung unter Führung des Muftis.56 Die Partei ging 1934 in der Partei der Nationalen Verteidigung (NDP, Ḥizb al-difāʿ al-waṭanī) auf. In ihr wirkten auch mehrere Christen in führender Position mit, meist reiche Grundbesitzer und Unternehmer, so Yaʼqub Farraj (griechisch-orthodox und stellvertretender Bürgermeister Jerusalems) und Yusuf Sahyun. 55 Krämer 2015:266–271. 56 Porath 1974:222–224. Auch die Zeitung al-Karmil, die sich in christlicher Herausgeberschaft befand, wechselte ins Lager der von Nashashibi geführten Opposition. Al-Karmil erlebte allerdings in den Folgejahren einen Rückgang seiner Auflage und stellte sein Erscheinen 1942 ein, während das christliche Konkurrenzblatt Filasṭīn trotz Auflagenrückgang bis zum Ende der Mandatszeit eine der führenden Zeitungen blieb. Ayalon 1995:98–99.

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Der Mufti versuchte dem durch die Gründung einer eigenen Partei etwas entgegen zu setzen. So wurde 1935 die Palästinensisch-Arabische Partei (PAP, al-Ḥizb al-ʿarabī al-filasṭīnī) ins Leben gerufen. Um ihren interreligiösen Charakter zu verdeutlichen, diente in ihr der griechisch-katholische Unternehmer Alfred Rok aus Jaffa als Vizepräsident. 1944 übernahm der Christ Emile al-Ghuri sogar den Vorsitz der Partei.57 Obwohl einzelne Christen weiter auf der Seite des Muftis aktiv waren, trat Mitte der 1930er Jahre ein Riss ein. Die britische Regierung hatte im Dezember 1935 einen Vorschlag für einen Legislativrat (legislative council) vorgelegt, der von der Nationalbewegung als unzureichend abgelehnt worden war. Im März 1936 erklärten Yaʼqub Farraj (als Vertreter der Opposition) und Alfred Rok (als Vertreter der Nationalbewegung und der Partei des Muftis) hingegen im Namen der christlichen Palästinenser ihr grundsätzliches Einverständnis mit dem Vorschlag. Auf muslimischer Seite wurde diese einseitige christliche Zustimmung als Verrat kritisiert.58 Es verhinderte allerdings nicht, dass Alfred Rok für die Nationalbewegung und Yaʼqub Farraj für die Opposition in das im April 1936 gegründete Higher Arab Committee berufen wurden (die Arabische Exekutive war mit dem Tod Musa Kazim al-Husseinis 1934 erloschen).59 In den 1930er Jahren beunruhigten die verstärkte jüdische Einwanderung sowie die umfangreichen Landverkäufe an Juden die arabische Bevölkerung. Der Mufti und andere islamische Gruppen erklärten palästinensischen Boden für heilig; er dürfe keinesfalls an Juden veräußert werden. Auch die muslimisch-christlichen Vereinigungen und das Arabische Exekutivkomitee setzten sich aktiv gegen Landverkäufe ein und riefen dazu auf, bereits verkauftes Land nicht zu verlassen. Der Supreme Moslem Council bemühte sich darum, auch christliche Geistliche an der Kampagne zu beteiligen, die Antwort der Christen war aber eher zurückhaltend.60 Es kam zu immer mehr Zusammenstößen zwischen arabischen Pächtern und Landarbeitern mit den neuen 57 Porath 1977:75–76; Krämer 2015:298–299, 359–360. Al-Ghuri hatte bereits 1935 die Jugendorganisation Futuwwa gegründet. Sie wurde während der Arabischen Revolte von den Briten aufgelöst, war in den 1940er Jahren aber wieder tätig und hatte zahlreiche Mitglieder. Emile al-Ghuri war zeitweise von den Briten zum Exil verurteilt und kehrte Anfang 1942 nach Palästina zurück. Als führendes Mitglied der PAP und Vertrauter des Muftis verteidigte er dessen Politik der Fundamentalopposition gegen das McDonald Weißbuch, in dem die britische Regierung 1939 die Teilung Palästinas (Peel-Plan von 1937) zugunsten einer gemeinsamen arabisch-jüdischen Regierung zeitweilig aufgegeben hatte. Khalaf 1991:89–93, 143–145. 58 Porath 1977:151–153. 59 Porath 1977:165. 60 Öffentlich bekannt und kritisiert wurden die Landverkäufe der christlichen Familien Sursuq (aus Beirut) in Galiläa und Khoury (ebenfalls aus dem Libanon) im Hule-Gebiet. Die Sursuqs hatten 1872 nach dem osmanischen Landgesetz von 1858, das erstmals dauerhaft Privateigentum an Land zuließ, große Flächen in der Yesreel-Ebene (arabisch: Marj ibn ʻAmir) im Norden Palästinas, die damals zum Vilayet Beirut gehörte, erworben. Sie betrachteten ebenso wie ihre Geschäftspartner, die Familie Tueiny, die Landkäufe als Investition und blickten in erster Linie auf den daraus zu ziehenden Gewinn. Bereits 1910 hatte Elias Sursuq gegen den Widerstand der lokalen Bauern eine große Fläche Land bei al-Fula and den Keren Kayemeth LeIsrael, den Jewish National Fund, verkauft. 1924–1925 verkauften die Familie Sursuq und eine Reihe ihrer libanesischen Geschäftspartner weitere große Landstriche in der Yesreel-Ebene an die Zionisten (22 % der Landflächen, die vor 1948 von Juden in Palästina erworben wurden).

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jüdischen Eigentümern. Aufrufe zur Politik des zivilen Ungehorsams wurden laut. Im März 1933 schloss sich dem auch das Exekutivkomitee an. Im Oktober wurde zum Generalstreik aufgerufen, bei dem es vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam.61 Der zunehmende Unmut machte sich im Arabischen Aufstand der Jahre 1936 bis 1939 Luft. Er begann im April 1936 als Streik in den Städten und weitete sich im Juni und Juli auf das ganze Land aus, vor allem in die Region Nablus, Jenin und Tulkarm. Die erste Phase endete mit dem Beginn der Zitrusernte im Frühjahr 1937. Die Lohneinnahmen waren für die arabischen Landarbeiter unverzichtbar. Daher beendeten sie den Streik und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Der Aufstand brach mit größerer Heftigkeit aus, als die von der britischen Regierung eingesetzte Peel-Kommission, die die Gründe für den Aufstand untersucht hatte, einen Teilungsplan für Palästina vorlegte. Nach diesem Plan sollten die fruchtbare Küstenebene sowie die Ebenen Galiläas in einen jüdischen, das Bergland und der gesamte Süden in einen arabischen Teil eingehen. Wie ein Keil hätte sich schließlich ein britisches Mandatsgebiet von Jaffa bis Jerusalem unter Einschluss Bethlehems zwischen diese Gebiete gelegt. Die Heiligen Stätten hätten so weiterhin unter britischem Mandat gestanden. Damit lag erstmals ein Plan für die Teilung Palästinas auf dem Tisch. Die Reaktion der Araber war heftig, vor allem in Galiläa, das in den jüdischen Teil fallen sollte; hier äußerte auch die lokale christliche Bevölkerung vehementen Protest. Grégoire Haggiar, der melkitische Bischof von Haifa, Akko und Galiläa, sprach sich im Namen der Gemeinschaft gegen die Teilung aus, machte aber auch klar, dass die Alternative dazu aus seiner Sicht die Fortführung des britischen Mandats und nicht die vollständige Unabhängigkeit sei.62 Das Higher Arab Committee rief zur Ablehnung des Teilungsplans, zur Einrichtung eines arabischen Staats in ganz Palästina und zum Ende der jüdischen Einwanderung auf.63

61 Porath 1977:98; Krämer 2015:277–296. 62 Porath 1977:228. Der Vatikan bat die britische Regierung in einer Note, neben Jerusalem und Bethlehem auch die Heiligen Stätten in Nazareth, am See Genezareth und auf dem Berg Tabor weiterhin dem Mandat zu unterstellen sowie im jüdischen und arabischen Teil effektive Garantien zum Schutz der christlichen Bevölkerung zu verankern. Rokach 1987:19; Kreutz 1990:63–64. Der anglikanische Bischof in Jerusalem, George Francis Graham Brown, verstand sich als Vermittler zwischen der arabischen und der jüdischen Seite. Während des arabischen Aufstands 1936 empfahl er der Regierung einen Stopp der jüdischen Immigration, um das Vertrauen der arabischen Seite zurückzugewinnen. Mit öffentlichen Äußerungen hielt er sich jedoch zurück. Unter Aufnahme von Vorstellungen des in den 1920er aktiven Berith Shalom, eines Kreises jüdischer Intellektueller, die für einen binationalen arabisch-jüdischen Staat in Palästina eingetreten waren, schlugen Graham Brown, der anglikanische Christ Izzat Tannous und der Rektor der Hebräischen Universität, Yehuda Magnes, 1937/38 vor, Juden und Araber an der Regierung Palästinas unter britischer Hauptverantwortung zu beteiligen, die Ausweitung des jüdischen Bevölkerungsanteils zu stoppen und dafür den Juden Autonomie einzuräumen. Der Erzbischof von Canterbury, Cosmo Gordon Lang, stand hingegen den von Chaim Weizmann vertretenen zionistischen Forderungen näher. Löffler 2008:229–238. 63 Alfred Rok, der sich zu Beginn des Aufstands im Ausland aufhielt, wurde zusammen mit anderen Mitgliedern des Higher Arab Committee von den Briten die Rückkehr nach Palästina verweigert. Porath 1977:235.

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Die Folge des Teilungsplans war offener Aufstand: In den Städten wurde auch weiter friedlich gestreikt und passiver Widerstand gegen die Mandatsbehörden angewandt. Auf dem Land bildeten sich hingegen Einheiten von Bauern und Landarbeitern, die bewaffnete Angriffe ausführten. Ihre Aktivitäten richteten sich auch gegen vermutete „Verräter“ aus der urbanen, arabischen Mittelschicht, der viele Christen angehörten und die ihrer Meinung nach den Aufstand nicht eifrig genug unterstützte. Banden von Aufständischen erzwangen finanzielle Beiträge der Wohlhabenderen. So wurde die Mittelschicht dem Aufstand immer mehr entfremdet. Die Aktionen des Aufstands wurden auf arabischer Seite von einer Vielzahl von Gruppen getragen, an Koordination mangelte es. Der Mufti Amin al-Husseini wurde von den Briten im Zuge des Aufstands abgesetzt. Er konnte ins Ausland fliehen und versuchte eine Zeit lang, vom französischen Mandatsgebiet aus weiter Einfluss zu nehmen. Eine immer größere Rolle spielte auch der Islam. Zwar wurden christliche Gefallene des Aufstands wie Muslime als Märtyrer verehrt, dennoch beunruhigten die zunehmend islamischen Züge und die Aufrufe zum Dschihad viele christliche Palästinenser. Ihre Beteiligung am Aufstand blieb insgesamt gering.64 Ende 1938 verlegten die Briten zusätzliche Truppen nach Palästina, Anfang 1939 gelang es ihnen schließlich, durch ihre militärische Übermacht den Aufstand zu beenden. Der Peel-Plan wurde auf Eis gelegt.65 In der schwierigen Situation des Aufstands schuf der palästinensische Christ George Antonius mit seinem Buch The Arab awakening (London, 1938) für die westliche Welt den Mythos der von Christen und Muslimen gemeinsam getragenen arabischen Nationalbewegung. Bis heute berufen sich arabische Palästinenser nationalistischer Gesinnung gern auf Antonius, um den gemeinsamen Kampf von Christen und Muslimen gegen die britische Mandatsmacht und die zionistische Einwanderung darzustellen.66 In der Wirklichkeit hatten sich Christen und Muslime Palästinas genauso wie die städtische Mittelschicht und die Landbevölkerung weit voneinander entfernt. Diese Entfremdung sollte erst durch das gemeinsam erlittene Leid bei der Vertreibung des Jahres 1948 überwunden werden. Auch die Beteiligung von Christen an der Nationalbewegung und ihr Engagement in den Parteien der Opposition kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die christlichen Führer jeweils nur Anhang eines muslimischen Führers waren und keine eigene Führungsrolle spielten. Letztlich ging es der muslimischen Seite mehr darum, nach außen Eintracht zu demonstrieren, als Christen eine eigene Position zuzugestehen.

Der Weg zur Teilung Palästinas Im Mai 1939 legte die britische Regierung mit dem MacDonald-Weißbuch einen neuen Plan zur Beruhigung der Situation in Palästina auf den Tisch. Das Weißbuch sah vor, 64 Einige christliche Dörfer weigerten sich sogar, die Aufständischen mit Lebensmitteln zu versorgen und erst recht Kämpfer und Waffen zu stellen. Kreutz 1990:60. 65 Zum Arabischen Aufstand: Porath 1977:264–271; Krämer 2015:314–340. 66 Feldtkeller 1998:340–341.

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die jüdische Einwanderung stark zu begrenzen. Außerdem erklärte die britische Regierung darin, dass sie gegen den Willen der arabischen Bevölkerung in Palästina keinen jüdischen Staat einrichten werde. Diese Politik stieß auf heftigen Widerstand der Zionisten. Auf arabischer Seite waren die Reaktionen geteilt: manche sahen darin einen Triumph über die Zionisten, andere verwiesen darauf, dass das Recht auf die Einrichtung eines arabischen Staats auf dem gesamten Territorium Palästinas weiterhin nicht anerkannt werde.67 Zu letzteren gehörte der im Exil lebende Mufti Amin al-Husseini. Fuʼad Saba (ein Christ aus Jerusalem und ehemaliger Sekretär des Arab Higher Comittee) und George Antonius (ehemaliger Angestellter in der Zivilverwaltung des Mandats und Nationalist) kritisierten dagegen dessen unnachgiebige Haltung in der Frage des Weißbuchs.68 Christen waren auch nach dem arabischen Aufstand weiter politisch aktiv und zwar auf allen Seiten. Einige engagierten sich in der kommunistisch beeinflussten Arab League for National Liberation (ALNL), die 1944 gegründet und von Emile Tuma aus Haifa geleitet wurde. Zu prominenten christlichen Mitgliedern zählten Emile Habibi, Bulus Farah und andere. Die Partei verband nationalistische Ziele mit radikalen sozio-ökonomischen Reformen, forderte den Stopp der jüdischen Immigration, das Ende des Mandats und die vollständige Unabhängigkeit Palästinas. Juden sollten in einem demokratischen Palästina die gleichen bürgerlichen Rechte haben wie alle anderen. Die Partei widersetzte sich offen dem Mufti und dem Arabischen Hochkomitee. 69 Im kurzlebigen neuen Arab Higher Committee von April 1946 arbeiteten neben Emile al-Ghuri die beiden politisch unabhängigen Christen Izzat Tannous (Arzt und Geschäftsmann aus Jerusalem, anglikanisch) und Antoine Attallah (griechisch-orthodoxer Notabler und Geschäftsmann aus Jerusalem) mit. Das Gremium wurde allerdings auf der von den arabischen Staaten im Juni 1946 einberufenen Konferenz im syrischen Bludan aufgelöst und ging in die Arab Higher Executive (AHE) über. Diese wurde vom Mufti dominiert, der im Juni 1946 aus Frankreich (wohin er sich nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg zunächst zurückgezogen hatte) nach Ägypten gekommen war.70 Im Bait al-Māl, das ab 1946 eine Art Finanzministerium der inoffiziellen arabischen Selbstverwaltung sein sollte, arbeiteten im Administrative Council die Christen Henry Cattan (Jerusalem, Anwalt/Landbesitzer), Yusuf Sahyun (Haifa, Anwalt/Landbesitzer), Tawfiq Canaan (Jerusalem, Arzt) und Butrus Malak (Jaffa, Anwalt/Landbesitzer) mit.71

67 Krämer 2015:340–342. Der Vatikan erinnerte in Vorbereitung auf ein Treffen zwischen Papst Pius XII. und dem britischen Premierminister Winston Churchill im Herbst 1944 daran, dass „der Heilige Stuhl sich immer gegen die jüdische Herrschaft in Palästina ausgesprochen“ habe und dass die Übergabe der Macht in Palästina an die Juden „alle Christen verletzen und in ihre Rechte eingreifen“ würde. Kreutz 1990:78. 68 Khalaf 1991:74. 69 Khalaf 1991:41–43. 70 Khalaf 1991:120–125. 71 Khalaf 1991:137–143.

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Die katholische Hierarchie stand den politischen Aktivitäten ihrer Gläubigen reserviert gegenüber, vor allem dem Engagement in säkularen Parteien, die für die Aufhebung der konfessionellen Schranken und für die Beschneidung der Zuständigkeit der Religionsgemeinschaften in Fragen des Personenstandsrechts kämpften.72 Das Gleiche gilt für das griechisch-orthodoxe Patriarchat, das die Ziele der palästinensischen Natio­nalisten von Anfang an kritisch gesehen hatte. Die britische Regierung setzte auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Politik des Weißbuchs fort und versuchte die jüdische Einwanderung mit allen Mitteln zu verhindern. Ab Herbst 1945 verübten jüdische Organisationen daher zahlreiche Anschläge und Sabotageakte. Dieser „hebräische Aufstand“ wurde nicht nur von den extremistischen Organisationen Irgun und Lehi getragen, die bereits vorher Terrorakte verübt hatten, sondern auch von Angehörigen der Hagana, den offiziellen Verteidigungseinheiten des Yishuv. Auch die politische Führung des Yishuv, unter anderem David Ben-Gurion, billigten den Aufstand. Ziele der Anschläge waren britische Zivil- und Militäreinrichtungen. Araber spielten für die jüdischen Aktivisten allenfalls eine Nebenrolle, denn nicht sie, sondern die britische Mandatsmacht standen der Schaffung eines jüdischen Staats vornehmlich im Weg. Im Juni 1946 internierten die britischen Behörden die politische Führung der Juden für mehrere Monate im Lager Latrun. Blutiger Höhepunkt des Aufstands war der Anschlag des Irgun auf den Südflügel des King-David-Hotels in Jerusalem, wo der britische Generalstab untergebracht war. Dabei kamen 91 Menschen ums Leben, zahlreiche wurden verletzt.73 Die britische Politik war gescheitert. Der unauflösliche Gegensatz zwischen zionistischen und arabischen Interessen, der erbitterte Widerstand der zionistischen Organisationen gegen die Einwanderungsbeschränkungen sowie die arabische Kritik an jeglichen Zugeständnissen gegenüber den Zionisten veranlassten Großbritannien schließlich, die Palästina-Frage 1947 in die Hände der neu gegründeten Vereinten Nationen zu legen.

Katastrophe oder Hoffnung? Die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel Nakba: Flucht und Vertreibung Die Vereinten Nationen entsandten eine Kommission nach Palästina, die die Verhältnisse dort untersuchen sollte. Sie wurde von jüdischer Seite umfassend informiert, von arabischer Seite aber boykottiert. Auf Grundlage des Berichts beschloss die UNO am 29. November 1947 die Teilung Palästinas nach einem Plan, der den Juden noch einen weit größeren Teil Palästinas zusprach als der Peel-Plan von 1937. Die Weltgemeinschaft blickte entsetzt auf die Vernichtung von sechs Millionen europäischer 72 Kreutz 1990:80. 73 Krämer 2015:355–356.

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Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und sah sich moralisch verpflichtet, für die Holocaust-Überlebenden einen sicheren Hafen in Palästina zu errichten. Die britische Regierung kündigte nach dem UN-Teilungsbeschluss an, ihr Mandat am 14. Mai 1948 niederzulegen. Vorkehrungen für eine friedliche Machtübergabe traf sie nicht.74 Während die orientalischen katholischen Patriarchen und die Ostkirchenkongregation in Rom Sympathien für die Unabhängigkeit eines arabischen Palästinas hegten, hielt sich der ausländische katholische Klerus im Heiligen Land mit Blick auf die palästinensisch-arabische Nationalbewegung stark zurück und vertrat eine Politik der vorsichtigen Neutralität. Der Vatikan hatte bis zum Teilungsbeschluss der UN eine Teilung Palästinas abgelehnt. Den Beschluss der UN akzeptierte er nur, weil er die Internationalisierung Jerusalems und Bethlehems und damit der wichtigsten Heiligen Stätten vorsah. Nach dem Beschluss wären 44.850 der 205.512 Bewohner der internationalen Zone Christen gewesen (22 Prozent). Im arabischen Teil hätten Christen 46.340 von 726.970 (6,4 Prozent), im jüdischen 53.870 von 897.980 (6 Prozent) Bewohnern ausgemacht. In der Folge arbeitete die vatikanische Diplomatie auf Grundlage der inoffiziellen Anerkennung des UN-Teilungsplans vom 29. November 1947.75 Das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem dagegen fürchtete eine katholische Vormachtstellung in einem internationalisierten Jerusalem und lehnte es daher ab. Patriarch Timotheos forderte in einem Brief an die Vereinten Nationen die volle Berücksichtigung der Position des Patriarchats bei Entscheidungen bezüglich der Heiligen Stätten. Die Einstellung des griechischen Patriarchats lag somit nah bei der der Zionisten, die ebenfalls ein internationalisiertes Jerusalem ablehnten.76 Die arabische Seite reagierte entsetzt auf den UN-Beschluss. Das von der Arabischen Liga 1946 als Vertretung der Palästinenser eingesetzte Arab Higher Committee – der Forderung von Amin al-Husseini nach Bildung einer palästinensischen Exilregierung hatte sich König Abdallah von Jordanien widersetzt, der selbst nach einer Vormachtstellung im arabischen Teil Palästinas strebte – rief im Dezember 1947 zu einem Generalstreik auf, der sich schnell zu einem Aufstand ausweitete. Dieser verlief von arabischer Seite jedoch erneut völlig unkoordiniert, während die jüdischen Verteidigungsorganisationen gezielt und geordnet vorgingen. Von beiden Seiten wurden Angriffe auf Siedlungen der jeweils anderen Seite ausgeführt. Die jüdischen Einheiten des Irgun führten jedoch auch gezielt Terroraktionen durch und verübten, so der Vorwurf der Palästinenser, Massaker und Massenvergewaltigungen an der Bevölkerung 74 Krämer 2015:350–358. 75 Kreutz 1990:91, 112–113; Koltermann 2011:33–39. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) kam auf seiner Gründungsversammlung im August 1948 nicht zu einer politischen Positionierung bezüglich der Palästina-Frage und rief stattdessen dazu auf: „Wir rufen die Nationen dazu auf, das Problem nicht als – politisches, strategisches oder wirtschaftliches – Problem der Zweckmäßigkeit, sondern als moralische und spirituelle Frage zu behandeln, die das Nervenzentrum des religiösen Lebens der Welt berührt.“ „We appeal to the nations to deal with the problem not as one of expediency – political, strategic or economic – but as a moral and spiritual question that touches a nerve center of the worldʼs religious life.“ Merkley 2001 p. 45. 76 Roussos 2003:48.

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arabischer Dörfer, um Angst und Schrecken zu verbreiten. So sollten die Bewohner anderer arabischer Siedlungen zur Flucht zu bewegt werden. Bekanntestes und folgenreichstes Beispiel ist die Ermordung der arabischen Bevölkerung von Deir Yasin am 9. April 1948. Gezielte Drohungen taten ein Übriges. Gerade aus den gemischten Städten Haifa, Jaffa und Jerusalem flohen Zehntausende Araber.77 Am 3. März 1948 beklagten das lateinische Patriarchat in Jerusalem und die Kustodie vom Heiligen Land in einer gemeinsamen Erklärung die „Verletzung der Heiligkeit des Heiligen Landes, das durch seine Natur und Geschichte unteilbar ist, und [ … den] Eingriff in die natürlichen Rechte der Araber, des Volkes des Landes.“78 Bis zum Ausbruch des arabisch-israelischen Kriegs Mitte Mai 1948 waren bereits 300.000 Araber aus dem nun mehrheitlich jüdischen Gebiet geflohen. Mit der Ausrufung des Staats Israel durch David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 rückten Einheiten der ägyptischen, jordanischen, irakischen, syrischen und libanesischen Armee, unterstützt von kleineren Kontingenten aus Saudi-Arabien und dem Jemen, gegen den neuen Staat vor. Allerdings erfolgten die Operationen weitgehend ohne zentrale Koordination. Die israelischen Einheiten, die aus den jüdischen Verteidigungsorganisationen hervorgegangen waren, waren deutlich besser trainiert und ausgerüstet und trotz der Vielzahl der Angreifer (die allerdings selbst gerade erst in die Unabhängigkeit entlassen worden waren und deren Armeen sich erst im Aufbau befanden) zahlreicher. König Abdallah strebte zudem vornehmlich nach der Kontrolle über das arabisch besiedelte Bergland und Ostjerusalem, ging also gar nicht gegen jüdisches Territorium vor. Während des Kriegs verhielten sich viele christliche Palästinenser passiv, die Drusen unterstützten sogar zum größten Teil Israel. Am Ende des Kriegs im Juli 1949 waren über 400 arabische Dörfer verlassen oder zerstört; die Bevölkerung ins palästinensische Bergland oder in die Nachbarländer Jordanien, Syrien und den Libanon geflohen. Von den 1,4 Millionen Arabern war etwa die Hälfte, 700.000 bis 760.000, geflohen, mehrere hunderttausend davon in die Westbank. Von den 135.000 Christen Palästinas waren etwa 88.000 auf der Flucht. Bei den Kampfhandlungen wurden auch zahlreiche Kirchen und Klöster in Galiläa profaniert und geplündert. Besonders hart traf es die christliche Bevölkerung Jerusalems. Rund die Hälfte davon, meist Angehörige der mittelständischen Berufe, hatte in den komfortablen westlichen Vierteln der Stadt gelebt und war von dort in den Ostteil vertrieben worden. Eine Rückkehr war ihnen nicht erlaubt.79 Israel widersetzte sich überhaupt jeglichem Rückkehrrecht. 77 In Jaffa und Haifa waren es christliche Palästinenser, in Haifa Victor Khayyat und George Muʼammar, in Jaffa Michel al-ʻIsa, die als lokale Führer beziehungsweise Militärführer bis zum Ende standhielten, während ausländische arabische und die meisten muslimischen Führer bereits geflohen waren. Khalaf 1991:224–228. 78 „violation of the sacredness of the Holy Land which, by its nature and history, is indivisible and […] an encroachment on the natural rights of the Arabs, the people of the country.“ Rokach 1987:23–24; Kreutz 1990:99; Zimmer-Winkel 2010:154. 79 Zu den Zahlen zu christlichen Flüchtlingen siehe Kreutz 1990:98, 100 und Mansour 2012:11. Die katholische Hierarchie und die Christian Union of Palestine protestierten mehrfach gegen die Gewalt und Vertreibung; ebenso Papst Pius XII. in der Enzyklika In multiplicibus curis vom 24. Oktober 1948,

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König Abdallah setzte in der Westbank einen Militärgouverneur ein, beanspruchte dieses Gebiet also für Jordanien. Ägypten übernahm die Kontrolle im Gaza-Streifen.80 Am 15. April (Karfreitag) 1949 forderte Papst Pius XII. nachdrücklich die Internationalisierung Jerusalems und ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge.81 Die katholische Kirche unternahm erhebliche Anstrengungen zur Versorgung der Flüchtlinge. Neben einer finanziellen Hilfe von mehr als 6 Millionen US-Dollar in der Zeit von 1948 bis 1950, die zunächst hauptsächlich über die franziskanische Kustodie für das Heilige Land koordiniert wurde, gründete der Vatikan am 4. Juni 1949 die Pontifical Mission for Palestine (PMP). Sie koordiniert seither die Hilfe vor Ort. Bis 1958 wurden 34 Millionen US-Dollar über PMP verausgabt, 270 Sozialstationen verteilten Lebensmittel, Kleidung und Medikamente. 32.500 palästinensische Flüchtlingskinder wurden in Schulen unterrichtet, die von PMP unterstützt wurden. Die Hilfen kamen allen Palästinensern ohne Ansicht ihrer Religion zugute. Mit Büros in Jerusalem, Amman und Beirut spielt sie bis heute eine wichtige Rolle in der Unterstützung der Kirchen vor Ort weit über die Arbeit mit palästinensischen Flüchtlingen hinaus.82 Von evangelischer Seite war vor allem der lutherische Weltbund in der Unterstützung von Flüchtlingen tätig. Von 1948 bis 1960 wurden über 6 Millionen Dollar für die Flüchtlingsarbeit in Jordanien ausgegeben.83 Christen blieben anders als Muslime nicht lange in den Flüchtlingslagern. 1967 lebte nur weniger als 1 Prozent der christlichen Flüchtlinge noch in Lagern, während 27,8 Prozent der muslimischen Flüchtlinge die Lager noch nicht verlassen hatten. Dies spiegelt den höheren Bildungs- und Organisationsgrad der Christen im Vergleich zu den Muslimen wider.84 Die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel traf das palästinensische Christentum empfindlich. Das christliche Schwerpunktgebiet in Galiläa mit Nazareth, Akko, Shafa ʻAmru und zahlreichen Dörfern mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung wurde von Israel erobert. Nach dem UN-Teilungsplan hätten sie zum arabischen Teil gehören sollen. Auch West-Jerusalem, wo weit mehr als die Hälfte der Christen der Stadt gelebt hatte, fand sich im Staat Israel wieder und nicht in einem internationalisierten Jerusalem. Die palästinensischen Christen flohen von dort fast alle in den Ostteil der Stadt. Auch die Städte Jaffa, Ramla und Lydda befanden sich im jüdischen Teil (wie vom Teilungsplan vorgesehen). Die Zahl der christlichen Flüchtlinge, die in der Westbank und Transjordanien Zuflucht fanden, betrug schätzungsweise 29.000, davon 17.000 in Ost-Jerusalem, Bethlehem und Ramallah sowie 9.000 in Amman und Madaba. Andere flohen in den Libanon.85 Rokach 1987:33–41; Koltermann 2001:44–49. Eine emotionale Beschreibung des Schicksals christlicher Dörfer während des Kriegs gibt Mansour 2004:215–241. 80 Médebielle 1963:55–56; Krämer 2015:358–375. 81 Rokach 1987:41–44; Kreutz 1990:93–94; Koltermann 2001:55–59. 82 Rokach 1987:46; Kreutz 1990:100, 113–114; Koltermann 2001:59–61. 83 Raheb 1990:200. 84 Tsimhoni 1993:28. 85 Feldtkeller 1998:368–370 unter Berufung auf Zahlen unter anderem von Betts 1978:67. Auch verschiedene kirchliche Einrichtungen mussten ihre Arbeit im nun israelischen Gebiet aufgeben. So zog

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Die von den Palästinensern als Nakba, Katastrophe, bezeichneten Ereignisse der Jahre 1947 bis 1949 schweißten die palästinensische Bevölkerung zusammen und trugen zur Stärkung der Identität des palästinensischen Volkes bei. Mehr als die Hälfte der Palästinenser war zu Flüchtlingen geworden und fand sich unter prekären Bedingungen in Lagern und Flüchtlingsunterkünften wieder. Die Flüchtlinge waren auf die Hilfe lokaler und internationaler Organisationen angewiesen. Von Israel wurde ihnen das Recht zur Rückkehr auf ihr Land und in ihre Dörfer und Städte verweigert.86 Muslime und Christen hatten dabei dieselben Erfahren gemacht und waren anschließend im gemeinsamen Widerstand vereint. Dies trug sicherlich zur jahrzehntelangen Einheit zwischen diesen beiden Komponenten des palästinensischen Volks bei, die erst seit dem Ende der ersten Intifada und dem Erstarken des Islamismus als Angelpunkt für den Widerstand gegen Israel in den 1990er Jahren zu bröckeln begann.

Christen im jüdischen Staat Am 14. Mai 1948 (nach jüdischem Kalender: 5. Iyar 5708) hatte David Ben-Gurion, der Vorstand der Zionistischen Weltorganisation, die Unabhängigkeitserklärung Israels verlesen und damit die „Errichtung eines jüdischen Staats in Eretz-Israel“ verkündet. Weiter hieß es darin: „Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“ Die Christen, die im Staatsgebiet Israels verblieben waren, etwa 34.000 an der Zahl, fanden sich damit in einem jüdischen Staat wieder. Dies stellte für sie einerseits die Frage nach der Identifikation mit diesem Staat, dessen Landesfahne den Davidstern enthält, dessen Staatswappen die Menora, den siebenarmigen Leuchter, und dessen Nationalhymne Ha-Tikwa („Die Hoffnung“) die „jüdische Seele“ besingt. Auf der anderen Seite stellten sich rechtliche Fragen. Eine geschriebene Verfassung hat Israel bis heute nicht. Die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung stellen zwar Leitlinien dar – so die Interpretation des israelischen Obersten Gerichtshofs –, haben aber keine rechtliche Verbindlichkeit. Palästinensischen Flüchtlingen, die sich außerhalb Israels die Mädchenschule Thalita kumi der evangelischen Kaiserswerther Diakonissinnen, die bis 1939 im Westteil Jerusalems gewirkt hatten, im April 1950 nach Beit Jala, in damals jordanisches Gebiet. Das „Syrische Waisenhaus“, im 19. Jahrhundert von Johann Ludwig Schneller gegründet, musste 1948 seine Arbeit auch in der Außenstelle Nazareth einstellen. Die Gebäude am Hauptsitz in Jerusalem waren bereits 1940 von den britischen Militärbehörden beschlagnahmt und geschlossen worden. Eine neue Einrichtung wurde im Libanon aufgebaut. Heyer 2000:330–332. Die Schmidt-Schule des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande zog ebenfalls vom Westteil Jerusalems in den Ostteil. 86 Khalidi 2010:194.

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befinden, wurde (und wird) kategorisch das Rückkehrrecht und die Nutzung ihres (ehemaligen) Eigentums verwehrt. Auch Palästinenser, die innerhalb Israels vertrieben worden waren oder geflohen waren, durften oft nicht auf ihr Land und in ihre Häuser zurück. Dies betraf auch einige christliche Dörfer in Galiläa sowie die geflohenen christlichen Bewohner von Haifa, Lydda, Ramla und anderen Orten. Damit war von Anfang an eine Ungleichheit gegeben. Von 1948 bis 1966 unterstanden alle Araber in Israel, Christen und Muslime gleichermaßen, der Militärverwaltung. Sie unterlagen damit Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im israelischen Staatsgebiet und hatten damit oft auch Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit. Die Kirchen waren weiterhin vom Staat anerkannt. Sie unterhielten eigene Gerichtshöfe für die Regelung von Personenstandsangelegenheiten, konnten eigene Schulen betreiben, ihren Klerus bestimmen und ihr Eigentum verwalten. Genehmigungen zur Überquerung der Waffenstillstandslinie in Jerusalem wurden an den Klerus vergleichsweise großzügig erteilt, damit sie zwischen dem Sitz der Patriarchate im jordanisch kontrollierten Ost-Jerusalem und den Gläubigen ihrer Kirchen in Israel hin- und herreisen konnten.87 Die arabischen Christen, die 1948 im Staat Israel verblieben waren, erhielten die israelische Staatsbürgerschaft. Allerdings vermerkten alle Ausweispapiere, ob es sich beim Inhaber um einen Juden oder einen Araber handelte. Arabern – und damit den palästinensischen Christen – waren und sind viele sicherheitsrelevante Berufe verwehrt. Außerdem verwehren die Statuten der zionistischen Stiftungen, die einen Großteil des Landes und der sich darauf befindenden Gebäude verwalten, den Verkauf oder die Vermietung an nicht-jüdische Personen. Andere informelle Einschränkungen für die Vergabe von Immobilien beruhen oft auf der Ableistung des Wehrdienstes. Da außer den Drusen arabische Israelis keinen Wehrdienst leisten, sind sie praktisch ausgeschlossen. Zahlreiche Wohn- und Geschäftsgegenden in Israel waren und sind daher christlichen wie muslimischen Arabern versperrt. Arabische Gemeinden werden zudem bei der Vergabe staatlicher Zuschüsse benachteiligt. Bis in die 1980er Jahre erhielten sie nur rund ein Drittel der Zahlungen, die jüdische Gemeinden erhielten; seither bekommen sie etwa die Hälfte. Die städtische Infrastruktur, inklusive Schulen, Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen, ist daher in arabischen Orten deutlich schlechter entwickelt als in jüdischen. Trotz dieser Diskriminierungen, von denen alle Araber betroffen waren (außer den Drusen, die wegen ihrer Israel-freundlichen Haltung im Krieg von 1948 eine Sonderbehandlung erfuhren), begannen sich die meisten Christen mit dem Leben im Staat Israel zu arrangieren; viele von ihnen besser als ihre muslimischen Mitbürger. Auf katholischer Seite unternahm der melkitische Bischof von Haifa, Akko und Galiläa, George Hakim, erhebliche Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen zwischen katholischer Kirche und israelischer Regierung. So konnte er bis zu seiner Wahl auf den Patriarchensitz der melkitischen Kirche im Jahr 1968 auch erfolgreich für die zivilen Rechte und die Eigentumsrechte arabischer Bürger im jüdischen Staat kämp87 Dumper 1995:273.

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fen. Da die meisten Christen in Israel katholische Melkiten waren, war dies von nicht unerheblicher Bedeutung für die Integration von Christen in den jüdischen Staat. Der Bischof selbst sowie alle Priester seiner Diözese traten der Histadrut, dem Allgemeinen Arbeiterverband, bei, der Anfang des 20. Jahrhunderts als zionistischer Verband gegründet worden war und seine Mitglieder gegen Krankheit, Unfälle und Arbeitslosigkeit absicherte. Der Beitritt des Klerus war ein Zeichen der Integration in die israelische Gesellschaft und gleichzeitig die Inanspruchnahme von sozialen Rechten, wie sie jedem israelischen Bürger zustanden.88 Der überwiegend griechische und griechisch-zypriotische Klerus des orthodoxen Patriarchats von Jerusalem nahm nach der Gründung des jüdischen Staats eine eher pro-israelische Haltung ein, wodurch er wie schon in der britischen Mandatszeit von den arabischen Laien weiterhin entfremdet blieb. Als einer der größten Landbesitzer in Jerusalem und Israel war das Patriarchat für die israelische Landnutzungs- und Entwicklungspolitik auf nationaler und lokaler Ebene ein wichtiger Partner. Landverkäufe und langfristige Pachtverträge zwischen dem griechisch-orthodoxen Patriarchat und dem Staat Israel beziehungsweise israelischen Stadtverwaltungen machten viele Projekte erst möglich. So stehen die Knesset (das israelische Parlament), und zahlreiche Regierungsgebäude auf Land, das dem griechischen Patriarchat gehört. Auch andere Landgeschäfte ermöglichten die israelische Stadtentwicklungspolitik in Jerusalem. Dies sicherte zwar dem Patriarchat lange Zeit die Unterstützung der israelischen Behörden, was die Kontrolle des griechischen Klerus über die Eigentumsverwaltung des Patriarchats, die Rechte des Patriarchats an den Heiligen Stätten und den Erwerb von Baugenehmigungen für eigene Projekte anging, verärgerte aber in zunehmendem Maße die palästinensischen Gläubigen, die darin Verrat an ihrer nationalen Sache sahen.89 Aus den gleichen Gründen waren die israelischen Behörden an der Kooperationsbereitschaft des armenischen Patriarchats interessiert. Landverkäufe des Patriarchats in West-Jerusalem und in unmittelbarer Nachbarschaft der Altstadt waren für die jüdische Stadtentwicklung von höchstem Interesse. Jerusalems Bürgermeister Teddy Kollek und das Innenministerium nahmen so in den 1980er Jahren immer wieder Einfluss auf innere Angelegenheiten des Patriarchats und der Jakobs-Bruderschaft und nutzten internen Zwist aus. Als innerhalb der armenischen Gemeinschaft Unmut wegen weitreichender Landverkäufe an die Israel Lands Administration laut wurden und der dafür Verantwortliche, Erzbischof Shahe Adjamian, durch einen neuen Verwalter, den australischen Erzbischof Karekin Kazandjian, ersetzt werden sollte, versuchten die israelischen Behörden dies 1983 durch Entzug der Aufenthaltsgenehmigung für Kazandjian zu verhindern. Nach einem gemeinsamen Protest des griechischen, lateinischen und armenischen Patriarchen verzichtete die israelische Regierung zwar auf die Ausweisung des Prälaten, errang durch dessen irreguläre Visa-Situation 88 Colbi 1969:7–8, 19; Kreutz 1990:116. 89 Dumper 1995:276–279.

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aber eine größere Kooperationsbereitschaft. Erst nach der Wahl von Torgom Manoogian, zuvor Erzbischof in den USA, zum Patriarchen von Jerusalem im Jahr 1990 beruhigte sich die Situation im armenischen Patriarchat.90 Auf politischer Ebene waren Christen in Israel seit den 1950er und 60er Jahren vor allem in den kommunistischen Parteien tätig. 1965 spaltete sich eine arabische Gruppe von der Israelischen Kommunistischen Partei (MAKI) ab und bildete unter den Christen Tawfiq Tuba, Emile Habibi und Emile Tuma eine eigene Partei (RAKAH), die bei den Wahlen zur Knesset 1965 doppelt so viele Stimmen wie MAKI errang, die meisten in den christlichen Zentren Galiläas. Angesichts immer neuer Enteignungen palästinensischen Landes in Galiläa durch die israelischen Behörden erzielte die arabische RAKAH weitere Erfolge. Ende 1966 bildete sich eine dritte kommunistische Partei mit ebenfalls starker christlicher Beteiligung und Wählerschaft. Selbst der melkitische Erzbischof von Galiläa, Joseph Raya, erklärte öffentlich seine Unterstützung für die Kommunistische Partei, weil sie die einzige sei, die die Nöte der Araber ernst nehme.91 Arabische Christen beteiligten sich in den ersten zwanzig Jahren nach der Gründung des Staats Israel deutlich mehr am politischen und vor allem parlamentarischen Leben als muslimische Araber. So machten sie in dieser Zeit etwa die Hälfte der arabischen Abgeordneten in der Knesset, dem israelischen Parlament, aus. Bis zum Jahr 2000 fiel ihr Anteil allerdings auf nur noch zehn bis 20 Prozent. Trotz dieses Engagements wurden arabische Christen nie mit höheren Regierungsposten betraut. Muslimische Araber konnten immerhin, wenn auch selten, die Posten von Vizeministern einnehmen, Drusen bisweilen auch Ministerposten. Anders als in den arabischen Nachbarländern, in denen zumindest ein Kabinettsmitglied fast immer den Reihen der Christen entstammt, ist den arabischen Christen in Israel die Mitwirkung in Regierungsverantwortung, wenn nicht rechtlich, so bisher doch faktisch, verschlossen. Es ist allerdings zu beachten, dass mit arabischen Muslimen und Drusen bereits zwei Minderheitengruppen bei der Kabinettsbildung zu berücksichtigen sind.92 Jean-Pierre Valognes, ein ausgewiesener Kenner des christlichen Orients, resümiert die Haltung der christlich-palästinensischen Israelis folgendermaßen: „Sie blickten auf die Situation, die vor 1948 herrschte, keineswegs mit Nostalgie zurück und schauten nicht ohne Befürchtungen auf die Aussicht, sich in einen Staat mit muslimischer Mehrheit einfügen zu müssen. In dem Modell, auf das sich die Gründerväter Israels beriefen, gab es in der Tat einiges, was sie anziehen konnte (Laizität, Freiheit, Moderne, Öffnung gegenüber dem Westen …), und viele haben lange gehofft, sich in die israelische Gesellschaft integrieren zu können, allen voran die Intelligenzija, die an den lokalen Universitäten ausgebildet worden war und die […] stolz war auf ihre Zwei90 Valognes 1994:492–493; Sanjian 2003:85–86. 91 Betts 1978:174–176. 92 Mansour 2004:267–268, 284. Allerdings waren Christen mehrfach Richter am Obersten Gerichtshof Israels, so Salim Joubran (2003–2017) und George Karra (seit 2017). Ich verdanke diesen Hinweis Bernd Mussinghoff.

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sprachigkeit und ihre doppelte Kultur. Ihr Bildungsgrad war und ist deutlich höher als der der muslimischen Araber in Israel, ihre Geburtenrate nur halb so hoch und ihre Beschäftigung im öffentlichen Sektor (inklusive Bildungswesen) in den freien Berufen und dem Handel deutlich höher. Dieser Versuch der Integration in die israelische Gesellschaft unterscheidet die christlichen Araber in gewisser Weise von ihren muslimischen Landsleuten. Diese Situation hat sich inzwischen [bis 1994] merklich verändert: wenn auch einige Christen von der „Israelisierung“ versucht bleiben, auch angesichts des Aufstiegs des Islamismus unter ihren muslimischen Landsleuten, zeigen andere, vor allem aus dem intellektuellen Milieu, starke Vorbehalte gegenüber Israel.“93 Dafür gibt es nach Valognes zwei Gründe: 1. Soziale Ausgrenzung von Seiten der jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die Aufstiegschancen, die sich die arabischen Israelis im jüdischen Staat ausrechneten, ließen sich zum größten Teil nicht realisieren. Auf sozialer Ebene wurde von israelischer Seite zu wenig unternommen, um die Trennung zwischen jüdischem und palästinensischem Milieu zu überwinden und christliche Palästinenser aus ihrer Ghetto-Einstellung (allures de ghetto, so die Formulierung Valognesʼ) herauszuholen. Sie haben weiter eigene Siedlungen, eigene Schulen, eigene Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen. Christliche Araber wurden kaum in die israelischen Mehrheitsparteien eingebunden. Allein die Kommunistische Partei und bis zu einem gewissen Grad die linke Meretz-Partei kümmerten sich auch um die Belange der arabischen Bevölkerung Israels. Ansonsten kämpfte die Arabische Demokratische Partei für die Anliegen der Araber in Israel. Arabische Stadtverwaltungen in Israel erhielten bei der Verteilung von Zuschüssen im Ergebnis deutlich weniger als jüdische Gemeinden, so dass die Infrastruktur in vielen arabischen Dörfern und Städten deutlich schlechter ist als in jüdischen. 2. Religiöse Ausgrenzung: In Israel entwickelte sich in gewissen Kreisen eine religiöse Haltung, die an diejenige in den islamischen Staaten erinnert, nur eben unter dem Vorzeichen des Judentums. Diese Ablehnung von israelischer Seite brachte die christlichen Palästinenser wieder näher an ihre Glaubensbrüder in den besetzten Gebieten heran, die nie die Chance auf Integration in die israelische Gesellschaft hatten – genau wie die muslimischen Araber.94

93 Valognes 1994:590. Zur sozialen Zusammensetzung der palästinensischen Bevölkerung in Israel und der Westbank siehe Sabella 1994:35–38. 94 Valognes 1994:590–592; Pacini 1996:297–301.

