Narrative Polyphonie: Formen von Mehrstimmigkeit in deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Erzähltexten 9783110668810, 9783110640083

The study proposes a descriptive vocabulary to encompass the diverse range of variants of polyphony in narrative texts.

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German Pages 330 [332] Year 2020

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Narrative Polyphonie: Formen von Mehrstimmigkeit in deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Erzähltexten
 9783110668810, 9783110640083

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Stefanie Roggenbuck Narrative Polyphonie

Narratologia

 Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers

Band 70

Stefanie Roggenbuck

Narrative Polyphonie  Formen von Mehrstimmigkeit in deutschsprachigen und anglo-amerikanischen Erzähltexten

An der Bergischen Universität Wuppertal angenommene Dissertation

ISBN 978-3-11-064008-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066881-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066572-7 ISSN 1612-8427

Library of Congress Control Number: 2020934498 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

 Meinen Eltern, Bärbel und Frank Roggenbuck

Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner 2015 an der Bergischen Universität Wuppertal eingereichten Dissertation. Dass dieses Buch im Laufe mehrerer Jahre entstehen konnte, ist nicht zuletzt der Unterstützung einiger Personen und Institutionen zu verdanken. Zuerst möchte ich Prof. Michael Scheffel herzlich danken, der bei der Betreuung meiner Arbeit in jeder Phase sehr hilfsbereit war und mir bei sämtlichen fachlichen Fragen die nötigen Antworten oder Anregungen gegeben hat, um mein Projekt voranzutreiben. Gleich im Anschluss gilt mein Dank Prof. Matías Martínez, der nicht nur das Zweitgutachten meiner Dissertation übernommen hat, sondern mir auch im Anschluss an die Promotion mehrfach die Möglichkeit gegeben hat, als Literaturwissenschaftlerin zu arbeiten und an der Bergischen Universität zu unterrichten. Ebenfalls sehr dankbar bin ich für die langjährige Begleitung meiner Arbeit durch Prof. Jürgen Wolter. Ohne seine fachkundige Beratung und sein stets motivierendes Interesse an meiner Forschung wäre eine vom Grundansatz her komparatistisch angelegte narratologische Studie, wie sie nun hier vorliegt, wohl nicht entstanden. Allen oben genannten Betreuern danke ich für die grundsätzlich angenehme und konstruktive Atmosphäre: Ich habe mich während meiner Promotion auch als Mensch gut aufgehoben gefühlt. Zudem bin ich meiner Universität sehr dankbar, dass mein Projekt zwischenzeitlich durch das Graduiertenstipendium der Bergischen Universität gefördert wurde. Auch soll das von Prof. Michael Scheffel und Prof. Rüdiger Zymner geleitete Doktorandenkolloquium nicht unerwähnt bleiben: Der regelmäßige und zum Teil sehr kritische Austausch mit anderen Doktoranden hat das Reflektieren des Schreibvorgangs und im wörtlichen Sinne auch das ‚Verteidigen‘ der eigenen Arbeit geschult, was sich im Rahmen der Disputatio letztlich als gute Vorübung erwiesen hat. Ebenfalls hatte ich das Glück, dass auch sehr enge Freunde meine Promotion begleitet haben: Hier danke ich Dr. Lukas Werner für unsere über viele Jahre andauernde Freundschaft und seine grundsätzliche Hilfs- und Gesprächsbereitschaft bei allen wissenschaftlichen Fragen. Ähnliches gilt für Dr. Bettina Hofmann, die meine akademische Laufbahn von Beginn an begleitet und mir für meine Arbeit den einen oder anderen freundschaftlichen Rat aus amerikanistischer Perspektive gegeben hat. Auch danke ich Dr. Dominik Orth für die angenehmen Gespräche und die konstruktive Durchsicht meiner Arbeit.

https://doi.org/10.1515/9783110668810-201

VIII  Vorwort

Abschließend gilt mein großer Dank meinen Eltern, die mich stets unterstützt, motiviert und an das Gelingen meiner Dissertation geglaubt haben. Stefanie Roggenbuck

Inhaltsverzeichnis Vorwort  VII Einleitung  1 1

1.7

Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen  9 Die narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ in fiktionalen Erzähltexten  10 Stimmen-Pluralität bei Bachtin: Dialogizität und der polyphone Roman  14 Das Problem des impliziten Autors: Unzuverlässiges Erzählen nach Wayne C. Booth  17 (Kon-)Fusion von ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘: Die erlebte Rede in Erzähltexten  21 Mündliches Erzählen als Polyphonie: Der Skaz-Begriff im russischen Formalismus  26 Ein Sprecher mit zwei ‚Stimmen‘: Das Zitat als intertextuelle Polyphonie  30 Problematisierung der literaturtheoretischen Ansätze  33

2 2.1 2.2 2.3

Grundzüge polyphonen Erzählens  36 Von der Kategorie der ‚Stimme‘ zu Aussageinstanzen  36 Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler  39 Fiktionales und faktuales Erzählen  41

3 3.1

Narrative Polyphonie: Kategorien mehrstimmigen Erzählens  57 Neue Kategorien (1): Polyphone und kollektive narrative Instanz  57 Die polyphone narrative Instanz  58 Beispieltext: Mary E. Wilkins Freeman: „A New England Nun“ (1891)  60 Beispieltext: Leo Perutz: Zwischen neun und neun (1918)  64 Beispieltext: Ambrose Bierce: „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1891)  71 Beispieltext: Daniel Kehlmann: Der fernste Ort (2004)  72 Die zitierend-polyphone narrative Instanz  76 Beispieltext: Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (1988)  78

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

3.1.1 3.1.1.1 3.1.1.2 3.1.1.3 3.1.1.4 3.1.2 3.1.3

X  Inhaltsverzeichnis

3.1.4 3.1.4.1 3.1.4.2 3.1.4.3 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4 4.1

4.2

4.3

Die kollektive narrative Instanz  84 Beispieltext: Friedo Lampe: Am Rande der Nacht (1933)  87 Beispieltext: Friedo Lampe: Septembergewitter (1937)  89 Beispieltext: Zora Neale Hurston: Their Eyes Were Watching God (1937)  95 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme  105 Die polyphone Figurenstimme  105 Beispieltext: Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs (1896)  110 Beispieltext: Paul Auster: City of Glass (1985)  118 Beispieltext: Thornton Wilder: The Skin of Our Teeth (1942)  124 Die kollektive Figurenstimme  129 Beispieltext: Gert Hofmann: Der Blindensturz (1985)  136 Beispieltext: Bertolt Brecht: Die Maßnahme (1930)  142 Beispieltext: Joshua Ferris: Then We Came to the End (2007)  144 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme  153 Beispieltext: Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer (2004)  158 Beispieltext: Edgar Allan Poe: „The Murders in the Rue Morgue“ (1841)  167 Beispieltext: August Wilson: The Piano Lesson (1990)  173 Narrative Polyphonie zwischen Spätaufklärung und Postmoderne  182 Spätaufklärung und Romantik Die Geburt der Stimme aus dem Geiste der Vergangenheit: Zum Abhängigkeitsverhältnis von Historie, Imagination und Polyphonie in Charles Brockden Browns Wieland (1798) und E.T.A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ (1819)  182 Realismus Frauenfiguren im ausgehenden 19. Jahrhundert: Über die Wechselbezüge von Identität und Polyphonie in Theodor Fontanes L’Adultera (1882) und Kate Chopins The Awakening (1899)  203 Moderne Polyphonie als Instrument sozialer Systembildungen: Zur Funktion kommunizierender Gruppen in Arthur Schnitzlers „Der Empfindsame“ (1895) und William Faulkners „A Rose for Emily“ (1930)  228

Inhaltsverzeichnis  XI

4.4

Postmoderne und Gegenwartsliteratur Polyphonie als Ausdruck der (In-)Stabilität von Familienstrukturen. Über das poetologische Prinzip der Mehrstimmigkeit in Toni Morrisons The Bluest Eye (1970) und Marcel Beyers Flughunde (1995)  257

5

Varianten und Anwendungspotenziale narrativer Polyphonie – ein Resümee  288

6

Literaturverzeichnis  307

7

Register  317

Einleitung „Das Kapitel über die Stimme ist zweifellos dasjenige, das für mich die heikelsten Diskussionen ausgelöst hat, vor allem soweit es um die Kategorie der Person geht“,1 räumt Gérard Genette elf Jahre nach seiner bedeutsamen Studie Discours du récit (1972) retrospektiv in seinem Nouveau Discours du récit (1983) ein. Zu Recht verweist er nach einer kritischen Relektüre der eigenen Arbeit auf eine Fragestellung, die innerhalb der Narratologie in ihrer Komplexität bisher noch nicht zufriedenstellend beantwortet worden ist. Die darauffolgenden Anmerkungen zur ‚Stimme‘2 leisten allerdings mit Blick auf die angesprochene Unterkategorie der ‚Person‘ keinen Beitrag zu einem differenzierteren Beschreibungsmodell diverser Erzählinstanzen in fiktionalen Erzähltexten, sondern thematisieren den Gebrauch des Präteritums mit Blick auf seine temporale Funktion.3 Gleichwohl benennt Genette hier den Indikator für ein gleichermaßen systematisches und terminologisches Problem, denn tatsächlich scheinen sich durch seine Verknüpfung von einer den Text organisierenden narrativen Instanz (‚Stimme‘) mit der Vorstellung von einer – wie auch immer gearteten – Person gewisse Einschränkungen für sein Kommunikationsmodell in Erzähltexten zu verbinden, die eine genaue Analyse und Kategorisierung diffiziler Sprechsituationen erschweren, wenn nicht sogar ausschließen. So wurde jüngst in der Einleitung zu dem Sammelband Strange Voices in Narrative Fiction4 konstatiert, dass die Etablierung der Narratologie als einer eigenständigen Forschungsdisziplin zu Beginn der 1970er Jahre weitreichende Konsequenzen für den Blick auf die den Text vermittelnde Instanz gehabt habe. Die Herausgeber verweisen darauf, dass mit dem gesteigerten Interesse an der Strukturierung von Erzählungen die Übernahme eines Kommunikationsmodelles verbunden ist, das von einer den Text generierenden quasi-personalen ‚Stimme‘ ausgeht. Diese Suggestion einer Nähe zwischen literarischem Erzählen und alltagssprachlichen Kommunikationsakten mag zunächst intuitiv einleuchten – schließlich findet in beiden Fällen über das Medium der Sprache eine Mit1 Gérard Genette: Neuer Diskurs der Erzählung. In: Ders.: Die Erzählung. Übersetzt von Andreas Knop. 2. Aufl. München 1998 [EA 1983]. S. 193–298, hier: S. 245. Hervorhebung im Original. 2 Im Zusammenhang mit der narratologischen Kategorie der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz wird der Terminus ‚Stimme‘ im Folgenden grundsätzlich in einfache Anführungszeichen gesetzt. Ohne Anführungszeichen wird der Begriff immer dann verwendet, wenn die Bezeichnung sich mit der Vorstellung von einer Person verbindet, wie z. B. im Falle der Figurenstimmen. 3 Genette, Neuer Diskurs, S. 245. 4 Vgl. Per Krogh Hansen u. a.: „Einleitung“. In: Per Krogh Hansen u. a. (Hg.): Strange Voices in Narrative Fiction. Berlin / New York 2011. Vgl. S. 1–11, hier: S. 1. https://doi.org/10.1515/9783110668810-001

2  Einleitung

teilung statt, bei welcher ein Sender einem Empfänger eine Information zukommen lässt. Eine solche einfache Übertragung vernachlässigt allerdings den besonderen Status schriftlicher Texte und die sich damit verknüpfenden besonderen Qualitäten, über die eine narrative Instanz innerhalb fiktionaler Erzähltexte verfügt.5 Gérard Genette hatte bekanntermaßen den Ort der Wahrnehmung (‚Fokalisierung‘) von der Äußerungsinstanz (‚Stimme‘) in Erzählungen unterschieden und auf diese Weise vor allem den unterschiedlichen Möglichkeiten der perspektivischen Gestaltung innerhalb der Literatur Rechnung getragen. Mit Blick auf das Potenzial der Vermittlungsinstanz erweist sich das Modell allerdings als ergänzungsbedürftig, da es ausschließlich die Formen des Erzählens erfasst, die sich – ungeachtet ihrer speziellen Möglichkeiten innerhalb der Fokalisierung – mit einer quasi-personalen ‚Stimme‘ in Einklang bringen lassen. Eine solche Restriktion wird aber einer Vielzahl von Texten nicht gerecht, die sich bei ihren stimmlichen Konstruktionen der besonderen Gestaltungsmöglichkeiten literarischen Erzählens bedienen und deren Aussageinstanzen dadurch gerade nicht an die raumzeitlichen Bedingungen realen Sprechens gebunden sind. Zu eben dieser privilegierten Form der stimmlichen Gestaltung gehört das Phänomen der Polyphonie, das eine große Zahl fiktionaler Erzähltexte auf je verschiedene Weise durchzieht und sich in seinen speziellen Ausprägungen als ein besonderes Merkmal schriftlichen Erzählens erweist. Die verbale Kommunikation im Alltag, d. h. ein Erzählen, das an einzelne sich äußernde Personen mit den jeweiligen physiologischen Bedingungen gebunden ist, weist eine grundsätzliche Identität von Produktionsort und Artikulationsort der Stimme auf. Eine Konsequenz dieser untrennbaren Verquickung besteht darin, dass jede menschliche Stimme in ihrer körperlichen Gebundenheit einzigartig und somit weder austauschbar noch – und das ist für die Frage nach einer potenziellen Polyphonie von signifikanter Bedeutung – durch eine fremde artikulierte Stimme erweiterbar ist. Salopp formuliert: Wo die körpereigene Stimme spricht, da kann keine zweite Stimme sprechen, jedenfalls nicht im Sinne einer Stim5 Hierzu gehören insbesondere die personale Erzählweise, d. h. die Möglichkeit, über die interne Fokalisierung das Geschehen aus der Perspektive einer Figur zu schildern, ohne dass diese erzählt; das Prinzip des erzählten Erzählens, das seinen eigenen narrativen Status reflektiert und schließlich die hier fokussierte Kategorie der narrativen ‚Stimme‘, die in ihrem Erzählen grundsätzlich nicht an die raumzeitlichen Bedingungen des Erzählens im Alltag gebunden ist. Zu den spezifischen Unterschieden zwischen dem literarischen Erzählen und dem Erzählen im Alltag vgl. Michael Scheffel: „Erzählen als anthropologische Universalie: Funktionen des Erzählens im Alltag und in der Literatur“. In: Manfred Engel / Rüdiger Zymner (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004. S. 121–138.

Einleitung 

3

menüberlagerung.6 Grundsätzlich anders verhält sich die Frage nach einer möglichen Mehrstimmigkeit im Medium der Schrift, da hier eben keine Identität von Produktionsort und Artikulationsort der ‚Stimme‘ besteht und somit auch keine grundsätzliche Einstimmigkeit gegeben ist. Theoretisch ist eine potenzielle Polyphonie also ein mögliches Kennzeichen jeder schriftlichen Narration, von der Gebrauchsanweisung eines technischen Gerätes bis hin zu einem Werbeprospekt für Urlaubsreiseziele. In der Praxis allerdings findet sich das Phänomen der Polyphonie vor allem in fiktionalen Erzähltexten realisiert und zugleich auch durch die verschiedenen Formen möglicher Aussageinstanzen potenziert. So verfügt beispielsweise in literarischen Texten die Textfunktion der narrativen Instanz über die Möglichkeit, mehrere Aussageinstanzen gleichwertig nebeneinander zu integrieren, eine Fähigkeit, die gerade in der zuvor beschriebenen Absenz einer körperlichen Anbindung samt ihrer damit verbundenen Restriktionen begründet liegt. Zusammengefasst bedeutet das: Mehrstimmigkeit innerhalb einer Aussageinstanz, die durch ein Nebeneinander von verschiedenen ‚Stimmen‘ erzeugt wird, ist ein Merkmal, das das schriftliche Erzählen grundsätzlich von dem mündlichen Erzählen unterscheidet. De facto ausgeschöpft wird dieses Privileg der Stimmengestaltung aber weniger in Alltagstexten als vielmehr in fiktionalen Erzähltexten, die über eine besondere Bandbreite an Aussageinstanzen verfügen. Wenngleich das Phänomen aus narratologischer Perspektive noch nicht dezidiert aufgearbeitet worden ist, weist der Terminus „Polyphonie“ doch bereits eine längere Rezeptionsgeschichte auf. Ursprünglich im Bereich der Musikgeschichte etabliert, setzt sich der Begriff „Polyphonie“ aus den griechischen Wörtern poly (viel, mehr) und fonè (Stimme) zusammen und lässt sich mit „Mehrstimmigkeit“ übersetzen.7 In einer möglichst engen Bedeutung verstanden, bezieht sich das Kompositum auf jede Komposition, die für mehr als eine einzelne Stimme verfasst worden ist, wobei die Anfänge polyphoner Musikfragmente bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen und religiösen Ursprungs sind.8 Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat Michail M. Bachtin den Terminus im Zuge seiner Studien 6 In der mündlichen Kommunikation wie auch in der Kommunikation der Figurenstimmen in Erzähltexten – die hier als eine Form imitierter Mündlichkeit verstanden werden – wird die Mehrstimmigkeit über die Verwendung von Zitaten konstruiert. In dem Kapitel zu den Figurenstimmen wird diese Form der Polyphonie näher erläutert. 7 Für einen Überblick zur Genese des Terminus vgl. meinen Aufsatz „Zeit und Polyphonie. Zum Verhältnis verdoppelter Zeit und verdoppelter ‚Stimmen‘ in Erzähltexten von Leo Perutz und Ambrose Bierce“. In: Antonius Weixler / Lukas Werner (Hg.): Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen. Berlin / Boston 2015. S. 407–428. 8 Vgl. Ignace Bossuyt: Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso. Übers. v. Horst Leuchtmann. Zürich / Mainz 1994.

4  Einleitung

zur Poetik Fjodor Dostojewskis in die Literaturwissenschaft eingeführt.9 Sein Begriffsverständnis, das auf der Vorstellung eines „zweistimmigen Wortes“10 basiert, hat sich zweifelsohne als das gängigste innerhalb der Literaturtheorie etabliert; ergänzend lässt sich aber eine beachtliche Anzahl weiterer Verwendungsweisen auf diesem Feld konstatieren, die von Bachtins Auffassung deutlich abweichen. Wenngleich sich einzelne Übertragungen auf die Gattungen Dramatik und Lyrik finden,11 so hat die starke Konnotation des Begriffes mit einer besonderen Konzeption der Erzählinstanz doch dazu geführt, dass häufig im Zusammenhang mit epischen Texten von Polyphonie gesprochen wird. Als gattungsunabhängig erweist sich eine Begriffsbestimmung, die das Phänomen der Mehrstimmigkeit an Mehrsprachigkeit und Übersetzungsprozesse koppelt: Aus dieser Perspektive ist Polyphonie dann kein Merkmal, das durch die besondere Erzählstruktur des Textes bedingt ist, sondern die ‚Stimmverdopplung‘ findet erst durch die Übersetzung in eine andere Sprache statt. Mit anderen Worten: Nicht der Text selbst ist polyphon, sondern erst der aktive Umgang mit ihm und die Translation in eine andere Sprache lassen ihn mehrstimmig werden, so dass Polyphonie an dieser Stelle zu einem Produkt der Performanz wird.12 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Tobias Wilke, der im Zuge seiner Ausführungen zu Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesungen Polyphonie als eine „Auftrittsweise“ der Stimme13 begreift, die er durch integrierte Zitate sowohl in Bachmanns Habitus ausmacht als auch in ihrem literarischen Werk realisiert sieht; dieses Konzept verbindet also den Gedanken einer aktiven Konstruktion von Polyphonie mit dem Konzept der Intertextualität. Auf die heterogenen Verwendungsweisen des Terminus wurde jüngst auch aus einer Metaperspektive hingewiesen. So verweisen Marion Grein, Miguel Souza und Svenja Völkel im Rah-

9 Vgl. Michail M. Bachtin: „Das Wort im Roman“. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes [EA 1923]. Übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979. S. 154–300. 10 Vgl. ebd, S. 213. 11 Für die Gattung der Lyrik vgl. z. B. den Sammelband von Jan Röhnert u. a. (Hg.): Lyrik im Spannungsfeld von Authentizität und Polyphonie. Heidelberg 2008. Für dramatische Texte vgl. z. B. den Aufsatz von Peter Diezel: „Narrativik und die Polyphonie des Theaters“. In: Eberhard Lämmert (Hg.): Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin 1999. S. 53– 71. 12 Vgl. in diesem Zusammenhang Johann Strutz / Peter V. Zima (Hg.): Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen 1996. Ebenfalls hierzu: Christa Baumberger u. a. (Hg.): Literarische Polyphonien in der Schweiz. Bern 2004. 13 Tobias Wilke: „Auftrittsweisen der Stimme. Polyphonie und/als Poetologie bei Ingeborg Bachmann“. In: Caitríona Leahy / Bernadette Cronin (Hg.): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Würzburg 2006. S. 255–266.

Einleitung



5

men ihrer Studie zu Polyphonie, Intertextualität und Intermedialität14 auf die „Problematik der zahlreichen (eventuell sogar widersprüchlichen) Definitionen und Klassifikationen“,15 zugleich bewerten sie dieses Spannungsfeld aber auch als heuristisch fruchtbar und anregend. Als Status quo haben sich in der Literaturwissenschaft zwei Ansätze dauerhaft durchgesetzt, die mit dem Begriff der Polyphonie primär in Verbindung gebracht werden: Michail Bachtins theoretische Überlegungen zum „zweistimmigen Wort“ und Roy Pascals Theorie der Dual Voice.16 Der in der vorliegenden Arbeit entwickelte Ansatz basiert auf einem Begriffsverständnis der Polyphonie, das die Mehrstimmigkeit innerhalb der Aussageinstanz auf einer narrativen Ebene erfasst. Mit anderen Worten: Fokussiert werden Formen der Mehrstimmigkeit, die innerhalb der jeweiligen Aussageinstanz angelegt sind und nicht durch eine interpretatorische Rückkopplung an außertextuelle Größen wie den historischen Autor (Bachtin) oder durch eine Verquickung von Erzählerrede und Figurenwahrnehmung (Pascal) zustande kommen.17 Somit besteht ein Ziel dieser Arbeit darin, eine Typologie bestimmter Formen polyphonen Erzählens zu entwickeln, die zum einen dazu verhilft, verschiedene Varianten von Aussageinstanzen systematisch zu unterscheiden. Zum anderen soll sich diese Einteilung aber nicht in dem strukturalistischen Grundbedürfnis erschöpfen, bestimmte Phänomene lediglich in Kategorien zu sortieren: Die Möglichkeit einer differenzierteren Beschreibung der Sprechinstanz wird grundsätzlich an den Anspruch geknüpft, den dazugehörigen Erzähltext auf eine neue Weise lesen und interpretieren zu können. Der erste Block polyphoner Sprechinstanzen innerhalb der Typologie widmet sich in Erweiterung von Genette ausschließlich Formen der Mehrstimmigkeit innerhalb der narrativen Instanz, deren bisher zur Verfügung stehendes Beschreibungsinstrumentarium einer Ausdifferenzierung bedarf, um den besonderen Möglichkeiten schriftlich-fiktionalen Erzählens Rechnung zu tragen. Mit Blick auf die Figuren muss ein verändertes Verständnis von Stimme zugrunde

14 Marion Grein u. a. (Hg.): Polyphonie, Intertextualität und Intermedialität – ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Aachen 2010. 15 Ebd., S. 7. 16 Vgl. hierzu: Roy Pascal: The Dual Voice. Free indirect speech and its functioning in the nineteenth-century European novel. Manchester 1971. Vgl. zudem: Lucia Salvato: Polyphones Erzählen. Zum Phänomen der Erlebten Rede in deutschen Romanen der Jahrhundertwende. Bern 2005. Ebenfalls hierzu: Nina Kolesnikoff: „The Polyphony of Narrative Voices in ‚Placha‘“. In: Russian Literature 28 (1990), S. 33–44. 17 Die einzige Ausnahme stellt hierbei das Phänomen der Intertextualität im Sinne Gérard Genettes dar: Hier greift die zitierende Stimme ausdrücklich auf eine fremde Stimme als Urheber des Zitats zurück.

6  Einleitung

gelegt werden. Denn anders als die narrative Instanz – die nun gerade durch die Entkoppelung von der Vorstellung von einer Person ihre spezifischen Qualitäten gewinnt – folgen die Figuren als quasi-realistische Entitäten einem anderen Konzept, das sich auch in der Stimme niederschlägt. Denn sieht man von speziellen Genres wie z. B. dem Märchen oder dem Fantasy-Roman einmal ab, in denen Figuren über spezielle, d. h. übernatürliche Fähigkeiten verfügen, handelt es sich bei den agierenden Figuren um literarische Konstrukte, die in ihren Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten auf das limitiert sind, was der Rezipient aus seiner lebensweltlichen Erfahrung von sich und anderen Menschen auch kennt. Figuren, so lässt sich zusammenfassen, sind in der Regel als literarische Konstrukte von Personen konzipiert und verfügen folglich über andere Möglichkeiten mehrstimmigen Erzählens als die narrative Instanz. Als erste Form der Polyphonie ist an dieser Stelle das direkte Zitieren zu nennen, das in Analogie zu den Zitaten in alltagssprachlichen Erzählungen die Worte eines fremden Urhebers in die eigene Stimme integriert.18 Ergänzend hierzu ist Mehrstimmigkeit auch in einem Kollektiv möglich, das die Stimmen mehrerer Figuren zu einer gemeinsamen Aussageinstanz vereint. Einen Sonderfall stellen diejenigen Stimmen dar, die von einzelnen Figuren als Aussageinstanzen rezipiert werden, die aber de facto nicht als Gesprächspartner innerhalb der erzählten Welt angelegt sind. Hier steht die Mehrstimmigkeit grundsätzlich in einem engen Zusammenhang mit der psychologischen Konzeption derjenigen Figur, welche die Stimme zu hören vermeint. Die Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes der Kategorie der (extradiegetischen) ‚Stimme‘ auf die innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren19 schlägt eine Brücke zu einer Qualität, die dem Erzählen per se zukommt. Denn bei der Organisation von Narrationen handelt es sich um eine „anthropologische Universalie“,20 die das Thema der Stimme – und folglich auch der Mehrstimmigkeit – als ein grundsätzlich soziales Phänomen entlarvt, das den Zusammenhalt von Gesellschaften strukturiert und über den Augenblick hinaus sichert. Der speziell auf die Figurenstimmen gerichtete Fokus verbindet nun den Bereich des fiktionalen Erzählens mit dem genuin menschlichen Interesse an Erzählungen, bei welchem offensichtlich die Bindung an einzelne (oder mehrere) intradiegetische Figuren für den Rezipienten von zentralem Interesse 18 Das Einfügen von Zitaten ist freilich kein Privileg von Menschen bzw. Figuren und kommt auch – wie im Kapitel zur Polyphonie der narrativen Instanz dargestellt – bei extradiegetischheterodiegetischen Aussageinstanzen vor. Dort findet es sich allerdings deutlich seltener als bei den Figurenstimmen, für die es den Regelfall mehrstimmigen Erzählens darstellt. 19 Das innerhalb der Narratologie derzeit gültige Modell der ‚Stimme‘ nach Gérard Genette bezieht sich ausschließlich auf die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz. 20 Vgl. Michael Scheffel, „Erzählen als anthropologische Universalie“, S. 121.

Einleitung 

7

ist. Fotis Jannidis charakterisiert das Verhältnis folgendermaßen: „Für den Leser und das Lesen spielen Figuren eine besondere Rolle. Leser bewundern und verabscheuen Figuren, sie fühlen mit ihnen und sie imitieren sie im wirklichen Leben.“21 Folgt man nun dieser Einschätzung und geht von einer gesteigerten Aufmerksamkeit des Rezipienten für die Figuren aus, so liegt die Vermutung nahe, dass eben nicht nur deren Handlungsweisen, sondern auch ihre Äußerungen – und somit auch jegliche Form polyphoner Äußerungen – für den Leser von Interesse sind. Auf der Rezipientenseite werden folglich Interpretationen provoziert, welche die Sprache bzw. den dargestellten kommunikativen Austausch als ein soziales Phänomen betrachten, aus dem ein gewisser Lerneffekt hervorgehen kann.22 Das polyphone Erzählen erscheint demnach aus verschiedenen Perspektiven als ein heuristisch fruchtbares und vielversprechendes Thema. Die im Folgenden unter dem Oberbegriff der Aussageinstanz subsumierten Kategorien der narrativen Instanz und der Figurenstimme(n) befriedigen auf je spezifische Weise ein grundlegendes Interesse des Menschen als einem „fiktionsbedürftigen Wesen“23 an Geschichten. Legt man dieses anthropologische Basisbedürfnis zugrunde, so erweisen sich die zuvor herausgearbeiteten Spezifika literarischen Erzählens auf eine doppelte Weise als reizvoll für den Rezipienten. Auf der Ebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz werden im Folgenden Aussageinstanzen analysiert, die als spezifisch fiktionale Aussageinstanzen von der Entkoppelung einer Vorstellung von einer Person profitieren: Auf diese Weise vermögen sie Sprechsituationen zu simulieren, die in der außerfiktionalen Realität de facto unmöglich sind. Mit Blick auf die Figurenstimmen kommt bei der Rezeption ein sozialpsychologischer Wert hinzu, da die Lektüre ein „mentales Probehandeln“24 ermöglicht, das den Rezipienten aus einer sicheren Position heraus – wenn auch passiv – an einem simulierten Geschehen teilhaben lässt und so Rückschlüsse auf eigene Verhaltensweisen gezogen werden können. Zusammengefasst bedeutet dies: Das schriftlich-fiktionale Erzählen bietet eine spezielle Bandbreite möglicher Erzählinstanzen, die für das fiktionsbedürftige Wesen Mensch in doppelter Hinsicht interessant sein dürften, indem entweder von der narrativen Instanz Sprechakte simuliert werden, die in der Alltagskommunikation unmöglich sind, oder indem polyphone Figuren samt ihrer Dialoge präsentiert werden, aus denen der Rezipient aufgrund einer be21 Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin / New York 2004. S. 229. 22 Zu diesem Aspekt vgl. ebenfalls Michael Scheffel, „Erzählen als anthropologische Universalie“, S. 131. 23 Ebd., S. 137. 24 Ebd., S. 134.

8  Einleitung

stimmten sich vollziehenden Identifikation wertvolle Rückschlüsse auf die eigene Lebensbewältigung ziehen kann. Offensichtlich betrifft die Frage nach den einzelnen Formen von Polyphonie in Narrationen verschiedene Themenbereiche, die sowohl die Disziplin der Narratologie als auch grundsätzliche Fragen der Fiktionalitätstheorie berühren. Was also genau charakterisiert eine Aussageinstanz innerhalb fiktionaler Erzähltexte und welche Merkmale verhelfen dazu, sie grundsätzlich von faktualen Stimmen zu unterscheiden? Durch welche Privilegien ist die mehrstimmige narrative Instanz im Vergleich zu den polyphonen Figurenstimmen gekennzeichnet? Und schließlich: Lassen sich aus literaturhistorischer Sicht epochenspezifische Besonderheiten in den Varianten der Polyphonie ausmachen, die bestimmte Rückschlüsse auf das jeweilige Zeitalter erlauben? Ausgehend von der These, dass das bisher innerhalb der Narratologie gültige Modell zur Kategorie der ‚Stimme‘ mit Blick auf diverse Varianten der Mehrstimmigkeit ergänzungsbedürftig ist, werden zunächst verschiedene literaturtheoretische Ansätze vorgestellt, die der Frage nach einer potenziellen narrativen Polyphonie nachgehen. Anschließend versucht die vorliegende Studie zunächst anhand einer Vielzahl ausgewählter Texte aus der deutschsprachigen und amerikanischen Literatur Antworten auf die zuvor gestellten Fragen zu finden und ein systematisches Beschreibungsvokabular zu erstellen, das eine differenziertere Benennung einzelner Sprechsituationen in Erzähltexten erlaubt. Es werden exemplarisch zwei verschiedene Nationalphilologien in den Fokus gerückt, da es sich bei dem Phänomen der Polyphonie um eine grundsätzliche, d. h. somit auch transnationale Erzählweise handelt, die ein potenzielles Merkmal schriftlich-fiktionaler Narrationen darstellt. Im zweiten Teil soll dann die erarbeitete Typologie anhand einer Reihe komparatistischer Analysen erprobt werden, die deutschsprachige und amerikanische Erzähltexte aus literaturhistorischer Sicht von der Spätaufklärung bis zur Gegenwartsliteratur analysiert und die die erarbeitete Typologie verschiedener Formen polyphonen Erzählens für die jeweiligen Vergleiche interpretatorisch fruchtbar macht.

1 Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen Im Anschluss an die von Gérard Genette in Discours du récit (1972) und Nouveau Discours du récit (1983) getroffene Differenzierung zwischen dem Ort der Wahrnehmung (‚Fokalisierung‘) und der Vermittlungsinstanz des narrativen Diskurses (‚Stimme‘) ist letztere als „zentrale Kategorie der Erzähltextanalyse“1 zunehmend in das Blickfeld einer narratologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft gerückt. Mit Blick auf bestimmte Formen von Mehrstimmigkeit innerhalb literarischer Texte erweist sich der Ansatz Genettes allerdings als defizitär, da die Möglichkeit von nebeneinander existierenden oder einander überlagernden ‚Stimmen‘ nicht in Betracht gezogen wird. Im Folgenden sollen nun literaturtheoretische Ansätze besprochen werden, welche sich auf verschiedene Weise dem Problem potenzieller Mehrstimmigkeit2 in Erzähltexten nähern. Um den Stimmbegriff Genettes weiterzuentwickeln, stehen hierbei zunächst die extradiegetische Erzählinstanz3 und die Frage im Vordergrund, ob sich der jeweilige theoretische Zugriff auf eine bestimmte, innerhalb der Narratologie bisher vernachlässigte Variante der Mehrstimmigkeit anwenden lässt, die durch ein Nebeneinander zweier (oder mehrerer) ‚Stimmen‘ innerhalb einer Erzählinstanz konstituiert wird und welche an dieser Stelle als narrative Polyphonie bezeichnet werden soll. Eine erste hilfreiche Ergänzung zu dem sehr schematischen Konzept Genettes könnte der Zugriff Michail Bachtins bieten, der sich über seine Konzepte der Dialogizität und des polyphonen Romans der Frage nach Stimme(n) in fiktionalen Texten aus literaturtheoretischer Sicht nähert. Anschließend wird der Terminus des unzuverlässigen Erzählers nach Wayne C. Booth diskutiert, welcher die bisher vernachlässigte Frage aufwirft, ob sich die narrative Instanz innerhalb eines Textes sowohl zuverlässig als auch unzuverlässig äußern kann, und wenn ja, wie bzw. ob diese Form einer doppelten ‚Stimme‘ mittels einer Analyse der

1 Andreas Blödorn u. a.: „Einleitung“. In: Andreas Blödorn u. a. (Hg.): Stimme(n) im Text. Berlin / New York 2006. S. 1–7, hier: S. 1. 2 Die Begriffe Polyphonie und Mehrstimmigkeit werden synonym verwendet. 3 Genette äußert sich in seinem Discours du récit ausschließlich zu der extradiegetischen Erzählinstanz, so dass im Folgenden die literaturtheoretischen Ansätze ausschließlich zu diesem Konzept von ‚Stimme‘ in ein Verhältnis gesetzt werden. Im Anschluss an die Weiterentwicklung des Genetteschen Analyseinstrumentariums werden auch verschiedene Varianten intradiegetischer Stimmen auf Formen von Polyphonie hin untersucht und erstmalig für ein erzähltheoretisches Beschreibungsvokabular fruchtbar gemacht. https://doi.org/10.1515/9783110668810-002

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in dem Text angelegten Voraussetzungen4 erschlossen werden kann. Als nächster Ansatz wird die erlebte Rede in Erzähltexten beleuchtet und untersucht, ob und inwiefern der Einfluss der Stimme einer Figur auf die Erzählerstimme tatsächlich als ein gleichwertiges ‚Stimmen‘-Pendant auf der Ebene der narrativen Instanz gewertet werden kann. Im Anschluss wird das aus der russischen Literaturtheorie stammende Skaz-Konzept fokussiert, welches – nicht unähnlich dem Ansatz von Bachtin – von einer zugleich expliziten und impliziten Botschaft der Erzählinstanz ausgeht, so dass es zu überlegen gilt, ob hier eine Variante von Mehrstimmigkeit innerhalb einer Erzählebene vorliegt. Abschließend wird der literaturtheoretische Terminus der Intertextualität erläutert und mit Rückgriff auf das Begriffsverständnis Gérard Genettes für eine narratologische Kategorisierung fruchtbar gemacht.

1.1 Die narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ in fiktionalen Erzähltexten Um die narrative Instanz literarischer Texte erschließen zu können, gibt Genette an, dass diese zunächst „im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat“,5 zu untersuchen sei. Die „Produktionsinstanz des narrativen Diskurses“6 wird also als außertextuell verstanden und Genette schlägt drei verschiedene Kriterien für die ‚Spurensuche‘ nach ihr vor: Die Zeit der Narration, die narrative Ebene und die Kategorie der Person, worunter das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten und gegebenenfalls auch die Relation des narrativen Adressaten zur erzählten Geschichte fallen.7 Die Zeit der Narration betrifft das Verhältnis der narrativen Instanz zur erzählten Geschichte. Genette differenziert hier zwischen vier verschiedenen Narrationstypen: Die spätere Narration, die frühere Narration, die gleichzeitige Narration und die eingeschobene Narration.8 Während sich die ersten drei Möglichkeiten vergleichsweise unkompliziert gestalten, wird die letztgenannte Variante als die diffizilste Form des Erzählens hervorgehoben, „da es sich um eine Narra4 Gemeint ist hier wohl die narrative Struktur im Sinne Genettes, zugleich aber auch kontextuelle Bezüge wie z. B. intertextuelle Verweise mittels Zitaten. Mein Ansatz sieht also die Einbettung des untersuchten Textes in bestimmte Kontexte vor, lässt aber die außertextuelle Produktions- und Rezeptionsinstanz ausdrücklich außer Acht. 5 Genette: Die Erzählung, S. 152. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 153. 8 Ebd., S. 154 f.

1.1 Die narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ in fiktionalen Erzähltexten 

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tion mit mehreren Instanzen handelt und da sich die Geschichte und die Narration hier dergestalt verwickeln können, dass letztere auf erstere reagiert“.9 Als Beispiel hierfür wird nun der Briefroman angeführt, dessen besonderer Reiz nach Genette in der Diskrepanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich besteht, so dass der Sprecher10 zwar durchaus noch von dem Erlebten geprägt sein kann, zugleich aber das eigene Handeln aus einer gewissen – zumindest zeitlichen – Distanz heraus betrachtet.11 Als nächste Kategorie für eine nähere Bestimmung der narrativen Instanz wird die narrative Ebene genannt. Grundlegender Gedanke hierbei ist, dass innerhalb einer Erzählung eine oder mehrere Geschichten erzählt werden können, welche dann aber im Verhältnis zur Rahmengeschichte auf einer anderen Ebene positioniert sind. Genette definiert hier folgendermaßen: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist“.12 Entscheidend für die Benennung der narrativen Ebene einer (Binnen-)Erzählung ist also, dass diese stets in einem relationalen Verhältnis zu der narrativen Instanz einer ersten Erzählung steht, welche „per definitionem extradiegetisch [ist]“,13 so dass sich für eine Erzählinstanz zweiter Stufe die Bezeichnungen diegetisch,14 für eine Erzählinstanz dritter Stufe metadiegetisch, für eine Erzählinstanz vierter Stufe meta-metadiegetisch usw. ergeben. Die Möglichkeit eines Wechsels zwischen narrativen Ebenen wird klar definiert: Der Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen kann prinzipiell nur von der Narration bewerkstelligt werden, einem Akt, der genau darin besteht, in einer bestimmten Situation erzählend – durch einen Diskurs – eine andere Situation zu vergegenwärtigen. Jede andere Übergangsform ist, wenn nicht überhaupt unmöglich, so doch zumindest eine Art Transgression. […] Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrati9 Ebd., S. 155. 10 Den Begriff ‚Sprecher‘ verwende ich an dieser Stelle im Sinne von ‚sich Mitteilender‘, d. h. ich unterscheide an dieser Stelle nicht zwischen mündlicher und schriftlicher Artikulation. Insofern wird auch der von Genette als Beispiel genannte Briefschreiber innerhalb eines Textes (vgl. Genette, S. 155 f.) als ‚Sprecher‘ unter meiner Definition von Stimme subsumiert. Ausführlich zur Thematik eines metaphorischen Stimmbegriffs vgl. Andreas Blödorn / Daniela Langer: „Implikationen eines metaphorischen Stimmbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette“. In: Blödorn u. a. (Hg.): Stimme(n) im Text. Berlin / New York 2006. S. 53–82. 11 Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 155 f. 12 Ebd., S. 163. 13 Ebd. 14 Als Synonym wird zu einer besseren Unterscheidung auch der Begriff ‚intradiegetisch‘ verwendet, vgl. hierzu Matías Martínez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Aufl. München 2012. S. 79.