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Terroristen oder Freiheitskämpfer? Christen im israelisch besetzten Westjordanland und ihre Rolle im palästinensischen Widerstand Vom Sechs-Tage-Krieg zur Ersten Intifada Im Juni 1967 eroberten israelische Truppen in einer Blitzaktion Ost-Jerusalem und das Westjordanland (beide hatten seit 1948 unter jordanischer Verwaltung gestanden), den bis dahin von Ägypten kontrollierten Gaza-Streifen und die ägyptische Sinai-Halbinsel sowie die zu Syrien gehörenden Golanhöhen. Als Ergebnis des Kriegs lebten nun auch die christlichen Palästinenser Jerusalems, der Westbank und des Gaza-Streifens unter israelischer Kontrolle. Die christliche Bevölkerung Ost-Jerusalems gab die israelische Regierung 1967 mit 10.970 arabischen Christen (beziehungsweise 17 Prozent der arabischen Bevölkerung), des restlichen Teils der besetzten Gebiete mit 31.700 Personen (davon 2.500 im Gaza-Streifen) an. Unter israelischer Kontrolle befanden sich nun auch die Patriarchate der christlichen Kirchen, die im bisher jordanischen Ost-Jerusalem ihren Sitz hatten. Israel respektierte ihre Position und garantierte den sogenannten Status quo an den heiligen Stätten. Die Lebensbedingungen der Christen änderten sich in der Folge jedoch grundlegend. Das arabische Ost-Jerusalem wurde mit dem jüdischen Westteil der Stadt vereinigt. Christen (1967 rund 14.000 inklusive der ausländischen Christen) machten damit einen noch geringeren Anteil an der Stadtbevölkerung aus als vorher (im vereinigten Jerusalem 4 Prozent) und konnten noch weniger Einfluss auf die Gestaltung des städtischen Lebens nehmen. Dieses wird seither allein von israelisch-jüdischer Seite kontrolliert. Die christlich geprägten Ortschaften Bethlehem, Beit Jala, Beit Sahour und Ramallah unterstanden wie der Rest des Westjordanlandes israelischer Militäradministration. Der Austausch mit Verwandten in Jordanien war dadurch deutlich erschwert und wurde erst seit dem Friedensabkommen zwischen Israel und Jordanien im Jahr 1994 erleichtert. Mit der Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg trat die palästinensische Nationalbewegung in eine neue Phase. Das gesamte Gebiet Palästinas befand sich nun in der Hand Israels. Der palästinensische Widerstand neigte seit dem Suez-­ Krieg dem sozialistischen Lager zu. Im zweiten arabisch-israelischen Krieg hatten sich 1956 Israel, unterstützt von England und Frankreich, und Ägypten gegenübergestanden. Nassers Ägypten hatte von der Sowjetunion ideologische Rückendeckung erhalten. Seit den 1960er Jahren erhielt Israel großzügige und offene Unterstützung durch die USA. Daher wurde Israel auf arabischer Seite zunehmend als Stellvertreter amerikanischer Interessen im Nahen Osten wahrgenommen. Es ist also kein Wunder, dass auch palästinensische Christen den links-säkularen Widerstandsbewegungen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP) und der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (Democratic Front for the Liberation of Palestine, DFLP) zuneigten. Die PFLP war aus dem in den 1950er Jahren entstandenen Movement of Arab Nationalists (MAN) hervorgegangen. Von

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einer pan-arabischen Bewegung wandelte sie sich nach der arabischen Niederlage von 1967 in eine rein auf Palästina ausgerichtete Partei unter dem Namen PFLP. Gegründet vom griechisch-orthodoxen Christen George Habash (der sie auch bis zum Jahr 2000 selbst führte), vertrat sie einen marxistischen Kurs und machte in den 1970er Jahren durch mehrere spektakuläre Terrorakte und Entführungen auf sich aufmerksam. Die DFLP, gegründet vom Jordanier Naif Hawatmeh, wie Habash ein griechisch-orthodoxer Christ, rief nicht nur zum Kampf gegen Israel, sondern auch gegen konservative arabische Regime wie die haschemitische Monarchie in Jordanien auf, die den palästinensischen Widerstand ihrer Meinung nach nicht ausreichend unterstützten. Beide Parteien widersetzten sich sowohl dem Führungsanspruch Yasser Arafats innerhalb der PLO als auch möglichen Friedensabkommen mit Israel.95 Bereits 1959 war die Fatah entstanden; zu ihren Gründern und führenden Persönlichkeiten gehörte Yasser Arafat. Erklärtes Ziel war die gewaltsame Befreiung Palästinas und die Errichtung eines palästinensischen Staats. Kampfgenosse Arafats aus kirchlichen Kreisen war der katholische Priester Ibrahim Ayad. Er hatte bereits im Krieg von 1948 als Verbindungsmann der katholischen Kirche zur palästinensischen Widerstandsbewegung gedient. Als 1951 der jordanische König Abdallah beim Besuch der al-Aqsa-Moschee ermordet wurde, wurde Ayad mit dem Mord in Verbindung gebracht und in Jordanien vor Gericht gestellt. Auf Bitten des lateinischen Patriarchal­ vikars für Jordanien wurde er nach dem Prozess nicht ins Gefängnis gebracht, sondern in den Libanon abgeschoben. Dort schloss er sich 1964 Arafats Fatah an und wurde dessen Berater für religiöse Angelegenheiten.96 Am 1. Juni 1964 hatte das Exilparlament der Palästinenser im jordanischen Ost-Jerusalem die Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) beschlossen und die Palästinensische Nationalcharta verabschiedet, auf die die PLO ihre Arbeit gründete. Nach dem Sechs-Tage-Krieg übernahm Yasser Arafat darin die Führung. Die Nationalcharta wurde angepasst, die Befreiung ganz Palästinas zum Ziel erklärt und nur Juden palästinensischen Ursprungs als Bürger des zukünftigen arabischen Staats Palästinas anerkannt. Auf offizieller katholischer Seite zögerte man, die PLO, in der zwar Christen mitarbeiteten – nicht zuletzt der genannte Priester Ibrahim Ayad –, zu unterstützen.97 Aufgrund ihrer radikalen und teilweise sozialistischen Ausrichtung wurde die PLO gerade in der christlichen Mittelklasse aber auch kritisiert. Das griechisch-orthodoxe Patriarchat hielt ohnehin traditionell Abstand zur palästinensischen Befreiungsbewegung. Der Vatikan setzte sich öffentlich für die individuellen Rechte der Palästinenser ein, zu ihren nationalen Ansprüchen äußerte er sich zunächst jedoch nicht. Diese Politik änderte sich in den 1970er Jahren unter Papst Paul VI. nur vorsichtig und behielt immer 95 Sennott 2003:149–150; Khalidi 2010:182. 96 Twal 2016:66–67. 97 Noch im September 1982 betonte der Vatikan nach einem Treffen von Papst Johannes Paul II. mit Yasser Arafat, dass dies keineswegs die Anerkennung der PLO bedeute. Kreutz 1990:158–159; Koltermann 2001:237–243.

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die Rechte der palästinensischen und der israelischen Seite im Blick.98 Die Rechte der Palästinenser wurden vom Vatikan explizit mit dem Apostolischen Schreiben Redemptionis anno von April 1984 anerkannt. Darin heißt es: „Das palästinensische Volk, das seine historischen Wurzeln in jenes Land senkt und das seit Jahrzehnten zerstreut lebt, hat aus Gerechtigkeit das natürliche Recht, eine Heimat zu finden und in Frieden und Ruhe mit den anderen Völkern der Region leben zu können.“99 Ein spektakuläres Beispiel für die Unterstützung mancher Kirchenführungen für den palästinensischen Widerstand bildet der aus Syrien stammende melkitische Pa­triarchalvikar in Jerusalem, Hilarion Cappucci. Im August 1974 wurde er wegen Waffenschmuggels für palästinensische Widerstandsgruppen von den israelischen Sicherheitsbehörden verhaftet und zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. 1978 wurde er auf Gesuch Papst Pauls VI. vorzeitig entlassen. Bis zu seinem Tod im Jahr 2017 lebte er in Rom (nicht ohne auf zahlreichen Reisen in den Nahen Osten für die palästinensische Sache zu werben).100 Auf anglikanischer Seite wurde der Priester Elias Khoury 1969 von den israelischen Behörden beim Schmuggel von Sprengstoff für die Volksfront zur Befreiung Palästinas festgesetzt und verurteilt. Khoury durfte später nach Jordanien ausreisen und wurde Mitglied des PLO-Exekutivkomitees.101

98 Kreutz 1990:137. Bei seinem Besuch im Heiligen Land 1964 hatte Papst Paul VI. zwar Israels Staatspräsident Zalman Shazar und andere israelische Politiker getroffen, dabei aber betont, dass sein Besuch in Nazareth keineswegs die Anerkennung des Staats Israel bedeute. Kreutz 1990:119; Koltermann 2001:111–133. Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg forderte Papst Paul VI. in Fortführung der vatikanischen Position von 1948, Jerusalem zur „offenen Stadt“ zu erklären und die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge zu respektieren. Das Schicksal der Flüchtlinge wurde dann ab 1968 regel­ mäßig Thema der Reden Pauls VI. an Heiligabend. Rokach 1987:75–89; Koltermann 2001:145–214. 99 „Il popolo palestinese, che in quella terra affonda le sue radici storiche e da decenni vive disperso, ha il diritto naturale, per giustizia, di ritrovare una patria e di poter vivere in pace e tranquillità con gli altri popoli della regione.“ Johannes Paul II., Redemptionis anno, 20. April 1984, Abschnitt 2. Kreutz 1990:160; Koltermann 2001:243–247. Die lokale katholische Hierarchie war bereits vorher deutlicher für die Rechte des palästinensischen Volkes eingetreten. So hatte der lateinische Patriarch von Jerusalem, Giacomo Beltritti, im Namen der lateinischen Bischöfe der arabischen Länder (CELRA) bei der Bischofssynode von 1971 zum Thema „Gerechtigkeit in der Welt“ ein Papier präsentiert, in dem er an die Rechte der 1,5 Millionen geflüchteten Palästinenser erinnerte und die Achtung der Minderheitenrechte, vor allem der Christen in Israel, der Westbank und in Jordanien, sowie internationale Garantien für die Heiligen Stätten in Jerusalem forderte. Rokach 1987:99–100; Kreutz 1990:132–133. 100 Ein weiteres Beispiel aus der melkitischen Kirche ist der Priester Fawzi Khoury. Er wurde 1983 wegen Kontakten zur PLO für mehrere Wochen inhaftiert. Rokach 1987:114–115; Tsimhoni 1993:109– 110; Valognes 1994:581; Heyer 2000:357–358; Merkley 2001:71–71. Die Wahl des Nachfolgers von Cappucci erregte 1981 einiges Aufsehen, weil er sich weiterhin als rechtmäßigen Bischof von Jerusalem sah. Die melkitische Synode machte demgegenüber geltend, dass der neu gewählte Patriarchalvikar Lutfi Laham zu Lebzeiten Cappuccis nur als Bischof „in“ Jerusalem zu betrachten sei. 101 Merkley 2001:71. Elias Khoury verließ allerdings 1985 die PLO. 2010 war er an Bord der ersten Gaza-Flotille, die Lebensmittel und Hilfsgüter in den seit 2007 von Israel abgeriegelten Gaza-Streifen bringen wollte. (Ich verdanke diesen Hinweis Bernd Mussinghoff).

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„Intifada des Himmels und Intifada der Erde“: Christen und der palästinensische Aufstand Die Unterdrückung jeglicher palästinensischen Selbstverwaltung im Westjordanland und dem Gaza-Streifen, die Enteignung palästinensischen Landes, die Gründung jüdischer Siedlungen und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit führten in den besetzten Gebieten zum palästinensischen Aufstand. Anfang Dezember 1987 brach die erste Intifada aus. Palästinensische Jugendliche gingen in Gaza und der Westbank mit Steinwürfen auf israelische Sicherheitskräfte los. Das israelische Militär antwortete mit voller Härte und scharfer Munition. Christliche Palästinenser solidarisierten sich schnell mit dem Aufstand. Bereits an Weihnachten sagte der christliche Bürgermeister von Bethlehem, Elias Freij, den traditionellen Weihnachtsempfang der Stadt ab. Die Kirchenführer des Heiligen Landes erließen am 22. Januar 1988 einen Aufruf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Christen sollten einen Tag des Gebets und des Fastens einhalten und für die Notleidenden spenden.102 Der Aufruf, in den arabischen Zeitungen Ost-Jerusalems verbreitet, konnte in Israel nicht veröffentlicht werden, weil die israelische Zensur die Publikation untersagte. In einer Verlautbarung zu Ostern 1989, die von den wichtigsten Kirchenführern unterzeichnet wurde, hieß es: „In Jerusalem, der Westbank und in Gaza erfährt unser Volk im täglichen Leben eine ständige Beraubung seiner fundamentalen Rechte durch willkürliche Akte der Behörden. […] Wir sind besonders betroffen von dem tragischen und überflüssigen Hinopfern des Lebens, gerade unter Minderjährigen. Unbewaffnete und unschuldige Menschen werden durch den ungerechtfertigten Einsatz von Schusswaffen getötet und Hunderte werden durch den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt verletzt. Wir protestieren gegen die wiederholten Schießereien in der Nachbarschaft der Heiligen Stätten.“103 Der neue lateinische Patriarch Michel Sabbah, erstmals ein Palästinenser in dieser Funktion und seit Januar 1988 im Amt, brach mit der Zurückhaltung seiner Vorgänger, was den Kontakt zu israe­lischen Politikern und Medien anging. Wiederholt äußerte er sich sehr kritisch in der israelischen Presse und bemühte sich, der israelischen Öffentlichkeit den Grund für den Gewaltausbruch auf palästinensischer Seite zu erklären. Gleichzeitig rief er immer wieder dazu auf, den Protest gewaltlos fortzusetzen. Die israelischen Behörden unternahmen wiederholt Interventionen beim Vatikan, um die politischen Stellungnahmen des Patriarchen zu unterbinden, letztlich jedoch ohne Erfolg.104 Neben Patriarch Sabbah äußerte sich von katholischer Seite auch wiederholt der melkitische Patriarchalvikar in Jerusalem, Lutfi Laham (der spätere Patriarch Gregorios III.), und rief christliche und muslimische Palästinenser zur Solidarität auf. Kritik von 102 Erstmals wandten sich die Kirchenführer im Heiligen Land mit dieser Botschaft gemeinsam an die Gläubigen. Dies war das entscheidend Neue an dem Aufruf und machte auch die Dramatik der Situation deutlich. Suermann 2001:25. 103 Tsimhoni 1993:167–170; Dumper 1995:284; Heyer 2000:351–352. 104 Tsimhoni 1993:170–172.

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israelischer Seite, dass die Unterstützungserklärung von Geistlichen für den palästinensischen Aufstand eine unzulässige Einmischung in die Politik sei, wies er zurück. Gleichzeitig rief er aber auch immer wieder zu einem Dialog zwischen Christen, Muslimen und Juden auf.105 Von erheblichem Einfluss waren auch die Veröffentlichungen der katholischen Justitia et Pax-Kommission. Sie war 1971 gegründet worden und hatte bereits 1980 Christen zu politischem Engagement aufgefordert. 1983 lud sie in ihrem Papier Moslems and Christians on the Road Together explizit zu gemeinsamen Aktionen der beiden Religionen im Engagement für Gerechtigkeit und Frieden ein. Im Juni 1988 veröffentlichte die Kommission eine ausführliche Bewertung der ersten Monate der Intifada, in der sie die Anwendung von Gewalt, Massenverhaftungen und die Schließung von Schulen verurteilte. Sicherheit für Israel ließe sich nur durch Verhandlungen mit seinen arabischen Nachbarn und der PLO erlangen. Weitere Stellungnahmen zum Konflikt folgten, in denen jeweils die Gründe für die Gewalt analysiert und die unverhältnismäßige Reaktion der israelischen Sicherheitskräfte angeprangert wurden.106 Der ökumenische Middle East Council of Churches (MECC) erklärte 1989 seine Unterstützung für „den Kampf des palästinensischen Volkes, um seine gerechtfertigten Ziele zu erreichen, von denen die Errichtung seines unabhängigen Staats primär ist“. Im Januar 1990 drückte der MECC erneut seine Solidarität mit den Palästinensern, aber auch das Recht auf Leben in Frieden und Sicherheit für beide Seiten aus.107 Verschiedene christliche Institutionen, so das Tantur Ecumenical Institute for Theological Studies in Jerusalem und das al-Liqaʼ Centre in Bethlehem veranstalteten Tagungen zur palästinensischen Befreiungstheologie. Der griechisch-katholische Laientheologe Geries Khoury nahm in seinem Buch Intifāḍat al-samāʾ wa-intifāḍat al-arḍ (zu deutsch: Die Intifada des Himmels und die Intifada der Erde) eine bemerkenswerte theologische Einordnung der Intifada vor. Weitere Vertreter dieser theologischen Richtung sind der Anglikaner Naim Ateek und der Lutheraner Mitri Raheb.108 Beit Sahour zeichnete sich während der ersten Intifada 1988/1989 durch ein Projekt des gewaltfreien, zivilen Widerstands aus. Muslimische Jugendliche, die sich steinewerfend den israelischen Truppen entgegenstellten, beklagten häufig die geringe Zahl an christlichen „Märtyrern“ und machten ihren Unmut durch Graffiti in Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour deutlich (von den fast 2.000 palästinensischen Opfern der 105 Tsimhoni 1993:172 106 Tsimhoni 1993:172–174. 107 Tsimhoni 1993:174 108 Merkley 2001:74–80. Merkley, der aus der Sicht des christlichen Zionismus schreibt und dessen Ausführungen eine deutliche Antipathie gegenüber den Palästinensern erkennen lassen, nimmt eine äußerst kritische Wertung dieser theologischen Richtung vor. Positiv würdigt sie dagegen Suermann 2001:9–36. Beachtenswert sind auch die Schriften des melkitischen Priesters und späteren Erzbischofs von Haifa, Akko und Galiläa, Elias Chacour, der aus der Sicht eines in Israel lebenden arabischen Christen schreibt. Auf Deutsch erschienen Und dennoch sind wir Brüder! Frieden für Palästina (Frankfurt am Main, 1988) und Auch uns gehört das Land: Ein israelischer Palästinenser kämpft für Frieden und Gerechtigkeit (Frankfurt am Main, 1993).

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Intifada waren allerdings rund 30 Christen, was ziemlich genau dem Anteil der Christen an der Bevölkerung der Westbank und Gazas entsprach). In dieser Situation beschloss die überwiegend christliche Mittelschicht Beit Jalas, der israelischen Besatzung durch Einstellung der Steuerzahlungen Widerstand zu leisten. Im Juli 1988 sammelten örtliche Komitees außerdem mehr als 500 von Israel ausgestellte Personalausweise ein und übergaben sie dem Militärgouverneur als Zeichen ihrer Ablehnung der israelischen Politik. Die Reaktion der israelischen Militärverwaltung war massiv: Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung von Waren und persönlichen Gegenständen zur Eintreibung von Steuerschulden; außerdem Anklage vor Militärgerichten, die exzessive Geldstrafen für die Steuerboykotteure oder sogar Gefängnisstrafen verhängten. Den Organisatoren des zivilen Widerstands gelang es, auch die israelische Linke und jüdische Friedensaktivisten für ihre Sache zu gewinnen und gemeinsame Aktionen in Beit Sahour durchzuführen. Die Zusammenarbeit mit jüdischen Gruppen verstörte allerdings die muslimische Führung der Intifada, die dies als Normalisierung der Beziehungen zum jüdischen Gegner empfand. Überhaupt war ihnen der gewaltfreie Charakter dieses Widerstands suspekt. Am 19. September 1989 drang die israelische Armee mit einem massiven Aufgebot in Beit Sahour ein, verhängte eine vollständige Ausgangssperre und beschlagnahmte Waren und persönliche Güter im Wert von über 2 Millionen US-Dollar, um die Steuerrückstände auszugleichen. Die Patriarchen der griechisch-orthodoxen, der lateinischen und der armenischen Kirche riefen am 26. Oktober in einer gemeinsamen Erklärung zur Solidarität mit der Bevölkerung des Ortes auf. Die Belagerung der Stadt dauerte bis zum 1. November, ohne dass das Militär allerdings das Ende des zivilen Widerstands erzwingen konnte. Die Führung Beit Sahours rief einen hunderttägigen Generalstreik aus, der bis Februar 1990 eingehalten wurde. Erst danach brach der Widerstand nach und nach zusammen. Hatte die PLO die Bewegung bereits während der Intifada mit Argwohn betrachtet (Gerüchte besagen sogar, dass die PLO-Führung versuchte, durch Einschleusung von Gewalttätern den gewaltfreien Widerstand der lokalen Bevölkerung zu unterminieren), fühlten sich die Widerständler durch die Palästinensische Autonomiebehörde völlig verraten. Diese hatte in den Friedensverhandlungen mit Israel die israelischen Steuerforderungen, die die Besatzungsbehörden auf mehr als 5 Millionen US-Dollar bezifferten, akzeptiert. Als die Steuerbeamten der Autonomiebehörde begannen, diese einzutreiben, wurde Protest laut. Zwar wurde schließlich ein Kompromiss erreicht, wonach die Autonomiebehörde diejenigen, die durch den Steuer­streik Verluste erlitten hatten, entschädigte. Die christliche Bevölkerung sah sich aber durch diese Gegenrechnung von Steuerforderung und Entschädigung in ihrem Kampf gegen die israelische Besatzung einmal mehr durch ihre muslimischen Mitbürger nicht ausreichend gewürdigt.109 In den 1990er Jahren gründete Ghassan Andoni aus Beit Sahour das Center for Rapprochement Between People, das sich zusammen mit jüdischen Friedensgruppen für eine Verständigung einsetzte und 109 Tsimhoni 1993:175–176; Heyer 2000:353; Sennott 2003:141–160.

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auch während der zweiten Intifada im Sinne der Non-Violence-Bewegung Zeichen setzte.110 Die erste Intifada sah nicht nur das enge Bündnis der säkularen palästinensischen Kräfte von Fatah, DFLP, PFLP und Kommunistischer Partei Palästinas (KPP); in ihrem Umfeld entstanden auch die Terrorgruppe Islamischer Dschihad und, als Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft, die streng islamisch ausgerichtete Hamas (Ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya). Sie stritt Israel jegliches Existenzrecht ab und bezeichnete in ihrer Gründungscharta von 1988 ganz Palästina als „islamisches Heimatland“. Religiöse Kräfte spielten fortan eine immer wichtigere Rolle im palästinensischen Widerstand. Der islamistische Einfluss wirkte sich auch auf die Intifada aus. In Moscheen wurden Christen zunehmend als „Ungläubige“ bezeichnet und christlichen „Märtyrern“ der Intifada nicht der gleiche Wert zugestanden wie muslimischen, weil sie nicht als volle Teilnehmer am islamischen „Dschihad“ gezählt werden könnten. Die Hamas veröffentlichte im Juli 1991 eine Erklärung zum Verhältnis von Christen und Muslimen. Darin hieß es: „Christen in Palästina sind ein integraler Teil des paläs­ tinensischen Volks und seiner Zivilisation. Christen haben dieselben bürgerlichen Rechte und Pflichte wie alle Palästinenser. Wir rufen die Christen auf, auf dem Land zu bleiben und nicht dem Terror des Zionismus und der Brutalität der Besetzung nachzugeben. Wir ermutigen sie, sich am Kampf zu beteiligen.“111 In der Praxis zeigte diese Erklärung jedoch wenig Wirkung. Das von Hamas und Islamischem Dschihad hervorgerufene Klima der Gewalt und des islamischen Kampfes gegen Israel lässt paläs­tinensische Christen mehr und mehr als Randerscheinung der palästinensischen Gesellschaft und damit auch der Nationalbewegung erscheinen.

Zwischen radikalen Siedlern und aufsteigendem Islamismus: Christen in Israel und Palästina seit 1990 Palästina: hinter Mauern Die 1990er Jahre sahen erstmals direkte Verhandlungen zwischen der PLO und der israelischen Regierung und die Übernahme von politischer Verantwortung in Teilen des Westjordanlands und des Gaza-Streifens durch die Palästinensische Autonomiebehörde. Ihre Bildung war im Oslo-Abkommen von 1993 vereinbart worden. 1996 fanden Wahlen zum palästinensischen Nationalrat statt, in denen die Fatah 50 und unabhängige Kandidaten 36 Sitze (sieben davon Hamas-nah) errangen. Christen waren im palästinensischen Parlament mit der vom Wahlgesetz garantierten Quote von sechs 110 Sennott 2003:410–411. 111 „Christians in Palestine are an integral part of the Palestinian people and its civilization. Christians have the same civil rights and duties as all Palestinians. We call on Christians to stay on the land and not surrender to the terrors of Zionism and the brutalities of occupation. We encourage them to participate in the struggle.“ Sennott 2003:219–220.

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Sitzen (je zwei für Bethlehem und Jerusalem sowie je einer für Ramallah und Gaza) präsent.112 Yasser Arafat wurde zum Präsidenten der Autonomiebehörde gewählt (und blieb es bis zu seinem Tod 2004). Gerade im Umfeld der Einrichtung der Autonomiebehörde beschwor Yasser Arafat die Einheit von palästinensischen Muslimen und Christen, so beim Weihnachtsfest 1997 in Bethlehem: „Wir erklären dieses heilige Land, die heilige Stadt, die Stadt des Palästinensers Jesus zu einer auf ewig befreiten Stadt, auf ewig, auf ewig! […] Morgen werden mein Bruder Elias [Elias Freij, der damalige christliche Bürgermeister von Bethlehem] und ich zusammen die Geburt unseres Herrn Jesus Christus zum ersten Mal unter der palästinensischen Flagge feiern […] Und morgen werden wir uns in Jerusalem treffen und in der al-Aqsa-Moschee und der Grabeskirche beten.“113 Da die Verhandlungen zwischen PLO und Israel allerdings bald ins Stocken gerieten und auch nicht zu echten Verbesserungen der Lebensumstände für die Palästinenser in den besetzten Gebieten führten, erstarkten bald islamistische Gruppen, vor allem Hamas und der Islamische Dschihad. Gesellschaft und Öffentlichkeit in den Autonomiegebieten sind seither immer stärker islamisch dominiert und lassen christliches Leben nur noch als Randerscheinung zu, auch wenn von palästinensischen Führern oft etwas anderes behauptet wird.114 Christen fühlen sich immer häufiger hin- und hergerissen zwischen dem jüdischen Staat und dem immer muslimischer werdenden Palästina. Das wirkte sich auch auf ihre Einstellung zur Nationalbewegung aus. So urteilte Andreas Feldtkeller Mitte der 1990er Jahre: „Das gegenwärtige Problem der christlichen Palästinenser besteht nicht darin, daß ihnen aktuell in größerem Ausmaß Verrat oder Verschwörung vorgeworfen würde (diese Rolle haben die Israelis auf sich gezogen), sondern in dem Aufwand, den es ihnen bereitet, einen solchen Vorwurf ständig von sich fernzuhalten. Christen in Israel und der Westbank haben immer mit dem latenten Image zu kämpfen, daß sie 112 Pacini 1996:304. Später wurde die Anzahl der Sitze von Christen auf sieben von 88 erhöht. Merkley 2001:88. 113 Zitiert bei Merkley 2001:91 Arafat wurden auch aufgrund seiner Ehe gute Beziehungen zu den Christen zugeschrieben. Seine Frau trat zwar bei der Hochzeit offiziell zum Islam über, wurde aber trotzdem auch weiter als „Christin“ betrachtet. Merkley 2001:91. 114 Im Rahmen des Friedensprozesses ist auch die Neuordnung der diplomatischen Beziehungen des Heiligen Stuhls mit Israel und den Palästinensern zu verstehen. Trotz Protesten der lokalen Kirchenführungen – im August 1993 hatten der lateinische Patriarch Michel Sabbah, der melkitische Patriarchalvikar Lutfi Laham, der anglikanische Bischof Samir Kafity zusammen mit dem Mufti von Jerusalem Scheich Saʼd al-Din al-ʻAlami den Vatikan davor gewarnt, den Staat Israel anzuerkennen – schloss der Heilige Stuhl am 30. Dezember 1993 einen Grundlagenvertrag mit dem Staat Israel, der am 14. Juni 1994 durch einen weiteren Vertrag über die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen ergänzt wurde. Seither existiert eine Nuntiatur mit Sitz in Jaffa. Die bereits am 11. Februar 1948 von Papst Pius XII. gegründete Apostolische Delegation in Jerusalem und Palästina beschränkt sich seither auf die palästinensischen Gebiete und Ost-Jerusalem. Die Ämter des Nuntius und des Apostolischen Delegaten werden jedoch stets in Personalunion von einer Person ausgeübt. Seit 1994 wird zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl über ein umfassendes Konkordat verhandelt. Diese Verhandlungen sind bisher jedoch immer noch nicht abgeschlossen. Durch die Unterzeichnung eines Grundlagenvertrags zwischen dem Vatikan und Palästina am 26. Juni 2015, in dem Palästina als Staat bezeichnet wird, sind die Verhandlungen mit Israel erneut verkompliziert worden. Tsimhoni 1993:181–182; Zimmer-Winkel 2010:164; Koltermann 2001:288–303.

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in ihrem arabischen Nationalismus halbherzig seien, eher bereit, mit der jüdischen Seite zusammenzuarbeiten, und daß sie im Gegenzug von den israelischen Behörden und Arbeitgebern gegenüber Muslimen bevorzugt würden.“115 Dieser Vorwurf ihrer muslimischen Mitbürger ist jedoch auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Israelis bevorzugen christliche Palästinenser tatsächlich, sei es bei Sicherheitskontrollen (palästinensische Christen machen davon an Checkpoints immer wieder Gebrauch, indem sie beispielsweise Kreuze besonders sichtbar tragen), sei es bei der Vergabe von Arbeitsplätzen. Es ist allerdings auch offensichtlich, dass israelische Behörden durch dieses Verhalten versuchen, einen Keil in die palästinensische Gesellschaft zu treiben. Dies war offenkundig auch 1998 das Ziel, als ein Berater von Ministerpräsident Netanyahu einen Bericht über die Diskriminierung von Christen durch Muslime veröffentlichte. Nachforschungen ergaben jedoch, dass die meisten Vorkommnisse falsch oder stark übertrieben waren.116 Auch wenn derartige Versuche von israelischer Seite von christlichen und muslimischen Palästinensern heftig angeprangert werden, ist dennoch festzustellen, dass die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren vielen Christen tatsächlich Sorge bereitet. Im Basic Law der Palästinensischen Autono­miebehörde (in Kraft gesetzt am 14. Mai 2002 und im März 2003 ergänzt) wurde der Islam zur offiziellen Religion erklärt und die Scharia zu einer der Grundlagen der Gesetzgebung gemacht (Artikel 4).117 Dies rief Proteste von säkularen Muslimen und von Christen, wie der führenden PLO-Politikerin Hanan Ashrawi, hervor. Der Aufstieg der Hamas in den 1990er Jahren tat ein Übriges, um die palästinensische Gesellschaft stark religiös-islamisch zu prägen. Die Nationalbewegung verlor damit ihren säkularen Charakter, der sie seit den 1960er Jahren ausgezeichnet hatte und der Christen erlaubt hatte, aktiv darin mitzuwirken. Im Juli 2000 verhandelten Yasser Arafat und Ehud Barak unter Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton in Camp David über eine Lösung für Jerusalem. Ehud Barak bot der palästinensischen Seite an, die Altstadt von Jerusalem zu teilen: palästinen­ sische Kontrolle über das muslimische und das christliche Viertel mit Haram al-Sharif und Grabeskirche, israelische Kontrolle über das jüdische und armenische Viertel mit der Klagemauer. Die drei christlichen Patriarchen von Jerusalem warnten in einem offenen Brief an die Unterhändler jedoch davor, die Altstadt zu teilen, und mahnten, die christlichen Interessen in Jerusalem nicht zu vergessen. Sie forderten, auch Vertreter der Kirchen an der Suche nach einer Lösung für Jerusalem zu beteiligen.118

115 Feldtkeller 1998:194. 116 Sennott 2003:160. 117 Zwar garantiert das Basic Law auch die grundlegenden Freiheitsrechte: Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religion (und anderem; Artikel 9), Freiheit des Glaubens, des Gottesdienstes und der Ausübung religiöser Funktionen (Artikel 18), jedoch tut sich gerade die Hamas-geführte Regierung in Gaza schwer, diese Rechte für Christen, gerade das Recht auf Konversion vom Islam zum Christentum, in der Praxis zu garantieren. Raheb 2012:549–553. 118 Sennott 2003:329.

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Die zweite Intifada, die im Herbst 2000 nach dem Besuch des damaligen israelischen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg begonnen hatte, spaltete die palästinensische Gesellschaft. Anders als in der ersten Intifada, die hauptsächlich von steinewerfenden Jugendlichen getragen worden war, griffen die aufständischen Palästinenser diesmal zu massiver Gewalt. Die palästinensische Mittelschicht war darüber tief besorgt. Christen beunruhigte der islamistische Ton der sogenannten alAqsa-­Intifada. Die Abriegelung des Westjordanlandes und die dort tobende Gewalt rund um Weihnachten 2000 war für die palästinensische Wirtschaft und den Tourismus eine Katastrophe. Drei Viertel des palästinensischen Tourismusgeschäfts werden in Bethlehem erwirtschaftet; die meisten Tourismusbetriebe dort sind in christlicher Hand. Für das Jubiläumsjahr 2000 waren teils erhebliche Investitionen getätigt worden. Wegen der Intifada blieben die Pilger und Touristen fast vollständig aus. Diese Verluste ließen bei Christen Verzweiflung entstehen. Von Beit Jala und Beit Sahour aus wurde von extremistischen Kämpfern bewusst aus christlichen Häusern heraus auf die jüdische Siedlung Gilo geschossen. Die Vergeltungsschläge der israelischen Sicherheitskräfte trafen somit zu allererst Gebäude christlicher Eigentümer. Die Aufrufe von Christen aus den beiden Orten an Yasser Arafat, diese Praxis zu stoppen, blieben ungehört. Christen fühlten sich als Schutzschild missbraucht und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Die Zahl derer, die über Auswanderung nachdachten oder dies wahr machten, stieg erheblich an.119 Beim Einmarsch israelischer Truppen in Bethlehem am 2. April 2002 verschanzten sich muslimische Widerstandskämpfer in verschiedenen Kirchen der Stadt. Israelische Truppen stürmten die evangelische und die syrisch-orthodoxe Kirche. Anschließend belagerten sie 38 Tage lang die Geburtskirche, in der sich mehrere Kämpfer verschanzt hatten. Scharfschützen schossen auf das Gelände der Kirche, dabei wurde der armenische Glöckner getötet, eine weitere Person verletzt. Erst am 10. Mai gelang es den internationalen Vermittlern, den Abzug der palästinensischen Kämpfer und die Aufhebung der Belagerung durch die israelische Armee zu erreichen. Für die Christen Bethlehems war das Ereignis ein Schock. Ihre Kirchen waren von den muslimischen Landsleuten für den Widerstand missbraucht und von den Israelis angegriffen worden. Sie fühlten sich mehr denn je zwischen allen Lagern.120 Die Gewalt diskreditierte die Palästinenser zudem in den Augen der Weltöffentlichkeit, erst recht nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem nun ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“. Gleichzeitig spaltete sich die palästinensische Befreiungsbewegung in Anhänger der Fatah und der islamistischen Hamas. Letztere gewann angesichts der Enttäuschungen immer größeren Zulauf. Der Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 und die Weigerung der Fatah, diesen anzuerkennen, brachte die vollkommene Spaltung. Zwar gelang es Mahmud Abbas, die 119 Im Oktober 2000 griffen fanatische Muslime, meist Anhänger der Hamas und anderer radikaler Gruppen, in Gaza sogar Hotels, Restaurants und Geschäfte von Christen an, in denen Alkohol verkauft wurde. Sennott 2003:376–377. 120 Sennott 2003:ix–xxii.

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Führung der Autonomiebehörde im Westjordanland beizubehalten. Im Juli 2007 übernahm die Hamas aber in einer Art Staatsstreich die Macht im Gaza-Streifen, indem sie Fatah-treue Regierungs- und Verwaltungsangestellte aus ihren Ämtern vertrieb. Israel reagierte mit der totalen Blockade. Auf Raketenabschüsse auf israelische Siedlungen rund um den Gaza-Streifen antwortete Israel im November und Dezember 2008 mit massiver militärischer Gewalt und der Zerstörung eines großen Teils der Infrastruktur. Gleichzeitig unterdrückte die Fatah-dominierte Autonomiebehörde in Ramallah Sympathiekundgebungen für Gaza in der Westbank. Die massiven israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen als Vergeltungsmaßnahme für Attentate und Angriffe der Hamas auf israelische Bürger und israelisches Territorium verunsicherte die christliche Gemeinschaft in Gaza sehr.121 Die Militärschläge im Dezember 2008, im November 2012 und besonders heftig die 51 Tage fast ununterbrochener israelischer Luftangriffe im Juli und August 2014 haben beträchtliche Teile der Infrastruktur zerstört. Die Bilanz des Kriegs von 2014: 2.100 getötete Palästinenser, 67 getötete Israelis, über 10.000 Verletzte, 17.200 beschädigte oder zerstörte Wohnungen mit über 100.000 betroffenen Personen, 475.000 intern Vertriebene auf palästinensischer Seite, davon waren 290.000 in Schulen der UN-Mission (UNRWA) untergebracht. Bei den Angriffen wurden auch kirchliche Einrichtungen getroffen. Neben der Caritas, die die Nothilfe für die Bevölkerung koordinierte, war Pontifical Mission in der Koordination des Wiederaufbaus und der Behebung von Schäden an den Institutionen der katholischen und orthodoxen Kirche sehr aktiv. Die christliche Gemeinde im Gaza-Streifen ist zwar sehr klein, 2014 kurz vor dem Krieg betrug sie nur noch 1.300 Personen, dennoch bemühten sich die christlichen Einrichtungen mit aller Kraft um die Versorgung der Notleidenden. So beherbergten die christlichen Schulen wie die UNRWA-Schulen zahlreiche Vertriebene.122 Problematisch für die Palästinenser – Muslime wie Christen – ist auch die Siedlungspolitik Israels und der Bau der Sperrmauer. Die Politik der jüdischen Siedlungen im Westjordanland war 1977 von der Likud-Partei mit dem Ziel einer „Judaisierung“ der von ihr „Juda und Samaria“ (hebräisch: Yehuda we-Shomron) genannten besetzten Gebiete der Westbank begonnen worden. Dabei sollten arabische Städte und Dörfer von jüdischen Siedlungen quasi „umzingelt“ und voneinander abgeschnitten werden. Bis zum Abschluss der Verträge von Oslo im Jahr 1993 waren 130.000 jüdische 121 Im März 2014 lebten im Gaza-Streifen knapp 1.300 Christen, 89 % griechisch-orthodox, 9,3 % römisch-katholisch und 1,52 % Angehörige anderer christlicher Konfessionen (11 Kopten, 6 Baptisten, 3 Anglikaner) (Gesamtbevölkerung im Gaza-Streifen: 1,7 Millionen). Der Rückgang der christlichen Bevölkerung in den vorangegangenen Jahren ist eindeutig; 1997 hatte die Zahl der Christen im Gaza-­ Streifen noch knapp 1.700 betragen. 54 % der christlichen Bevölkerung hatten Flüchtlingsstatus. 34 % der christlichen Haushalte waren ohne eigenes Einkommen, allerdings erhielten nur 5,4 % der Christen humanitäre Unterstützung. Die anderen waren überwiegend Mittelklasse-Familien. 54 % der Kinder besuchten eine kirchliche Schule, 36 % öffentliche Schulen und 9,8 % UNRWA-Flüchtlingsschulen. Quelle: Pontifical Mission. 122 So das al-Ahli Arab Hospital der anglikanischen Kirche mit 80 Betten und rund 33.000 Patienten pro Jahr; drei Mutter-Kind-Kliniken des Near East Council of Churches; fünf Schulen in christlicher Trägerschaft mit ingesamt 3.000, überwiegend muslimischen, Schülern.

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Siedler ins Westjordanland gekommen. Nach einer kurzen Unterbrechung während des Friedensprozesses begann der Likud 1996 erneut mit einem massiven Ausbau der Siedlungen. So hat sich die Zahl der Siedler bis 2016 auf 391.000 verdreifacht. Nicht zu vergessen sind zusätzlich die neuen jüdischen Stadtbezirke in Ost-Jerusalem, deren Einwohner 2014 rund 200.000 ausmachten (gegenüber etwa 250.000 Palästinensern). Groß angelegte Wohnungsbauprogramme in Ost-Jerusalem und Gilo (das von Israel als Teil Jerusalems betrachtet wird, de facto aber auf der palästinensischen Seite der Grünen Linie liegt) haben die Zahl der jüdischen Einwohner seither weiter in die Höhe getrieben. Wie das Westjordanland war Ost-Jerusalem bis 1967 ausschließlich arabisch (nach der Vertreibung aller Juden im jordanischen Teil 1948).123 Der Bau der Sperranlagen seit 2003 und das ausschließlich von Israelis zu benutzende Straßennetz, das jüdische Siedlungen im Westjordanland miteinander und mit dem israelischen Kernland verbindet, setzt die Politik der Einkreisung und Isolation arabischer Orte fort. Dadurch, dass palästinensisches Agrarland beim Bau der Mauer oft auf die israelische Seite zu liegen kommt, wird mittelfristig dessen Beschlagnahmung für jüdische Siedlungsvorhaben begünstigt. Dies gilt vor allem für das Umland von Jerusalem und betrifft dort die christlichen Orte Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour. Anhand dieser Orte sei die Wirkung der israelischen Siedlungspolitik und des Mauerbaus auf die Christen dargestellt. Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour bilden südlich von Jerusalem ein „christliches Dreieck“ von Städten. Bethlehem hat zwar heute weniger als 30 Prozent christliche Einwohner (manche vermuten, es könnten sogar nur noch 12 Prozent sein. 1948 waren es 85 Prozent). In Beit Jala und Beit Sahour leben aber noch 60 Prozent, respektive 65 Prozent Christen. Etwa zwei Drittel der christlichen Einwohner des Westjordanlandes, Gazas und Jerusalems leben in einer der drei Städte. Beit Jala und Beit Sahour stagnierten seit 1948 in ihrem Bevölkerungswachstum durch massive Auswanderung von Christen, während muslimische Städte und die jüdische Bevölkerung Israels rasant wuchsen. Bethlehem entwickelte sich durch die 1973 als katholische Hochschule und erste palästinensische Universität gegründete Bethlehem University zwar zu einem geistigen Zentrum.124 Wie in Jerusalem und Nazareth betrieb die israelische Regierung jedoch nach 1967, vor allem aber seit dem Einfrieren des Friedensprozesses in den 1990er Jahren, systematisch die Ein­ engung des natürlichen Expansionsraums der Städte. Die jüdische Siedlung Har Homa, auf dem Hügel zwischen Jerusalem und Bethlehem gelegen, schneidet Bethlehem von jeglicher städtebaulichen Entwicklung Richtung Norden ab und ist gleichzeitig Teil eines Rings von jüdischen Siedlungen rund um das arabisch bewohnte Ost-Jerusalem. 123 Wolffsohn/Grill 2016:21–25. CIA Worldfactbook https://www.cia.gov/library/publications/the-­ world-­factbook/geos/we.html (abgerufen am 30.07.2018). 124 In der Tradition der Christlichen Schulbrüder (De la Salle-Brüder) und von diesen verwaltet, steht sie Studenten aller Glaubensrichtungen offen. Wegen der eingeschränkten Mobilität von Professoren und Studenten bietet die Hochschule heute auch einzelne Lehrveranstaltungen in Jerusalem, Ramallah, Emmaus-Qubeibeh und in der jordanischen Hauptstadt Amman an. Mit 3.318 Studenten im Studienjahr 2017/2018 ist sie eine der wichtigsten Bildungseinrichtungen in Palästina.

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Mit der zweiten Intifada schränkte die israelische Regierung Arbeitsmöglichkeiten für Palästinenser aus den Autonomiegebieten in Israel stark ein. Da viele Christen in Bethlehem lebten und in Jerusalem arbeiteten, traf sie dies hart. Der Bau der Mauer isoliert Bethlehem und die Nachbarorte zusätzlich. In Beit Jala wurde der Bau der Mauer zu einer Existenzfrage für viele christliche Familien sowie für eine katholische Schule. 2003 kündigte das israelische Militär an, die Trennmauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten durch das Tal von Cremisan führen zu wollen. Bei dem vorgelegten Verlauf der Mauer wäre der Konvent und die Schule der Salesianerinnen auf die palästinensische Seite, der Konvent der Salesianerbrüder und die dazugehörigen Weinberge auf die israelische Seite zu liegen gekommen. Außerdem hätten die Bewohner von Beit Jala keinen Zugang mehr zu ihren Ölbaum-Pflanzungen gehabt, die jenseits der Mauer gelegen hätten. Die Kirche und die Bewohner von Beit Jala protestierten. Der Streit und die Proteste zogen sich über Jahre hin. Im April 2015 entschied der Oberste Gerichtshof Israels überraschend, dass der Mauerverlauf illegal sei. Es schien ein Sieg für die Palästinenser und die Kirche zu sein. Aber bereits im Juli revidierte dasselbe Gericht sein Urteil und erklärte den Grenzverlauf für rechtens. Am 19. August 2015 begann die Armee mit den Arbeiten. Der Konvent der Salesianer, das Kloster der Salesianerinnen und die Felder liegen heute auf israelischer Seite. 58 Familien, die auf der palästinensischen Seite wohnen, haben keinen freien Zugang mehr zu ihren Feldern und müssen dafür die Checkpoints passieren.125 Die Mauer und die über 600 Checkpoints zerteilen das Westjordanland in unzählige Inseln und machen Palästinensern die Bewegung zwischen den einzelnen Städten fast unmöglich. Auch von Jerusalem, inklusive der arabischen Viertel der Stadt, sind sie durch Zugangsbeschränkungen abgeschnitten. Christliche Familien, von denen ein Teil in Jerusalem, ein anderer Teil in der Westbank lebt, können sich seither kaum noch begegnen. Der Gaza-Streifen ist völlig blockiert, so dass Kontakte zwischen Paläs­tinensern aus der Westbank und Gaza praktisch nicht möglich sind. Bei seinem Besuch im Heiligen Land ließ Papst Franziskus seine Fahrt von Jerusalem nach Bethlehem am 25. Mai 2014 spontan unterbrechen, um, die Hand an die Mauer gelegt, an der Sperranlage still zu beten.

Israel: zwischen Falken und Tauben Die Araber in Israel, Christen wie Muslime, leben seit jeher zwischen der Politik der Falken und der Tauben. Als Falken werden in der israelischen Politik diejenigen bezeichnet, die keine oder kaum Kompromisse mit der arabischen Seite einzugehen bereit sind. Dies betrifft die Rückgabe der 1967 von Israel besetzten Gebiete, die Siedlungspolitik und die Rechte von Arabern in Israel. Sie treiben namentlich den Aus­ bau der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und den Neubau jüdischer 125 Twal 2016:128–134.

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Stadtviertel in Ost-Jerusalem voran. Tauben sind die, die an einer Kooperation mit den Arabern interessiert sind, den Ausbau jüdischer Siedlungen in umstrittenen oder eindeutig palästinensischen Gebieten ablehnen und bereit sind, im Sinne einer „Land für Frieden“-Politik den größten Teil der besetzten Gebiete an die Palästinenser abzutreten. Tauben und Falken gibt es auf allen Seiten des israelischen Parteienspektrums: in den rechten, den linken beziehungsweise Arbeitsparteien und in den religiösen Parteien. Arabische Christen können sinnvollerweise nur mit den Tauben zusammenarbeiten. Christlich zionistische Gruppen, die allerdings zum allergrößten Teil aus Ausländern meist amerikanischer Herkunft bestehen, unterstützen in der Regel die Falken. Infolge des Scheiterns des Friedensprozesses, der von den Tauben vorangetrieben worden war, der daraus resultierenden Enttäuschungen und des palästinensischen Terrorismus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bestimmen Falken seit dieser Zeit immer mehr das Bild der Gesellschaft in Israel. Aufgrund dieser Entwicklung wächst nicht nur im Westjordanland und im Gaza-­ Streifen der Druck auf Christen. Auch in Israel wurde die Situation für sie immer schwieriger. Dabei fühlen sich Christen durch die zunehmende Radikalität in Kreisen jüdischer Siedler auf der einen Seite und der muslimischen Gesellschaft in Israel auf der anderen Seite bedroht. Extremistische Juden hatten bereits Anfang 1980 eine Reihe von Übergriffen auf Kirchen und Geistliche verübt. Sie gehörten der Kach-Bewegung des radikalen Rabbi Meir Kahane an. Der Sprecher der Kach-Bewegung wurde damals mit den Worten zitiert: „Christen haben keinen Platz in Jerusalem; es ist die jüdische Hauptstadt.“ Am 6. Juli 1980 beklagten mehrere katholische Kirchenführer in einer gemeinsamen Erklärung die Übergriffe und die offensichtliche Straflosigkeit, derer sich die Täter erfreuen konnten. Im Juni desselben Jahres wurden dann die palästinensischen Bürgermeister von Nablus und des stark christlich geprägten Ramallah bei Anschlägen jüdischer Extremisten schwer verletzt.126 Ab 1990 erregte die Besetzung des Sankt Johannes-Hospizes, einem Pilgerhotel der griechisch-orthodoxen Kirche im christlichen Viertel der Jerusalemer Altstadt, durch radikale israelische Siedler Unmut unter den Christen. Die Siedler präsentierten einen Kaufvertrag mit einem zwielichtigen Mittelsmann und einer in Panama registrierten Firma. Der Versuch des griechischen Patriarchen Diodoros, durch seine Präsenz in dem Gebäude die Eigentumsrechte durchzusetzen, wurde von Seiten der Siedler mit physischer Gewalt gegen seine Person beantwortet. Zwar urteilte der Oberste Gerichts­hof Israels zugunsten des Patriarchats und ordnete die Räumung des Gebäudes an, setzte dann aber seinen eigenen Beschluss aus und erklärte ihn für vorläufig. In mehreren gemeinsamen Erklärungen protestierten die Patriarchen der christlichen Kirchen zusammen mit dem Supreme Muslim Council gegen das Vorgehen und warnten davor, die sensiblen demographischen Verhältnisse in der Altstadt von Jerusalem zu verändern. Da auch die israelische Regierung und die Stadtverwaltung von Jerusalem nichts zugunsten der Durchsetzung der Eigentumsrechte des Patriarchats unter126 Rokach 1987:180–182, 190–191.

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nahmen, änderte dies auch die bis dahin recht positive Einstellung des griechischen Patriarchats zu den israelischen Behörden.127 Nach der Wahl von Patriarch Irenaios 2002 machten die Siedler die Rückgabe des Hospizes vom Verkauf von zwei Hotels am Jaffa-Tor abhängig. Der Patriarch stürzte 2005 über dieses Immobiliengeschäft, das erneut über einen zweifelhaften Mittelsmann abgewickelt worden war und das den Zorn der arabischen Gläubigen hervorgerufen hatte. Irenaios sitzt seither in Kirchenhaft. 2017 urteilte der Oberste Gerichtshof Israels schließlich zuungunsten des Patriarchats und erklärte den Verkauf für rechtmäßig. Patriarch Theophilos III. reagierte mit einer öffentlichen Stellungnahme und klagte die Ungerechtigkeit des Urteils an. Kurz darauf reichten palästinensische Vertreter der griechisch-orthodoxen Laien Strafantrag gegen den Patriarchen ein. Sie warfen ihm vor, Kirchenland an jüdische Israelis verkauft und damit die kirchliche Verantwortung zum Schutz palästinensischen Landes verletzt zu haben. Zu erwähnen ist hier auch die internationale Bewegung des christlichen Zionismus. Sie ist vor allem in evangelikalen Kreisen der USA beheimatet und steht seit den 1970er Jahren fest an der Seite Israels und seiner Sicherheits- und Siedlungspolitik. Als 1980 der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen das israelische Gesetz protestierte, das „das vollständige und vereinigte Jerusalem“ zur Hauptstadt Israels erklärte, gründete ein niederländischer Pastor in Jerusalem die International Christian Embassy Jerusalem. Die Initiative, die Israels Recht auf Herrschaft über Jerusalem und das gesamte Gebiet westlich des Jordans aus christlicher Sicht theologisch begründete, wuchs schnell und fand weltweit Anhänger und Unterstützer. Sie versteht sich als Teil des internationalen Zionismus und leistete in den 1990er Jahren logistische Unterstützung bei der Einwanderung von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Sie gibt mehrere Newsletter heraus, verteidigt die Politik Israels und organisiert Pilgerreisen ins Heilige Land, bei denen sie für ihre Anliegen wirbt. Die israelische Regierung förderte die Aktivitäten der „Botschaft“ von Beginn an.128 Unter einheimischen Christen hat der christliche Zionismus praktisch keine Unterstützer. Von Seiten der lokalen Kirchen und des Middle East Council of Churches werden die International Christian Embassy und ihre Aktivitäten immer wieder scharf kritisiert. Nazareth bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die israelische Politik der Diskriminierung gegen die arabische Bevölkerung und der Aufstieg des Islamismus in der palästinensischen Gesellschaft auf Christen in Israel auswirkte. Nazareth, das christliche Zentrum in Galiläa, erlebte durch den arabisch-israelischen Krieg von 1948 entscheidende Veränderungen. Die Stadt lag in einem weitgehend arabischen Gebiet, so dass keiner der Teilungspläne vorgesehen hatte, sie und ihr Umland dem jüdischen Gebiet zuzuschlagen. Dennoch rückten jüdische Einheiten auf die Stadt vor und eroberten sie. Die Bewohner der meisten arabischen Dörfer flohen und durften auch nach dem Waffenstillstand nicht zurückkehren, selbst wenn sie nur im wenige 127 Tsimhoni 1993:176–180; Dumper 1995:285–287. 128 Über den christlichen Zionismus amerikanischer Prägung siehe Merkley 2001:161–183.

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Kilometer entfernten Nazareth, das als sicherer galt als die Dörfer, Zuflucht gefunden hatten und ihre Häuser und ihr Land weiter für sich beanspruchten. Die Dörfer wurden zerstört, das Land enteignet und jüdischen Siedlern zugeteilt. Die Flucht der arabischen Bevölkerung aus den Dörfern änderte die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt. Waren bis 1948 rund 60 Prozent der Bevölkerung Christen und 40 Prozent Muslime, kehrte sich dies um: das Eintreffen der überwiegend (allerdings nicht ausschließlich) muslimischen Vertriebenen führte dazu, dass die Christen in die Minderheit gerieten und nur noch 40 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten. Eine weitere Veränderung ergab sich durch die Gründung der jüdischen Siedlung Natzeret ʻIllit auf dem Hügel oberhalb des alten Nazareth im Jahr 1957. Die bewohnbaren Hügel im Umland wurden nach und nach der jüdischen Siedlung zugeschlagen, so dass die arabische Stadt in ihrer Ausdehnung eng begrenzt und auf das alte Stadtgebiet beschränkt wurde. Im jüdischen Natzeret ʻIllit konnten Araber praktisch keine Häuser erwerben oder Wohnungen mieten – teils wegen administrativer Restriktionen oder unüberwindlicher bürokratischer Hürden, teils aus sozialen Gründen. Mit dem natürlichen Bevölkerungswachstum wurde die Wohnsituation immer beengter. Zwar entstand ein etwas großzügiger angelegtes Wohnviertel in al-Kurum, das auch (fast ausschließlich christlichen) arabischen Familien offenstand, dennoch bewirkte der knapp bemessene Wohnraum, der gerade Mittelstandsfamilien kaum standesgemäßes Wohnen erlaubte, dass immer mehr Familien Nazareth verließen (viele von ihnen wanderten gleich ganz aus Israel aus). Der Abwanderungsdruck erhöhte sich weiter durch die hohe Arbeitslosigkeit. Sie war im arabischen Nazareth unter anderem dadurch bedingt, dass die israelischen Behörden dort kaum Gewerbeflächen auswiesen, während solche für jüdische Unternehmen in Natzeret ʻIllit großzügig zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem bewirkte der Mangel an städtischen Dienstleistungen, dass viele Araber die Stadt verließen. Wie die meisten arabischen Gemeinden in Israel erhielt Nazareth Anfang der 2000er Jahre, verglichen mit jüdischen Kommunen, effektiv nur rund die Hälfte an staatlichen Zuwendungen für den Erhalt der kommunalen Infra­struktur und Dienstleistungen wie Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Abfallentsorgung. Bis in die 1980er Jahre war es sogar nur ein Drittel dessen, was jüdische Gemeinden pro Kopf erhielten. In den Jahren ab 1997 wurde Nazareth von heftigen christlich-muslimischen Spannungen erschüttert. Für die Jubiläumsfeiern des Jahrs 2000 hatte der Bürgermeister von der kommunistischen Peopleʼs Party den Bau eines Geschäftszentrums in unmittelbarer Nähe der zentralen Verkündigungsbasilika geplant. Ein kleiner muslimischer Schrein aus osmanischer Zeit, in dem Shihab al-Din, ein Kampfgefährte und Neffe Saladins, verehrt wurde, sollte darin integriert werden. Dagegen regte sich jedoch muslimischer Protest, geschürt von der radikalen Islamic Movement Party. Am 24. Dezember 1997 besetzten betende Muslime den Platz und forderten den Bau einer Moschee, die den Namen Shihab al-Dins tragen sollte. In den folgenden Monaten wurde ein provisorisches Moschee-Zelt errichtet und der Platz dauerhaft besetzt. Die muslimischen Proteste wurden immer bedrohlicher für Pilger, Touristen und die mehr-

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heitlich christlichen Geschäftsleute rund um den Bauplatz. An den Ostertagen 1999 (nach westlichem Kalender; die Orthodoxen feierten Palmsonntag) kam es schließlich zur Gewalt. Ein muslimischer Mob plünderte christliche Geschäfte im Zentrum von Nazareth, zündete Autos an, die nach dem Ausweis der darin aufgehängten Rosenkränze Christen gehörten, und ging auf Christen los. Die israelische Polizei sah dem Geschehen weitgehend untätig zu. Die Gewalt war die Frucht monatelangen Predigens radikal-islamischer Imame, die gegen die „Ungläubigen“ und „Kreuzfahrer“ wetterten und Muslime zum Schutz des Schreins des „Märtyrers Shihab al-Din“ aufriefen. Ende 1999 beschloss die israelische Regierung den Bau einer Moschee auf einem Teil des Geländes, während der Rest für das Einkaufszentrum zur Verfügung stehen sollte. Die christliche Bevölkerung Nazareths und die Kirchen protestierten; nicht nur wegen der Größe der Moschee, sondern auch, weil Gewalt von Radikalen belohnt wurde. Die Patriarchen der katholischen, griechisch-orthodoxen und armenischen Kirche kündigten gemeinsam mit der franziskanischen Kustodie des Heiligen Landes an, alle Kirchen aus Protest für zwei Tage zu schließen, falls mit dem Bau der Moschee tatsächlich begonnen würde. Die anderen Kirchen schlossen sich der Forderung an. Dennoch versammelte sich am 22. November 2000, dem geplanten Baubeginn, eine große Menge von Muslimen auf dem Bauplatz, um den Grundstein zu legen. Die Kirchenführer zogen die Konsequenzen und schlossen die Kirchen. In ihrem Protest wurden sie von der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Yasser Arafat und sogar von Saudi-Arabien unterstützt, das anbot, den Bau einer Moschee an einer anderen Stelle in Nazareth zu finanzieren. Die internationale Aufmerksamkeit zeigte Wirkung. Der Bau wurde gestoppt und die bereits fertiggestellten Teile 2003 wieder abgerissen. Das Verhältnis von palästinensischen Christen und Muslimen aber war durch den Streit um die Moschee weit über Nazareth hinaus dauerhaft beeinträchtigt. Christen fühlten sich von ihren muslimischen Mitbürgern verraten und an den Rand gedrängt. Für die wirtschaftliche Entwicklung und das Pilgerwesen in Nazareth war der Streit ohnehin eine Katastrophe.129 Das politische Engagement von Christen in Israel ist, vor allem im Vergleich zur frühen Phase Israels, in der überproportional viele arabische Christen in der Politik aktiv waren, heute gering. 1995 gründete eine Gruppe arabischer Intellektueller um den Christen Azmi Bishara aus Nazareth die Balad-Partei (Brit leʼumit demoqratit/ al-Taǧammuʿ al-waṭanī al-dimūqrātī). Sie tritt für einen Umbau Israels in einen binationalen Staat ein, in dem Juden und Araber gleichberechtigt sind.130 In der aktuellen Knesset (gewählt 2015) finden sich nur zwei christliche Abgeordnete, beide gehören 129 Zur Entwicklung Nazareths und den geschilderten Ereignissen: Sennott 2003:203–231. 130 1996 wurde Bishara für die Partei in die Knesset gewählt. 2003 und 2009 schloss die Wahlkommission die Partei von den Parlamentswahlen aus mit der Begründung, sie akzeptiere nicht den jüdischen Charakter des Staats (2003) beziehungsweise rufe zum bewaffneten Kampf gegen Israel auf (2009). Die Entscheidung wurde jeweils vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, so dass die Partei an den Wahlen teilnehmen konnte. Bis zur aktuellen Knesset hat sie jeweils drei Sitze gewonnen. Einer davon ging weiterhin an Azmi Bishara, bis dieser nach heftiger Kritik an Israels Libanon-Krieg 2006 das Land verließ und nach Qatar ins Exil ging.

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der Joint List an, der gemeinsamen Wahlliste mehrerer arabischer Parteien (darunter Balad). Bei kaum einem der Politiker spielt der christliche Glaube eine besondere Rolle. Massivem israelischen Druck ist seit einigen Jahren das christliche Schulwesen ausgesetzt. Die Kirchen, besonders die katholische und die protestantische Kirche, bis zu einem gewissen Grad auch die orthodoxe Kirche, sind im Bildungswesen traditionell sehr stark.131 Die christlichen Kirchen betreiben in Israel 48 Schulen für rund 33.000 Schüler. Die meisten Schulen gehören der katholischen Kirche, aber auch die orthodoxe, anglikanische und schottische Kirche sowie andere evangelische Gruppen haben einige Schulen. Die christlichen Schulen fühlen sich allerdings von der israelischen Regierung gegenüber den jüdischen Privatschulen benachteiligt. Das Problem ist, dass in den vergangenen Jahren die Zuschüsse des Erziehungsministeriums für alle anerkannten, nichtöffentlichen Schulen deutlich gekürzt wurden. Das Ergebnis war, dass die christlichen Schulen im Durchschnitt nur noch einen Zuschuss von 29 Prozent zu ihrem Gesamthaushalt bekamen. Das stellte die Schulen vor die Existenzfrage. Das Schulbüro der katholischen Kirche argumentierte, dass die meisten jüdischen Privatschulen ihre Zuschüsse gar nicht vom Erziehungsministerium, sondern aus einer besonderen Haushaltslinie des Finanzministeriums erhielten. Damit bekamen sie einen deutlich höheren Budgetzuschuss als die christlichen Schulen. Von der Kirche mit den Finanzproblemen der Schulen konfrontiert, schlug die Regierung vor, die Schulen zu öffentlichen Schulen zu machen. Dies verstand nun die Kirche wiederum als Versuch der Enteignung. Sie warnte vor dem Verlust der christlichen Identität ihrer Bildungseinrichtungen. Die Schulen traten im September 2015 in einen vierwöchigen Streik. Die israelischen Behörden willigten daraufhin ein, eine gemeinsame Kommission aus Vertretern der Schulen und des Erziehungsministeriums einzusetzen. Zwar wurde die Zahlung von 50 Millionen Schekel (etwa 11 Millionen Euro) bis zum 31. März 2016 versprochen, allerdings erst mit Verspätung getätigt und ist inzwischen eingegangen. Vorläufig scheint die Frage gelöst. Ein bitterer Beigeschmack bleibt jedoch und das Vertrauen zwischen der Kirche und dem Erziehungsministerium ist zerrüttet.132 Die Kenntnisse über das Christentum in der jüdischen Gesellschaft Israels sind nicht sehr hoch. Oft herrschen Fehl- und Vorurteile wie „Christentum ist Götzendienst“. Außerdem bestehen historische Verletzungen, die in der jahrhundertelangen Minderheitensituation von Juden in christlichen Gesellschaften wurzeln. Viele Israelis haben zudem den Eindruck, die Christen und die Kirchen würden sich im israelisch-palästinensischen Konflikt auf die Seite der Araber schlagen. Gegen dieses mangelnde Wissen und gegen Fehlurteile über das Christentum kämpfen einige Gruppen in der israelischen Gesellschaft an. Als Beispiel sei hier das Rossing Center for Education and 131 Dies schon vor der Gründung des Staats Israel. Als Beispiel die Zahlen für 1945/46: 113 katholische Schulen (18.593 Schüler), 30 protestantische Schulen (5.023 Schüler), 30 griechisch-orthodoxe Schulen (4.184 Schüler), 9 sonstige christliche Schulen (1.436 Schüler). Sfeir 1994:79. 132 Vom Standpunkt des Plädoyers aus ist die Schulfrage dargestellt von Twal 2016:121–123. Präzise Hintergrundinformationen zu diesem Thema verdanke ich Bernd Mussinghoff, der für den Deutschen Verein vom Heiligen Lande in Jerusalem mit dieser Frage beschäftigt war.

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Dialogue genannt, 2003 von Daniel Rossing (einem Konvertiten vom Protestantismus und langjährigem Direktor der Abteilung für die christlichen Gemeinschaften im israelischen Religionsministerium) unter dem Namen Jerusalem Center for Jewish-Christian Relations gegründet.133 Zwar zeigen derartige Initiativen in ihrem unmittelbaren Wirkungsbereich einige positive Effekte, es gelingt ihnen aber bisher nicht, das allgemeine gesellschaftliche Klima umzukehren. In den Medien und der Politik macht sich – auch unter dem Einfluss der israelischen Falken – eine gewisse anti-christliche Stimmung breit. In ihrer Extremform ruft sie Verachtung von Christen hervor, die gerade im Umfeld der Heiligen Stätten dazu führt, dass christliche Geistliche in traditioneller Kleidung auf der Straße angespuckt werden. In den vergangenen Jahren gab es auch immer wieder Akte des Vandalismus gegenüber kirchlichen Gebäuden und Friedhöfen: so Brandanschläge auf das Kloster der Trappisten in Latrun (2012) und der Benediktiner in Tabgha am See Genezareth (2015), antichristliche Schmierereien an der Dormitio-Abtei in Jerusalem 2013 und 2016 und dem Heiligtum in Deir Rafat (2014), Schändung des Friedhofs der Salesianerkonvents von Bet Gemal (2016). Bei den Tätern handelte es sich um extremistische Juden, die keinen Hehl aus ihren Taten machten. Eine besonders extreme Gruppe mit gewaltsamer nationalreligiöser Ideologie, Tag Meḥir (hebräisch für „Preisschild“, gemeint ist der Preis, der für den Widerstand gegen die jüdische Herrschaft im biblischen Eretz Israel zu zahlen ist), greift palästinensische, muslimische und christliche Ziele an und bisweilen sogar die israelische Armee.134 Angesichts dieser Probleme stellt sich die Frage, wie sich Christen, vor allem die arabischen Christen, heute in die Gesellschaft des Staats Israel integrieren können. Die Frage ist auch im Rahmen der Verabschiedung des Nationalitätengesetzes durch die Knesset am 19. Juli 2018 wieder aktueller denn je. Das Gesetz hat Verfassungsrang und bekräftigt den jüdischen Charakter des Staats, geht aber noch einen Schritt darüber hinaus, indem es das Recht auf nationale Selbstbestimmung in diesem Staat allein dem jüdischen Volk zuschreibt. Damit wird die Frage nach dem Charakter des Staats Israel wieder aufgegriffen. Seit den 1980er Jahren hatte es immer wieder Diskussionen gegeben, ob Israel nicht auch ein nicht-zionistischer, binationaler Staat, bestehend aus zwei gleichberechtigten Staatsvölkern – Juden und Arabern – sein könne.135 Allerdings blieb diese Meinung in Israel eine Randerscheinung. Das Gesetz vom Juli 2018 setzte der Diskussion einen vorläufigen Endpunkt. Darin heißt es in Artikel 1: „B. Der Staat Israel ist die nationale Heimstätte des jüdischen Volks, in der es sein natürliches, kulturelles, religiöses und historisches Recht auf Selbstbestimmung verwirklicht. C. Das Recht zur Ausübung der nationalen Selbstbestimmung im Staat Israel kommt allein 133 Siehe die Homepage des Vereins: www.rossingcenter.org (abgerufen am 01.09.2018). 134 Twal 2016:119–121. 135 So von der Progressiven Friedensliste. Die Partei errang 1984 zwei, 1988 ein Knesset-Mandat. 1988 schloss die Wahlkommission sie von den Parlamentswahlen aus, weil sie sich gegen den jüdischen Charakter des Staats ausspreche. Diese Entscheidung wurde jedoch vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. 1992 konnte die Partei kein Knesset-Mandat mehr erringen und verschwand. Ab 1995 wurde die Frage von der Balad-Partei wieder aufgegriffen, siehe oben.

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dem jüdischen Volk zu.“ Amtssprache ist nach dem neuen Gesetz nur noch Hebräisch. Dem Arabischen, das seit 1948 ebenfalls Amtssprache war, kommt nur noch ein nicht näher definierter besonderer Status zu. Der Status des „vollständige[n] und vereinte[n] Jerusalem“ als Hauptstadt wird bekräftigt. Welche Auswirkungen das neue Gesetz auf die Lebenswirklichkeit der nicht-jüdischen Israelis haben wird, ist offen. In vielem bestätigt das Gesetz nur, was in den Köpfen der allermeisten jüdischen Israelis schon immer verankert ist und in der Praxis gilt: Dass Israel ein Staat ist, in dem Juden aus aller Welt Aufnahme, Sicherheit und die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Lebensweise in Einklang mit ihrer Religion, Weltanschauung und Kultur finden. Insofern war die „nationale Selbstbestimmung“, deren Realisierung das neue Gesetz nun allein den Juden zugesteht, auch vorher – wenn nicht niedergeschrieben, so doch gedanklich und in der Praxis – für andere Völker, namentlich die palästinensischen Araber, ausgeschlossen. Dies hätte den Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und dem Selbstverständnis eines Großteils der jüdischen Israelis widersprochen. Eine Ermutigung, sich in das Gemeinwesen einzubringen, ist das Gesetz für israelische Araber, Muslime und Christen aber bestimmt nicht. Dementsprechend wurde es auch von dem lateinischen Patriarchat von Jerusalem, dem griechisch-orthodoxen Patriarchen und dem evangelisch-lutherischen Bischof kritisiert.136

136 Das lateinische Patriarchat von Jerusalem protestierte in einer ausführlichen Stellungnahme vom 30. Juli 2018 gegen das Nationalitätengesetz. Es lasse jedwede verfassungsmäßige Garantie für die Rechte der in Israel lebenden Palästinenser und anderer Minderheiten vermissen. „Das Gesetz mag keine praktischen Auswirkungen haben, aber es sendet ein unmissverständliches Signal an die palästinensischen Bürger von Israel, besagend, dass sie in diesem Land nicht zuhause sind.“ Dabei verwies die Stellungnahme auf die Gründungsdokumente des Staats Israel, nämlich die UN-Resolution von 1947 zur Aufteilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat und die Unabhängigkeitserklärung Israels von 1948: „Dieses diskriminierende Gesetz steht in direktem Widerspruch zur Resolution 181 der Generalversammlung der Vereinten Nationen und zu Israels eigener Unabhängigkeitserklärung. Erstere garantierte die Errichtung eines jüdischen Staats unter gleichzeitiger Sicherstellung voller Bürgerrechte für die Araber in diesem Land, und im Zweiteren verpflichteten sich die Gründer des Landes klar und unmissverständlich, seine Entwicklung zum Wohl all seiner Bewohner zu fördern und die vollständige Gleichheit von sozialen und politischen Rechten für all[e] sicherzustellen, unabhängig von Religion, Rasse oder Geschlecht.“ Das Patriarchat kritisierte die fehlende Rechtsgleichheit und forderte die Anerkennung der kollektiven Rechte der israelischen Araber. „In anderen Worten, das Gesetz sagt, dass es keine gleichen Rechte zwischen Juden und Arabern gibt und weigert sich, deren Existenz anzuerkennen. Es ist nicht genug, individuelle Rechte zu haben und zu garantieren. Jeder Staat mit großen Minderheiten sollte die kollektiven Rechte dieser Minderheiten anerkennen und die Bewahrung ihrer kollektiven Identität garantieren, einschließlich ihrer Religion, ihrer ethnischen und sozialen Traditionen.“ Statement des Lateinischen Patriarchats zum neuen israelischen Nationalstaatsgesetz, 30. Juli 2018, https://www.lpj.org/statement-lateinischen-patriarchats-zum-neuen-israelischen-nationalstaatsgesetz/?lang=de (abgerufen am 31.07.2018). Der lutherische Bischof von Jordanien und dem Heiligen Land, Sani Ibrahim Azar, kritisierte das Gesetz ebenfalls und rief dazu auf, es zu widerrufen. Es sei „grundlegend spaltend, rassistisch und destruktiv“. Trotz der großen Vielfalt im Land gebe das Gesetz einer Kultur und ethnischen Gruppe den Vorzug. Damit sei es schwierig geworden, den von Israel kritisierten Begriff Apartheid zur Beschreibung der Situation im Land zu vermeiden. KNA 02.08.2018. Der griechisch-orthodoxe Patriarch, Theophilos III., merkte an, dass das Gesetz Christen und Muslime, die schon vor der Staatsgründung Israels im Land gelebt haben, ignoriere. Außer­dem stärke es „die Institutionalisierung von Rassismus“ und mache „Hoffnungen auf Gleichheit“

Fazit: Anpassung oder Auswanderung

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Fazit: Anpassung oder Auswanderung Konfessionelle Spaltung, Enttäuschung über das Unverständnis mancher ausländischer kirchlicher Hierarchen für die Anliegen der palästinensischen Gläubigen, die fortdauernde Diskriminierung durch israelische Behörden, die wachsende Kluft zwischen der Entwicklung und dem Lebensstandard der Menschen in arabischen und jüdischen Städten und Gemeinden, Ausschluss aus dem politischen Leben … All dies führt seit Jahrzehnten zu einer kontinuierlichen Abwanderung arabischer Christen aus Israel. Die Zuwanderung von Juden nach Israel verringert den Anteil der arabischen Bevölkerung, vor allem der Christen unter ihnen, und fördert die Marginalisierung. Christen machen in Israel heute nur noch 2,4 Prozent der Bevölkerung aus, während es bei der Gründung des Staats Israel 1948 noch rund 10 Prozent waren. In den palästinensischen Gebieten sieht es nicht viel besser aus. Die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft, die Gewalt während der zweiten Intifada, das mangelnde Verständnis bei vielen Muslimen für die Anliegen der Christen, die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, der einbrechende Tourismus im christlichen Kernland in und um Bethlehem, die Abriegelung der Palästinensergebiete durch Israel, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch israelische Restriktionen, das Gefühl, hinter Mauern zu leben, die festgefahrene politische Situation wegen des Konflikts zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und der PLO auf der einen Seite und der Hamas und radikalen Gruppen auf der anderen Seite … All dies drängt Christen zur Auswanderung. Dass viele bereits Verwandte im Ausland haben, vor allem auf dem amerikanischen Kontinent, erleichtert ihnen die Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen. Die fortdauernde Auswanderung beeinflusst die Mentalität der verbleibenden Christen stark. Sie fühlen sich alleingelassen und gesellschaftlich immer weiter an den Rand gedrängt. Die zunehmende Islamisierung ihrer muslimischen Nachbarn tut ein Übriges, um dieses Gefühl zu verstärken. Die Wanderungsbewegungen von Christen, sei es die Konzentration in den Städten zu Lasten der ehemals mehrheitlich christlichen Dörfer, sei es die Abwanderung von Christen aus dem Heiligen Land, führte dazu, dass es heute quasi keinen christlich geprägten Raum mehr gibt.137 Nazareth (2015: 22.300 Christen), die Dörfer Galiläas, das kurzzeitig (nach der Ansiedlung zahlreicher christlicher Flüchtlinge 1948) mehrheitlich christliche Ramallah und selbst Bethlehem haben heute muslimische Bevölkerungsmehrheiten. In Jerusalem wird der Anteil der Christen auch im arabischen Teil immer niedriger, ganz zu schweigen von dem Verhältnis in ganz Jerusalem (2015: 12.400 Christen, rund 500.000 Juden und 300.000 Muslime, d. h. 1,5 Prozent Christen). Der öffentliche Raum ist dort somit nicht mehr christlich, sondern eindeutig muslimisch oder jüdisch geprägt. Das Bevölkerungswachstum ist bei den Christen mit 1,5 Prozent am niedrigsten; die jüdische Bevölkerung wächst zunichte. https://www.oikoumene.org/en/press-centre/news/wcc-and-local-churches-expresses-deepconcern-about-jewish-nation-state-law, 03.08.2018 (abgerufen am 08.08.2018). 137 Zur Emigration siehe vor allem die Arbeiten von B. Sabella, so Sabella 1994.

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um 1,9 Prozent pro Jahr, die muslimische um 2,4 Prozent.138 Dies erhöht das Gefühl des Schwindens der Christen und das Klagen über die Emigration.139 Auf die Indifferenz oder Ablehnung, die die jüdische und muslimische Mehrheitsgesellschaft gerade gegenüber den arabischen Christen an den Tag legt, reagieren Christen in unterschiedlicher Weise. Im besten Falle – und dies wird von den Kirchenführungen der traditionellen Kirchen besonders gefördert – versuchen sie, in Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft zu kommen und auf gemeinsame Werte zu verweisen, um Respekt und Gleichberechtigung zu erreichen sowie in der eigenen Gemeinde den Sinn für Engagement in der Gesellschaft zu stärken. Viele Christen versuchen allerdings auch im Alltag, ihr Christsein möglichst zu verbergen, um nicht aufzufallen und keine Nachteile zu erleiden. Gerade im Berufsleben haben Christen mit Diskriminierung oder Abgrenzung durch Kollegen zu rechnen und zwar sowohl im muslimisch-palästinensischen als auch im jüdisch-israelischen Kontext. Sie versuchen also oft als Teil der Mehrheitsgesellschaft zu erscheinen. Eine dritte Strategie besteht im Rückzug in die eigene Gemeinschaft. Die Tatsache, dass die Kirchen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen zahlreiche eigene Institutionen unterhalten, erlaubt und befördert bisweilen sogar diese Haltung.140 So besuchen die meisten christlichen Kinder kirchliche, nur wenige dagegen staatliche Schulen. Wohnungsprojekte der Kirchen für christliche Familien befördern die Ansiedlung in rein oder überwiegend christlichen Wohnvierteln; Nachbarschaftsverhältnisse zu Juden beziehungsweise Muslimen werden so immer seltener. Der Rückzug in die eigene Gemeinschaft bringt häufig auch ein Abhängigkeitsverhältnis von materieller Hilfe durch die weltweite Christenheit mit sich. Es droht sich eine Empfängermentalität zu entwickeln.141 Schlussendlich reagieren viele Christen aber auch mit Emigration auf die Situation im Heiligen Land, seien es Ablehnung und Diskriminierung, die schlechte wirtschaftliche Lage in den Palästinensergebieten oder die allgemeine Sicherheitslage. Auffallend ist dabei, dass religiöser Extremismus 138 Gemäß den offiziellen israelischen Statistiken des Jahres 2015. POC 67 (2017):195–196. 139 Feldtkeller 1998:376–378. 140 Seit dem 19. Jahrhundert bauten die großen Kirchen, namentlich die katholische Kirche mit ihren Orden, aber auch die evangelischen Kirchen zahlreiche und teils sehr renommierte Einrichtungen auf. Aufgrund der Zahl und Größe der Einrichtungen übersteigt ihr Betrieb die Möglichkeiten der lokalen christlichen Gemeinden auf personeller und finanzieller Ebene teilweise erheblich. Das Bildungs­ wesen stellt einen der Schwerpunkte kirchlicher Arbeit dar. Hinzu kommen Krankenhäuser, Kinderund Waisenheime, Behinderteneinrichtungen, Altenheime und Sozialstationen. Sie liegen meistens im arabischen Milieu und sind daher in ihren Diensten auch für die muslimischen Bewohner offen. 141 So beklagte der lutherische Bischof Munib Younan in einem Interview in Zusammenhang mit seiner Verabschiedung im Januar 2018, dass die Christen im Land durch die Hilfsprojekte der Kirchen in die Rolle von Empfängern materieller Leistungen geraten seien. Für die Zukunft sei dies eine große Herausforderung, weil weniger spirituelle als materielle Erwartungen an die Kirchen gerichtet würden. „Unsere Gläubigen brauchen vordringlich eine tiefere Spiritualität als heute. Die Kirche, und damit meine ich alle Konfessionen, hat durch ihre karitative Arbeit dazu beigetragen, eine Generation von Abhängigen heranzubilden. Daher sind die Erwartungen der Gläubigen an die Kirche mitunter materialistisch statt spirituell. Die Kultur der Abhängigkeit besteht nach wie vor und ist eine große Herausforderung.“ KNA, 23. Januar 2018.

Fazit: Anpassung oder Auswanderung

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fast gar nicht als Auswanderungsgrund oder als Grund für das Unsicherheitsgefühl genannt wird. Für das Bleiben werden meist ideologische oder emotionale Gründe genannt: dass es das Standhaltevermögen (arabisch: ṣumūd, ein zentraler Begriff im palästinensischen Diskurs) unter Beweis stellt, oder dass man sich nicht von der Familie und von Freunden trennen möchte.142 Die Rolle derer, die bleiben, beschreibt der emeritierte lateinische Patriarch von Jerusalem, Fouad Twal (2008–2016), so: „Dazu bestimmt, die Dimension des ökumenischen und interreligiösen Dialogs voll zu leben, sind die Christen des Heiligen Landes dazu aufgerufen, Brücken zwischen den Religionen und Kulturen zu sein und gleichzeitig ihrem Glauben und dem Geheimnis Gottes, das in ihrem Land offenbart wurde, treu zu bleiben. Es ist eine schwierige und anspruchsvolle Mission, die die Christen aber erfüllen müssen. Wenn sie auf die Werte des Evangeliums vertrauen, ist die Präsenz der Christen im übrigen anerkannt als wichtiges Element für das Gleichgewicht, die Offenheit und die friedliche Koexistenz in dieser Region, die ein Pulverfass und durch alle möglichen Spaltungen zerrissen ist.“143

142 Neuhaus 2014:318–319. 28 % der Christen überlegen sich, ob sie auswandern sollen (33 % der Männer, 22 % der Frauen), in der Westbank: 25 %, in Gaza: 47 %. Gründe für das Unsicherheitsgefühl von Christen in Palästina: Wirtschaftliche Situation: 18 % (Westbank/WB), 0 % (Gaza), israelisch-palästinensischer Konflikt: 42 % (WB), 75 % (Gaza), regionale Unsicherheit: 18 % (WB), 0 % (Gaza), religiöser und rassistischer Extremismus: 3 % (WB), 25 % (Gaza). Gründe für die Auswanderung von Christen: wirtschaftliche Gründe (72 %), politisch (13 %), religiös (0 %), sozial (9 %), sonstige (6 %). Gründe dafür, nicht an Auswanderung zu denken (bei Christen): Wirtschaftlich stabile eigene Situation: 15 %, Kann nicht von Familie und Freunden getrennt leben: 36 %, Kann Job nicht aufgeben: 5 %, Mein Bleiben beweist das palästinensische Standhaltevermögen: 41 %. Sonstige: 3 %. Statistiken nach Raheb 2017. 143 „Destiné à vivre pleinement la dimension du dialogue, œcuménique et interreligieux, le chrétien de Terre sainte est appelé à être un pont entre les religions et les cultures, tout en restant fidèle à sa foi et au mystère de Dieu révélé dans sa Terre. Mission difficile et exigeante s’il en est, mais que le chrétien doit remplir. La présence chrétienne, forte des valeurs évangéliques, est d’ailleurs reconnue comme élément important d’équilibre, d’ouverture et de coexistence pacifique dans cette région-poudrière, dilacérée par les divisions de toutes sortes.“ Twal 2016:90–91.

Jordanien Dies geschah in Bethanien, auf der anderen Seite des Jordan, wo Johannes taufte (Joh. 1,28)

Beduinen und Missionare: das Ostjordanland am Ende der osmanischen Herrschaft

D

as Ostjordanland lag über Jahrhunderte abseits der Interessen der osmanischen Zentralmacht. Diese bemühte sich überwiegend darum, den Pilgerweg nach Mekka sicher zu halten und trat dazu in wechselnde Abkommen mit lokalen Stämmen. Ansonsten wurde das karge Wüsten- und Steppenland höchstens indirekt beherrscht. Einzig im Nordwesten, in der Balqaʼ und dem Jabal Ajlun, wo wegen der höheren Niederschläge ein ertragreicher Getreideanbau möglich war, machte sich die osmanische Autorität deutlicher bemerkbar. Der schwache Einfluss der Zentralmacht und die Tatsache, dass das osmanische Steuersystem in dem tribal geprägten Gebiet nicht durchgesetzt wurde, hatten zur Folge, dass auch das osmanische millet-System dort nicht eingeführt wurde; damit entrichteten Christen auch keine ǧizya-Steuer. Die tribale Organisation der Gesellschaft im Ostjordanland und die volle Integration der Christen in das Stammessystem führten weiterhin dazu, dass dort Christen über Jahrhunderte hinweg nicht den koranischen Vorschriften der ḏimma unterlagen. Christliche Stämme handelten nach den Gepflogenheiten der Stammesgesellschaft und wurden von den muslimischen Stämmen entsprechend behandelt. Die sozialen und religiösen Bräuche der christlichen und muslimischen Stammesangehörigen waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sehr ähnlich. Beide teilten nicht nur die Lebenswelt der Wüste und Steppe und bisweilen sogar die Gebetsplätze, sie teilten auch den Glauben an die Geisterwelt der ǧinn und verehrten al-Khidr, der dem Heiligen Georg gleichgesetzt wurde. Unterschiede in der Glaubenslehre waren den Stämmen wenig bewusst und bestimmten nicht das Zusammenleben. Sie wurden erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Aktivität der christlichen Missionare und muslimischer Prediger ins Bewusstsein der Bevölkerung getragen.1 In Ajlun im Norden des Landes dominierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den christlichen Stämmen die aus dem Libanon eingewanderte Familie der Haddad. In Husn waren 1812 25 der 100 Familien christlich; sie waren überwiegend aus dem Hauran und aus Karak zugewandert. In Salt lebten 100 muslimische und 80 christliche Familien (darunter die Haddadin, Qamaiquma, Abu Jaber und Zoʼomot). Sie pflegten 1

Valognes 1994:615–618, Chatelard 2004:40–69; Maggiolini 2011:23–24, 38–39, 43.

Beduinen und Missionare

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enge Handelskontakte mit Nazareth, Nablus, Jerusalem und Damaskus. In Karak lebten 400 muslimische und 150 christliche Familien. Zu den großen christlichen Stämmen dort zählten die ʻAzaizat und die Haddadin; aus dem Hijaz wanderten die christlichen Hijazin zu, aus Petra die ʻAkasha, aus dem Jabal Druz die Karadsheh sowie andere ­Familien aus der Bekaa, dem Libanon und der Region von Damaskus. In Maʼan, im Süden Transjordaniens, lebten die christlichen Stämme der ʻUmur und der Haddadin.2 Die Lebensbedingungen waren teils sehr einfach, dies galt auch für die frühen Missionare. Ein lateinischer Missionar berichtet von seinen ersten Tagen in Salt mit folgenden Worten: „Die ersten 18 Tage lang musste ich die heilige Messe dort feiern, wo sie [sein Vorgänger] Don Actis gefeiert hatte. […] Dieses Haus bestand wie im Land üblich aus zwei Teilen: ein oberer, der der Familie als Schlafraum diente, dort war der Altar; und ein unterer, dort befanden sich die Tiere und die Gläubigen, die keinen Platz mehr im oberen Teil beziehungsweise dem Kirchenbereich gefunden hatten. Bei jedem „Dominus vobiscum“ und bei der Predigt an meine Gemeinde sah ich unten mehr Hörner und Köpfe von Tieren als Gläubige.“3 Die christlichen Stämme gehörten bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der griechisch-orthodoxen Kirche und damit dem Patriarchat von Jerusalem an. Konversion zu anderen Kirchen aufgrund des Wirkens von protestantischen und katholischen Missionaren hatte unterschiedliche Gründe, oft waren sie mit Familien- und Stammeszwisten verbunden, in vielen Fällen wurden materielle Vorteile erwartet oder die Gründung einer Schule oder einer medizinischen Einrichtung erhofft. Religiöse oder spirituelle Gründe lagen selten vor. Die seit den 1860er Jahren immer stärker durchgesetzte osmanische Autorität förderte dies, indem sie den einzelnen Religionsgemeinschaften jeweils eigene Vertreter in den Stadt- und Provinzräten zugestand. Der Übertritt eines Clans zur lateinischen Kirche oder in eine der protestantischen Gemeinschaften brachte somit (wenn auch nicht in allen Fällen) eine eigene Vertretung unabhängig vom griechisch-orthodoxen Vertreter mit sich.4 Lateinische Gemeinden entstanden in Ajlun (1876), al-Husn (1885) und Anjara (1890). In Husn und Anjara bildeten sich auch protestantische Gemeinden. Im Zentrum des Ostjordanlandes entstanden die lateinischen Gemeinden von Fuhais (1873) und 1880 in Madaba. Dort siedelten sich christliche Stämme (ʼAzaizat, Karadsheh und Maʼaiʼa) aus Karak an, die von dort aufgrund von Stammeszwisten ausgewandert waren. Auch die osmanischen Behörden hatten Interesse an dieser Ansiedlung, weil sie das Sesshaftmachungsprogramm in der Region förderte. Für das lateinische Patriarchat war die Siedlung schließlich als rein christlicher Ort unter Führung der katholischen ʻAzaizat (Karadsheh und Maʼaiʼa waren orthodox) interessant. In Salt war das Zentrum der lateinischen Mission (seit 1866); auch eine protestantische Mission gründete dort eine Schule und eine Krankenstation. In Karak entstand 1875 eine lateinische Gemeinde und 1888 eine protestanti2 3 4

Maggiolini 2011:60–68. Don Morétain zitiert bei Médebielle 1987b:15 und Maggiolini 2011:128. Maggiolini 2011:93–94, 113–117.