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ven Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) […] zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist, […] mal phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, daß er alle diese Transgressionen abdeckt.15

Hieraus ergibt sich, dass die narrative Metalepse nach Genettes Definition aufgrund ihrer „bizzare[n] Wirkung“ (s. o.) niemals unbemerkt bleiben kann, sondern die Erzählstruktur des Textes auf irritierende Weise in den Vordergrund gerückt wird. Für die Kategorie der ‚Person‘ benennt Genette zunächst zwei Möglichkeiten, die sich dem Verfasser eines Textes für die Gestaltung der Erzählsituation bieten: „Er kann die Geschichte von einer ihrer ‚Personen‘ […] erzählen lassen oder von einem Erzähler, der selbst in dieser Geschichte nicht vorkommt“.16 Den erstgenannten Typus bezeichnet er als homodiegetisch, den zweiten als heterodiegetisch. Den Sonderfall des homodiegetischen Erzählers stellt der autodiegetische Erzähler dar, der nicht nur Teil der erzählten Geschichte ist, sondern auch deren Hauptfigur darstellt. Zugleich definiert Genette den pragmatischen Status der jeweiligen Narrations- bzw. Kommunikationstypen, indem den einzelnen Sprechern auch ein narrativer Adressat zugeordnet wird: Zum intradiegetischen Erzähler gehört ein intradiegetischer narrativer Adressat, […] der extradiegetische Erzähler hingegen kann nur auf einen extradiegetischen narrativen Adressaten zielen, der hier mit dem virtuellen Leser zusammenfällt, mit dem sich dann jeder reale Leser identifizieren kann.17

Das von Genette entworfene Analysemodell zur ‚Stimme‘ ist jedoch bekanntermaßen umstritten und provoziert Widerspruch. Vor allem die eingangs zitierte Kopplung von ‚Stimme‘ und ‚Person‘ bildet die Grundlage einer Diskussion, in welcher Genette in erster Linie von Vertretern des Poststrukturalismus und der Linguistik18 angegriffen worden ist. Im Vordergrund steht hier die Kritik aus poststrukturalistischer Sicht, zur Personifizierung eines „dominanten Aussagesubjekts im Text beizutragen und so ein zentralistisches Textverständnis zu befördern“,19 wie Andrew Gibson bemängelt:

15 16 17 18 19

Genette, Diskurs, S. 167 f. Ebd., S. 175. Ebd., S. 187. Vgl. hierzu Blödorn u. a. (Hg.): Stimmen, S. 3 ff. Ebd., S. 3.

1.1 Die narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ in fiktionalen Erzähltexten 

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For Genette, what matters most is the idea of voice as the ‘final instance’ governing narrative […]. In Gennetian narratology, voice is actually the ultimate ‘fixed point’ to which other aspects of narrative can be referred.20

Von Seiten der Linguisten wird der Vorwurf erhoben, dass es sich bei fiktionalen Erzähltexten grundsätzlich nicht um einen Kommunikationskontext handele. So argumentiert Ann Banfield: For it is in the language of narrative fiction that literature departs most from ordinary discourse and from those of its functions which narrative reveals as separable from language itself. In narration, language attains the fullest exploitation of its possibilities and reaches their limits. […] All this comes down to the fact that in narrative, subjectivity or the expressive function of language emerges free of communication and confronts its other in the form a sentence empty of all subjectivity.21

Als Konsequenz, so lässt sich schlussfolgern, könnte aus linguistischer Sicht die Kategorie der ‚Stimme‘ gänzlich getilgt werden – denn wo weder ein Aussagesubjekt noch ein Kommunikationskontext vorhanden sind, kann es aus logischer Sicht keine – wie auch immer geartete – Form der ‚Stimme‘ geben.22 Doch auch aus dem Blickwinkel einer an Textstrukturen orientierten Erzähltheorie, innerhalb welcher Genettes Kategorie der ‚Stimme‘ ja bekanntlich auf breite Akzeptanz gestoßen ist, ergibt sich ein weiteres wichtiges Problem, welches bisher noch nicht im Fokus der Kritik stand: Die Absenz einer als mehrstimmig gedachten narrativen Instanz innerhalb seines Modells, für die mindestens eine zweite, potenziell aber auch n-fache sich zu dem erzählten Geschehen äußernde ‚Stimme‘ konstitutiv ist. Dieser Punkt hängt maßgeblich mit der Genetteschen Anbindung des Stimmbegriffs an die Vorstellung von einer Person zusammen, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird. Für die narratologische Analyse einer Reihe fiktionaler Erzähltexte gestaltet sich diese Einschränkung des Genetteschen Beschreibungsvokabulars auf den ersten Blick folgenlos. Das gilt auch in den Fällen, in denen sich eine vermeintliche Mehrstimmigkeit als interne Fokalisierung herausstellt: Hierbei handelt es sich nicht um eine Variante narrativer Polyphonie, sondern um die Verquickung der Erzählerstimme mit der Perspektive einer Figur. Die weitere Haltung zu dem Geschehen befindet sich also nicht als zweite ‚Stimme‘ auf der Ebene der narrativen Instanz, sondern es handelt sich um genau jene Besonderheit fiktionaler Erzähltexte, welche Genette durch seine Differenzierung zwischen den 20 Andrew Gibson: Towards a Post Modern Theory of Narrative. Edinburgh 1996. S. 144. 21 Ann Banfield: Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction. Boston / London 1982. S. 10. 22 Vgl. hierzu auch Blödorn u. a. (Hg.), Stimmen, S. 3.

14  1 Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen

Fragen ‚wer sieht?‘ und ‚wer spricht?‘ aufgreift und für die literaturwissenschaftliche Analyse beschreibbar macht. Als unzureichend erweist sich sein Modell jedoch, wenn die Spuren der narrativen Instanz Rückschlüsse auf eben nicht nur eine Erzählerstimme zulassen, sondern durch die Spuren der Erzählinstanz der Eindruck entsteht, als stünden mehrere Meinungen zu dem erzählten Geschehen nebeneinander, als würde das Geschehen von mehreren ‚Stimmen‘ kommentiert und geschildert, die aber alle auf der gleichen narrativen Ebene stehen (d. h. sich nicht einer der intradiegetischen Figuren zuschreiben lassen) und unter dem Begriff extradiegetische narrative Instanz zu subsumieren sind. Für diese besondere Konstruktion einer narrativen Instanz mangelt es nicht nur an einem einschlägigen Terminus, der das beschriebene Phänomen bezeichnet und von der Genetteschen Vorstellung einer einstimmigen Erzählinstanz abgrenzt. Zugleich stellen auch Analysen fiktionaler Texte mit Blick auf die Funktion der als polyphon konzipierten Erzählinstanz ein Desideratum innerhalb der Forschung dar. Es gilt also, sowohl ein entsprechendes Beschreibungsvokabular hierfür zu entwickeln als auch dieses auf seinen heuristischen Wert, d. h. seine Anwendbarkeit hin zu untersuchen.

1.2 Stimmen-Pluralität bei Bachtin: Dialogizität und der polyphone Roman Einen gänzlich anderen Ansatz als der französische Narratologe Gérard Genette verfolgt der russische Literatur- und Kulturtheoretiker Michail M. Bachtin, indem er das ‚zweistimmige Wort‘ als Basis seiner Ausführungen zur Stimmenvielfalt im Roman nimmt: Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird, […] ist fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorintention dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. In einem solchen Wort sind zwei Stimmen, zwei Sinngebungen […] und zwei Expressionen enthalten. Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen, sie wissen gleichsam voneinander (wie zwei Repliken eines Dialogs voneinander wissen und sich in diesem gegenseitigen Wissen entfalten), sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander. Das zweistimmige Wort ist stets im Innern dialogisiert. So ist das humoristische, ironische, parodistische Wort, so ist das brechende Wort des Erzählers, das brechende Wort in den Reden des Helden und so ist schließlich das

1.2 Stimmen-Pluralität bei Bachtin: Dialogizität und der polyphone Roman



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Wort der eingebetteten Gattung beschaffen: sie alle sind zweistimmige, innerlich dialogisierte Wörter.23

Grundlage von Bachtins Konzept der Dialogizität ist also die Vorstellung, dass über die ‚Stimmen‘ bzw. Stimmen von Erzähler und intradiegetischen Figuren (Bachtin verwendet für beide Äußerungsinstanzen den Begriff der „sprechende[n] Person“) zugleich die Stimme (im Sinne von Intention) des außerhalb des Textes stehenden Autors mitgeteilt wird. Bachtins Prämisse, dass im Roman ein Wort zugleich zwei Sprechern dienen und zwei Intentionen transportieren kann, ist für eine Untersuchung polyphoner Stimmen in Erzähltexten gewinnbringend, lässt sich aber nicht problemlos für eine narratologische Untersuchung übernehmen. Gewinnbringend ist sie insofern, als hier anders als in dem zwar wirkungsmächtigen, aber sehr schematischen Konzept Genettes das Phänomen der Mehrstimmigkeit als ein potenziell mögliches Kennzeichen von Texten angenommen wird und somit den Diskurs über narrative Polyphonie entscheidend erweitert und bereichert. Eine direkte Übertragung seiner Überlegungen auf ein an der strukturalistischen Narratologie orientiertes Beschreibungssystem ist allerdings nicht möglich. Wie aus der oben zitierten Textpassage deutlich wird, verwendet Bachtin die Begriffe „Autor“ und „Erzähler“ z. T. synonym24 und löst somit die Grenzen zwischen einer Funktion innerhalb des Textes („Erzähler“) und einer außertextuellen historischen Person („Autor“) auf. Gesetzt den Fall, man würde diese Verquickung ignorieren und anstelle der Bezeichnung des Autors stets von einer extradiegetischen narrativen Instanz ausgehen (d. h. den Begriff des Autors für erzähltheoretische Untersuchungen tilgen), so bliebe grundsätzlich der Erkenntnisgewinn, dass Mehrstimmigkeit innerhalb von Erzähltexten prinzipiell möglich ist, ja, nach Bachtin sogar ihr ideales Fundament darstellt. Zugleich wird aber auch deutlich, dass sich diese Form der Polyphonie per se mit einem Vermischen der narrativen Ebenen verbindet. Das ‚zweistimmige Wort‘ nach Bachtin, welches sich Autor und Erzähler bzw. Figur gleichermaßen teilen, hilft also über die von Genette in seiner Kategorie der ‚Stimme‘ beschriebene einstimmige narrative Instanz hinweg. Eine Mehrzahl von ‚Stimmen‘ innerhalb einer einzelnen Erzählinstanz, welche sich in einem gleichberechtigten Nebeneinander auf derselben narrativen Ebene befinden, wird jedoch ausgeschlossen.

23 Michail M. Bachtin.: „Das Wort im Roman“. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes [EA 1923]. Übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main, 1979. S. 154–300. Hier: S. 213. 24 Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Andreas Blödorn und Daniela Langer in ihrem Aufsatz „Implikationen eines metaphorischen Stimmbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette“, S. 64.

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Den Begriff des ‚polyphonen Romans‘ entwickelt Bachtin mit Blick auf die Gesamtkonzeption der Stimmenvielfalt und bezeichnet denjenigen Roman als ‚polyphon‘, in welchem eine heterogene Stimmenvielfalt zum Ausdruck kommt.25 Dadurch besteht ein deutlicher Kontrast zum monologischen Roman, der – unabhängig von der Anzahl der inkludierten Stimmen – stets ein hierarchisches Wertesystem präsentiert. Im Falle des polyphonen Romans aber werden die zitierten Stimmen nicht durch den Autor hierarchisiert, sondern sie zeigen durch ein bestimmtes mehrstimmiges Arrangement eine Vielzahl von Positionen, innerhalb derer auch die narrative Instanz keine privilegierte Stellung einnimmt. Diese Stimmen- und zugleich auch Meinungsvielfalt in ihrer Gesamtheit „verkörpert die Intention des Autors“,26 so dass wieder – wie bereits anhand der obigen Ausführungen zur Dialogizität deutlich wurde – der Begriff der Mehrstimmigkeit untrennbar mit der außertextuellen Produktionsinstanz des Erzähltextes verwoben ist. Um Bachtins Polyphoniebegriff für das hier fokussierte Thema fruchtbar machen zu können, erweist sich erneut das Vermischen zweier eigentlich unüberschreitbarer Ebenen (s. o.) als problematisch – trotzdem scheint Bachtins Grundannahme einer prinzipiellen Polyphonie in fiktionalen Erzähltexten mehr zu sein als eine bloße Anregung. Als ausgesprochen erhellend für erzähltheoretische Überlegungen zu kollektiven Stimmen, innerhalb welcher sich einzelne Sprecher stellvertretend für eine bestimmte Gruppe zu Wort melden, erweist sich sein Verständnis einer „künstlerisch organisierte[n] Redevielfalt“27 im Roman, die sich auf besondere Weise in „Sprachvielfalt und individuelle[r] Stimmenvielfalt“28 äußert. So bemerkt Bachtin: Die innere Aufspaltung der einheitlichen Nationalsprache in soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Gattungssprachen, Sprachen von Generationen und Altersstufen, Sprachen von Interessengruppen, Sprachen von Autoritäten, Sprachen von Zirkeln und Moden, bis hin zu den Sprachen sozial-politischer Aktualität […] – diese innere Aufspaltung jeder Sprache im je einzelnen Moment ihres geschichtlichen Daseins ist die notwendige Voraussetzung für die Romangattung […].29

Mit der beschriebenen „Aufspaltung“ einer Nationalsprache lassen sich Bachtins Ausführungen zur „künstlerisch organisierten Redevielfalt“ im Roman als Grundlage eines noch zu erweiternden Stimmbegriffs der Erzähltheorie nutzen, welcher zwar formal einem Sprecher zugeordnet wird, aber zugleich die Ansicht 25 26 27 28 29

Vgl. Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs [EA 1929]. München 1971. S. 227 ff. Vgl. Blödorn / Langer, Implikationen, S. 68. Bachtin, Das Wort im Roman, S. 157. Ebd. Ebd.

1.3 Das Problem des impliziten Autors 

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und das Werturteil eines Kollektivs widerspiegelt und somit eine Vielzahl an Äußerungsinstanzen in sich vereint. Insgesamt betrachtet macht also der Grundgedanke des „zweistimmigen Wortes“ darauf aufmerksam, ‚Stimmen‘ in fiktionalen Erzähltexten nicht nur auf einen Sprecher und eine Intention, sondern stets auch auf eine potenzielle Polyphonie hin zu untersuchen.

1.3 Das Problem des impliziten Autors: Unzuverlässiges Erzählen nach Wayne C. Booth Eine besondere Form der „kommunizierten Kommunikation“30 zwischen Autor und Leser fiktionaler Texte untersucht der amerikanische Literaturtheoretiker Wayne C. Booth und erweitert das Schema der ‚doppelten Kommunikation‘31 in Erzähltexten zu einer potenziell ‚dreifachen Kommunikation‘, indem er die Glaubwürdigkeit der narrativen Instanz in Zweifel zieht. In seiner Studie The Rhetoric of Fiction prägt Booth den Begriff des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ und führt mit diesem die Frage nach einer expliziten und impliziten Botschaft32 der Erzählinstanz in die Narratologie ein.33 Grundlage seiner Überlegungen ist das Konstrukt einer Kommunikationsebene, welche zwischen der narrativen Instanz und dem historischen Autor des Textes steht und von ihm als ‚impliziter Autor‘ bezeichnet wird. Laut Booth bedarf es dieser weiteren Bezugsgröße, um die Erzählinstanz eines Textes als ‚zuverlässig‘ oder ‚unzuverlässig‘ klassifizieren zu können. Er definiert den Begriff des impliziten Autors folgendermaßen: As he [the author, S. R.] writes, he creates not simply an ideal, impersonal “man in general” but an implied version of “himself” that is different from the implied authors we meet in other men’s works.34

30 Dieter Janik: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell. Bebenhausen 1973. S. 12. 31 Janik erwähnt auch eine dritte Ebene der Kommunikation zwischen den einzelnen Figuren innerhalb der erzählten Welt, allerdings, wie er betont, lediglich „der Vollständigkeit halber […] [da] sie keine konstitutive Bedeutung für das Erzählwerk hat“ (ebd.). Für die Frage nach dem ‚unzuverlässigen Erzähler‘ ist diese Ebene irrelevant; sollte sie aber aus bestimmten interpretatorischen Gründen in die Kommunikationsstruktur fiktionaler Texte miteinbezogen werden, so handelt es sich bei Booths Konstruktion des ‚impliziten Autors‘ nicht um eine dritte, sondern um eine vierte Ebene. 32 Vgl. hierzu z. B. die Erläuterungen von Matías Martínez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 100 ff. 33 Vgl. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961. S. 158 f. 34 Ebd., S. 70 f.

18  1 Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen

Als Bezugsgröße fungiert der ‚implizite Autor‘ nun insofern, als die ihm zugeschriebenen Werte, Normen und Moralvorstellungen auf eine mögliche Inkongruenz mit den Ansichten und Urteilen der narrativen Instanz hin untersucht werden, um eine potenzielle Unzuverlässigkeit der Erzählerstimme zu entlarven. Entsprechen die Äußerungen der narrativen Instanz der angenommenen Sichtweise des ‚impliziten Autors‘, so handelt es sich um einen zuverlässigen Erzähler; besteht aber eine Diskrepanz zwischen den Worten der Erzählerstimme und der vermeintlichen Haltung des ‚impliziten Autors‘, liegt nach Booth ein unzuverlässiger Erzähler vor. Er resümiert: For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not.35

Das Eingeständnis einer mangelhaften Terminologie durch Booth selbst weist bereits auf eine Problematik hin, welche seit der Einführung des Begriffes die narratologische Diskussion um die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers bestimmt hat.36 Prägnant fasst Ansgar Nünning zusammen, dass „ein […] Missverhältnis besteht zwischen der weitgehend intuitiven Fähigkeit der meisten Leser, unglaubwürdige Erzähler als solche zu erkennen, und dem Mangel an theoretischer und analytischer Durchdringung des Phänomens“.37 Die in dieser Hinsicht wohl bedeutendste Unklarheit verbindet sich mit der nur sehr schwer fassbaren Kategorie des ‚impliziten Autors‘, dessen genauere Definition Booth schuldig bleibt. Die bereits zitierte Definition des impliziten Autors als „an implied version of himself [i. e. of the author, S. R.]“ kann jedenfalls nicht für eine Analyse fruchtbar gemacht werden, welche die realhistorische Produktionsund Rezeptionsinstanz ausklammern möchte und trägt somit zu einem besseren Verständnis der hier fokussierten Fragestellung wenig bei.38 Eine Revision des

35 Ebd., S. 158 f. 36 Vgl. hierzu Ansgar Nünning: „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Ansgar Nünning (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998. S. 3–39. 37 Ebd., S. 3. 38 Zu einer besseren Begriffsbestimmung des unreliable narrator schlägt Nünning eine „Neukonzeptualisierung im Kontext der frame theory [vor], […] derzufolge ein unreliable narrator als eine Projektion des Lesers zu verstehen ist“ (vgl. Nünning, Unreliable Narration, S. 5); ähnlich auch der Ausgangspunkt von Monika Fludernik: „Since the unreliable narrator business is an interpretative strategy rather than a textual fact, I also suggest that fictionality is constituted contextually and on the basis of real-life schemata, although some textual markers may help to corroborate or refute a text’s classification as fiction“. Vgl. hierzu Monika Fludernik: „Fiction

1.3 Das Problem des impliziten Autors



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Konzeptes von Booth liefern Tom Kindt und Hans-Harald Müller in ihrer Studie zum implied author,39 in welcher der Terminus über die Methode des hypothetical intentionalism erschlossen werden soll. Hierbei wird der historische Autor samt seiner Intention wohl berücksichtigt und nicht, wie im Falle der non-intentionalistic approaches,40 gänzlich ausgeklammert. Dieser steht jedoch nicht als reale Person im Vordergrund, sondern es werden vielmehr die von ihm im Text hinterlassenen Spuren untersucht: Elucidating the implied author in the context of hypothetical intentionalism allows us to take account of the idea that the implied author should be identified on the basis of ‘all the choices the author had in fact made, whether consciously or unconsciously’. […] With the help of hypothetical intentionalism, it is possible to give an exact statement of how the empirical author can be understood as a point of reference for interpretation without also being the ultimate object pursued in it.41

Als Ergebnis führt dieses neue Begriffsverständnis für Kindt und Müller zu einer Ablehnung des alten Begriffes des ‚impliziten Autors‘, welcher noch eine Teilnahme an dem Kommunikationsverhältnis zwischen Autor, Text und Leser suggerierte. Konsequenterweise wird nun die Bezeichnung des ‚impliziten Autors‘ aus der Erzähltextanalyse verbannt und alternativ der Terminus des „hypothetical or postulated author“42 vorgeschlagen, auf welchen sich der Interpret beziehen kann, um „an entity[,] to which the meaning of a text is attributed“,43 beschreiben zu können. Mit Blick auf die narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ nimmt Seymour Chatman44 eine trennscharfe Begriffsbestimmung vor, die den impliziten Autor von der narrativen Instanz eines Erzähltextes abgrenzt: Unlike the narrator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it has no voice, no means of communicating. It instructs us silently, through the design of the whole, with all the voices, by all the means it has chosen us to learn. We can grasp the notion of implied author most clearly by comparing different narratives written by the same real author but presupposing different implied authors.45 vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations“. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhem Füger. Heidelberg 2001. S. 85–103. Hier: S. 85. 39 Vgl. Tom Kindt / Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin / New York 2006. 40 Vgl. ebd., S. 152 ff. 41 Ebd., S. 175. 42 Ebd., S. 181. 43 Ebd. 44 Vgl. Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca / London 1978. 45 Ebd., S. 148. Hervorhebungen im Original.

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Chatmans Bemerkungen helfen also zunächst einmal weiter, um den impliziten Autor sowohl von dem historischen Autor als auch von der narrativen Instanz zu unterscheiden. Im Gegensatz zu der Definition von Booth begreift Chatman ersteren als ein „it“, d. h. als ein nicht anthropomorphisiertes Konstrukt, welches ‚stimmlos‘ ist und – anders als der historische Autor – innerhalb eines Œuvres von Text zu Text variieren kann. Der Vorschlag Chatmans, sich dem impliziten Autor durch einen Vergleich verschiedener fiktionaler Texte eines Autors zu nähern, ist einer zunächst auf den Einzeltext ausgerichteten Analyse46 allerdings auch nicht dienlich. Denn wenngleich der implizite Autor in der Struktur des Textes angelegt ist, so wird er doch grundsätzlich durch den individuellen Rezipienten erschlossen, was nicht zwingend zu einem intersubjektiven Konsens führen muss. Trotz aller begrifflichen Unklarheit lässt sich jedoch festhalten, dass es sich bei Booths Definition des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ um eine Möglichkeit handelt, zwei Meinungen zu erfassen, die über eine besondere Konzeption der narrativen Instanz zum Ausdruck gebracht werden. Welche Probleme sich aber mit dieser Kategorie verbinden, sei im Folgenden kurz rekapituliert. Zum einen lässt sich konstatieren, dass es sich bei dem Konstrukt des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ nicht um eine Form der hier im Fokus stehenden Variante(n) von narrativer Polyphonie handelt, da die beiden verschiedenen, über die narrative Instanz vermittelten Meinungen nicht nebeneinander, d. h. auf der gleichen narrativen Ebene stehen, sondern stets auf die Bezugsgröße des ‚impliziten Autors‘ angewiesen sind, welcher nicht nur nicht auf der extradiegetischen Ebene steht (wie die narrative Instanz), sondern als bloßes gedankliches Konstrukt des Rezipienten zugleich ‚stimmlos‘ ist. Zum anderen verbindet sich mit Booths Formulierung eine ausschließliche Kategorisierung des Erzählers als entweder zuverlässig oder unzuverlässig, so dass eine Mischform beider Varianten des Erzählens nicht in Betracht gezogen wird. Anders formuliert: Die Möglichkeit, dass eine narrative Instanz aus mehreren ‚Stimmen‘ besteht und sich sowohl zuverlässig als auch unzuverlässig äußert, indem zwei ‚Stimmen‘ nebeneinander zu Wort kommen, wird in der Definition von Booth nicht berücksichtigt, so dass eine potenzielle Polyphonie innerhalb der Kategorie der narrativen Instanz ausgeschlossen wird. An dieser Stelle hilft auch das ansonsten schlüssige Konzept des hypothetical author von Kindt und Müller nicht weiter, da die Frage nach einer möglichen Mehrstimmigkeit innerhalb der Erzählinstanz hier ebenfalls nicht zur Debatte steht. 46 Zunächst insofern, als ja auch bestimmte, im Text angelegte kontextuelle Bezüge berücksichtigt werden sollen. Diese ergeben sich jedoch aus dem jeweils vorliegenden Text, nicht aus der Untersuchung des Gesamtwerks des Autors.

1.4 (Kon-)Fusion von ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘ 

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1.4 (Kon-)Fusion von ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘: Die erlebte Rede in Erzähltexten Zu den besonderen Möglichkeiten schriftlich-fiktionalen Erzählens gehört eine spezielle Verknüpfung von Sprach- und Gedankendarstellung,47 die in dieser Form im Alltagsgespräch nicht realisierbar ist: Die erlebte Rede. Schlägt man den Begriff in einem Lexikon zur Literatur- und Kulturtheorie48 nach, so findet sich folgende Definition: Erzählweise, bei der die Äußerungen und Gedanken einer literarischen Figur in Anlehnung an deren Syntax und Diktion, jedoch im jeweils aktuellen Erzähltempus zum Ausdruck gebracht werden. Die Pronomina werden der jeweiligen Erzählsituation angepaßt. Grammatikalisch ist die erlebte Rede der indirekten Rede verwandt, es fehlt ihr aber oft am einleitenden Satz, und Orts- und Zeitangaben werden wie in direkter Rede verwendet.49

Erstmalig wurde der Terminus der erlebten Rede von Etienne Lorck50 in die erzähltheoretische Diskussion eingeführt. In seiner 1921 erschienenen Schrift bleibt Lorck eine genaue Definition zwar schuldig, jedoch lässt sich in etwa folgendes Verständnis des Begriffes gewinnen: [In der erlebten Rede] macht die Rede stilistisch den Eindruck der Erzählung. Die vorhandenen subjektiven Bestandteile aber, Gedanken und Gefühle […] [einer Figur, S. R.] bekun-

47 Zu einer typologischen Übersicht verschiedener Sprach- und Gedankendarstellungen in fiktionalen Texten vgl. das 1981 erarbeitete Modell von Geoffrey Leech und Michael Short: Style in Fiction: A Linguistic Introduction to English Fictional Prose. London 1981. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die spätere Übertragung des Modells aus textlinguistischer und korpuslinguistischer Perspektive: Hier erweitern Leech und Short ihren Blickwinkel auf weitere, nicht-fiktionale Textsorten und widmen sich den verschiedenen Varianten der Diskurspräsentation aus statistischer Sicht. Vgl. hierzu Geoffrey Leech / Michael Short: Corpus Stylistics. Speech, Writing and Thought Presentation in a Corpus of English Writing. London / New York 2004. Ebenfalls angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik ist folgende Untersuchung von Monika Fludernik: The Fictions of Language and the Languages of Fiction. The Linguistic Representation of Speech and Consciousness. London / New York 1993. Fludernik widmet sich hier der erlebten Rede und ähnlichen in Verbindung stehenden Phänomenen unter expliziter Einbeziehung des Rezipienten sowie den interpretativen und kognitiven Prinzipien, denen dieser im Lese- und Verstehensprozess unterliegt. 48 Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 3. aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2004. 49 Heinz Antor: „Erlebte Rede“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. S. 154 f. 50 Vgl. Etienne Lorck: Die „Erlebte Rede“. Eine sprachliche Untersuchung. Heidelberg 1921.

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den, daß hier nicht Erzählung, sondern Rede vorliegt, gehörte, oder besser gesagt, erlebte Rede.51

Seit dieser ersten Verwendung52 des Terminus erweist sich die Bezeichnung der erlebten Rede jedoch als ein Reibungspunkt innerhalb der Narratologie. So resümiert Franz K. Stanzel: Sollte eines Tages jemand die Geschichte der ‚erlebten Rede‘ (ER) schreiben, so würde das eine Geschichte der Kontroversen werden. Selbst den vorläufigen Endpunkt der Diskussion über dieses sprachlich wie literarisch gleichermaßen sehr interessante Phänomen bestimmt eine Kontroverse, sogar über eine zentrale Frage, nämlich, ob in ER zwei Stimmen, die des Erzählers und die einer dargestellten Figur, oder nur eine Stimme, die des dargestellten SELF hörbar werden.53

Die zentrale Frage nach Ein- oder Zweistimmigkeit des Phänomens erlebte Rede kann dank des von Gérard Genette erstellten Beschreibungskatalogs für vergleichsweise einfache Formen des Phänomens54 geklärt werden. Unter diese werden an dieser Stelle – anders als in der oben zitierten Definition von Antor – Bauformen der erlebten Rede subsumiert, welche zwar die Sichtweise der betreffenden Figur, d. h. ihr ‚Ich-hier-jetzt‘-System, übernimmt, nicht aber spezielle Elemente ihrer Stimme (wie z. B. Diktion und Syntax) integriert. Für diese Konstruktion der erlebten Rede nämlich fällt die Antwort anders aus, als es die von Stanzel zur Debatte gestellten Lösungsmöglichkeiten55 suggerieren. So erlaubt die im Discours du récit etablierte Differenzierung zwischen ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘ die Klassifikation der erlebten Rede als eine Kombination aus extradiegetischer narrativer Instanz (‚Stimme‘) und intradiegeti51 Lorck, Erlebte Rede, S. 7. 52 Zu einem Überblick der Begriffsgeschichte und der Verwendung des Terminus vgl. z. B. Roy Pascal: The Dual Voice. Free indirect speech and its functioning in the nineteenth-century European novel. Manchester 1971. S. 2–32. 53 Franz K. Stanzel: „Erlebte Rede. Prolegomena zu einer Wirkungsgeschichte des Begriffs“. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg 2001. S. 153–167. Hier: S. 153. 54 Der Komplexität der Konstruktion erlebter Rede wurde m. E. von der Forschung bisher zu wenig Rechnung getragen; im Folgenden versuche ich eine – zumindest grobe – Einteilung des Phänomens in einfache, diffizilere und zuletzt komplizierte Varianten der erlebten Rede vorzunehmen. 55 Wie auch das obige Zitat verdeutlicht, ist Stanzels Begrifflichkeit problematisch, da er, wie Andreas Kablitz bereits mit Blick auf Stanzels 1979 erschienene Theorie des Erzählens treffend bemerkt, „zwei Phänomene [vermischt], die Genette mit den beiden griffigen Fragen qui voit? und qui parle? sehr einsichtig unterscheidet“. Vgl. hierzu Andreas Kablitz: „Erzählperspektive – Point of View – Focalisation. Überlegungen zu einem Konzept der Erzähltheorie“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 98 (1988), S. 237–255, hier: S. 237.

1.4 (Kon-)Fusion von ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘



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scher Figurenwahrnehmung (‚Fokalisierung‘).56 Anders gesagt: ‚Hörbar‘ – im Sinne von identifizierbar – wird tatsächlich nur eine ‚Stimme‘, und zwar nicht, wie Stanzel vorschlägt, die des ‚dargestellten SELF‘, sondern die des Erzählers, kombiniert mit der Perspektive der Figur. Man könnte diese Form der erlebten Rede, welche hier als ‚einfach‘ bezeichnet wurde, dank des fehlenden verbum dicendi auch als eine besonders lebendig wirkende Variante der internen Fokalisierung klassifizieren. Aus narratologischer Sicht diffiziler wird es, wenn in die Sichtweise der betreffenden Figur auch die ihr entsprechende Wahrnehmung von Raum und Zeit einfließt, so dass sich der Abstand zwischen Erzählen und Erzähltem verringert und die Grenze zwischen Erzählinstanz und Figur zu verschwimmen scheint. Eine der bekanntesten Monographien zu dieser Thematik von Roy Pascal liefert eine Definition der erlebten Rede, welche die raumzeitliche Sicht der Figur ausdrücklich in die Formulierung der narrativen Instanz integriert: The simplest description of […] [free indirect speech, S. R.] would be that the narrator, though preserving the authorial mode throughout and evading the ‘dramatic’ form of speech or dialogue, yet places himself, when reporting the words or thoughts of a character, directly into the experiental field of the character, and adopts the latter’s perspective in regard to both time and place.57

Von Bedeutung ist hier, dass der Erzähler eben nicht nur die Perspektive der betreffenden Figur (im Sinne einer wertenden Sichtweise) übernimmt, sondern dass diese mit Blick auf Zeit und Ort des Geschehens adaptiert wird. Hieraus ergibt sich auch, dass deiktische Adverbien wie z. B. ‚hier‘, ‚jetzt‘ oder ‚nun‘ in die ‚Stimme‘ der narrativen Instanz einfließen und die Distanz zwischen Erzählinstanz und Figur schwindet. Trotzdem ist aus erzähltheoretischer Sicht wichtig, dass es sich auch bei dieser Variante der erlebten Rede wohl um eine Einflussnahme der Figurenstimme auf die Äußerungen der narrativen Instanz handelt,58 von narrativer Polyphonie im Sinne zweier (oder mehrerer) gleichberechtigt nebeneinander stehenden ‚Stimmen‘ aber nicht gesprochen werden kann. Auch bei einer Übernahme der raum-zeitlichen Wahrnehmung der Figur ‚spricht‘ noch immer – so lässt sich dank Genette festhalten – die narrative Instanz.

56 Vgl. hierzu auch die Definition von Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 187. 57 Pascal, Dual Voice, S. 9. 58 Stanzel spricht von einer „‚Ansteckung‘ der Erzählersprache durch die Figurensprache“, eine Formulierung, die mir für das Phänomen der erlebten Rede durchaus plausibel erscheint. Vgl. hierzu Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979. S. 248.

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Die komplizierteste Form und somit größte interpretatorische Herausforderung der erlebten Rede dürfte wohl jene Variante darstellen, welche – wie bereits in der Definition von Heinz Antor angesprochen – auch Eigentümlichkeiten der jeweiligen Figurenstimme, so z. B. Diktion und Syntax, integriert. Dieses berücksichtigt auch Dorrit Cohn in ihrer prägnanten Begriffsbestimmung der erlebten Rede: A transformation of figural thought-language into the narrative language of third-person fiction is precisely what characterizes the technique for rendering consciousness that […] I call the narrated monologue.59 It may be most succinctly defined as the technique for rendering a character’s thought in his own idiom while maintaining the third-person reference and the basic tense of narration.60

Trotz aller Einflussnahme der Figurenstimme lässt sich also auch mit Cohn festhalten, dass – anders als z. B. beim ‚Inneren Monolog‘, einer der erlebten Rede ähnelnden Art der Bewusstseinsdarstellung von Figuren, welche diese in einem Gedankenspiel allerdings selbst zu Wort kommen lässt – der Figur in der erlebten Rede eben keine eigene Stimme zugestanden wird, sondern die Struktur des Textes ihr lediglich eine Art Impulsgabe gewährt. Anders gewendet: Wurde bei der als ‚einfach‘ bezeichneten Form der erlebten Rede noch von einer lebendig wirkenden Variante der internen Fokalisierung gesprochen, so werden an dieser Stelle komplizierte Formen der erlebten Rede, welche die narrative Instanz in Lexik, Grammatik und Syntax mit Zügen der Figurenstimme versieht, als eine Art Imitation der Figurenstimme durch die narrative Instanz verstanden. Aus dem Phänomen der erlebten Rede resultieren neben der fehlenden graduellen Einordnung einzelner Varianten allerdings auch Schwierigkeiten hinsichtlich einer einheitlichen Terminologie. Insbesondere aus komparatistischer Sicht führt eine fehlende Präzision in der Begrifflichkeit zu erheblichen Problemen, da in der englischsprachigen Narratologie nicht immer trennscharf zwischen den Begriffen author, narrator und focalizer unterschieden wird. So bemerkt Wayne C. Booth in seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Erzähltypen: The most important unacknowledged narrators in modern fiction are the third-person “centers of consciousness” through whom authors have filtered their narratives.61

59 Cohn verwendet den Terminus narrated monologue als Synonym für erlebte Rede oder style indirect libre. Zu ihrer Begründung vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. S. 109. 60 Ebd., S. 100. 61 Booth, Rhetoric, S. 153.

1.4 (Kon-)Fusion von ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘ 

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Auch wenn die Kernaussage, dass dem Phänomen der erlebten Rede bislang von Seiten der Forschung vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wurde, verständlich bleibt, so werden doch auch Divergenzen mit Blick auf ein einheitliches narratologisches Beschreibungsvokabular deutlich. Offensichtlich subsumiert Booth unter seiner Auflistung verschiedener Erzähltypen auch diejenigen Figuren, aus deren Sicht lediglich geschildert wird, ohne dass die ‚Stimme‘ der narrativen Instanz dadurch in Lexik und Syntax zwingend beeinflusst würde.62 Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte und die narrative Instanz einzelne Eigenschaften der Figurenstimme übernehmen würde, so handelt es sich – wie bereits oben erläutert – nicht um narrative Polyphonie im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders von ‚Stimmen‘, sondern lediglich um eine als besonders anpassungsfähig konzipierte narrative Instanz, welche diverse Figurenstimmen zu imitieren vermag. Der genaue Blick auf die Terminologie innerhalb der englischsprachigen Erzähltheorie verdeutlicht die Unerlässlichkeit eines Konsenses hinsichtlich der Begrifflichkeiten; anders ist ein wissenschaftlicher Dialog über die Fähigkeiten und Grenzen einzelner ‚Stimmen‘-Konstruktionen – und somit die fruchtbare Anwendung der Ergebnisse für eine literaturwissenschaftliche Interpretation – nicht möglich. Für die oben diskutierte und wohl häufigste Form der erlebten Rede, in der sich die Wahrnehmung der Figur mit der ‚Stimme‘ der narrativen Instanz mischt, scheint die Beschreibbarkeit des Phänomens dank der Genetteschen Kategoriendifferenzierung von ‚Fokalisierung‘ und ‚Stimme‘ gelöst. Anders verhält es sich mit einer bis dato gänzlich unberücksichtigt gebliebenen Variante der erlebten Rede, die ein gewisses Maß an Ambivalenz aufweist und bei einer besonderen Konstruktionsweise der narrativen Instanz, der kollektiven narrativen Instanz, auftauchen kann. Grundlage dieser im Rahmen der Typologie noch zu erstellenden Kategorie ist eine spezielle Art gemeinschaftlicher Wahrnehmung, die im Folgenden mit dem Terminus einer kollektiven internen Fokalisierung benannt wird. Wenn dieser gruppenspezifische Standpunkt der Geschehenswahrnehmung die oben skizzierten Merkmale der erlebten Rede erfüllt, handelt es sich um eine kollektive erlebte Rede, die aufgrund ihrer Kollektivität, d. h. der Mehrzahl der Sprechenden, tatsächlich eine Form narrativer Polyphonie im hier definierten Sinne darstellt. Oder anders formuliert: Dass die kollektive erlebte Rede unter den verschiedenen Varianten der Polyphonie subsumiert wird, 62 Auf das Problem einer uneinheitlichen Definition des Begriffs ‚Erzähler‘ hat bereits Franz K. Stanzel hingewiesen und spricht von einer „Bedeutungserweiterung, die der Begriff narrator erfahren hat […]; [dies]er wird meist unterschiedslos für Erzählerfiguren und Reflektorfiguren verwendet“. Vgl. hierzu Franz K. Stanzel: „Zwei erzähltechnische Termini in komparatistischer Sicht: Erlebte Rede und Erzähler im Deutschen und Englischen“. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 10 (1979). S. 192–200, hier: S. 195.

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liegt also in der Pluralität des Kollektivs begründet, nicht in dem Phänomen der erlebten Rede an sich; alleine die Vermischung von (singulärer) figuraler Wahrnehmung und einstimmiger narrativer Instanz bedeutet keine Form narrativer Polyphonie.