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sche Gemeinde mit Schule und Krankenstation.5 Im Süden entstand 1894 durch die Sesshaftmachung der bis dahin semi-nomadisch lebenden Stämme der ʻAkasha und Hijazin in Smakieh eine christliche Siedlung mit lateinischer Mehrheit.6 Ab den 1880er Jahren bemühte sich das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem verstärkt um die Abwehr missionarischer Bemühungen von Katholiken und Protestanten sowie um die Rückgewinnung von Gläubigen. Dabei stützte es sich oft auf die osmanischen Behörden und betonte dabei den lokalen beziehungsweise osmanischen Charakter der orthodoxen Kirche gegen dem „fremden“ Charakter von Protestanten und Lateinern, die mit ausländischen Mächten im Bunde stünden.7 Das Vordringen der osmanischen Autorität und die zunehmende Sedentarisierung waren die Voraussetzungen für die Gründung des Haschemitischen Emirats nach dem Ersten Weltkrieg. Auch die Schaffung einer konfessionellen Identität neben der traditionellen Stammesidentität durch die Missionare spielte für die Möglichkeit einer Staatsgründung eine Rolle. In diesen Kontext fällt auch die Gründung Ammans durch die Ansiedlung von Tscherkessen im Jahr 1879. Der Ort zog schnell auch Händler an, ein Teil von ihnen Lateiner. Von Salt aus wurde die Gemeinde betreut, jedoch nicht ohne den Widerstand der Tscherkessen, die die Lateiner als Eindringlinge wahrnahmen und sich der Gründung einer Gemeinde widersetzten. Letztlich wurde die Präsenz der Katholiken nur geduldet, weil ihre Wirtschaftskraft sowohl für die osmanischen Behörden als auch für die lokale tscherkessische Bevölkerung von Vorteil war. Die Gründung einer lateinischen Pfarrei erfolgte offiziell erst 1924.8 Im Jabal Ajlun waren traditionell auch Melkiten präsent. Dies führte zu gewissen Spannungen zwischen der lateinischen Mission und den ansässigen Melkiten, die sich als lokale katholische Kirche verstanden. Die Konversion christlicher Familien in alHusn (1910) und Salt (1906) brachte die griechisch-melkitisch-katholische Kirche auch ins Zentrum Transjordaniens. Der wachsenden Gemeinde wurde 1932 mit der Gründung der Erzdiözese Philadelphia und Petra Rechnung getragen.9

Von den Osmanen zu den Haschemiten: Transjordanien und seine christlichen Stämme Der Erste Weltkrieg brachte den Bewohnern Transjordaniens ähnliche Übel wie in den anderen Ländern der Levante: Hunger und Krankheiten, Zwangsrekrutierung und Beschlagnahmung von Gebäuden für militärische Zwecke. Die kirchlichen Gebäude und Schulen der Missionare waren aufgrund ihres modernen Charakters und ihrer Stabilität häufiges Ziel von Beschlagnahmung und militärischer Nutzung. Führende 5 6 7 8 9

Médebielle 1987:169–222; Chatelard 2004:73–139; Maggiolini 2011:96–101, 214. Maggiolini 2011:255–256. Maggiolini 2011:106–107, 156–157. Maggiolini 2011:227–230. Ayrout 1935; Maggiolini 2011:88, 151–153, 236.

Von den Osmanen zu den Haschemiten

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christliche Notable aus Madaba und Karak wurden von den osmanischen Behörden wegen ihrer pro-scharifischen Sympathien nach Adana in Südanatolien deportiert. Die christlichen Stämme Transjordaniens unterstützten – genau wie die muslimischen Stämme – teils die osmanischen Truppen, teils die Einheiten der Arabischen Revolte unter Emir Hussein, je nachdem wo sie gerade ihre eigenen Interessen besser verwirklichen zu können meinten. Viele Orthodoxe schlossen sich der arabischen Revolte an, viele Lateiner (unter dem Einfluss französischer Missionare) zeichneten am Kriegsende Petitionen zugunsten eines französischen Mandats über Transjordanien. Letztlich ging es aber weder um konfessionelle Belange noch um echte Sympathien für das Osmanische Reich, die Haschemiten, Großbritannien oder Frankreich, sondern um die Frage, welche Macht die Interessen des eigenen Stammes am besten schützen könnte. Im Falle der überwiegend sesshaften christlichen Stämme war dies der Schutz ihres Landbesitzes vor den Beduinen. Ende September 1918 verließen die osmanischen Truppen Irbid und damit den letzten Bezirk Transjordaniens, den sie noch gehalten hatten. Die Kontrolle übernahmen zunächst Beamte, die von Emir Faisal aus Damaskus entsandt worden waren. Nach seinen Plänen war Transjordanien natürlicher Teil seines arabischen Reichs. 1919 schickten die Regionen Transjordaniens Abgeordnete zum Syrischen Nationalkongress. Einer der beiden Abgeordneten von Salt war der Christ Saʼid Abu Jaber. Der einzige Abgeordnete aus Karak war der Christ ʻIsa Madanat. Die anderen fünf Abgeordneten waren Muslime. Es gelang der Regierung in Damaskus jedoch nicht, die Stammeskämpfe im Ostjordanland zu beruhigen oder auch nur unter Kontrolle zu bringen. Christliche Stämme spielten dabei die gleiche Rolle wie in osmanischer Zeit. England reagierte auf die Unruhe in Transjordanien mit der Entsendung von Truppen und der Einsetzung britischer Beamter. Das Ziel war die Errichtung eines Mandats gemäß den Sykes-Picot-Vereinbarungen. Sir Herbert Samuel, britischer Hochkommissar in Palästina, rief im August 1920 die Stammesführer und Notablen Transjordaniens in Salt zusammen. Mit dem Versprechen, lokale Regierungen anzuerkennen, gelang es ihm, ihre Unterstützung für eine Abtrennung des Ostjordanlandes von Syrien und dem französischen Einflussgebiet zugunsten Großbritanniens zu gewinnen. Mit den Vertretern des Jabal Ajlun, die in Salt nicht anwesend waren, wurde anschließend ein eigenes Abkommen ausgehandelt. Die sogenannten Nationalen Regierungen rieben sich aber auch in Stammeskriegen auf. Großbritannien nutzte daher den Einmarsch von Emir Abdallah, dem zweiten Sohn von Hussein, König des Hijaz, um ihm die Verantwortung für Transjordanien zu übertragen und ihn damit von einem Marsch auf Damaskus abzuhalten, das seit Juli 1921 französischer Kontrolle unterstand. Damit begann in Transjordanien die Herrschaft der Haschemiten; der Grundstein für das Emirat war gelegt. Nach britischer Schätzung lebten in Transjordanien damals 230.000 Menschen, davon 203.000 arabische Muslime, 15.000 arabische Christen sowie 12.000 Tscherkessen, Tschetschenen und Turkmenen.10 10 Salibi 1998:40–49; Chatelard 2004:134–139; Maggiolini 2011:258–275.

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Zentrum des sich formierenden Staats wurde Amman, wo Emir Abdallah seine Residenz aufschlug. Mit dem Inkrafttreten des Organic Law 1928 wurde es offiziell Hauptstadt des Emirats Transjordanien. Tscherkessen bildeten treue Anhänger der Haschemiten und dem Emir gelang es, sich mit den einflussreichen Bani Sakhr zu verbünden. Auch führende christliche Familien wie die Sukkar und die Abu Jaber in Salt (in deren Anwesen Emir Abdallah bis zum Bau des Raghadan-Palastes oft Unterkunft nahm) verbanden sich eng mit der neuen Herrscherfamilie. Amman erhielt nach und nach die für ein Verwaltungszentrum notwendigen Gebäude. 1922/23 ließ Abdallah die Husseiniyya-Moschee errichten. 1927 wurde der Raghadan-Palast bezogen. Die Handelselite Transjordaniens – darunter viele christliche Familien wie die Maʼshir, Abu Jaber, Shaʼir und Musharbash aus Salt sowie die Bakhit aus Fuhais – orientierte sich mehr und mehr nach Amman und die Handelskammer wurde ein wichtiges Zentrum für den kommerziellen und sozialen Austausch. Auch die Kirche errichteten ihre Zentren in der neuen Hauptstadt, so 1924 die Lateiner, die Griechisch-Orthodoxen, 1932 die Melkiten mit der neuen Erzdiözese und die Anglikaner, die allerdings erst Ende der 1930er Jahre ihre Gemeinde offiziell gründeten.11 Zwar hatte die Hohe Pforte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Einfluss im Ostjordanland von der Balqaʼ ausgehend immer weiter nach Süden ausgedehnt, echte Staatlichkeit machte sich jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Emirats Transjordanien unter britischem Mandat 1923 bemerkbar. Die Konsolidierung der haschemitischen Familie unter Führung von Emir Abdallah ibn Hussein brachte auch eine Kodifizierung des Rechts mit sich, das in der Praxis bisher überwiegend als Gewohnheitsrecht gepflegt wurde und in dem das Stammesrecht (ʿurf) Vorrang vor dem islamischen Recht der Scharia genoss. Gemäß dem Organic Law von 1928 wurde nun der Islam die offizielle Religion des Emirats Transjordanien. Die formale Geltung der Scharia wurde allerdings auf den Bereich des Personalstatuts eingeschränkt. Christen unterlagen in diesem Bereich den Regelungen ihres jeweiligen Kirchenrechts. Ansonsten waren laut Artikel 5 alle Staatsbürger vor dem Gesetz gleich. Artikel 10 garantierte Religions- und Kultfreiheit. Die Kirchen wurden nach Artikel 11 als Religionsgemeinschaften vom Staat anerkannt, Artikel 14 erlaubte ihnen den Betrieb eigener Schulen. Artikel 25 garantierte den Christen eine bestimmte Anzahl von Sitzen in den politischen Vertretungsgremien (zum Beispiel drei von 13 Sitzen im Legislative Council, von 1928 bis 1947 gehörten diese Vertreter immer den griechisch-orthodoxen Notablenfamilien aus Karak, Balqaʼ und Ajlun an). Diese Rechte wurden nach der vollständigen Unabhängigkeit und der Gründung des Königreichs Jordanien 1948 bestätigt.12 11 Salibi 1998:99–100; Maggiolini 2011:290–294. 12 Hourani 1947:59; Chatelard 2004:115–156, 182–183; Maggiolini 2011:45–47. Artikel 11 wurde 1938 durch ein Gesetz präzisiert. Darin wurden vier weitere nicht-muslimische Gemeinschaften anerkannt und die Zahl damit auf neun erhöht (die griechisch-orthodoxe, die griechisch-melkitisch-katholische, die armenisch-orthodoxe, die lateinische, die evangelisch-arabische episkopale, die maronitische, die evangelisch-lutherische und die syrisch-orthodoxe Kirche sowie die Adventisten). Nach dem Gesetz

An beiden Ufern des Jordan: Christen im unabhängigen Jordanien

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Eine der ersten Zeitungen in Transjordanien war al-Urdunn. Sie war 1923 von dem palästinensischen Christen Khalil Nasr in Haifa als Wochenzeitung gegründet worden. 1927 zog sie nach Amman um. Seit 1949 erschien das Blatt täglich und blieb bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der führenden Zeitungen Jordaniens.13

An beiden Ufern des Jordan: Christen im unabhängigen Jordanien Nationalisten, Kommunisten, Freiheitskämpfer: jordanische und palästinensische Christen im Königreich Jordanien Die abwägende, pro-britische Politik Emir Abdallahs während des Zweiten Weltkriegs ermöglichte die förmliche Unabhängigkeit und Ausrufung des Haschemitischen Königreichs Jordanien am 22. Mai 1946. Im ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49 sicherte die Arabische Legion Jordaniens die arabischen Gebiete der Westbank und Ost-Jerusalem vor dem Vormarsch der jüdischen Truppen. Am 25. April 1950 beschloss das jordanische Parlament die Vereinigung des jordanisch kontrollierten Westjordanlands unter Einschluss Ost-Jerusalems mit dem transjordanischen Teil des Königreichs. In dem Staat lebten nun 1,5 Millionen Menschen, davon weniger als eine halbe Million Transjordanier. Von den Palästinensern waren mehr als 500.000 Flüchtlinge, 400.000 im Westjordanland und 100.000 in Transjordanien. Sie erhielten alle die jordanische Staatsbürgerschaft – anders als in den anderen arabischen Staaten, wo ihnen dies gemäß einem Beschluss der Arabischen Liga, die mit der Zuerkennung der Staatsbürgerschaft ihrer Länder das Rückkehrrecht der Palästinenser in ihre Heimat geschwächt sah, verweigert wurde (und bis heute meist verweigert wird). Von vielen Palästinensern wurde der Anschluss ihrer Heimat an Jordanien allerdings als Verrat an ihren nationalen Ambitionen verstanden. Am 20. Juli 1951 wurde König Abdallah beim Freitagsgebet in der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem von einem palästinensischen Nationalisten erschossen.14 Die Verfassung Jordaniens aus dem Jahr 1952 erklärte den Islam erneut zur Staatsreligion, garantierte aber auch Rechtsgleichheit aller Bürger ohne Ansehen der Religion (Artikel 6) und Kult- und Religionsfreiheit (Artikel 14). Den kirchlichen Orden und Kongregationen wurde verfassungsmäßig das Recht auf den Betrieb eigener Schulen zugestanden (Artikel 19). Das Rechtssystem garantierte die innere Autonomie der Religionsgemeinschaften, insbesondere mit Blick auf das Personenstandsrecht und die Verwaltung der Güter der Religionsgemeinschaften. Im Parlament haben Christen eine festgeschriebene Zahl von Sitzen (1958: 7/50; 1961: 10/60; 1990er Jahre: 9/80; seit 2010: haben sie ihre Angelegenheiten durch Gemeinderäte zu regeln. Rechtsfragen unterliegen dem Urteil der Kirchengerichte. Raheb 1990:224–226; Chatelard 2004:155–156. 13 Ayalon 1995:102. 14 Salibi 1998:150–166.

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9/120) stets höher als ihr Anteil an der Bevölkerung).15 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und vor der Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet des entstehenden Staats Israel machten Christen in Transjordanien etwa 5 Prozent der Bevölkerung aus (25.000–30.000 von 455.000 Einwohnern). Durch den Anschluss des Westjordanlandes stieg ihr Anteil auf 9 Prozent (160.000 von 1,7 Millionen Einwohnern).16 Die größten christlichen Konfessionen Jordaniens waren nach Schätzungen für das Jahr 1959: 60.000 griechisch-orthodox, 30.000 römisch-katholisch (Lateiner), 12.000 griechischkatho­lisch (Melkiten), 6.000 armenisch-orthodox, 4.000 syrisch-orthodox, 3.000 anglikanisch, 1.500 lutherisch sowie etwa 2.000 freikirchliche, baptistische und pfingst­ lerische Protestanten.17 Christen füllten nach der Unabhängigkeit schnell die Posten, die vorher von britischen Beamten besetzt waren. So sind sie bis heute in den höheren Rängen der jordanischen Armee wegen ihrer guten Bildung und ihrer Integration in das Stammessystem überproportional vertreten. Außerdem nahmen sie von Beginn an eine wichtige Rolle in der Verwaltung des neuen Staats, im diplomatischen Dienst sowie in den freien Berufen ein. Auch wichtige Ministerposten wurden ihnen anvertraut. Im Staatsdienst waren allerdings immer die orthodoxen Christen wegen ihrer engen Verbindung zu den führenden muslimischen Familien Jordaniens deutlich stärker vertreten als andere Christen.18 Die Aufnahme zahlreicher christlicher Flüchtlinge aus israelischem Territorium und das Wohlwollen, das die jordanische Regierung den Christen unter ihnen zeigte, sicherte ihr zunächst die Loyalität der christlichen Palästinenser. Christen konnten in Jordanien und dem Jordanien angeschlossenen Westjordanland neue Kirchen, Schulen, Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen errichten und genossen dabei die Unterstützung der Regierung. Mehrere neue Pfarreien entstanden für die Christen unter den palästinensischen Flüchtlingen, so in Irbid 1949, in Zarqa 1950 sowie in mehreren Bezirken Ammans für die Lateiner.19 Während der Zeit der jordanischen Kontrolle über das Westjordanland wanderten von dort überproportional viele Christen ins Ostjordanland aus. Dies betraf vor allem Christen aus Jerusalem und seinem Umland. Durch die Eingliederung in den jordanischen Staat hatte Ost-Jerusalem seinen Status als Hauptstadt mit Verwaltungsbehörden verloren. In der arabischen Verwaltung waren während der Mandatszeit aber viele Christen tätig gewesen. Viele von ihnen verließen daher in den 1950er und 60er Jahren Jerusalem, Bethlehem und Beit Jala und suchten neue Beschäftigung im Raum Amman. Ein weiterer Grund für die Abwanderung war die räumliche Enge und der Mangel an Flächen, die durch die Ansiedlung 15 Kreutz 1990:115; Valognes 1994:620–622; Pacini 1996:288; Parolin 2004, 248–249; Oehring 2012:8. 16 Mitte der 1970er Jahre lag ihr Anteil immer noch bei 9 Prozent trotz des Verlustes des Westjordanlandes im Sechs-Tage-Krieg 1967. Dies erklärt sich durch die massive Zuwanderung von Palästinensern. Hourani 1947:59; Valognes 1994:614–615. 17 Raheb 1990:222–223. 18 Betts 1978:170–172; Pacini 1996:285; Chatelard 2004:182–184. 19 Médebielle 1963:57–61; Kreutz 1990:116.

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Zehntausender arabischer Flüchtlinge aus dem Staat Israel im jordanischen Westjordanland entstanden waren. 1964 war das Ostjordanland, vor allem Amman (ca. 40.000 Christen), zum Schwerpunkt des jordanischen Christentums geworden, Ost-Jerusalem war auf Platz 2 abgerutscht (12.253 Christen).20 Mit der Übernahme der Kontrolle über Ostjerusalem sowie die christlichen Zen­ tren in Bethlehem, Beit Jala und Ramallah musste Jordanien auch Verantwortung für die Heiligen Stätten sowie für die notwendigen Regelungen innerhalb der Kirchen übernehmen. Für die griechisch-orthodoxe Kirche war die gleiche Dichotomie zwischen hohem Klerus einerseits und niederem Klerus und Kirchenvolk andererseits charakteristisch wie im Mandatsgebiet Palästina und später in Israel. Der mangelnde Eifer der Kirchenführung in Fragen der Sozial- und Erziehungsarbeit wurde durch das Engagement reicher griechisch-orthodoxer Familien (Zureiqat, Abu Jaber, Attallah, Sukkar) aufgefangen, auf deren Initiative die Einrichtung von Schulen, Waisen­ häusern, Kultur- und Sportvereinen zurückging.21 Nach dem Tod des griechisch-­ orthodoxen Patriarchen von Jerusalem, Timotheos, im Jahr 1955 entbrannte der Streit um die Wahlprozedur und die Verfassung des Patriarchats neu. Die arabischen Laien forderten erneut eine größere Beteiligung an der Wahl sowie an der Verwaltung der weltlichen Güter des Patriarchats. Die nationalistische Regierung Jorda­niens unterstützte zunächst die Forderungen der arabischen Laien. 1956 diskutierte das jordanische Parlament den Entwurf für eine Verfassung, der eine Mehrheit der Laien gegenüber dem Klerus (12:6) im Gemeinderat und die Zulassung von arabischen Mitgliedern in der Bruderschaft vom Heiligen Grab vorsah. Doch noch vor der Verabschiedung des Gesetzes erlaubte die Regierung die Wahl eines neuen Patriarchen. Sie fiel auf Bischof Benediktos. Dieser protestierte jedoch unmittelbar nach seiner Wahl gegen den Gesetzesentwurf. Nach dem Sturz der nationalistischen Regierung wurde ein Kompromissvorschlag eingebracht, der ein Verhältnis von acht Laien zu sechs Klerikern im Gemeinderat vorsah, allerdings eine notwendige Mehrheit von neun Stimmen, um gültige Beschlüsse zu fassen. Arabische Priester wurden zur Bruderschaft vom Heiligen Grab zugelassen und der Patriarch sollte zwei arabische Bischöfe ernennen. 1960 wurde ein erster arabischer Bischof für Jordanien geweiht. In der sonstigen Praxis boykottierte das Patriarchat allerdings die Bestimmungen. Mit der Eroberung der Altstadt von Jerusalem fiel dann die Aufsicht über das Patriarchat wieder der israelischen Regierung zu, die wenig Interesse hatte, die Anliegen der arabischen Laien gegen den griechischen Klerus zu unterstützen.22

20 Médebielle 1962a:26–28; Feldtkeller 1998:370–372. 21 Valognes 1994:623–624. 22 Tsimhoni 1993:36–46; Roussos 2003:48–49. Der Streit flammte in Jordanien erst 1992 wieder auf. In diesem Jahr gründete Raʼuf Abu Jaber, ein reicher Geschäftsmann, in Amman die Ǧamʿiyya urṯūduksiyya, die den Kampf für die Arabisierung des orthodoxen Patriarchats von Jerusalem wieder aufnahm. Seit 1967 hatte er in Jordanien kaum noch eine Rolle gespielt. Die Ernennung eines arabischen Palästinensers, Michel Sabbah, zum lateinischen Patriarchen, die Wahl von Diodoros zum ortho­ doxen Patriarchen 1991 und sein Ruf, das Patriarchat autokratisch zu regieren, sowie die Nachrichten

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Noch größeres Aufsehen erregten die Ereignisse um die Nachfolge des 1949 ver­ storbenen armenischen Patriarchen von Jerusalem, Guregh Israelian. Der locum tenens, Jeghishe Derderian, verzögerte die Wahl eines Patriarchen mit dem Argument, bis zur Regelung des Status von Jerusalem sei nicht klar, ob der Patriarch von den jordanischen oder israelischen Behörden anzuerkennen sei. Derderian sah sich dann aber 1955 Vorwürfen der Veruntreuung von Geldern ausgesetzt, die Erzbischof Tiran Nersoian, Mitglied der Jakobs-Bruderschaft, erhob. Nersoian, nun als Konkurrent Derderians um das Amt des Patriarchen betrachtet, wurde seinerseits kommunistischer Tendenzen beschuldigt. Die jordanische Regierung intervenierte mehrfach in dem Streit, zunächst durch Ausweisung Nersoians, dann – nach der Wahl einer nationalistischen Regierung – durch Absetzung Derderians als locum tenens. Die Jakobs-­ Bruderschaft wählte am 20. März 1957 Erzbischof Nersoian zum Patriarchen. Die jordanische Regierung zögerte aber, die formale Anerkennung auszusprechen. Mit dem Sturz dieser Regierung im Sommer 1957 wendete sich das Blatt erneut. Am 30. August 1958 wurde der gewählte Patriarch Nersoian von der jordanischen Polizei nach Beirut deportiert. Nersoian erklärte einige Monate später seinen Amtsverzicht und zog sich in die USA zurück. Nachdem Derderian von den jordanischen Behörden angeblich auf Bitten der Mehrheit der Jakobs-Bruderschaft wieder als locum tenens eingesetzt worden war, wurde er nach einigem Hin und Her am 8. Juni 1960 zum Patriarchen gewählt und erhielt einige Wochen später die Anerkennung der jordanischen Regierung. Die Umstände um diese Wahl machen deutlich, wie sehr nicht nur die Bruderschaft des heiligen Jakob gespalten war, sondern auch wie die Tendenzen der jordanischen Regierung, der Kalte Krieg (die Kandidaten wurden abwechselnd pro-sowjetischer Tendenzen bezichtigt), internationale Einmischung (die amerikanischen und englischen Konsuln wurden mehrfach angerufen und die anglikanische Kirche intervenierte) und der Streit innerhalb der armenischen Kirche um die Zugehörigkeit des Jerusalemer Patriarchats zum Katholikossat von Etchmiadzin (unter Kontrolle der Sowjetunion) oder von Sis mit Sitz im Libanon (und pro-westlich/Dashnak orientiert) auf scheinbar rein kirchliche Belange einwirkten.23 Auf staatlicher Ebene wurde in den 1950er Jahren eine Reihe von Gesetzen erlassen, die das bis dahin schwache Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem des Staats stärken sollten. Die große Anzahl palästinensischer Flüchtlinge stellte das Land vor enorme Herausforderungen, auf die es nicht vorbereitet war. Die Kirchen dagegen, allen voran die katholische Kirche, verfügten über eine breite Palette von Schulen, Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen. Mit dem Gesetz über Wohlfahrtsverbände von 1953 wurde festgelegt, dass sich alle derartigen Einrichtungen beim Sozialministerium registrieren und ihre Finanzen kontrollieren lassen mussten. Leistungen mussten unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit der Bedürftigen erbracht werden. über Landverkäufe des Patriarchats in den 1990er Jahren fachten den Konflikt erneut an. Chatelard 2004:286. 23 Sanjian 2003:71–84.

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Alle Einrichtungen hatten sich dem Verband der Wohlfahrtsverbände anzuschließen und zehn Prozent ihrer jährlichen Einkünfte dorthin abzuführen. Das Gesetz traf insbesondere die katholische Kirche. Die Muslimbrüder konnten hingegen ihre Einrichtungen als „islamische Organisationen“ registrieren lassen, so dass sie nicht dem Gesetz unterlagen. Allerdings traten die meisten katholischen Einrichtungen dem Dachverband nicht bei und ließen sich auch nicht beim Sozialministerium registrieren. Aufgrund der guten Beziehungen der Kirchenführer zu einflussreichen Persönlichkeiten des Staats sowie der internationalen Bedeutung der katholischen Kirche wurde dies inoffiziell geduldet, so dass die Sozialeinrichtungen weitgehend unbehindert weiterarbeiten konnten. Auch die Einrichtungen des 1958 gegründeten Orthodoxen Kultur- und Bildungsvereins (Ǧamʿiyyat al-ṯaqāfa wa-l-taʿlīm al-urṯūḏuksiyya) wurden wegen der engen Verquickung orthodoxer Notabler mit der Staatsführung und ihres Einflusses in der Verwaltung nicht beeinträchtigt.24 Das Public Education Law vom 16. April 1955 unterstellte alle privaten und ausländischen Schulen in Jordanien und dem Westjordanland dem Erziehungsministerium. Damit sollte es auch für die 109 Elementar- und 15 Sekundarschulen in kirchlicher Träger­schaft gelten (Angaben für das Jahr 1959).25 Weiterhin sah das Gesetz vor, dass alle Schulen staatliche Schulbücher für die Fächer arabische Sprache, Geschichte, Geographie und Gesellschaftskunde zu verwenden und staatliche Curricula anzuwenden hätten. In den anderen Fächern blieben die Schulen frei, Inhalt und Form des Unterrichts selbst zu bestimmen. Allerdings wurde es allen Schulen verboten, Schüler in einer anderen Religion als der eigenen zu unterrichten. Am Freitag, dem gesetzlichem Feiertag, mussten die Schulen schließen. Diese Regelungen lösten heftige Proteste von kirchlicher Seite aus, vor allem vom lateinischen Patriarchat. Man befürchtete eine Senkung der Standards und sah den Sonntag als schulfreien Tag in Gefahr. Für die katholischen Schulen wurde das Gesetz von König Hussein in seiner Anwendung daraufhin zunächst ausgesetzt. Die evangelischen Schulen arrangierten sich dagegen mit dem Gesetz. 1966 trat es auf Druck der nationalistischen Regierung allerdings doch für alle Schulen in Kraft.26 Die kurze Phase der Liberalisierung zu Beginn der Herrschaft König Husseins (Herrschaftsantritt am 2. Mai 1953 mit Erreichen der Volljährigkeit) nutzten vor allem linke Parteien, die pan-arabische Propaganda Nassers sowie die islamistische Tahrir-Partei zu Kritik an der pro-britischen Politik des Königshauses. Während viele orthodoxe Christen dem Establishment nahestanden und das haschemitische System stützten, 24 Chatelard 2004:158–172. 25 Elementarschulen: 40 griechisch-orthodox, 40 römisch-katholisch, 15 griechisch-katholisch, eine armenisch-orthodox, drei syrisch-orthodox, sieben anglikanisch, drei lutherisch. Sekundarschulen: neun römisch-katholisch, eine griechisch-katholisch, eine armenisch-orthodox, drei anglikanisch, eine lutherisch. Raheb 1990:222–223. 26 Cavalli 1956; Raheb 1990:238–245; Tsimhoni 1993:6–7; Chatelard 2004:194. Die katholischen Schulen der lateinischen und melkitischen Kirche waren seit 1938 in der Union des écoles catholiques de Transjordanie zusammengeschlossen. Dies sollte eine gemeinsame Interessenvertretung sichern und eine Konkurrenz vermeiden helfen. Chatelard 2004:193.

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neigten nicht wenige Lateiner den linken Parteien zu: Marxisten, Kommunisten und Baathisten. Sie entstammten meist nicht den großen Familien, sondern der Intelligenzija von Anwälten, Journalisten, Ärzten und Lehrern. Die linken Parteien waren hauptsächlich durch die Einwanderung der Palästinenser nach Transjordanien gekommen. Die palästinensische Mittelklasse sowie die Lateiner, die in der Frühzeit des Staats weiterhin pro-französischer Tendenzen verdächtigt wurden, sahen sich von den Ressourcen des jordanischen Staats und dem attraktiven Militärdienst weitgehend ausgeschlossen und neigten daher der monarchiekritischen Linken zu. Allerdings wurde die Jordanische Kommunistische Partei (KPJ) bereits 1953 verboten, ihre Aktivitäten unterdrückt und ihre Mitglieder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Davon betroffen waren auch viele christliche Mitglieder transjordanischen oder palästinensischen Ursprungs. Ein Zentrum linker Gruppen (KPJ und Baathisten) war das christliche Madaba. Wie in anderen Städten Jordaniens auch gab es 1955 und 1956 dort heftige Proteste gegen den geplanten Beitritt Jordaniens zum pro-westlichen Bagdad-Pakt. Nach Protesten und Unruhen dieser Jahre wurden die meisten Parteien verboten, einzig die Muslimbruderschaft durfte als religiöse Organisation, die nicht den Sturz der haschemitischen Dynastie als Ziel verfolgte, weiter aktiv sein.27 In den 1950er und 60er Jahren wurden alle kirchlichen, verbandlichen und politischen Aktivitäten in Jordanien und dem jordanischen Westjordanland strikt überwacht. So wurde 1953 die Katholische Jugendliga (Rābiṭat al-šabāb al-kāṯūlīk) verboten, weil einige ihrer Führungsmitglieder in der verbotenen Baath-Partei aktiv waren. Die Überwachungspolitik führte bisweilen auch zu Missverständnissen, so beim Verbot der Marienlegion (al-Ǧaiš al-maryamī), hinter der die Behörden wegen ihres militärisch klingenden Namens eine militante Geheimorganisation vermuteten. Der Verband wurde 1962 verboten, konnte aber nach Verhandlungen mit dem lateinischen Patriarchat von Jerusalem bald seine Aktivitäten wieder aufnehmen und sich wieder der Pflege und Verbreitung der Marienfrömmigkeit widmen.28 Nach dem Verlust des Westjordanlands und Jerusalems 1967 wurde linken Gruppierungen wieder größerer Handlungsspielraum in Jordanien eingeräumt, auch wenn das offizielle Verbot bestehen blieb. Nach der israelischen Besetzung des bis dahin jordanisch beherrschten Teils Palästinas wurden palästinensische Widerstandsgruppen und Fedajin in Jordanien aktiv. Die bedeutendsten von ihnen waren marxistisch geprägt, wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP) und die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (Demo­ cratic Front for the Liberation of Palestine, DFLP). Ihnen sowie der 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) schlossen sich auch viele Christen an, und zwar sowohl Palästinenser als auch Jordanier. Im Sommer 1970 erregte George Habashs PFLP mit mehreren Flugzeugentführungen und Geiselnahmen Aufsehen. Zu­dem kam es im September zu einem Angriff auf den Konvoi des Königs. 27 Salibi 1998:174–175, 178–195; Chatelard 2004:236–241. 28 Tsimhoni 1993:127–128.

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Am 16. Sep­tember begannen Einheiten der jordanischen Armee mit Angriffen auf die Stellungen der palästinensischen Fedajin in den Flüchtlingslagern in der Nähe von Amman. Die Kämpfe zwischen Angehörigen der palästinensischen Milizen und der jordanischen Armee weiteten sich schnell auf andere Landesteile aus. Am 26. September wurde ein Waffenstillstand geschlossen, aber schon im März 1971 griff die Armee Fedajin in Irbid im Norden des Landes an. Im Juli 1971 wurden die bewaffneten palästinensischen Organisationen endgültig aus Jordanien vertrieben und die PLO ausgewiesen.29 Unter den bewaffneten Palästinensern befanden sich auch viele Christen. In Madaba wurde bei den Auseinandersetzungen sogar die lateinische Kirche, wo sich auf Ein­ladung des palästinensischen Pfarrers die Milizen verschanzt hatten, von der Armee mit Artilleriegeschossen angegriffen und beschädigt.30 Die Rückkehr zur konstitutionellen Ordnung nach dem Juni-Krieg von 1967 stellte eine Herausforderung dar. Offiziell beanspruchte Jordanien das israelisch besetzte Westjordanland und Ost-Jerusalem weiterhin für sich. Die dortigen Palästinenser waren jordanische Staatsbürger und damit wahlberechtigt. Parlamentswahlen konnten laut Verfassung nicht durchgeführt werden, solange die Bevölkerung der Westbank gehindert war, daran teilzunehmen. 1978 ernannte König Hussein daher einen National Consultative Council bestehend aus 60 Mitgliedern aus dem Ost- und Westjordanland. Dies konnte aber nur eine Übergangslösung sein. 1984 wurde die Verfassung geändert, so dass Parlamentswahlen stattfinden konnten. Im Anschluss an die Wahl wurden Vertreter der Westbank-Palästinenser ernannt. Die PLO interpretierte diese Versuche König Husseins jedoch in dem Sinne, dass er weiterhin beanspruche, für die Belange der Palästinenser zu sprechen. Die PLO verstand sich hingegen als das alleinige Vertretungsorgan der palästinensischen Bevölkerung. Das Problem wurde erst behoben, als König Hussein am 31. Juli 1988 offiziell auf die Ansprüche Jordaniens auf die Westbank verzichtete. Palästinenser mit jordanischem Pass konnten ihre Staatsbürgerschaft behalten oder als Bürger eines arabischen Staats Residenzrecht in Erwartung der staatlichen Souveränität Palästinas erlangen.31

Christliche Identität im arabischen Staat Mit einer gewissen Sorge verfolgten die Christen Jordaniens ihren schwindenden Einfluss in der Gesellschaft und die Tatsache, dass ehemals christlich geprägte Ortschaften ihren Charakter immer mehr verloren. Städte mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung hatten diesen bereits bis zur Mitte der 1960er Jahre eingebüßt: so hatte Ajlun 1964 nur noch 37,5 Prozent christliche Bewohner, Madaba 32 und Karak 22 Prozent. Al-Husn und Fuhais konnten mit 55 beziehungsweise 81 Prozent ihre christliche

29 Salibi 1998:231–241. 30 Médebielle 1987:422–423; Chatelard 2004:251–253. 31 Salibi 1998:264–269.

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Mehrheit länger halten.32 Der christliche Charakter von Madaba (zu Beginn der Mandatszeit waren nur 300 der 2.000 Bewohner Muslime) änderte sich nicht zuletzt durch den Zuzug palästinensischer Flüchtlinge – fast ausschließlich Muslime – in den Jahren 1949/50. Außerdem waren eine Reihe muslimischer Stämme in Madaba sesshaft geworden. 1969 war der Anteil der Christen auf 40 Prozent der Stadtbevölkerung gesunken. Die muslimische Präsenz, der Aufbau eines staatlichen Schulsystems neben den christlichen Privatschulen sowie die Eröffnung staatlicher Sozialeinrichtungen änderten den Charakter Madabas nach der Unabhängigkeit Jordaniens grundlegend. Er wurde nicht mehr vom kommunitären Raum unter der Führung der katholischen Pfarrer bestimmt, sondern bot mehr und mehr Platz für Aktivitäten außerhalb des kirchlichen Raums und der katholischen Verbände in Politik, Sport und Freizeit. Bis 1997 fiel der Anteil der Christen weiter auf nur noch 13 Prozent. Seit 1975 stellen sie nicht mehr den Bürgermeister. Bei den Lokalwahlen 1981 konnten sie keinen einzigen Sitz erringen, weil sie wie zu Zeiten, als sie noch die große Bevölkerungsmehrheit stellten, auf zwei nach Stämmen organisierten und daher getrennten Listen kandidierten. 1985 boykottierten sie die Wahlen, weil sie weiterhin keine Chance sahen, Sitze zu erringen. 1989 entschlossen sie sich zu gemeinsamen Listen mit muslimischen Kandidaten und erreichten somit wieder drei Sitze im Stadtrat. Die uneingeschränkte Macht, die Christen bis zu Beginn der 1970er Jahre im Stadtrat und bei der Vergabe von Posten in der städtischen Verwaltung sowie bei der Zuteilung von Aufträgen hatten, war aber verloren.33 Sorge bereitete den Christen auch der Aufstieg der Muslimbrüder in den 1980er Jahren und ihr Erfolg bei den Parlamentswahlen 1989. Während des Golfkriegs um die irakische Besetzung Kuwaits musste König Hussein 1990 sogar Islamisten in die Regierung aufnehmen, um dem öffentlichen Druck nachzugeben. Die Ernennung eines Muslimbruders zum Bildungsminister führte dazu, dass Prüfungstermine in den Schulen auf christliche Feiertage gelegt wurden. Nach dem Krieg gelang es dem König jedoch wieder ein Kabinett ohne Beteiligung der Muslimbrüder zu bilden.34 Um ein Gegenwicht zur Islamisierung des öffentlichen Raums und zum gesellschaftlichen Gewicht der Muslimbrüder zu schaffen, wurde 1996 auf Druck der Kirchen der Katecheseunterricht für christliche Kinder an öffentlichen Schulen für verbindlich erklärt. 35 Während der Kuwait-Krise von 1990/91 rückte König Hussein anders als die meisten anderen arabischen Staatsführungen nicht von Saddam Hussein ab. Jordanien und der Irak waren wirtschaftlich zu eng verflochten und das Königreich hing von irakischen Öllieferungen ab. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die öffentliche 32 Betts 1978:71. Von den größeren Orten konnte einzig al-Husn seinen Anteil an Christen bis in jüngste Zeit halten, weil viele Christen aus Irbid wegen der hohen Lebenshaltungskosten dorthin zogen. So hielten sich Zu- und Abwanderung die Waage. Der Anteil der Christen lag um 2000 noch bei 30 Prozent. Haddad 2000:142. 33 Chatelard 2004:190–191, 265–268. 34 Valognes 1994:628–630; Pacini 1996:288–290. 35 Chatelard 2004:277.

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Meinung, die von Islamisten und pro-irakischen Palästinensern bestimmt wurde. 1991 demonstrierten palästinensische Christen in Jordanien für Saddam Hussein und gegen den Westen. In Übernahme irakischer Parolen wollten sie Jordanien und den Nahen Osten vor dem Atheismus und Säkularismus des Westens schützen. Dabei taten sich sowohl lateinische als auch griechisch-orthodoxe Priester und der anglikanische Pfarrer Elias Khoury besonders hervor. (Elias Khoury war auch seit den 1970er Jahren bis 1985 im Zentralkomitee der PLO).36 Der 1994 geschlossene Friedensvertrag mit Israel stieß in palästinensischen Kreisen teils auf Kritik. Manche Palästinenser erwarteten, dass Jordanien sich weiter am Kampf um die Rückgewinnung ihrer Heimat beteiligte. Der König argumentierte dagegen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde unter Führung der PLO, im Rahmen der Oslo-Verträge nun auch von Israel anerkannt, die Interessen der Palästinenser im Westjordanland und dem Gaza-Streifen zu vertreten habe. Nach dem Friedensschluss zwischen Jordanien und Israel nahmen auch Jordanien und der Heilige Stuhl am 6. April 1994 offiziell diplomatische Beziehungen auf.

Jordanien: Heimat für Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien Jordanien und seine christliche Bevölkerung stehen seit der Jahrtausendwende vor neuen enormen Herausforderungen. Bereits die Zuwanderung von Palästinensern, die zunehmende Urbanisierung und die neuen Anforderungen der Arbeitswelt hatten die Lebensbedingungen der Menschen östlich des Jordans stark verändert. Christliche Gemeinden von alteingesessenen Jordaniern und zugewanderten Palästinensern blieben über Jahrzehnte voneinander getrennt, auch wenn sie der gleichen Konfession angehörten. Politisch verfolgten beide oftmals unterschiedliche Ziele: während die meisten christlichen Jordanier seit den Aktionen der Fedajin zu Beginn der 1970er Jahre und ihrer Vertreibung aus Jordanien 1971 treu zum Königshaus standen, unterstützten christliche Palästinenser auch weiterhin die palästinensischen Organisationen, die auf einen Sturz der haschemitischen Monarchie und den Aufbau eines säkularen, republikanischen Systems hinarbeiteten. Diese Kluft hat sich erst mit dem Erstarken der islamistischen Gruppen innerhalb des palästinensischen Widerstands seit dem Ende der 1990er Jahre etwas geschlossen, denn vor einem islamistischen System in Jordanien (und Palästina) haben Christen auf beiden Seiten des Jordans gleichermaßen Angst. Zur Palästinenserfrage kam seit dem Kuwait-Krieg von 1991 noch das Problem der Integration irakischer Flüchtlinge. In den 1990er Jahren bestanden die christlichen Emigranten zumeist aus Angehörigen der wohlhabenderen Familien. Sie versuchten, der diktatorischen Herrschaft Saddam Husseins, aber vor allem dem Wirtschaftsembargo gegen den Irak zu entkommen. Von Jordanien aus wollten sie ihre Geschäfte weiter betreiben. Sie besaßen ausreichend Mittel, um sich in Jordanien niederzulassen oder ins westliche Ausland weiterzuziehen. Je länger die Sanktionen gegen den 36 Valognes 1994:633–634.

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Irak jedoch aufrechterhalten wurden, desto größer wurde die Zahl verarmter christlicher Familien, die auf die Hilfe der Kirche angewiesen waren. 1996 wurde die Zahl der irakischen Christen in Jordanien auf 50.000 bis 60.000 geschätzt (bei einer halben Million irakischer Migranten in Jordanien insgesamt).37 Seit der amerikanischen In­ vasion in den Irak 2003 und dem Terror, der Christen in besonderer Weise traf, sind allerdings Tausende chaldäische, syrisch-orthodoxe und assyrische Flüchtlinge, in erster Linie aus Bagdad und Mossul, nach Jordanien gekommen. Ihre Zahl wurde 2010 auf 25.000 bis 35.000 geschätzt.38 Die einen schlossen sich den chaldäischen Gemeinden an, die seit den Massakern an Christen im Irak in den 1930er Jahren in Jordanien existierten. Andere Gemeinden, wie die syrisch-orthodoxe, haben seither einen stark irakischen Charakter angenommen. Während sich auch einige Geschäftsleute unter den Flüchtlingen befanden, kamen viele mit nur geringen Mitteln oder konnten keine erneute Anstellung im öffentlichen Dienst finden, wo viele im Irak gearbeitet hatten. Sie waren somit auf Unterstützungsleistungen der Kirchen angewiesen. Caritas, die Pontifical Mission, Messengers of Peace (eine von einem Priester des lateinischen Patriarchats Jerusalem gegründete Organisation), orthodoxe Hilfsorganisationen, der Middle East Council of Churches und der Ökumenische Rat der Kirchen kümmerten sich um diese Flüchtlinge. Viele von ihnen erhielten im Rahmen des UN-Resettlement-Program nach mehrjähriger Wartezeit Visa für westliche Länder und haben somit Jordanien wieder verlassen. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien, der 2011 begann, hat sich ein erneuter Flüchtlingsstrom über Jordanien ergossen. Im Juli 2018 waren bei der UN knapp 670.000 syrische Flüchtlinge in Jordanien registriert, 126.000 davon in großen Lagern im Norden, der Rest verstreut auf die Städte des Landes. Unter ihnen sind zahlreiche Christen, darunter auch mehrere Tausend christliche Iraker, die vorher in Syrien Schutz gesucht hatten. Sie leben alle in den Städten und nicht in den Flüchtlingslagern. Ihre finanzielle Situation ist sehr unterschiedlich. Manche treiben weiter Geschäfte und haben sich in Jordanien eine eigene Existenz aufgebaut. Andere leben von der Wohltätigkeit der Kirchen. Die meisten warten auf die Ausreise ins westliche Ausland. Manche hoffen, in Jordanien bleiben zu können, auch wenn dies wegen der begrenzten Arbeitsmöglichkeiten schwierig ist. Kaum einer plant, in den Irak zurückzukehren. Hatten Mitte 2014 geschätzt 8.200 christliche Iraker in Jordanien gelebt, kamen mit der Eroberung Mossuls und der christlichen Dörfer der Niniveh-Ebene durch den sogenannten Islamischen Staat weitere 10.300 christliche Flüchtlinge aus dem Irak nach Jordanien. Ihre Zahl wurde Ende 2016 auf 18.500 geschätzt.39 2018 sollen es laut UN-Angaben noch etwa 10.000 gewesen sein (von insgesamt 66.800 irakischen Flüchtlingen 37 Schätzung des chaldäischen Patriarchalvikars für kulturelle Angelegenheiten in Bagdad, Joseph Habbi. Galletti 2003:237. 38 Suermann 2010:138. Die Zahlen schwanken stark, weil die meisten nach einer Verweildauer von ein bis drei Jahren das Land mit Richtung Nordamerika, Australien oder Europa verlassen. Siehe dazu auch Girling 2018:213–219. 39 Oehring 2017a:94.