1.5 Mündliches Erzählen als Polyphonie: Der Skaz-Begriff im russischen Formalismus Als weiterer theoretischer Zugriff zu den möglichen Varianten von Mehrstimmigkeit in fiktionalen Texten soll nun mit dem Skaz-Konzept ein Ansatz vorgestellt werden, welcher seinen Blick primär auf die vermeintliche63 Spontaneität des Sprechens und den damit verbundenen Eindruck der Mündlichkeit des Erzählens richtet. Diese Mündlichkeit wird in der Skaz-Theorie in einen engen Zusammenhang mit einem bestimmten Phänomen der Zweistimmigkeit gebracht, welche es im Folgenden näher zu untersuchen gilt. Von Boris Eichenbaum in seinem 1918 verfassten Aufsatz „Die Illusion des Skaz“64 in die Literaturtheorie eingeführt, hat sich die Bezeichnung des Skaz „zu einem Begriff der Interpretation entwickelt“,65 wie Matthias Aumüller in seinem historischen Überblick zur Genese des Terminus resümiert. Bevor aber die Problematik fokussiert wird, die ein rezeptionsabhängiger und somit der Gefahr eines willkürlichen Gebrauchs ausgesetzter Begriff mit sich bringt, soll zunächst ein Blick auf die ursprüngliche Idee der Mündlichkeit, die sich mit dem Skaz verbindet, geworfen werden. In seinem ebenfalls 1918 erschienenen Aufsatz „Wie Gogols ‚Mantel‘ gemacht ist“,66 liefert Eichenbaum eine Definition des Skaz, welcher eine – im Gegensatz zu den bisher besprochenen Konzepten von ‚Stimme‘ – weitestgehend unmetaphorische Vorstellung des Stimmbegriffs in fiktionalen Erzähltexten zugrunde liegt und demnach von den bisher diskutierten erzähltheoretischen Ansätzen (s. o.) abzugrenzen ist: 63 Vermeintlich insofern, als es sich um einen fiktionalen Text, d. h. ein künstlerisches und künstliches Konstrukt, welches schriftlich fixiert ist, handelt, und nicht – wie der Begriff der ‚Spontaneität‘ hier fälschlicherweise suggerieren könnte – um einen realen Sprechakt. 64 Boris Eichenbaum: „Die Illusion des Skaz“. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. München 1969. Bd. 1. S. 160–167. 65 Matthias Aumüller: „Die Stimme des Formalismus. Die Entwicklung des Stimmbegriffs im russischen Formalismus“. In: Blödorn u. a. (Hg.): Stimme(n) im Text. S. 31–52. Hier auch ein ausführlicher Überblick zur Geschichte des Skaz. 66 Boris Eichenbaum: „Wie Gogols ‚Mantel‘ gemacht ist“. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. München 1969. Bd. 1. S. 122–159.

1.5 Mündliches Erzählen als Polyphonie



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[…] Ein solcher [d. h. wie in Gogols Mantel konzipiert, S. R.] skaz will nicht bloß erzählen, nicht nur sprechen, sondern mimisch und artikulatorisch Worte reproduzieren, und Sätze werden nicht nur nach dem Prinzip logischer Rede ausgewählt und aneinandergekettet, sondern mehr nach dem Prinzip ausdrucksvoller Rede, in der Artikulation, der Mimik, den lautlichen Gesten usw. eine besondere Rolle zufällt. […] Die Artikulation und ihre akustische Wirkung werden als ausdrucksstarkes Verfahren in den Vordergrund gerückt.67

Offensichtlich verbindet sich also mit dem ursprünglichen Skaz-Begriff der Versuch einer Einführung der gesprochenen Sprache in das Zeichensystem der geschriebenen Sprache. Ob und inwiefern eine solche Übertragung zu bewerkstelligen ist, bleibt diskussionswürdig. Wichtig für den hier diskutierten Zusammenhang ist jedoch, dass sich mit dem Skaz-Konzept das theoretische Konstrukt eines Erzählers verbindet, dessen Erzählen zugunsten einer Vernachlässigung des Erzählten in den Vordergrund gerückt wird, und dass die Passagen eines Textes, welche durch einen mündlichen – und somit von den anderen Teilen der Narration abweichenden – Sprachgebrauch dem Skaz zugerechnet werden, scheinbar als eine Art zweite ‚Stimme‘ des Erzählers wahrgenommen werden. Welche Kriterien nun aber genau der Erschließung jener Mündlichkeit zugrunde gelegt werden und somit eine Unterscheidung zwischen ‚normaler‘ Narration und Skaz erst ermöglichen, lässt Eichenbaum offen; dieses Problem der Differenzierung stellt sich insbesondere für homodiegetische Erzähler, welche als sich äußernde Figuren innerhalb der erzählten Welt per definitionem ein gewisses Maß an Mündlichkeit in ihrer Narration aufweisen.68 Eine Rückbesinnung auf die schriftliche Fixierung fiktionaler Texte und somit auf die spezifischen Möglichkeiten der Literatur bietet die Weiterentwicklung des Skaz-Konzeptes durch Viktor Vinogradov. In seinem 1925 gehaltenen Vortrag „Das Problem des Skaz in der Stilistik“69 wendet er sich dezidiert einem Merkmal des Skaz zu, welches über das bloße Merkmal der Mündlichkeit innerhalb der Erzählerrede hinausgeht. Dieses ist seiner Meinung nach keines, das für den Skaz konstitutiv ist, und er bemerkt, dass „natürlich auch solche Formen des Skaz denkbar [sind], wo der Künstler nicht die Imitation der Eigentümlichkeiten der mündlich-monologischen Konstruktion braucht“.70 Vielmehr verweist er neben dem direkten Empfänger der Botschaft innerhalb der erzählten

67 Ebd., S. 129. 68 Ein homodiegetischer Erzähler kann als Figur freilich anonym bleiben; trotzdem suggeriert die Vorstellung von einem Erzähler als Figur weitaus mehr den Eindruck mündlichen Erzählens als das abstrakte Konstrukt einer heterodiegetisch-extradiegetischen narrativen Instanz. 69 Abgedruckt in Striedter (1969), S. 168–207. 70 Ebd., S. 197.

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Welt auf den pragmatischen Status fiktionaler Erzähltexte, nämlich, dass diese auch durch einen Leser rezipiert werden: Der skaz wird gebaut in subjektiver Berechnung auf die Apperzeption von Leuten eines bestimmten engen Kreises (wie z. B. die Reden des Rudyj Pan’ko bei Gogol’ auf befreundete und bekannte Hinterwäldler des Kreises Mirgorod berechnet sind), aber mit dem objektiven Ziel, sich der Wahrnehmung eines neutralen Lesers anzupassen. Auf dieser Diskrepanz, dieser Inkongruenz zweier Wahrnehmungsebenen – der angegebenen und der gegebenen –, beruhen die starken komischen Effekte der sprachlichen Wirkung.71

Vinogradovs Begriffsbestimmung zielt also in erster Line auf eine Art ‚Doppelbedeutung‘ des gesprochenen Wortes ab, welche auf dem „Zusammenstoß verschiedener Ebenen der sprachlichen Bedeutung“72 gründet. Aus Sicht einer an Textstrukturen orientierten Narratologie wirft diese Form der Definition allerdings ein ähnliches Problem auf wie das Dialogizitätsprinzip nach Bachtin. Ist es bei Bachtin der historische Autor, der als (Rück-)Bezugspunkt für das gesprochene Wort dient und somit eine zweite Ebene der Bedeutung eröffnet, so bringt Vinogradov nun den Rezipienten als Konstrukteur eines weiteren Wortsinns ins Spiel. Und hieraus ergibt sich auch die Schwierigkeit des Konzepts für eine am Text orientierte Analyse, da die von Vinogradov vorgestellte Form der Zweistimmigkeit nur durch das Einbeziehen einer außertextuellen Ebene erschlossen werden kann. Anders formuliert: Von narrativer Polyphonie als Mehrstimmigkeit innerhalb einer Erzählebene, als ein Nebeneinander von ‚Stimmen‘, welches nicht durch außertextuelle Bezüge hierarchisiert ist, kann im Falle von Vinogradovs Skaz-Konzept nicht gesprochen werden. Zudem bleibt auch das Konstrukt des neutralen Lesers, der einerseits einen objektiven Blick auf die Erzählerrede werfen soll, andererseits aber gleichzeitig die Fähigkeit besitzen muss, den eigentlich gemeinten Wortsinn zu erschließen, ohne Erläuterung, so dass die Kriterien, nach welchen der Skaz überhaupt erst als Skaz wahrgenommen werden könnte, zunächst noch zu erfassen sind. Eine neue Definition des Skaz nimmt der deutsche Narratologe Wolf Schmid vor, welche an dieser Stelle abschließend vorgestellt werden soll. Schmids Revision des Begriffes ist der bisherigen Unklarheit des Terminus geschuldet, welche sich seit seiner Einführung in die Literaturtheorie gehalten hat: Obwohl der Skaz seit den Arbeiten der russischen Formalisten (die ihn als eine Form der Verfremdung betrachteten) sich des besonderen Interesses der russischen Literaturwissenschaft erfreute, gibt es bis heute noch keine Vereinbarung darüber, was unter dem Begriff zu verstehen ist und welche Phänomene man ihm sinnvollerweise zuordnen sollte. 71 Ebd., S. 195. 72 Ebd., S. 193 ff.

1.5 Mündliches Erzählen als Polyphonie



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In der russischen Erzähltheorie findet sich kaum ein zweiter Begriff mit einem so uneindeutigen Inhalt und einem so unklaren Umfang.73

Zunächst werden mit dem charakterisierenden und dem ornamentalen Skaz zwei „Grundtypen“74 unterschieden, von welchen Schmid angibt, „eine genaue Beschreibung nach Merkmalen […] lediglich beim ersten, klassischen Typus“ vornehmen zu können, da der ornamentale Skaz „nicht einen bestimmten Erzähler kundgibt, sondern auf ein ganzes Spektrum heterogener Stimmen und Masken zu beziehen ist“.75 Für den charakterisierenden Skaz werden erst einmal sieben Merkmale benannt: Narratorialität, Begrenztheit des geistigen Horizonts, Zweistimmigkeit, Mündlichkeit, Spontaneität, Umgangssprachlichkeit und Dialogizität.76 Diese sieben Kriterien, so bemerkt Schmid im Anschluss, seien allerdings nicht von gleicher Relevanz; während die ersten drei Merkmale gleichermaßen als Grundvoraussetzung für den Skaz angesehen werden, können die restlichen vier durchaus in „schwache[r] Ausprägung“77 vorkommen, wobei Schmid offen lässt, nach welchen Kriterien bestimmte Grade der Ausprägung zu ermessen sind oder ob die nicht distinktiven Merkmale möglicherweise auch gänzlich zu vernachlässigen wären. Da es hier zunächst um eine Erweiterung der Kategorie der ‚Stimme‘ nach Genette und somit um die extradiegetische Erzählinstanz geht, sollen nun die drei nach Schmid notwendigen Merkmale des Skaz genauer beleuchtet werden. Für das Kriterium der Narratorialität ergibt sich aus dem vorhergehenden Satz zwangsläufig, dass dieses auch für das hier fokussierte Anliegen, einen erweiterten Stimmbegriff für die Analyse der narrativen Instanz in Erzähltexten bereitzustellen, Gültigkeit besitzt. Komplizierter wird es mit der Forderung nach einer Begrenztheit des geistigen Horizonts der Erzählinstanz. Problematisch ist hierbei, dass Schmid offensichtlich eine Erzählerstimme und ihren ‚geistigen Horizont‘ in ihrer Gesamtheit als entweder begrenzt oder eben nicht begrenzt einstuft, wobei dann noch zusätzlich ein Kriterium zu entwickeln wäre, nach welchem man den Geisteszustand der sich äußernden Instanz bewertet.78 Angenommen, man könne zuverlässig schlussfolgern, dass der Horizont des Erzäh73 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin / New York 2005. S. 168. Zum Skaz vgl. insbesondere S. 154–181. 74 Ebd., S. 173. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 174 ff. 77 Ebd., S. 176. 78 Eine Art Skala, nach welcher der Interpret auf die (beschränkte) Weltsicht der Erzählinstanz schließen kann, scheint mir für das Verständnis des Skaz-Konzeptes nach Schmid ebenso unerlässlich wie zugleich auch problematisch zu erstellen zu sein, da die Grenzen in diesem Bereich fließend und somit schwierig zu erfassen sind.

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lers begrenzt ist, so läge jedoch noch keine narrative Polyphonie vor. Dies wäre der Fall, wenn ein Erzähler sich innerhalb seiner Narration sowohl zuverlässig als auch unzuverlässig äußern würde, so dass zwei verschiedene Meinungen innerhalb einer Erzählebene festzustellen wären. Diese besondere Konzeption einer narrativen Instanz wäre, wie an späterer Stelle noch gezeigt wird, eine Variante narrativer Polyphonie. Nach dem Verständnis Schmids wird eine Variante von Mehrstimmigkeit jedoch nur über das dritte distinktive Merkmal des Skaz erreicht, die Zweistimmigkeit. Bereits Schmids Erläuterungen zu diesem Kriterium verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um eine Variante der Mehrstimmigkeit handelt, welche auf der gleichen narrativen Ebene angesiedelt ist: Die Distanz des Erzählers vom Autor bedingt eine narratorial-auktoriale Zweistimmigkeit der Erzählerrede. In ihr drücken sich zugleich der naive Erzähler und der seine Rede mit einer besonderen semantischen Geste präsentierende Autor aus. Die Zweistimmigkeit bedeutet auch eine Bifunktionalität der Erzählerrede, die zugleich als darstellendes Medium und dargestellte Rede fungiert.79

Das Problem, welches sich hier ergibt, erinnert noch deutlicher an Bachtins Ausführungen zur Dialogizität als Vinogradovs Einbeziehung des Rezipienten. Auch Schmids Neubestimmung des Skaz-Begriffs lässt sich aufgrund des Rückbezugs auf eine außertextuelle Größe – hier ist es wie bei Bachtin der historische Autor – für eine auf der Textstruktur basierende Analyse nicht fruchtbar machen, so dass keines der oben erläuterten Entwicklungsstadien des Skaz-Begriffes genutzt werden kann, um eine bestimmte Form der Mehrstimmigkeit innerhalb einer Erzählebene zu bezeichnen.

1.6 Ein Sprecher mit zwei ‚Stimmen‘: Das Zitat als intertextuelle Polyphonie Wurden zuvor noch Ansätze zur Mehrstimmigkeit betrachtet, die entweder verschiedene Textebenen zueinander in Relation setzen oder den historischen Autor einbeziehen, so soll mit dem Begriff der Intertextualität nun ein Verfahren beleuchtet werden, welches die Polyphonie über die Zuhilfenahme von weiteren Stimmen erfasst, die nicht mit der Produktions- oder Rezeptionsinstanz dieses Textes in Zusammenhang stehen. Um intertextuelle Bezüge und entsprechend konzipierte Stimmen überhaupt erst als polyphon erkennen zu können,

79 Ebd., S. 175.

1.6 Ein Sprecher mit zwei ‚Stimmen‘: Das Zitat als intertextuelle Polyphonie



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müssen also der Blickwinkel erweitert und zusätzliche Texte und Kontexte80 einbezogen werden, wann immer innerhalb des untersuchten Textes Bezug auf außerhalb liegende fremde Stimmen genommen wird. Grundsätzlich lassen sich mit Julia Kristeva und Gérard Genette zwei verschiedene Auffassungen des Terminus ‚Intertextualität‘ unterscheiden, welche in einem diametralen Gegensatz zueinander stehen. Kristeva, die den Begriff 196781 prägte, gehört zu den Vertretern des Poststrukturalismus, welche von der Annahme ausgehen, „daß jeder Text in all seinen Elementen intertextuell ist, d. h. auf andere Texte verweist oder aus Echos anderer Texte besteht“.82 Ausgangspunkt für Kristevas Ansatz ist die Auseinandersetzung mit den Theorien Michail Bachtins, der, wie sie vermerkt, „zu den ersten [gehört], die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt“.83 Die Weiterentwicklung dieser Überlegungen führt Kristeva zu der Auflösung eines begrenzten Textbegriffes, welchen sie nun folgendermaßen neu definiert: Jeder Text baut sich als ein Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.84

Für den dieser Arbeit zugrundeliegenden Ansatz hilft die obige Begriffsbestimmung der Intertextualität allerdings nicht weiter, da der Text als ein aus lauter Zitaten bestehendes Ganzes betrachtet wird. Vereinfacht formuliert, ist nach Kristeva jeder und grundsätzlich der gesamte Text eine Ansammlung von Zitaten, die jedoch nicht auf einen bestimmten Ursprung zurückgeführt werden können. Hier aber soll der genau gegenteilige Fall betrachtet werden, nämlich das einzelne Zitat, welches lediglich einen Ausschnitt aus einem Text markiert, jedoch aus einem bestimmten und somit rekonstruierbaren Zusammenhang herausgelöst wurde. Anders formuliert: Von Interesse sind die einzelnen Stim80 Der an dieser Stelle vorausgesetzte Kontextbegriff ist ein sehr eng gefasster und wird auf den Ursprungsort des Zitates begrenzt, das in den untersuchten Text inkludiert ist. 81 Zur Begriffsgeschichte vgl. z. B. Ulrich Broich: „Intertextualität“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. 3 Bde. Berlin / New York 1997–2003. Band 2, S. 175–179. Zu der erstmaligen Verwendung des Begriffes durch Kristeva vgl. S. 176. 82 Ebd., S. 175. 83 Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt am Main 1972. Band 3. S. 345–375. Hier: S. 346. 84 Ebd., S. 348.

32  1 Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen

men, die beim Akt des Zitierens beteiligt sind, also sowohl der erstmalige Sprecher bestimmter Worte in einem bestimmten Kontext, als auch diejenige Stimme, die jene bereits formulierten Worte in dem untersuchten Text wiederholt, also der Zitierte und der Zitierende. In Kontrast zu Kristevas Überlegungen steht der bedeutsame und zugleich auch für das Phänomen der narrativen Polyphonie vielversprechende Ansatz Gérard Genettes. Sein Begriff der Intertextualität erweist sich als wesentlich engmaschiger und somit praktikabler für die Frage nach der Interdependenz einzelner ‚Stimmen‘ bzw. Stimmen in Erzähltexten. In seiner Schrift Palimpseste85 beschäftigt sich Genette mit den fünf von ihm unterschiedenen Typen der Transtextualität, welche, so seine Definition des Terminus, alles einschließt, „was ihn [den Text, S. R.] in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“.86 Folgende Varianten listet er nun auf, von welchen hier jedoch die erste im Vordergrund steht: Intertextualität, Paratext[ualität], Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität.87 Jene erste Form der Transtextualität, die Intertextualität, wird von Genette in Abgrenzung zu Kristevas Begriffsbestimmung folgendermaßen erläutert: Der erste [Typus transtextueller Beziehungen, S. R.] wurde vor einigen Jahren von Julia Kristeva unter der Bezeichnung Intertextualität erforscht, und dieses Wort liefert uns unser terminologisches Paradigma. Ich definiere sie wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen eidetisch gesprochen als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text. In ihrer einfachsten und wörtlichsten Form ist dies die traditionelle Praxis des Zitats (unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe); in einer weniger expliziten und auch weniger kanonischen Form die des Plagiats (etwa bei Lautréamont), das eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung darstellt; und in einer noch weniger expliziten und weniger wörtlichen Form die der Anspielung, d. h. einer Aussage, deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verständlich wäre […].88

Das besondere Differenzkriterium zu dem Ansatz Kristevas ist Genettes Postulat der Kopräsenz für die Intertextualität, d. h. einer konkreten Beziehung der jeweiligen Texte zueinander. Von den drei genannten graduellen Abstufungen der Intertextualität erweist sich hier wiederum das direkte Zitat und das in fiktionalen Erzähltexten seltener anzutreffende Plagiat von Bedeutung, welches eben85 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [EA 1982]. Übersetzt von Wolfram Bayer und Dieter Horning. 1. Aufl. Frankfurt am Main 1993. 86 Ebd., S. 9. 87 Ebd., S. 10 ff. 88 Ebd., S. 10. Kursivierung im Original.

1.7 Problematisierung der literaturtheoretischen Ansätze



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falls die wörtliche Wiedergabe einer anderen Stimme einschließt und somit für die vorliegende Untersuchung dem markierten Zitat gleichgestellt ist.89 Im Folgenden wird also grundsätzlich von Zitaten gesprochen, da für den hier verfolgten Ansatz die wörtliche Wiederholung und Integration einer fremden Stimme von Bedeutung ist, nicht aber die Frage nach der Markierung dieser Vorgehensweise. Anders als Kristevas Definition erlaubt bzw. fordert Genettes restriktives Verständnis des Intertextualitätsbegriffes also geradezu die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen einzelnen Stimmen, die zitieren und zitiert werden. Dieser Ansatz scheint für eine Begriffserweiterung innerhalb der narratologischen Kategorie der ‚Stimme‘ vielversprechend, jedoch lässt sich über die Untersuchung des intertextuellen Zitats bzw. über das Zerlegen entsprechend konzipierter Stimmen in aus zitierender Stimme und zitierter Stimme bestehende Doppelstimmen nur eine bestimmte Form von Mehrstimmigkeit erfassen. Ähnlich den oben bereits diskutierten Ansätzen und Theorien berücksichtigt auch dieser Zugriff nicht bestimmte Formen von Polyphonie innerhalb einer Erzählebene. Zur Konstruktion der zweiten Stimme wird nicht nur die entsprechende Ebene, sondern gar der jeweilige Erzähltext verlassen, um unter Bezugnahme weiterer (fiktionaler) Texte die Mehrstimmigkeit zu erfassen. Diese Form der Polyphonie, welche auf der Berücksichtigung extratextueller Kontexte gründet, soll jedoch erst im Anschluss an das Phänomen der Mehrstimmigkeit innerhalb einer Erzählebene betrachtet werden. Im Folgenden gilt es also, ein Modell zu entwickeln, das sämtliche Varianten von Polyphonie einbezieht, die sich sowohl intratextuell erschließen lassen als auch über die im untersuchten Text angelegten extratextuellen Bezüge erarbeitet werden können. Zunächst jedoch seien die besprochenen Theorien noch einmal kurz rekapituliert und zusammengefasst.

1.7 Problematisierung der literaturtheoretischen Ansätze Ausgehend von der narratologischen Kategorie der ‚Stimme‘ nach Genette, welche derzeit den erzähltheoretischen Diskurs zur Vermittlungsinstanz fiktionaler Texte bestimmt, wurden in Ergänzung hierzu fünf weitere Konzepte zur Sprechinstanz in Erzähltexten beleuchtet und mit Blick auf die Frage nach einer poten89 Die Anspielung stellt einen Grenzfall dar und kann nicht als prinzipiell zweistimmig kategorisiert werden. Hier müsste zunächst untersucht werden, ob die Anspielung inhaltlicher oder formaler Natur ist, d. h. ob hier auf eine bestimmte Aussage oder eine bestimmte Aussageweise angespielt wird. Der letztgenannte Fall könnte durchaus – ähnlich der erlebten Rede, vgl. Kapitel 1.4 – als Imitation einer ‚Stimme‘ betrachtet werden, was jedoch nicht als narrative Polyphonie im hier definierten Sinne gewertet wird.

34  1 Narrative Polyphonie und ihre literaturtheoretischen Voraussetzungen

ziellen Polyphonie innerhalb der ‚Stimme‘ kritisch hinterfragt. Anders als Genette, der das Konstrukt der Erzählerstimme mit dem Terminus narrative Instanz versieht und dieses als einstimmig entwickelt, zeichnen sich die übrigen Ansätze trotz aller Unterschiedlichkeit durch eine gewisse Permeabilität aus, die ein Eindringen und Überlagern durch weitere ‚Stimmen‘ ermöglicht. Bachtins Prinzip der Dialogizität geht von einem ‚zweistimmigen Wort‘ aus, welches nicht auf den Sprecher innerhalb des Erzähltextes zu beschränken ist, sondern zugleich eine bestimmte Intention des historischen Autors übermittelt. Der von Booth in die Literaturtheorie eingeführte Terminus des unzuverlässigen Erzählers greift auf das gedankliche Konstrukt eines impliziten Autors zurück, zu dessen angenommener Weltsicht die Erzählung der narrativen Instanz in ein Verhältnis gesetzt wird. Die erlebte Rede vermischt die ‚Stimme‘ der Erzählinstanz mit dem Blickwinkel einer Figur, und der aus dem russischen Formalismus stammende Begriff des Skaz lässt sich in seiner Mehrstimmigkeit entweder über eine dem Autor zugeschriebene Intention oder eine bestimmte Interpretationsweise des Rezipienten erschließen. Als letzter Zugriff wurde das Konzept der Intertextualität besprochen und im Anschluss an das von Gérard Genette entwickelte Begriffsverständnis auf seine Anwendbarkeit hin für das Phänomen der narrativen Polyphonie untersucht. Hierbei stellte sich heraus, dass dieser Zugriff zwar eine Unterkategorie der narrativen Polyphonie erfasst, nicht aber das Phänomen in seiner Breite beleuchtet. Bei aller Heterogenität verbindet die im Anschluss an das Konzept Genettes vorgestellten Ansätze, dass sie wohl besondere Formen von Mehrstimmigkeit verhandeln, diese sich aber nicht auf einer narrativen Ebene befinden. Um also ein erweitertes narratologisches Beschreibungsvokabular bereitzustellen, welches zunächst das einstimmige Modell Genettes weiterentwickelt, führen theoretische Beschreibungen von Polyphonie, für die das Überschreiten von Erzählebenen geradezu konstitutiv ist, nicht weiter. Trotzdem, so wird in einem zweiten Schritt noch vorgestellt, handelt es sich wie gesagt bei dem zuletzt besprochenen Konzept der Intertextualität (bzw. in seinem Rahmen speziell das Phänomen des Zitierens) um eine in literarischen Texten häufig angewandte Methode, mit verschiedenen Stimmen zu experimentieren. Im Folgenden gilt es also zu untersuchen, wie die sich aus dem bisher etablierten Terminus der ‚Stimme‘ ergebenden Schwierigkeiten überwunden werden können, um den verschiedenen Varianten der Mehrstimmigkeit auch terminologisch gerecht werden zu können. Hierzu muss vorrangig geklärt werden, welches eigene Begriffsverständnis einer Aussageinstanz in fiktionalen Texten zugrunde liegt. Für die im Folgenden zu erstellende Typologie wird aus Gründen der Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit narratologischer Termini für die Funktion der extradiegetischen Erzählinstanz auf die Begriffswahl Genettes zu-

1.7 Problematisierung der literaturtheoretischen Ansätze



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rückgegriffen und die von ihm als narrative Instanz bezeichnete Erzählerstimme hinsichtlich einer polyphonen und kollektiven Variante erweitert. Nachfolgend wird das Beschreibungsinstrumentarium um Formen der Polyphonie mit Blick auf polyphone und kollektive intradiegetische Figurenstimmen ergänzt und schließlich die Typologie durch den Fokus auf die Kategorie einer figural-konstruierten Stimme komplettiert, welche innerhalb der Erzähltheorie bis dato noch keinerlei Beachtung erfahren hat. Allen neu zu erstellenden Kategorien gemein ist der übergeordnete Begriff der Aussageinstanz, der im folgenden Kapitel vorgestellt und definiert wird, und verschiedene Facetten von Rede in Erzähltexten umfasst. Dieser Terminus soll als Oberbegriff etabliert werden, um verschiedenen Grundformen der Äußerung innerhalb fiktionaler Texte gerecht zu werden: Zum einen der extradiegetischen narrativen Instanz, bei der es zunächst einmal gilt, sie von der Genetteschen Vorstellung von einer Person grundsätzlich loszulösen, und zum anderen den intradiegetischen Figurenstimmen, denen wiederum dezidiert eine Vorstellung von einer Person zugrunde liegt. Beiden Ausformungen von Rede liegt – bei aller Divergenz – der gemeinsame Nenner zugrunde, dass es sich bei ihnen um eine Form der Äußerung innerhalb eines fiktionalen Erzähltextes handelt. Darüber hinaus sollen zudem Formen von rezipierter Rede untersucht werden, die durch die Figuren erst konstruiert werden, ohne dass ihnen eine tatsächliche stimmengebundene Aussage zugrunde liegen würde. Ein Anspruch der folgenden Typologie ist es also, Gemeinsamkeiten zu erfassen und diese auch mittels einer bestimmten Terminologie beschreibbar zu machen. Zugleich steht aber auch im Vordergrund, basale Unterschiede zu erkennen und diese auch theoretisch zu benennen. Das Ziel liegt demnach darin, aus systematischer Sicht eine bestimmte übergeordnete ‚Klasse‘ (Äußerungsinstanzen innerhalb fiktionaler Erzähltexte) zu untersuchen und für die Textanalyse beschreibbar zu machen. Hierbei müssen zugleich aber auch die speziellen Ausformungen der Äußerungsinstanz (narrative Instanz; Figurenstimmen; figural-konstruierte Stimmen) grundlegend unterschieden werden.

2 Grundzüge polyphonen Erzählens 2.1 Von der Kategorie der ‚Stimme‘ zu Aussageinstanzen Bekanntermaßen hat die im Rahmen des 1972 veröffentlichten Discours du récit von Gérard Genette erstellte Terminologie innerhalb der internationalen narratologischen Forschung einen beachtlichen Siegeszug angetreten und wird bereits wenige Jahrzehnte nach ihrer Publikation von einschlägigen literaturtheoretischen Lexika1 mit dem Etikett einer lingua franca innerhalb der Erzähltheorie versehen. Aus diesem Grunde wurde Genettes Kategorie der ‚Stimme‘ im vorherigen Kapitel auch als erster literaturtheoretischer Ansatz vorgestellt: Wer sich mit Erzählinstanzen in literarischen Texten beschäftigen möchte, kommt um eine Beschäftigung mit dem derzeit maßgeblichen Genetteschen Modell nicht herum. Sein bereits in der Einleitung zitiertes Bekenntnis, ihm habe die Kopplung der Kategorie der ‚Stimme‘ an die Vorstellung von einer – wenn auch anonymen – Person die heikelsten Diskussionen beschert, macht jedoch auch deutlich, dass das von ihm entwickelte Beschreibungsvokabular trotz seines Rufes als einer Art Verkehrssprache innerhalb der narratologischen Forschung durchaus diskussionswürdig ist. Denn der im Discours du récit eingangs genannte Anspruch Genettes, Doppeldeutigkeiten zu vermeiden, um bei „bestimmte[n] Schwierigkeiten [innerhalb] der Narratologie […] klarer zu sehen“,2 scheint gerade durch die Wahl eines so einschränkenden Begriffes wie dem der ‚Stimme‘ schwierig einzulösen zu sein. Denn bedenkt man die erwähnte, von Genette selbst eingeräumte Anbindung der ‚Stimme‘ an die Vorstellung von einer Person, so mutet sein Anliegen einer Präzisierung narratologischer Begriffe ob der sich aufdrängenden Nähe zur grundsätzlich einstimmigen menschlichen Stimme bereits im Ansatz zweifelhaft an, wurden sämtliche außertextuellen Größen im Zuge des Strukturalismus doch längst aus dem wissenschaftlichen Untersuchungsfeld verbannt. Es scheint also, als habe Genette bei der Wahl seiner Termini das eigentliche Anliegen einer Konkretisierung der Begrifflichkeiten ein wenig aus den Augen verloren. Diese Inkonsequenzen innerhalb seines Konzepts müssen ernst genommen werden und regen zu einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Problemfeld der Erzählinstanz(en) in Erzähltexten an, so dass der Anspruch einer kritischen Überprüfung der Genetteschen Terminologie 1 Vgl. Ansgar Nünning: „Erzähltheorien“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 3. aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2004. S. 158–161. Hier: S. 159. 2 Genette, Diskurs, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110668810-003

2.1 Von der Kategorie der ‚Stimme‘ zu Aussageinstanzen



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ihrerseits ebenfalls nur eine Präzisierung narratologischer Begriffe sein kann, um ein möglichst eindeutiges und in sich widerspruchsfreies Beschreibungsinstrumentarium für die Textanalyse zur Verfügung zu stellen. Der im Zuge des Kapitels zur ‚Stimme‘ verwendete Begriff der narrativen Instanz3 bezeichnet die Textfunktion einer ‚Erzählerstimme‘, die es nach Genette „zu betrachten“ gilt, und dies, wie er formuliert, „im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat“.4 Diese Genettesche Maßgabe ist bekannt und häufig zitiert worden. Im Gegensatz zu dem Oberbegriff der ‚Stimme‘ verleitet der Terminus der narrativen Instanz jedoch nicht zwingend zu der Assoziation von Einstimmigkeit, sondern lässt die Möglichkeit einer schriftlichen Aussageinstanz zu, die mehrere ‚Stimmen‘ gleichwertig nebeneinander enthält. Denn schließlich geht es in schriftlich-fiktionalen Texten nicht um einen Stimmapparat und dessen auditiv wahrnehmbaren Schallproduktionen, sondern um ein rein graphisches Phänomen. Es gibt keinen faktischen Sprecher, der akustische Reize produziert: ‚Gesprochen‘ wird hier nur in einem rein metaphorischen Sinne, und diese Besonderheit des schriftlichen Erzählens birgt auch das Potenzial des mehrstimmigen Erzählens. Denn auch wenn es de facto keinen Produzenten eines lautlichen Phänomens gibt, so handelt es sich bei fiktionalen Texten doch um Erzählakte, die einen Austausch von Informationen gewährleisten: Mittels des Mediums der Schrift werden Mitteilungen gemacht, die es ermöglichen, Nachrichten zu kommunizieren. Von Genette gänzlich unberücksichtigt bleiben zudem die innerhalb der erzählten Welt befindlichen Figuren, die ihrerseits freilich auch miteinander kommunizieren und somit untereinander Nachrichten austauschen. Daraus folgt, dass die Figuren im Rahmen ihrer Welt auch mit einem Hörvermögen ausgestattet sind, was sie wiederum potenziell dazu befähigt, andere Stimmen zu hören und zwar möglicherweise auch dort, wo niemand spricht (sei es aufgrund einer ihnen zugeschriebenen psychischen Erkrankung oder auch im Rahmen eines schlichten akustischen Irrtums [„sich verhören“]). Im Gegensatz also zu der von Genette auf problematische und irreführende Weise an die Kategorie der ‚Person‘ gekoppelten narrativen Instanz, weisen die Figuren eine gedankliche Verbindung einer Person auf: Wie auch immer die einzelnen Figuren letztlich gestaltet sind, sie alle verbindet, dass ihrer Konstruktion ein gedankliches Vorverständnis davon zugrunde liegt, was eine Figur ist und wie diese auf nachvollziehbare Weise mit anderen Figuren kommunizieren kann. Oder anders formuliert: Wenn wir es nicht gerade mit einer Gattung zu tun haben, die explizit 3 Vgl. Genette, Diskurs, S. 151 ff. 4 Vgl. Genette, Diskurs, S. 152.

38  2 Grundzüge polyphonen Erzählens

anderen Konventionen folgt (wie beispielsweise der Fabel oder dem Märchen), so handelt es sich bei den intradiegetischen Figuren um die einzigen Aussageinstanzen in fiktionalen Texten, denen sinnvollerweise eine Vorstellung von einer Person zugeschrieben werden kann und bei denen infolgedessen auch konsequenterweise von einer Stimme ohne distanzierende Anführungszeichen gesprochen werden kann. Berücksichtigt man also, dass es in Erzähltexten zwar keine tatsächlich hörbare Stimme gibt, aber eine narrative Instanz als eine Form von Aussageinstanz, sowie die untereinander kommunizierenden und hörenden Figurenstimmen als eine weitere Variante von Aussageinstanzen, so lassen sich zusammenfassend drei auseinander folgende Konsequenzen formulieren: 1. In schriftlichen Erzähltexten gibt es grundsätzlich keine Stimme im Sinne eines akustischen Signals. Daraus folgt, dass der Begriff der ‚Stimme‘ aufgrund seiner metaphorischen Implikationen nur einen eingeschränkten Gültigkeitsanspruch besitzt. 2. Für die von Genette im Rahmen seiner Kategorie der ‚Stimme‘ untersuchte extradiegetische Erzählinstanz ist deshalb der neutralere Terminus der narrativen Instanz vorzuziehen. Dieser Begriff beschreibt eine Textfunktion, welche gerade durch ihre Unabhängigkeit von dem Begriff der ‚Person‘ auf verschiedene Weise ausgestattet sein kann und folglich nicht an das Phänomen der Einstimmigkeit – wie sprechende Personen es sind – gekoppelt ist. Schriftliches Erzählen kann auch polyphon gestaltet sein und die narrative Instanz kann mehrere ‚Stimmen‘ nebeneinander enthalten. 3. Der durch bestimmte Konnotationen vorbelastete Begriff der Stimme empfiehlt sich jedoch dann, wenn der Aussageinstanz innerhalb des fiktionalen Textes dezidiert eine Vorstellung von einer – wie auch immer aufgebauten – Person zugrunde liegt. Dies ist der Fall bei den innerhalb der erzählten Welt agierenden und mit einem Sprech- und Hörvermögen ausgestatteten Figuren, so dass hier die Bezeichnung der Figurenstimme als eine Unterkategorie der Aussageinstanzen sinnvoll erscheint und der Begriff der Stimme ohne die distanzierenden einfachen Anführungszeichen verwendet werden kann. Grundsätzlich handelt es sich bei Erzähltexten um Formen einer schriftlich fixierten Kommunikation, d. h. jedes narratologische Modell, das sich auf Genette bezieht und seine Terminologie zugleich erweitern möchte, muss zunächst basale Grundzüge der Kommunikation klären, um daran anknüpfend die besonderen Spielregeln der schriftlich-fiktionalen Kommunikation und ihre Besonderheit der verdoppelten Kommunikation zu bedenken. Wenn es nun also gilt, sämtliche Aussageinstanzen in fiktionalen Erzähltexten auf ihre potenziell

2.2 Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler



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mehrstimmige Konstruktion hin zu untersuchen, muss zwangsläufig als Ausgangspunkt ein eigenständiger Begriff dafür festgelegt werden, was überhaupt den Begriff der Aussageinstanz definiert. Dazu müssen zunächst die oben formulierten Schwierigkeiten hinsichtlich der Begrifflichkeiten mitgedacht und ausgeräumt werden. Bedenkt man hierzu, dass es sich bei Erzähltexten immer um eine Form der Kommunikation handelt und diese aber anderen Bedingungen unterliegt als das mündliche Erzählen, so ergeben sich drei grundlegende Fragen, die für ein kategorisierendes Begriffsverständnis zunächst geklärt werden müssen: – Was ist grundsätzlich unter einer Kommunikation zu verstehen? – Welche Spezifika weist die schriftlich-fiktionale Rede auf? – Wie verhält es sich mit der Verdopplung des Kommunikats in fiktionalen Erzähltexten? Damit folglich ein Verständnis davon gewonnen werden kann, was ein Begriff von Aussageinstanz zu leisten hat, der den Besonderheiten einer potenziellen Polyphonie innerhalb einzelner Instanzen in schriftlich-fiktionalen Darstellungen Rechnung tragen will, müssen also – ausgehend von den im vorherigen Kapitel vorgestellten literaturtheoretischen Ansätzen – zunächst ein paar Schritte zurückgegangen werden. Deswegen sollen nachfolgend exemplarisch anhand des Kommunikationsmodells von Karl Bühler5 erst einmal die Grundlagen des zwischenmenschlichen sprachlichen Austausches reflektiert werden, um sich schließlich, nach einem Blick auf die Spezifika schriftlich-fiktionaler Texte, den verschiedenen Ebenen der explizit literarischen Kommunikation zu widmen. Erst wenn diese theoretischen Grundlagen miteinander verknüpft und zugleich durchdacht worden sind, lässt sich ein erweiterter Begriff der Kategorie ‚Stimme‘ formulieren, der einerseits in den verdienstvollen Überlegungen Genettes wurzelt, aber andererseits auch die Schwierigkeiten seiner Terminologie umschifft und zugleich die gestalterischen Privilegien einbezieht, die der Konstruktion einer schriftlich-fiktionalen Erzählung hinsichtlich einer möglichen Mehrstimmigkeit zugrunde liegen.

2.2 Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler Als Grundlage seines Modells beruft sich Bühler auf die platonische Definition der Sprache als ein organon, mittels dessen „einer dem anderen etwas […] über 5 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [EA 1934]. 2. Aufl. Stuttgart 1965. Vgl. hierzu S. 24 ff.

40  2 Grundzüge polyphonen Erzählens

die Dinge [mitteilen]“6 kann. Dieses ‚Werkzeug‘ wird nun in seinen verschiedenen Relationen spezifiziert, die es im Rahmen einer solchen Mitteilung eingeht. Ausgehend von einer konkreten Sprechsituation, in welcher „der ‚eine‘ […] das Schallphänomen [erzeugt] und [welches] auf den ‚anderen‘ […] als Reiz [wirkt]“,7 benennt Bühler drei verschiedene Eigenschaften des Sprachzeichens: Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.8

Diesen Eigenschaften des Sprachzeichens wird jeweils noch eine Funktion zugeordnet: Als Symbol besitzt es eine Darstellungsfunktion, da es sich auf Gegenstände und Sachverhalte bezieht, als Symptom ist es aufgrund seiner Anbindung an den Sender mit einer Ausdrucksfunktion gekoppelt und als Signal verfügt es durch die Beziehung zum Hörer über eine Appellfunktion.9 Für die Entwicklung eines eigenständigen Stimmbegriffs aus narratologischer Sicht erweist sich bereits Bühlers Ausgangpunkt für die zwischenmenschliche Kommunikation als ausgesprochen erhellend. Seine Feststellung, dass die von ‚einem‘ geäußerte Mitteilung von einem ‚anderen‘ rezipiert wird, verdeutlicht einen wichtigen Aspekt, welcher jeder Kommunikation zugrunde liegt und welche es somit auch für den Spezialfall des schriftlich-fiktionalen Erzählens zu berücksichtigen gilt: Die gehörte Rede wird grundsätzlich als eine fremde Rede rezipiert, d. h. es wird eine Äußerung vernommen, welche von dem Hörenden eindeutig nicht selbst hervorgebracht wurde. Somit ist das Zustandekommen einer Mitteilung stets an die Wahrnehmung der Worte einer zweiten Stimme gekoppelt, mittels derer ein Mensch einem anderen Menschen etwas mitteilen kann. Wie aber verhält es sich in fiktionalen Erzähltexten? Dass diese ein Kommunikationsmittel darstellen, scheint evident, ermöglichen Texte es doch, dass ‚einer‘ dem ‚anderen‘ etwas mitteilen kann. Für die Betrachtung narrativer Instanzen in Erzähltexten gilt es jedoch zunächst, verschiedene Dinge zu berücksichtigen: Zum einen handelt es sich bei Texten um ein bestimmtes Medium, mit dem schriftlich kommuniziert wird, was zwangsläufig bedeutet, dass es keinen Hörer – wie in dem zuvor vorgestellten Modell von Bühler – gibt. Während mündliches Erzählen an einen bestimmten Sprecher und die untrennbar an ihn ge6 7 8 9

Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Bühler, Sprachtheorie, S. 28. Vgl. ebd.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen 

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koppelte Stimme gebunden ist, ist beim schriftlichen Erzählen diese untrennbare Allianz von Stimme und Körperlichkeit aufgehoben, was dem schriftlichen Erzählen das grundsätzliche Potenzial polyphonen Erzählens verschafft. Zudem ist die raumzeitliche Kopplung von Sender, Botschaft und Empfänger in diesem Falle aufgelöst. Anders als im Falle der realen zwischenmenschlichen Kommunikation, innerhalb der die Rollen von Sender und Empfänger in der Regel10 eindeutig zugewiesen sind, geraten wir im Bereich des schriftlich-fiktionalen Erzählens bereits bei der Frage nach dem Urheber und dem Adressaten der geäußerten Worte sowie der narrativen Instanz und dem fiktiven Leser in Erklärungsnot: Literarische Texte zeichnen sich durch eine konstitutionelle Mehrschichtigkeit aus, welche sich mit einem Kommunikationsmodell der zwischenmenschlichen Kommunikation im Alltag nicht erfassen lässt. Bevor aber den verschiedenen kommunikativen Ebenen in fiktionalen Erzähltexten Rechnung getragen werden kann, müssen zunächst die Besonderheiten reflektiert werden, die das schriftlich-fiktionale Erzählen von alltagssprachlich-mündlichen Erzählungen unterscheiden.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen Auf die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten des fiktionalen Erzählens hat Käte Hamburger bereits 1957 in ihrer Logik der Dichtung11 aufmerksam gemacht. Hier stellt sie die vielbeachtete These auf, dass bei der fiktionalen Erzählung „das Präteritum seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen, verliert“12 und verweist mit ihrer Arbeit auf den in seinen Variationsmöglichkeiten privilegierten Sonderstatus der fiktionalen Erzählung. Wenngleich Hamburgers These in ihrer Radikalität sicherlich nicht auf jede Narration zutrifft (nicht jede Geschichte wird in der Zeitform des epischen Präteritums erzählt und man kann eine bewusst gewählte Verbindung zwischen dem verwendeten Präteritum und einem Vergangenheitsbezug nicht grundsätzlich negieren), so rückt sie doch ein Kriterium in den Vordergrund, das die Fiktion von der Alltagserzählung unterscheidet.13 Denn unabhängig von der Frage, welche Funktion der jeweils verwendeten Tempusform zukommen mag, hängt Hamburgers Ansatz 10 Sieht man einmal von Sonderfällen wie z. B. anonymen Anrufen, anonymen Briefen etc. ab. 11 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung [EA 1957]. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1980. 12 Ebd., S. 65. 13 Für einen ersten Überblick zu der Debatte um das Tempusproblem vgl. Peter Stocker: „Tempus“. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin / New York 2007. S. 584–586.

42  2 Grundzüge polyphonen Erzählens

eng mit dem Problem der Aussageinstanzen in Erzähltexten zusammen und ihre Position macht auf ein wichtiges Phänomen aufmerksam. So verweist der vielzitierte Beispielsatz: „Morgen war Weihnachten“14 auf eine besondere Konstruktion innerhalb fiktionaler Erzählungen, die im Rahmen einer faktualen Geschichte nicht gegeben ist: Die Kombination eines auf die Zukunft verweisenden Adverbs („morgen“) mit dem Tempus der Vergangenheit („war“): In diesem Satz werden die Sichtweise(n) innerhalb der Diegese (aus Sicht der agierenden Figuren, denen der Leser in ihrem Blickwinkel folgt, handelt es sich um den nächsten Tag) mit der Aussageinstanz einer retrospektiv berichtenden extradiegetischen narrativen Instanz gekoppelt. Dieses Phänomen lässt sich mit Genette als interne Fokalisierung beschreiben und stellt in der Tat eine Besonderheit dar, die das fiktionale Erzählen in seinen Möglichkeiten grundlegend von faktualen Berichten unterscheidet. Im Anschluss an Käte Hamburgers Position fassen Matías Martínez und Michael Scheffel mit Blick auf das Problem der ‚Stimme‘ die Spezifika der fiktionalen Rede so zusammen, dass ihr Resümee im Folgenden auch als Grundlage für das Phänomen der narrativen Polyphonie gesehen werden kann: Anders als der reale Sprecher einer faktualen Rede ist das fiktive Aussagesubjekt der fiktionalen Rede als eine nicht-empirische Person nicht an ‚natürliche‘ Beschränkungen menschlicher Rede gebunden.15

Auch aus dem obigen Zitat wird deutlich, dass eine strikte Trennung der narrativen Instanz von der Vorstellung von einer Person unumgänglich ist, wenn das Potenzial fiktionaler Aussageinstanzen auch theoretisch erfasst werden soll. Denn geht man davon aus, dass die faktuale Narration an das Sprechen einer historischen Person und somit an deren eigene und einzelne Stimme gekoppelt ist16 – sieht man von der Variante des Zitats einmal ab, welche freilich in faktualen wie auch fiktionalen Äußerungen möglich ist –, so stellt die potenzielle Mehrstimmigkeit innerhalb einer narrativen Instanz in Erzähltexten geradezu ein distinktives Merkmal dar, das die Fiktion trennscharf von der faktualen Erzählung17 abgrenzt. Zugespitzt formuliert: Während die faktuale Rede eines realen Sprechers einstimmig sein muss – denn jeder reale Sprecher verfügt nur über seine singuläre und individuelle Stimme – erweist sich gerade die Absenz 14 Hamburger, Logik, S. 71. 15 Martínez / Scheffel, Einführung, S. 16. 16 Vgl. Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Übersetzt von Heinz Jatho. München 1992. Hier: S. 79. 17 Zu den besonderen Merkmalen faktualen Erzählens vgl. auch Christian Klein und Matías Martínez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart / Weimar 2009.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen 

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eines körperlichen Aussagesubjekts samt seiner biologisch bedingten Einschränkungen in der fiktionalen Rede als eine mögliche Quelle narrativer Mehrstimmigkeit. Prämisse dieser Überlegung bleibt jedoch, dass es sich bei der fiktionalen Rede um die schriftlich-fixierte Rede einer nicht-subjektgebundenen Aussageinstanz handelt, wohingegen die faktuale Erzählung wiederum – unabhängig davon, ob sie nun mündlich oder schriftlich erfolgt – an ein menschliches Aussagesubjekt gebunden ist. Dieses besondere gestalterische Potenzial fiktionaler Aussageinstanzen bleibt bei Gérard Genette unberücksichtigt; ein Versäumnis, das sowohl in seiner Positionierung innerhalb der Fiktionalitätstheorie wurzelt als auch an sein Beharren auf der Anbindung der narrativen Instanz an die Vorstellung von einer Person gekoppelt ist. In der 1991 erschienenen Schrift Fiction et diction verknüpft er Fragen der Fiktionalitätstheorie mit narratologischen Kategorien und untersucht in diesem Zusammenhang, „aus welchen Gründen sich die faktuale und die fiktionale Erzählung zu der von ihnen ‚berichteten‘ Geschichte verschieden verhalten, [nämlich] einzig weil diese im einen Fall ‚wahr‘ ist (oder als ‚wahr‘ gilt) und im anderen fiktiv, das heißt, von dem, der sie gerade erzählt, erfunden oder von jemand anderem, von dem er sie übernimmt“.18 Nachdem diese grundlegende Unterscheidung zwischen ‚wahren‘ bzw. mit Wahrheitsanspruch erzählten (faktualen) und ‚erfundenen‘ (fiktionalen) Geschichten getroffen ist, greift Genette mit Blick auf die von ihm etablierte narratologische Kategorie der ‚Stimme‘ auf seine bereits in Discours du récit differenzierten Charakteristika der narrativen Instanz zurück und äußert sich über die untergeordneten Komponenten ‚Zeit‘, ‚Person‘ und ‚Niveau‘.19 Was die Unterpunkte der ‚Zeit‘ und der ‚Person‘ betrifft, sieht Genette hier keine trennscharfen Differenzkriterien zur Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen: Ich glaube nicht, daß die temporale Situation des narrativen Aktes in der Fiktion a priori anders ist als sonst […] auch die Unterscheidung nach der „Person“, die Opposition von heterodiegetischer und homodiegetischer Erzählung also, findet sich ebenso in der faktualen […] wie in der fiktionalen Erzählung.20

Anders verhalte es sich bei der Frage nach der narrativen Ebene, „denn die Bemühung um Wahrscheinlichkeit oder Einfachheit verbietet der faktualen Erzählung im Allgemeinen einen allzu massiven Gebrauch der Narration zweiten Grades […] die Präsenz der metadiegetischen Erzählung ist also ein ziemlich plausi-

18 Genette, Fiktion, S. 67. 19 Vgl. ebd., S. 79. Mit ‚Niveau‘ ist die narrative Ebene gemeint. 20 Genette, Fiktion, S. 79.

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bles Fiktionalitätsindiz“.21 Nach Genette ist es demnach in erster Linie die verschachtelte, mehrschichtige Erzählung, welche fiktionale Narrationen von faktualen Narrationen unterscheidet; die Chronologie des Erzählten und auch die Frage, ob die erzählende Instanz Teil der erzählten Geschichte ist, sind seiner Meinung nach keine distinktiven Merkmale, die als Differenzkriterien für fiktionale und faktuale Erzählungen primäre Geltung besitzen. Wenngleich Genettes Überlegungen hinsichtlich einer weitaus häufigeren Vielschichtigkeit innerhalb fiktionaler Narrationen sicherlich zutreffend sind – zumindest in der Regel zeichnen sich die wenigsten faktualen Erzählungen durch die Einbettung von Metadiegesen aus – so vernachlässigen seine Ausführungen zu dem Unterpunkt der ‚Person‘ jedoch weiterführende Überlegungen hinsichtlich einer potenziellen Mehrstimmigkeit im Bereich fiktionaler Erzähltexte und unterschlagen somit eine Möglichkeit, schriftlich-fiktionale und personengebundene faktuale Texte aus narratologischer Sicht zu trennen. Die Anbindung an eine Person ist problematisch, da sie gestalterische Möglichkeiten innerhalb der Textstruktur unberücksichtigt lässt, die ausschließlich dem schriftlichen Erzählen inhärent sind und die vor allem in fiktionalen Erzählungen ausgeschöpft werden. Während Genette seine Definitionen von Fiktionalität und Faktualität also aus rein inhaltlichen Gesichtspunkten gewinnt und zwischen ‚wahren‘ und ‚erfundenen‘ Geschichten differenziert, scheint die Konstruktion einer polyphonen narrativen Instanz, d. h. die Variante einer mehrstimmigen Erzählinstanz, ein Phänomen zu sein, welches überhaupt nur im Bereich einer an die Schrift gebundenen Fiktion möglich ist. Um also zu einer Definition davon zu gelangen, was grundsätzlich unter einer Aussageinstanz in einem fiktionalen Text zu verstehen ist, muss von den Überlegungen Genettes in zwei verschiedenen Punkten abgerückt werden, die jedoch zusammenhängen. Innerhalb der Fiktionalitätstheorie bedarf es einer Fokusverlagerung weg von dem bloßen Wahrheitsstatus des Erzählten, hin zur dezidiert schriftlich-fiktionalen Rede und den sich aus diesem besonderen Status ergebenden Möglichkeiten der Mehrstimmigkeit in Erzähltexten; im Bereich der Narratologie ist die Kategorie der Aussageinstanz im Falle der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz von der Vorstellung von einer Person zu entkoppeln. Als grundlegend und zugleich weiterführend für das hier zu erstellende Kategorien-Modell narrativer Polyphonie erweist sich die These von Barbara Herrnstein Smith,22 die die fiktionale Rede in erster Linie als eine Nachahmung von Rede versteht:

21 Ebd. 22 Vgl. ebd., S. 81.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen



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The fictiveness of prose fiction is, of course, commonly acknowledged, but it is more radical than is sometimes supposed. For not only are the characters and events narrated in a novel fictional, and not only is the narrator whose voice relates the events fictional, but most significantly, so also is the entire structure of discourse through which the narration is presented. […] The essential fictiveness of novels, however, is not to be discovered in the unreality of the characters, objects, and events alluded to, but in the unreality of the alludings themselves. In other words, in a novel or tale, it is the act of reporting events, the act of describing persons and referring to places, that is fictive. The novel represents the verbal action of a man reporting, describing, and referring.23

Die Definition der dichterischen Rede als einer Nachahmung von tatsächlicher Rede räumt dem fiktionalen Erzählen freilich gestalterische Freiräume ein, welche der faktualen Äußerung im Alltagsgespräch verwehrt bleiben. Denn dieses gewissermaßen spielerische ‚So-tun-als-ob‘ impliziert zugleich ein ‚Es-ist-nichtso‘ und bedingt die Loslösung von einem historischen Aussagesubjekt hin zu einem lediglich anthropomorphisierten Aussagesubjekt: Eine bloße Textfunktion wird mit dem Prädikat einer Stimme versehen und folglich mit Möglichkeiten in ihrer Konstruktion ausgestattet, die nicht den Restriktionen der menschlichen Stimme unterworfen sind. Die distinktive Differenz zwischen Genettes Anbindung an die Vorstellung von einer Person und dem hier zugrunde gelegten Aussagesubjekt im Sinne von Herrnstein Smith liegt also in der Definition des letzteren: Es handelt sich um eine reine Textfunktion, die ihrem Status nach lediglich eine nachgeahmte Stimme darstellt; sie ist eine an den Text gebundene Äußerungsinstanz, die mit den Charakteristika einer tatsächlichen Stimme zwar spielt, aber diese in ihren Möglichkeiten der Ausformung hinsichtlich einer potenziellen Mehrstimmigkeit bei weitem übertrifft. In diesem Verständnis der fiktionalen Rede als einer Nachahmung von Rede ist der besondere mehrschichtige Aufbau literarischer Texte als einer verdoppelten Kommunikation implizit mitgedacht. Diese grundlegende Eigenschaft fiktionaler Texte wurde erstmalig von Dieter Janik ausgearbeitet, der in seiner 1973 veröffentlichten Studie zur Kommunikationsstruktur des Erzählwerks24 aus semiologischer Sicht auf die Mehrschichtigkeit fiktionaler Erzähltexte verweist. Seine hellsichtige These, dass es sich in diesem Falle nicht um eine ‚einfache‘ Kommunikation, sondern um eine verdoppelte, um eine „kommunizierte Kommunikation“25 handelt, stellt nicht nur ein wichtiges Kriterium dar, welches die literarische Kommunikation von münd23 Barbara Herrnstein Smith: On the Margins of Discourse. The Relation of Literature to Language. Chicago 1978. Hier: S. 29. Hervorhebungen im Original. 24 Dieter Janik: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell. Bebenhausen 1973. 25 Vgl. Janik, Kommunikationsstruktur, S. 12.

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lichen Alltagskommunikationen abgrenzt, sondern sie verschafft dem fiktionalen Erzählen zugleich theoretische Spielräume, die – wie im Folgenden noch gezeigt wird – bestimmte Varianten mehrstimmigen Erzählens ermöglicht, welche die ‚einfache‘ Kommunikation entbehrt. Janik erläutert sein Modell folgendermaßen: Die Erzählung als in sich abgeschlossene Kommunikation tritt bei der Aufnahme durch den konkreten Leser in eine neue Kommunikationsbeziehung, wobei es am einzelnen Leser liegt, in welchem Maße er die Erzählung auf den Autor, d. h. eine individuelle, existente Schriftstellerpersönlichkeit, zurückbezieht. Eine dritte Kommunikationsebene sei hier zunächst nur der Vollständigkeit halber erwähnt, obwohl sie keine konstitutive Bedeutung für das Erzählwerk hat. Sie betrifft die Kommunikationsbeziehungen zwischen den Personen der Erzählung.26

Die Verdopplung des Kommunikats ist also nach Janik an die Aufnahme des Textes durch eine Rezeptionsinstanz [Kommunikationsebene 1] gekoppelt, wobei das Gelesene [Kommunikationsebene 2] wiederum subjektiv, d. h. durch den jeweiligen Leser individuell und somit graduell an die Person des historischen Autors angebunden wird. Die von Janik ebenfalls erwähnte, jedoch von ihm in ihrer Bedeutung untergeordnete Ebene der sich miteinander austauschenden intradiegetischen Figuren [Kommunikationsebene 3] wird für die im Anschluss zu erstellenden Kategorien der narrativen Polyphonie noch eine wichtige Rolle spielen, handelt es sich bei den erzählten Figuren doch um fiktionale Konstrukte, die selbst polyphon sein können, wenn sie mittels Zitaten andere Stimmen in die eigene Stimme integrieren. Zudem können sie – je nach psychologischer Konzeption der Figur – weitaus mehr rezipieren als „nur“ die Stimmen der anderen Figuren, indem sie Geräusche als sprachliche Äußerungen fehldeuten oder auch Stimmen im Rahmen einer ihnen zugeschriebenen psychischen Erkrankung vernehmen. Dieser Aspekt wird im Rahmen des überarbeiteten Stimmbegriffs, d. h. im Zuge der Definition einer Aussageinstanz in Erzähltexten, genauer verhandelt. Zunächst einmal gilt es zu erläutern, inwiefern sich die Überlegungen von Janik auf eine fruchtbare Weise mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden narratologischen Ansatz von Gérard Genette verbinden lassen, um überhaupt erst einmal zu einer überarbeiteten Kategorie der ‚Stimme‘ zu gelangen. Janiks anfängliche Bemerkung, er wolle seinen „gewählten Ansatz bei der Instanz des Erzählers noch näher begründen und ihn nochmals von dem ‚text‘-orientierten Ansatz der französischen Strukturalisten abheben“27 suggeriert zunächst viel-

26 Ebd. 27 Vgl. Janik, Kommunikationsstruktur, S. 19.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen 

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leicht eine größere Divergenz zwischen den verschiedenen Zugriffen, als es – zumindest hinsichtlich der Instanz des Erzählers – tatsächlich der Fall ist. So fordert Janik: „Die Manifestationen des Erzählers im Erzählwerk müssen in ihrer Gesamtheit als strukturelle Eigenschaften aus der Kommunikationsstruktur des Erzählwerks herleitbar sein“28 und verweist noch einmal auf die Besonderheiten des fiktionalen Erzählens, das sich durch eine spezielle, mehrstufige Kommunikationsstruktur auszeichnet: Die besondere Kommunikationsstruktur des literarischen Erzählwerks resultiert, wie schon oben dargelegt, aus der Tatsache, daß die Redesituation, in der der Erzähler […] mit dem Leser […] mittels einer Rede vom Typ Erzählrede kommuniziert, fingiert ist, das heißt frei ist von jeglichen situationellen (zeitlichen, räumlichen und kontextuellen) Determinationen. Dadurch ist aber der Empfänger der Kommunikation des Erzählers eine fiktive Person und nur als Projektion des Erzählers aufzufassen […]. Aus dieser besonderen Erzählsituation der literarischen Erzählungen ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der Manifestation des Erzählers in der Erzählung, die jeweils als Beziehung des Erzählers […] zu den anderen Konstituenten der Redesituation sowie zu den Konstituenten des Redeinhalts beschrieben werden können.29

Janiks Formulierung der „verschiedene[n] Möglichkeiten der Manifestation des Erzählers in der Erzählung“ erinnert doch stark an die von Genette postulierte ‚Spurensuche‘30 nach der narrativen Instanz, so dass an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit beider Ansätze festgestellt werden kann: Sowohl Janiks Modell als auch der eingangs vorgestellte Ansatz Genettes gehen davon aus, dass die Erzählinstanz fiktionaler Erzähltexte auf eine bestimmte Weise in den Text ‚eingeschrieben‘ ist und rekonstruiert werden kann. Janiks Überlegungen verweisen jedoch zusätzlich auf die besonderen Bedingungen fiktionaler Rede und auf ihr entscheidendes Merkmal des Losgelöstseins von jeglichen Determinanten, die die faktuale Kommunikation eines realen Sprechers grundsätzlich begleiten. Legt man Janiks Theorie nun also zugrunde und denkt die von ihm postulierten „verschiedene[n] Manifestationen des Erzählers“ weiter, so stützt auch seine Theorie die wichtige Grundthese für einen erweiterten Begriff der ‚Stimme‘: Erzählinstanzen können sich auf verschiedene Weise in fiktionalen Erzähltexten manifestieren und sind nicht den gleichen Restriktionen unterworfen wie das mündliche Erzählen im Alltag, woraus folgt, dass sich eine Erzählinstanz aus mehreren, gleichberechtigt nebeneinander stehenden ‚Stimmen‘ zusammensetzen kann.

28 Ebd., S. 64. 29 Ebd., S. 65. 30 Vgl. Genette, Diskurs, S. 152.

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Ähnlich wie Janik geht auch der Slavist Wolf Schmid von einem mindestens zwei Kommunikationsebenen umfassenden Erzählwerk aus, das im Falle einer enthaltenen Figurenkommunikation um eine dritte Ebene erweitert wird. Schmid nimmt jedoch eine entscheidende Differenzierung für den Bereich des Empfängers vor, die für einen erweiterten Stimmbegriff einen wichtigen Impuls liefert: Das Erzählwerk, das, wie wir festgestellt haben, nicht selbst erzählt, sondern ein Erzählen darstellt, umfasst mindestens zwei Ebenen der Kommunikation: Autorkommunikation und Erzählkommunikation. Zu diesen beiden für das Erzählwerk konstitutiven Ebenen kann eine dritte, fakultative hinzutreten, die Figurenkommunikation. Das ist dann der Fall, wenn eine der erzählten Figuren ihrerseits als Sprech- oder Erzählinstanz auftritt. Auf jeder dieser drei Ebenen unterscheiden wir eine Sender- und Empfängerseite. Für den Begriff des Empfängers ist allerdings eine nicht unwesentliche Zwiespältigkeit zu beachten, die von den einschlägigen Kommunikationsmodellen oft vernachlässigt wird. Der Empfänger zerfällt nämlich in zwei Instanzen, die funktional oder intensional zu scheiden sind, auch wenn sie material oder extensional zusammenfallen: in den Adressaten und den Rezipienten. Der Adressat ist der vom Sender unterstellte oder intendierte Empfänger, derjenige, an den der Sender seine Nachricht schickt, den er beim Verfassen als vorausgesetzte oder gewünschte Instanz im Auge hatte, der Rezipient ist der faktische Empfänger, von dem der Sender möglicherweise – und im Falle der Literatur: in der Regel – nur eine allgemeine Vorstellung hat.31

Mit seiner Aufspaltung der Empfängerinstanz macht Schmid – denkt man seinen Ansatz weiter – auch auf den pragmatischen Status einer jeden Mitteilung aufmerksam, nämlich, dass eine Nachricht auch ihr Ziel verfehlen kann und somit der Adressat nicht immer zwingend der tatsächliche Rezipient sein muss. Beide Instanzen können zusammenfallen – sie müssen es aber nicht. Diese Erweiterung des Kommunikationsmodells ist auch aus der Sicht des hier fokussierten Ansatzes gewinnbringend, da hier mit dem tatsächlichen Rezipienten – in Abgrenzung zu dem Adressaten – eine Instanz ins Spiel gebracht wird, die für einen erweiterten Stimmbegriff basale Anregungen liefert. Als eine wichtige Einsicht ist an dieser Stelle zunächst einmal festzuhalten, dass die Instanz des Empfängers eben nicht mit dem Adressaten des Senders identisch sein muss, sondern, dass das Phänomen einer ‚fehlgeleiteten Kommunikation‘ auch für die miteinander kommunizierenden Figuren in fiktionalen Erzähltexten zu berücksichtigen ist. Somit mangelt es dem Sender A an dem eigentlich adressierten Empfänger B, was bedeutet, dass ohne die von Schmid ergänzte Instanz des tatsächlich erreichten Rezipienten C trotz vollzogenem Kommunikationsakt eine Lücke innerhalb der theoretischen Modellbildung klaffen würde, welche durch

31 Schmid, Elemente, S. 43.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen



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die Möglichkeit einer Aufsplittung in die Instanzen Adressat und Rezipient besteht. Denkt man Schmids Ergänzung des Kommunikationsmodells weiter, so ergibt sich noch eine Variante der rezipierten Mitteilung, bei welcher die bis dato entwickelten Kommunikationsmodelle nicht greifen: Die empfangene Nachricht ohne einen dazugehörigen Sender. Was zunächst nach einem Paradoxon klingt, lässt sich sowohl für die Kommunikation im Alltag32 als auch für den hier fokussierten Bereich erzählter Figuren auf zweierlei verschiedene Weisen konstruieren: So ist es zum einen möglich, dass eine Figur ein schlichtes Geräusch oder einen Laut mit einer gehörten Stimme verwechselt und etwas als eine Nachricht versteht, was keinem Sender als bewusst intendierte Mitteilung zugeschrieben werden kann. Zum anderen lässt sich die Psychologie einer Figur aber auch so konstruieren, dass die Figur eine (oder mehrere) Stimme(n) hört, zu welchen es innerhalb der erzählten Welt keinen Sender, d. h. keine erzählte Figur als fiktiven Sprecher gibt. In diesem Fall bildet sich die Figur ein akustisches Signal – welcher Art auch immer – lediglich ein. Anders als in dem erstgenannten Fall, in welchem immerhin ein ‚etwas‘ im Rahmen der erzählten Welt hörbar wird, das jedoch fälschlicherweise als eine verbal artikulierte Nachricht missverstanden wird,33 fehlt bei der zweiten Variante ein – im Kreise der erzählten Figuren – intersubjektiv nachvollziehbares akustisches Zeichen. Zusammengefasst bedeutet das für die beiden oben genannten Fälle: Obwohl also die gehörte Stimme ausschließlich im Kopf der Figur konstruiert wird – und diese somit nicht an eine andere sprechende Figur innerhalb der erzählten Welt angebunden ist – wird die gehörte Botschaft der Stimme doch trotzdem als eine Nachricht rezipiert, die in der Wahrnehmung der hörenden Figur von einem fremden Urheber gesandt wird. Obwohl es also keinen Sender im Sinne einer erzählten Figur gibt, so gibt es doch einen Empfänger und eine rezipierte Nachricht. Auch wenn Schmid in seinen Ausführungen zur Bedeutung der Figurenrede in narrativen Texten nicht auf das letztgenannte Phänomen eingeht, so liefert er doch stichhaltige und mit Blick auf die hier fokussierte Fragestellung über-

32 Selbstverständlich ist es auch im Alltagsleben möglich, dass ein Mensch ein Geräusch als die vermeintlich verbale Äußerung eines anderen Menschen fehlinterpretiert oder er aufgrund einer psychischen Erkrankung glaubt, Stimmen zu hören. Beide Möglichkeiten scheinen mir evident, sind aber nicht Gegenstand eines Ebenenmodells der literarischen Kommunikation und werden deshalb an dieser Stelle ausgeklammert. 33 Vgl. z. B. die Tierlaute in E. A. Poes Geschichte „The Murders in the Rue Morgue“, die von den Figuren innerhalb der erzählten Welt fälschlicherweise als Teil eines Dialoges aufgefasst werden. Im Rahmen der Kategorie der figural-konstruierten Stimme wird dieses Beispiel näher erläutert.

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tragbare Gründe dafür, eine doppelte Funktion der Inklusion figuraler Stimmen – und somit auch figural-konstruierter Stimmen – näher zu betrachten: Auf jeden Fall erfahren die Segmente einer Figurenrede im Erzähltext eine funktionale Überdeterminierung, insofern sie einerseits figurale Inhalte ausdrücken, andererseits aber die doppelte Aufgabe erfüllen, die Figur zu charakterisieren und zugleich die Narration zu befördern. Das heißt: Worte, die von der sprechenden Figur als Mitteilung intendiert sind, dienen in der Wiedergabe durch den Erzähler zusätzlich als Mittel sowohl der Charakterisierung der Figur als auch der Darstellung der Geschichte.34

Diese doppelte Aufgabe der Figurenrede lässt sich nun auch auf von Figuren lediglich rezipierte Stimmen ohne tatsächlichen Sprecher anwenden: Durch ihr Hören erfährt die Figur eine zusätzliche Charakterisierung, denn entweder wird sie als eine sich lediglich täuschende oder an einer psychischen Erkrankung leidende Figur konzipiert – in jedem Falle aber als ein Charakter gezeichnet, der bestimmte Situationen verkennt und über eine besondere Wahrnehmung verfügt. Hieraus ergibt sich die zweite von Schmid genannte Aufgabe hinsichtlich der Darstellung der Geschichte, da der – wie auch immer geartete – Irrtum der Figur innerhalb der erzählten Welt nur in den seltensten Fällen folgenlos bleiben dürfte und somit die Geschehnisse vorantreibt. Umso erstaunlicher ist es, dass Überlegungen hierzu im Zuge einer kategorisierenden Forschung zur narratologischen Kategorie der ‚Stimme‘ bisher unberücksichtigt geblieben sind und Phänomene dieser Art sich noch nicht mit einem narratologischen Terminus bezeichnen lassen. Wie Wolf Schmid in seinen Ausführungen zu Recht bemerkt, stehen die von den Figuren geäußerten und rezipierten Informationen ja in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu der sie zitierenden narrativen Instanz, welche den gesamten Diskurs hervorbringt, so dass eine umfangreiche Analyse der Kategorie der ‚Stimme‘ ohne eine Inklusion der sämtlichen Äußerungen und rezipierten Nachrichten durch die Figuren nicht zu leisten ist. Schmid fasst pointiert zusammen: Generell kann man sagen, dass der Erzähler, indem er Worte (oder Gedanken) der Figur zitiert, den „fremden“ Text für seine eigenen narrativen Zwecke nutzt. Die Figurenrede übernimmt damit eine narrative Rolle und ersetzt die Erzählerrede. […] [Es] wurde dargelegt, dass der Erzähler, wenn er Figurenreden wiedergibt, die figuralen Zeichen und Signifikate und ihre Interdependenz als Signifikanten benutzt, die zusammen mit anderen Signifikanten seine narratorialen Signifikate ausdrücken. Deshalb sind alle Versuche verfehlt, die „direkten“ Reden und Dialoge aus dem Erzähltext und aus dem Objektfeld der Narratologie auszuschließen.35

34 Schmid, Elemente, S. 156. 35 Ebd.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen



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Schmids Brückenschlag zwischen den Figurenstimmen und der Erzählinstanz erweist sich für eine Erweiterung der narratologischen Kategorie der ‚Stimme‘ als ausgesprochen erhellend, ermöglicht eine Inklusion aller Aussageinstanzen, die sich über Sachverhalte innerhalb der erzählten Welt äußern, es doch erst, einem Text in seiner gesamten stimmlichen Vielfalt gerecht zu werden. Demnach muss grundsätzlich also jede als ‚fremd‘ rezipierte Äußerung berücksichtigt werden, d. h. auch diejenige gehörte Rede, die nicht in den Bereich der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz fällt oder innerhalb der erzählten Welt als agierende und sprechende Figur etabliert wird. Daraus ergibt sich, dass eine Aussageinstanz im Rahmen der erzählten Welt auch von den Figuren imaginiert sein kann: Die hörende Figur ist dann insofern polyphon, als sie das Gehörte an eine Vorstellung von einem Kommunikationspartner anbindet und dessen Stimme zusätzlich zu der eigenen in ihrem Kopf entstehen lässt. Auf diese Weise trägt die Figur zwei Stimmen in sich: Die eigene Sprechstimme, mit der sie innerhalb der erzählten Welt kommuniziert, und die imaginierte Stimme, die sie im Anschluss an ihre akustische Wahrnehmung konstruiert. Folglich lassen sich drei verschiedene Ausformungen benennen und mit Blick auf eine potenzielle Mehrstimmigkeit untersuchen. Folgende Definition wird nun dem Oberbegriff der Aussageinstanz zugrunde gelegt: Als Aussageinstanz innerhalb eines fiktionalen Textes wird eine sich mitteilende Instanz verstanden, die privilegiert ist, sich über Sachverhalte innerhalb der erzählten Welt zu äußern (als extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz), innerhalb der erzählten Welt zu kommunizieren (als Figurenstimme) oder die als Ursprung einer fremden Rede von einer Figur wahrgenommen bzw. imaginiert und somit rezipiert wird (als eine figuralkonstruierte Stimme).

Der Terminus der Aussageinstanz ist also als ein übergeordneter Begriff gedacht, unter dem sich heterogene Phänomene subsumieren lassen, die alle das distinktive Merkmal einer – auf verschiedene Weise konstruierten – Form artikulierter oder rezipierter Rede innerhalb eines Erzähltextes verbindet. Somit fallen unter den Terminus der Aussageinstanz die narrative Instanz, die Figurenstimmen und die von den Figuren gehörten Stimmen. Da den innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren in aller Regel die Vorstellung von einer Person zugrunde liegt, wurde für diese Varianten der Aussageinstanz der Begriff der Stimme ohne einfache Anführungszeichen beibehalten, da die gedankliche Anbindung an eine Person beim Konzept der Figur die Basis einer sinnvollen und intersubjektiv nachvollziehbaren Lektüre und Analyse bildet. Als erste Ausformung von einer Aussageinstanz ist die bereits von Genette untersuchte extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz zu nennen. Sie ist kein Teil der erzählten Welt, sondern bringt diese überhaupt erst hervor und

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äußert sich über sie. Innerhalb dieser Aussageinstanz kann sich aber eine bisher innerhalb narratologischer Untersuchungen noch nicht beachtete Mehrstimmigkeit verbergen, welche sich auf zweierlei Weisen äußern kann. Zum einen kann die narrative Instanz polyphon sein: In diesem Falle handelt es sich um zwei (oder mehrere) ‚Stimmen‘36 innerhalb der narrativen Instanz, die nicht zur gleichen Zeit sprechen, aber gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Sie kann als zweite Variante aber auch kollektiv sein, was bedeutet, dass die narrative Instanz aus grammatischer Sicht auf eine besondere Weise konstruiert ist und innerhalb der Narration durchgängig die Form der ersten Person Plural verwendet wird. Das Genettesche Beschreibungsinstrumentarium liefert auch hier keine Differenzierungsmöglichkeit innerhalb der Kategorie der narrativen Instanz, welche zwar als einstimmig erscheint, die aber – angezeigt durch das Personalpronomen ‚wir‘ – eine potenziell unendliche Anzahl von Aussageinstanzen (mindestens aber zwei) vereint, die sich durch einen Konsens in der gemeinsamen Sichtweise (kollektive Fokalisierung) und zugleich durch eine gemeinsame Hervorbringung der erzählten Welt auszeichnet. Die Fülle der Anzahl verschiedener Aussageinstanzen in Erzähltexten erschöpft sich jedoch nicht mit einer Ausdifferenzierung der Kategorie der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz. Auf der Ebene der innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren sind weitere Binnendifferenzierungen notwendig, um verschiedene Ausformungen ihrer figuralen Stimmen und Mehrstimmigkeit formal klassifizieren zu können. Es handelt sich bei den nun zu fokussierenden Figurenstimmen also nicht um eine weitere Präzisierung des Genetteschen Modells – seine Kategorie der ‚Stimme‘ ist auf die Ebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz begrenzt – sondern vielmehr um eine Erweiterung seines Beschreibungsvokabulars, das im Folgenden durch eine Inklusion der erzählten Figuren ausgedehnt werden soll. Diese können auch auf zweierlei Weise mehrstimmig konstruiert sein: Analog zu der zuvor betrachteten Kategorie der narrativen Instanz kann dies ebenfalls sowohl in Form einer polyphonen als auch in der Variante einer kollektiven Mehrstimmigkeit der Fall sein. Hierbei gilt es aber vorab, die Art und Weise der Konstruktion der Figur von der zuvor besprochenen extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz in zweifacher Hinsicht zu unterscheiden. Zum einen befinden sich die intradiegetischen Figurenstimmen auf einer anderen Erzählebene und werden von der narrativen Instanz erst hervorgebracht, indem diese die Figuren ‚er36 Im Falle der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz wird auf die inkludierten ‚Stimmen‘ grundsätzlich mit einfachen Anführungszeichen verwiesen, um eine deutliche Distanz zu der menschlichen Stimme zu markieren und so die Anbindung an eine Vorstellung von einer grundsätzlich einstimmigen Person zu vermeiden.

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen 

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zählt‘. Zum anderen folgt die Figurenkonstruktion einem anderen gedanklichen Konzept als die narrative Instanz, da Figuren in Erzähltexten häufig mit Merkmalen ausgestatten sind, die sie mit Personen teilen: Figuren tragen Eigennamen, sie können potenziell denken, handeln, fühlen, untereinander kommunizieren und sind auch ansonsten in aller Regel so gezeichnet, dass eine Orientierung an dem Lebewesen Mensch offenkundig zutage tritt und eine Anbindung an die Vorstellung von einer Person bewusst gewählt wird.37 Als eine polyphone Figurenstimme soll in der folgenden Typologie diejenige Stimme einer Figur bezeichnet werden, welche mindestens eine zweite, potenziell aber eine unbegrenzte Anzahl weiterer Stimmen in die eigene Stimme integriert. Anders als bei der narrativen Instanz handelt es sich bei Figurenstimmen aber, wie bereits ausgeführt, nicht um die anonym bleibende Aussageinstanz der extradiegetischen Erzählinstanz, sondern um eine Textfunktion, welche sich in ihrer Struktur an der Vorstellung von einer Person orientiert, so dass folglich die Mehrstimmigkeit auf eine andere Weise konstruiert sein muss. Im Falle einer Figurenstimme können nicht zwei Aussageinstanzen gleichberechtigt nebeneinander stehen, so wie es bei der polyphonen narrativen Instanz der Fall ist: Würde eine Figur zwei verschiedene Sichtweisen und Haltungen zu einem Geschehen vertreten, die in einem diametralen Gegensatz zueinander stehen, so wäre diese Figur allenfalls durch das Krankheitsbild der Schizophrenie charakterisiert, nicht aber durch eine Form der Mehrstimmigkeit. Die Möglichkeit, eine Figur als polyphon zu konstruieren, liegt in der Verwendung von Zitaten: Diese besondere Form der Intertextualität ermöglicht es, einer Figur eine fremde Stimme – im Sinne eines fremden Urhebers, einer fremden Quelle der geäußerten Rede – zu verleihen, welche in die eigene Stimme integriert wird und die Figur somit als mehrstimmig ausweist. Eine zweite Möglichkeit der Mehrstimmigkeit für die Kategorie der Figur liegt in der Variante der kollektiven Figurenstimme, die es ermöglicht, die gemeinsame Haltung einer gesamten Gruppe (mindestens aber zweier Figuren)

37 Freilich sind die Möglichkeiten der Figurenkonstruktion damit nicht erschöpft; man denke z. B. nur an phantastische Texte oder Märchen, innerhalb welcher den Figuren andere Fähigkeiten zukommen können als dem realen Menschen. Dies steht einer grundsätzlichen Anlehnung der Kategorie ‚Figur‘ an das Konzept ‚Person‘ jedoch nicht entgegen. Vgl. hierzu auch das Kapitel zur Figur in Martínez / Scheffel, in welchem die Verfasser die kategorialen Unterschiede zwischen literarischen Figuren und realen Personen herausarbeiten. Bei aller wichtiger und berechtigter grundsätzlichen Differenzierung zwischen den beiden Begriffen verweisen Matías Martínez und Michael Scheffel hier auch auf die Erkenntnis kognitiver Erzählforscher, „dass literarische Figuren im Lektüreprozess zumindest teilweise durch dieselben Inferenzprozesse mental konstruiert werden, die bei der Wahrnehmung realer Personen stattfinden“ (vgl. Martínez / Scheffel, Einführung, S. 147).