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in Jordanien). Sie befanden sich in einer äußerst schwierigen Lage, weil sie bei ihrer überstürzten Flucht fast nichts mitnehmen konnten oder von den Milizen des IS ausgeplündert worden waren. Die meisten sind vollständig auf Hilfsleistungen kirchlicher Organisationen angewiesen. Auch wenn ihre Heimat inzwischen wieder unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung oder der kurdischen Peshmerga steht, denkt kaum jemand von ihnen an Rückkehr.

Perspektiven: Die Große Jordanische Familie Heute bilden die christlichen Kirchen eine große Vielfalt, die sich vor allem in Amman, dem neuen Zentrum des Christentums in Jordanien, zeigt. Sind die Gemeinden in den Provinzstädten weiterhin von den traditionell ansässigen Kirchen geprägt, nämlich der griechisch-orthodoxen, der griechisch-katholischen und der lateinischen Kirche, kommen in Amman die Kirchen der Immigranten und Flüchtlinge der vergangenen hundert Jahre hinzu: Armenier aus Anatolien (seit Ende des Ersten Weltkriegs), Anglikaner und Lutheraner aus Palästina (seit 1948), Chaldäer und Assyrer aus dem Irak (zunächst in den 1930er Jahren, massiv seit 2003), syrisch-orthodoxe Christen (einige nach dem Ersten Weltkrieg aus Anatolien, viele seit 2003 aus dem Irak und seit 2012 aus Syrien). Sie alle sind in eigenen Gemeinden, mit eigenen Kirchen und eigener Hie­ rarchie organisiert. Die bedeutendsten Kirchen sind: 1. Die 30 Gemeinden des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Jerusalem, Metropolie Philadelphia mit Sitz in Amman (ca. 120.000 Gläubige). 2. Das Vikariat Jordanien des lateinischen Patriarchats von Jerusalem (etwa 80.000 Gläubige) mit 34 Pfarreien und 23 Ordensgemeinschaften. Das lateinische Patriarchat betreibt 27 Schulen in Jordanien; außerdem gehört die American University of Madaba (eröffnet 2011) zum Patriarchat.40 3. Die melkitisch-katholische Kirche hat 30 Pfarreien mit etwa 30.000 Gläubigen in Jordanien und unterhält elf Schulen. Gemeinsam bilden die Vertreter der offiziell anerkannten Kirchen einen Rat, der die Regierung in Fragen der Religionspolitik berät und der Anerkennung neuer christlicher Gemeinschaften in Jordanien zustimmen muss. Durch den massiven Zuzug von Flüchtlingen und die Veränderungen der Arbeitswelt veränderten sich auch die traditionellen sozialen Zusammenhänge des Stammessystems, auch wenn seine Prägekraft im familiären Bereich hoch bleibt. Im Rahmen des tribalen Systems sind die familiären und sozialen Beziehungen zunächst von größerer Bedeutung als die religiöse Zugehörigkeit. Der Zusammenhalt von Familien, die einen muslimischen und einen christlichen Zweig haben, ist in der Regel weiterhin sehr eng. Dies fördert das friedliche Zusammenleben der beiden Religionsgruppen. Unter dem Druck der zahlreichen Flüchtlinge und Migranten beginnen sich die tradi40 Lahham s.a.: 165–283. Die Universität ist allerdings durch verschiedene Umstände – offenbar war auch Korruption im Spiel – in eine schwere finanzielle Krise geraten. Der Vatikan und das lateinische Patriarchat bemühen sich derzeit um eine Lösung dieser Probleme.

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tionellen Beziehungen aber zu schwächen. Wie wir gesehen haben, leben unter sieben Millionen jordanischen Staatsbürgern inzwischen zwei Millionen Ausländer, die meisten Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien. Dies beginnt sich auch auf die Beziehungen zwischen den Religionen negativ auszuwirken. Das Königshaus versucht dem seit langer Zeit entgegenzuwirken und bemüht sich traditionell um gute Beziehungen zwischen Christen und Muslimen. Das 1981 gegründete Royal Aal al-Bayt Institute zur Erforschung der islamischen Zivilisation bemühte sich von Beginn an um Kontakte zu den christlichen Kirchen und beteiligte sich führend an mehreren Gesprächsrunden des interreligiösen Dialogs mit offiziellen Stellen der orthodoxen, anglikanischen und katholischen Kirche.41 Mit der Gründung des Royal Institute of Interfaith Studies durch den damaligen Kronprinzen al-Hassan bin Talal zielte man auch auf internationale Bedeutung in diesem Bereich ab. Mit seinem Buch Christianity in the Arab World, auf Englisch im Jahr 1994 erschienen und seither in zahlreiche Sprachen übersetzt, leistete al-Hassan bin Talal einen wichtigen Beitrag, um das Bild eines lokalen Christentums zu vermitteln, das voll in die arabische Welt integriert ist.42 2013 fand in Amman auf Einladung von Prinz Ghazi bin Muhammad, dem Chefberater des Königs für religiöse und kulturelle Angelegenheiten, eine Konferenz hochrangiger orientalischer Kirchenführer zur Lage der Christen im Nahen und Mittleren Osten statt. König Hussein empfing die Konferenzteilnehmer und betonte in seiner Ansprache die wichtige Rolle der arabischen Christen als denjenigen, die am besten den Islam verstünden. Der König versicherte die Christen auch seiner Unterstützung und seines Schutzes: „Wir unterstützen jede Anstrengung, die historische Identität der arabischen Christen zu erhalten, und schützen das Recht auf freien Gottesdienst, basierend auf einer Regel, die sich sowohl im christlichen als auch im islamischen Glauben findet, nämlich der Betonung der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nachbarn, wie es auch in der Initiative „Ein gemeinsames Wort“ niederlegt ist.“43 Christen standen immer wieder und stehen auch heute vor folgender Frage: Sollen sie sich als Jordanier und als Teil der jordanischen Stammesgesellschaft in die „Große jordanische Familie“, die das Königshaus als gesellschaftlichen Konsens fördert, einfügen und auf jegliche religiöse Unterscheidung verzichten? Oder sollen sie als „Gemeinschaft“ (community) politische und soziale Garantien einer religiösen Minderheit in Anspruch nehmen? Der Staat gewährt Christen in der Tat eine größere Vertretung in den politischen Gremien, als sie allein aufgrund ihrer Zahl beanspruchen könnten. 41 Borrmans 1990; Suermann 2010:142. 42 Pacini 1996:290; Suermann 2010:143. 43 http://en.lpj.org/2013/09/06/king-abdullah-calls-for-preservation-of-historic-arab-christian-identity (03.09.2013; abgerufen am 10.12.2017). Mit dem offenen Brief „Ein gemeinsames Wort“ („A common word“) wandten sich am 13. Oktober 2007 138 Muslime „an den Papst und die ganze Christenheit“, um in Reaktion auf die Regensburger Rede Papst Benedikts XVI., die in der islamischen Welt große Aufregung ausgelöst hatte, zu einem tieferen Verständnis zwischen den Angehörigen der beiden Religionen aufzurufen. Das Royal Institute of Interfaith Studies in Amman war führend an diesem Aufruf beteiligt. Suermann 2010:143.

Perspektiven: Die Große Jordanische Familie

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Aber die Frage bleibt, ob sie als Teil der Großen jordanischen Familie nicht dauerhaft besser integriert sind als durch Schutzrechte, die letztlich am Wohlwollen des Königshauses hängen.44

44 Maggiolini 2011:27, 46–47.

Ägypten Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. (Hos. 11,1/Mt. 2,15)

Vergangenheit und Gegenwart des Christentums am Nil

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as ägyptische Christentum ist geprägt von zwei unterschiedlichen kulturellen Traditionen: der hellenistischen Tradition des östlichen Mittelmeerraums und der koptischen Kultur des Niltals, das sich der altägyptischen Tradition verpflichtet weiß. In den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte existierten beide Traditionen – wenn auch nicht immer konfliktfrei – in der einen Kirche Ägyptens. Diese führt ihre Ursprünge auf die vom Evangelisten Markus in Alexandrien gegründete Gemeinde zurück. Seit dem 3. Jahrhundert (und damit noch vor dem Bischof von Rom) beanspruchte der Erzbischof von Alexandrien den Titel Papst/Papa (von koptisch p-apa, „der Vater“) und machte damit seine Führungsrolle in der römischen Provinz Ägypten deutlich. Der Stuhl von Alexandrien war daher von Anfang an eines der vier (später fünf) Patriarchate (Rom, Alexandrien, Antiochien, Konstantinopel und ab 451 Jerusalem). Die Märtyrer der römischen Christenverfolgungen des 2. und 3. Jahrhunderts zeigen die Verwurzelung des Glaubens im Niltal. In Alexan­drien fand die Auseinandersetzung des Christentums mit dem hellenistischen Denken statt. Mit Origenes (185–ca. 254) stammte einer der einflussreichsten Theologen der frühen Kirche aus Ägypten. Die Katechetenschule von Alexandrien brachte von der Mitte des 2. Jahrhunderts bis zu ihrem Ende um das Jahr 350 eine Reihe großer Theologen und Bischöfe hervor. Auf der anderen Seite stand die Tradition des ägyptischen Mönchtums. Der Mönchsvater Antonios (legendarisch 251–356) wurde zum Vorbild Tausender Asketen, die sich wie er in die ägyptische Wüste zurückzogen und ein Leben in Askese führten. Vollkommen im Niltal verwurzelt und mit der koptischen Volkskultur verbunden war der Mönch Shenute von Atripe (legendarisch 348–466), Abt des Weißen Klosters beim oberägyptischen Sohag und Gründer weiterer Klöster. Er spielte eine bedeutende Rolle für die Entstehung der koptischen Literatur und die Entwicklung einer ägyptischen Nationalkirche. Die Kirchenlehrer Athanasios (ca. 300–373) und Kyrillos von Alexandrien (ca. 375/380– 444) waren dagegen hellenistisch gebildete Theologen, die sich in der griechischen Gedankenwelt des oströmischen Reichs bewegten. Neben der monastischen Tradition ist ihre Theologie bis heute maßgeblich für die koptische Kirche. Seit den christologischen Auseinandersetzungen des 5. Jahrhunderts geht die koptische Kirche aber ihren eigenen Weg in Abgrenzung zur byzantinischen Reichskirche und dem westlichen

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Papsttum. Die Debatten des 5. Jahrhunderts und die Abgrenzung von den Schriften des Nestorios (ca. 381–451/453) und des römischen Papstes Leo I. (ca. 400–461) bleiben für die koptische Kirche bis heute von hoher Aktualität. Auf dem Konzil von Chal­ kedon (451) wurde Dioskuros als Patriarch von Alexandrien abgesetzt und seine Theologie, die sich selbst in der Tradition von Kyrillos sieht, für nicht orthodox erklärt. Die Kopten sehen in ihm aber den Vorkämpfer der Orthodoxie und verehren ihn als Heiligen. Seither gibt es in Alexandrien zwei Patriarchate: das griechische, das in enger Verbindung mit der byzantinischen Reichskirche stand, und das koptische, das sich neben der griechischen auch der ägyptischen Tradition verpflichtet wusste. Mit der arabisch-islamischen Eroberung Ägyptens 642 und der Anerkennung ihres Patriarchen Benjamin (geb. ca. 590, Patriarch 623–662) durch die arabischen Machthaber erlangte die koptische Kirche die Führungsrolle innerhalb des ägyptischen Christentums. Sie löste damit auch offiziell die byzantinische Kirche in dieser Rolle ab. In religiöser Hinsicht wandten sich in den folgenden Jahrhunderten die meisten Ägypter allerdings dem Islam zu. Auf sprachlicher Ebene wurde das Koptische, eine Spätform des Altägyptischen, abgelöst vom Arabischen. Zwar hielt die koptische Kirche für die Liturgie noch länger am Koptischen fest, aber im Alltag waren auch die meisten Christen spätestens ab dem 11. Jahrhundert arabisch-sprachig. Die Kanonisierung der koptischen Theologie, vorgenommen durch die Patriarchen Gabriel II. ibn Turaik (1131–1145) und Kyrillos III. ibn Laqlaq (1235–1243) sowie die Brüder Ibn ʻAsal (13. Jahrhundert), erfolgte bereits in arabischer Sprache. Eine schwere Zeit war für die koptische Kirche die Herrschaft der Mamluken (1260–1517). In dieser Periode ist immer wieder von Unterdrückung und Verfolgung die Rede. 1517 eroberten die Osma­nen Ägypten und das Land wurde eine Provinz, regiert von einem Statthalter des Sultans in Istanbul. Wie in den anderen Teilen des Osmanischen Reichs auch genossen die Kopten im Rahmen des millet-Systems weitgehende Autonomie. Zwar gehörten sie formal zur armenischen millet, dies hatte aber auf die Beziehungen des koptischen Patriarchen und der koptischen Notablen zu den osmanischen Statthaltern in Kairo und den Emiren im Niltal keine Auswirkungen. Mit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon 1798 und der Etablierung der Herrschaft Mehmed Alis (ab 1805) brach für die Christen Ägyptens eine neue Zeit an. Die koptisch-orthodoxe Kirche begann sich Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss protestantischer und katholischer Missionare zu erneuern. Eine besondere Rolle spielte dabei Patriarch Kyrillos IV. (1854–1861). Er trägt auch den Beinamen „Vater der Reform“ (Abū l-iṣlāḥ). Allerdings mündete dies in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in einen erbitterten Konflikt zwischen traditionellem Klerus und aufstrebenden Laien um die Rechte des Gemeinderates, maǧlis millī. Dies fand im Streit um die Verwaltung der Kirchengüter Ausdruck. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die koptisch-orthodoxe Kirche dann einen unerwarteten Aufschwung. Seit den 1940er Jahren entwickelte sich aus der in Kairo entstandenen Sonntagsschulbewegung eine geistliche Erneuerung, die zur Hebung des Bildungsstands der Kleriker und der Laien führte. Auch die koptischen Klöster, von denen in

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den 1950er Jahren noch acht mit jeweils nur wenigen, kaum geachteten Mönchen existierten, erlebten durch den Eintritt zahlreicher modern gebildeter junger Männer eine neue Blüte. Da sich aus den Reihen der Mönche Bischöfe und der Patriarch rekrutierten, führte dies mit der Wahl von Papst Kyrillos VI. (1959–1971), der die Bewegung beförderte, zu einer Erneuerung der gesamten Kirche. Papst Shenouda III. (1971–2012), der selbst der Sonntagsschulbewegung entstammte, führte diese Entwicklung fort, so dass die koptisch-orthodoxe Kirche heute geprägt ist von einer gut gebildeten, aktiven Laienschicht, die von einem im Sinne der Erneuerungsbewegung ausgebildeten Klerus geführt wird.1 In Ägypten leben heute rund 6,5 Millionen Kopten (6 bis 7 Prozent der Bevölkerung), auch wenn die Kirchen deutlich höhere Zahlen angeben (bis zu 20 Prozent, meistens wird von offizieller kirchlicher Seite der Anteil von 15 Prozent angegeben, in den Medien ist oft von 10 Prozent die Rede, eine Zahl, die zwischen den kirchlichen Angaben und den statistischen Angaben des Staats liegt). Jüngere wissenschaftliche Untersuchungen2 bestätigen weitgehend die staatlichen Angaben, auch wenn dies von den Kirchen bestritten wird, ohne dass diese jedoch fundierte Zahlen vorlegen. Akzeptiert man die staatlichen Angaben, vertritt die koptisch-orthodoxe Kirche allein rund 6 Millionen Gläubige in Ägypten. Sie wird von Papst Tawadros II. geführt, der 2012 als Nachfolger des langjährigen und hochverehrten Papstes Shenouda III. (1971– 2012) ins Amt kam. Koptisch-orthodoxe Christen machen über 90 Prozent der in Ägypten lebenden Christen aus. Ihre traditionelle liturgische Sprache ist das Koptische. Außer in einigen Klöstern wird der Gottesdienst heute allerdings in arabischer Sprache mit einigen koptischen Formeln gefeiert. Das Selbstbild der Kopten ist geprägt von der Überzeugung, die „wahren“ Ägypter zu sein. Die Bezeichnung „Kopte“ ist nichts anderes als die arabisierte und schließlich in europäische Sprachen übernommene Form des griechischen Aigyptos. Eng verbunden mit der Auffassung, die Nachfahren der pharaonischen Ägypter zu sein, ist die Bindung an den christlichen Glauben, der von den Märtyrern in den großen Verfolgungen der römischen Zeit bezeugt und vom koptischen Volk während der islamischen Herrschaft treu bewahrt wurde. Die meisten Kopten leben in Oberägypten, vor allem in den Provinzen Minia, Assiut und Sohag, wo ihr Anteil an der Bevölkerung bis zu 20 Prozent ausmacht. Erst im 20. Jahrhundert wanderte eine bedeutende Zahl von Kopten im Zuge der Landflucht auch nach Kairo, Alexandrien und in die Städte der Delta-Region und der Suez-Kanal-Zone ab. Allerdings bestanden in Kairo und Alexandrien bereits vorher traditionelle koptische Gemeinden. Das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Alexandrien erlebte im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine erneute Blüte. Seit dem frühen 19. Jahrhundert waren viele Griechen aus geschäftlichen Gründen nach Ägypten gekommen. Ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kamen auch zahlreiche Auswanderer aus Syrien und dem Libanon 1 2

Siehe dazu Reiss 1998. Zum Beispiel Fargues 1996:62–74.

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hinzu, von denen viele orthodox waren (andere gehörten zur melkitisch-katholischen und maronitischen Kirche und bildeten jeweils eigene Gemeinden). Sie waren vor allem in den freien Berufen und im Pressewesen aktiv. So bildeten sich innerhalb des griechisch-orthodoxen Patriarchats zwei Gemeinden: eine griechisch-sprachige und eine arabisch-sprachige. Das Patriarchat selbst blieb aber immer fest in griechischer Hand. Mit etwa 150.000 Gläubigen, davon drei Viertel griechischen und ein Viertel syro-libanesischen Ursprungs, erlebte das griechisch-orthodoxe Patriarchat in den 1950er Jahren seinen Höhepunkt. Infolge der der Nationalisierung der Wirtschaft während der Nasser-Zeit lösten sich die Gemeinden der Griechen allerdings zum größten Teil auf. Auch viele syro-libenesische Geschäftsleute wanderten aus. Heute beträgt die Zahl der griechisch-orthodoxen Gläubigen in Ägypten noch etwa 15.000.3 Im nördlichen Ägypten gab es auch eine alteingesessene Gemeinde von Armeniern (seit dem 11. Jahrhundert). Im 19. Jahrhundert erhielt sie Verstärkung durch Einwanderer aus Istanbul und Anatolien. Wie die Griechen wurden sie vom wirtschaftlichen Aufschwung Ägyptens angezogen. Allerdings bot sich für sie auch Anstellung im Dienst des Hofes. Dieser war im 19. Jahrhundert türkisch-sprachig, so dass Armenier aus Anatolien, die oft noch weitere Fremdsprachen beherrschten, dort gefragt waren. In der Nasser-Zeit verließ ein Großteil der Armenier Ägypten.4 Ab dem 15. Jahrhundert hatte es immer wieder Kontakte zwischen der koptischen und der katholischen Kirche gegeben. Diese führten aber nicht zu einer dauer­ haften Union. Der Franziskanerorden war seit dem 16. Jahrhundert ununterbrochen in Ägypten präsent. Das Treffen des heiligen Franz von Assisi mit dem Sultan al-­ Malik al-­Kāmil im Jahr 1219 im Damiette auf ägyptischem Boden begründete ihren Anspruch. Bis zum 19. Jahrhundert gelang es der katholischen Kirche, einige tausend Gläubige für den Anschluss an Rom zu gewinnen. Diese Bemühungen führten 1895 zur Gründung eines koptisch-katholischen Patriarchats. Im Vergleich zur orthodoxen Kirche ist die koptisch-katholische Kirche jedoch immer recht klein geblieben. Heute gehören ihr etwa 250.000 Gläubige an. Daneben existieren mehrere orientalische katholische Kirchen und die lateinische Kirche in Ägypten. Besondere Bedeutung haben die zahlreichen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins Land gekommen katholischen Orden.5 Die evangelische Kirche in Ägypten geht auf die Arbeit englischer und amerikanischer Missionare im 19. Jahrhundert zurück. Mitarbeiter der anglikanischen Church Mission Society (CMS) waren 1818 nach Ägypten gekommen und bemühten sich, die koptisch-orthodoxe Kirche von innen heraus zu erneuern. Nach einer Phase der 3 Janin 1955:159–169; Meinardus 1965:passim; Spuler 1968:238–243; Ilbert/Yannakis 1992:82–83; Meinardus 2006:64–66. 4 Meinardus 1965:401–403; Ilbert/Yannakis 1992:68–76; Partrick 1996:80–81; Elli 2003, II:107–109; 122–123, 144; Meinardus 2006:70–72. 5 Janin 1955:490–491; Hajjar 1962:311–336; Cannuyer 1990:47, 185–188; Elli 2003, III:46–50; Suermann 2010:204–205.

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Zusammenarbeit mit Patriarch Kyrillos IV. verschlechterten sich allerdings die Beziehungen, so dass die CMS ihre Arbeit 1862 einstellte. Erst mit der britischen Besetzung Ägyptens nahm sie ihre Arbeit wieder auf. 1884 wurde eine Diözese mit Jurisdiktion über Ägypten, den Sudan und Abessinien eingerichtet. Heute umfasst ihr Amtsbezirk Ägypten, den Maghreb und das Horn von Afrika.6 1853 beschloss die United Presbyterian Church of North America die Entsendung von Missionaren nach Ägypten. Anders als die CMS befürwortete die amerikanische Mission von Anfang an den Proselytismus und betrieb systematisch den Aufbau eigener Gemeinden und Organisationsstrukturen. Schwerpunkte ihrer Arbeit waren Kairo und das mittlere Niltal, vor allem der Raum Assiut. Dort entstanden zahlreiche presbyterianische Schulen. Einen besonderen Ruf erwarb sich das 1865 gegründete Asyut College. 1899 schlossen sich die Gemeinden in der American Presbyterian Synod of the Nile zusammen. Sie ging 1926 in die Coptic Evangelical Synod of the Nile ein und macht dort etwa die Hälfte der Gläubigen aus (die anderen gehören zu den Methodisten, Baptisten und Brüderkirchen). Die Koptisch-evangelische Nilsynode gehört zu den evangelisch-reformierten Kirchen und zählt heute etwa 300.000 Gläubige in Ägypten.7 Die katholische Kirche und die Kirche der evangelischen Nilsynode sind in der Bildungs- und Sozialarbeit sehr aktiv. Auf katholischer Seite tragen vor allem die Orden und Kongregationen sowie die 1941 von einem Jesuiten gegründete Association of Upper Egypt for Education and Development (AUEED) zahlreiche Schulen. AUEED, Caritas Egypt und die Orden unterhalten auch viele Sozial- und Gesundheitseinrichtungen.8 Auf evangelischer Seite wird eine ähnliche Bildungs- und Sozialarbeit von der 1960 gegründeten Coptic Evangelical Organization for Social Services (CEOSS) geleistet.9 Beide ergänzen die Aktivitäten der zahlenmäßig viel stärkeren koptisch-orthodoxen Einrichtungen des von Anba Samuel seit 1962 aufgebauten Generalbischofs­ amts für soziale Angelegenheiten.10

* Das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert sind in Ägypten gekennzeichnet vom Kampf zwischen einem säkularen und einem religiösen Nationalismus. Die Christen Ägyptens – Kopten, Griechen, Syrer, Armenier und andere – waren darin entweder aktiv beteiligt oder mussten das Land verlassen. In der ersten Phase, die bis in die 1960er Jahre reicht, behält in Politik und Öffentlichkeit der säkulare 6 Strothmann 1932:84–85; Meinardus 1965:415–416; Reiss 1998:19–21; Elli 2003, III:52–54, n. 62; Sala­mah 2005:735–736; Meinardus 2006:102–103. 7 Strothmann 1932:85–86; Meinardus 1965:417–419; Cannuyer 1990:47–48, 188–189; Reiss 1998:23–33; Elli 2002, III:52–54; Salamah 2005:736–742; Meinardus 2006:108–117. 8 Ayrout 1949:12; Meinardus 1965:427–428; Meinardus 2006:124–126, Suermann 2010:206–207. 9 Meinardus 1965:428; Makari 2007:155–159. 10 Meinardus 2006:122–124.

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Nationalismus die Oberhand. Seit 1970 dominieren der Islam und eine extreme Konfessionalisierung (muslimisch und koptisch) das öffentliche Leben in Ägypten. Die Regierungszeit Gamal Abdel Nassers bildet dabei den Wendepunkt. Während Nasser selbst noch einen überwiegend säkular geprägten Nationalismus predigte, wurden islamistische Strömungen so stark, dass sie unter Anwar al-Sadat in den 1970er Jahren den öffentlichen Diskurs und die Sitten zu bestimmen begannen.

Zwischen Nationalismus und Islamismus: Die Christen Ägyptens in der Zeit der Monarchie Kreuz und Halbmond: Kopten und Muslime vereint im Kampf für die Unabhängigkeit Ägyptens Der Erste Weltkrieg verlangte große Anstrengungen von der ägyptischen Bevölkerung. Die Verbraucherpreise stiegen erheblich; der Krieg machte die Rekrutierung von Fellahen für den Dienst in Transport- und Arbeitseinheiten in Palästina und Syrien erforderlich. Die Zwangsrekrutierungen, die Beschlagnahmung von Gebäuden, Lebensmitteln und Tragtieren für das Militär und die Preissteigerungen entfremdeten gerade die Land- und ärmere Stadtbevölkerung der britischen Herrschaft. Hinzu kam, dass Ägypter an der Seite Englands für ein fremdes europäisches Land gegen den Sultan-Kalifen in Istanbul kämpfen sollten. Dies nutzten nationalistische Agitatoren, um auch außerhalb der städtischen Eliten eine Bewegung gegen die britische Herrschaft und für die Unabhängigkeit Ägyptens ins Leben zu rufen. Die militärischen Erfolge der Briten gegen das Osmanische Reich 1917/18 machten auf ägyptischer Seite die Frage nach dem Status des Landes nach dem abzusehenden Ende des Kriegs drängend. England hatte Ägypten beim Kriegsausbruch 1914 zum Sultanat erklärt und damit vom Osmanischen Reich auch formal losgelöst. Gleichzeitig hatte es das Land unter britisches Protektorat gestellt. Am Ende des Kriegs wollte der Premierminister im Namen von Sultan Fuad noch vor Beginn der Friedenskonferenz von Paris Gespräche mit der britischen Regierung über eine mögliche Unabhängigkeit Ägyptens führen. Auf Seiten der Nationalisten fürchtete man dadurch eine Stärkung des Monarchen. Dies wollte man unbedingt verhindern. Also wurde erwogen, eine eigene, „nationale Delegation“ zur Verhandlung mit England zusammenzustellen. Als Sprecher der Nationalisten trat Saad Zaghlul auf, der sich seit 1913 als Oppositionsführer etabliert hatte. Die Nationalisten brachten Gefolgsleute aus den Reihen der baumwollproduzierenden Landbesitzer zusammen, aber auch aus der Bildungs- und Verwaltungselite: Anwälte und Staatsbeamte, viele von ihnen engagiert in den politischen Institutionen. Sie hatten Verbindungen in die Dorfeliten und in die unteren Reihen des Staatsdienstes und konnten so auf eine breite Anhängerschaft zählen. Außerdem machte sie ihre säkulare Einstellung attraktiv für Kopten. Damit bestand eine Alternative zum islamisch geprägten Nationalismus, der die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg

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beherrscht hatte. Kopten begannen also, sich in den Reihen der Nationalisten um Saad Zaghlul politisch zu engagieren.11 Im November 1918 wurde unter dem Namen al-wafd al-miṣrī, „ägyptischen Delegation“, kurz: Wafd, eine nationalistische Delegation zusammengestellt. Ihr gehörten neben zwölf Muslimen auch zwei Kopten an.12 Der Vertreter der britischen Regierung in Kairo verweigerte ihr jedoch die Abreise nach Frankreich zur bevorstehenden Friedenskonferenz. Dies führte zu landesweiten Protesten, an denen sich eine große Bandbreite der Bevölkerung beteiligte. Im April 1919 durfte die Delegation Saad Zaghluls schließlich doch abreisen. Die Friedenskonferenz bestätigte jedoch gegen den Protest des Wafd das britische Protektorat. In Ägypten folgten Proteste und Streiks. Sie prägten die Jahre 1919 bis 1922. Kopten beteiligten sich daran ebenso wie Muslime. Immer wieder wurde die nationale Einheit zwischen den beiden Religionsgemeinschaften beschworen. Eine Fahne mit Kreuz und Halbmond auf grün-weißem Grund symbolisierte die Zusammenarbeit von Christen und Muslimen im Kampf für die Unabhängigkeit Ägyptens. Als Folge der andauernden Proteste kündigte Großbritannien im Frühjahr 1921 an, sein Protektorat über Ägypten aufzuheben. Aber auch dadurch ließ sich die anti-britische Stimmung im Land nicht beruhigen. Im Mai 1921 kam es in Kairo und Alexandrien zu anti-christlichen Ausschreitungen, vor allem gegen Ausländer. Dies lieferte den Briten den Vorwand, zum Schutz der Minderheiten ihre Militärpräsenz in Ägypten aufrecht zu erhalten. Führende koptische Persönlichkeiten lehnten aber sowohl die Protektion durch die Briten als auch einen Minderheitenstatus ab. Ein solcher bedrohte aus ihrer Sicht die nationale Einheit. Um die Proteste einzudämmen, deportierten die Briten Zaghlul im Sommer 1921 auf die Seychellen. Das Ergebnis war jedoch das Gegenteil: Die Proteste eskalierten. Dies veranlasste Großbritannien schließlich, am 28. Februar 1922 einseitig die Unabhängigkeit Ägyptens zu erklären. Die Erklärung wurde ergänzt durch vier Einschränkungen (Reserved Points): 1. die Sicherheit der Kommunikationslinien des britischen Empire in Ägypten (vor allem die Verbindung nach Britisch-Indien), 2. die Stationierung britischer Truppen zur Verteidigung Ägyptens im Fall einer ausländischen Aggression, 3. der Schutz ausländischer Interessen und der Minderheiten durch Großbritannien und 4. die Regelung der Angelegenheiten des Sudan. Am 15. März proklamierte sich der bisherige Sultan Fuad zum König und erklärte Ägypten zum souveränen und unabhängigen Staat.13

11 Vatikiotis 1991:254–262. 12 Sinut Hanna (aus vermögender Familie in Beni Sueif) und George Khayyat (ein reicher protestantischer Kopte aus Assiut und US-amerikanischer Konsul dort). 13 Landau 1953:152–158, 164; Behrens-Abouseif 1972:89–91; Carter 1986:60–73.; Vatikiotis 1991:262– 272. Die Frage der Reserved Points wurde erst 1936 im anglo-ägyptischen Vertrag geregelt. Allerdings wurde nur Punkt 3, die Frage der Ausländer und Minderheiten, endgültig zugunsten einer rein ägyptischen Garantie geklärt. Während der Verhandlungen machte der Egypt Inter-Mission Council (der protestantische Missionare vertrat) Eingaben, die forderten, dass der Vertrag den Schutz von Minderheiten weiterhin als legitime britische Aufgabe benennen sollte. Sie fanden allerdings kein Gehör. Carter 1986:73–74; Vatikiotis 1991:293.

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Die Hauptaufgabe war nun die Erarbeitung einer Verfassung. Am 3. April ernannte die Regierung eine Verfassungskommission, bestehend aus 35 Vertretern verschiedener Gruppen: Mitglieder der Legislative Assembly (des Quasi-Parlaments von 1913), Landbesitzer, Händler, Anwälte, Richter, religiöse Führer inklusive solche der reli­ giösen Minderheiten (fünf Kopten und ein Jude), Intellektuelle. Am 19. April 1923 wurde die Verfassung promulgiert. Darin waren die Gleichheit aller Ägypter vor dem Gesetz ohne Ansehen von Herkunft, Sprache und Religion (Artikel 3), Glaubensfreiheit (Artikel 12) und Kultfreiheit (Artikel 13) garantiert. An keiner Stelle war von Minderheiten die Rede.14 Der Islam wurde zur Religion des Staats erklärt (Artikel 149), ohne dass dies größeren Widerstand von koptischer Seite hervorgerufen hätte. In Personenstandsfragen waren die Kirchen so wie zu osmanischer Zeit autonom. Das heißt, dass die Kirchen Fragen der Eheschließung, Scheidung und Vormundschaften nach eigenen kanonischen Vorgaben regeln konnten.15 Heftige Diskussionen löste die Erarbeitung des Wahlgesetzes aus. Es stellte sich die Frage, wie die Minderheiten im Parlament vertreten sein sollten. Einige, darunter die Vertreter des Wafd, vertraten die Auffassung, dass die Abgeordneten Parteien und nicht religiöse oder ethnische Gruppen vertreten sollten. Die koptischen Abgeordneten wären damit nämlich auf die Rolle von Interessenvertretern einzig ihrer eigenen Gruppe reduziert worden, die nicht die Fähigkeit hätten, die Interessen des Landes im Ganzen zu vertreten. Eine Versammlung von Kopten aller Gesellschaftsschichten verabschiedete ganz auf dieser Linie eine Erklärung, die die besondere Behandlung von Minderheiten im Parlament verwarf. Eine solche sei mit dem Gedanken der Souveränität des Staats nicht vereinbar. Dies war auch die Position der katholischen Kirche; eine Sonderbehandlung der Christen bedrohe die Einheit des Landes. Andere Christen waren dagegen der Auffassung, dass eine garantierte proportionale Vertretung der religiösen Minderheiten im Parlament durchaus in deren Interesse liege. Dazu zählten der koptisch-orthodoxe Patriarch, einige koptische Bischöfe und Notable, Vertreter der evangelischen Kirche und der jüdischen Gemeinde. Die für die Ausarbeitung des

14 Während der Vorbereitung der Verfassung war 1922 in Kairo eine koptische Versammlung unter Leitung des Politikers Girgis Suryal zusammengetreten. Die Delegierten lehnten jeglichen Schutz der christlichen Minderheit in Ägypten durch eine ausländische Protektionsmacht ab und erklärten sie für unvereinbar mit dem Gedanken eines souveränen Staats. Auch jegliches Amt, etwa eine Ministerialabteilung für koptische Angelegenheiten, die die Kopten quasi als Fremde schützte, wurde abgelehnt. Als Staatsbürger sollten sie im Rahmen der allgemeinen Verfassung gleiche Bürgerrechte wie alle anderen Bürger des Landes genießen. Strothmann 1932:133–134. 15 Zu Beginn der 1930er Jahre waren die koptisch-orthodoxe Kirche, die Anglikaner und die armenisch-katholische Kirche vollständig autonom und hatten eigene Gerichtshöfe. Die jeweiligen kirchlichen (bzw. rabbinischen) Regelungen für die katholisch-unierten Kirchen (Kopten, Melkiten, Maroniten, Syrer und Chaldäer), die griechisch-orthodoxe Kirche sowie die rabbinischen Juden waren beim Innenministerium hinterlegt und wurden von diesem angewandt. Einzig die Statuten der orthodoxen Armenier, der wenigen syrisch-orthodoxen Christen, des autokephalen griechisch-orthodoxen Sinai­ klosters, der lateinischen Katholiken sowie die der karäischen Juden genossen keine staatliche Anerkennung. Strothmann 1932:145–146.

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Wahlgesetzes zuständige Kommission verwarf schließlich die Proporzlösung zugunsten einer rein auf dem Staatsbürgerschaftsprinzip beruhenden Lösung.16 Kopten waren bis zum Ende der 1930er Jahre auf der politischen und sozialen Bühne Ägyptens sehr präsent. Man kann von einer Blütezeit des politischen Engagements und der Einbindung der Christen in das soziale Leben Ägyptens sprechen. Im 1924 gebildeten Kabinett von Saad Zaghlul dienten zwei Kopten als Minister (Außenminister und Minister für öffentliche Arbeiten). Der Kopte Wissa Wassef war von 1928 bis 1930 Parlamentspräsident. Kopten waren in fast allen politischen Parteien aktiv. Die Wahl der Partei folgte dabei ihren persönlichen Interessen und politischen Anschauungen und war nicht primär durch ihre Religionszugehörigkeit bestimmt. Wechsel der Partei, Parteiausschlüsse und Anschluss an neu gegründete Parteien waren durchaus üblich. Mitglieder derselben Familie gehörten oft verschiedenen Parteien an. Dies bot Schutz in dem teils aufgeheizten politischen Klima. Im Sinne einer Protektion ist auch das Engagement von koptischen Notablen in den Parteien des Palastes (Ḥizb al-ittiḥād, Ḥizb al-šaʿb), also in den monarchisch-konservativen Parteien, zu sehen. Als Institution und Manifestation des Staats war König Fuad (1917/1922–1936) für manche reiche Kopten eine Art Schutzgarantie, über den sie ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu sichern suchten. Große Unterstützung von Seiten des Volkes oder der koptischen Gemeinde hatten diese Politiker in der Regel aber nicht. Der Palast seinerseits suchte engen Anschluss an das koptisch-orthodoxe Patriarchat und war bereit, mit kirchlich konservativen koptischen Politikern zusammenzuarbeiten. König Fuad konnte sich auf diese Weise in seiner Vaterrolle für alle Ägypter zeigen. Sein Sohn Faruq (1936– 1952), der sich in der Öffentlichkeit als guter muslimischer Herrscher darzustellen wünschte, war allerdings weniger geneigt als sein Vater, mit koptischen Politikern zusammenzuarbeiten.17 Bis 1942 war der liberale Wafd die Partei mit der größten und sichtbarsten koptischen Beteiligung. Im Exekutivkomitee von 1923 waren 44 Prozent Kopten (acht Muslime und sechs Kopten). Allerdings ging ihre Zahl in den 1930er Jahren deutlich zurück. Der Kopte Makram ʿUbaid und der Muslim Mustafa al-Nahhas waren jahrelang zusammen Parteiführer. Sie bildeten ein Symbol für die nationale Einheit von Muslimen und Kopten. Anfang der 1940er Jahre kam es jedoch zum Streit zwischen den beiden Politiken. Makram ʿUbaid trat 1942 aus der Wafd-Partei aus und gründete seine eigene Partei. Im Exekutivkomitee des Wafd waren damals nur noch drei Kopten vertreten (12 Prozent – ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu den 44 Prozent von 1923). Der Einfluss von Kopten in der Wafd-Partei ging seit 1942 weiter kontinuierlich zurück, und obwohl der Wafd seine säkularen Prinzipien formal nie aufgab, wurde er immer stärker abhängig von muslimischen religiösen Gefühlen der Masse. So unternahm der Wafd gegen die zunehmenden gesellschaftlichen Ressentiments gegen 16 Strothmann 1932:133; Hourani 1947:41; Behrens-Abouseif 1972:93–95; Carter 1986:133–142; Vatikiotis 1991:274–278; Elli 2003:400–403; Hasan 2003:38–39; Ibrahim 2013:73–75; Scott 2010:40–41. 17 Carter 1986:184–187, 195–196.

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Kopten seit Mitte der 1940er Jahre genauso wenig wie der König und die konservativen Parteien.18 Makram ʿUbaids neue Partei, al-Kutla al-wafdiyya, in die er einige führende Kopten mitnehmen konnte, war nur kurzzeitig ein einflussreicher politischer Faktor. Mit seinen radikalen nationalistischen und anti-britischen Einstellungen näherte sich Makram ʿUbaid schnell den Muslimbrüdern an (so durch Treffen mit deren Supreme Guide Hasan al-Banna 1942 und 1947, der Verurteilung des Verbots der Muslimbruderschaft 1948 und seiner Anwesenheit auf dem Begräbnis von al-Banna). Seine Annäherungsversuche fanden auf Seiten der Muslimbrüder allerdings kein Gehör, sie blieb weiterhin streng anti-koptisch. Auch von Seiten der koptischen Gemeinde wurde Makram ʿUbaid immer kritischer gesehen. Man betrachtete ihn zunehmend als politischen Opportunisten.19

Klerus oder Laien: Wer vertritt die koptische Gemeinschaft? Innerkirchlich bildete die Zeit bis in der 1950er Jahre eine Periode des Kampfes zwischen aufstrebenden Laien und konservativem Klerus. Die westlich gebildeten, säkular ausgerichteten und politisch aktiven Laien forderten analog zu ihrem gewachsenen Einfluss im politischen Leben eine wichtigere Rolle in der Leitung der koptisch-orthodoxen Kirche, vor allem Mitspracherecht bei der Verwaltung der kirchlichen Stiftungen. Hatten die Reformer 1883 mit der Einführung eines Gemeinderates, maǧlis millī, einen Erfolg errungen, wurden dessen Kompetenzen durch Gesetze der Jahre 1908 und 1912 erheblich beschnitten. 1927 gelang es den Reformern in einem politischen Klima, das die Säkularisierung der religiösen Institutionen beförderte, die ursprünglichen Kompetenzen der Gemeinderäte aus dem Jahr 1883 wieder in Kraft setzen zu lassen. Dies hatte aber dauerhaft keinen Erfolg. Der Klerus setzte den Modernisierungsbestrebungen der Laienelite aus der Oberschicht heftigen Widerstand entgegen, unterstützt von weiten Teilen der einfachen Gläubigen. Unter dem Kampfbegriff far18 Carter 1986:161–181; siehe zur Rolle von Makram ʿUbaid und seinem Ausscheiden aus dem Wafd auch Ibrahim 2013:80–85. 19 Carter 1986:188–194. Weitere Parteien: Die in den 1930er Jahren als Wafd-Abspaltung gegründete Saadist Party (benannt nach Saad Zaghlul) wies ein erhebliches Engagement von Kopten auf, möglicherweise wegen ihrer breiten Basis im urbanen Milieu. Angesichts der anti-koptischen Propaganda der Partei im Wahlkampf 1938 bleibt dies allerdings erstaunlich. Trotzdem waren in der Abgeordnetenkammer von 1938 die meisten gewählten koptischen Abgeordneten Saadisten. 1945 und 1950 wurde der Anteil der koptischen Kandidaten der Partei sogar noch erhöht. Im Vergleich zu den anderen genannten Parteien war das Engagement von Kopten in der Liberal-konstitutionellen Partei am geringsten. Dennoch waren in ihrem ersten Exekutivkomitee von 1922 vier Kopten. Allerdings verbreitete die Parteizeitung bereits seit 1923 auch anti-koptische Propaganda. Bis 1935 verließen alle führenden Kopten bis auf einen die Partei. Bei den Wahlen 1938 und 1945 wurde kein einziger koptischer Kandidat der Liberal-konstitutionellen Partei gewählt. 1950 stellte die Partei erst gar keine koptischen Kandidaten mehr auf. 1949 wurde die Nationaldemokratische Partei als rein koptische Partei gegründet. Sie setzte sich vehement gegen Beschränkungen der Kultfreiheit der Kopten ein, prangerte Diskriminierung und unzureichende Vertretung der Kopten im Parlament an. Die Partei erhielt aber wenig Zuspruch und verschwand schnell wieder von der politischen Bildfläche. Carter 1986:181–187, 280.

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naget al-kanīsa („Frankisierung“ der Kirche) wurden derartige Bemühungen diskreditiert und waren ohne die Unterstützung einer breiten Schicht von Gläubigen nicht durchzusetzen. Nach dem Tod von Patriarch Kyrillos V. wählte eine Laienversammlung 1927 einen progressiven Priester zum Nachfolger. Dieser fand jedoch nicht die Anerkennung des Königs und der Regierung, die ihrerseits eine Versammlung von Klerikern und Notabeln einberief. Diese wählte Johannes XIX., den Wunschkandidaten der Bischöfe. Die Streitigkeiten zwischen den Reformern und dem Klerus gingen erwartungsgemäß weiter, vor allem in Bezug auf die Stiftungen der Klöster. Die Äbte weigerten sich, die Aufsicht über die Stiftungen an die Laienräte abzugeben, und die Patriarchen Johannes XIX. (1928–1942), Makarios III. (1942–1945) und Yusab II. (1946– 1956) bemühten sich vergeblich um eine befriedigende Lösung zur Verwaltung der Stiftungsgüter.20

Ausgrenzung und Abgrenzung: Gesellschaftliche Entwicklungen der 1930er und 1940er Jahre Religionspolitisch spielten in den 1930er und 40er Jahren zwei Fragen eine Rolle: der Religionsunterricht sowie der Bau von Kirchen. Die rechtliche Grundlage für den Bau von Kirchen stellten das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn aus dem Jahr 1856 sowie der Azabi-Erlass aus dem Jahr 1934 dar. Das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn knüpfte den Bau neuer Gotteshäuser an eine Genehmigung des osmanischen Sultans; dessen Rolle nahm nach der Unabhängigkeit Ägyptens der König ein. 1934 präzisierte der damalige Innenminister Azabi Pascha in einem nach ihm genannten Erlass zehn Bedingungen, die für die Erteilung von Baugenehmigungen für Kirchen erfüllt sein mussten. Demnach war ein Gutachten der lokalen Behörden ausschlaggebend, in dem die Einhaltung eines Mindestabstands der geplanten Kirche zu umliegenden Moscheen und öffentlichen Gebäuden sowie die Zustimmung der muslimischen Nachbarn festzustellen waren. Der Bericht war dem Innenministerium vorzulegen, der ihn schließlich an den König mit der vorbereiteten Baugenehmigung zur Unterzeichnung weiterzuleiten hatte. Komplizierend wirkte sich aus, dass zwar das Innenministerium federführend für die Baugenehmigungen zuständig war, jedoch andere Ministerien hinzuzuziehen waren, wenn die geplante Kirche in der Nähe eines öffentlichen Gebäudes, am Nilufer oder an einem Bewässerungskanal lag. In den 1940er Jahren häuften sich die Klagen über mangelnde Baugenehmigungen für Kirchen. Einerseits wurden wegen der wachsenden Bevölkerung mehr Kirchen benötigt, andererseits machte es der zunehmende Einfluss islamistischer Gruppen der Regierung schwer, mehr Genehmigungen zu erteilen, ohne Abwehrreaktionen der muslimischen Bevölkerung auszulösen.21

20 Strothmann 1932:36–44, 134–137; Meinardus 1970:21–25; Behrens-Abouseif 1972:42–44; Carter 1986:29–41; El-Khawaga 1997:151–153; Reiss 1998:41–43; Elli 2003, II:365–370. 21 Carter 1986:239–242; Kaspar 2014:59–60.

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Mit Blick auf den Religionsunterricht in staatlichen Schulen legte das Erziehungsministerium 1931 fest, dass allein muslimische Schüler verpflichtend daran teilzunehmen hätten. Den Kirchen wurde jedoch die Freiheit gelassen, während der Stunden des islamischen Religionsunterrichts eigenen Unterricht anzubieten. Forderungen nach staatlich finanziertem christlichem Religionsunterricht lehnte das Erziehungsministerium mit dem Hinweis darauf ab, dass ein Staat, dessen Religion laut Verfassung der Islam sei, in seinen Schulen nur islamischen Religionsunterricht anbieten könne. 1936 wurde eine Prüfung in Korankenntnis für alle Sekundarschüler verpflichtend eingeführt. Erst auf Protest von Patriarch Johannes XIX. wurden koptische Schüler 1937 davon entbunden, nicht ohne erbitterten Widerstand muslimischer Gruppen. Viele koptische Kinder besuchten allerdings christliche Privatschulen. Diese wurden vom koptisch-orthodoxen Patriarchat, von koptischen Vereinen, den Kongregationen der katholischen Kirche und von der presbyterianischen Mission betrieben.22 Unter dem Einfluss der faschistischen Beispiele in Europa bildeten sich in Ägypten in den 1930er Jahren paramilitärische Jugendorganisationen: die Blauhemden des Wafd und die religiös-faschistischen Grünhemden von Miṣr al-fatāt (Devise: „Vaterland, Islam, König“). Miṣr al-fatāt war 1933 als Jugendverband gegründet worden. Er zog vor allem Schüler in Kairo, Alexandrien und den größeren Provinzstädten an. Bis 1938 entwickelte sich der Verband zu einer politischen Partei mit extremen ägyptisch-nationalistischen Positionen, gemischt mit islamisch-religiösem Fanatismus und Ausländerfeindlichkeit. Parallelen zum italienischen Faschismus und zum deutschen Nationalsozialismus drängen sich auf. Die Partei kämpfte für eine radikale Gleichschaltung der ägyptischen Verbände und eine Militarisierung der Gesellschaft. Der Wille des Volkes wurde mit dem Willen Gottes gleichgesetzt. Ziel war die Vormachtstellung des mit dem Sudan vereinigten Ägypten in der islamischen Welt. Innenpolitisch kämpfte Miṣr al-fatāt für eine Verstaatlichung ausländischer und die Stärkung ägyptischer Industrie- und Handelsunternehmen. Gesellschaftlich trat die Partei für ein rigoroses Alkoholverbot und den Kampf gegen Prostitution und alle Formen der Korruption ein. Die Scharia und moralische Werte des Islam sollten die Basis für eine Erneuerung Ägyptens sein, nicht die Werte des europäischen Liberalismus. Die Organisation forderte die Schließung der ausländischen Schulen sowie der christlichen Missionsschulen und die Militarisierung des Schulwesens.23

22 Elli 2003, II:410–411. Laut Koptischem Almanach des Jahres 1929 gab es im Schuljahr 1927/1928 370 koptische Schulen (neben 530 muslimischen und 401 anderen Schulen). Die koptischen Schulen verteilten sich auf 35 Patriarchatsschulen mit insgesamt 5.698 Schülern, 79 freie, also Privatschulen mit 9.556 Schülern (darunter müssen auch die katholischen Schulen fallen), 75 Schulen der koptischen Vereine mit 12.406 Schülern sowie 181 protestantische Schulen mit 12.855 Schülern. Zu den 370 Schulen modernen Typs kamen noch 137 Grundschulen „alten Stils“ (offenbar Kirchenschulen, an denen vorwiegend religiöser Unterricht erteilt wurde) mit 6.575 Kindern. 29 Prozent der koptischen Schüler waren im Schuljahr 1927/1928 Mädchen, 71 Prozent Jungen und damit ein deutlich höherer Anteil als bei Muslimen (17 Prozent Mädchen, 83 Prozent Jungen). Strothmann 1932:115–116. 23 Vatikiotis 1991:320, 330–332.

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Von enormer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung sollte die Muslimbruderschaft (al-iḫwān al-muslimūn) werden. Sie war 1928 von Scheich Hasan alBanna als islamischer Verein zur Stärkung des religiösen und moralischen Eifers des Einzelnen ins Leben gerufen worden und entwickelte sich unter seiner Führerschaft (Hasan al-Banna nahm für sich das Amt eines Supreme Guide der Bruderschaft in Anspruch) in den 30er Jahren zu einer Massenorganisation, die nicht nur religiöse, sondern auch politische Ziele verfolgte. Nach Ansicht al-Bannas lag die Erlösung in der Reinigung des Einzelnen und der Gesellschaft gemäß islamischen moralischen Ansprüchen. Die Beachtung islamischer Vorschriften sollte seiner Auffassung nach zur Lösung aller sozialen und politischen Probleme führen (daraus entwickelte sich später die Parole „Der Islam ist die Lösung“, al-islām huwa l-ḥall). Europäische Kultur und Werte sowie liberal-konstitutionelle politische Vorstellungen seien dagegen aus dem privaten und öffentlichen Leben Ägyptens auszumerzen.24 Eine andere radikale islamische Gruppe der 1940er Jahre war Šabāb Muḥammad („Muhammad-Jugend“), eine Splittergruppe der Muslimbrüder. Sie forderte die Abschaffung des Parlaments und die Einsetzung eines islamischen Beratungsgremiums (maǧlis al-šūra). Außerdem rief sie zum Boykott aller von Nicht-Muslimen produzierten oder gelieferten Waren auf und verlangte die Wiedereinführung der Kopfsteuer für Nicht-Muslime (ǧizya).25 Mit dem Erstarken islamischer Verbände gerieten die liberalen Parteien, vor allem die Wafd-Partei, wegen des Engagements koptischer Politiker immer stärker unter gesellschaftlichen Druck. Die Tatsache, dass diese Parteien auch von Christen unterstützt wurden, wurde von ihren Gegnern ausgenutzt, um sie zu diskreditieren. Außer­dem gab es immer mehr Übergriffe auf Christen. In den 1920er Jahren hatte es kaum religiös motivierte Gewalt gegen Kopten gegeben. Dies änderte sich ab den 40er Jahren. Die anti-koptische und anti-missionarische Propaganda der Muslimbrüder und der Šabāb Muḥammad trugen erheblich zu dem Klima bei, in dem diese Gewalt möglich wurde. Im Umfeld der Wahlen von 1943 kam es zu Verbalattacken gegen Kopten und zu Angriffen auf Kirchen, Priester und Gläubige sowie zu anti-koptischen Protesten vor Kirchen. Muslimbrüder und ihre Sympathisanten verübten ab 1945 Proteste, Terrorakte, politische Mordanschläge, Einschüchterungen von Justizbeamten und Übergriffe auf religiöse Minderheiten und britische Einrichtungen. Im März 1947 wurde in Zagazig, einer Stadt im Nildelta, aufgrund der Agitation von Muslimbrüdern die örtliche Kirche während des Gottesdienstes angegriffen und in Brand gesteckt. In Alex­andrien und Oberägypten wurden Kirchen angezündet, während überall im Land auf anti-christlichen Demonstrationen die Gefahr einer Zusammenarbeit von Christentum und Zionismus beschworen wurde. Mit der Gründung des Staats Israel und dem Einmarsch ägyptischer Truppen in Palästina am 15. Mai 1948

24 Vatikiotis 1991:329–330. 25 Carter 1986:91.

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kam es zu Plünderungen jüdischer Geschäfte und Bombenanschlägen im jüdischen Viertel von Kairo.26 Die aggressive Stimmungsmache der Muslimbrüder veranlasste die Regierung schließlich, die Bruderschaft aufzulösen und ihren Besitz zu beschlagnahmen (Dekret vom 8. Dezember 1948). Die Antwort der Muslimbrüder kam prompt: am 28. Dezember ermordete einer von ihnen den Premierminister. Die neue Regierung setzte die Repressionsmaßnahmen gegen die Muslimbrüder und andere Terrororganisationen jedoch fort. Am 19. Februar 1949 wurde Hasan al-Banna, der Supreme Guide der Muslimbruderschaft, ermordet. Trotz des Verbots agitierten die Muslimbrüder weiter in Moscheen, Universitäten und Azhar-Einrichtungen. Die kaum zu verhehlende Niederlage der ägyptischen Armee im ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948 und der Abschluss eines Waffenstillstands mit Israel im Februar 1949 ließen die Autorität des Staats und des Königs auf einen Tiefpunkt sinken. Dies nutzten die Muslimbrüder für weitere Stimmungsmache und Angriffe. Dabei richteten sie ihre Aktionen sowohl auf staatliche als auch auf christliche Ziele.27 Am 4. Januar 1952 wurden in Suez eine koptische Kirche, eine Schule und das Gebäude einer Wohlfahrtseinrichtung von einem Mob zerstört und drei Kopten getötet. Patriarch und maǧlis millī forderten die Regierung zu raschem Handeln auf. Der Patriarch, wohl unter hohem politischen Druck, erklärte, die Muslimbrüder hätten mit dem Vorfall nichts zu tun. Die Regierung und König Faruq versuchten mit Beileidsbekundungen und Entschuldigungen die aufgebrachte koptische Gemeinde zu beruhigen. Eine gründliche Untersuchung des Falls blieb jedoch aus.28 Der Staat schien nicht mehr in der Lage, seine Bürger zu schützen. Der König hatte sein Ansehen verloren, die Parteien waren heillos zerstritten.

Der Umbau der Gesellschaft unter Nasser: Instrumentalisierung, Marginalisierung und Abgrenzung Im Banne des Magiers: Die Kirche im Dienst Nassers Angesichts dieser Situation formierte sich innerhalb des Militärs in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Widerstand. Dieser organisierte sich Ende 1949 als Komitee der Freien Offiziere, unter ihnen Gamal Abdel Nasser und Anwar al-Sadat. Kopten waren nicht darunter. Die Freien Offiziere nutzten das Scheitern mehrerer Regierungen in der ersten Jahreshälfte 1952 und die zunehmende Gewalt auf der Straße, um in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli 1952 zu putschen. General Muhammad Nagib, ein Vertrauter des Komitees der Freien Offiziere, übernahm nach außen die Führungsrolle. Am 26. Juli dankte König Faruq unter Zwang ab und verließ das Land. Sein minderjähriger Sohn 26 Carter 1986:256–276; Elli 2003, II:412–416. 27 Vatikiotis 1991:365–367. 28 Carter 1986:277–279.

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Ahmad Fuad wurde zum König ausgerufen und einem Regentschaftsrat unterstellt. Ein Revolutionärer Kommandorat (RKR) unter der Führung von Gamal Abdel Nasser übernahm zentrale politische Kompetenzen. Das Militär hatte die Macht übernommen.29 Widerstand gegen die Militärregierung kam von zwei Seiten: von den alten Parteien (vor allem vom Wafd) und von den Muslimbrüdern. Am 17. Januar 1953 übernahm der Revolutionäre Kommandorat formal die Regierungsgewalt. Alle politischen Parteien wurden aufgelöst und verboten. Am 18. Juni 1953 erklärte der RKR die Monarchie für abgeschafft und rief die Republik aus. Nagib übernahm zusätzlich zu seiner Funktion als Ministerpräsident die Rolle des Staatspräsidenten. Nasser wurde stellvertretender Premierminister und übernahm das Innenministerium. Zunehmender Protest und gewaltsamer Widerstand der Muslimbrüder, unter anderem organisiert an den Hochschulen, führte im Januar 1954 zur Verhaftung der Führungsriege der Bruderschaft sowie mehrerer Mitglieder. Die Muslimbruderschaft wurde erneut aufgelöst und alle ihre Aktivitäten verboten. Die Organisation ging damit in den Untergrund, beendete aber keineswegs ihre Aktivitäten. Im Gegenteil: in der Armee versuchte sie weiterhin Teile des Offizierskorps zu unterlaufen.30 In die Zeit des Umsturzes fallen auch heftige Konflikte in der koptischen Gemeinschaft. Als Reaktion auf die Islamisierungsbestrebungen der Muslimbruderschaft hatte sich 1952 die Bewegung al-Umma al-qibtiyya („die koptische Nation“) gebildet. Ihre Mitglieder bezog sie vor allem aus den unterprivilegierten Schichten, darunter viele arbeitslose und enttäuschte Jugendliche, die nichts zu verlieren hatten und sich von den radikalen Forderungen der Umma qibtiyya angesprochen fühlten. Reiche und einflussreiche Kopten, die auf die Zusammenarbeit mit Muslimen angewiesen waren, hielten sich dagegen von der Bewegung fern. Ähnlich wie die Muslimbrüder forderten die Anhänger der Umma qibtiyya eine Reinigung der koptischen Religion und der koptischen Kirche. Als Antwort auf die Forderungen der Muslimbrüder nach einem islamischen Staat forderte die Umma qibtiyya einen koptischen Staat. In einem Zehn-Punkte-Programm von Ende 1953 mahnte die Bewegung die Durchsetzung biblischer Vorschriften und eine strenge moralische und spirituelle Erziehung der koptischen Jugend an. Die Bewegung hatte schnell Zulauf und stellte vehement und mit paramilitärischen Formen (Uniform und Flagge) extreme Forderungen im Namen der „koptischen Nation“. In der paramilitärischen Organisation und der Art ihrer Forderungen glich sie den muslimischen Bewegungen Miṣr al-Fatāt und Šabāb Muḥammad, nur eben aus koptisch-nationalistischer Sicht. Bereits am 23. März 1954 wurde al-Umma al-qibtiyya wegen ihres Extremismus von der Regierung verboten. Viele ihrer Mitglieder wirkten aber im Untergrund weiter. Im Juli 1954 entführte eine Gruppe aus ihren Reihen Patriarch Yusab. Sie brachten ihn ins Georgs-Kloster in Altkairo, hielten ihn dort fest und forderten ihn auf, seinen Amtsverzicht zu erklären. 29 Vatikiotis 1991:376–381. 30 Vatikiotis 1991:381–384.

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Durch das Eingreifen der Polizei wurde Yusab aber nach wenigen Tagen aus der Hand der Entführer befreit und in die Patriarchenresidenz zurückgebracht. Die Aktion veranlasste die Regierung, zahlreiche Mitglieder der ehemaligen Führungsriege der Umma qibtiyya verhaften zu lassen. Damit war die Bewegung am Ende.31 Innerhalb der Freien Offiziere kam es 1954 zum Machtkampf zwischen Nagib und Nasser. Angebliche Kontakte zu den Muslimbrüdern boten dem Revolutionären Kommandorat den Vorwand, Präsident Nagib am 14. November 1954 aus dem Amt zu entlassen und unter Hausarrest zu stellen. Nasser stand kurz vor dem Ziel: selbst Präsident werden. Aber das Amt musste erst noch auf seine Ansprüche zugeschnitten werden. Am 16. Januar 1956 wurde eine neue Verfassung in Kraft gesetzt. Sie sah ein Präsidialsystem vor, das dem Staatschef große Machtfülle gab. Ägypten beschwor nun in seiner Verfassung den arabischen Charakter des Landes und machte damit seinen Führungsanspruch in der arabischen Welt deutlich. Den Staat verpflichtete die Verfassung zur Planung der Wirtschaft und einer aktiven Sozialpolitik. Die Ideologie Nassers war in vollem Umfang in eine Verfassung gegossen: Republikanismus, Arabismus, Sozialismus. Am 23. Juni 1956 wurde Nasser per Plebiszit (wie von der Verfassung vorgesehen) zum Präsidenten gewählt.32 Nasser war am Ziel. In den Jahren bis zu seinem plötzlichen Tod sollte er mit seiner magischen Redegabe nicht nur Ägypten, sondern die ganze arabische Welt in seinen Bann ziehen. Sein Arabismus begeisterte die Massen, sein Sozialismus weckte Hoffnung unter den Entrechteten, sein Republikanismus ließ die Monarchen erzittern. Syrien gewann er für eine Union der arabischen Staaten. Den Libanon brachte sein Werben an den Rand eines Bürgerkriegs. Die haschemitischen Könige Jordaniens und des Irak entschlossen sich eilig zu einer Gegenföderation. Seine Siege wurden als Siege der ganzen arabischen Welt gegen den Kolonialismus gefeiert, so nach der Nationalisierung des Suez-Kanals und dem bestandenen Krieg gegen Frankreich, England und Israel 1956. Als er in der Stunde der Niederlage die politische Bühne verlassen wollte – so nach dem Juni-Krieg gegen Israel 1967 –, ließ ihn das Volk nicht gehen. Bei seinem Tod 1970 weinte ganz Ägypten. Wirtschafts- und sozialpolitisch führte die revolutionäre Regierung in den 1950er und 60er Jahren bahnbrechende Maßnahmen durch, die Ägypten dauerhaft prägen sollten. Sie bildeten das definitive Ende des Ancien Régime mit seiner sich auf Landbesitz stützenden Eliten. Auch die bis dahin einflussreichen koptischen Notablen waren davon betroffen. In einer Frühphase (1952–1954) hatten die Freien Offiziere auf eine Liberalisierung der Wirtschaft gesetzt, um die Industrieproduktion anzukurbeln. Dies führte allerdings nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Im November 1956 ließ Nasser daher alle britischen und französischen Banken und Unternehmen verstaatlichen. Im Januar 1957 folgten auch andere ausländische Banken, Versicherungen, Handelshäuser und Agenturen; seit den 1960er Jahren auch ägyptische Firmen. Sie wurden staatlicher Planung unterstellt. 1962 wurde der Besitz der 600 reichs31 Wakin 1963:95–98; Carter 1986:280–281; Valognes 1994:548–549; Ibrahim 2013:164–167. 32 Zu den politischen Ereignissen: Vatikiotis 1991:384–388.

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ten ägyptischen Familien beschlagnahmt, darunter auch nicht wenige Kopten und Juden. Weitere Verstaatlichungen folgten nach dem Bruch der ägyptisch-syrischen Union mit der „Nationalcharta“ vom Mai 1962.33 Die Nationalisierung der Wirtschaft und die rigorose Politik gegenüber ausländischen Minderheiten führten zur weit­ gehenden Auflösung der griechischen Gemeinschaft in Ägypten sowie zur Abwanderung fast aller Europäer. Kirchlich gesehen hatte dies zur Folge, dass die griechisch-­ orthodoxe und die lateinische Kirche auf eine sehr kleine Zahl von Gläubigen reduziert wurden. Seit den 60er Jahren wird das Bild des Christentums in Ägypten daher fast allein von der koptischen Kirche geprägt. Zu den gesellschaftspolitischen Maßnahmen der Nasser-Zeit zählt auch die Vereinheitlichung der zivilen Gerichtsbarkeit. Per Gesetz wurden 1955 die Scharia-Gerichte und die koptischen milla-Gerichtshöfe, die in Personenstandsangelegenheiten entschieden, abgeschafft. Bereits in den Jahren vor 1952 waren den milla-Gerichts­ höfen bestimmte Kompetenzen entzogen worden, so die Entscheidung in Fragen von Vormundschaft, Erbschaften, Familiennamen und Rechtsmündigkeit. Damit war die Entscheidungsbefugnis strikt auf Eheschließung und Scheidung beschränkt. Mit der Justizreform von 1955 wurde nun auch diese Kompetenz an Zivilgerichte überführt. Diese sollten zwar gemäß den kirchlichen Vorgaben entscheiden, waren allerdings in der Regel mit muslimischen Richtern besetzt und entschieden oft nach islamischen Vorschriften. Die koptisch-orthodoxe und die katholische Kirche wehrten sich zwar gegen den Regierungsbeschluss, jedoch ohne Erfolg.34 Die Kirchen betrachtete Nasser als Instrument für seine politischen Zwecke. Sie hatten seiner Politik vorbehaltlos zu dienen. So mussten die Kirchen während der Suez-­Krise 1956 seine Politik unterstützen. Nachdem Nasser mit dem Westen gebrochen und die Suez-Kanal-Gesellschaft verstaatlicht hatte, fand im koptischen Patriarchat ein interreligiöser „Einheitskongress“ statt. Kirchenführer aller Konfessionen und muslimische Würdenträger verabschiedeten Resolutionen, die ganz auf der Linie der Regierungspolitik lagen.35 Papst Kyrillos VI., 1959 ins Amt gekommen, war zunächst vorsichtig. Misstrauisch beäugten sich der Mönch aus der Wüste und der Offizier im Präsidentenpalast, für den Religion nur ein Instrument zur Beherrschung der Massen war. Aber das Eis brach. Nicht nur Nasser verstand zu verzaubern, auch von Kyrillos ging eine Ausstrahlung aus, der man sich schwer entziehen konnte. Bis heute wird er von vielen koptischen Gläubigen wie ein Heiliger verehrt. Auf der politischen Bühne brachte dies die Symbiose von Papst und Präsident. Beide beschworen die Einheit der 33 Vatikiotis 1991:394–397. 34 Ehe- und Scheidungsfragen wurden nun vor zivilen Gerichten gemäß den rechtlichen Regelungen der beteiligten Parteien verhandelt, sofern diese der gleichen Gesetzgebung unterlagen; andernfalls wurde islamisches Recht angewendet (so auch in Fällen von orthodox-katholischen Mischehen). Die zunehmende Zahl opportunistischer Konversionen von Christen zum Islam mit dem Ziel, eine Scheidung zu erreichen, führte schließlich dazu, dass ein Gesetz erlassen wurde, das Übertritte zum Islam aus Gründen von Liebschaften, Interessen oder Rache für ungültig erklärte. Wakin 1963:88–101; Carter 1986:236–239; Valognes 1994:541–542; Elli 2003, II:444–445; Scott 2010:42–43. 35 Wakin 1963:50–54; Meinardus 1970:49–50; Meinardus 1999:82–84.

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Nation. Nasser konnte weiter auf die Unterstützung seiner Politik durch die Kirche zählen. Regelmäßig erschienen Stellungnahmen des Patriarchen und von Bischöfen, die die Innen- oder Außenpolitik Nassers lobten. Nach dem Sechs-Tage-Krieg gegen Israel 1967, der für Ägypten einen katastrophalen Ausgang genommen hatte, stellte sich Papst Kyrillos einmal mehr hinter den Präsidenten. Er verbot Pilgerreisen nach Jerusalem für die Dauer der israelischen Besetzung. Marienerscheinungen im Kairoer Vorort Zeitun wurden 1968 von der koptischen Kirche sogar als Zeichen des Himmels dafür gewertet, dass Gott mit der Besetzung Jerusalems „durch die Juden“ unzufrieden sei. Die Erscheinung der Jungfrau Maria wurde als zweite „Flucht nach Ägypten“ gedeutet, die vor den „israelischen Tyrannen“ das Heilige Land verlassen musste und in Ägypten Zuflucht fand. Papst Kyrillos verteidigte an der Seite von Präsident Nasser die arabische Politik gegenüber Israel und beauftragte die Bischöfe, allen voran Anba Samuel, der für die ökumenischen Beziehungen zuständig war, die Politik Nassers auf internationalen Konferenzen zu preisen. Würdenträger der koptisch-orthodoxen Kirche wurden so zu Botschaftern Nassers im Ausland.36 Als Gegenleistung für die Loyalität der Kirchenführung betonte Nasser bei öffentlichen Auftritten die Brüderlichkeit zwischen Kopten und Muslimen. Seine Anhänger skandierten entsprechende Parolen bei den regelmäßig stattfindenden, nationalistischen Massenkundgebungen. Für die koptische Kirche ließ Nasser in Kairo eine neue Kathedrale errichten. Zur Grundsteinlegung 1965 kam er selbst und erklärte: „Der Islam erkennt Christen als Brüder in der Religion und als Brüder in Gott an.“37 Im politischen Leben wurden Christen hingegen marginalisiert. Die Agrarreform Nassers und die Verstaatlichung von Privatunternehmen hatten die politisch aktiven koptischen Notablen hart getroffen. Viele hatten umfangreichen Landbesitz und Beteiligungen an Industriebetrieben, Banken und dem Transportwesen verloren. Die Etablierung eines Ein-Parteien-Systems versperrte koptischen Laien politisches Engagement in liberalen Parteien, wo sie traditionell aktiv gewesen waren. In Regierungsämtern waren Kopten stark unterrepräsentiert. Nasser ernannte zwar regelmäßig einen Kopten zum Minister, allerdings mit politisch unbedeutenden Zuständigkeiten. Im Kabinett der Vereinigten Arabischen Republik aus Ägypten und Syrien (1958–1961) gab es einen koptischen Minister, der aber nur administrative Aufgaben hatte und eher als Verbindungsmann zur koptischen Gemeinschaft betrachtet wurde. Auch im Parlament entsprach die Zahl der koptischen Abgeordneten bei weitem nicht dem Anteil der Kopten an der Bevölkerung. In der Nationalversammlung von 1960 saßen 13 Christen unter 400 Abgeordneten. 1964 wurde unter die 360 Abgeordneten nur ein einziger Kopte gewählt. Nasser versuchte das dadurch auszugleichen, dass er von den zehn vom Präsidenten zu ernennenden Abgeordneten acht Kopten benannte. Bei dem offiziellen Bevölkerungsanteil von etwas über 7 Prozent (Zensus von 1960) hätten den Kopten allerdings mindestens 25 Sitze zugestanden. Die Ernennung koptischer Ab36 Voile 2004:221–226. 37 Betts 1979:223–224.

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geordneter durch den Präsidenten führte außerdem dazu, dass nur noch linientreue Kopten politisch aktiv sein konnten. Viele koptische Intellektuelle wandten sich daher enttäuscht von der Politik ab. Parallel fand eine „Islamisierung“ der Ministerien statt, die den Einfluss der Kopten deutlich zurückdrängte. Besonders hart traf es Kopten im Finanzministerium, wo bis 1952 90 Prozent der führenden Posten von Kopten besetzt waren. Bis 1970 ging ihr Anteil auf 16 Prozent zurück. Die Zeiten, in denen die koptische Bildungselite die Verwaltungen dominierte und die koptischen Landbesitzer in der Politik mitmischten, waren definitiv vorbei.38

Erneuerung im Zeichen der Ausgrenzung: Neue Zeiten für die koptische Kirche Kirchlich fällt die Regierungszeit Nassers weitgehend mit dem Patriarchat Kyrillosʼ VI. zusammen (1959–1971). Seiner Amtsführung verdankt die koptisch-orthodoxe Kirche die Überwindung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen Laien und Klerus. Seit den 1940er Jahren hatte in der koptisch-orthodoxen Kirche eine Erneuerungsbewegung Fuß gefasst. Sie drängte auf die Verbindung moderner Bildung mit traditioneller koptischer Frömmigkeit und Theologie. Dies sprach auch gut ausgebildete junge Menschen an und bewirkte einen Aufschwung im kirchlichen Leben. Während des Pontifikats Kyrillosʼ VI. wurden immer mehr im Sinne der Erneuerungsbewegung ausgebildete Männer in den Klerus aufgenommen und mit Bischofsämtern betraut. Dadurch konnte ein breites Reformprogramm in Angriff genommen werden: auf dem Feld der Diakonie, des ökumenischen Dialogs, der theologischen Ausbildung der Priester sowie der Erneuerung des Mönchtums. Auf diese Weise lösten sich die Gegensätze zwischen dem traditionellen Klerus und dem reformorientierten Laienstand langsam auf. Auch die Reduzierung des Landesbesitzes von kirchlichen Stiftungen und Klöstern im Rahmen der Bodenreform Nassers39 nahm der Auseinandersetzung zwischen maǧlis millī und dem Klerus, die die 1920er bis 40er Jahre geprägt hatte, ihre Spitze. Die koptischen Notabeln, die das Ancien Régime unterstützt hatten, versuchte Nasser auch ihres kirchlichen Einflusses zu berauben, so durch die Auflösung des maǧlis millī 1962. Nasser sah im Patriarchen den einzigen legitimen Repräsentanten der koptischen Gemeinschaft. Die Ausgrenzung der koptischen Notablen aus dem politischen und kirchlichen Leben sowie die Beförderung einer traditionellen Frömmigkeit durch die Reformbewegung führten schließlich dazu, dass das Engagement der Kopten im politischen und gesellschaftlichen Bereich immer weiter zurückging und sich auf den 38 Wakin 1963:43–44, 62–63; Betts 1979:168–169; Cannuyer 1990:49–50; Meinardus 1999:76; Stephanous 2010:120–121. 39 Der Landbesitz wurde auf 200 Feddan begrenzt. Widerstand von kirchlicher Seite gab es nicht dagegen, obwohl ein großer Teil des Landbesitzes der Kirchen und der Klöster enteignet wurde. Pa­ triarch Kyrillos VI. äußerte sich in einer Stellungnahme sogar positiv darüber und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die koptischen Stiftungen nun nach jahrzehntelangem Streit reorganisiert werden könnten. 1968 wurden die Stiftungen schließlich dem staatlichen Waqf-Ministerium unterstellt und damit weitgehend der kirchlichen Kontrolle entzogen. Wakin 1963:151–152.

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Raum der eigenen Gemeinde beschränkte. Dadurch grenzten sich Kopten zunehmend im Sinne einer religiösen Minderheit von der Mehrheitsgesellschaft ab. Die Kopten vollzogen damit eine ähnliche Entwicklung, wie sie von den Muslimbrüdern für die eigene Glaubensgemeinschaft gefordert wurde: die soziale, kulturelle und religiöse Abgrenzung von Andersgläubigen.40

Vom Nationalismus zum Islamismus: Die Präsidentschaft Sadats und ihre Auswirkungen auf die koptische Gemeinschaft Auf dem Weg in den Gottesstaat? Die Kopten angesichts des politischen Islamismus der 1970er Jahre Nach dem plötzlichen Tod Gamal Abdel Nassers im September 1970 übernahm Anwar al-Sadat die Macht. Seine Regierungszeit war geprägt vom Aufstieg des Islamismus, von öffentlicher Diskussion um die Rolle des Islam sowie von heftiger konfessioneller Gewalt zwischen Kopten und Muslimen. Mit dem neuen Präsidenten kam eine neue Verfassung. Sozialismus und Arabismus hatten ausgedient. Sadat brauchte neue Verbündete. Außenpolitisch suchte er sie im Westen, innenpolitisch versuchte er, den Islam als Faktor für seine Politik zu nutzen. Die 1971 in Kraft gesetzte Verfassung rückte den Islam wieder stärker in das Zen­ trum. Er war „Religion des Staats“, und es wurde ergänzt: „die Prinzipien der Scharia sind eine Hauptquelle der Gesetzgebung.“ (Artikel 2). Zwar wurden „Glaubensfreiheit und die Ausübung religiöser Riten“ weiterhin garantiert (Artikel 46) und Diskriminierung aufgrund von Religion und Glaubensbekenntnis verboten (Artikel 40)41, dennoch zeigte die neue Rolle der Scharia bereits die Richtung an, in die sich der öffentliche Diskurs und das gesellschaftliche Klima der 1970er Jahre entwickeln sollten. Muslimbrüder und andere islamistische Gruppen spielten darin eine immer größere Rolle. Erste Ausbrüche von Gewalt zwischen Kopten und Muslimen ließen nicht lange auf sich warten. Am 8. September 1972 wurde in Sanhur in der Nähe von Damanhur im Nildelta eine Kirche in Brand gesteckt. Sie war angeblich ohne Baugenehmigung errichtet worden. Die Folge waren gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen. Wenige Monate später, während der Feierlichkeiten zum Ende des Ramadan Anfang November 1972, griff eine Gruppe von etwa 500 Muslimen in Khanka, 30 Kilometer nordöstlich von Kairo, das örtliche Zentrum des koptischen Vereins der Freunde der Heiligen Schrift an und setzte es in Brand. Es sei ohne Genehmigung für die Feier von Gottesdiensten genutzt worden. Die Polizei griff nicht ein. Diesmal rief der koptische Papst Shenouda III., seit 1971 im Amt, zu einer Demonstration auf. Er schlug damit eine andere Politik ein als sein Vorgänger Kyrillos VI., der nach derarti40 El-Khawaga 1996 :197–201; Reiss 1998:219; Elli 2003, II:430–432,440; Voile 2004:55–59. 41 Valognes 1994:539; Scott 2010:86; Kaspar 2014:49–50.

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gen Vorfällen normalerweise diskrete Verhandlungen mit Regierungskreisen gesucht hatte. Radikale Muslime organisierten Gegendemonstrationen. Am Rande eines dieser Protestmärsche plünderten Demonstranten koptische Häuser und Geschäfte. In den folgenden Jahren gab es in regelmäßigen Abständen immer wieder Übergriffe auf Kirchen und Kopten sowie deren Häuser und Geschäfte.42 Außenpolitisch errang Sadat durch den Oktober(„Jom-Kippur-“)-Krieg 1973 einen Achtungserfolg. Das gab ihm die Möglichkeit zu verhandeln. 1977 reiste er nach Jerusalem und hielt eine Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament. 1978 schloss er nach zähen Verhandlungen in Camp David einen Friedensvertrag mit Israel. Aber innenpolitisch geriet er immer weiter unter Druck. Gerade der Frieden mit Israel brachte die Islamisten gegen ihn auf. Zwar wurde die Gefahr, die islamistische Gruppen nicht nur für die Christen, sondern auch für den Staat darstellten, bereits früh deutlich – so durch einen verheerenden Anschlag der Islamic Liberation Organization auf die Technische Militärakademie im April 1974 –, dennoch ließ Präsident Sadat islamisch-konservativen Gruppen breiten Handlungsspielraum. 1976 ließ er die beiden Zeitschriften der Muslimbruderschaft wieder zu. Das Ergebnis: erbitterte Kritik an der Friedenspolitik Sadats gegenüber Israel in den Kolumnen der beiden Blätter. Im Sommer 1977 wurde der für religiöse Stiftungen zuständige Minister von der Terrorgruppe al-Takfīr wa-l-hiǧra entführt und ermordet; ein weiteres Zeichen für die Gefahr, die dem Staat und der Gesellschaft durch die Islamisten drohte.43 Seit Mitte der 70er Jahre begannen militante islamische Gruppen auch die Studentenverbände zu dominieren. Diese wurden erst 1979 wegen zu heftiger Opposition gegen den Präsidenten aufgelöst. Auf die zunehmende Islamisierung der Universitäten und die Aktivitäten islamistischer Studentenverbände reagierten Kopten seit dem Ende der 1970er Jahre mit der Gründung eigener Vereine und der Organisation rein christlicher Veranstaltungen. Dies führte zu einer immer weitergehenden Trennung von Christen und Muslimen im Alltag.44 Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche verschlechterten sich im Laufe der 1970er Jahre zunehmend. Papst Shenouda III. kritisierte wiederholt öffentlich die Diskriminierung von Kopten bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor. Außerdem beklagte er die mangelnde Repräsentation im Parlament, vor allem nachdem bei den Wahlen 1976 kein einziger koptischer Kandidat den Einzug in die Volksvertretung geschafft hatte. Auch die Zahl der Kopten, die nach dem offiziellen Zensus 2,3 Millionen (etwa 6 Prozent der Bevölkerung) ausmachten, wurde von der Kirche bestritten und mit 8 Millionen angegeben. Dem Staat warf sie Fälschung der Statistiken vor.45 Im September 1977 unternahm Sadat weitere Schritte zur Islamisierung der Gesetzgebung. Patriarch und Synode protestierten gegen einen Gesetzentwurf, der den Abfall vom Islam unter Todesstrafe stellte. Die Regierung ruderte zurück, setzte sich dadurch aber der Polemik der Islamisten aus. Im November 1979 wurde ein 42 43 44 45

Chitham 1986:104–105; Valognes 1994:556–557; Elli 2003, II:481–484; Hasan 2003:106–108. Vatikiotis 1991:422. Chaillot 2011:138; Guirguis 2012:46. Vatikiotis 1991:420–423.

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Entwurf zur Revision der Verfassung von 1971 vorgelegt, der unter anderem die Änderung von Artikel 2 vorsah, in dem die Scharia als „eine“ Quelle der Gesetzgebung bezeichnet wurde; diese sollte zu „der“ Quelle der Gesetzgebung werden. Die Kirche protestierte vehement gegen dieses Vorhaben, so durch einen Beschluss der Synode vom 26. März 1980. Papst Shenouda wetterte, die Regierung tue alles für die Islamisierung des Landes, sei aber nicht in der Lage oder willens, die Christen vor Übergriffen zu schützen. Bei den Osterfeierlichkeiten am 30. März blieben die Kirchen daher für Vertreter des Staats geschlossen. Patriarch und Bischöfe zogen sich in ein Kloster zurück und weigerten sich, die traditionellen Glückwünsche von Seiten der Staatsführung entgegenzunehmen. Als Präsident Sadat kurz darauf in die USA reiste, demonstrierten dort koptische Immigranten gegen den Besuch des „Christenverfolgers“. Sadat verstand dies als Angriff gegen seine Person und als Beschädigung seines Rufs als Wahrer des Ausgleichs zwischen den Religionen. Die Regierungspresse warnte vor Spaltung der nationalen Einheit und versuchte einen Bruch innerhalb der Kirche zu erzeugen, indem sie am 6. April ein Foto von Sadat mit Matta al-Maskin, dem Vertreter eines unpolitischen, hermetischen Mönchtums, auf der Titelseite abdruckte.46 Am 30. April 1980 verabschiedete das Parlament fast einstimmig die Änderungen an der Verfassung, darunter auch Artikel 2. Durch die Änderungen wurde die Scharia zu „der Hauptquelle der Gesetzgebung“. Am 14. Mai warnte Sadat in einer Rede vor dem Parlament davor, Religion und Politik zu vermischen. Zwar richtete er sich im Prinzip an Vertreter des Islam und des Christentums, meinte aber offensichtlich Shenouda, der sich aus Sicht des Präsidenten zu offen in die Politik einmischte. In seiner Rede erwähnte Sadat auch vorgebliche Bemühungen, in Oberägypten einen koptischen Staat zu errichten und warnte Shenouda davor, nicht nur religiöses, sondern auch politisches Oberhaupt seiner Gemeinde sein zu wollen. Dem koptischen Klerus warf er vor, beim Vatikan und dem Ökumenischen Kirchenrat in Genf von einer Christenverfolgung in Ägypten zu sprechen. Schließlich bezeichnete sich Sadat als „muslimischen Präsidenten eines muslimischen Staats“ und nannte den Islam „eine Garantie für die Christen“. Damit war von Seiten des Sadats Shenouda der Fehdehandschuh zugeworfen worden.47

Der Eklat: Der Papst im Exil Der Konflikt zwischen Präsident und Kirche eskalierte, als es im Kairoer Stadtteil al-Zawiya al-Hamra ab dem 10. Juni 1981 zu Zusammenstößen zwischen Muslimen und Kopten kam. Aus einem Streit um das Grundstück eines Kopten, auf dem fanatische Muslime eine Moschee errichten wollten, entwickelten sich innerhalb weniger Tage gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kamen. Die Polizei wurde der Lage trotz Verhängung der Ausgangssperre nicht Herr. 46 Valognes 1994:269–271; 539; Elli 2003, II:489–492. 47 Valognes 1994:539–540; Elli 2003, II:493–494; Hasan 2003:108–109.

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Am 25. Juni trafen sich Vertreter der orthodoxen, katholischen und protestantischen Kirche, um die Lage zu studieren. Am 28. Juni erschien ein Artikel in der koptischen Wochenzeitung Waṭanī, in dem den Ordnungskräften Versagen vorgeworfen wurde. Der Regierungsbericht, der drei Wochen später veröffentlich wurde, sprach von 35 Toten (darunter mindestens 25 Christen, davon ein Priester), mehreren Dutzend geplünderten koptischen Häusern und Geschäften, drei abgebrannten Kirchen, mehr als hundert Verletzten und mehreren hundert verhafteten Gewalttätern. Es handelte sich um die schwersten interkonfessionellen Auseinandersetzungen in Ägypten seit Beginn des 20. Jahrhunderts.48 Aber damit war die Gewalt nicht zu Ende. Am 4. August wurde ein Anschlag auf eine koptische Hochzeit verübt. Fünf Menschen starben, über 50 wurden verletzt. Angesichts der Gewalt, sah sich Sadat gezwungen, gegen die Islamisten vorzugehen. Ansonsten drohte er die Unterstützung der westlichen Staaten zu verlieren. In der Nacht vom 2. auf den 3. September ließ er Massenverhaftungen in ganz Ägypten durchführen: mehr als 500 Personen in der ersten Nacht, gefolgt von weiteren 1.500 Personen in den folgenden Tagen, die meisten Mitglieder von Organisationen, die den Muslimbrüdern nahestanden. Um jedoch nicht die Meinung der Massen gegen sich aufzubringen und um den Eindruck zu vermeiden, er ginge einseitig gegen islamische Extremisten vor, sprach Sadat nicht nur von islamistischen Extremisten, sondern auch von koptischen Fanatikern. Unter den Verhafteten befanden sich daher auch 150 Kopten, darunter acht koptisch-orthodoxe Bischöfe und 24 Priester, außerdem mehrere koptische Oppositio­ nelle, Journalisten und unabhängige Denker. 13 religiöse Organisationen, zehn mus­ limische und drei koptische, wurden aufgelöst. Verschiedene Publikationen, darunter al-Daʿwa, Organ der Muslimbrüder, aber auch die koptischen Zeitungen al-Kirāza und Waṭanī, wurden verboten. Am 3. September setzte Sadat das Präsidialdekret von 1971 außer Kraft, mit dem Shenouda als Oberhaupt der koptisch-orthodoxen Kirche anerkannt worden war, und verbannte den Patriarchen in ein Kloster in der Wüste. Die Leitung der Kirche wurde einer „päpstlichen Kommission“ übertragen, bestehend aus Anba Samuel, dem Generalbischof für soziale und ökumenische Angelegenheiten, und vier weiteren Bischöfen. Am 5. September rechtfertigte Sadat in einer Fernsehansprache seine Schritte. Shenouda beschuldigte er erneut der Einmischung in die Politik. Die Gewalt der muslimischen Extremisten sei nichts anderes als eine Antwort auf die übertriebenen Forderungen der Kopten. Durch ein derartiges Auftreten würden sie Ereignisse wie die in al-Zawiya al-Hamra selbst provozieren.49 Die meisten Kopten akzeptierten die drastischen Maßnahmen und hielten Sadat zugute, dass es ihm eigentlich darum ginge, militante Islamisten zu bekämpfen. Die Maßnahmen gegen die koptische Kirche wurden als eine Art Ausgleichsmaßnahme hingenommen. So äußerte sich auch die Heilige Synode am 22. September. Sie erklärte zwar, Shenouda sei weiterhin das Haupt der koptisch-orthodoxen Kirche, 48 Valogne 1994:271; Elli 2003, II:495–496; Hasan 2003:109–110. 49 Valogne 1994:271–272; Reiss 1998:296–298; Elli 2003, II:496–499; Hasan 2003:110–111.

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zeigte jedoch Verständnis für die Maßnahmen Sadats. Diese dienten dem Erhalt der nationalen Einheit und der Beendigung der konfessionellen Gewalt. Viele koptische Geschäftsleute und hohe Verwaltungsbeamte sahen ihrerseits durch die offene Op­ position Shenoudas zu Präsident Sadat ihre Geschäfte und ihre Verwaltungsposten in Gefahr und wünschten sich einen zurückhaltenderen Kurs der Kirchenführung. Die Sympathien der Gläubigen aus der Unter- und Mittelschicht verblieben dagegen bei Papst Shenouda. Sie sahen in ihm den Mann, der ihre Interessen gegenüber der Regierung mit der nötigen Offenheit vertrat.50 Die Situation änderte sich schlagartig mit der Ermordung Sadats durch Islamisten bei der Militärparade zum 6. Oktober 1980. Mit Sadat kam auch Anba Samuel ums Leben. Die Macht übernahm Sadats Stellvertreter Hosni Mubarak. Dieser ließ im Verlauf des Jahres 1982 nach und nach die inhaftierten Priester und Bischöfe frei, allerdings mit der Auflage, nur unpolitisch zu predigen. Papst Shenouda dagegen blieb im Exil. Zwischen ihm und den Mitgliedern der päpstlichen Kommission kam es zum dauerhaften Bruch, zumal dessen Mitglieder auch kirchenpolitisch eine andere Richtung vertraten (für eine stärkere Beteiligung der Laien im Gegensatz zu der von Papst Shenouda betriebenen Hierarchisierung der Kirche). Der Staatsrat entschied am 12. April 1983 die Auflösung der päpstlichen Kommission, bekräftige allerdings die Absetzung Shenoudas. Der maǧlis millī wurde aufgefordert, die Wahl eines neuen Patriarchen vorzubereiten, da Shenouda „durch das Gesetz verhindert“ sei, sein Amt auszuüben. Dagegen regte sich heftiger Widerstand in der Kirche. Zu Lebzeiten des Patriarchen könne kein Nachfolger gewählt werden. Die Kopten versammelten sich geschlossen hinter Shenouda. Mit der Auflösung der Kommission übernahm She­ nouda selbst wieder die volle Leitung der Kirche, allerdings von seinem Exilort im Kloster Anba Bishoi aus. Das Exil des Papstes wurde erst Anfang 1985 aufgehoben. Am 4. Januar 1985 konnte er nach Kairo zurückkehren. Das Ende des Exils feierte er mit einem festlichen Dankgottesdienst in der Markus-Kathedrale. Erstmals seit 1981 stand er am 6. und 7. Januar wieder den Weihnachtsfeierlichkeiten vor. Nach dem Ende seines Exils verhielt sich Shenouda deutlich zurückhaltender, was das öffentliche Anprangern von Gewalt gegen Kopten und das damit verbundene Versagen der Sicherheitsbehörden angeht – ein grundsätzlicher Politikwechsel im Vergleich zu seinem heftigen Auftreten in den 1970er Jahren.51

50 Vatikiotis 1991:424; Elli 2003, II:499–501; Hasan 2003:111. 51 Valogne 1994:272–273; Reiss 1998:298–310; Elli 2003, II:503–509.