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zum Ausdruck zu bringen. Grundlage hierfür ist – analog zu der kollektiven narrativen Instanz – die innerhalb der Narration durchgängige Verwendung der ersten Person Plural, welche eine Identifikation einzelner Sprechinstanzen grundsätzlich ausschließt: Die geäußerten Worte können ausschließlich einer Gruppe zugeschrieben werden, welche sich in ihrer Gesamtheit unter Umständen näher spezifizieren lässt. Grundsätzlich bleibt aber ein aus mindestens zwei Stimmen zusammengesetztes Kernkollektiv anonym, das sich nicht auseinanderdividieren lässt. Entscheidend ist hierbei nicht nur, dass die grammatische Form der ersten Person Plural innerhalb der Narration durchgehalten wird, sondern auch, dass es sich bei dieser besonderen Konstruktion der Figurenstimme um eine extradiegetische Sprechinstanz handelt. Das bedeutet, dass der kollektiven Figurenstimme keine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz übergeordnet ist: Sie wird nicht erzählt, sondern sie ist die übergeordnete Stimme, welche die erzählte Welt hervorbringt. Somit nimmt sie innerhalb einer Typologie möglicher Erzählinstanzen eine ähnliche Sonderrolle ein, wie die IchErzählinstanz, welche die erzählte Welt ebenfalls hervorbringt und gegebenenfalls auch ein Teil dieser ist. Diese Möglichkeit besteht auch im Falle der kollektiven Figurenstimme: Sie kann ebenfalls ein Teil der von ihr erzählten Welt sein, sie muss es aber nicht. Ebenfalls auf der intradiegetischen Ebene der erzählten Welt angesiedelt ist die letzte zu erstellende Kategorie, die figural-konstruierte Stimme. Nachdem zuvor zwei Varianten der Polyphonie betrachtet worden sind, die sich aus der besonderen Konstruktion der Figurenstimmen ergeben, also auf eine bestimmte Struktur figuralen Sprechens zurückgehen, soll es nun um eine Form der Mehrstimmigkeit gehen, die an ein spezifisches Hören der Figuren gebunden ist. Diese auf die akustische Wahrnehmung einer Figur (oder mehrerer Figuren) zurückgehende Kategorie ist insofern als eine Stimme im Text beobacht- und beschreibbar, als ihr von der sie hörenden Figur ein Ursprung der Rede zugeschrieben wird, ihr also aus der figuralen Wahrnehmung heraus der Status einer Stimme verliehen wird. Diese figurale Konstruktion der Stimme kann auf zwei verschiedene Arten geschehen: In Form der Verwechslung eines Geräusches als einer Stimme (die Figur vernimmt ein akustisches Signal, welches sie als eine Stimme missdeutet) oder aber die Figur bildet sich die gehörte Stimme ohne ein – innerhalb der erzählten Welt hörbares – Geräusch ein. Unabhängig von der Art und Weise, wie die figural-konstruierte Stimme im Text angelegt ist, zeichnet sie sich durch eine grundsätzliche Wirkung aus: Sie liefert immer zusätzliche Informationen zu der Psychologie der sie hörenden Figur, indem sie diese als über eine besondere Wahrnehmung verfügend zeichnet. Somit handelt es sich bei der Kategorisierung einer figural-konstruierten Stimme nicht nur um die formale Spezifizierung einer bestimmten Textfunktion, sondern es wird

2.3 Fiktionales und faktuales Erzählen 

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grundsätzlich auch immer ein Hinweis auf die charakterliche Zeichnung der Figur geliefert, die sich innerhalb der erzählten Welt bewegt und dort agiert. Betrachtet man sämtliche oben erstellten Kategorien, so lässt sich festhalten, dass ihnen allen implizit ein neues Begriffsverständnis der Kategorie ‚Stimme‘ zugrunde liegt, für das im Folgenden durch den oben definierten Begriff der Aussageinstanz ein Oberbegriff für verschiedene Varianten von ‚Stimmen‘ und Stimmen eingeführt wird. Für die Textfunktion der extradiegetischen Erzählinstanz gilt, dass der von Genette entwickelte Terminus der narrativen Instanz einerseits sehr verdienstvoll ist und bestimmte Grundlagen geschaffen hat, die zum Teil auch in der anschließenden Typologie aufgegriffen und erweitert werden (vgl. die polyphone narrative Instanz und die kollektive narrative Instanz). Andererseits haben bereits die kurzen Ausführungen zu den bisher noch nicht beachteten Ausformungen von Aussageinstanzen gezeigt, dass der innerhalb der Narratologie bisher konkurrenzlos gültige Stimmbegriff Genettes einer Überarbeitung und Erweiterung bedarf, um der bisher unberücksichtigten Vielzahl von Aussageinstanzen in Erzähltexten Rechnung zu tragen. Ausgehend von den obigen Überlegungen, werden in den folgenden Kapiteln die neuen Kategorien erarbeitet und vorgestellt, die als Aussageinstanzen entweder noch nicht hinsichtlich ihrer möglichen Mehrstimmigkeit untersucht (extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz bzw. Figurenstimmen) oder bisher als Stimme überhaupt noch nicht systematisiert worden sind, wie die figural-konstruierte Stimme. Das Ziel der folgenden Typologie ist also keine Distanzierung von dem Vokabular Gérard Genettes – aus diesem Grunde wird seine Terminologie für die Kategorie der narrativen Instanz auch beibehalten –, sondern vielmehr eine Anknüpfung an seine Überlegungen. Hier muss allerdings für die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz eine zwingende Entkoppelung von der gedanklichen Anbindung an eine Person erfolgen, um der Vielschichtigkeit polyphoner Phänomene in fiktionalen Erzähltexten Rechnung tragen zu können. In der folgenden Typologie werden die Kategorien zunächst entwickelt und anhand einzelner Texte auf ihren heuristischen Wert überprüft. Diese knappen Textanalysen verfolgen das Ziel, die theoretischen Überlegungen zu den jeweiligen Kategorien beispielhaft zu verdeutlichen und zugleich auch die Anschlussfähigkeit des hier gewählten theoretischen Ansatzes anhand praktischer Kurzinterpretationen zu unterstreichen. Die Systematisierung der hier fokussierten Erzählstrukturen erschöpft sich nicht in ihrem vermeintlichen Selbstzweck als ein Zuordnungsraster, welches es zunächst erst einmal erlaubt, formale Besonderheiten in die jeweils passende Schublade zu verfrachten, sondern es geht zugleich auch darum, aus dieser Typisierung einen Nutzen für eine auf narratologischen Grundmustern basierende Textanalyse zu ziehen. In diesem Sinne soll

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der Blickwinkel dafür geöffnet werden, dass auch ein in der Feststellung bestimmter Textstrukturen wurzelndes Beschreibungssystem sich mit einer Vielzahl von anderen Methoden und Ansätzen innerhalb der Literaturwissenschaft kombinieren lässt und so gleichermaßen neue und interessante Forschungsergebnisse ermöglicht.

3 Narrative Polyphonie: Kategorien mehrstimmigen Erzählens 3.1 Neue Kategorien (1): Polyphone und kollektive narrative Instanz Das folgende Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit der Aussageinstanz der extradiegetischen narrativen Instanz und untersucht hier zwei der Konstruktion nach verschiedene Varianten, welche auf den ersten Blick als einstimmig erscheinen, sich bei genauer Betrachtung aber als mehrstimmig erweisen. Die erste Kategorie, für welche an dieser Stelle der Begriff polyphone narrative Instanz eingeführt werden soll, zeichnet sich durch ein Nebeneinander von mehreren, mindestens aber zwei verschiedenen Meinungen zu dem dargestellten Geschehen aus, die über die narrative Instanz vermittelt werden. Neben verschiedenen anderen Kriterien, die – wie noch gezeigt wird – eine so konzipierte narrative Instanz zu erfüllen hat, liegt ihre Besonderheit in eben jener deutlich zu erkennenden Pluralität in der Bewertung und verbalen Repräsentation der erzählten Geschichte. Eine Unterkategorie der polyphonen narrativen Instanz stellt die zitierend-polyphone narrative Instanz dar: Hierbei handelt es sich um eine Form der Mehrstimmigkeit, die durch die Integration eines extratextuellen Zitates zustande kommt und abschnittsweise auftreten kann. Die zweite Kategorie, die im Anschluss erstellt wird und mit dem Terminus kollektive narrative Instanz versehen wird, teilt mit der polyphonen narrativen Instanz die verdeckte Mehrstimmigkeit der formal als einstimmig erscheinenden Sprechinstanz, unterscheidet sich jedoch gravierend in der Haltung dieser Aussagen: Während für die polyphone narrative Instanz noch die Unterschiedlichkeit der Haltungen zu dem Inhalt der erzählten Geschichte ein distinktives Merkmal ist, so vereint die kollektive narrative Instanz die Äußerungen einer größeren Anzahl von Sprechern im Sinne eines Konsenses, welcher zwischen den Aussageinstanzen, die über die scheinbar einstimmige narrative Instanz mitgeteilt werden, herrscht. Beide neue Kategorien sollen nun ausführlich vorgestellt und anhand verschiedener Beispiele aus der deutschsprachigen und amerikanischen Literatur erläutert werden.

https://doi.org/10.1515/9783110668810-004

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3.1.1 Die polyphone narrative Instanz Das wichtigste Merkmal der polyphonen narrativen Instanz ist – so wurde oben bereits angedeutet – eine offenkundige Divergenz innerhalb der Erzählinstanz, so dass der Eindruck erweckt wird, es stünden mehrere, mindestens aber zwei verschiedene Meinungen zu der erzählten Geschichte nebeneinander. Diese Konstruktion konkurriert auf den ersten Blick freilich mit innerhalb der Literatur- und Erzähltheorie bereits benannten und ausführlich besprochenen Ansätzen und Theorien, so dass bestimmte Phänomene zunächst ausgeschlossen werden müssen, damit tatsächlich von einer polyphonen narrativen Instanz gesprochen werden kann. Die wichtigste und zugleich diffizilste Abgrenzung muss zu Genettes Begriff der internen Fokalisierung erfolgen. Dieser Fokalisierungstyp vermittelt die Geschichte (oder auch nur Passagen aus dieser) aus der Sicht einer der Figuren, wobei sowohl die Länge intern fokalisierter Passagen als auch die Anzahl der Figuren, aus deren Sicht geschildert wird, variabel ist. „Der Erzähler“, so formuliert Genette, „sagt nicht mehr, als die Figur weiß“1 und nimmt somit den Blickwinkel einer intradiegetischen Figur ein. Bei dieser Art der Darstellung handelt es sich aber nicht um eine polyphone narrative Instanz, sondern lediglich um eine zu besonderen Einsichten in das Seelenleben der Figuren befähigte narrative Instanz, die den Leser gewissermaßen in das Innere eines handelnden Akteurs und dadurch mit ihm blicken lässt. Von dieser Konstruktion ist aber die polyphone narrative Instanz strikt abzugrenzen: Damit eine narrative Instanz als polyphon gelten kann, muss die zweite (dritte, vierte, usw.) geäußerte Meinung zu der erzählten Geschichte ebenso unabhängig sein, wie die einer ‚normalen‘ bzw. einstimmig konzipierten narrativen Instanz. Die versammelten Meinungen innerhalb einer polyphonen narrativen Instanz sind grundsätzlich niemals der Sichtweise einer Figur zugeordnet (ansonsten wäre die betreffende Textpassage eben intern fokalisiert), sondern sie stehen stets gleichberechtigt als divergierende Sichtweisen und Äußerungen innerhalb einer Erzählebene nebeneinander. Um den Fokalisierungstypus der internen Fokalisierung für dieses Phänomen gänzlich ausschließen zu können, kommt hier bereits (der in diesem Falle intratextuelle, d. h. der auf die erzählte Welt des untersuchten Textes begrenzte) Kontext ins Spiel: Nur aufgrund der Untersuchung des gesamten Textes kann retrospektiv erschlossen werden, ob eine narrative Instanz auch tatsächlich mehrstimmig ist, da nur nach der kompletten Lektüre zuverlässig darüber entschieden werden kann, ob eine vermeintliche zweite Aussageinstanz innerhalb 1 Genette, Diskurs, S. 134.

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der narrativen Instanz nicht doch der Sichtweise einer – vielleicht auch erst ganz zum Schluss der erzählten Geschichte – auftauchenden Figur zuzuordnen ist. Eine weitere Abgrenzung muss im Falle mancher Erzählinstanzen zu Booths Terminus des unzuverlässigen Erzählers vorgenommen werden. Abgesehen von dem bereits besprochenen Problem, das sich durch das Konstrukt des impliziten Autors ergibt (vgl. Kapitel 1.3), ist hierbei wichtig, dass Booth in seiner Definition davon ausgeht, dass ein Erzähler entweder zuverlässig oder aber unzuverlässig ist. Die Möglichkeit einer Mischform, nämlich, dass sich ein Erzähler sowohl zuverlässig als auch unzuverlässig in seiner Geschichte äußert, z. B. indem eine zweite, unzuverlässige Aussageinstanz innerhalb der narrativen Instanz sich in logische Widersprüche verwickelt, zieht Booth nicht in Betracht. Genau bei diesem bisher noch nicht beachteten Fall würde es sich aber um eine mehrstimmige narrative Instanz handeln: Diese besondere Konzeption einer Erzählinstanz ist eine artifizielle Variante der polyphonen narrativen Instanz und wird später anhand von Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun (1918) vorgestellt. Zusammenfassend lässt sich zum Begriff des unzuverlässigen Erzählers also sagen: Gilt das Etikett der Unzuverlässigkeit für die gesamte Narration eines Erzählers, so steht zwar noch die Diskussion um die genaue Definition des Terminus, nicht aber die Frage nach einer potenziellen Mehrstimmigkeit zur Debatte. Erst wenn der Eindruck einer in ihrer Meinung geteilten narrativen Instanz entsteht, ist diese auf das Merkmal der Polyphonie hin zu untersuchen. Mit der Unterscheidung von der internen Fokalisierung (worunter auch die erlebte Rede als eine Sonderform fällt) und Booths Terminus des unzuverlässigen Erzählers wurden die wichtigsten literaturtheoretischen Ansätze, von denen es die polyphone narrative Instanz abzugrenzen gilt, benannt. Alle anderen im ersten Kapitel besprochenen Zugriffe scheiden aus, da sie zu ihrer Konstruktion ein Überschreiten der Erzählebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz voraussetzen. Bevor die neue Kategorie der polyphonen narrativen Instanz anhand von Beispieltexten näher erläutert wird, seien ihre theoretischen Voraussetzungen noch einmal rekapituliert. Die beiden ersten sind obligatorisch, während das dritte Kriterium der Glaubhaftigkeit nicht unbedingt eine Rolle für die Definition spielen muss, da nicht jede narrative Instanz die Frage nach potenzieller Unzuverlässigkeit in ihrer Konstruktion aufwirft.

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Zusammengefasst bedeutet dies: – Die narrative Instanz des Textes muss so strukturiert sein, dass innerhalb dieser Textfunktion eine zweite Haltung zu der erzählten Geschichte integriert ist und somit zumindest ein zweifacher, potenziell aber n-facher Kommentar zu den Geschehnissen in der erzählten Welt vorliegt – Diese weitere Bewertung des Geschehens muss unabhängig von der Sichtweise der intradiegetischen Figuren sein; andernfalls würde es sich um den Typus der internen Fokalisierung handeln – Jede weitere Meinung zu der erzählten Geschichte muss nicht zwangsläufig glaubhaft sein: Die polyphone narrative Instanz schließt nicht aus, dass eine oder mehrere in ihr enthaltene Aussageinstanzen mit Blick auf das Erzählte ‚absurd‘ oder nach Booths Begriffsbestimmung unzuverlässig erscheinen 3.1.1.1 Beispieltext: Mary E. Wilkins Freeman: „A New England Nun“ (1891) Als erstes Beispiel für die Verwendung einer polyphonen narrativen Instanz soll nun die im Jahre 1891 erschienene amerikanische Kurzgeschichte „A New England Nun“ von Mary E. Wilkins Freeman dienen. Da für die Erschließung einer mehrstimmigen Sprechinstanz dem Kontext innerhalb der Geschichte eine bedeutende Rolle zukommt, sei der Inhalt in aller Kürze rekapituliert: Nach einer ungewöhnlich langen Trennungs- und Verlobungszeit von vierzehn Jahren planen die in New England verbliebene Louisa Ellis und ihr kürzlich aus Australien zurückgekehrter Verlobter Joe Dagget die gemeinsame Hochzeit. Louisa, die sich ihr Leben nach dem Tode der Mutter und des Bruders zwar für Außenstehende eigentümlich, aber in aller Stille und Zufriedenheit eingerichtet hatte, steht nun vor einer einschneidenden Lebensveränderung. Nicht nur, dass sich eine Entfremdung von Joe in jeder Bewegung des Verlobten bei seinem Besuch in ihrem Hause offenbart; zugleich erfährt der Leser, dass Louisa ihr Haus verlassen und zu Joe samt seiner dominanten und pflegebedürftigen Mutter umsiedeln muss. Bevor es jedoch dazu kommt, wird Louisa zufällig Zeugin eines sehr vertrauten Gespräches zwischen ihrem Verlobten und Lily Dyer, einer jungen Frau, die sich um Joes kranke Mutter kümmert und der Joe offensichtlich gleichermaßen zugetan ist wie sie ihm. Ohne das brisante Gespräch vor Joe zu erwähnen, löst Louisa am nächsten Tag die Verlobung und entscheidet sich zugleich zu einer Rückkehr in ihr früheres solitäres Leben, „prayerfully numbering her days, like an uncloistered nun“2. 2 Mary E. Wilkins Freeman: „A New England Nun“. In: Marjorie Pryse (Hg.): Selected Stories of Mary E. Wilkins Freeman. New York 1983. S. 109–125. Hier: S. 125. Alle weiteren Freeman-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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Die narrative Instanz dieser Short Story nimmt hier über weite Strecken den Blick- und Erzählpunkt eines intradiegetischen Beobachters ein und ist somit extern fokalisiert, d. h., die Erzählinstanz vermittelt eine neutrale Außensicht. Wir erhalten nur spärliche Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten, und wenn, so geschieht dieses nicht durch moderne Erzählverfahren wie das der erlebten Rede oder des inneren Monologs über die Erzählinstanz, sondern mittels der „objektiven Darstellungsweise“ im Sinne Friedrich Spielhagens,3 welche die Figuren als Dialogteilnehmer präsentiert und sie uns somit in einem übertragenen Sinne ‚belauschen‘ lässt. Irritierend wird es, wenn die – sich ansonsten jeglichen Kommentares enthaltende – narrative Instanz an ausgewählten Stellen Äußerungen tätigt, die von der eigentlichen nüchternen Erzählweise abweichen, zugleich aber auch nicht der Sicht einzelner Figuren zugeordnet werden können. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als würde sich innerhalb der narrativen Instanz eine zweite, vermeintlich idealisierende Aussageinstanz zu Wort melden, die eine unkritische Sichtweise vortäuscht und die dadurch die ungewöhnliche Beziehung zwischen Louisa und Joe ironisiert. Die nun folgenden Passagen aus dem Text sollen dieses verdeutlichen. Als erstes Beispiel dient der in seinen Anfängen sachliche Bericht der narrativen Instanz, welcher zunächst völlig wertfrei über Joes Werdegang in Australien informiert, dann aber mit den folgenden Worten schließt: „The fortune had been made in the fourteen years, and he had come home now to marry the woman who had been patiently and unquestioningly waiting for him all that time“ (Freeman, „A New England Nun“, S. 114). Auf den ersten Blick könnte der Rezipient zu der Annahme verleitet werden, diese Textstelle sei intern fokalisiert und könne der Sicht Joe Daggets zugeschrieben werden. Eine genauere Betrachtung des Kontextes erlaubt es aber diese Möglichkeit auszuschließen, da wir von der sachlich-nüchternen Aussageinstanz innerhalb der narrativen Instanz zusätzliche Informationen über die lange Zeit der Trennung des Paares erhalten. Diese lassen nicht nur ein bedingungsloses und geduldiges Warten von Louisa auf den Verlobten in der Fremde als sehr unwahrscheinlich erscheinen, sondern verdeutlichen auch, dass Joe zu keiner Zeit Grund hatte, dieses anzunehmen. So erfährt man über die Verlobten: „They were to be married in a month, after a singular courtship which had lasted for a matter of fifteen years. For fourteen out of the fifteen years the two had not seen each other, and they had seldom exchanged letters“ (Freeman, „A New England Nun“, ebd.). Die Tatsache, dass während der langen Zeit der Trennung weder Besuche stattgefunden haben noch viele Briefe ausgetauscht worden sind, lässt darauf schließen, 3 Vgl. Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans [EA 1883]. Göttingen 1967. Hier: S. 134.

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dass die Beziehung der beiden bereits vor dem langen Abschied nicht sehr innig gewesen ist. Dafür spricht auch, dass der Beginn der Verbindung zwischen Louisa und Joe vor fünfzehn Jahren weniger einer großen gegenseitigen Liebe, als vielmehr den Vermittlungskünsten von Louisas Mutter zu verdanken war: She [Louisa] had listened with calm docility to her mother’s views upon the subject [marriage, S. R.]. Her mother was remarkable for her cool sense and sweet, even temperament. She talked wisely to her daughter when Joe Dagget presented himself, and Louisa accepted him with no hesitation. (Freeman, “A New England Nun”, S. 115)

Die ironische Aussageinstanz innerhalb der narrativen Instanz äußert sich auch an einer weiteren Stelle ein wenig spöttisch, bei der man auf den ersten Blick geneigt sein könnte, sie als intern fokalisiert zu werten: „Joe Dagget had been fond of her and working for her all these years“ (Freeman, „A New England Nun“, S. 120). Gegen eine Sichtweise Louisas spricht allerdings auch an dieser Stelle das offenkundig fehlende Interesse von beiden Seiten, den Kontakt während der langen Trennung zumindest minimal aufrecht zu erhalten. Zudem dürfte die Erinnerung an Joes lakonische Bemerkung vor der Abreise „it won’t be for long“ (Freeman, „A New England Nun“, S. 115) ihr Vertrauen in seine Zuverlässigkeit nicht gerade gestärkt haben, so dass kein Grund besteht, eine derart romantisierende Bewertung der Situation Louisa zuzuordnen. Auch wenn der Begriff „Zeit“ relativ ist und subjektiv empfunden wird, ist es nur schwierig vorstellbar, dass Louisa jahrelang davon ausging, ihr vermeintlich nur kurzzeitig verschwundener Verlobter sei ihr während der gesamten Zeit treu ergeben gewesen und habe nur für sie gearbeitet. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die ausgewählten Passagen rückblickend dank der Kenntnis des gesamten Textes einer Haltung zu dem dargestellten Geschehen zugeordnet werden können, welche von der über weite Strecken sehr sachlich erzählenden narrativen Instanz abweicht. Zugleich handelt es sich aber eindeutig um eine extradiegetische narrative Instanz und somit keinesfalls um die Worte einer intradiegetischen Figur. Außerdem kann, so wurde in der obigen Analyse deutlich, die Sichtweise einer Figur, d. h. die interne Fokalisierung ausgeschlossen werden. Dieses ist aber nur möglich, da die über die sachliche Aussageinstanz innerhalb der narrativen Instanz vermittelten Informationen eine derart naive Sichtweise aller charakterisierten Figuren nicht nahelegen. Die Frage nach der Fokalisierung einer narrativen Instanz ist also immer das Ergebnis einer Interpretation durch den Rezipienten und kann somit theoretisch von Leser zu Leser divergieren. Für die Frage nach einer potenziellen Mehrstimmigkeit innerhalb einzelner Erzählinstanzen ist es jedoch wichtig, den Sinn einer solchen Zuschreibung zu untersuchen. Und hierbei

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kommt wieder der Kontext ins Spiel: Nur aufgrund aller Informationen, die über eine Figur mitgeteilt werden (mittels der Erzählinstanz, anderer Figuren, Selbstcharakterisierung der Figur)4 lässt sich für eine stringente Textinterpretation darüber entscheiden, ob es sich um eine Variante der internen Fokalisierung oder um eine polyphone narrative Instanz handelt. Als Gedankenspiel ließe sich z. B. für das zweite Zitat: „Joe Dagget had been fond of her and working for her all these years“ behaupten, es sei aus der Sicht Louisas geschildert und diese Textstelle sei somit intern fokalisiert. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Verbindung von narrativer Instanz und ‚Fokalisierung‘ nach allem, was der Leser über die Figur und ihre äußerst distanzierte Beziehung zu dem Verlobten erfahren hat, für eine Analyse, die sich an den im Text angelegten Informationen und Strukturen orientieren möchte, tatsächlich sinnvoll ist. Zu behaupten, dass dieser – die Paarbeziehung sehr romantisierende Satz – dem Blickwinkel Louisas zuzuschreiben ist, würde zugleich sämtliche weitere Informationen, die über die Figur mitgeteilt werden, in Frage stellen, da Louisa von der sachlichen Aussageinstanz innerhalb der narrativen Instanz als ausgesprochen autark, selbstbewusst und entschlossen dargestellt wird.5 So ist sich Louisa der Liebe und aufopferungsvollen Arbeit des Verlobten keinesfalls sicher, sondern erscheint in ihrer Haltung vielmehr als äußerst ambivalent: „When Joe came, she had been expecting him, and expecting to be married for fourteen years, but she was as much surprised and taken aback as if she had never thought of it“ (Freeman, „A New England Nun“, S. 116). Dieser Satz, welcher der sachlich-nüchternen ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz zugeordnet werden kann, zeigt, dass Louisa den Verlobten in der Fremde keinesfalls idealisiert hat, sondern sie vielmehr überrascht ist, dass der bereits verloren geglaubte Partner überhaupt zurückkehrt. Es sei noch einmal betont: Dieses kurze Beispiel verdeutlicht eine Grundfrage, die zunächst über ein genaues Verständnis der Diegese,6 des „raumzeitliche[n] 4 Zu den verschiedenen Formen und Funktionen der Figurencharakterisierung in fiktionalen Texten vgl. z. B. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977. S. 250–264. Zur Figurencharakterisierung aus narratologischer Sicht außerdem Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin / New York 2004. S. 207–221 und ders. „Zur Erzähltheorie der Figur“. In: Der Deutschunterricht 57. S. 19–29 sowie ders. „Character“. In: Peter Hühn (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin / New York 2009. S. 14–30. 5 Vgl. z. B. die Beschreibung ihres bewusst genießerischen Lebensstils, welcher von den Nachbarn kritisch beäugt wird (S. 110) oder auch ihre sehr überlegte und entschiedene Art der Auflösung der Verlobung (S. 123 f.). 6 Für ein besseres Verständnis des Begriffes der Diegese bzw. der erzählten Welt siehe auch die Definition von Matías Martínez und Michael Scheffel: „Inbegriff der Sachverhalte, die von

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Universum[s] der Erzählung“,7 gelöst werden muss. Hierzu empfiehlt sich eine kritische und wiederholte Lektüre, um einzelne Aussagen unter Berücksichtigung einer genauen Kenntnis der entworfenen fiktionalen Welt einer narrativen Instanz zuzuordnen. Nicht jede Textstelle, die bei der Interpretation zunächst als ‚intern fokalisiert‘ erscheint, erweist sich nach genauer Prüfung des intradiegetischen Kontextes auch tatsächlich als sinnvolle Zuordnung zu einer Figur. Umgekehrt kann sich die Vermutung einer polyphonen narrativen Instanz recht zügig zerschlagen, sobald die vermeintlich zweite Sicht- und Erzählweise der narrativen Instanz einer intradiegetischen Figur zugeordnet werden kann. Oberste Priorität bei der Frage nach einer potenziellen Polyphonie innerhalb der Erzählinstanz genießt also die Untersuchung des intradiegetischen Kontextes und zugleich die Analyse sämtlicher innerhalb der Textstruktur angelegten Informationen, die sowohl zu der extradiegetischen narrativen Instanz als auch zu den intradiegetischen Figuren mitgeteilt werden. Nur die ständige und kritische Überprüfung der einzelnen Mosaikteilchen führt zu einer begründeten Klassifikation der narrativen Instanz als entweder ein- oder mehrstimmig. 3.1.1.2 Beispieltext: Leo Perutz: Zwischen neun und neun (1918) Als zweites Beispiel für eine polyphone narrative Instanz soll nun der im Jahre 1918 erschienene Roman Zwischen neun und neun von Leo Perutz betrachtet werden. Wie bereits oben erwähnt wurde, handelt es sich bei diesem Text um ein anschauliches Exempel für jene Variante von narrativer Polyphonie, die in einem engen Zusammenhang mit dem von Booth geprägten Begriff des unzuverlässigen Erzählers steht bzw. aus einer Präzisierung dessen hervorgeht. Hierbei offenbart sich ein grundlegender Unterschied zu dem zuvor besprochenen Konzept von Mehrstimmigkeit: Handelte es sich im Falle der Kurzgeschichte „A New England Nun“ noch um eine zweistimmige narrative Instanz, innerhalb welcher die ‚Stimmen‘ verschiedene Wertungen des Geschehens vornehmen (nüchtern-distanziert vs. romantisierend-ironisierend), so ist der Leser bei Perutz’ Roman mit der Frage nach der Glaubhaftigkeit der Erzählinstanz konfrontiert und muss über den intradiegetischen Kontext erschließen, welchen Aussagen und somit welcher ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz vertraut werden kann und welcher nicht. Als Ergebnis dieser Analyse wird sich herausstellen, dass der quantitativ überwältigende Teil der Narration von der nicht-vertrauenswürdigen ‚Stimme‘ innerhalb der Erzählinstanz übernommen wird, wohingegen der vertrauenswüreinem narrativen Text als existent behauptet oder impliziert werden“. In: Martínez / Scheffel, Einführung, S. 192. 7 Genette, Diskurs, S. 313.

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digen ‚Stimme‘ erst zum Schluss und auch nur in einem geringen Umfang das Wort erteilt wird. Wie und warum gelangen wir bei unserer Untersuchung zu diesem Ergebnis? Auf die Wichtigkeit des intradiegetischen Kontextes wurde bereits mehrfach hingewiesen und auch für die nun folgende Modellanalyse ist eine kurze inhaltliche Zusammenfassung des Romans unerlässlich: In Zwischen neun und neun wird die Geschichte des Studenten Stanislaus Demba erzählt, der aus Geldnot versucht, ein aus der Bibliothek entliehenes Buch unrechtmäßig an einen Händler zu verkaufen und auf dessen Denunziation hin postwendend von der Polizei gesucht wird. Auf der Flucht vor dieser kann sich Demba – nachdem ihm aber bereits Handschellen angelegt worden sind – auf den Dachboden des Händlers retten, von dem er jedoch nach kurzer Zeit durch einen Sprung aus dem Fenster zu entkommen versucht und sich dabei tödlich verletzt. Auf dieser Ausgangssituation8 – so lässt sich aus dem Kontext erschließen – bauen beide ‚Stimmen‘, d. h. sowohl die über weite Strecken erzählende und zugleich unglaubwürdige, als auch die nur wenig erzählerischen Raum einnehmende, am Ende des Textes zu Wort kommende glaubhafte ‚Stimme‘ auf. Ab diesem Punkt jedoch beginnt ein narratives Verwirrspiel zweier ‚Stimmen‘, die dem Leser jeweils eine Variante für die letzten Sekunden im Leben des Protagonisten liefern. Während die glaubhafte ‚Stimme‘ am Ende des Romans recht nüchtern das Ergebnis von Dembas Sprung konstatiert und wenige Zweifel an seinem baldigen Tod aufkommen lässt („Seine Glieder waren zerschmettert und aus einer Wunde am Hinterkopf floß Blut“),9 erweist sich die unglaubwürdige und quantitativ dominierende ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz als wesentlich diffiziler zu analysieren und lässt die letzten Momente im Leben des Protagonisten als einen zwölfstündigen Irrlauf Dembas durch Wien erscheinen. Diese überaus komplexe Erzählstruktur und insbesondere der Wechsel von der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ in die glaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz am Ende des Textes soll nun genauer angeschaut werden. Zu Beginn des Romans wird aus der Sicht einer allwissenden Erzählinstanz (Nullfo8 Diese Chronologie entspricht einer Rekonstruktion der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt und muss retrospektiv erschlossen werden, da die Narration der unzuverlässigen ‚Stimme‘ vom ersten bis zum letzten Kapitel einem anderen Zeitkonzept folgt. Eine besondere Herausforderung des Romans an den Leser besteht darin, ebenfalls zwischen den glaubwürdigen Informationen durch Demba (Sprung aus dem Dachfenster) und den unglaubwürdigen Informationen durch ihn (Überleben des Sprunges aus dem Dachfenster) differenzieren zu können. Auch diese Unterscheidung lässt sich nur aus den am Ende des Textes bekannten Konsequenzen des Sprunges, d. h. retrospektiv über den intradiegetischen Kontext, bewerkstelligen. 9 Perutz, Leo: Zwischen neun und neun [EA 1918]. Wien / Hamburg 1978. S. 258. Alle weiteren Perutz-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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kalisierung) berichtet, wie der junge Stanislaus Demba eine Bäckerei betritt und sich dort denkbar seltsam verhält (vgl. Perutz, Zwischen neun und neun, S. 6 ff.). Im Folgenden begleitet der Leser Demba auf seinem Weg durch Wien und wird Zeuge von allerhand irritierenden Situationen und Begegnungen.10 Erst im achten Kapitel erfährt der Leser rückblickend, weshalb sich Demba so merkwürdig präsentiert: Er befindet sich – seit seinem scheinbar überlebten Sprung vom Dachboden morgens um neun Uhr (vgl. Perutz, Zwischen neun und neun, S. 122 ff.) – noch immer auf der Flucht vor der Polizei und ist ständig bemüht, seine bereits angelegten Handschellen zu verstecken. Ab diesem Zeitpunkt folgt der Rezipient dem Protagonisten mit einem deutlich erweiterten Hintergrundwissen: Er weiß nun, weshalb Demba ständig ungewollt in kuriose Situationen gerät und gezwungen ist, sein Leben ohne jeglichen Einsatz der Hände zu meistern. Mit diesen Informationen ausgestattet, wird der Student vermeintliche zwölf Stunden lang verfolgt, bis er abends, um kurz vor neun (vgl. den Hinweis auf S. 255, wo Demba mit Blick auf seine Handschellen angibt, er habe „heute zwölf Stunden lang die Hände unter dem Mantel [versteckt]“) mit seiner Bekannten Steffi zusammentrifft, um gemeinsam mit ihr zu versuchen, die Handschellen zu öffnen. Umso überraschender ist es, dass nun von der zweiten – glaubhaften – ‚Stimme‘ am Ende des Textes die folgende Information erfolgt: „Als die beiden Polizisten – kurz nach neun Uhr morgens – den Hof des Trödlerhauses in der Klettengasse betraten, war noch Leben in Stanislaus Demba“ (vgl. Perutz, Zwischen neun und neun, S. 257; meine Hervorhebung). Wie aber passt diese Bemerkung mit dem zuvor Gelesenen zusammen? Für eine schlüssige Interpretation erweist es sich als ein erzähllogisches Problem, dass die unglaubwürdige ‚Stimme‘ über weite Strecken nicht aus dem eingeschränkten Blickwinkel Dembas berichtet, sondern sich durch ihr Erzählen als ein allwissender Erzähler präsentiert, d. h. als eine narrative Instanz, die nicht fokalisiert. Bei der abenteuerlichen Geschichte über eine Flucht durch Wien handelt es sich also nicht um einen Traum oder eine Todesphantasie Dembas, sondern um eine Art Schelmengeschichte, die von einer Erzählinstanz mitgeteilt wird, deren Wissen weit über die Wahrnehmung des Protagonisten hinausgeht. Ebenfalls nicht fokalisiert ist der glaubhafte Teil der Narration ganz am Ende des Textes, der den Leser über den bald eintretenden Tod Dembas in den Morgenstunden informiert. Es liegt also ein eindeutiger Widerspruch in der Sicht auf die erzählte Welt innerhalb der narrativen Instanz11 vor, die dem Leser 10 Vgl. etwa den verzweifelten und misslingenden Versuch des Studenten, sein Essen – ohne Zuhilfenahme seiner Hände – im Park vor einem Hund zu schützen (S. 21 ff.). 11 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Matías Martínez, der ausdrücklich darauf hinweist, dass „eine Unvereinbarkeit zwischen dem erzählten Inhalt und der Form des Erzählens im Sinne

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einerseits über viele Seiten weismachen will, dass Demba seinen tollkühnen Sprung aus dem Dachgeschoß nahezu unversehrt überlebt habe, andererseits zum Schluss aber deutlich darauf hinweist, dass zwischen eben diesem Sprung und dem bald eintretenden Tod nur wenige Sekunden liegen. Wie lässt sich dieser Widerspruch nun aber erzähltheoretisch erfassen, wenn hier offensichtlich zwei divergierende Erzählerberichte über die Folgen des Sturzes von Stanislaus Demba konkurrieren, die aber beide nicht der Sichtweise einer der Figuren zugeschrieben werden können? Wo liegt hier der Ursprung bzw. Urheber der Rede, wenn innerhalb einer Erzählinstanz einander derart widersprechende Versionen über die Folgen eines Unfalls mitgeteilt werden, dessen Konsequenzen durch das Gegensatzpaar Leben versus Tod nicht unterschiedlicher semantisiert sein könnten? Die zufriedenstellendste Lösungsmöglichkeit für eine literaturwissenschaftliche Interpretation scheint die Annahme bzw. Einführung einer polyphonen narrativen Instanz zu bieten, welche – wie bereits definiert – mehrere, mindestens aber zwei verschiedene ‚Stimmen‘ in sich vereint. Die Aussageinstanz in Perutz’ Roman erfüllt zugleich alle drei zu berücksichtigenden Punkte für eine polyphone narrative Instanz, von welchen die ersten beiden obligatorisch sind, während das dritte Merkmal fakultativ ist. Im Folgenden sei dieser Merkmalskatalog für Zwischen neun und neun noch einmal kurz zusammengefasst. Die erste Bedingung einer bestimmten Ambivalenz innerhalb der Erzählinstanz ist erfüllt, da zwei verschiedene Meinungen zu dem berichteten Geschehen zum Ausdruck kommen. Diese nehmen nicht nur verschiedene Wertungen vor (womit das erste Merkmal bereits erfüllt wäre), sondern widersprechen in ihren Aussagen einander geradezu, was zugleich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des unzuverlässigen Erzählers nach Booth herausfordert. Mit dem Ausschluss einer internen Fokalisierung ist auch das zweite Kriterium erfüllt, welches zur Definition der polyphonen narrativen Instanz unabdingbar ist. Als Ausschlusskriterium für die Figurensicht dient auch an dieser Stelle wieder der intradiegetische Kontext bzw. genauer: Das raumzeitliche Universum der vorliegenden Erzählung. Denn obwohl Demba – so erfahren wir ja von der glaubhaften ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz – nur wenige Sekunden nach dem Sturz stirbt, versucht uns die unglaubwürdige ‚Stimme‘ weiszumachen, der Protagonist irre insgesamt zwölf Stunden durch Wien. Dieses Zeitgefühl spiegelt sich zwar auch in der Stimme der Figur Stanislaus Dem-

einer mangelnden empirischen Plausibilität der Erzählsituation“ besteht. Vgl. Matías Martínez: „Das Sterben erzählen. Über Leo Perutz’ Roman ‚Zwischen neun und neun‘“. In: Tom Kindt / Jan Christoph Meister (Hg.): Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tübingen 2007. S. 23–33. Hier: S. 30.

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ba (vgl. etwa S. 246 unten: „Es ist fünf Minuten vor halb neun.“), aber zugleich vermitteln ebenfalls die nicht-fokalisierten Aussagen der Erzählinstanz dem Leser den Eindruck, dass die Zeit stetig voranschreite. Beispielsweise markieren die schlichte Information: „Nach ein paar Minuten kam Demba zurück“ (Perutz, Zwischen neun und neun, S. 79; meine Hervorhebung) oder auch die Bemerkung: „Es war das dritte Geschäft dieser Art, das Herr Skuludis heute nachmittag mit seinem Besuche beehrt hatte“ (Perutz, Zwischen neun und neun, S. 165; meine Hervorhebung) eindeutig, dass diese ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz von einem längeren Zeitraum zwischen dem Sturz und dem Eintreten des Todes berichten muss als von nur wenigen Sekunden. Zudem verweisen auch andere Figuren auf das stetige Voranschreiten der Zeit. Exemplarisch hierfür blicken wir kurz auf den Bericht von Frau Hirsch, die sich ihrem Gatten gegenüber durchaus irritiert über das frühzeitige Erscheinen von Stanislaus Demba zeigt: Ich will Dir erzählen, was vorgefallen ist. Also hör zu. Vor einer Viertelstunde läutet’s und die Anna kommt herein: Gnädige Frau, der Herr Demba ist da. Ich wundere mich und denk’: Was kann er denn jetzt nach zwei Uhr wollen, die Buben sind ja bis vier Uhr in der Schule, das weiß er ja. (Perutz, Zwischen neun und neun, S. 165; meine Hervorhebung)

Es lässt sich also zusammenfassen, dass sämtliche Informationen zur Zeitstruktur, die innerhalb der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ angelegt sind, auf eine erzählte Zeit von rund zwölf Stunden hindeuten; nicht primär das subjektive Zeitempfinden Dembas ist für die Narration bestimmend, sondern es herrscht vielmehr ein Konsens zwischen den auf die Zeit bezogenen theoretischen Sätzen der unglaubwürdigen ‚Stimme‘, den Äußerungen der anderen Figuren und schließlich auch den Bemerkungen des Protagonisten. Nachdem eine zweite Meinung zu dem berichteten Geschehen innerhalb der Erzählinstanz festgestellt und im Anschluss daran der Fokalisierungstypus der internen Fokalisierung ausgeschlossen worden ist, kann die untersuchte Erzählinstanz eindeutig als polyphone narrative Instanz klassifiziert werden. Die narrative Instanz in Zwischen neun und neun steht zudem paradigmatisch für eine bestimmte Konzeption von narrativen Instanzen, die ob ihrer Unzuverlässigkeit zugleich auch auf das Merkmal der Polyphonie hin zu untersuchen sind. Denn wie die eingehende Betrachtung des Textes von Perutz gezeigt hat, ist die eine ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz zwar unzuverlässig und zugleich auch quantitativ dominant, aber sie erzählt eben nicht alleine, da der Autor ihr zur Klärung des Verwirrspiels am Ende des Romans eine zweite, zuverlässige ‚Stimme‘ an die Seite stellt, die den zuvor herrschenden erzähllogischen Widerspruch aufzulösen vermag.

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Auch aus literaturhistorischer Perspektive weist die Erzählung von Perutz aufgrund ihrer Polyphonie eine besondere Konstruktion auf, die durch den doppelten Blick auf das Geschehen eine erzählte Welt schafft, die auf bestimmte Weise magisch und realistisch zugleich ist. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich der als magischer Realismus bezeichnete Erzählstil vorrangig in Texten „von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre hinein“12 verfolgen lässt, die doppelstimmig erzählte Geschichte um Stanislaus Demba demnach also deutlich vor dessen Kernzeit publiziert worden ist. Perutz’ Roman zeigt aber bereits einzelne Merkmale, die verschiedene Aspekte dieser literarischen Strömung ankündigen: Der an dieser Stelle als magisch bezeichnete Bereich der erzählten Welt wird durch die unglaubwürdige ‚Stimme‘ in der narrativen Instanz generiert, während die nur kurz zu Wort kommende glaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz den realistischen Teil etabliert. Um diese These zu stützen, sei im Folgenden ein Blick auf den „durch besondere inhaltliche und formale Merkmale gekennzeichnete[n] Idealtyp einer erzählten Welt des ‚magischen Realismus‘“13 geworfen, den Perutz in seiner 1918 erschienenen Erzählung zumindest in Ansätzen bereits gestaltet. Es ist bereits gesagt worden, dass den beiden ‚Stimmen‘ innerhalb der narrativen Instanz ein unterschiedlicher Wahrheitsstatus hinsichtlich der erzählten Welt zukommt: Lediglich die am Ende des Romans auftauchende zuverlässige ‚Stimme‘ klärt das Verwirrspiel um den Protagonisten und löst den zuvor herrschenden erzähllogischen Widerspruch auf, indem sie berichtet, was nun innerhalb der erzählten Welt tatsächlich der Fall ist. Diese zweite, zwar quantitativ unterlegene, dafür aber vertrauenswürdige ‚Stimme‘, löst also erst retrospektiv das ein, was Michael Scheffel unter Rückgriff auf das von Felix Martínez-Bonati erstellte Realitätssystem fiktionaler Welten14 im magischen Realismus feststellt, nämlich, dass diese Welten homogen, im Ansatz realistisch und äußerst stabil15 seien. Diese Charakterisierung gilt wohlgemerkt für die von der glaubhaften ‚Stimme‘ transportierten Fakten und die Konstruktion der tatsächlichen erzählten Welt innerhalb des Romans; anders verhält es sich mit dem von der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ vermittelten Weltbild samt dem subjektiven Empfinden des Protagonisten Stanislaus Demba, sowie der Prämisse, auf der die vermeintliche wundersame Odyssee der Hauptfigur aufbaut.

12 Vgl. hierzu und im Folgenden Michael Scheffel: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und der Versuch seiner Bestimmung. Tübingen 1990. Hier S. 82. 13 Vgl. Scheffel, Magischer Realismus, S. 86. 14 Vgl. hierzu Felix Martínez-Bonati: „Towards a Formal Ontolgy of Fictional Worlds“. In: Philosophy and Literature 1 (1984), S. 182–195. 15 Vgl. Scheffel, Magischer Realismus, S. 90.

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Denn wenngleich sich das merkwürdige Verhalten Dembas erst retrospektiv im achten Kapitel für den Leser klärt, so denkwürdig – man könnte auch sagen ‚magisch‘ – nimmt sich sein wie durch Zauber erfolgtes Überleben des Sprunges von einem Dachboden als Grundlage seiner tollkühnen Geschichte aus. Diese von der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ behauptete und zugleich jeglicher medizinischen Wahrscheinlichkeit entbehrende Ausgangslage des Weiterlebens bildet den Auftakt für eine Reihe von Merkmalen, die über eben diese ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz transportiert werden und die an die aufgestellten Charakteristika magisch-realistischen Erzählens erinnern. Exemplarisch seien hier nur ein paar Punkte genannt: So empfindet der Protagonist die Wirklichkeit in einem „Zustand der inneren und äußeren Spannung“,16 d. h. als ein von innerer Unruhe Getriebener und äußerlich durch die Handschellen de facto unter Spannung gesetzter Mensch, der in seiner ausweglosen Isolation „allein ist auf der Welt“.17 Zugleich schimmert auch in den Behauptungen der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ gerade am Ende der Narration – bevor die glaubwürdige ‚Stimme‘ den nahenden Tod Dembas konstatiert – durch, was für die Figuren magischrealistischer Texte vor allem mit Blick auf ihr Zeitempfinden konstatiert wird: „Vor einem spezifisch atmosphärischen Hintergrund […] geraten sie in den […] Zustand einer eigenartigen ‚Bewußtseinshelle‘, einen ‚Zustand zwischen Wachen und Träumen‘ […] in dem alle rationale Kontrolle und ‚das Gefühl für die schwindende Zeit verlorengeht‘“.18 Auch wird wiederholt ein „kleiner Wirklichkeitsausschnitt und das in ihm präzise beobachtete Detail zu einem ‚Gleichnis des Ganzen‘“,19 etwa, wenn Stanislaus Demba im Dialog mit Willy Eisner als Reaktion auf die von diesem leichtfertig getätigte Bemerkung, er habe „leider gebundene Hände“ (Perutz, Zwischen neun und neun, S. 85 f.) die Beherrschung verliert und sich über die Bedeutung der Wendung ereifert: Was für Willy Eisner nicht mehr als eine Floskel innerhalb der Kommunikationssituation darstellt, fasst für Demba lakonisch seine Gesamtsituation zusammen; ihm sind die Hände nicht bildlich, sondern tatsächlich gebunden und bedingen somit seine Handlungsunfähigkeit im Alltag. Ähnlich verhält es sich mit Eisners Resümee über ein kürzlich getätigtes Geschäft, dieses sei „eben ein Sprung ins Ungewisse“ (ebd., S. 86) gewesen. Auch hier reagiert Demba äußerst empfindlich und aggressiv auf die Worte seines Gesprächspartners, da sein persönlicher ‚Sprung ins Ungewisse‘, d. h. der letztlich tödliche vom Dachboden des Trödelhändlers,

16 17 18 19

Ebd., S. 91. Ebd., S. 102. Scheffel, Magischer Realismus, S. 104. Ebd. S. 101.

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an dieser Stelle ebenfalls als ein Gleichnis seiner ausweglosen Gesamtsituation gelesen werden kann. Perutz’ Roman bietet retrospektiv also durchaus Anknüpfungspunkte an das sich erst später etablierende magisch-realistische Erzählen, wie etwa auch die über die genannten Aspekte hinaus „oft unvollständige, auf keinen rational nachvollziehbaren Sinnzusammenhang bezogene Motivierung der erzählten Vorgänge“.20 Und dies ist in einem gleich doppelten Sinne zu verstehen: Bis zum achten Kapitel erscheint dem Leser das Verhalten des Protagonisten völlig unverständlich und willkürlich; und auch ab der hier erfolgenden Aufklärung über die ungewöhnlichen Lebensumstände des Stanislaus Demba ist die Handlung nicht etwa plausibel motiviert, sondern ausschließlich an die irrationale Psyche des monomanischen Protagonisten gekoppelt. Perutz gestaltet in seinem Roman eine Geschichte, die in einem besonderen Maße „vor dem atmosphärischen Hintergrund einer gefährlichen Morbidität“21 angesiedelt ist und bereits einen Ausblick bietet auf die kommende Strömung des magischen Realismus, in der „die Figuren weniger als Handelnde, denn als Getriebene“22 erscheinen. 3.1.1.3 Beispieltext: Ambrose Bierce: „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1891) Mit seinem Roman Zwischen neun und neun knüpft Perutz an die Tradition eines bestimmten Erzähltypus an,23 welcher sich bereits in der 1891 erschienenen Kurzgeschichte „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ (1891)24 von dem amerikanischen Schriftsteller Ambrose Bierce findet. Die Geschichte spielt während des Bürgerkriegs (1861–1865) und berichtet von dem Sezessionisten Peyton Farquhar, der sich seiner Hinrichtung durch Soldaten aus der Union dank eines

20 Ebd., S. 107. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 106. 23 Zum Problem der Ambivalenz bei diesem Erzähltypus vgl. Michael Scheffel: „Formen und Funktionen von Ambiguität in der literarischen Erzählung. Ein Beitrag aus narratologischer Sicht“. In: Frauke Berndt / Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Würzburg: 2009. S. 89–103. Michael Scheffel weist an dieser Stelle darauf hin, dass es sich auch bei Zwischen neun und neun um „nur ein Beispiel dafür […] [handelt], dass es narrationsspezifische Formen von Mehrdeutigkeit gibt und dass diese Formen grundsätzlich keinen Ausnahmefall bilden, sondern vielmehr zur ‚Literarizität‘ einer Erzählung gehören, d. h. eine spezifische Qualität des literarischen Erzählens bilden.“ (Vgl. Scheffel, „Formen und Funktionen“, S. 96). 24 Ambrose Bierce: „An Occurrence at Owl Creek Bridge“. In: Ders.: The Complete Short Stories of Ambrose Bierce. Hg. v. Ernest J. Hopkins. Lincoln / London: 1970. S. 305–313. Alle weiteren Bierce-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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günstigen Zufalls25 scheinbar entziehen kann. Auch in dieser Erzählung sieht sich der Leser mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der narrativen Instanz konfrontiert, da die Erzählinstanz in ihren nicht-fokalisierten Sätzen sowohl das vermeintliche Überleben und eine stundenlange Flucht des Protagonisten behauptet („All that day he traveled laying his course by the rounding sun. […] By night fall he was fatigued, footsore, famishing“ [Bierce, „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ S. 312]) als auch am Ende nüchtern feststellt: „Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek bridge“ (Ebd., S. 313). Der letzte Satz verdeutlicht: Peyton Farquhar hat dem gewaltsamen Tod durch Erhängen zu keiner Zeit entrinnen können und hat demnach die von der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz behauptete Flucht vor den Soldaten aus den Nordstaaten nicht durchlebt. Zugleich lässt sich für die Geschichte Farquhars jedoch auch so etwas wie eine sich in wenigen Sekunden vollziehende ‚Vision eines Sterbenden‘ ausschließen, da neben den intern-fokalisierten Sätzen aus der Sicht des Protagonisten auch die nicht-fokalisierten Sätze von dem Irrlauf Farquhars und einem steten Voranschreiten der Zeit berichten. Folglich ergibt sich auch hier für die narrative Instanz das Problem einer Ambivalenz, welches sich aus erzähllogischer Sicht26 mit der Klassifizierung der Erzählinstanz als einer polyphonen narrativen Instanz lösen lässt. 3.1.1.4 Beispieltext: Daniel Kehlmann: Der fernste Ort (2004) Als wesentlich diffiziler für eine kohärente Entschlüsselung der Erzählstruktur erweist sich der Roman Der fernste Ort (2004) von Daniel Kehlmann. Wie auch Zwischen neun und neun und „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ spielt Kehlmanns Text mit einer Doppeldeutigkeit bezüglich des weiteren Schicksals des Protagonisten, nachdem dessen baldiger Tod angedeutet wurde. Anders als in den Geschichten von Bierce und Perutz findet eine eindeutige Auflösung dieser Ambivalenz durch eine glaubhafte Aussageinstanz innerhalb der Erzählinstanz am Ende der Narration nicht statt; trotzdem lassen sich mehrere Parallelen zu den zuvor genannten Texten feststellen. So hat es der Leser auch im Fall von

25 Angeblich – so konstatiert die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz – kommt dem Protagonisten hierbei ein technischer Defekt zu Hilfe: „He knew that the rope had broken and he had fallen into the stream.“ Vgl. hierzu Bierce, „An Occurrence at Owl Creek Bridge“, S. 309. 26 Unter erzähllogisch wird an dieser Stelle verstanden, dass eine ‚Stimme‘ grundsätzlich eine Meinung vertritt und eine stringente Geschichte erzählt. Äußert sich eine narrative Instanz widersprüchlich, so liegt ein Fall narrativer Polyphonie, d. h. ein Fall von Mehrstimmigkeit innerhalb einer einzelnen Erzählinstanz, vor.

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Der fernste Ort mit einem Erzähltext zu tun, der von einer zweistimmigen narrativen Instanz vermittelt wird und in dem eine besondere Spannung der Unklarheit über Leben und Tod der Hauptfigur herrscht. Wie auch in den Texten von Perutz und Bierce legt die Erzählstruktur nahe, dass die Informationen, die bis zu der Sterbeszene des Protagonisten übermittelt werden, von der vertrauenswürdigen ‚Stimme‘ innerhalb der Erzählinstanz stammen und diese somit als glaubhaft gedeutet werden können. Im Folgenden sei aber ein Blick auf die Textpassage geworfen, in welcher der Protagonist Julian mit dem Tod durch Ertrinken ringt. Zugleich findet innerhalb dieser Szene der Wechsel von der glaubhaften in die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz statt, und es wird deutlich, dass die darauffolgende Geschichte über Julians vermeintliche Flucht aus dem Alltagsleben nur schwerlich als eine intern fokalisierte Todesvision des Protagonisten gewertet werden kann: Er kämpfte. Strampelte, als hielte ihn ein stärkerer Gegner fest; sehr weit über sich sah er die Wasseroberfläche, ein fernes Flimmern. Er strampelte, stieg oder sank, er wußte es nicht, schluckte Wasser, sein Herz bäumte sich auf […]. Er fühlte noch die Taubheit, die durch seinen Körper rann… Dann nichts mehr. Jemand fragte etwas, er antwortete. […] Und plötzlich begriff er. Er öffnete die Augen. (Kehlmann, Der fernste Ort, S. 18 f.)27

Was hier formuliert wird, lässt sich weniger mit dem Begriff der Ambivalenz, als vielmehr mit dem eines Paradoxons bezeichnen: Dem Leser soll suggeriert werden, dass die nun folgende Geschichte über Julians rätselhaftes Auftauchen aus der Sicht eines Protagonisten erzählt wird, der kurz zuvor offenkundig das Bewusstsein verloren hat. Hätten wir es bei Kehlmanns Text mit einem phantastischen Roman zu tun, in welchem der Held über besondere Kräfte verfügt und sich diese nach Belieben zunutze machen kann, so würde uns die Selbstrettung Julians nicht weiter irritieren. Einem solchem Weltkonzept folgt Der fernste Ort jedoch nicht. Im Gegenteil: Rückblickend geschildert wird hier das Scheitern eines Mannes, der bereits in mehreren Bereichen seines Lebens Schiffbruch erlitten hat und der in seiner Vergangenheit eher als plan- und ziellos, denn als energiegeladener ‚Superheld‘ präsentiert wurde.28

27 Daniel Kehlmann: Der fernste Ort. Frankfurt am Main 2004. Alle Kehlmann-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. Meine Hervorhebungen. 28 Das Motiv des Versagens zieht sich bereits seit der Kindheit durch Julians Leben. So hatte er beispielsweise als Schüler „keine gute Noten“ (S. 48), verfasst später an der Universität eine Dissertation, die von Fachzeitschriften „vernichtend“ (S. 84) besprochen wird, und erhält nach dem Scheitern der akademischen Laufbahn auch nur eine Anstellung bei einer Versicherung, da sein Bruder „großes Vertrauen“ (S. 93) bei dem Vorgesetzten genießt.

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Nachdem die interne Fokalisierung durch Julians Bewusstseinsverlust ausgeschlossen werden kann,29 lässt sich die Erzählstruktur für Der fernste Ort folgendermaßen knapp zusammenfassen: Berichtet wird hier die Geschichte eines jungen Mannes, der sich nach verschiedenen Fehlschlägen in seinem Leben auf einer Geschäftsreise in Norditalien in einen See begibt und dort das Bewusstsein verliert. Bis zu diesem Zeitpunkt wird das Geschehen von einer glaubwürdigen ‚Stimme‘ innerhalb der Erzählinstanz vermittelt. Ab dem Verlust des Bewusstseins jedoch wechselt die ‚Stimme‘, und der Rezipient folgt nun einer zweiten, unglaubwürdigen ‚Stimme‘, die ihm weismachen möchte, der Protagonist habe sich auf wundersame Weise retten können und würde nun – unter der bloßen Vortäuschung seines Todes – die Rückreise nach Deutschland antreten. Der Struktur nach ähnelt Kehlmanns Geschichte also den Texten von Bierce und Perutz; was jedoch fehlt und zugleich eine abschließende Aussage über das Schicksal des Protagonisten verhindert, ist die definitive Bestätigung des Todes durch die glaubhafte ‚Stimme‘ am Ende des Textes. Trotzdem, so legt die Erzählstruktur des Textes nahe, lässt der einsetzende Bewusstseinsverlust des Protagonisten unter Wasser (und nachdem er bereits Wasser geschluckt hat) einen in Kürze eintretenden Tod durch Ertrinken stark vermuten, zumal die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der Erzählinstanz die genauen Umstände der überraschenden Rettung schuldig bleibt. Im Rahmen der typologischen Ausarbeitung kann eine exemplarische Anwendung der für die Erzähltextanalyse entwickelten polyphonen narrativen Instanz freilich nur in aller Kürze erfolgen. Die beispielhaften Erprobungen der neuen Kategorie lassen jedoch ein großes heuristisches Potenzial vermuten. So wurde anhand der Kurzgeschichte „A New England Nun“ gezeigt, dass durch das Konzept einer polyphonen narrativen Instanz der Blick auf eine Besonderheit innerhalb der Erzählstruktur gelenkt wird, die bisher vernachlässigt worden ist: die Kombination aus zuverlässigem und unzuverlässigen Erzählen durch eine polyphone Aussageinstanz. Das nun mögliche Erkennen und Beschreiben einer mehrstimmigen Erzählform eröffnet für die literaturwissenschaftliche Interpretation einen neuen Kontext. Auch der exemplarischen Auseinandersetzung mit der polyphonen narrativen Instanz in Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun verdankt sich ein Erkenntnisgewinn. Hierbei lag das Forschungsinteresse nicht in einer literaturhistorischen Neubewertung des Verhältnisses von Form und Inhalt des Textes, sondern vielmehr in der Begriffserweiterung innerhalb des literaturtheoretischen Kontextes um den unzuverlässigen Erzähler nach Wayne C. Booth. Der 29 Da der Protagonist das Bewusstsein verliert, kann aus seiner Perspektive keine Wahrnehmung mehr erfolgen.

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Nachweis einer besonderen Variante der polyphonen narrativen Instanz, die sich sowohl aus einer glaubwürdigen, als auch einer unglaubwürdigen ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz zusammensetzt, vermag nun erzähllogische Probleme zu lösen, die zuvor in ihrer vermeintlichen Paradoxie nicht zu erfassen waren; die Widersprüchlichkeit der narrativen Instanz verliert sich, wenn wir erkennen, dass innerhalb dieser nicht zwingend eine, sondern potenziell mehrere Aussageinstanzen zu Wort kommen. Gleiches gilt für die – an dieser Stelle nur als knapper Exkurs vorgenommene – Betrachtung der Geschichten von Bierce und Kehlmann. Darüber hinaus leistet dieser besondere Typus der polyphonen narrativen Instanz einen wertvollen Beitrag zu einer narratologisch ausgerichteten Possible Worlds Theory, die ihren Ursprung in der Logik, einem Teilbereich der Philosophie, hat: Der philosophischen Theorie möglicher Welten liegt die Annahme zugrunde, dass vergangene Ereignisse und Zustandsveränderungen auch einen anderen Verlauf hätten nehmen können, dass die Dinge in der Welt also anders sein könnten, als sie wirklich sind. Wirklichkeit wird infolgedessen als modales System angesehen, das aus einer Vielzahl von Welten besteht: aus einer tatsächlichen Welt (actual world), d. h. in der wir leben, und nicht-aktualisierten, d. h. virtuellen Welten (possible worlds), welche die tatsächliche Welt als mögliche Alternativen ‚umkreisen‘.30

Diese Annahme dient innerhalb der Literaturwissenschaft als Ausgangspunkt für eine Übertragung auf fiktionale Texte, wie Lubomír Dolezel zusammenfasst: „Fictional worlds of literature […] are a special kind of possible world; they are aesthetic artifacts constructed, preserved, and circulating in the medium of fictional texts.“31 Diese in Erzähltexten entworfenen Possible Worlds müssen aber nicht zwingend ‚logisch möglich‘ im Sinne von widerspruchsfrei sein. Matías Martínez und Michael Scheffel definieren den Begriff von logisch unmöglichen Welten folgendermaßen: Hier handelt es sich um Welten, in denen Widersprüche bestehen (in denen also – auf der erzähllogisch privilegierten Ebene der Erzählerrede […] – mimetische Behauptungen aufgestellt werden, welche miteinander nicht vereinbar sind), die weder durch die Annahme eines unzuverlässigen Erzählers noch durch Formen stilistischer Inkonsistenz (‚Heterogenität‘, ‚Pluriregionalität‘ oder ‚Instabilität‘) auflösbar sind.32

30 Vgl. Carola Surkamp: „Narratologie und Possible-Worlds Theory“. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002. S. 153–184. Hier: S. 154. 31 Lubomír Dolezel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore 1998. Hier: S. 16. 32 Martínez / Scheffel, Einführung, S. 130 f.

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Eine bestimmte Form – vermeintlich – logisch unmöglicher Welten lässt sich allerdings mit Hilfe der Einführung einer polyphonen narrativen Instanz in ihrer Widersprüchlichkeit auflösen und zugleich für Analysen im Rahmen einer Possible Worlds Theory fruchtbar machen. Der Nachweis einer polyphonen narrativen Instanz, innerhalb welcher – wie für die Texte von Perutz, Bierce und Kehlmann festgestellt – sich sowohl eine zuverlässige, als auch eine unzuverlässige ‚Stimme‘ äußert, ermöglicht es nun beiden ‚Stimmen‘ jeweils eine eigene erzählte Welt zuzuordnen. Mit Hilfe der zuverlässigen ‚Stimme‘ (welche berichtet, was geschehen ist: So war es) lässt sich nun die fiktionsinterne reale Welt, die Textual Actual World33 feststellen, während der unzuverlässigen ‚Stimme‘ (die wiederum nur eine potenzielle Möglichkeit erzählt: So hätte es sein können) eine Possible World zugeordnet wird, welche die Textual Actual World gewissermaßen als innerhalb der erzählten Welt nicht eingelöste Alternative ‚umkreist‘. Als eine Unterkategorie der polyphonen narrativen Instanz soll nun die zitierend-polyphone narrative Instanz in aller Kürze vorgestellt werden.

3.1.2 Die zitierend-polyphone narrative Instanz Bei der zitierend-polyphonen narrativen Instanz handelt es sich ebenfalls um eine Form der Mehrstimmigkeit auf der Ebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz. Zu ihrer Konstruktion bedarf es allerdings eines extratextuellen Kontextes, aus welchem die in die extradiegetische Aussageinstanz eingefügten Zitate entnommen werden: Die inkludierten Äußerungen müssen ihren Ursprung außerhalb desjenigen Textes haben, den die zitierend-polyphone narrative Instanz generiert. Aus theoretischer Sicht denkbar ist an dieser Stelle jegliche Inklusion bereits artikulierter fremder Rede, die ihren Ursprung außerhalb des Erzähltextes hat, dessen erzählte Welt von der narrativen Instanz hervorgebracht wird, so z. B. Zitate aus anderen Texten, Hörspielen, Filmen oder aber auch wörtliche Wiedergaben von Äußerungen historischer Personen.

33 Marie-Laure Ryan definiert diese folgendermaßen: „As an entity existing in time, TAW [Textual Actual World] is a succession of different states and events which together form a history. […] TAW also comprises a set of general laws that determine the range of possible future developments of the plot out of the present situation. TAW is thus split into a factual and an actualizable domain. This latter domain is technically a possible world, linked to the present state of TAW through the relation of temporal accessibility; but it differs from the other APWs [Alternative Possible Worlds] of the narrative system in that it exists absolutely, rather than being created by the mental act of a character.“ Vgl. Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory. Indianapolis 1991. Hier: S. 113 f.

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Aus dieser Maßgabe folgt, dass es sich bei den Zitaten nicht um Äußerungen der innerhalb des erzählten Textes agierenden Figuren samt ihrer jeweils dazugehörigen Figurenstimmen handeln kann. Denn die narrative Instanz zitiert diese nicht im Sinne einer Wiedergabe bereits getätigter Äußerungen, sondern jeder Autor bringt über die narrative Instanz die innerhalb der erzählten Welt handelnden Figuren (und folglich auch deren Stimmen) erstmalig im Akt der Erzählung hervor. Oder anders formuliert: Die Figuren einer Narration haben keine außertextuelle Artikulationsmöglichkeit, welcher sich die narrative Instanz eines Textes als Basis vermeintlicher Zitate bedienen könnte; die narrative Instanz eines Textes zitiert die Figuren also nicht, sondern der Autor erschafft sie erst, indem von ihnen von der narrativen Instanz als Kommunikationsteilnehmer in der erzählten Welt berichtet wird. Auch das in einer Vielzahl der Prosatexte als Zeit der Erzählung gewählte Präteritum ist kein Indiz für eine vermeintliche nachzeitige Wiederholung der Worte, da es in vielen Fällen als ein episches Präteritum fungiert und nicht etwa auf eine Vorzeitigkeit der Äußerungen durch die Figuren verweist. Somit handelt es sich bei jeglichen Äußerungen von Figurenstimmen, die durch die narrative Instanz in die Narration eingebettet werden, stets um ein erstes Auftreten selbiger und nicht um eine Form des Zitierens durch die narrative Instanz. Vergleicht man nun die im vorherigen Kapitel erstellte Kategorie der polyphonen narrativen Instanz mit der zitierend-polyphonen narrativen Instanz, so wird als ein wichtiger Unterschied deutlich, dass sich letztere nicht durch einen Widerspruch in sich auszeichnet, der durch zwei widerstreitende ‚Stimmen‘ innerhalb der Textfunktion der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz abgebildet wird. Bei der zitierend-polyphonen narrativen Instanz handelt es sich um ein – in der Regel abschnittsweise auftauchendes – Phänomen, das sich durch die situative Inklusion eines Zitates innerhalb der extradiegetischen Aussageinstanz auszeichnet. Überblicksartig lässt sich also zusammenfassen: – Die zitierend-polyphone narrative Instanz ist eine Sonderform der polyphonen narrativen Instanz – Sie bedarf zu ihrer Konstruktion grundsätzlich eines außertextuellen Kontextes, aus dem die inkludierten Zitate entnommen werden – Daraus folgt, dass es sich bei den Äußerungen der innerhalb der erzählten Welt agierenden und somit auch kommunizierenden Figuren nicht um Zitate handelt, da diese nicht in einem außertextuellen Kontext wurzeln: Die Figuren werden in ihrem Sprechen nicht zitiert, sondern über ihre Rede erstmalig hervorgebracht – Anders als bei der polyphonen narrativen Instanz, für die gerade die Widersprüchlichkeit beider in die extradiegetisch-heterodiegetische Textfunktion inkludierten ‚Stimmen‘ konstitutiv ist, lassen sich bei der zitierend-poly-

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phonen narrativen Instanz nicht einander widerstreitende Meinungen ausmachen 3.1.3 Beispieltext: Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (1988) Ransmayr richtet seinen 1988 erschienenen Roman Die letzte Welt an der Verbannung des antiken Dichters Publius Ovidius Naso im Jahre 8 n. Chr. aus, die er in die Neuzeit verlegt. Ebenfalls geschichtlich verbürgt ist die Bekanntschaft Ovids mit einem seiner Bewunderer namens Cotta, an dem Ransmayr seinen gleichnamigen Protagonisten orientiert und den er in seinem Roman auf die Suche nach dem Dichter ins Exil nach Tomi schickt. Dort angekommen trifft Cotta auf Einwohner, die allesamt an den Gestalten aus den Metamorphosen des historischen Ovid angelehnt sind. Somit greift der österreichische Autor im Sinne einer postmodernen Ästhetik auf bereits Vorhandenes zurück, indem er Ovids Text als Hypotext34 und Ausgangspunkt seines Hypertextes35 nimmt und Ovids Gestalten zugleich selbst einer Metamorphose unterzieht. Dies geschieht in Form einer Verknüpfung von Wiederholung und Variation: Die Figuren, denen Cotta bei seiner Reise begegnet, weisen eindeutige Bezüge zu den mythologischen Gestalten Ovids auf, zugleich werden sie jedoch in die Gegenwart des ausgehenden 20. Jahrhunderts versetzt. Die Erzählung ihrer Erlebnisse und Schicksale werden variiert und abweichend von der literarischen Vorlage aus der Antike erzählt. Im Anhang fügt Ransmayr seinem Roman ein ‚ovidisches Repertoire‘36 an, das die ‚Gestalten der Letzten Welt‘ aus seiner Fiktion den Figuren aus dem antiken Prätext, den ‚Gestalten der Alten Welt‘, gegenüberstellt. Aus formaler Sicht ist auffällig, dass den gesamten Roman eine ausgesprochene Dominanz der narrativen Instanz durchzieht und auf wörtliche Figurenrede nahezu vollständig verzichtet wird. Vielmehr alterniert die interne Fokalisierung und bietet auf diese Weise Einblicke in die Perspektive sowohl des Suchenden als auch in die Sichtweisen der Einwohner Tomis. Neben der bereits genannten inhaltlichen Orientierung an den Metamorphosen des Ovid bedient sich die narrative Instanz zusätzlich auch wörtlicher Zitate, die durch ihre Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche ihrerseits eine sprachliche Metamorphose durchlaufen. Der Inhalt bleibt aber unverändert, so dass die wörtliche Wiedergabe eine Form der durch Zitate generierten Polyphonie darstellt. 34 Genette, Palimpseste, S. 14 ff. 35 Ich beziehe mich hier auf das Begriffsverständnis Gérard Genettes, der den Hypertext als „von einem anderen, früheren Text abgeleitet“ (Genette, Palimpseste, S. 15) versteht. 36 Vgl. Christoph Ransmayr: Die letzte Welt [EA 1988]. 11. Aufl. Frankfurt am Main 2011. S. 289 ff. Alle Ransmayr-Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe direkt im Text.

3.1 Neue Kategorien (1): Polyphone und kollektive narrative Instanz



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Ausgangspunkt von Cottas Reise ist das in Rom kursierende Gerücht vom Ableben Ovids im Exil. Diese Ungewissheit über das Schicksal des Freundes führt den Römer in eine ihm fremde Welt am Schwarzen Meer, in der er sich auf Spurensuche nach dem Vermissten begibt. Abstrahiert und zugespitzt formuliert, ist es also die Behauptung vom ‚Tod des Autors‘, die die Narration initiiert. Dieser inhaltliche Aspekt legt einen vergleichenden Blick auf Ransmayrs Verfahren (im Sinne eines intertextuellen Spiels mit der antiken Vorlage Ovids) und auf das literaturtheoretische Postulat vom Tod des Autors (Roland Barthes37) als einem Verdikt der sogenannten Postmoderne nahe. Bei der Frage nach dem Verbleib des Autors handelt es sich also um ein Problem, das die intradiegetischen Nachforschungen des Protagonisten Cotta weit übersteigt und darüber hinausgehend eine Auseinandersetzung mit Barthes’ Verständnis von Intertextualität und Autorschaft provoziert. Nach Roland Barthes Theorie handelt es sich bei Texten um sprachliche Gebilde, die sich eindeutigen Sinnzuschreibungen entziehen und zugleich – daher die provokante These vom Tod des Autors – aufgrund ihrer spezifischen Konstruktionsweise keinem Urheber zugeordnet werden können. Der Text habe demnach keinen greifbaren Verfasser, ja nicht einmal einen definierbaren Kulturkreis, auf den man ihn zurückführen könne: Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt […], sondern aus einem vieldimensionalen Raum, indem sich verschiedene Schreibweisen […], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.38

Diese von Barthes postulierte Machart hat freilich Konsequenzen für den weiteren Umgang mit Texten. Jegliche Form der Interpretation wird obsolet; das Geschriebene soll lediglich auf das spezifische Arrangement der Buchstaben hin betrachtet werden: Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text ‚entziffern‘ […] zu wollen. […] Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert werden. Die Struktur kann zwar in allen ihren Wiederholungen und auf allen ihren Ebenen nachvollzogen werden […], aber ohne Anfang und ohne Ende. […] Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung von Sinn.39

37 Vgl. hierzu Roland Barthes: „Der Tod des Autors“ [EA 1968]. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis u. a. Stuttgart 2000. S. 185–193. 38 Ebd., S. 190. 39 Ebd., S. 191.

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Berücksichtigt man nun die bereits formulierte Beobachtung von der besonderen Dominanz der narrativen Instanz in Ransmayrs Roman, die durchgehend berichtet und zugleich direkte Ovid-Zitate in die eigene Aussageinstanz inkludiert, so scheint eine kritische Auseinandersetzung mit Barthes’ Theorem vom Verschwinden des Autors vor allem aus narratologischer Perspektive einer näheren Betrachtung wert. Denn Barthes’ theoriebildendes Verständnis einer bestimmten Vorstellung von Intertextualität, die jedem Text zugrunde läge, aber die nicht zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden könne, scheint Ransmayr in seinem Roman Die letzte Welt geradezu programmatisch zu unterlaufen. Seine Verwendung einer zitierend-polyphonen narrativen Instanz steht, so meine These, für ein poetologisches Prinzip, das durch den spielerischen Rückgriff auf bereits Vorhandenes bestimmte Züge postmodernen Erzählens trägt, aber zugleich das eigene Konzept einer angebotenen Sinnbildung nicht unterwandert. Das Gegenteil ist der Fall: Über die eindeutig zuzuordnenden Zitate eröffnet Ransmayr die Jagd nach einer Sinnsuche, die in ihrem Verlauf eine durchaus kohärente Sinnbildung ermöglicht bzw. geradezu provoziert. Mit anderen Worten: Nicht die De-Konstruktion von Bedeutung wird vorgeführt, sondern das Schaffen neuer Bedeutungszusammenhänge über den Zwischenschritt einer ReKonstruktion und Variation von Geschichten wird präsentiert. So inkludiert die narrative Instanz bereits im ersten Kapitel ein Ovid-Zitat, auf das Cotta wenige Wochen nach seiner Ankunft in Tomi stößt: Und aus dieser Wildnis ragten Steinmale auf, Dutzende schlanker Kegel, mannshoch die größten, die kleinsten reichten Cotta kaum bis an die Knie. An den Kegelspitzen flatterten Stoffähnchen, Fetzen in allen Farben, es waren in Streifen geschnittene und gerissene Kleider, und als Cotta an einer der kleineren Steinmale herantrat, sah er, daß die Fähnchen Schriftzeichen trugen, alle waren sie beschrieben. Sachte zog er an einem blaßroten, gebleichten Streifen. Der Stoff war so zwischen die Steine geflochten, daß der Kegel zerfiel, als er das Fähnchen an sich nahm, um es zu entziffern. Die Steine kollerten einige von den Wurzeln einer Kiefer gesprengte Stufen hinab, und Cotta las: Keinem bleibt seine Gestalt. (Ransmayr, Die letzte Welt, S. 15.)

Das von Ransmayr selbst kursiv markierte Ovid-Zitat (im lateinischen Original: „nulli sua forma manebat“40) weist bereits proleptisch auf die Konstruktion der erzählten Welt im Roman und auf die Schicksale der im Folgenden erzählten Figuren voraus: Alles befindet sich im Wandel, nichts ist verlässlich. Wie ein genauerer Blick auf die extradiegetische Aussageinstanz deutlich macht, wendet Ransmayr bei der Inklusion dieses Zitats zusätzlich einen besonderen Kunstgriff an, so dass dieses über die Funktion einer bloßen Vorausschau hin40 Hier zitiert nach P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Übersetzt und herausgegeben von Michael Albrecht. Stuttgart 1994. Hier: S. 6.

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ausgeht: Das Zitat wird nicht nur in die narrative Instanz inkludiert, sondern dies erfolgt zugleich aus der Perspektive des lesenden Cotta. Auf diese Weise ist es möglich, zum einen auf der extradiegetischen Ebene das Zitat zu montieren, das bei einer Kenntnis des antiken Prätextes eine bestimmte Erwartungshaltung weckt. Analog hierzu wird über die interne Fokalisierung aber auch ein konkreter Leser (nämliche Cotta) auf der intradiegetischen Ebene angesprochen, indem die Figur die Worte als Schrift liest. Auf diese Weise gelingt es Ransmayr, das Ovid-Zitat auf doppelte Weise zu funktionalisieren: Zum einen richtet sich die Aussagefunktion der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz an einen extradiegetischen narrativen Adressaten, „mit dem sich dann jeder reale Leser identifizieren kann“,41 d. h. der Rezipient realisiert das Spiel mit der Intertextualität als ein bestimmtes poetologisches Prinzip, das über den eigenen, gewissermaßen als ein Motto des Textes fungierenden Inhalt als Prolepse hinausweist. Zugleich ermöglicht die interne Fokalisierung an dieser Stelle, dass die narrative Instanz nicht nur mit ihrem Pendant auf der extradiegetischen Erzählebene kommuniziert, sondern durch die Lektüre Cottas zugleich auch mit ihren Worten eine intradiegetische Figur erreicht. Die Kombination aus einer zitierend-polyphonen narrativen Instanz und der internen Fokalisierung ermöglicht es also, zwei narrative Adressaten auf unterschiedlichen Textebenen anzusprechen: Der narrative Adressat auf der extradiegetischen Textebene rezipiert den gesamten Text (und somit auch das OvidZitat) als das angesprochene Gegenüber der Textfunktion einer narrativen Instanz. Indem Cotta das Zitat liest, ist zugleich aber auch eine intradiegetische Figur der Rezipient der inkludierten Worte von Ovid. Ransmayr konstruiert an dieser Stelle eine raffinierte erzähltechnische Besonderheit, die aus narratologischer Perspektive in der Regel nur durch eine Metalepse zu bewerkstelligen ist, die nach Genette einen bestimmten Effekt nach sich zieht: Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten in diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) […] zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist […], mal phantastisch.42

Genau diese von Gérard Genette beschriebene Konsequenz stellt sich im Falle der oben besprochenen Textstelle jedoch nicht ein; es findet trotz des ‚doppelten Adressaten‘ keine Illusionsstörung statt. Dass eine solche Irritation nicht eintritt, ist der geschickten narrativen Gestaltung geschuldet, denn dass eine Figur die Worte der narrativen Instanz direkt vernimmt, ist in aller Regel eben nur um den Preis einer narrativen Metalepse (s. o.) zu erreichen. Die Verwendung 41 Genette, Diskurs, S. 187. 42 Ebd., S. 168.

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der zitierend-polyphonen narrativen Instanz in Kombination mit der internen Fokalisierung aber ermöglicht es, dass extradiegetischer narrativer Adressat und intradiegetische Figur gleichermaßen die Worte der narrativen Instanz rezipieren. An dieser Stelle erweist sich die zitierend-polyphone narrative Instanz also als effektive und elegante erzähltechnische Konstruktion, die eine doppelte Adressierung des Kommunikats ermöglicht und zugleich die Spielregeln illusionistischen Erzählens nicht verletzt. Eine weitere Inklusion eines Ovid-Zitats findet sich, als die narrative Instanz die Gründe der Verbannung der fiktiven Dichterfigur rekapituliert. Als Ursache wird angeführt, dass sich unter Augustus’ Regierungszeit Oppositionelle seiner Schriften bedient und somit Ovids Worte für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert hätten: Obwohl der Verbannte weder zur gemäßigten Opposition noch zu den Staatsflüchtigen oder den radikalen, aus dem Labyrinth der Katakomben zugeschlagenen Gruppen des Untergrundes jemals Kontakte unterhalten hatte, waren manche seiner Gedichte doch gelegentlich in den Flugschriften des Widerstandes aufgetaucht, wenn es galt, die Utopie zu beschwören: Das erste Menschengeschlecht Kannte kein Gesetz und keine Rache Ohne Soldaten zu brauchen Lebten die Völker sorglos Und in sanfter Ruhe dahin (Ransmayr, Die letzte Welt, S. 127)43

Zitiert wird an dieser Stelle aus dem liber primus der Metamorphosen (im Original: „Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. […] sine militis usu mollia securae peragebant otia gentes“).44 Eine Besonderheit an dieser Form des Zitierens ist, dass die narrative Instanz vorgibt, an dieser Stelle auf eine zweifache Weise polyphon zu sein: Sie rekapituliere an dieser Stelle lediglich die Worte, die bereits von Oppositionellen aus dem Werk Ovids zitiert worden seien. Der Effekt dieser doppelten Mehrstimmigkeit besteht zunächst in einer gewissen Distanzierung von dem Zitat, da die narrative Instanz hier ausschließlich wiedergibt, was bereits zuvor von anderen aus den Texten Ovids selektiert und zitiert worden ist. Als Motiv der Oppositionellen nennt die narrative Instanz die Beschwörung einer Utopie (s. o.) und bringt durch diese Formulierung die eigene Skepsis gegenüber dem vermeintlich unrealistischen Wunschbild der Oppositionellen zum Ausdruck. Somit kommt der zitierend-polyphonen narrativen Instanz an dieser Stelle eine 43 Hervorhebungen im Original. 44 Vgl. P. Ovidius Naso: Metamorphosen, S. 12.