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Patriarch und Präsident kooperieren: Die koptische Kirche zur Regierungszeit Mubaraks Kirche und Staat im Angesicht des Terrorismus Die Rolle von Papst Shenouda in der Politik änderte sich nach seinem Exil vollständig. Von 1971 bis 1981 hatte er direkt in die Politik eingegriffen und nicht selten offensiv Stellung bezogen, so in Bezug auf die Zahl der koptischen Minister im Kabinett, der koptischen Abgeordneten im Parlament und der höheren Angestellten im Staatsdienst. Er handelte jährlich eine Zahl von Kirchen aus, für die Baugenehmigungen zu erteilen waren, und scheute nicht die Konfrontation mit der Regierung bei Angriffen von Ex­tremisten auf Kirchen. In der zweiten Phase – nach seiner Rückkehr aus der Klosterhaft 1985 – trat er kaum noch offen politisch auf. Er unterstützte in der Regel den Kurs der Regierung, wies Vorwürfe aus dem Ausland, vor allem von der koptischen Diaspora in Amerika, zurück, wonach es in Ägypten Christenverfolgungen gebe, und unterstrich, dass alle Probleme des Landes im Dialog mit der Regierung ohne ausländische Intervention zu lösen seien. Der Grund für diesen Gesinnungswechsel lag in den veränderten Rahmenbedingungen. Die Islamisten waren seit den frühen 1980er Jahren zu einer Bedrohung für den Staat geworden, weil sie Polizisten und Sicherheitskräfte, Regierungsvertreter und den für das Land so wichtigen Tourismus als Ziel von Angriffen ins Auge fassten. Präsident Mubarak reagierte darauf mit einem erbitterten Kampf gegen die Islamisten. Dadurch rückten Kirche und Staat eng zusammen. Außerdem hatte Mubarak die anheizende Sprache gegen die Kopten, die Sadat zu Beginn der 1980er Jahre angeschlagen hatte und die im Vorwurf der Konspiration zur Gründung eines koptischen Staats in Oberägypten gipfelten, zugunsten einer konzilianten Einstellung gegenüber der Kirche aufgegeben. Dies führte zum Schulterschluss der Kirchenleitung mit der Staatsführung: gemeinsame Sensibilisierungsreisen von Papst Shenouda mit dem Scheich der islamischen Azhar-Universität; Aufruf an die Gläubigen, an den Parlamentswahlen teilzunehmen und so dem System ein demokratisches Aussehen zu verleihen; Unterstützung für die Beteiligung Ägyptens am Golfkrieg 1991; Deklarationen zugunsten der Regierung während der internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo; Beteiligung am Diskurs der „nationalen Einheit“ nach Terroranschlägen auf Kirchen und anderes. De facto ging die Kirche seit dem Ende des Exils von Papst Shenouda einen Deal ein: Die Regierung bekämpfte mit allen Mitteln den militanten Islamismus und dämonisierte die Muslimbruderschaft. Dafür akzeptierte die Kirchenführung, dass Übergriffe auf Christen, die in Oberägypten seit Ende der 1980er Jahre immer häufiger vorkamen, nicht von unabhängigen Kommissionen untersucht wurden. Diese hätten der Politik der Regierung und den lokalen Behörden ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, denn sie waren nicht in der Lage, solche Vorkommnisse zu verhindern und die Schuldigen zu bestrafen. Stattdessen wurden die Streitigkeiten zwischen staatlichen und kirchlichen Würdenträgern auf lokaler

Die koptische Kirche zur Regierungszeit Mubaraks

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Ebene unter Verweis auf die nationale Einheit und die Pflicht zur Versöhnung beigelegt.52 Gewalttaten gegen Christen und christliche Einrichtungen erreichten unterdessen eine bisher ungekannte Zahl. Während der Präsidentschaft von Hosni Mubarak (1981– 2011) kamen bei insgesamt 324 Vorfällen 157 Kopten ums Leben, 811 wurden verletzt, 1.384 Häuser und Geschäfte von Kopten wurden geplündert, beschädigt oder in Brand gesteckt und 103 Kirchen beschädigt oder zerstört. Brennpunkte bildeten die mittel­ ägyptischen Provinzen. So war Abu Qurqas in der Provinz al-Minia gleich mehrfach Theater für blutige Auseinandersetzungen: 1990 und 1997; ebenso Nag Hammadi, wo es 1994, zwei Mal 1997 und 2010 zu Angriffen und blutigen Kämpfen zwischen Kopten und Muslimen kam. Außer bei einem Vorfall in al-Kushh im Jahr 2000 sowie in Nag Hammadi 2010 wurde niemand vor Gericht gebracht, trotz der Tatsache, dass der über­wiegende Teil der Anschläge von radikalislamischen Gruppen ausging. Stattdessen wurden von der Regierung Versöhnungsvereinbarungen zwischen lokalen Vertretern von Christen und Muslimen erzwungen. Dies sollte angeblich weiteres Blutvergießen verhindern. Anlass für Gewalt war immer wieder – wie schon in den 1970er Jahren – der Vorwurf, Kopten würden illegal Kirchen bauen oder ohne Genehmigung andere Räumlichkeiten zur Durchführung von Gottesdiensten nutzen. Die Tatsache, dass Baugenehmigungen für Kirchen, wenn überhaupt, nur sehr schleppend erteilt wurden, ließ Christen aber oft keine andere Wahl, als Bauarbeiten bereits vor Ausstellung der Genehmigung zu beginnen. Das befeuerte diese Art der Konflikte noch mehr. Andererseits fürchtete die Regierung offensichtlich, sich durch zu viele Baugenehmigungen von Kirchen der Kritik der Islamisten auszusetzen.53 Einige Beispiele für interkonfessionelle Gewalt und Angriffe auf christliche Einrichtungen seien hier kurz aufgeführt, eine ausführliche Liste findet sich in der Fußnote.54 Im September 1991 griff ein Mob von rund tausend Muslimen koptische Geschäfte und 52 El-Khawaga 1996:188–189; Hasan 2003:115–118; Makari 2007:105–111; Stephanous 2010:130–131; Elsässer 2014:84–87, 95–98; Guirguis 2014:259. 53 Beim Bau von Kirchen waren nicht die gesetzlichen Vorschriften das Problem, sondern deren vage Formulierung. Dies gab den lokalen Behörden breiten Spielraum für Willkür, die durch das Eingreifen des Sicherheitsdienstes noch erhöht wurde. Dadurch kam es in der Wahrnehmung der Kopten zu einer erheblichen Ungleichbehandlung bei der Genehmigung zum Bau von Kirchen und Moscheen. Gleichzeitig bestand aber breiter Spielraum für informelle Lösungen, die sich aus den Beziehungen lokaler Kirchenführer zu den Gouverneuren, Verwaltungschefs und Sicherheitsoffi­ zieren ergaben. Die meisten Kirchen in Oberägypten sind Schätzungen nach ohne Baugenehmigung errichtet, sondern nur mit der Tolerierung der Behörden und Sicherheitsdienste; manche wurden nachträglich legalisiert, aber bei weitem nicht alle. Elsässer 2014:93–95. 54 Vorfälle interreligiöser Gewalt zwischen 1987 und 2011 (zu den einzelnen Ereignissen siehe Valognes 1994:558–559; Elli 2003, II:514–525; Chaillot 2011:79–117): 27. Februar 1987, Sohag: Nach einem Brand in einer Moschee werden eine benachbarte Kirche in Brand gesteckt sowie eine Kirche in Beni Sueif angegriffen und koptische Geschäfte verwüstet. 20. März 1987, Shubas al-Shuhada, Provinz Kafr al-Shaikh (Nildelta): Auf das Gerücht hin, in einem von einem Kopten neu erbauten Haus solle heimlich eine Kirche eingerichtet werden, wird das Gebäude in Brand gesteckt. Das Feuer erfasst einige Nachbarhäuser; eine Frau kommt ums Leben. 24. November 1988, Duena, Region Abu Tig: Ermordung eines Priesters durch Mitglieder der extremistischen Gruppe al-Gamaʼa al-islamiyya.

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Häuser in Imbaba, einer Hochburg der Islamisten in Gizeh, an und setzte eine Kirche in Brand. Es dauerte drei Tage, bis die Sicherheitskräfte der Situation Herr wurden.

2. März 1990, Abu Qurqas (Provinz al-Minia): Brandanschlag auf eine Kirche sowie auf koptische Geschäfte und Autos nach dem Freitagsgebet. 15. April 1990, al-Fayyum: Plünderung und Brandschatzung von einem Dutzend koptischer Geschäfte. 20. April 1990, Sinnuris (al-Fayyum): Bombenanschlag auf die örtliche Kirche. 11. Mai 1990, Alexandrien: Angriff auf eine Kirche nach dem Gottesdienst, fünf Tote. 21. Juni 1991, Nähe Assiut: Mord an einem koptischen Priester. 24. Juli 1991, Nähe Assiut: Brandanschlagsversuch auf eine Kirche. 20.–22. September 1991, Imbaba (Gizeh): interreligiöse Auseinandersetzungen, rund tausend muslimische Angreifer zerstören koptische Geschäfte und Häuser und zünden eine Kirche an. 4. Mai 1992, Manshat Nasr bei Dairut (Assiut): interreligiöse Gewalt resultierend aus einem Nachbarschaftsstreit, 14 Tote (davon 13 Kopten). 15. Oktober 1992, Tima (Assiut): Ermordung von vier Kopten, am Folgetag greifen andere Extremisten Häuser und Geschäfte von Kopten sowie die örtliche Kirche an. 13. März 1993, al-Qalyubiyya: Brandanschlag auf eine evangelische Kirche nach einer öffentlichen Diskussion um die Verurteilung christlicher Lehren in einer Schule und der Maßregelung einer muslimischen Lehrerin. 1993, Assuan: Ermordung zweier Kirchenwächter durch islamistische Extremisten. 14. März 1994, Dair al-Muharraq: Angriff auf eine Gruppe koptischer Pilger, fünf Tote. April 1994, Nag Hammadi: Angriffe auf koptische Geschäfte, neun Kopten und vier Muslime werden getötet. Oktober 1995: Ermordung dreier Kopten durch einen Kellner in einem Restaurant. 27. Februar 1996, Kafr Damyan (Delta): Brandschatzung Dutzender koptischer Geschäfte durch jugend­ liche Islamisten, nachdem die Sakristei der örtlichen Kirche ohne Genehmigung erweitert worden war. 12. Februar 1997, Abu Qurqas (al-Minia): Angriff auf eine Kirche während der wöchentlichen Jugendaktivitäten der Gemeinde, neun Tote, vier Verletzte; anschließend töten die Terroristen drei weitere Personen im Dorf Kom al-Zuhair. 13. März 1997, Nag Kamal Takla (Nag Hammadi): Angriff von Terroristen, neun Kopten und vier Muslime werden getötet. 6.–7. September 1997, Provinz al-Minia: Massaker an 40 Kopten und Verstümmelung der Leichen. 14. August 1998 und 31. Dezember 1999 – 4. Januar 2000, al-Kushh (Provinz Sohag): 1998 werden bei Auseinandersetzungen zwischen Kopten und Muslimen zwei Christen getötet und mehrere verletzt. Die Polizei nimmt mehr als tausend Kopten vorübergehend in Gewahrsam. Rund um den Jahreswechsel 1999/2000 kommt es erneut zu interreligiöser Gewalt: 22 Tote (davon 21 Kopten) und Dutzende Verletzte. 10. Februar 2002, Beni Wallims (Maghagha, Provinz al-Minia): Angriff auf die örtliche Kirche bei deren Einweihung nach Renovierungsarbeiten. 2003 und 2004: Übergriffe durch Soldaten auf ein Kloster in Kairo, dem vorgeworfen wurde, den Mindestabstand zur Straße nicht eingehalten zu haben. 21. Oktober 2005, Alexandrien: Im Anschluss an islamische Protestmärsche werden acht Kirchen angegriffen, christliche Geschäfte geplündert, drei Menschen getötet und mehr als hundert verletzt. Mai 2007, Bimha, südlich von Gizeh: Angriff auf Kopten mit mehreren Verletzten und erheblicher Sachbeschädigung, nachdem Gerüchte laut geworden waren, das Haus eines Kopten solle in eine Kirche verwandelt werden. 27. September 2009, Delga (Provinz Minia): Ein Minibusfahrer greift koptische Hochzeitsgäste an, ersticht einen davon und verletzt drei schwer. 7. Januar 2010, Nag Hammadi: Im Anschluss an die Weihnachtsmesse greifen Terroristen die Gottesdienstbesucher an und töten acht Kopten und einen Muslim. Dutzende werden verletzt. 1. Januar 2011: Bombenanschlag auf eine koptisch-orthodoxe Kirche in Alexandrien. 23 Tote, Dutzende Verletzte.

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Die Dauer und Heftigkeit der Gewalt und die Ohnmacht der Sicherheitskräfte hatten für Christen in ganz Ägypten traumatische Auswirkungen.55 Rund um den Jahreswechsel 1999/2000 kam es in al-Kushh (Provinz Sohag) zu Gewalt nach einem geschäftlichen Streit zwischen einem Kopten und einem Muslim. Die Christen wurden bezichtigt, die Wasserversorgung des Dorfes vergiftet zu haben. 22 Menschen wurden getötet (davon 21 Kopten) und Dutzende verletzt. Christliche Häuser wurden gezielt angegriffen und Christen an Straßensperren verstümmelt. Anschließend wurden Christen in den umliegenden Dörfern angegriffen und eine Kirche zerstört. Quasi alle angeklagten Muslime wurden freigesprochen oder nur wegen Vergehen wie Sachbeschädigung oder der fahrlässigen Tötung eines muslimischen Opfers verurteilt. Die Ermordung der 21 Christen blieb dagegen ungeahndet.56 Am 1. Januar 2011 wurden bei einem Bombenanschlag auf eine koptisch-orthodoxe Kirche in Alexandrien 23 Menschen getötet und Dutzende verletzt. Die Hintergründe wurden nie vollständig aufgeklärt. Papst Benedikt XVI. kritisierte den mangelnden Schutz von Christen durch die Regierung von Präsident Mubarak. Daraufhin legte die Regierung die Beziehungen zum Vatikan auf Eis. Papst Shenouda hielt jedoch an seiner regierungsfreundlichen Politik fest und stellte sich hinter die Regierung. Dies war besonders brisant, weil die Menschen in Kairo bereits im Rahmen des Arabischen Frühlings zu Tausenden auf die Straße gingen, um gegen Präsident Mubarak zu demonstrieren. Unter ihnen waren auch viele Kopten.57 Trotz der immer wieder auftretenden konfessionellen Gewalt und den gezielten Angriffen auf Kopten, bemühte sich Mubarak um den Anschein von harmonischen Beziehungen zwischen Kopten und Muslimen im Sinne der nationalen Einheit. Dazu gehörte, dass er Vertreter beider Religionen in seine Politik mit einbezog. So wurden Würdenträger der Azhar eingebunden, um die Unterdrückung radikalislamischer Bewegungen zu legitimieren. Auf diese Weise machte die Regierung öffentlich einen Unterschied zwischen „guten Muslimen“ und „Extremisten“. Die Bemühungen der Regierung zeigten sich auch dadurch, dass Regierungsvertreter regelmäßig zu interreligiösen Dialogtreffen entsandt wurden. In den Medien legte die Regierung wert auf eine positive Darstellung des Christentums. So wurden Kopten in beliebten Fernseh­ serien dargestellt. Außerdem wurden zu den wichtigen Festen koptische Gottesdienste im Staatsfernsehen übertragen. Offiziöse Unterstützung (durch die Ehefrau des Präsidenten, Suzanne Mubarak) gab es schließlich für die auf die Förderung des Lesens ausgerichtete, stark subventionierten Buchreihe „Reading for all“. Darin erschienen mehrere Titel, die das harmonische Zusammenleben von Kopten und Muslimen, ihre politische Zusammenarbeit und die nationale Einheit darstellten.58 Am Diskurs der nationalen Einheit beteiligten sich auch die offiziellen Institutio­ nen der Religionen. Von islamischer Seite waren das an erster Stelle die Azhar und 55 56 57 58

Valognes 1994:559; Elli 2003, II:518; Chaillot 2011:86–87. Elli 2003, II:522–524; Chaillot 2011:88–89. Chaillot 2011:103–107. Makari 2007:70–86.

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ihr Großscheich sowie die Fatwabehörde (Dār al-iftāʾ). Da der Großscheich der Azhar sowie der Mufti vom Präsidenten ernannt und ihre Angestellten von der Regierung bezahlt wurden, standen beide Institutionen der Regierung sehr nah und ihre Unabhängigkeit wurde – von Islamisten und von moderaten Muslimen, die der Regierungspolitik kritisch gegenüberstanden – nicht ohne Grund in Zweifel gezogen. Muhammad Sayyid al-Tantawi sprach sich sowohl als Großmufti (1986–1996) und anschließend als Großscheich der Azhar (1996–2010) immer wieder für Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten von Muslimen und Kopten aus. Für die koptisch-orthodoxe Kirche betonte Papst Shenouda III. wiederholt die Bedeutung des friedlichen Zusammenlebens von Kopten und Muslimen und kommentierte wohlwollend die Bemühungen der Regierung zur Herstellung der nationalen Einheit. Dies führte aber auch zu Kritik: das gemeinsame Auftreten von Azhar-Vertretern und dem koptischen Papst diene dazu, die tatsächlich bestehenden Probleme zu verdecken, nicht-religiöse Erklärungen für Konflikte würden von der Rolle der Religion ablenken und die Religionsführer würden sich nur zu Handlangern der Regierung machen, indem sie deren Bemühungen um oberflächliche Versöhnung ohne Bekämpfung der wahren Konfliktursachen und Bestrafung der Schuldigen unterstützten.59 Für Spannungen sorgten auch immer wieder Fälle von Konversion. Dabei waren die Behörden bemüht, öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Laut Gesetzeslage war und ist eine Konversion vom Islam zum Christentum genauso möglich wie umgekehrt. In der administrativen Praxis, nämlich der Registrierung der neuen Religions­ zugehörigkeit, erweist sich die Konversion oder Rückkonversion zum Christentum allerdings als erheblich komplizierter, weil sich Behörden weigern, diese Eintragungen vorzunehmen. Ineffizienz der Verwaltung, Korruption und Fehler bei der Datenübertragung in den elektronischen Personalausweis führten oft zu weiterer Verwirrung. Die rigorose, teilweise nachträgliche Durchsetzung gesetzlicher oder administrativer Vorschriften in den 2000er Jahren rief ebenfalls Unmut hervor: zahlreiche Personen wurden gegen ihren Willen als Muslime eingetragen, weil ein Elternteil in der Vergangenheit zum Islam konvertiert war (bis in die 1980er Jahre waren Rückkonversionen zum Christentum von den Behörden meist stillschweigend toleriert worden).60 Die Medienaufmerksamkeit für Konversionsfälle seit dieser Zeit 59 Makari 2007:92–111. 60 Das positive Recht Ägyptens verbietet den Abfall vom Islam nicht, jedoch wurde der Oberste Verwaltungsgerichtshof in mehreren Gefällen genötigt, Apostasie rechtlich zu definieren. Das Ablegen der islamischen Religionszugehörigkeit bedingt demnach die Ungültigkeit sämtlicher vom Apostaten eingegangenen Verträge, inklusive der Ehe, sowie die Unmöglichkeit zu erben sowie das Sorgerecht über die Kinder zu behalten. Fälle des Übertritts vom Islam zum Christentum sind in der Praxis nicht selten von der Staatssicherheit als Verstoß gegen Paragraph 98-F des Strafgesetzbuches (Gesetz 29/1982) behandelt worden, das „Personen, die die Religion ausnutzen, um schriftlich, mündlich oder auf jede andere Weise extremistisches Gedankengut zu verbreiten, das darauf abzielt, Unruhe zu stiften oder die himmlischen Religionen oder ihre Gemeinschaften lächerlich zu machen oder zu ver­ unglimpfen oder der nationalen Einheit und dem sozialen Frieden Schaden zuzufügen“, mit einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren sowie einer Geldstrafe belegt. Guindy 2007; Guirguis 2007:29–30, 111–131; Scott 2010:88–89; Guirguis 2012:92–100.

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(zum Beispiel Wafa Constantine und Camillia Shehata) haben zusätzlich für Spannungen zwischen den Religionen gesorgt.61

Rückzug aus der Gesellschaft Wie schon während der Präsidentschaften Nassers und Sadats, blieb die Mitarbeit von Kopten in der Politik schwach. Bei den Parlamentswahlen 1995 setzte die regierende Nationaldemokratische Partei (NDP) keinen einzigen koptischen Kandidaten auf die Wahllisten. Offensichtlich wollte sich die Partei in der harten Konkurrenz mit der Muslimbruderschaft, in der sie Mitte der 1990er Jahre stand, keine christlichen Kandidaten leisten, die Angriffspunkt islamistischer Propaganda gewesen wären. Koptische Kandidaten, insgesamt 62, traten nur auf den Listen der Oppositionsparteien und als unabhängige Kandidaten an. Nur fünf von ihnen schafften es in die zweite Wahlrunde, kein einziger wurde schließlich ins Parlament gewählt.62 Bei den Wahlen 2000 wurden drei Kopten gewählt, weil die NDP diesmal deren Kandidatur unterstützte. 2005 war dies aber schon nicht mehr der Fall. Es trat schließlich mit dem Finanzminister Youssef Boutrus Ghali nur ein einziger christlicher Kandidat auf den NDP-Listen an (ein zweiter war vor den Wahlen zurückgetreten). Er wurde auch gewählt, wohl wegen seiner Bekanntheit als Regierungsmitglied und Angehöriger einer der führenden koptischen Familien der politischen Klasse (er ist Neffe des ehemaligen UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali). Die schwache Beteiligung von Christen hinderte Papst Shenouda nicht daran, offen den Wahlkampf Mubaraks zu unterstützen.63 Angesichts der schwachen Beteiligung von Kopten am politischen Leben und an den Wahlen in den 1990er und 2000er Jahren beklagte Papst Shenouda, dass viele Kopten Schwierigkeiten hätten, sich für die Wählerlisten zu registrieren. Dies führe dazu, dass auch in den mehrheitlich von Kopten bewohnten Wahlbezirken von Shubra (im Zentrum Kairos) keine christlichen Kandidaten gewählt würden. 2009 erließ er ein Dekret, wonach bei Heiraten grundsätzlich eine Wählerkarte vorgelegt werden musste, um die Beteiligung von Kopten an Wahlen zu steigern. Auf der anderen Seite gaben verschiedene koptische Intellektuelle der Kirche eine Mitverantwortung für das schwache politische Engagement der Kopten. Sie fordere die Gläubigen geradezu dazu auf, sich in den Raum der Kirche zurückzuziehen statt sich politisch zu betätigen.64 Die Erneuerung des Klerus durch Hebung des Bildungsstandes seit den 1950er Jahren drückte sich praktisch nicht im Politischen aus, sondern in einem kirchlichen Diskurs, der sich ausschließlich auf den Gottesdienst, die Seelsorge und die Erziehung bezog. Außerdem führte er zur Klerikalisierung des Kirchenlebens unter Zurückdrängung der Rolle der Laien. Es zeigt sich hier eine auffallende Parallelität mit islamischen Bewegungen wie der Muslimbruderschaft. Die Kirche als Raum für Alltagsaktivitäten 61 62 63 64

Elsässer 2014:89–93. Stephanous 2010:128–129. Makari 2007:128. Scott 2010:84.

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erlaubte die Kompensation des Minderheitenstatus, der zumindest zeitweilig ausgeblendet werden konnte: Bildung, wirtschaftliche Unterstützung, Solidarität, technische und berufliche Ausbildung; daneben Gebetskreise, Gruppen zur Erforschung des religiösen und kulturellen Erbes; katechetische Gesprächskreise; öffentliche Predigten des Patriarchen und der Bischöfe. All diese Aktivitäten sowie die in großer Zahl veröffentlichten religiösen Schriften gaben dem Laien die Möglichkeit des geistlichen Fortschreitens. Dies führte aber gleichzeitig zu einer weitgehenden Apolitisierung der koptischen Gemeinschaft. Im Gegensatz zur islamischen Erweckungsbewegung entwickelte die entsprechende koptische Bewegung nämlich keine politische Ideologie. Während die islamistischen Bewegungen Hegemonieansprüche auf die Gestaltung der Gesellschaft erhoben, zeichnete sich die koptische Erneuerung durch einen Rückzug auf den Raum der Kirche aus. Sie tendiert bis heute dazu, die Gemeinde zu erhalten und ihre Identität zu stärken.65 Mit den religiösen Erneuerungsbewegungen auf koptischer und muslimischer Seite wurden Orte und Gelegenheiten der Begegnung immer kleiner: Mawlids, traditionelle Pilgerfeste, wurden immer mehr von volksreligiösen und profanen Elementen „gereinigt“ und damit als gemeinsames festliches Ereignis von Christen und Muslimen ungeeignet. Die Islamisierung des öffentlichen Raums schritt immer weiter voran und damit der Druck zur Unterscheidung: das quasi obligatorische Tragen des Schleiers für muslimische Frauen und die demonstrative Ablehnung des Schleiers durch Christinnen machte ein öffentliches Bekenntnis zur Religion auf der Straße quasi unabdingbar. Islamische Themen nahmen immer breiteren Raum im staatlichen Bildungswesen ein und drängten dadurch Kopten zum Aufbau paralleler oder ergänzender Strukturen im kirchlichen Raum. Die Islamisierung der Massenmedien hatte ähnliche Wirkung. Immer seltener trafen sich Kopten und Muslime in einem nicht religiös definierten Raum. Für die Kopten bedeutet dies immer mehr Isolation, teils durch Ausgrenzung von Seiten der Muslime, teils durch selbst bewirkte Abgrenzung durch die kirchenzentrierte Erneuerungsbewegung.66

Revolution: Christentum in Ägypten zwischen der Angst vor den Muslimbrüdern und dem Schutz des starken Mannes Die Revolution von 2011 und die Herrschaft der Muslimbrüder Die Revolution im Rahmen des Arabischen Frühlings kam für die koptische Kirche unerwartet. Noch während in Kairo auf dem Tahrir-Platz Jugendliche gegen das Regime demonstrierten, darunter auch Christen, stellte sich Papst Shenouda III. öffentlich auf die Seite von Präsident Mubarak. Dies hinderte jedoch koptische Gläubige nicht daran, 65 El-Khawaga 1996:191–202; Elsässer 2014:59–64. 66 Elsässer 2014:65–68.

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weiter an den Protesten teilzunehmen. Der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 und die Machtübernahme durch den Obersten Militärrat brachte für Ägypten große Umwälzungen und eine bis dahin ungekannte Rede- und Diskussionsfreiheit. Gleichzeitig ermöglichten die neuen Freiheiten der gut organisierten Muslimbruderschaft sowie anderen islamistischern Gruppen, sich auf die kommenden Wahlen vorzubereiten und ihre Vorstellungen eines politischen Islam in die Debatten um die Änderung beziehungsweise Neugestaltung der Verfassung einzubringen. Säkular ausgerichtete Gruppen, darunter auch einige, die ihren Ursprung in der koptischen Gemeinschaft hatten, genossen nun zwar auch Meinungs- und Redefreiheit, wurden in der Öffentlichkeit aber weit weniger wahrgenommen und konnten in der ersten Phase der Revolution ihre Forderungen praktisch nicht durchsetzen. Unmittelbar nach der Revolution flammte die Debatte um Artikel 2 der Verfassung (Bezug zur Scharia als der Hauptquelle der Gesetzgebung) wieder auf. Säkular ausgerichtete Gruppen forderten dessen Abschaffung oder zumindest seine Änderung. Sie trafen auf erbitterten Widerstand der Muslimbrüder und Islamisten. Bei einem Verfassungsreferendum am 19. März 2011 konnten sich die Befürworter einer Aussetzung der geltenden Verfassung nicht durchsetzen. Sie wollten zunächst eine ganz neue Verfassung erarbeiten, auf deren Grundlage dann Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden sollten. Die Kirchen sowie säkulare Gruppen der Zivilgesellschaft setzten sich für diesen Weg ein und hofften, so auch den Bezug der Verfassung zur Religion und zur Scharia neu definieren zu können. Unter dem Eindruck, dass bei der Revolution quasi keine religiösen Parolen zum Tragen gekommen waren, rechneten sie sich Chancen aus, dieses Ziel zu erreichen. Das Volk stimmte jedoch in dem Referendum mehrheitlich für Änderungen an der bestehenden Verfassung. Damit blieb auch Artikel 2 in Kraft. Die Parlamentswahlen fanden in drei Runden zwischen November 2011 und Januar 2012 statt. Nicht unerwartet errang die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbruderschaft die meisten Sitze, gefolgt von der salafistischen Partei des Lichts (Ḥizb al-nūr), die für eine Wiedereinführung klassisch-islamischer Bestimmungen bezüglich der Rolle der Nicht-Muslime eintrat (ḏimma-Status und ǧizya-Steuer für Christen). Zusammen hatten islamistische Kräfte 301 (oder 70 Prozent) der 427 Parlamentssitze inne. Säkulare Parteien schnitten dagegen schlecht ab. Für die Verfassungsdebatte und die Präsidentschaftswahlen weckte dies Ängste unter Kopten und Säkularen. Das Verfassungsgericht löste allerdings das Parlament bereits im April auf. Bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2012 setzte sich der Kandidat der Muslimbrüder, Muhammad Mursi, knapp gegen Ahmad Shafik durch, der die Unterstützung des Militärrats hatte und als Mann des alten Regimes galt. Mursis erstes Jahr im Amt endete in Machtkämpfen zwischen den verschiedenen Fraktionen, einschließlich Mursis eigener Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, den Salafisten, den Resten des alten Regimes sowie Mitgliedern der politischen Opposition. Mursi bezog zunächst auch Nicht-Islamisten und Nicht-Muslime – darunter den Kopten Samir Marcos – in sein Beraterteam ein. Doch dieses Team fiel zum größten Teil auseinander, als Mursi sich

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am 22. November 2012 per Dekret selbst die Macht nahm, Gesetze zu erlassen. Damit wollte er offensichtlich verhindern, dass der Oberste Gerichtshof die Formierung des Senats und der Verfassunggebenden Versammlung für ungültig erklärte. Dies hätte die Verabschiedung der Verfassung, deren Erarbeitung kurz vor dem Abschluss stand, unmöglich gemacht. Angesichts von erbitterten Demonstrationen gegen Mursi fand das Verfassungsreferendum am 15. und 22. Dezember 2012 unter chaotischen Umständen statt, brachte aber eine Mehrheit von 63,8 Prozent der Wählerstimmen für die Annahme der Verfassung, die eindeutig die Handschrift der Islamisten trug. Zahlreiche Vertreter der Kirchen und der säkularen Gruppen hatten die Verfassunggebende Versammlung aus Protest verlassen und so den Islamisten freie Hand bei der End­ redaktion gegeben.67 Für die Kopten endete mitten in den Umbrüchen in Folge der Revolution auch eine kirchliche Ära. Am 17. März 2012 starb Papst Shenouda III. Über vierzig Jahre hatte er die Geschicke der koptisch-orthodoxen Kirche geleitet. Selbst aus der Erneuerungsund Sonntagsschulbewegung hervorgegangen, hatte er umfangreiche Reformen in der Kirche durchgeführt. Eine seiner Hauptleistungen bestand im Aufbau einer Diözesanstruktur für die Diaspora. In seiner Amtszeit ernannte er Bischöfe für die Vereinigten Staaten, für Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie Australien. Auch in Ägypten richtete er zahlreiche neue Diözesen ein. Hatte die Bischofssynode im Jahr 1971 23 Mitglieder, waren es bei seinem Tod 92. Auch das monastische Leben nahm einen großen Aufschwung, viele Akademiker traten in die Klöster ein. Die Zahl der Männerklöster stieg von neun im Jahr 1971 auf 25 im Jahr 2012, die der Frauenklöster von fünf auf sieben. Für Frauen entstand in Anlehnung an katholische Orden eine neue Lebensform: die tassumi, eine Art Gemeindeschwester, von denen Hunderte in ganz Ägypten in den Pfarreien aktiv sind. In der Ökumene gab es Fort- und Rückschritte. 1973 unterzeichnete er zusammen mit Papst Paul VI. eine gemeinsame Erklärung zur Christologie und eine gemeinsame Kommission befasste sich von 1974 bis 1992 mit weiteren Fragen. Nach einer Unterbrechung von 1992 bis 2004 wurde der Dialog mit dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen wieder­ 67 Die Verfassung von 2012 hatte nur wenige Monate Gültigkeit und blieb ohne Rechtsfolgen. Sie wurde nach dem Sturz von Präsident Mursi im Sommer 2013 bereits wieder außer Kraft gesetzt. Trotzdem sollen hier kurz die relevanten Passagen vorgestellt werden. Auffallend waren bereits die starken religiösen Bezüge in der Präambel. Artikel 1 bezeichnete Ägypten sodann unter anderem als Teil der islamischen umma, Artikel 2 hielt an der Definition des Islam als Religion des Staats und den Grundsätzen der Scharia als der Hauptquelle für die Gesetzgebung fest. Artikel 219 beschrieb genauer, was unter den Prinzipien der Scharia zu verstehen ist, nämlich die grundlegenden Regeln der Rechtsfindung und die „glaubwürdigen Quellen“ der sunnitischen Lehre. Laut Artikel 4 war die Azhar-Universität zu konsultieren, wenn es um Angelegenheiten der Scharia ging. Artikel 3 der Verfassung garantierte Christen und Juden, ihre religiösen Angelegenheiten, vor allem die Wahl ihrer religiösen Führer, selbst zu regeln und ihre Personenstandsfragen gemäß ihren eigenen Rechtsvorstellungen zu ordnen. Artikel 43 erklärte die Glaubensfreiheit zu einem unverletzlichen Recht. Der Staat garantierte den „himmlischen Religionen“, das sind Islam, Christentum und Judentum, die Freiheit der Ausübung religiöser Riten und das Recht auf die Errichtung von Gebetsstätten. Allen anderen Religionen wur­ den diese Rechte der Ausübung der Religion nicht zugestanden. Suermann 2013:232–241; Hulsman 2013:45–51; Müller 2015:216–223.

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aufgenommen. Seit 1974 ist die koptisch-orthodoxe Kirche Mitglied im Middle East Council of Churches.68 Die Beziehungen zur katholischen Kirche in Ägypten waren hingegen weniger gut. Mischehen ließ Papst Shenouda nicht zu, und Katholiken, die in die koptisch-orthodoxe Kirche aufgenommen werden wollten, mussten sich erneut taufen lassen – ein Skandalon in den ökumenischen Beziehungen, das bis heute nicht ausgeräumt ist. Kritiker werfen Shenouda vor, die Kirche stark klerikalisiert und koptische Gläubige von jeglichem gesellschaftlichen Engagement außerhalb der Kirche abgehalten zu haben. Von den einfachen Gläubigen wird Papst Shenouda allerdings bis heute wie ein Heiliger verehrt. Bilder von Baba Shenouda hängen in fast jedem christlichen Haus, Geschäft und Auto. Seine zahlreichen geistlichen Schriften finden reißenden Absatz in den Buch- und Devotionalienläden der Kirchen. Zum Nachfolger von Papst Shenouda wurde im November 2012 Tawadros II. gewählt.69 Die Übergangszeit nach der Revolution war von zunehmender Unsicherheit für Kopten, vor allem in den Provinzen, verbunden. Übergriffe auf Kirchen und Christen mehrten sich in Oberägypten, Stammesführer entführten Kopten und ließen sie nur gegen Lösegeld wieder frei. Das Gefühl der Ohnmacht wuchs erst recht, nachdem im Oktober 2011 am Maspéro-Platz in Kairo Dutzende Kopten, die vor dem Fernsehgebäude für die Rechte der koptischen Gemeinschaft demonstriert hatten, bei der Auflösung der Demonstration von der Armee getötet worden waren. Untersuchungen fanden nicht statt, stattdessen wurden die Demonstranten zu Tätern erklärt und so der Hass gegen Kopten in der Bevölkerung weiter angefacht.70 Die Herrschaft der Muslimbrüder war reich an konfessioneller Gewalt: Mitte Februar 2012 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in einem Dorf in der Nähe von Zagazig im Delta. Anlass war das Verschwinden der Ehefrau und der Tochter eines zum Islam übergetretenen Mannes. Es wurde vermutet, dass sie von Christen entführt worden waren, um sie von einer Konversion zum Islam abzuhalten. Anfang August 2012 kam es nach einem privaten Streit zwischen einem Muslim und einem Kopten in Dahshur, rund 40 Kilometer südlich von Kairo, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Muslime belagerten das Haus des Christen und setzten es in Brand. Mehrere Häuser von Christen fielen den Flammen zum Opfer, weil die Polizei zu spät eingriff und die Feuerwehr wegen der Menschenmassen die Brandstelle nicht erreichte. Christen, die sich gegen die Angreifer zur Wehr setzten, wurden des Totschlags bezichtigt und verhaftet. Anfang April 2013 gab es Zusammenstöße im Kairoer Vorort al-Khussus. Muslime beschuldigten Christen, eine islamische Einrichtung mit Graffiti beschmiert zu haben. Von einer benachbarten Moschee aus stachelte der Imam die Menge an, so dass anschließend ein Mob eine nahegelegene Kirche angriff. Vier Kopten und ein Muslim wurden durch Schusswaffen getötet, mehrere Gebäude beschädigt oder niedergebrannt. Christen beschuldigten die Polizei der Untätigkeit. 68 Masson 2012:65–72; Gillé 2017:passim. 69 Zur Wahl Tawadrosʼ siehe Chaillot 2013. 70 Aclimandos 2014:251–252.

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Bei der Trauerfeier für die koptischen Toten in der Markus-Kathedrale von Kairo griffen muslimische Jugendliche die Trauergemeinde an und es kam erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei der ein weiterer Christ getötet wurde. Papst Tawadros II. und andere Kirchenvertreter beschuldigten Präsident Mursi, nicht genug für die Sicherheit von Christen zu tun. Der Angriff auf die Markus-Kathedrale sei ein einmaliger Vorgang, den es in 2000 Jahren noch nicht gegeben habe. Mitte Mai kam es in Dekhela (Alexandrien) und Menbal (Provinz Matay) zu Ausschreitungen von Islamisten gegen koptische Kirchen. Auslöser war jeweils ein Streit zwischen Einzelpersonen, der sich zu interreligiöser Gewalt auswuchs. Islamisten schienen derartige Ereignisse auszunutzen, um zu Gewalt gegen Kirchen oder zur Plünderung christ­ licher Häuser aufzurufen. Am 6. Juli 2013 wurde in al-Arish im Sinai ein koptisch-­ orthodoxer Priester getötet. Amnesty International beklagte im März und Juli 2013 die Gewalt gegen Kopten und andere religiöse Minderheiten und forderte die ägyptische Regierung dazu auf, konfessionelle Gewalt gegen Christen ernster zu nehmen. Die Berichte kritisierten das zögerliche oder ausbleibende Durchgreifen von Sicherheitsbehörden und Justiz bei Übergriffen auf Minderheiten. Ergebnis sei, dass bei interreligiösen Auseinandersetzungen immer wieder unnötigerweise Angehörige von Minderheiten getötet würden. Außerdem kritisierte Amnesty, dass von Behörden sogenannte Versöhnungsverfahren der ordentlichen Strafverfolgung vorgezogen würden. Das erwecke den Eindruck, dass man straflos gegen Christen vorgehen könne.71

Die Kirchen und der Feldmarschall: Die Präsidentschaft von Abdalfattah al-Sisi Vom 30. Juni bis 3. Juli 2013 gingen Millionen von Ägyptern auf die Straße und demonstrierten gegen Präsident Mursi. Führende Muslimbrüder versuchten dies als Komplott der koptischen Kirche darzustellen. Am Abend des 3. Juli trat der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Abdalfattah al-Sisi, vor die Fernsehkameras und verkündigte die Absetzung des Präsidenten. Auf den Straßen Ägyptens brach Jubel aus. Der Oberste Militärrat setzte in Absprache mit dem Großscheich der Azhar, dem koptischen Papst und dem Oppositionsführer (Muhammad Baradei) Adli al-Mansur als 71 http://www.amnesty.org/en/news/egypt-s-coptic-christians-must-be-protected-sectarian-violence-2013–03–27 (27.03.2013; abgerufen am 03.04.2013); http://amnesty.org/en/news/egypt-security-forces-abandon-coptic-christians-during-deadly-attack-luxor-2013–07–23 (23.07.2013; abgerufen am 23.08.2013) Amnesty International, Egypt: ‚There was no door on which I did not knock‘: Coptic Christians caught in attacks and state’s failure, Juli 2013 (http://www.amnesty.org/en/library/asset/ MDE12/037/2013/en/cdc3330 f-2409–4162–8ba6–8071ccedab29/mde120372013en.pdf, abgerufen am 23.08.2013). Nach Übergriffen auf Häuser von Christen in Demshaw Hashem im September 2018 lehnte der koptisch-orthodoxe Bischof von Minia, Anba Makarios, traditionelle Versöhnungszeremonien ab. Anders als die Initiative „Haus der ägyptischen Familie“, die solche Zeremonien fördert, hielt der Bischof diese nicht für geeignet, zukünftige Gewalt zu verhindern. Sie könnten nicht den legitimen Schutz christlicher Bürger gewährleisten. Stattdessen verwies er auf das Gesetz und rief das Prinzip der Gleichheit aller Bürger in Erinnerung.