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doppelte Funktion zu: Auf einer ersten Bedeutungsebene besitzt das Zitat eine analeptische Funktion, da es eine Erklärung dafür liefert, durch welche Gründe Ovid – wenn auch unwissentlich und unfreiwillig – in Rom in Ungnade gefallen war. Die vorherige Verwendung des Zitats durch Oppositionelle hatte seinen Ruf bei der Regierung beschädigt und ist laut der narrativen Instanz auch ein Grund dafür, weshalb seine Entfernung aus Rom dem Machthaber in Rom wünschenswert schien. Neben dieser retrospektiv-explikativen Funktion bietet die besondere Zitierweise aber auch die Möglichkeit einer impliziten Kritik an dem vermeintlich naiven Menschenbild, das im ersten Buch der Metamorphosen des historischen Ovid propagiert und von der narrativen Instanz als Utopie bezeichnet wird. Auf diese Weise findet also über das zitierte Zitat eine Auseinandersetzung mit dem Prätext statt; eine raffinierte intertextuelle Konstruktion, die gewissermaßen ex negativo den Rückschluss auf die Präferenz der narrativen Instanz eines realistischen Weltbildes erlaubt. Schließlich lässt sich aus formaler Sicht zusätzlich eine doppelte Variante selbstreflexiven Erzählens ausmachen: Indem die extradiegetische Aussageinstanz selbst zitierend auf die frühere Verwendung von Zitaten durch politische Gruppierungen verweist, lässt sich sowohl eine Form selbstreflexiven Erzählens im Sinne eines „Sich-Selbst-Betrachtens“45 ausmachen, als auch eine Form selbstreflexiven Erzählens im Sinne eines „Sich-Selbst-Spiegelns“46 klassifizieren. Die zitierend-polyphone narrative Instanz nimmt also inhaltlich auf das wörtliche Wiederholen von Aussagen Bezug und bildet – das ist die Besonderheit an dieser Textstelle – das beschriebene Phänomen zugleich formal ab. Somit kommen der zitierend-polyphonen narrativen Instanz in Ransmayrs Roman vielfältige Funktionen zu. Zum einen ist sie ein wichtiges Instrumentum um die Kategorie der Zeit zu generieren. Der erste besprochene Textausschnitt hat gezeigt, dass die zitierend-polyphone narrative Instanz eine proleptische Funktion haben kann (indem sie das Motto des Romans zitiert und inhaltlich auf die diversen sich vollziehenden Verwandlungen anspielt) und zugleich die illusionsdurchbrechenden Folgen einer Metalepse umgehen kann, indem durch ihre besondere Konstruktion Adressaten auf verschiedenen Erzählebenen direkt angesprochen werden. Das zweite Textbeispiel hat demonstriert, dass eine Strukturierung der zeitlichen Abfolge von Ereignissen auch in Form einer Analepse realisiert werden kann, indem das eingeflochtene Zitat als zitiertes Zitat direkten Aufschluss über die zurückliegenden Folgen eines vermeintlichen Missbrauchs durch die Politisierung der Schriften Ovids liefert. Zugleich zeigt 45 Vgl. Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997. S. 56 ff. 46 Vgl. ebd., S. 71 ff.

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sich an dieser Stelle eine formale Finesse Ransmayrs, der die Einbettung des zitierten Zitats als eine Form selbstreflexiven Erzählens in einem zweifachen Sinne ausgestaltet hat. Ransmayrs ausgewählte Inklusion wörtlicher Wiederholungen mittels einer zitierend-polyphonen narrativen Instanz führt in nuce vor, dass der von Roland Barthes postulierte ‚Tod des Autors‘ und die sich mit diesem Diktum vermeintlich verbindenden Folgen für das postmoderne Erzählen sich in Die letzte Welt nicht erkennen lassen. Im Gegenteil: Bei dem untersuchten Roman handelt es sich gerade nicht um ein beliebiges ‚Gewebe von Zitaten‘ (wobei Barthes jeglicher Äußerung unterstellt, bereits selbst ein Zitat zu sein), sondern um einen Text, der mit einer bewussten Intention Zitate inkludiert, die ihrerseits auf einen klaren Ursprung hin zurückverfolgt werden können. Somit ist nicht die einer vermeintlich zufälligen Aneinanderreihung von Worten geschuldete De-Konstruktion von Sinn das poetologische Prinzip dieses Romans, sondern explizit zunächst eine Re-Konstruktion von Sinn unter Zuhilfenahme des Rückgriffs auf den antiken Prätext von Ovid, auf die dann eine neue und spezifisch den Spielregeln des postmodernen Textes von Ransmayr geschuldete Sinnkonstitution folgt.

3.1.4 Die kollektive narrative Instanz In diesem Kapitel geht es um eine neue Unterkategorie von Aussageinstanzen, deren Polyphonie auf einer Vereinigung von Aussageinstanzen innerhalb der narrativen Instanz basiert. Diese soll nun mit Blick auf und in Abgrenzung von der bereits erstellten Kategorie der polyphonen narrativen Instanz betrachtet werden. Anders als bei der polyphonen narrativen Instanz stehen bei der kollektiven narrativen Instanz nicht mehrere voneinander zu unterscheidende ‚Stimmen‘ nebeneinander, sondern die kollektive narrative Instanz bündelt die Ansicht(en) einer homogenen Gruppe von Sprechern und teilt ihre kollektive, d. h. einstimmige Meinung über die Erzählinstanz mit. Unter homogen wird an dieser Stelle verstanden, dass sich die Gemeinschaft, für welche die kollektive narrative Instanz sich äußert, durch ein distinktives Merkmal von anderen Sprechern innerhalb der erzählten Welt abhebt. Dieses Merkmal lässt sich über eine genaue Kenntnis des intradiegetischen Kontextes erschließen und die potenzielle Anzahl homogener Gruppen kann unendlich sein. Exemplarisch seien an dieser Stelle eine regionale, berufliche, religiöse oder auch kulturelle Zusammengehörigkeit genannt. Der Auswahlkriterien sind aber – dieses sei hier betont – keine Grenzen gesetzt; so wäre es beispielsweise auch denkbar, dass die kollektive

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narrative Instanz eines Textes sich in bestimmten Passagen stellvertretend für die Züchter einer bestimmten Hunderasse oder die Anhänger einer Fußballmannschaft äußert. Wichtig ist bei der Kategorisierung nur, dass dieses Kollektiv von Figuren sich aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit von anderen Figuren innerhalb der erzählten Welt abhebt. In dieser Gruppenzugehörigkeit der Figuren spiegelt sich eine bestimmte gemeinsame Wahrnehmung des Geschehens, welche an dieser Stelle im Anschluss an die Terminologie von Gérard Genette als kollektive interne Fokalisierung bezeichnet werden soll. In dieser neuen bzw. erweiterten Variante einer figuralen Sichtweise, welche über die Kategorie der extradiegetischen Erzählinstanz transportiert wird, gibt die narrative Instanz die interne Fokalisierung aus der Sicht einer Figur auf zugunsten einer gemeinschaftlichen Wahrnehmung mehrerer Figuren. Diese gemeinsame Sichtweise wird schließlich über die kollektive narrative Instanz verbalisiert. Zwischen der polyphonen narrativen Instanz und der kollektiven narrativen Instanz gibt es einen zusätzlichen Unterschied, der sich im weiteren Sinne auf die Erzählebene, bzw. auf das Verhältnis zwischen den beiden Ebenen discours und histoire bezieht. Formal stehen beide hier diskutierten Formen narrativer Polyphonie auf der gleichen Erzählebene, nämlich auf der Ebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz. In ihrem Wirkungsbereich jedoch lässt sich eine Differenz feststellen. Während die ‚Stimmen‘ innerhalb der polyphonen narrativen Instanz gleichberechtigt nebeneinander stehen und auf die Ebene der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz beschränkt bleiben, weicht der Wirkungsbereich der kollektiven narrativen Instanz von dieser Erzählebene ab: Diese Aussageinstanz ist – als eine erweiterte Kategorie der narrativen Instanz zwangsläufig – formal wohl der extradiegetischen Ebene zuzuordnen, jedoch äußert sie sich für ein Kollektiv von Figuren, das sich innerhalb der erzählten Welt, d. h. auf der intradiegetischen Ebene, befindet. In dieser Hinsicht ähnelt die kollektive narrative Instanz also der erlebten Rede als einer Darstellungsform, in der ebenfalls die extradiegetische Erzählinstanz die Aussageinstanz einer intradiegetischen Figur vertritt und gewissermaßen für sie spricht. Die erlebte Rede allerdings ist nach dem bisherigen Verständnis auf eine einzelne Figur beschränkt, die dem Leser prinzipiell zugleich auch bekannt ist. Anders die kollektive narrative Instanz: Diese Aussageinstanz äußert sich, so geht bereits aus dem Terminus hervor, für eine Gemeinschaft intradiegetischer Figuren, die dem Leser allerdings weder namentlich noch als Charaktere innerhalb des fiktionalen Textes vertraut sein muss bzw. müssen. Im Anschluss an den bisher für die Mischung von Erzähler- und Figurenrede verwendeten Begriff der erlebten Rede sei an dieser Stelle auf den bereits in Kapitel 1.4 entwickelten Terminus der kollektiven erlebten Rede verwiesen. Dieser

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Sonderfall der kollektiven narrativen Instanz zeichnet sich durch einen starken Einfluss des Sprachstils der Figurengemeinschaft auf die Rede der Erzählinstanz aus und intensiviert so die für die kollektive narrative Instanz charakteristische Identifikation der Erzählinstanz mit dem Figurenkollektiv. Eine häufig genutzte Technik innerhalb der kollektiven narrativen Instanz ist es zudem, einzelne Äußerungen als anonyme Zitate vermeintlicher Figuren in die Äußerungen der Erzählerstimme einzuflechten, wie anhand von Friedo Lampes Septembergewitter (1937) und Zora Neale Hurstons Their Eyes Were Watching God (1937) noch gezeigt werden soll. Ein dritter Unterschied zu der polyphonen narrativen Instanz lässt sich in der quantitativen Ausdehnung der kollektiven narrativen Instanz ausmachen. Während sich die narrative Instanz eines fiktionalen Textes insgesamt als polyphon einstufen lässt (nämlich immer dann, wenn zwei oder mehrere ‚Stimmen‘ gleichberechtigt nebeneinander stehen), so handelt es sich bei der kollektiven narrativen Instanz häufig um eine partielle, d. h. auf einen bestimmten Textabschnitt limitierte, Form der Mehrstimmigkeit. Anders formuliert: Die kollektive narrative Instanz ergreift in der Regel an verschiedenen Stellen und – wie anhand der folgenden Beispiele noch deutlich wird – zu gänzlich verschiedenen Zwecken das Wort für eine bestimmte, innerhalb der erzählten Welt vertretene homogene Gruppe. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass die polyphone und die kollektive narrative Instanz einander nicht ausschließen und innerhalb eines Textes sogar gut miteinander vereinbar sind. So wäre es beispielsweise durchaus denkbar, dass eine grundsätzlich als polyphon konzipierte narrative Instanz sich innerhalb einzelner Abschnitte für ein Kollektiv äußert und somit als kollektive narrative Instanz in diesen Textzeilen spricht. Hierbei spielt es auch keine Rolle, ob diese ‚Stimme‘ innerhalb der Erzählinstanz nun glaubwürdig ist oder nicht; entscheidend ist nur, dass sie sich stellvertretend für eine bestimmte, innerhalb der erzählten Welt als homogene Gemeinschaft auftretende, Gruppe zu Wort meldet. Als der Idealtypus der kollektiven narrativen Instanz kann jene selten anzutreffende Variante gesehen werden, in welcher die Aussageinstanz der extradiegetischen Erzählinstanz in das kollektive Wir einer innerhalb der erzählten Welt vertretenen Gruppe übergeht, ohne dass ein Sprecherwechsel grammatikalisch markiert würde. Dieser nur sehr rar vertretene Typus soll der Vollständigkeit halber anhand von Friedo Lampes Am Rande der Nacht47 (1933) in aller Kürze vorgestellt werden, bevor die Texte Septembergewitter und Their Eyes Were 47 Friedo Lampe: Am Rande der Nacht. Hg. von Johannes Graf. Göttingen 2006. Alle Zitate des Romans nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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Watching God als Beispiele für eine weitaus gängigere Variante der kollektiven narrativen Instanz näher erläutert werden. In dieser häufiger anzutreffenden Form der narrativen Polyphonie äußert sich die Erzählinstanz ebenfalls für ein intradiegetisches Kollektiv, jedoch ohne dass das Personalpronomen ‚Wir‘ explizit Verwendung findet oder ein Sprecherwechsel auf eine andere Weise grammatikalisch angezeigt wird. Zunächst sei für die kollektive narrative Instanz noch einmal rekapituliert: – Grundlage ist der gemeinsame Standpunkt der Wahrnehmung einer Gruppe, die kollektive interne Fokalisierung (konstitutives Merkmal) – Mehrere Aussageinstanzen schließen sich zu einem Kollektiv, welches dann als eine Aussageinstanz spricht, zusammen; diese Aussageinstanz transportiert eine gemeinsame Meinung (konstitutives Merkmal) – Formal ist die kollektive narrative Instanz auf der extradiegetischen Erzählebene angesiedelt, sie äußert sich jedoch für ein Figurenkollektiv, das der intradiegetischen Erzählebene angehört (konstitutives Merkmal) – Eine narrative Instanz ist nicht grundsätzlich kollektiv (wobei dieser Ausnahmefall theoretisch denkbar ist), sondern die kollektive narrative Instanz tritt in aller Regel abschnittsweise auf – Die kollektive narrative Instanz kann Züge mündlichen Erzählens tragen und anonyme Zitate integrieren – Als eine besondere Nähe zwischen Erzähler- und Figurenstimme vermittelnde Konstruktion kann die kollektive narrative Instanz in Form der kollektiven erlebten Rede auftreten – Die polyphone narrative Instanz und die kollektive narrative Instanz schließen einander nicht aus: Eine polyphone narrative Instanz kann durchaus eine ‚Stimme‘ (oder mehrere ‚Stimmen‘) enthalten, welche sich passagenweise für ein Kollektiv äußert – Der Idealtypus der kollektiven narrativen Instanz verwendet mit Blick auf eine bestimmte intradiegetische Figurengruppe das Personalpronomen ‚Wir‘, ohne dass ein Sprecherwechsel grammatikalisch markiert würde, d. h. die narrative Instanz und die gemeinsame Aussageinstanz des Kollektivs gehen nahezu unbemerkt ineinander über (fakultatives Merkmal) 3.1.4.1 Beispieltext: Friedo Lampe: Am Rande der Nacht (1933) Bevor die Texte Septembergewitter und Their Eyes Were Watching God als exemplarische Verwendungen der gängigen Form der kollektiven narrativen Instanz vorgestellt werden, soll zunächst also jener zuletzt genannte und zugleich äußerst selten anzutreffende Idealtypus kurz anhand einer Passage aus Friedo

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Lampes erstem Roman Am Rande der Nacht vorgestellt werden. Ein Seitenblick auf Lampes Debütroman bietet sich insofern als passendes Paradigma an, als er neben dem besagten Idealtypus auch die weitaus gängigere Variante der kollektiven narrativen Instanz, in der kein Sprecherwechsel markiert wird, aufweist und beide Typen so in ein direktes Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Wie auch in seinem zweiten Roman Septembergewitter, welcher im Anschluss noch ausführlicher erläutert werden soll, präsentiert Lampe bereits in seiner vier Jahre zuvor erschienenen Geschichte ein nur scheinbar zusammenhangsloses Nebeneinander einzelner Szenen, die jedoch alle durch eine besondere Stimmung, die die Figuren bei ihren nächtlichen Erlebnissen begleitet, verbunden sind. Das einzige von Lampe verwendete Beispiel des Idealtypus der kollektiven narrativen Instanz in Am Rande der Nacht findet sich gleich zu Beginn der Narration, als eine Gruppe von Kindern beim abendlichen Spielen an einem Graben gespannt auf das Erscheinen von Ratten wartet. Während aus dem Dialog der beiden Jungen hervorgeht, dass sich ihre Geduld merklich erschöpft und der Umgangston zunehmend aggressiver wird (vgl. Lampe, Am Rande der Nacht, S. 5), ergreift die narrative Instanz für die ebenfalls am Ufer ausharrenden zwei Mädchen das Wort und berichtet Folgendes: Die beiden Mädchen waren geduldiger und stiller. Sie hatten wohl schon etwas Angst. Denn eigentlich mochten sie Ratten doch gar nicht. Scheußliche Tiere. Fast die widerlichsten Tiere, die es gab. Vor allem die glatten, haarlosen Schwänze. I gitt – i gitt. Und gingen sie nicht auf Menschen los? Wer hatte doch neulich erzählt, daß sie in die Schlafzimmer kamen und den Menschen – brr – nicht dran denken. Eigentlich sollten wir ja fortgehen – aber nein – es war ja auch interessant. Und dann würden die Jungens lachen und sie veräppeln – Angstliesen. Nein, nein … (Lampe, Am Rande der Nacht, S. 5 f.; meine Hervorhebung)

Wie das obige Beispiel verdeutlicht, zeichnet den Idealtypus der kollektiven narrativen Instanz aus, dass die Aussageinstanz der extradiegetischen Erzählinstanz mit der Aussageinstanz einer intradiegetischen Gruppe – an dieser Stelle sind es zwei kleine Mädchen – verschwimmt und sich tatsächlich als dieses Kollektiv äußert. Der Unterschied zu dem weitaus gängigeren und im Anschluss noch näher zu betrachtenden Typus der kollektiven narrativen Instanz liegt darin, dass ein tatsächlicher, d. h. auf der grammatikalischen Ebene nachzuweisender, Wechsel der Äußerungsinstanz stattfindet. So geht auch in dem zitierten Textausschnitt aus Am Rande der Nacht die Aussageinstanz der extradiegetischen narrativen Instanz, die sich über beide Mädchen zunächst noch mit einer gewissen Distanz äußert („Sie hatten wohl schon etwas Angst“) in die gemein-

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same Aussageinstanz des Kollektivs über („Eigentlich sollten wir ja fortgehen“), um dann wieder Abstand zu nehmen und über die zwei Kinder zu sprechen. Der weitaus geläufigere Typus der kollektiven narrativen Instanz, in dem sich die extradiegetische Erzählinstanz für ein intradiegetisches Kollektiv äußert, ohne jedoch das Personalpronomen ‚Wir‘ explizit zu verwenden, findet sich ebenfalls bereits in Lampes Debütroman. So äußert sich die kollektive narrative Instanz in einer Szene stellvertretend für das Publikum einer Sportveranstaltung, das den brutalen, letztlich in einer Vergewaltigung mündenden, Ringkampf zwischen den beiden Kontrahenten Dieckmann und Alvaroz verfolgt: Das Publikum begrüßte Hein mit heftigem Klatschen, mit Hurra und Halloh. Einige allerdings waren auch etwas verärgert durch Heins unhöfliches Betragen. Der Kerl wurde hochnäsig. Der konnte sich wohl alles erlauben? Tu dich man nicht so, Hein, wollen erst mal abwarten, wie die Sache ausläuft, was der andere kann … (Lampe, Am Rande der Nacht, S. 122)

Im Vergleich zu der zuvor zitierten Passage verwendet Lampe anstelle des Idealtypus also eine – wie noch gezeigt wird – weitaus häufiger genutzte Form der kollektiven narrativen Instanz, in welcher die extradiegetische Erzählinstanz sich wohl für ein intradiegetisches Figurenkollektiv äußert und dessen Meinung vertritt, zugleich sich aber nicht als dieses Kollektiv – im Sinne eines auch grammatikalisch angezeigten – Sprecherwechsels mitteilt. Der Effekt der hier zitierten kollektiven narrativen Instanz gleicht aber dem Effekt der Verwendung des Idealtypus: Die Erzählinstanz ergreift für eine intradiegetische Gruppe das Wort und formuliert eine gemeinsame Meinung. Der einzige Unterschied zwischen beiden Varianten liegt also, so lässt sich resümieren, in der grammatikalischen Beschaffenheit des Satzes, und nicht in der Aussage, welche für das Kollektiv getroffen wird. 3.1.4.2 Beispieltext: Friedo Lampe: Septembergewitter (1937) Im Anschluss soll nun der Roman Septembergewitter (1937) von Friedo Lampe exemplarisch für die zuletzt zitierte und weitaus gängigere Konstruktion und Anwendung der kollektiven narrativen Instanz näher beleuchtet werden. Für eine detailliertere Betrachtung, die nicht nur – wie im obigen Beispiel – die Form, sondern zugleich auch eine Funktion der neu erstellten Kategorie vorstellen möchte, muss zunächst der Inhalt in aller Kürze zusammengefasst werden: Eingerahmt wird die in einer „Stadt am Fluß“48 spielende Geschichte durch eine Gruppe von Ballonfahrern, die zu Beginn des Textes auf die Stadt herab48 Friedo Lampe: Septembergewitter. Berlin 1937. Hier: S. 7. Alle weiteren Lampe-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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blickt und deren Insassen am Ende der Narration, als sich der Ballon bereits über der Nordsee auf dem Weg nach England befindet, noch einmal zu Wort kommt. Die vermeintlich idyllische Atmosphäre, die sich den Reisenden zunächst aus der Vogelperspektive bietet, wird von der extradiegetischen Erzählinstanz als ein bedrohlich „schwüler Spätsommernachmittag, windstill und schwelend“ (Lampe, Septembergewitter, S. 8) relativiert. Tatsächlich liefert Lampe in seinem zweiten Roman die kritische Bestandsaufnahme einer nur scheinbar harmonischen städtischen Gemeinschaft, die dem Leser in einer Art Panoramabild präsentiert wird. In einer Ästhetik des Nebeneinanders werden die Nachmittagsbeschäftigungen der Figuren, so z. B. die Tätigkeiten des Friedhofsgärtners und seine spielenden Enkelkinder (vgl. Lampe, Septembergewitter, S. 13 ff.) oder die Streitigkeiten im Hause der Witwe Hollmann (vgl. Lampe, Septembergewitter, S. 50 ff.), episodenhaft aneinandergereiht, so dass der Eindruck entsteht, man könne diese gleichzeitig beobachten. Über all diesen – auf den ersten Blick unverbundenen – Momentaufnahmen schwebt der für die Figuren innerhalb der erzählten Welt verbindungsstiftende rätselhafte Mord an der jungen Lehrerin Marie Olfers, der zu Beginn der Narration noch ungelöst ist. Als verbindungsstiftend erweist sich dieses Verbrechen insofern, als von dem bisher nicht gefassten Täter noch immer eine latente Gefahr für alle anderen Einwohner der Stadt ausgeht. Die in den scheinbar zusammenhangslosen Szenen porträtierten Figuren sind also durch ein bestimmtes Merkmal verbunden: Sie alle agieren und reagieren – ob nun bewusst oder unbewusst – in der beklemmenden Atmosphäre eines ungeklärten Mordes und befinden sich somit in einer kaum berechenbaren Situation des Ausgeliefertseins, in der sie um Leib und Leben fürchten müssen. Für dieses Kollektiv von Figuren ergreift direkt zu Beginn der Geschichte die narrative Instanz das Wort und äußert sich als ihr Stellvertreter. Nachdem zunächst noch eine scheinbare Nachmittagsidylle beschrieben wird als eine „Zeit, wo es schön ist […] im Bürgerpark vor dem Schweizerhaus zu sitzen und seinen Kaffee zu trinken“ (Lampe, Septembergewitter, S. 11) berichtet die sich im Folgenden als kollektive narrative Instanz mitteilende Erzählinstanz von einem Stimmungsumschwung: Wenn die Kapelle aufhört, wird es für einen Augenblick still, und man hört das gemütliche Geplauder der Leute an den Tischen, über den Bäumen weg fliegt ein großer schwarzer Vogel ins sanfte Blau, und von Ferne tutet die Eisenbahn. Da kann es wohl sein, daß man plötzlich an diesen schrecklichen Mord denken muss, der da vor zwei Tagen im Bürgerpark bei der Borkenhütte an einem jungen Mädchen, einer Lehrerin, namens Marie Olfers – „sag mal, hatte Mariechen nicht früher auch mal bei ihr Unterricht?“ – „das ist ja gerade das Schreckliche, war doch ihre Klassenlehrerin“ – verübt worden war. So was konnte einem schon die gute Stimmung verderben, man wollte auf einmal nach Hause ge-

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hen. „Aber bitte nicht an der Borkenhütte vorbei, wir machen lieber einen Umweg.“ „Du Angsthase, jetzt passiert dir da sicher nichts, und ich bin doch auch bei dir.“ „Ach, an der Borkenhütte passiert immer was, das ist so’n Unglücksort, da ist es nicht geheuer. Damals hat sich doch auch Bankier Lüders da erhängt, als er nicht mehr weiter wußte. Nein, man sollte die ganze Hütte niederreißen, das wäre das beste.“ Aber dann begann wieder Wöhlbier’s Militärkapelle mit dem Potpourri aus der „Lustigen Witwe“, und man vergaß allmählich diese unheimliche Geschichte. (Lampe, Septembergewitter, S. 11 f., meine Hervorhebungen)

Der zitierte Abschnitt erfüllt alle Merkmale, die für die kollektive narrative Instanz als konstitutiv festgehalten worden sind: Die Erzählinstanz vermittelt die Wahrnehmung einer Gruppe und ist somit kollektiv intern fokalisiert („man hört das gemütliche Geplauder“). Im Folgenden äußert sie die Ängste einer lokal ge- und verbundenen Gemeinschaft von Figuren innerhalb der erzählten Welt („da kann es wohl sein, dass man an diesen schrecklichen Mord denken muß“) und integriert zudem – als fakultatives Merkmal – anonyme Zitate („sag mal, hatte Mariechen nicht früher auch mal bei ihr Unterricht?“), welche in ihrer Anonymität die Austauschbarkeit der Aussageinstanzen und damit zugleich die Homogenität innerhalb der Gruppe reflektieren. Ein auffälliges Merkmal der oben zitierten Textstelle ist die häufige Verwendung des unbestimmten Personalpronomens man, das ebenfalls die Auflösung des Individuellen zugunsten einer Gemeinschaft unterstreicht. Unterschwellig vermittelt die Wortwahl der narrativen Instanz wohl auch den Eindruck eines latenten Gruppenzwangs, so dass das Verhalten des Einzelnen – der schließlich nur macht, was man macht und mit der Gesellschaft konform geht – gewissermaßen entschuldigt wird. Insofern kommt der kollektiven narrativen Instanz in Lampes Septembergewitter aus der Sicht des Kollektivs eine apologetische Funktion zu: Würde man nicht versuchen, „allmählich diese unheimliche Geschichte [zu] verg[essen]“ (Lampe, Septembergewitter, S. 12) und zur Tagesordnung zurückzukehren, würde „man“ die Ruhe in dem Gefüge der Gruppe stören und somit ihr Funktionieren gefährden. Für das Individuum innerhalb der erzählten Welt ergibt sich somit freilich ein Alibi für das wenig reflektierte Verhalten als einzelnes Glied innerhalb einer Kette. Dem Leser jedoch, so soll später noch ausgeführt werden, wird über die gemeinsame Aussageinstanz der Stadtbewohner ein durchaus ambivalentes Bild dieser Gruppe gezeichnet, welches das Vorhandensein menschlicher Werte innerhalb der Gemeinschaft wie Verantwortung, Solidarität und Mitgefühl mit einem deutlichen Fragezeichen versieht. Welche besondere Funktion kommt nun dieser Form der Mehrstimmigkeit innerhalb fiktionaler Erzähltexte zu? Indem die kollektive narrative Instanz für eine Gruppe von Figuren das Wort ergreift, liefert sie zugleich eine Figurencharakterisierung, die über den Einzelnen hinausgeht. Dadurch wird es möglich,

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bestimmte Haltungen innerhalb einer Gemeinschaft als gruppenspezifisch zu erfassen und hierdurch Rückschlüsse auf das jeweilige Kollektiv zu ziehen. So sind die Informationen, die wir über die kollektive narrative Instanz in Lampes Septembergewitter erhalten, bei genauerem Hinsehen keineswegs positiv und lassen die Bewohner der „kleinen Stadt“ in keinem guten Licht erscheinen. Obwohl ein generelles Unbehagen und die konkrete Angst vor dem „Bürgerpark bei der Borkenhütte“ nach nunmehr zwei Todesfällen – davon ein noch ungeklärter Mord – durchaus nachvollziehbar sind, so entsteht doch auch der Eindruck, dass die narrative Instanz mit kritisierendem Spott auf die Gemeinschaft blickt und darauf abzielt, eine versteckte Oberflächlichkeit zu entlarven. So ist die an den Bericht über die ermordete Marie Olfers anschließende Bemerkung „so was konnte einem schon die gute Stimmung verderben“ ein sehr deutlicher Seitenhieb auf eine bereits ausgeprägte Gleichgültigkeit seitens der Mitbürger. Offensichtlich steht hier weniger die brutale Ermordung einer jungen Frau im Vordergrund, als vielmehr der Verlust der ‚guten Laune‘, die mit der Erinnerung an das Verbrechen wohl nur noch schwerlich in Einklang zu bringen ist. Mitleid tritt in dieser Gemeinschaft nur in Form von Selbstmitleid auf, denn nicht die Straftat selbst wird bedauert, sondern dass ein den Sprechern bekanntes Kind von Marie Olfers unterrichtet wurde „ist ja gerade das Schreckliche“ (Lampe, Septembergewitter, S. 12) für die an dieser Stelle anonym zitierten Aussageinstanzen. Die kollektive narrative Instanz äußert sich in Lampes Roman Septembergewitter noch ein zweites Mal und ist auch hier wieder an zwei Aspekte gebunden, die bereits an ihr erstes Auftreten gekoppelt sind: Zum einen handelt es sich mit dem „Schweizerhaus“ wieder um dieselbe Lokalität, in der sich die Einwohner der Stadt in einer geselligen Runde zusammenfinden. Zum anderen verbindet sich die Konstruktion dieser besonderen Form der Mehrstimmigkeit mit einem gemeinsamen sensuellen Erleben der Gästeschar, nämlich mit der Musik von „Wöhlbiers Militärkapelle“. So äußert sich die kollektive narrative Instanz das zweite Mal nach dem von allen erwarteten Gewitter und deutet an, dass auch die kurz zuvor hereingebrochene Naturgewalt die Feierfreudigkeit der Gäste im „Schweizerhaus“ keinesfalls beeinträchtigt hat: Frau Metzler trat zum Fenster um zu sehen, was da noch los war. Die Kellner waren noch dabei, die Tische und Stühle abzutrocknen und die Decken wieder aufzulegen, und die Leute waren wieder aus der Veranda hervorgekommen und setzten sich zurück auf ihre Plätze. O die schöne Luft, was trinken wir denn nun? Und Wöhlbiers Kapelle spielte einen lustigen Polka, gemütlich hüpfend, und die weißen Lampenkugeln gingen an und glühten sanft im Kastaniengrün. (Lampe, Septembergewitter, S. 88; meine Hervorhebung)

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Ähnlich der zuvor beschriebenen Passage, in der die kollektive narrative Instanz zu Wort kommt, wird auch anhand dieser als kollektive erlebte Rede formulierten Textstelle deutlich, dass Lampe mit den Einwohnern der „Stadt am Fluß“ ein Kollektiv näher charakterisiert, das sich bei einer schärferen Betrachtung als stoisch und emotional unberührt präsentiert. Weder das noch ungeklärte Verbrechen noch die wetterbedingte Gewalt können die Menschen nachhaltig beeindrucken und längerfristig von ihren Gewohnheiten ablenken. Als ein erster, an dieser Stelle nur kurz angedeuteter Interpretationsansatz liegt es nahe, den im Jahre 1937 erschienenen Text als ein künstlerisches Dokument zu verstehen, das unter dem Eindruck der Diktatur im sogenannten ‚Dritten Reich‘ entstanden ist. Gezeigt wird eine bürgerliche Gesellschaft, die zwar ein Miteinander sucht, aber dieses auf einen geselligen Zeitvertreib zu reduzieren bemüht ist: Ernsthafte Themen, wie die kaltblütige Ermordung eines Menschen, werden im Gespräch nur ungern und kurz angeschnitten, und wenn, so ist man erleichtert, sobald „Wöhlbiers Kapelle“ zu spielen beginnt und man sich von „diese[r] unheimliche[n] Geschichte“ (Lampe, Septembergewitter, S. 12) möglichst schnell distanzieren kann. Lampe porträtiert eine Gesellschaft, die vor der Realität ihre Augen verschließt und froh ist, wenn sich die Verantwortung des Einzelnen in einer synästhetischen Mischung aus musikalischer Untermalung und – durch den Genuss alkoholischer Getränke – schwindender Sinne („O die schöne Luft, was trinken wir denn nun?“ [Lampe, Septembergewitter, S. 88]) verliert. Daran anknüpfend besteht eine Verbindung zwischen der in Septembergewitter genutzten Erzähltechnik und der im Rahmen filmischer Darstellungen entwickelten Montagetechnik. Eine Brücke zu schlagen zwischen diesen beiden Formen des Geschichtenerzählens liegt aus mehreren Gründen nahe,49 wie sich auch aus Jacob Lothes Vergleich beider Medien gewinnen lässt: The most important components of the definition we have given of a narrative – time, space, and causality – are central concepts in film theory as well. Narrative terms such as plot, repetition, events, characters, and characterization are also important in film – even though the form of presentation and the way in which these concepts are actualized vary greatly in these two art forms.50

Was Lothe in seiner ansonsten zutreffenden Gegenüberstellung jedoch nicht berücksichtigt hat, ist die – sowohl für Erzähltexte, als auch für das Medium Film – bedeutende Kategorie der Aussageinstanz, welche für den Film in Form 49 Vgl. hierzu grundsätzlich auch die Studie von Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin / Boston 2014. Brössel untersucht Strukturen und Strategien filmischen Erzählens in der Literatur und widmet sich dem Phänomen aus erzähltheoretischer Perspektive. 50 Jacob Lothe: Narrative in Fiction and Film. An Introduction. Oxford 2000. Hier: S. 8.

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einer voice-over narration wohl am ehesten mit der narrativen Instanz fiktionaler Erzähltexte vergleichbar ist: Voice-over narration is a technique commonly used in film and television of having oral statements, conveying any portion of a narrative, spoken by an unseen speaker situated in a space and time other than that simultaneously being shown by the images on the screen.51

Der Sprecher der voice-over narration und die Erzählinstanz fiktionaler Texte stehen also beide auf einer anderen Erzählebene (extradiegetische Ebene) als die von ihnen beobachteten und kommentierten Figuren innerhalb der Diegese (intradiegetische Ebene). Verglichen mit der narrativen Instanz in der Literatur verfügt die voice-over narration im Film52 allerdings über ein anderes Potenzial, verschiedene Aussageinstanzen gleichzeitig abzubilden, bzw. es ist sogar ein ganz entscheidendes Charakteristikum innerhalb der technischen Möglichkeiten des Films, nicht nur verschiedene Handlungen zeitgleich zu präsentieren, sondern in Entsprechung dazu auch verschiedene Stimmen simultan zu Wort kommen zu lassen, so dass eine voice-over narration von mehreren verschiedenen Sprechern (und somit auch Stimmen) zugleich gesprochen werden kann.53 Zudem erlaubt die Einführung der Kategorie einer kollektiven narrativen Instanz – wie anhand von Septembergewitter gesehen – eine an der Montagetechnik des Films orientierte Schreibweise54 auch über die Episodenhaftigkeit aneinandergereihter Bilder hinaus in ihrer Ästhetik der Simultaneität zu erfassen. Die einzelnen Aussageinstanzen, die innerhalb der narrativen Instanz gebündelt werden und in ihrer Kombination – nunmehr einstimmig – etwas Neues und zugleich eine Einheit schaffen, entsprechen den Aussagen zur Funktion der Montage nach Sergej M. Eisenstein:

51 Sarah Kozloff: “Voice-Over Narration”. In: David Hermann u. a. (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Padstow 2008. S. 636 f., hier S. 636. 52 Zu den Erzählstrategien im Film vgl. die Untersuchung von Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin / Boston 2011. Das von Kuhn erstellte Analysemodell schließt an Genettes Überlegungen an und betrachtet das Medium Film aus dezidiert narratologischer Sicht. 53 Alternativ hierzu kann die voice-over narration freilich auch – ähnlich der kollektiven narrativen Instanz – aus einem einzelnen Sprecher, der sich für ein Kollektiv äußert, bestehen. 54 Lampe verwendet diese Erzähltechnik jedoch nicht erstmalig, sondern er stellt sich in eine bestimmte Tradition des filmischen Erzählens. Bereits in den 1920er Jahren haben John Dos Passos in Manhattan Transfer (1925) und Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz (1929) die Montage-Technik genutzt, um in ihren Romanen jeweils ein Panoramabild des hektischen Großstadtlebens zu präsentieren.