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zivilen Übergangspräsidenten ein. Papst Tawadros war zusammen mit dem Scheich der Azhar und anderen Vertretern der ägyptischen Gesellschaft an der Seite von General al-Sisi aufgetreten und hatte seine Unterstützung für die Entscheidung des Militärrats kundgetan. Dies nutzten die Muslimbrüder, um die Opposition einer Verschwörung zu bezichtigen, die von Vertretern des alten Regimes, ausländischen Interessen, der koptischen Kirche und von Apostaten angezettelt worden sei. Am 5. Juli 2013 rief Muhammad Badie, der spirituelle Führer der Muslimbruderschaft, Papst Tawadros auf, sich aus der Politik herauszuhalten. Ayman al-Zawahiri, der aus Ägypten stammende Führer von al-Qa’ida, bezichtigte Anfang August 2013 die Christen Ägyptens zusammen mit den US-Amerikanern des Komplotts gegen die Regierung der Muslimbrüder. Christen wollten im Süden Ägyptens einen christlichen Staat gründen. Kurz darauf erstürmten Islamisten in Oberägypten (Sohag und Girga) mehrere Kirchen; in Sohag wurde die Fahne von al-Qa’ida auf einem Kirchengebäude gehisst. In der Nähe von Minia kam es in einem Dorf zu Übergriffen auf christliche Wohnhäuser. In Sohag wurde ein katholischer Christ getötet; in Kairo ein zehnjähriges Mädchen beim Verlassen einer evangelischen Kirche erschossen. Der Name von Papst Tawadros II. fand sich zusammen mit dem von Übergangspräsident Adli al-Mansur und Armeechef Abd­ alfattah al-Sisi auf einer anonymen Todesliste. Als am 14. August 2013 Polizei und Armee zwei Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo räumten, brach im ganzen Land eine Welle der Gewalt gegen Kirchen, Konvente, christliche Schulen und andere Einrichtungen sowie gegen Wohnhäuser und Geschäfte von Christen herein. Besonders betroffen waren Suez, Beni Sueif, Minia, Assiut und Sohag. Eine Liste der Zerstörungen nennt 58 christliche Einrichtungen unterschiedlicher Konfessionen sowie 160 Häuser von Christen. Sieben Menschen wurden dabei getötet, 17 entführt und Hunderte verletzt. Einen solchen Gewaltausbruch gegen Christen hatte es in Ägypten noch nicht gegeben. In der Folge kam es zu einem engen Schulterschluss zwischen den ägyptischen Kirchen und der Militärregierung. Dies ging nach der Wahl von General al-Sisi zum Staatspräsidenten im Juni 2014 in die volle Unterstützung für seine Politik über. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis verteidigten die Kirchen die Politik der Militärführung. Die koptisch-orthodoxe und die katholische Kirche erklärten in Stellungnahmen ihre Enttäuschung über die verzerrende Darstellung in westlichen Medien, in denen die Muslimbrüder als friedliche Demonstranten für die Demokratie erschienen. In Wahrheit seien sie Terroristen. Vertreter der Kirchen betonten trotz der teils blutigen Auseinandersetzungen, dass es keine Spaltung des Landes in Christen und Muslime gebe und riefen alle Bürger des Landes zur Einheit auf. Islamisten und Muslimbrüder würden Christen und Muslime gleichermaßen angreifen. Die Regierung kündigte unterdessen an, zerstörte oder beschädigte Kirchengebäude durch das Militär wieder aufbauen beziehungsweise sanieren zu lassen. Bis 2018 wurden laut Angabe des Parla­ ments 83 kirchliche Gebäude auf diese Weise repariert. Die Unruhen und Übergriffe auf Christen setzten sich derweil fort. In Delga, einer Kleinstadt in der Provinz Minia, errichteten Islamisten Mitte August einen eigenen

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Parallelstaat, in dem sie die Scharia voll zur Anwendung brachten. Christen wurden zur Zahlung der ǧizya-Steuer gezwungen. Die drei christlichen Kirchen der Stadt wurden von den Islamisten beschädigt. Die Hälfte der 20.000 Christen verließen die Kleinstadt, nachdem mindestens 62 Häuser niedergebrannt worden waren. Am 17. September 2013 begann die Armee mit der Rückeroberung der Stadt. Am 20. Oktober 2013 verübten zwei Terroristen im Kairoer Stadtviertel al-Warraq einen Anschlag auf eine Hochzeitsgesellschaft am Ausgang einer Kirche. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben. Die Muslimbrüder verurteilten zwar den Anschlag, Kirchenvertreter schenkten dieser Stellungnahme aber keinen Glauben und vermuteten eine Verbindung der Terroristen zur Muslimbruderschaft. Nach dem Sturz der Regierung Mursi wurde eine neue Verfassunggebende Versammlung einberufen. Sie bestand aus 50 Mitgliedern, darunter Juristen, liberale Politiker, jugendliche Aktivisten der Revolution, ein Vertreter der salafistischen Nūr-Partei, ein früherer Muslimbruder, drei Vertreter der Azhar sowie drei Christen, je ein Vertreter der koptisch-orthodoxen, der katholischen und der evangelischen Kirche. Die Versammlung überarbeitete die Verfassung von 2012 grundlegend: rund 40 Artikel kamen neu hinzu, über 100 Artikel wurden verändert, einige wurden ganz gestrichen. Nach einem Referendum, das 98 Prozent Zustimmung für den Entwurf brachte, trat die Verfassung am 18. Januar 2014 in Kraft. Die Verfassung bekennt sich in der Präambel ausdrücklich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen von Ägypten ratifizierten Menschenrechtsabkommen. Artikel 2 der Verfassungen von 1980 und 2012 mit dem Scharia-Bezug blieb unverändert; die Interpretation der Scharia obliegt jedoch dem Obersten Verfassungsgericht. Unverändert blieb auch Artikel 3 der Verfassung von 2012; dort ist Christen und Juden die Regelung ihrer kirchlichen Angelegenheiten und Personenstandsfragen gemäß ihren Traditionen garantiert. Papst Tawadros II. und Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche hatte erfolglos versucht, den Begriff „Nicht-Muslime“ anstelle der Beschränkung auf Christen und Juden durchzusetzen.72 Das Recht auf Glaubensfreiheit (Artikel 64) wurde absoluter gesetzt als 2012: „Die Freiheit, religiöse Handlungen zu vollziehen und Orte für den Gottesdienst einzurichten, ist für die Anhänger der abrahamitischen Religionen ein Recht, das vom Gesetz geregelt wird“. Die Gottesdienstfreiheit bleibt allerdings auf Anhänger von Islam, Christentum und Judentum beschränkt. Artikel 235 fordert die Neuregelung der Kirchbaugesetze in der ersten Legislaturperiode des zu wählenden Parlaments.73 Artikel 53 stellt fest, dass vor dem Gesetz alle Bürger gleich sind an 72 Reiss 2014:108; Müller 2015:215–220, 223–224; Hulsman/Serôdio 2016:30, 32, 40. 73 Reiss 2014:122–125; Müller 2015:222–224; Reiss 2015:547–549. Nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 2014 wurde ein gemeinsamer ökumenischer Ausschuss eingerichtet, um einen Entwurf für das von Artikel 235 geforderte Gesetz zum Bau von Kirchen zu erarbeiten. Am 30. August 2016 verabschiedete das Parlament das Gesetz. Danach muss der für die Genehmigung zuständige Provinzgouverneur innerhalb von vier Monaten entscheiden. Ablehnungen müssen begründet und können vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden. Kritisch gesehen wird von Kirchenvertretern allerdings, dass „andere zuständige Behörden“, die nicht näher definiert sind, ihre Zustimmung geben müssen und die Größe des geplanten Gebäudes der Größe der Gemeinde angemessen sein muss. Letz-

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„Rechten, Freiheiten und allgemeinen Pflichten, ohne Diskriminierung auf Basis von Religion, Glauben, Geschlecht, Abstammung, Volkszugehörigkeit Hautfarbe, Sprache, Behinderung, sozialer Klasse, politischer oder geografischer Zugehörigkeit oder anderen Gründen.“ Diskriminierung in all ihren Formen gilt als Straftatbestand. Eine Kommission soll einberufen werden, um über Verstöße gegen diese Bestimmung zu wachen. Dies zeigt, dass die Verfassungsväter den Willen hatten, tatsächlich gegen Diskriminierung im Alltag vorzugehen und sich nicht mit einem Gesetzestext ohne Auswirkungen in der Praxis zufriedengeben wollten. Angesichts der oben beschriebenen Probleme mit offiziellen Dokumenten verbrieft Artikel 6 der Verfassung das Recht jeden ägyptischen Staatsbürgers auf „rechtliche Anerkennung durch amtliche Papiere, die seine Personendaten angeben.“ Dies ist von besonderem Interesse für Personen, die sich weigern, ihre Religionszugehörigkeit in offiziellen Ausweispapieren angeben zu lassen oder als Muslim geführt zu werden. Bisher wurden ihnen von den Behörden oft Ausweispapiere verweigert.74 In der Debatte um die Änderung der Verfassung wurden innerhalb der Kopten mehrere Strömungen deutlich. Kirchennahe, eher traditionelle Kreise hatte bereits am 30. Juli 2013 in einem Memorandum ihre Vorstellungen von den notwendigen Änderungen an der Verfassung von 2012 verdeutlicht. Diese betrafen die Rücknahme einiger Passagen, die die Rolle der Azhar bei der Rechtsfindung zu stark in den Vordergrund rückten (Artikel 4 und Artikel 219), sowie die klarere Formulierung der Religionsfreiheit und des Diskriminierungsverbots. Daneben kritisierte eine säkulare, koptische „Linke“ das Fehlen koptischer Laien in der Verfassunggebenden Versammlung, forderte die Abschaffung von Artikel 2 und wandte sich gegen jede besondere Stellung einer Religion. Stattdessen sollte die religiöse Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit im Verhältnis des Bürgers zum Staat überhaupt keine Rolle spielen. Die Argumente einer koptischen „Rechten“ zielten dagegen auf besondere Rechte der koptisch-orthodoxen Kirche und auf die Abwehr der nicht-traditionellen Religionsgemeinschaften wie Adventisten und Zeugen Jehovas. Diese Richtung trat damit auf christlicher Seite für ähnliche Positionen ein wie konservative Azhar-Vertreter auf islamischer Seite.75 tere sei aber oft nicht genau bekannt. Bis Mai 2018 wurden auf Grundlage des Gesetzes insgesamt 215 Kirchen und angeschlossene Gebäude, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes errichtet worden waren, nachträglich legalisiert. Insgesamt sollten über 3.000 kirchliche Gebäude von den zuständigen Behörden mit dem Ziel einer Legalisierung daraufhin überprüft werden, ob sie die durch das neue Gesetz festgelegten Standards erfüllen. Zur Genese des Gesetzes siehe Reiss 2015:547–555. 74 Hulsman/Serôdio 2016:38, 41–42. 66. 75 Reiss 2014:105–112. Zwischen den Institutionen der offiziell anerkannten Religionen, namentlich zwischen der Führung der koptisch-orthodoxen Kirche und den Vertretern des sunnitischen Islam, bestand bereits vor der Revolution von 2011 Konsens darüber, dass Religionsfreiheit nicht für jede religiöse Gruppe gewährt werden könne. Reichte eine neue religiöse Gruppe einen Antrag auf Registrierung bei der Abteilung für religiöse Angelegenheiten des Innenministeriums ein, wurde dieser zunächst den Vertretern der anerkannten Religionen, namentlich dem Großscheich der Azhar und dem koptisch-orthodoxen Papst zur Begutachtung vorlegt. Diese widersetzten sich regelmäßig der Anerkennung dieser Gemeinschaften. Beispiele sind die Anerkennung der Schiiten als religiöser Gemeinschaft, der Bahai, der Ahmadiyya sowie der Zeugen Jehovas. Argument gegen die Anerkennung war stets, dass diese eine Bedrohung der nationalen Einheit oder des sozialen Friedens darstellten.

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Auf Grundlage der neuen Verfassung wurden im Mai 2014 Präsidentschaftswahlen abgehalten, aus denen Abdalfattah al-Sisi, seit Januar 2014 im Rang eines Feldmarschalls, mit großer Mehrheit als Sieger hervorging. Von Oktober bis Dezember 2015 fanden in mehreren Runden Parlamentswahlen statt. Dabei wurden 37 koptische Kandidaten gewählt, davon 13 in ihren jeweiligen Wahlkreisen als unabhängige Kandidaten. Die Restlichen hatten auf den Listen des Bündnisses „Aus Liebe zu Ägypten“ kandidiert, in dem sich Anhänger von al-Sisi zusammengeschlossen hatten. Das neue Parlament hat 568 Abgeordnete, davon 448 unabhängig gewählte Parlamentarier und 120 des Mehrheitsbündnisses von Präsident al-Sisi. Christen ist im Parlament eine Quote von mindestens 24 Sitzen vorbehalten. Die offiziellen Kirchen stehen seither fest an der Seite von Präsident al-Sisi und seiner Politik, ungeachtet der international und national vorgetragenen Kritik an Menschenrechtsverletzungen. Die Gewalt riss aber auch mit der Stabilisierung der Präsidentschaft al-Sisis nicht ab. Die Terrorgruppe Islamischer Staat tötete Mitte Februar 2015 21 Kopten in Libyen, alles Gastarbeiter aus Ägypten. Die Kopten waren kurz zuvor in der von Islamisten kontrollierten Stadt Sirte entführt worden. Weiteren zehn Christen war vor der Hinrichtung die Flucht aus den Händen der Entführer gelungen. Präsident Abdalfattah al-Sisi kündigte in einer Fernsehansprache eine Antwort auf die Morde an. Die ägyptische Luftwaffe warf wenige Tage später Bomben über Stellungen des IS in Libyen ab. Al-Sisi suchte Papst Tawadros auf, um ihm zu kondolieren. Die Azhar-Universität in Kairo verurteilte die Tötungen als barbarische Akte. Die Ermordeten wurden von der koptischen Kirche zu Märtyrern erklärt und feierlich beigesetzt. Mit dem Ereignis in Libyen erfuhr somit auch der Märtyrerkult und das Selbstbewusstsein der koptischen Christen, einer Märtyrerkirche anzugehören, neuen Auftrieb. Am 11. Dezember 2016 detonierte in der Peter- und Paulskirche unmittelbar neben der koptisch-orthodoxen Markus-Kathedrale in Kairo während des Sonntagsgottesdienstes eine Bombe. Bei dem Anschlag islamistischer Extremisten wurden 23 Menschen getötet und 50 verletzt. Präsident al-Sisi rief daraufhin eine dreitätige Staatstrauer aus und lud zu einer offiziellen Trauerfeier am Denkmal des unbekannten Soldaten. Damit wurden erstmals koptische Anschlagsopfer von staatlicher Seite geehrt. Nach einer Mordserie gegen Christen im Norden der Sinai-Halbinsel, bei der im Februar 2017 sieben Kopten ermordet wurden, flohen rund 200 Christen nach Ismailia. Internet-Videos von Islamisten hatten zuvor zum Angriff auf Christen aufgerufen. Bereits am 30. Juni 2016 war in al-Arish im Norden der Sinai-Halbinsel ein koptisch-­ orthodoxer Priester von Angehörigen der Terrormiliz Islamischer Staat erschossen worden. Am 18. April 2017 wurde bei einem Angriff auf das Katharinen-Kloster auf der Sinai-Halbinsel ein Polizist getötet. Die Lage im Sinai bleibt bis heute sehr unruhig, Derartige Entscheidungen stießen kaum auf Kritik, sondern fanden breite Zustimmung. Die damit verbundene restriktive Interpretation der Religionsfreiheit im Sinne eines Schutzes für die bestehenden Religionsgemeinschaften kann daher als breiter gesellschaftlicher Konsens betrachtet werden. Elsässer 2014:142–143.

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Islamisten verüben immer wieder Anschläge auf Sicherheitskräfte. Blutigen Höhepunkt bildete ein Anschlag auf eine Moschee bei al-Arish im Dezember 2017. Am 9. April 2017 wurden Anschläge auf Palmsonntagsgottesdienste in Tanta und Alexandrien verübt. Dabei kamen insgesamt 44 Menschen ums Leben, neben koptischen Gläubigen auch mehrere Polizisten. In Alexandrien zelebrierte Papst Tawadros II. selbst die Liturgie, während vor der Kirche an einem Kontrollpunkt ein Attentäter eine Bombe zündete. Der Papst blieb unverletzt. In Tanta sollte der Gottesdienst vom Staatsfernsehen übertragen werden. Der Islamische Staat bekannte sich zu den Attentaten. Am 26. Mai 2017 griffen bewaffnete Extremisten in der Nähe von Minia einen Bus mit koptischen Pilgern an, die auf dem Weg zum Samuel-Kloster waren, und töteten 29 Menschen; 22 Personen wurden verletzt. Auch zu diesem Anschlag bekannte sich der Islamische Staat. Die Regierung reagierte mit Luftangriffen auf Stellungen des IS in Libyen. Am 29. Dezember 2017 wurde eine koptisch-orthodoxe Kirche in Helwan, einem Vorort südlich von Kairo, während des Gottesdienstes von bewaffneten Terroristen angegriffen. Es gelang den Tätern zwar nicht, in die Kirche einzudringen, dennoch wurden acht Christen und ein Muslim getötet. Bis heute kommen Christen in Ägypten nicht zur Ruhe. Jederzeit müssen sie mit einem Anschlag rechnen. Kirchen werden während der Gottesdienste von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Es nimmt nicht wunder, dass sie in dieser Situation Schutz beim starken Mann suchen. Ohne das Militär droht – so sehen es viele – die Machtübernahme durch Islamisten.

Bemühungen um interreligiöse Verständigung Angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Christen, aber auch gegen staatliche Einrichtungen und Muslime, die nicht den Glaubensvorstellungen der Extremisten folgen, verdient eine Initiative zur Neuausrichtung des Dialogs und der interreligiösen Zusammenarbeit besondere Beachtung. Diese geht auf das Jahr 2011 zurück und spiegelt den Wunsch nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Azhar und den lokalen Kirchen Ägyptens wieder, möglicherweise auch unter dem Eindruck des eingefrorenen Dialogs mit dem Vatikan. Die Initiative nennt sich „Haus der ägyptischen Familie“ (Bait al-ʿāʾila al-miṣriyya). Neben Vertretern der Azhar-Universität und der koptisch-orthodoxen Kirche gehören dem Gremium Repräsentanten der kleineren Kirchen Ägyptens an, nämlich der koptisch-katholischen, anglikanischen und evangelischen Kirche, sowie eine Reihe muslimischer und christlicher Wissenschaftler. Die Leitung des Gremiums obliegt abwechselnd dem Großscheich der Azhar und dem koptisch-orthodoxen Papst. Bait al-ʿāʾila versteht sich als unabhängige nationale Kommission, die sich aus Spenden der Azhar, den Kirchen und weiterer nicht-staatlicher Einrichtungen finanziert, um ihre Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme zu behalten. Zu ihren Aufgaben zählt die Initiative die Verbesserung des religiösen Diskurses bei Muslimen und Christen in Bezug auf den jeweils anderen sowie die Untersuchung von Vorkommnissen, die als interreligiöse Gewalt beschrieben werden.

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Dabei verfolgt man das Ziel, Spannungen abzubauen und Frieden zwischen den religiösen Gemeinschaften zu schaffen beziehungsweise zu erhalten. Dies wird in den Provinzen durch Regionalkommissionen gewährleistet. Zum ersten Ziel gehört auch die Suche nach gemeinsamen Werten wie Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Frieden, Bildung, Fortschritt sowie die Bekämpfung von Armut und Unwissenheit. Die Erstellung und Verbreitung eines Wertekodex soll zu mehr Sachlichkeit in Predigten und Ansprachen anleiten. Zur Krisenintervention gehört auch die Untersuchung der Frage, ob es bei Spannungen und Gewalt eigentlich um Religion geht, wie in der Medienberichterstattung oft behauptet wird, oder um ganz andere Gründe (Familienstreitigkeiten, wirtschaftliche Konkurrenz oder ähnliches).76 Bei den Gewalttaten auf Christen der letzten Jahre hat sich Bayt al-ʿāʾila stets geäußert und zum Zusammenhalt zwischen Christen und Muslimen aufgerufen. Angesichts der fortbestehenden Terrorgefahr und der Gefahr einer immer stärkeren Abgrenzung von Christen und Muslimen ist die Tatsache, dass Führer beider Religionen öffentlich gemeinsam auftreten, nicht zu unterschätzen.

Ausblick: Anpassung, Isolation, Integration Kopten haben in der zweiten Hälfte des 20. und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts mehrere Wege gewählt, um sich in der ägyptischen Gesellschaft zu behaupten: 1. Anpassung, 2. Abgrenzung und 3. Integration in Gesellschaft und Staat. Als Anpassung lässt sich der Schulterschluss zwischen Kirche und Staatsführung sehen. Er begann mit der Präsidentschaft Nassers (Papst Kyrillos VI. und mehrere Bischöfe der damaligen Zeit), wurde in den 1970er Jahren durch die Krise in den Beziehungen zwischen Präsident Sadat und Papst Shenouda unterbrochen und unter Präsident Mubarak wieder aufgenommen. Die Anpassung findet Ausdruck in der vorbehaltlosen Unterstützung der Regierungspolitik durch Vertreter der koptischen Kirche und im Diskurs der nationalen Einheit. Gerade Papst Shenouda hat ab Mitte der 1980er Jahre in Einklang mit Präsident Mubarak immer wieder die nationale Einheit beschworen und war bereit, auf die unabhängige Untersuchung von Gewalt gegen Kopten zugunsten lokaler Versöhnungszeremonien zu verzichten. Im Gegenzug zur Kooperationsbereitschaft der Kirche stärkte der Staat die Position des Patriarchen, garan­tierte Gemeinschaftsrechte und unterdrückte die islamistischen Bewegungen. Weil sie sich von der Staatsführung respektiert, im öffentlichen Diskurs als Teil der Nation anerkannt und durch das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen islamistische Terroristen geschützt sahen, wurde diese Strategie der Kirchenführung auch von einem großen Teil der koptischen Gläubigen mitgetragen. Eine ähnliche Strategie verfolgen die Kirchen in Ägypten in jüngster Zeit mit Blick auf die Präsidentschaft von Abdalfattah al-Sisi. Anpassung an das herrschende System 76 Chaillot 2011:245–246; Hamdan 2014:315–320.

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dient als Schutz vor dem Druck von Terroristen und den Bestrebungen der Muslimbrüder, die Gesellschaft nach streng islamischen Vorstellungen umzugestalten. Die Angst, dass dadurch auch Christen islamischen Vorschriften unterworfen würden, spielt dabei eine bedeutende Rolle. Um dies zu verhindern, nimmt man in Kauf, dass Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Auch heute unterstützt die große Mehrheit des Kirchenvolkes diese Strategie. Die kirchliche Erneuerungsbewegung, die Mitte des 20. Jahrhunderts begann und mit dem Pontifikaten Kyrillos VI. und Shenoudas III. ihren Höhepunkt erreichte, hat eine zweite Haltung hervorgebracht: die der Abgrenzung. Die Islamisierung der Gesellschaft und die Ausgrenzung von Seiten radikaler Muslime, die in den 1970er Jahren immer größeres gesellschaftliches Gewicht erlangten und viele Bereiche des täglichen Lebens zu beherrschen begannen, hat sicher auch zur Förderung dieser Haltung beigetragen. Kopten sehen in der Lektüre religiöser Texte unter Anleitung von Priestern und fachkundigen Laien sowie in der Beschäftigung mit dem Beispiel von Heiligen und Märtyrern aus der christlichen Vergangenheit Ägyptens eine Möglichkeit, ihre Identität zu bewahren. Zahlreiche nicht-religiöse Aktivitäten – Hausaufgabenbetreuung, Lernräume, berufliche Ausbildung, Freizeitbeschäftigung, Ausflüge und anderes – ergänzen dieses Programm und ermöglichen es Kopten, sich ganz in einem kirchlichen Raum zu bewegen. Kontakte mit Muslimen werden dabei immer weiter reduziert. Engagement in Gesellschaft und Politik steht zurück. Es wird dem höheren Klerus, namentlich dem Patriarchen und den Bischöfen, über­ lassen, die im Namen der koptischen Gemeinschaft auftreten. Angesichts der Kon­ zentration auf moralische Lebensführung unter religiösen Ansprüchen und der Trennung von Lebenswelten zwischen der eigenen Religionsgemeinschaft und Außen­stehenden kann man fast von einer parallelen Entwicklung von muslimischer Gesellschaft unter dem Einfluss der Muslimbrüder und der koptisch-orthodoxen Gläubigen unter dem Einfluss der kirchlichen Erneuerungsbewegung sprechen. Beide fördern eine Frömmigkeit und Lebenshaltung, die traditionelle Formen bevorzugt, sich von Entwicklungen in der westlichen Welt abgrenzt, aber auch nicht den Kontakt zu Gläubigen anderer Religionen im eigenen Land sucht, sondern sich ausschließlich auf den Raum der eigenen Gemeinschaft erstreckt. Als dritte Alternative steht die Integration in Staat und Gesellschaft. Ihre Befürworter lehnen den Rückzug in die Religionsgemeinschaft ab und fordern stattdessen, dass sich Christen an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen. Dafür müssen sie die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wie alle anderen haben und dürfen sich nicht auf einen Minderheitenstatus oder einen wie auch immer gearteten besonderen Schutz berufen. Daher lehnen sie auch eine Kooperation mit der Staatsführung im Sinne der oben beschriebenen Anpassungsstrategie ab. Sie suchen die Kooperation mit moderaten Muslimen und streben danach, eine breite gesellschaftliche Basis für die Diskussion von Grundsatzfragen zu erreichen. Dieser Ansatz findet seit Beginn des neuen Jahrtausends mit der Entstehung verschiedener zivilgesellschaftlicher Ins­titutionen immer mehr Anhänger, konnte sich aufgrund der stark eingeschränkten

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Meinungsfreiheit allerdings bis zur Revolution von 2011 kaum entfalten. Mit dem Arabischen Frühling hat er neue Anhänger gewonnen. Allerdings sind die Möglichkeiten für zivilgesellschaftliches Engagement seit der Eröffnung des Kampfes gegen die Muslimbrüder und den extremistischen Islam wieder stark eingeschränkt. Aber nicht alle lassen sich entmutigen. Sie wollen die Vertretung ihrer bürgerlichen Interessen nicht ihrer jeweiligen Kirche überlassen. Außerdem interessieren sie sich auch für nicht-religiöse Themen. Durch ihr Engagement wollen sie eine Grundlage für gemeinsames Handeln von Christen und Muslimen schaffen. Bisher haben sie es schwer in Gesellschaft und Kirche. Die kommenden Jahre werden zeigen, inwiefern hier in der Zukunft eine Öffnung erfolgen kann, die es Christen erlaubt, ähnlich wie in den 1920er Jahren aktiv am politischen Leben teilzunehmen, ohne dabei nur als Vertreter von Partikularinteressen wahrgenommen zu werden. Egal welche der drei Strategien koptische Christen heute verfolgen, ihrem Heimatland Ägypten fühlen sich alle eng verbunden. Papst Shenouda III. brachte dies in einem vielzitierten Ausspruch ins Wort: „Ägypten ist nicht das Vaterland, in dem wir leben, sondern das Vaterland, das in uns lebt.“77

77 „Egypt is not the native land in which we live, but the native land which lives in us.“ Als Zitat auch aufgenommen in einer Rede von Papst Johannes Paul II. bei seiner Ankunft zu einem Besuch in Ägypten am 24. Februar 2000. https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/en/speeches/2000/jan-mar/ documents/hf_jp-ii_spe_20000224_egypt-arrival.pdf (abgerufen am 10.09.2018).

Schlussbemerkung

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ie steht es um das Christentum im Nahen Osten im Jahr 2018? Rund um die Heiligen Stätten in Jerusalem, Bethlehem und Nazareth hat die Zahl der Christen dramatisch abgenommen. Zwar wird immer wieder betont, wie wichtig die „lebendigen Steine“ – die gläubigen Christen des Heiligen Landes – seien, dennoch drohen die Kirchen zu Museen zu werden. Bereits jetzt nehmen viele Pilger die palästinensischen Christen gar nicht wahr, vollziehen ihre Gottesdienste unter Anleitung der eigenen Priester, treffen Angehörige einer internationalen Hierarchie, die die Heiligen Stätten verwalten, und machen sich ihr eigenes Bild von dem, was in Israel und Palästina vorgeht. Die einheimischen Christen leiden unterdessen unter Diskrimi­ nierung durch die israelischen Behörden, unter der zunehmenden Islamisierung der palästinensischen und der Radikalisierung einiger Bereiche der jüdischen Gesellschaft und der Abriegelung und katastrophalen Wirtschaftslage in den Palästinensergebieten. Aus der Türkei ist das griechische, armenische und syro-aramäische Christentum fast verschwunden. Der Assimilationsdruck ist immens, die Wirtschafts- und Sicherheitslage in der Südosttürkei, wo Christen traditionell lebten, unhaltbar. In Istanbul, wohin die meisten Christen abgewandert sind und wo sich die Reste der einst blühenden armenischen und griechischen Gemeinden befinden, gehen Christen in einem Meer der türkisch-muslimischen Gesellschaft unter. Gesellschaftliche Relevanz hat das Christentum in der Türkei schon seit der Zeit Atatürks nicht mehr. Werden unter diesen Bedingungen auch die letzten Christen noch die Türkei verlassen? Nicht viel anders sieht es – unter veränderten Vorzeichen – im Iran aus. Der Druck auf die persisch-sprachigen Christen ist enorm. Sie können kaum ihren Glauben leben und beim Besuch von Gottesdiensten müssen sie stets damit rechnen, verhaftet zu werden. Die Armenier versuchen sich in Selbstbehauptung und in der Wahrung ihrer Identität und Kultur. Dies ist aber nur um den Preis der Abgrenzung von der übrigen Bevölkerung des Landes möglich. Assyrer und Chaldäer haben zum größten Teil den Weg der Auswanderung gewählt. Ihre Gemeinden sind kaum noch lebensfähig. Die wirtschaftlichen Perspektiven im Iran sind so schlecht, dass sehr viele junge Iraner danach streben auszuwandern. Armenier und Assyrer, die bereits ein gut etabliertes Netz vor allem in Amerika haben, schaffen es leichter als andere, das Land zu verlassen. Der Exodus von Christen wird weitergehen und es stellt sich die Frage, ob selbst Änderungen im politischen und gesellschaftlichen System diese Entwicklung noch aufhalten könnten. Sie ist vielleicht schon über den kritischen Punkt hinausgelangt. Die christlichen Gemeinden in Jordanien und Ägypten dagegen bilden eine gewisse Stabilität. Allerdings ist in beiden Ländern Auswanderung kein unbekanntes Phänomen. Christen aus Jordanien (im Rahmen der syro-palästinensischen Christen)

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und Kopten aus Ägypten haben fest etablierte Auslandsgemeinden vor allem auf dem amerikanischen Kontinent. Aber die politischen Verhältnisse sind in beiden Ländern stabil – in Ägypten nach einer Phase der Unsicherheit während und unmittelbar nach der Herrschaft der Muslimbrüder. Einheimische jordanische Christen sind im Rahmen der arabischen Stammesgesellschaft gut integriert; das Königshaus bemüht sich um gute Beziehungen zwischen Muslimen und Christen. Aber sind Stammesgesellschaft und königliches Wohlwollen Konzepte für die Zukunft? In Ägypten regiert Präsident Abdalfattah al-Sisi mit harter Hand. Die Kirchen folgen ihm in diesem Kurs, genießen Schutz und Sicherheit vor terroristischen Anschlägen (soweit der Staat in der Lage ist, dies zu garantieren) im Austausch dafür, dass die Kirchenführer die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Freiheitsrechte verschließen. Das Leben der Kopten spielt sich weitgehend im Raum der Kirche ab. Kontakte mit Muslimen, die über Banalitäten beim Einkaufen und Behördengängen hinausgehen, sind seltener geworden. Christen leben in ihrer eigenen Welt. Da lässt sich leichter der Eindruck erwecken, als sei alles in Ordnung. Nur eine Minderheit von Kopten engagiert sich in der Zivilgesellschaft. Ihre Beziehungen zur offiziellen Kirche sind oft gespannt, wenn es überhaupt welche gibt. Die Patriarchen und Bischöfe nehmen für sich in Anspruch, für die Christen auf politischer Ebene zu sprechen. Die politisch und gesellschaftlich engagierten koptischen Laien versuchen, die Trennlinie zur muslimischen Gesellschaft zu überwinden. Aber ihr Spielraum ist derzeit gering. Er wird begrenzt von der restriktiven Politik der Regierung, dem Agieren der Sicherheitsdienste und dem Misstrauen der eigenen Kirchenführungen. Wie also sollen Christen – über die obligaten Bekenntnisse der Kirchenführer zur „nationalen Einheit“ hinaus – ihren Beitrag zur Entwicklung des Landes leisten? Im Libanon, dem einzigen Land im Nahen Osten mit einem christlichen Staatspräsidenten, sind die Christen mehr als sichtbar auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne. Aber das politische Establishment der Christen ist – wie die gesamte libanesische Gesellschaft – gespalten in zwei Lager: Auf der einen Seite diejenigen, die eine pro-syrische, Hisbollah-dominierte Politik unterstützen (mit Blick auf den Bürgerkrieg in Syrien: pro-Assad); auf der anderen Seite diejenigen, die eine anti-syrische, sunnitische, von Saudi-Arabien geförderte Politik befürworten (Assad-kritisch). Die Diskussion um die Haltung zu Assad und den Umgang mit syrischen Flüchtlingen beherrscht weiterhin die libanesische Politik. Zwar hat sich unter den Christen des Libanon und den Kirchenführungen die Ansicht durchgesetzt, dass die Stabilisierung Syriens unter der Herrschaft Assads der beste Weg ist, um die knappe Million syrischer Flüchtlinge wieder loszuwerden, zur Auflösung der politischen Blockaden, die die höchsten staatlichen Organe (von 2014 bis 2016 das Präsidentenamt, seit Mai 2018 das Amt des Minis­ terpräsidenten) lähmen, trägt diese neue Einigkeit der Christen aber offenbar nicht bei. Auch am konfessionalistischen System lassen die Kirchenführungen nicht rütteln, zu groß ist die Angst, in eine gesellschaftliche Minderheitensituation abgedrängt zu werden. Ansätze zu einer interkonfessionellen und interreligiösen Zusammenarbeit gibt es zwar, sie brauchen aber noch einen langen Atem.

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Konfessionalismus droht auch den Irak zu zerreißen. Hinzu kommt die Konkurrenz zwischen irakischem Zentralismus und kurdischem Unabhängigkeitsstreben. Die staatlichen Organe sind auch im Irak blockiert. Christen sind gespalten in diejenigen, die die Politik der Zentralregierung in Bagdad unterstützen, und die, die auf Seiten der Kurden stehen. Die Vielzahl der christlichen Parteien ist Ausdruck dieser Spaltung. Aber auch die Unfähigkeit, über Kompromisse zu einem Konsens zu gelangen, gefährdet die gesellschaftliche Position der Christen im Irak. Die schlechte Wirtschaftssituation, die prekäre Sicherheitslage und das zerstörte Vertrauen von Christen zu ihren muslimischen Nachbarn – bedingt durch den Opportunismus vieler Muslime während des Vorstoßes des sogenannten Islamischen Staats – machen es Christen schwer, sich für ein Bleiben oder für eine Rückkehr in ihre vom IS zerstörten Dörfer zu entscheiden. Vieles wird von der Entwicklung der Sicherheitslage und von einem gesellschaftlichen Umdenken abhängen. Denn auch in der muslimischen Bevölkerung wird der Unmut über Konfessionalismus, Vettern- und Günstlingswirtschaft und die grassierende Korruption, die das Land in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ruin getrieben haben, immer größer. Nur wenn es auf dieser Ebene Verbesserungen gibt, lässt sich die Auswanderung von Christen aus dem Irak noch stoppen. Die Autonome Region Kurdistan schien lange Zeit der „erfolgreichere Irak“ zu sein. Mit westlicher Unterstützung gelang es den Peshmerga, die Region weitgehend friedlich zu halten. Dank der Öleinnahmen konnte die Infrastruktur großzügig ausgebaut werden. Angriffe auf Christen gab es fast keine. Aber dann brach der Ölpreis ein, die Kurdengebiete gerieten in eine wirtschaftliche Krise. 2014 fiel der IS in Sinjar und die Niniveh-Ebene ein und bedrohte kurzzeitig auch Erbil, die Hauptstadt der Kurdenregion. Zwar konnte der IS mit internationaler Militärunterstützung zurückgeschlagen werden, aber dann ließen sich die Kurden zum Unabhängigkeitsreferendum verleiten. Seither sind sie völlig isoliert und haben noch dazu die ölreiche Stadt Kirkuk an die irakische Zentralregierung verloren. Die Isolation Kurdistans und der Streit um die Kontrolle über die Niniveh-Ebene zwischen Bagdad und Erbil sind kein gutes Vorzeichen für die Zukunft der Christen. Wirtschaftliche Aussichten, die Frage der Sicherheit und der Wiederaufbau der staatlichen Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Dienstleistungen etc.) sind die Herausforderungen, von deren Lösung es abhängt, ob Christen in ihre Dörfer zurückgehen und dort bleiben oder nach einiger Zeit doch ins Ausland abwandern werden. Syrien 2018: Stehen wir vor dem Ende des Bürgerkriegs? Mit russischer Unterstützung ist es der Regierung in Damaskus gelungen, den größten Teil des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Beim Schreiben dieser Zeilen war nur noch die Provinz Idlib in den Händen von Aufständischen. Die letzte Militärkampagne zur Rückgewinnung auch dieses Gebiets schien bevorzustehen. Anschließend wäre noch die Frage des Kurdengebiets an der Grenze zur Türkei zu lösen. Ein neuer Konflikt zeichnet sich ab. Trotz verschiedener Reibungspunkte konnten Christen im kurdischen Norden vergleichsweise sicher leben. In den von der Assad-Regierung gehaltenen Gebieten waren sie ebenfalls vor Übergriffen sicher. Für die christlichen Dörfer

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der Provinz Idlib war die Lage wegen des islamistischen Charakters vieler Rebellengruppen sehr prekär. Im Falle eines Angriffs der Regierungsarmee fürchtete man, von den Extremisten als Geiseln behandelt zu werden. Ein Sieg Assads schien den Christen Aussicht auf Sicherheit zu bieten. Es bleibt das Problem der enormen Kosten für den Wiederaufbau und der wirtschaftlichen Erholung des Landes. Ein Drittel der Wohnungen ist zerstört, ebenso Schulen und Krankenhäuser. Das Gesundheitssystem funktioniert nur noch eingeschränkt. Was wird aus den Sanktionen gegen Syrien, wenn sich die Assad-Regierung stabilisiert? Die Fragen nach Freiheit und Würde, die am Anfang des Aufstands standen, wagt heute keiner mehr zu stellen. Integration, gesellschaftliche Teilhabe, Abgrenzung oder Auswanderung? Stellen sich Christen des Nahen Ostens diese Frage so? Fühlen sie sich nicht – vom Sonderfall Libanon einmal abgesehen – von der Mehrheitsgesellschaft, sei sie muslimisch, sei sie jüdisch, ausgegrenzt und von der Teilhabe ausgeschlossen? Ist die Abgrenzung, der Rückzug in eine christliche, assyrische, maronitische, armenische oder koptische Identität nicht die natürliche Reaktion darauf, dass sie an den Rand gedrängt und isoliert werden? Die Schaffung eines geschützten Raums, in dem man ganz Christ sein kann ohne Rücksicht auf die anderen, ohne „schief angeschaut“ zu werden, ohne sich rechtfertigen zu müssen, ist das nicht eine Möglichkeit, christliche Gemeinschaft zu erhalten und Christen von einer Auswanderung in den „christlichen Westen“ abzuhalten? Diejenigen, die sich für ein Miteinander anstelle von Abgrenzung einsetzen, sehen das anders. Der ehemalige melkitische Patriarch Gregorios III. Laham gehört zu denjenigen, die der Meinung sind, dass Christen sich nicht von der muslimischen und der jüdischen Gesellschaft in den Ländern des Nahen Ostens abnabeln dürfen. Er mahnte gegen Ende seiner Amtszeit: „Christus war nicht für sich selbst da, er war für die anderen da. Daran erinnert uns der heilige Paulus. Was bedeutet das für uns? Dass wir Gott dienen sollen und dass wir unseren Geschwistern dienen sollen, um zu ihm [Gott] unterwegs zu sein. Christ sein heißt Märtyrer sein, im Leben und manchmal auch im Tod. Ich spreche hier vom griechischen Sinn des Wortes: Zeuge sein. Man kann nicht Christ sein und es gleichzeitig ablehnen, inmitten derer zu leben, die es nicht sind. Man muss sein Möglichstes geben, um von seiner Liebe und der Wahrheit Zeugnis zu geben. Ein Zeugnis für die Wahrheit, ein „Martyrium“, kann nicht frei von Leiden sein. Es gibt kein Martyrium ohne Märtyrer.“1 Wenn sich Christen von den anderen abgrenzen, so fürchten die Befürworter eines echten Zusammenlebens, entsteht eine Verteidigungshaltung, in der Kreativität, Mut 1 „Le Christ n’était pas pour lui-même, il était pour les autres nous rappelle saint Paul. Qu’est-ce que cela veut dire pour nous? Que nous sommes au service de Dieu, et au service de nos frères pour cheminer vers lui. Être chrétien, c’est être martyr, dans la vie et parfois même dans la mort: je parle ici du sens grec du mot, c’est être témoin. On ne peut être chrétien et refuser de vivre au milieu de ceux qui ne le sont pas pour tenter de témoigner le mieux possible de son amour et de la vérité. Un témoignage pour la vérité, un ‚martyre‘, ne peut être exempt de souffrances … Il n’ya pas de martyre sans martyrs.“ Gregorios III. 2016:122.

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und Optimismus untergehen. Sie setzen sich ein für eine inklusive Gesellschaft, in der alle religiösen, ethnischen und nationalen Gruppen ihren Platz haben. Kulturelle und religiöse Verschiedenheit ist für sie eine Bereicherung, die es wertzuschätzen gilt, auch wenn diese Unterschiedlichkeit im Alltag des Zusammenlebens natürlich auch immer wieder eine Herausforderung ist. Daher gilt es, den anderen kennenzulernen, seine religiösen, kulturellen und nationalen Traditionen, Erzählungen, Überzeugungen und Praktiken zu erforschen und schätzen zu lernen, zumindest aber zu respektieren. Sie sind davon überzeugt, dass jeder seine menschliche Würde und ein Recht auf individuelle Einzigartigkeit hat. Um den Anderen zu verstehen und zu schätzen, so ihre Auffassung, muss man aber auch sich selbst, die eigene Religion und Kultur kennen. Sie wollen Beziehungen über religiöse Grenzen hinweg schaffen oder vertiefen. Vorurteile und negative Stereotypen gilt es zu bekämpfen. Dazu dienen Erziehung, Begegnung, Dialog und partnerschaftliche Zusammenarbeit; aber auch eine tiefere Erforschung der Ursachen. Sie warnen davor, dass dort, wo Menschen durch jahrelange Diskriminierung, blutige Konflikte, Gewalt, Vertreibung, Terror, militärische Besatzung und anderes emotionale und physische Verletzungen zugefügt wurden, oft Hass und Angst entstanden sind, auf persönlicher wie auf kollektiver Ebene. Bevor sich Menschen versöhnen können, ist Heilung – bisweilen auch unter professioneller Anleitung – notwendig. Anders ist Zusammenleben nicht zu erreichen. Soziale und individuelle Gerechtigkeit sehen sie als die Basis für einen dauerhaften Frieden. Spirituelle Solidarität, die ihre Kraft aus der Tradition des jeweils eigenen Glaubens schöpft, kann ihrer Meinung nach diesen Frieden und den Wunsch nach einem partnerschaftlichen Zusammenleben vertiefen.2 Ihnen ist aber auch klar, dass es nicht einfach ist, in einer Welt, wo das Schulsystem seit Jahrzehnten von autokratischen Regierungen geformt wurde, wo eine große Zahl von Menschen ihre Zuflucht bei fundamentalistischen religiösen Vorstellungen sucht und wo Minderheiten und Andersdenkende den Angriffen von Extremisten ausgesetzt sind, Zeugnis zu geben von ihrer Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Es kann zum „Martyrium“ werden, im übertragenen, leider aber auch im wörtlichen Sinne. Für Christen des Nahen Ostens ist es essentiell, dass sie „im Drama unserer Zeit“, wie es in der Einleitung hieß, ihren Glauben bewahren können. Der Glaube gehört zu ihrer Identität, genauso wie das Martyrium und die Angst vor dem Exodus. Was Patriarch Louis Raphaël I. Sako aus Bagdad über die Bereitschaft zum Martyrium der Christen im Irak schreibt, gilt in vielem auch für die Christen der anderen Länder des Nahen Ostens: „Im Irak ist es einfach undenkbar, seinen Glauben aufzugeben. Er ist Teil der Identität des Menschen. Es gibt Grundsätze, die die Christen nicht aufgeben können. Und dann ist da die ganze Geschichte und Tradition unserer Kirche des Irak. Sie ist geprägt vom Martyrium. Im chaldäischen Brevier [dem Stundengebetbuch] gibt 2 Werte, Visionen und Methoden sind den Darstellungen zweier im Text bereits kurz vorgestellter Organisationen entnommen: der Adyan Foundation mit Sitz in Beirut und dem Rossing Center for Education and Dialogue mit Sitz in Jerusalem. Siehe deren Hompages: www.adyanfoundation.org und www.rossingcenter.org (abgerufen am 01.09.2018).

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es für abends und morgens eine Reihe von Hymnen für die Märtyrer. Die Christen des Irak sind davon geprägt. Es ist in ihrem Herzen. Der Glaube ist bei uns nicht spekulativ. Er ist eine Frage der Liebe und der Bindung des Menschen an Christus, die uns wirklich verpflichtet. Man kann sich nicht vorstellen, seinen Glauben zu verlassen. Und wenn es passiert, denn es passiert ab und zu, ist es immer ein Schock. Für uns, im Nahen Osten, ist das sehr schlimm, denn die Religion ist integraler Teil des Menschen, ist ihm einverleibt, er ist davon durchdrungen. Es ist wie das Mehl im Brot. Man kann es nicht herausholen. Es ist ein mystisches Dasein. Für uns Christen ist der Glaube das Höchste, für das wir bereit sind, uns zu opfern. Glauben ist Sein.“3



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3 „En fait, en Irak, il est tout simplement impensable de renier sa foi. Elle fait partie de l’identité de la personne. Il y a des principes auxquels les chrétiens ne peuvent pas renoncer. Et puis il y a toute l’histoire et la tradition de notre Église d’Irak marquée par le martyre. Dans le bréviaire chaldéen, le soir et le matin, il y a une série d’hymnes pour les martyrs. Les chrétiens d’Irak en sont imprégnés. C’est dans leur cœur. La foi chez nous n’est pas spéculative, c’est une question d’amour et d’attachement à la personne du Christ qui nous engage vraiment. On ne peut pas s’imaginer abjurer. Et quand ça arrive, parce que ça arrive de temps en temps, c’est toujours un choc. Pour nous, en Orient, c’est très grave car la religion fait partie intégrante de l’homme, lui est incorporée, il en est comme pétri. C’est comme la farine dans le pain. On ne peut pas l’extraire. C’est une existence mystique. Pour nous chrétiens, la foi est la chose la plus grande pour laquelle on est prêt à se sacrifier. Croire, c’est être.“ Sako 2015:29. 4 Responsorium eines Hymnusʼ Ephraems des Syrers. Edmund Beck (ed.), Des heiligen Ephraem des Syrers Hymnen de virginitate, Louvain: Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium; 233. Scriptores Syri; 94, 1962:1.

Literaturverzeichnis Für die Verifizierung von Bischöfen wurden als Referenzwerke verwendet: Annuario Pontificio, Rom: Libreria Editrice Vaticana, 1860 ff. Orthodoxia, herausgegeben vom Ostkirchlichen Institut Regensburg (1982–2014), seit 2016: Institute for Ecumenical Studies, University of Fribourg Switzerland

Eine Sektion mit Nachrichten aus den einzelnen Ländern und Kirchen des Nahen Ostens enthält: Proche-Orient Chrétien (POC), Jerusalem: Sainte Anne, 1951 ff.

Für die jüngste Geschichte wurden Mitteilungen der folgenden Presseorgane regelmäßig verwendet. Einzelnachweise erfolgen nur bei wörtlichen Zitaten: Asianews = Asianews, Presseorgan des Pontificio Istituto Missioni Estere EPD = Evangelischer Pressedienst Fides = Agenzia Fides, Presseorgan der Päpstlichen Missionswerke KNA = Katholische Nachrichten-Agentur Radio Vatikan Newsletter (bis Dezember 2017)/Vaticannews (seit Dezember 2017)

Verwendete Literatur Die Auflistung der verwendeten Literatur erfolgt thematisch nach den einzelnen Kapiteln. Auf Doppeleintragungen wurde verzichtet. Querschnittsdarstellungen finden sich in der Regel im Abschnitt „Allgemein“. Bisweilen empfiehlt sich die Suche unter einem benachbarten Land (so besonders häufig bei Palästina/Israel und Jordanien).

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