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Welchen Nutzen haben wir von der Auffassung von der Montage wirklich? Sie besagt, daß jeder einzelne Montageteil bereits nicht mehr als etwas Beziehungsloses existiert, sondern ein besonderes Abbild des einheitlichen allgemeinen Themas ist, daß alle diese Teile in gleichem Maße durchdringt. Die Gegenüberstellung besonderer Details in einem bestimmten Montageaufbau läßt in unserer Wahrnehmung jenes Allgemeine entstehen, das wiederum alle einzelnen Teile erzeugt hat und sie zu einem Ganzen verbindet, und zwar zum verallgemeinerten Bild, in dem der Künstler und nach ihm die Zuschauer das gegebene Thema erleben.55

Die obige Aussage lässt sich sowohl auf die Konstruktion, als auch auf die Funktion der kollektiven narrativen Instanz in Septembergewitter anwenden. So stehen auch die innerhalb der Erzählinstanz vereinten Aussageinstanzen nicht „beziehungslos“ nebeneinander, sondern sie reflektieren „ein besonderes Abbild eines einheitlichen allgemeinen Themas“, wobei ‚Thema‘ hier im Sinne eines Konsenses der von der kollektiven narrativen Instanz vertretenen Figurenstimmen verstanden wird. Somit bewirkt die Zusammenführung der Aussageinstanzen auch das Hervorbringen von einem „Ganzen“, das der Rezipient als das „gegebene Thema“, d. h. als die einheitliche Meinung einer bestimmten homogenen Gruppe, wahrnimmt. Lampe überträgt also die Montagetechnik, so lässt sich resümieren, indem er einzelne Bilder aneinanderreiht, nicht nur auf den Erzählstil, sondern er nutzt diese Technik auch in einer abgewandelten Form, um mit einer Collage von Aussageinstanzen ein neues einheitliches Ganzes zu erzeugen. Somit ist die Kategorie der kollektiven narrativen Instanz nicht nur dazu geeignet, bestimmte homogene Gruppen innerhalb der erzählten Welt näher zu charakterisieren und bestimmte Formen der Selbstreflexivität zu bezeichnen, sondern sie lässt sich auch für Untersuchungen einer interdisziplinären und transmedialen Narratologie fruchtbar machen. 3.1.4.3 Beispieltext: Zora Neale Hurston: Their Eyes Were Watching God (1937) Ein gänzlich anderer Kontext ergibt sich für die Untersuchung der kollektiven narrativen Instanz in Zora Neale Hurstons Roman Their Eyes Were Watching God (1937). Das Erscheinungsjahr weist darauf hin, dass es sich aus kulturgeschichtlicher Sicht bei Hurstons Roman um einen in der Spät- und zugleich auch Hochphase der Harlem Renaissance56 erschienen Text handelt. Tendenzi55 Sergej M. Eisenstein.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. von Felix Lenz u. Helmut H. Diederichs. Frankfurt am Main 2006. Hier: S. 162. 56 Hierbei handelt es sich um eine Bewegung der African Americans, die nach der Teilnahme für die Vereinigten Staaten am Ersten Weltkrieg zunehmend selbstbewusster wurden und zu einem neuen Selbstverständnis gelangten. Ziel der insbesondere nach den Rassenunruhen von

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ell wurde innerhalb dieses letzten Abschnitts der Bewegung insbesondere eine selbstbewusste und autarke, d. h. eine sich von den Traditionen der weißen Ästhetik absetzende, schwarze Kunst fokussiert, nachdem in der Zeit davor noch vorrangig soziale und politische Auseinandersetzungen den Diskurs der Bewegung bestimmt hatten. In Their Eyes Were Watching God wird das Thema der Eigenständigkeit jedoch auf die Frage nach der Rolle der black woman innerhalb einer black community transferiert, in der die Protagonistin Janie Crawford in einer von Männern bestimmten Hierarchie ihren eigenen Platz finden muss. Ein besonderes Forschungsinteresse lag bisher in der Frage nach der Konstruktion einer autarken weiblichen Identität, die häufig mit dem Erstarken der Stimme Janie Crawfords beantwortet wurde, wie die folgende These von Yvonne Johnson exemplarisch verdeutlicht: „Hurston’s protagonist, Janie, ‚speaks‘ herself into existence.“57 Problematisch ist an dieser Annahme jedoch eine gewisse Vernachlässigung der Differenzierung zwischen der extradiegetischen narrativen Instanz und der Stimme der intradiegetischen Figur Janie Crawford, die, wie eine genauere Untersuchung des Textes ergibt, zugunsten der Erzählinstanz deutlich weniger spricht, als es bisherige Forschungsergebnisse vermuten lassen. Bevor die narrative Struktur des Textes jedoch genauer analysiert wird, sei der Inhalt des Romans kurz zusammengefasst: Janie Crawford wird von ihrer Großmutter, bei der sie seit dem Verschwinden ihrer Mutter lebt und aufgewachsen ist, dabei beobachtet, wie sie einen Jungen küsst. Dieses Erlebnis versetzt die alte Dame derart in Angst um die weitere Entwicklung der Enkelin, dass sie diese zu einer Heirat mit dem um einige Jahre älteren Logan Killicks drängt. Ohne Umschweife erklärt sie Janie, dass es ihr nicht um das Konzept einer Liebesheirat geht, sondern dass Killicks lediglich die Versorgung der Enkeltochter sichern soll: „’Tain’t Logan Killicks Ah wants you to have, baby, it’s protection.“58 Die Verbindung scheitert, und Janie flieht – ohne sich offiziell 1919 („Red Summer“) einsetzenden und – mit Blick auf das neue Selbstwertgefühl – auch New Negro Movement genannten Initiative war es, über das Medium der Kunst zu Akzeptanz und Einfluss innerhalb der weißen Gesellschaft zu gelangen. Für einen ersten Überblick zu dieser von ca. 1919 bis 1940 andauernden Periode vgl. z. B. George Hutchinson (Hg.): The Cambridge Companion to the Harlem Renaissance. Cambridge 2007. Für den chronologischen Ablauf vgl. insbesondere die Seiten xi–xx. 57 Yvonne Johnson: The Voices of African American Women: The Use of Narrative and Authorial Voice in the Works of Harriet Jacobs, Zora Neale Hurston, and Alice Walker. New York u. a. 1998. Hier S. 8. 58 Zora Neale Hurston: Their Eyes Were Watching God [EA 1937]. Hg. von Henry Louis Gates. New York 1990. Hier S. 14. Alle weiteren Hurston-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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scheiden zu lassen – mit dem attraktiven jungen Joe „Jodie“ Starks in eine kleine Gemeinde namens Eatonville, wo sich Joe rasch als erfolgreicher Geschäftsmann und Bürgermeister etabliert. Schnell wird jedoch deutlich, dass auch diese Ehe für Janie kein Glück verspricht: Joe, der sich mit zunehmendem Erfolg immer mehr als gefühlskalter Kapitalist zu erkennen gibt und in Janie weniger die Partnerin, als vielmehr ein repräsentatives Anhängsel seiner Person sieht, engt seine Frau ein und schafft es, ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Nach zwanzigjähriger Beziehung stirbt Starks und Janie wird kurz darauf von dem zwölf Jahre jüngeren Vergible „Tea Cake“ Woods umworben, mit dem sie in die Everglades zieht und dort eine glückliche Zeit verlebt, bis Woods auf der Flucht vor einem Hurrican von einem tollwütigen Hund gebissen wird. Die infolge des Bisses einsetzende psychische Veränderung zwingt Janie dazu, ihren Mann in Notwehr zu erschießen, was ihr jedoch erst gelingt, nachdem Woods sie ebenfalls in den Arm gebissen hat. Nach einem Prozess und dem anschließenden Freispruch kehrt Janie nach Eatonville zurück, wo sie einen Teil der vergangenen Erlebnisse rückblickend ihrer besten Freundin Phoeby erzählt. Wie bereits angedeutet, ist die Erzählstruktur des Romans deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Zwar weist die narrative Instanz mehrfach darauf hin, dass Janie retrospektiv von ihrer Vergangenheit berichtet und in ihrer Freundin Phoeby eine aufmerksame Zuhörerin findet, die ihr den Erzählakt erleichtert, indem sie die Protagonistin zum Sprechen motiviert. Zugleich bleibt aber unentscheidbar, welchen Teil ihrer Geschichte Janie selbst preisgibt und welchen sie auslässt. Oder anders formuliert: Der Roman Their Eyes Were Watching God ist ein Text, der die Funktion des Erzählens für die Protagonistin thematisiert, ohne dass jedoch ihr genauer Wortlaut rekapituliert werden kann. In der narratologischen Terminologie nach Genette bedeutet dies, dass wir es nicht – wie aufgrund bisheriger Untersuchungsergebnisse zu Janies Figurenstimme angenommen werden könnte – mit einem autodiegetischen Erzähler zu tun haben, sondern mit einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz, die von der mündlichen Erzählung einer intradiegetischen Figur berichtet. Das folgende Zitat verdeutlicht das Problem der Informationszuordnung, das sich aus der Erzählstruktur des Textes ergibt: Phoeby’s hungry listening helped Janie to tell her story. So she went on thinking back to her young years and explaining them to her friend in soft, easy phrases while all around the house, the night time put on flesh and blackness. She thought awhile and decided that her conscious life had commenced at Nanny’s gate. On a late afternoon Nanny had called her to come inside the house because she had spied Janie letting Johnny Taylor kiss her over the gatepost. (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 10.)

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Wie die zitierte Aussage der narrativen Instanz zeigt, ist Janies Blick auf die eigene Vergangenheit äußerst selektiv und sie nimmt für den Beginn ihres „conscious life“ eine bewußte Datierung vor, welche jedoch nicht mit ihrem tatsächlichen Erinnerungsvermögen korrespondiert. Dass in Janies Bewusstsein bereits viel weiter zurückliegende Erlebnisse präsent sind, wird anhand einer Anekdote aus ihrer Kindheit deutlich, welche sie selbst erzählt: Ah was wid dem white chillun so much till Ah didn’t know Ah wuzn’t white till Ah was round six years old. Wouldn’t have found it out then, but a man come long takin’ pictures […] So when we looked at de picture and everybody got pointed out there wasn’t nobody left except a real dark little girl with long hair standing by Eleanor. Dat’s where Ah wuz s’posed to be, but Ah couldn’t recognize dat dark chile as me. So Ah ast, ‘where is me? Ah don’t see me’. Everybody laughed […] Ah looked at de picture a long time and seen it was mah dress and mah hair so Ah said: ‘Aw, aw! Ah’m colored!’ den dey all laughed real hard. (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 8 f.)

Der eigenen Erzählung nach beginnt Janies „conscious life“ offensichtlich doch wesentlich früher, als es die zuvor zitierte Äußerung der narrativen Instanz vermuten lässt. Die Besonderheit in der Erzählstruktur des Textes liegt demnach in der Mischung aus den zwei verschiedenen Quellen, mit deren Hilfe die Geschichte der Protagonistin rekonstruiert werden muss. Einerseits erhalten wir Informationen von der narrativen Instanz, die das Geschehen filtert und dieses somit vermittelt präsentiert, und andererseits sind wir mit Passagen konfrontiert, innerhalb welcher Janie spricht und die Erinnerungen der Figur auf eine spezifische Weise – mittels der Verwendung eines bestimmten Soziolekts, des Black English Vernacular – dargestellt werden. Wie oben erwähnt, wurde Hurstons Text aus Sicht einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft bisher primär auf die Entwicklung der Stimme einer schwarzen Protagonistin untersucht und mit Blick auf das in der Harlem Renaissance erwachte Selbstbewusstsein der African Americans als eine positive Entwicklung in den Kategorien race und gender gedeutet. Die mangelnde Trennung zwischen interner Fokalisierung durch die narrative Instanz und Äußerungen durch die Stimme der Figur führte jedoch zwangsläufig dazu, dass das Untersuchungskriterium der Modernität in erster Linie auf eine vermeintliche Entwicklung der Protagonistin, auf ihr „coming to voice“,59 reduziert wurde. Aus narratologischer Sicht handelt es sich hier jedoch um eine Nachlässigkeit, die bei der Betrachtung der Erzählstruktur in Einzelfällen zu problematischen Ergebnissen geführt hat. So geht Maria J. Racine von folgender Prämisse aus: „If the narrator’s voice and Janie’s voice have melded throughout the novel, then perhaps there is no 59 Vgl. Eva Boesenberg: Gender – Voice – Vernacular: The Formation of Female Subjectivity in Zora Neale Hurston, Toni Morrison, and Alice Walker. Heidelberg 1994. Hier: S. 2.

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need for Janie to speak to the reader; her voice is evident through the narrator’s“.60 Racines Fazit, Janie habe im Laufe ihres Lebens eine Stimme entwickelt und könne über den Gebrauch dieser nun frei entscheiden,61 scheint diskussionswürdig, da auch das Ende des Romans wohl aus Janies Sicht, aber über eine intern-fokalisierte narrative Instanz vermittelt wird.62 Unter dem Gesichtspunkt einer kollektiven narrativen Instanz soll der Text nun aus narratologischem Blickwinkel neu gelesen und der Fokus auf eine in ihrer Intention übereinstimmende Sprechergruppe gelenkt werden. In dem folgenden, knapp umrissenen Deutungsansatz soll nun das Interpretationspotenzial des Textes für die Konstruktion einer kollektiven Identität fruchtbar gemacht werden, indem die zuvor in der Sekundärliteratur häufig diskutierte Figur Janie Crawford in ein Verhältnis zu dem sie umgebenden Kollektiv der black community gesetzt wird, und sich somit das Hauptinteresse von der einzelnen Figur hin zu der gemeinsamen Stimme einer gesamten Gruppe verlagert. Hierbei sollen zwei geschlossene Kreise im Vordergrund stehen, mit welchen die Protagonistin sich auseinandersetzen muss. Zum einen handelt es sich um das Kollektiv der Dorfgemeinschaft in Eatonville, der langjährigen Heimat Janies während ihrer zweiten Ehe mit Joe Starks und zugleich auch dem Ort, an den sie nach dem Tod Vergible Woods zurückkehrt. Das zweite Kollektiv stellt die schwarze Gemeinschaft in den Everglades dar, welcher Janie und ihr dritter Lebenspartner Woods sich anschließen, um nach dem Weggang aus Eatonville ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Beide Kollektive sollen nun kurz vorgestellt und im Anschluss zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Nähert man sich der Konstruktion einer kollektiven Identität aus soziologischer Sicht, so lässt sich mit Bernhard Giesen festhalten, dass diese über bestimmte Codes63 generiert wird. Giesen unterscheidet hier zwischen primordialen, traditionalen und universalistischen Codes, die jeweils das Fundament eines Kollektivs darstellen können. Vereinfacht gesprochen können also natürliche bzw. biologische Unterschiede, eine gemeinsame Vergangenheit oder ein transzendentalistisches Weltbild, welches das Kollektiv auf eine vermeintlich bessere Zukunft hinarbeiten lässt, über Inklusion oder Exklusion des Einzelnen in Bezug auf die Gruppe entscheiden.64

60 Maria J. Racine: „Voice and Interiority in Zora Neale Hurston’s Their Eyes Were Watching God“. In: African American Review 28 (1994). S. 283–292, hier: S. 283. 61 Vgl. ebd., S. 292. 62 Vgl. Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 183 f. 63 Vgl. Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt am Main 1999. Hier: S. 26 ff. 64 Vgl. ebd., S. 9–69.

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In Their Eyes Were Watching God wird nicht nur ein ausschließlich schwarzes Figurenpersonal präsentiert, sondern zugleich mit der kleinen Gemeinde Eatonville in Florida über weite Strecken des Textes ein Handlungsort gewählt, der als erste all-black community in die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika eingegangen ist. Trotz dieser vermeintlich verbindungsstiftenden primordialen Basis für ein konfliktfreies kollektives Zusammenleben entwickeln sich Janie und ihr zweiter Mann Jodie schnell zu Außenseitern innerhalb der Gemeinschaft. Auslöser dieser Ausgrenzung ist offensichtlich das mit Blick auf die Gruppe nonkonformistische Verhalten Jodies, der sich kurz nach seiner Wahl zum Bürgermeister selbst aus dem Kollektiv ausschließt und sich mit „a bow-down command in his face“ (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 44) über seine Mitmenschen zu erheben versucht. Dem wachsenden Unmut innerhalb der black community wird nun über das besondere Konstrukt der kollektiven narrativen Instanz Ausdruck verliehen, welche die Perspektive der unzufriedenen Gruppe einnimmt und sich stellvertretend für sie äußert: They had murmured hotly about slavery being over, but every man filled his assignment. There was something about Joe Starks that cowed the town. […] Take for instance that new house of his. It had two stories with porches, with bannisters and such things. The rest of the town loooked like servants’ quarters surrounding the ‘big house’. […] And look at the way he painted it – a gloaty, sparkly white. […] It sort of made the rest of them feel that they had been taken advantage of. Like things had been kept from them. […] It was bad enough for white people, but when one of your own color could be so different it put you on a wonder. (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 44 f.)

Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, erfüllt die narrative Instanz an dieser Stelle die obligatorischen Voraussetzungen für eine kollektive narrative Instanz, indem die extradiegetische Erzählerstimme die Perspektive einer geschlossenen intradiegetischen Figurengruppe einnimmt (interne kollektive Fokalisierung) und sich stellvertretend für diesen geschlossenen Kreis im Sinne eines Konsenses äußert. Zusätzlich entsteht der Eindruck einer gewissen Mündlichkeit (fakultatives Merkmal), die als kollektive erlebte Rede auftritt und den Ton der kollektiven narrativen Instanz innerhalb des gewählten Textausschnittes prägt. Richtet man den Blick auf die Wortwahl der kollektiven narrativen Instanz, so stellt man fest, dass mehrere Begriffe einem Wortfeld zugeordnet werden können, das – sei es direkt oder indirekt – eine Verbindung zum Diskurs über die Sklaverei aufweist (slavery, servants’ quarters, white people vs. your own color). In dieser letztgenannten binären Opposition zwischen white people und own color liegt zugleich das Differenzkriterium zwischen der geschlossenen Gemeinschaft in Eatonville und dem Bürgermeister Joe Starks samt Ehefrau Janie begründet. Aus soziologischer Sicht bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass

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der primordiale Code in seiner Definition als ein Code, der „die Unterscheidung zwischen Innen und Außen auf[grund von] Geschlecht oder Generation, Verwandtschaft oder Herkunft, Ethnizität oder Rasse“65 trifft, an dieser Stelle nicht greift: Einen afro-amerikanischen Ursprung zu haben, reicht hier nicht aus, um Teil der Gemeinschaft zu sein. Ausschlaggebend ist ein bestimmtes gruppenkonformes Verhalten, das über Inklusion oder Exklusion aus dem Kollektiv entscheidet. Gegen diese traditionalen Codes66 verstößt Starks massiv, wie die folgende Erläuterung verdeutlicht: Traditionale Formen kollektiver Identität ergeben sich auf der Grundlage der Vertrautheit mit impliziten Regeln des Verhaltens, mit Traditionen und sozialen Routinen. Dieser Code bindet die grundlegende Differenz zwischen uns und den anderen an die Unterscheidung zwischen der Dauerhaftigkeit von Routinen einerseits und dem Außerordentlichen andererseits. Traditionale Codes gehen nicht davon aus, daß die kollektive Identität eine externe Grundlage wie die Natur oder die Transzendenz besitzt. Statt dessen werden die Routinen, die Traditionen und Erinnerungen als Kern der kollektiven Identität angesehen.67

Durch sein Verhalten macht Starks nicht nur deutlich, dass er die „impliziten Regeln des Verhaltens“ und „sozialen Routinen“ nicht anzuerkennen gewillt ist, sondern er erweist sich für eine bisher homogene Gruppe zudem als ein Störfaktor, der ein gleichberechtigtes Kollektiv zugunsten einer hierarchischstrukturierten Gesellschaft aufzukündigen versucht. Indem er eine Versammlung einberuft und sich dort durch sein energisches Auftreten als Bürgermeister geradezu aufdrängt (vgl. Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 38 ff.), verletzt er bisher tradierte Verhaltensmuster, die allgemein akzeptiert waren und bis zu seinem Erscheinen in der Gemeinde Gültigkeit besaßen. Joe Starks Außenseitertum gründet auf seiner Ignoranz des kulturellen Gedächtnisses, das dem Kollektiv als Basis für die Gemeinschaft dient und von Jan Assmann folgendermaßen definiert wird: Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.68

65 Vgl. Giesen, Kollektive Identität, S. 32. 66 Vgl. ebd., S. 42 ff. 67 Ebd., S. 42. 68 Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988. S. 9–19. Hier: S. 15.

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Indem er sich als der Prototyp des self-made man präsentiert und somit das ‚Idealbild‘ des weißen Amerikaners imitiert, wird das Selbstbild der Gruppe jedoch nicht stabilisiert, sondern geradezu destablilisiert, so dass Starks zwangsläufig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden muss, um dem voranschreitenden Verlust der eigenen Identität durch den Einfluss weißer Verhaltensmuster entgegenzuwirken. Diese Ausgrenzung wird von dem Kollektiv aufgrund Janies Verbindung zu Joe Starks auf Janie übertragen. Die Protagonistin erscheint nicht als Individuum, sondern wird von der Gruppe ausschließlich über ihre Beziehung zu Joe Starks wahrgenommen und definiert: Janie soon began to feel the impact of awe and envy against her sensibilities. The wife of the mayor was not just another woman as she had supposed. She slept with authority and so she was part of it in the town mind. (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 44)

Bemerkenswert ist an dieser neuen, die Divergenz zwischen dem Kollektiv der Gemeinde Eatonville und den Eheleuten Starks fokussierenden Betrachtung des Textes, dass die aus soziologischer Sicht primordiale Kategorie race als ein gesellschaftlich bedingtes Verhaltensmuster entlarvt wird. Blickt man auf das Erscheinungsjahr des Romans (1937), so ist aus dem Blickwinkel der Post-Colonial Studies dieses Verständnis des Entwurfs einer bestimmten Ethnizität äußerst modern, da race gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch als primär biologische Fragestellung innerhalb der Natur- und Kulturwissenschaften verhandelt worden ist: „In the early decades of the twentieth century, ‚race‘ continued to acquire a legitimacy through the ‚scientific‘ study of racial variation“.69 Eine deutlich differenziertere Begriffsbestimmung des Terminus wurde erst nach eingehenden Studien in den 1970er und 1980er Jahren vorgenommen und führte zu der folgenden Neudefinition von race als „a cultural rather than a biological phenomenon, the product of historical processes not of genetically determined physical differences“.70 Dieser Entwurf von blackness, welcher die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnizität nicht als natürlich gegeben, sondern als sozial konstruiert offenlegt und aus soziologischem Blickwinkel seiner Zeit um Jahrzehnte voraus ist, steht jedoch nicht in einem Widerspruch zu dem bereits angesprochenen ausgebildeten Selbstbewusstsein der African Americans während der dritten und letzten Phase der Harlem Renaissance. Indem sich der an einem Idealbild des weißen Amerikaners orientierende Joe Starks innerhalb der black community als letztlich nicht überlebensfähig erweist, präsentiert Hurston in ihrem Roman ein 69 Bill Ashcroft u. a. (Hg.): Post-Colonial Studies. The Key Concepts. Routledge 2000. Hier: S. 185. 70 Ebd., S. 186.

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ausgesprochen selbstbewusstes Bild der schwarzen Gemeinschaft, das durch Vitalität und ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl gekennzeichnet ist. Ein äußerst intensives Zusammengehörigkeitsgefühl weist auch eine weitere geschlossene Gruppe innerhalb des Romans auf, die ebenfalls über die kollektive narrative Instanz präsentiert wird und im Folgenden kurz betrachtet werden soll. Nachdem Janie ihren dritten Ehemann Vergible „Tea Cake“ Woods in Notwehr erschossen hat, muss sie sich in einer Gerichtsverhandlung vor einer weißen Jury dafür verantworten. Ebenfalls anwesend vor Gericht ist das Kollektiv der black community, innerhalb welcher Janie und Woods während ihrer Zeit in den Everglades gelebt hatten. Nachdem bereits zuvor in Eatonville das Differenzkriterium race den Unterschied zwischen der Protagonistin und dem Kollektiv markierte, scheint das Ausschlusskriterium für Janie nach der Erschießung von Woods in der vermeintlichen Verletzung bestimmter geschlechtsspezifischer Verhaltensregeln zu liegen. So tritt die Gemeinschaft der black community keinesfalls auf, um Janie gegenüber der weißen Jury den Rücken zu stärken, sondern um die – aus ihrer Sicht – gerechte Strafe für den Tod ihres Gruppenmitglieds Vergible Woods und Janies vermeintlichen Betrug an ihm zu fordern: Then she saw all of the colored people standing up in the back of the courtroom. […] They were all against her, she could see. […] They were there with their tongues cocked and loaded, the only real weapon left to weak folks. The only killing tool they are allowed to use in the presence of white folks. […]The white part of the room got calmer the more serious it got, but a tongue storm struck the negroes like wind among palm trees. They talked all of a sudden and all together like a choir and the top parts of their bodies moved on the rhythm of it. They sent word by the bailiff to Mr. Prescott they wanted to testify in the case. Tea Cake was a good boy. He had been good to that woman. No nigger woman ain’t never been treated no better. Naw suh! He worked like a dog for her and nearly killed himself saving her in the storm, the soon he got a little fever from the water, she had a took up with another man. Sent for him to come there from way off. Hanging was to good. All they wanted was a chance to testify. (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 176 f.)

Der obige Textausschnitt verdeutlicht, dass die Erzählinstanz an dieser Stelle als eine kollektive narrative Instanz konzipiert ist. Das obligatorische Merkmal der kollektiven internen Fokalisierung ist gegeben und tritt in Form der kollektiven erlebten Rede, in welche auch der Soziolekt der African Americans integriert wird, besonders in den Vordergrund („No nigger woman ain’t never been treated no better. Naw suh!“). Eine genauere Betrachtung der über die Erzählinstanz vermittelten Vorwürfe des Kollektivs offenbart jedoch, dass das scheinbar betrügerische Verhalten Janies nicht primär eine Frage innerhalb der Kategorie gender ist, sondern in erster Linie auf eine kulturelle Differenz zwischen der black community und der Protagonistin zurückzuführen ist. Das von dem Kol-

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lektiv getadelte Verhalten Janies beruht auf einem Nicht-Verstehen ihres – auch durch weiße Verhaltensregeln bestimmten – soziologischen Hintergrundes. Von ihr selbst wird zu Beginn der Narration berichtet, dass sie bereits seit frühester Kindheit sowohl den Einflüssen der African Americans, als auch den Gepflogenheiten der weißen Oberschicht ausgesetzt war: „Mah grandma raised me. Mah grandma and de white folks she worked wid“ (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 8). Aufgrund dieser langjährigen doppelten Prägung ist es nachvollziehbar, dass Janie – wie sie es als Kind bei Krankheitsfällen gesehen und gelernt hat – bei deutlichen Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung ihres Mannes einen Arzt zu Rate zieht, was von Seiten der black community als ein Annäherungsversuch an einen ihnen nicht näher bekannten weißen Mann missverstanden wird. Das zweite Kollektiv, mit dem Janie sich auseinandersetzen muss und das sie durch seine Geschlossenheit wieder in eine Außenseiterposition drängt, stellt die Differenz zwischen sich und der Protagonistin also ebenfalls durch eine Abweichung von tradierten und kulturell geprägten Handlungen her. Auch hier erweist sich die Bestimmung von race als „classification of human beings into physically, biologically and genetically distinct groups“71 als überholt und offenbart sich trotz einer Art formaler Akzeptanz Janies durch das Kollektiv als „nigger woman“ (Hurston, Their Eyes Were Watching God, S. 177) als äußerst unverbindlich. Auch wenn die Protagonistin ihrer biologischen Herkunft nach dem Kollektiv der black community zuzuordnen ist, wird ihr Verhalten als nichtgruppenkonform gewertet und wiegt als Ausschlusskriterium letztlich schwerer als ein gemeinsamer ethnischer Ursprung. Die Beispieltexte von Friedo Lampe und Zora Neale Hurston haben gezeigt, dass sich die Kategorie der kollektiven narrativen Instanz für verschiedene philologische Interpretationsansätze fruchtbar machen lässt. Exemplarisch wurde anhand von Lampes Septembergewitter ein narratologischer Zugriff gewählt, der die sich für eine homogene Gruppe äußernde narrative Instanz zu dem filmischen Erzählen in ein Verhältnis gesetzt und in ihrer (möglichen) Funktion für den untersuchten Text bestimmt hat. Anhand von Zora Neale Hurstons Their Eyes Were Watching God wurde gezeigt, dass die Kategorie der kollektiven narrativen Instanz über erzähltheoretische Fragen hinaus einen wertvollen Beitrag zu einer sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft leisten kann, wie hier paradigmatisch anhand der Kategorie race im Rahmen der Post-Colonial Studies nachgewiesen wurde. Im nächsten Kapitel wird nun der Fokus von der extradiegetischen narrativen Instanz hin zu den intradiegetischen Figurenstimmen verlagert. Auch hier 71 Ebd., S. 180.

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finden sich wieder zwei verschiedene Varianten narrativer Polyphonie: Die polyphone Figurenstimme und die kollektive Figurenstimme.

3.2 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme Im Anschluss an die bereits diskutierten Formen von Polyphonie auf der Ebene der extradiegetischen narrativen Instanz sollen nun also zwei verschiedene Möglichkeiten der Mehrstimmigkeit auf der intradiegetischen Erzählebene in den Blickpunkt gerückt werden, woraus folgt, dass es hier um Aussageinstanzen geht, die – aufgrund ihrer Anbindung an die Vorstellung von einer Person – zugleich auch mit dem Prädikat einer Stimme72 versehen werden. Auch hier soll – wie im vorherigen Kapitel zur narrativen Instanz – zunächst die polyphone Variante betrachtet werden, die sich durch die Integration zweier oder mehrerer Stimmen innerhalb der Figurenstimme generiert. Diese Stimme wird im Folgenden als polyphone Figurenstimme bezeichnet. Für die zweite Variante der Mehrstimmigkeit ist die für eine geschlossene Gemeinschaft erhobene Stimme durch eine einzelne Figurenstimme ausschlaggebend. Im Gegensatz zu der polyphonen Figurenstimme werden hier also nicht zwei oder mehrere Aussageinstanzen klar voneinander differenzierbar in die jeweilige Figurenstimme integriert, sondern eine Stimme vereint die Stimmen einer Vielzahl intradiegetischer Figuren, so dass ein gesamtes Figurenkollektiv in dieser Figurenstimme aufgeht und sich über sie mitteilt. Diese Stimme soll im Folgenden als kollektive Figurenstimme bezeichnet werden.

3.2.1 Die polyphone Figurenstimme Wie auch bei der polyphonen narrativen Instanz besteht das wichtigste Merkmal der polyphonen Figurenstimme darin, dass eine intradiegetische Figur innerhalb einer ihrer Äußerungen potenziell mehrere, mindestens aber eine deutlich von der eigenen Figurenstimme zu unterscheidende Aussageinstanz(en) integriert. Für die polyphone Figurenstimme gelten jedoch andere Regeln als für die polyphone narrative Instanz: War die polyphone narrative Instanz noch durch zwei (oder mehrere) divergierende Haltungen gekennzeichnet, welche als voneinander unabhängig geäußerte Sichtweisen gleichberechtigt nebeneinan72 Aufgrund dieser Anbindung an die Vorstellung von einer Person wird auch auf die distanzierenden Anführungszeichen bei dem Begriff der Stimme verzichtet.

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derstehen, so handelt es sich nun um eine andere Konstruktionsweise der Mehrstimmigkeit. Denn anders als bei der polyphonen narrativen Instanz wären zwei einander widersprechende Äußerungen, die von einer intradiegetischen Figur getätigt werden, nicht auf eine mögliche Form narrativer Polyphonie zu untersuchen, sondern sie wären in erster Linie mit Blick auf die Psychologie der Figur und die Zuverlässigkeit ihrer Äußerungen zu betrachten. Im Gegensatz zu der narrativen Instanz, welche zwar eine bestimmte Erzählfunktion innerhalb des Textes übernimmt, nicht aber als literarischer Entwurf einer Person gedacht wird, liegt der Konzeption intradiegetischer Figuren die Vorstellung von einem anthropomorphen Konstrukt zugrunde, das die Figur – ähnlich einer realen Person – mit einer einzigen Stimme ausstattet. Anders gewendet: Würde sich die Figur widersprüchlich äußern, so läge kein Fall von narrativer Polyphonie vor, sondern wir hätten es mit einer besonderen Form der psychologischen Figurenkonzeption zu tun. Die Widersprüchlichkeit der Figur würde die Frage aufwerfen, ob es sich bei ihren paradoxen Äußerungen beispielsweise um eine schlichte Lüge handelt, oder ob die Figur – in einem extremen Falle – sich in ihren Aussagen ständig widerspricht und als krankhaft schizophren konzipiert ist. Um mit Blick auf intradiegetische Figuren sinnvoll von einer Variante narrativer Polyphonie sprechen zu können, bedarf es also einer anderen Konstruktion der Mehrstimmigkeit als in dem bereits verhandelten Fall der polyphonen narrativen Instanz. In fiktionalen Erzähltexten besteht die Möglichkeit, die Stimme einer intradiegetischen Figur als polyphon zu gestalten, indem man eine fremde Stimme in die Figurenstimme integriert. In Anlehnung an Gérard Genette handelt es sich hierbei um ein bestimmtes Verständnis und zugleich auch um eine bestimmte Form der Intertextualität, das Zitat,73 das aus einem anderen Kontext herausgelöst wird und von der Figur verwendet werden kann. Diese Form der Stimmverdopplung ist jedoch nicht auf fiktionale Texte beschränkt, sondern verweist auf eine potenzielle Permeabilität der Grenze zwischen fiktionalem und faktualen Erzählen: So kann beispielsweise eine literarische Figur theoretisch ebenso eine historische Person zitieren, wie sich auch oftmals faktisch reale Personen der Worte einer fiktiven Figur bedienen – man denke nur an die Vielzahl literarischer Zitate, die sich in unserem Sprachschatz als geflügelte Worte etabliert haben. Zugleich betrifft diese Grenzauflösung nicht nur die möglichen Überschneidungen von fiktionalem und faktualen Erzählen, sondern sie umfasst auch Fragen einer transgenerischen und transmedialen Narratologie: So ist es durchaus denkbar, dass die Figur eines fiktionalen

73 Vgl. hierzu auch das Kapitel 1.6.

3.2 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme



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Erzähltextes eine andere fiktive Figur, beispielsweise aus einem Drama oder einem Film, zitiert. Aus der oben beschriebenen Herleitung folgt, dass das Konstrukt einer polyphonen Figurenstimme bei seiner Analyse auf mehrere verschiedene Kontexte hin zu untersuchen ist. Zum einen ist für ihre Deutung der ursprüngliche Verwendungszusammenhang des integrierten Zitates von Interesse, da er wertvolle Hinweise auf ein mögliches Motiv der erneuten Verwendung durch die betrachtete Figur liefern kann. Zum anderen ist aber auch der Kontext von Bedeutung, innerhalb dessen sich die Figur eines Zitates bedient; und schließlich die Frage, welcher neue Kontext nun für das durch die Figur entlehnte Zitat innerhalb eines anderen Textes entsteht. Anders als bei der polyphonen narrativen Instanz und der kollektiven narrativen Instanz lässt sich der ‚Wirkungsbereich‘ der polyphonen Figurenstimme nicht verallgemeinert festlegen. Dieser ist an das jeweilige der Figur zugrunde liegende Konzept gebunden und variiert von Fall zu Fall: Während eine polyphone narrative Instanz grundsätzlich polyphon ist und die kollektive narrative Instanz hingegen in aller Regel abschnittsweise auftritt, kann für eine Figur häufiges Zitieren entweder charakteristisch sein (dann wäre die Figurenstimme mit Blick auf den gesamten Text polyphon), oder aber diese Form der Verwendung einer fremden Stimme kann auch nur einmalig in dem Text präsentiert werden (bei dieser Variante würde man von einer auf einen bestimmten Abschnitt begrenzt auftretenden polyphonen Figurenstimme sprechen). Im Folgenden wird – auch wenn die Übergänge freilich fließend sein können – im Fall einer häufig zitierenden Figur von einer polyphonen Figurenstimme gesprochen. Erweist sich die Verwendung eines Zitates für eine Figur als selten und somit nicht charakteristisch, so wird diese Form zukünftig im Sinne der Frequenz ihres Auftauchens limitierte polyphone Figurenstimme bezeichnet. Für den Typus der polyphonen Figurenstimme sind nun drei verschiedene Varianten denkbar, die hinsichtlich der Stimme, die von der Figur zitiert wird, zu unterscheiden sind. Der erste Typus ist auf den jeweils untersuchten Text begrenzt und zugleich auch der schlichteste: Eine intradiegetische Figur zitiert eine andere Figur aus der erzählten Welt. In diesem Fall wird der Rahmen des untersuchten Textes nicht verlassen und somit auch kein außertextueller Kontext hinzugezogen. Ein Sonderfall dieser Variante ist das Zitieren der narrativen Instanz durch die Figur. Hierbei würde es sich um eine bestimmte Form der Metalepse nach Genette handeln, welche sich durch das Passieren der – nach den Maßstäben realistischen Erzählens impermeablen – Grenze zwischen intradiegetischer und extradiegetischer Erzählebene auszeichnet. Bei diesem ersten Typus handelt es sich um eine intratextuelle Konstruktion der polyphonen Figurenstimme.

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Bei dem zweiten Typus zitiert die Figur eine Stimme, welche sich wohl außerhalb des untersuchten Textes äußert, zugleich aber Teil einer fiktionalen Darstellung ist. Zitiert werden kann also beispielsweise eine Figur aus einem anderen Erzähltext, einem Drama, eine Figur aus einem Film oder aber auch das lyrische Ich eines Gedichts. Die Quelle des Zitats ist weder auf eine bestimmte Erzählgattung noch auf ein bestimmtes Erzählmedium festgelegt; entscheidend ist lediglich der fiktionale Charakter der Äußerung, welche die polyphone Figurenstimme in ihre eigenen Worte integriert. Versteht man fiktionale Darstellungen als eine besondere Form von System, handelt es sich hierbei also um eine intrasystemische Konstruktion der polyphonen Figurenstimme. Für den dritten möglichen Typus einer polyphonen Figurenstimme ist maßgeblich, dass das von der Figur verwendete Zitat aus einem nicht-fiktionalen Kontext entlehnt wird. Daraus folgt, dass das integrierte Zitat Teil einer „authentische[n] […] Rede aus Aussagesätzen, die von einem realen Sprecher mit behauptender Kraft geäußert werden“,74 sein muss. Anders als in den zuvor diskutierten Varianten der polyphonen Figurenstimme muss das Zitat also tatsächlich formuliert sein, und zwar im Sinne einer nachprüfbaren real getätigten Aussage. Das konstituierende Element besteht also in der Faktualität der ursprünglichen Äußerung, wobei es unerheblich ist, ob diese mündlich oder schriftlich getätigt worden ist. Folglich handelt es sich bei diesem Typus um eine intersystemische Konstruktion der polyphonen Figurenstimme. Im Folgenden soll nun die polyphone Figurenstimme anhand von Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896) und Paul Austers City of Glass (1985) exemplarisch vorgestellt und zugleich auch wieder auf ihre Funktion innerhalb der genannten Texte hin untersucht werden. Während die Zitate in Raabes Text auf bestimmte Klassiker der Literaturgeschichte zurückgeführt werden können und somit der Rahmen eines fiktionalen Kontextes nicht verlassen wird, handelt es sich bei Austers Roman um einen Text, der mittels der polyphonen Figurenstimme die Grenze zwischen fiktionalem und faktualen Erzählen als potenziell durchlässig entlarvt, indem Zitate historischer Persönlichkeiten in die Geschichte der erzählenden Figur eingeflochten werden. Bevor beide Erzähltexte nun aber näher beleuchtet werden, sollen zunächst wieder die für die neu erstellte Kategorie relevanten Merkmale zusammengefasst werden. Folgende Punkte sind für die Definition der polyphonen Figurenstimme zu berücksichtigen:

74 Martínez / Scheffel, Einführung, S. 188.

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Grundlegend für die polyphone Figurenstimme ist, dass sie die Worte einer anderen Stimme zitiert und die fremde Aussage in die eigene Äußerung integriert (konstitutives Merkmal) Da literarische Figuren auf der Vorstellung eines anthropomorphen Konstrukts basieren, werden einander widersprechende Äußerungen – anders als bei der polyphonen narrativen Instanz – nicht als eine Form der Mehrstimmigkeit gewertet, sofern sie nicht als das Zitat einer fremden Stimme zuzuordnen sind (konstitutives Merkmal) Im Bereich fiktionaler Darstellungen kann die polyphone Figurenstimme prinzipiell jede andere Stimme in die eigene Äußerung integrieren – sie ist nicht an den Bereich fiktionaler Erzähltexte gebunden, d. h. es handelt sich hier um ein potenziell transgenerisches und transmediales Phänomen Darüber hinaus vermag die polyphone Figurenstimme die vermeintlich impermeable Grenze zwischen fiktionalem und faktualen Erzählen zu passieren und kann neben sämtlichen Stimmen aus dem Bereich der Fiktion auch Äußerungen aus dem Bereich des faktualen Erzählens integrieren Hieraus ergeben sich drei hinsichtlich ihrer Konstruktion voneinander zu unterscheidende Typen der polyphonen Figurenstimme: Die intratextuelle polyphone Figurenstimme (zitiert werden Stimmen aus dem jeweils untersuchten Erzähltext), die intrasystemische polyphone Figurenstimme (zitiert werden Stimmen, die in den Bereich fiktionaler Darstellungen fallen, sich aber außerhalb des untersuchten Erzähltextes befinden) und die intersystemische polyphone Figurenstimme (zitiert werden Stimmen, die außerhalb fiktionaler Darstellungen angesiedelt sind) Bei der Analyse einer polyphonen Figurenstimme sind stets mehrere Kontexte einzubeziehen: Der Kontext, aus dem die zitierte Stimme entstammt, der Kontext, in den sie integriert wird und der neue Kontext bzw. Sinnzusammenhang, der durch die Kombination zweier Stimmen entsteht Bei der polyphonen Figurenstimme wird zwischen zwei verschiedenen Varianten hinsichtlich der Frequenz ihres Auftauchens unterschieden: Ist die Verwendung von Zitaten für eine Figur charakteristisch und geschieht häufig, so wird diese Stimme als polyphone Figurenstimme bezeichnet; passiert die Einbindung eines Zitats durch eine Figur selten oder möglicherweise nur einmalig, so handelt es sich um eine abschnittsweise realisierte Form narrativer Polyphonie, die an dieser Stelle mit dem Terminus der limitierten polyphonen Figurenstimme versehen wird Unabhängig davon, ob es sich um die limitierte Form handelt oder nicht, ist jede Variante der Polyphonie, d. h. jedes einzelne Zitat auf seine spezifische Funktion innerhalb des analysierten Textes hin zu untersuchen

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3.2.1.1 Beispieltext: Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs (1896) Als erstes Beispiel für die polyphone Figurenstimme soll nun der 1896 erschienene Roman Die Akten des Vogelsangs von Wilhelm Raabe genauer betrachtet werden. In diesem Text berichtet der homodiegetische Erzähler Karl Krumhardt von seiner zusammen mit Velten Andres und Helene Trotzendorff verbrachten Kindheit und Jugend. Von der gemeinsamen, in der idyllischen Siedlung „Im Vogelsang“ verlebten Zeit wird nun anlässlich der Nachricht vom Tod Velten Andres retrospektiv erzählt. Im Zentrum der Narration steht jedoch weniger der chronologische Bericht der vergangenen Geschehnisse, als vielmehr eine über die von Karl assoziativ erinnerten Episoden erfolgende Charakterstudie der drei Freunde. Während der wohlbehütete Karl aus einem konservativen Beamtenhaushalt stammt und später als Oberregierungsrat gemeinsam mit Frau und Kindern ein ruhiges, bürgerliches Leben führt, wird direkt zu Beginn seiner Erzählung deutlich, dass das Leben seiner Freunde aus Kindheitstagen durch verschiedene Höhen und Tiefen bestimmt worden ist. Helene lebte zunächst als Kind deutscher Einwanderer in den USA und wurde aufgrund der finanziellen Probleme des Vaters für die Zeit ihrer Jugend zusammen mit ihrer Mutter in den Vogelsang zurückgeschickt. Nachdem sich die wirtschaftliche Lage von Charles Trotzendorff besserte, wurden Ehefrau und Tochter in die Vereinigten Staaten zurückgeholt, wo Helene den amerikanischen Millionär Mungo heiratete. Als dessen Witwe informiert sie nun Karl über den Tod des gemeinsamen Freundes Velten Andres, der zeitlebens ein unstetes Dasein führte. Velten, der nach dem frühen Tod seines Vaters alleine von der Mutter großgezogen wurde, konnte seine unerfüllte Liebe zu Helene zu keiner Zeit verwinden und folgte ihr sogar für geraume Zeit in die Vereinigten Staaten. Nach einem rastlosen Leben und der Rückkehr in seine einstige Berliner Studentenwohnung stirbt Velten im Beisein seiner mittlerweile verwitweten Jugendfreundin Helene. Die Figur des Velten Andres, dessen Tod den Anlass für das Verfassen der ‚Akten‘ durch Karl Krumhardt markiert, soll nun unter dem Gesichtspunkt der polyphonen Figurenstimme analysiert werden. Aus Karls Erinnerungen geht hervor, dass die Verwendung von Zitaten eine von Velten zu Lebzeiten überaus häufig genutzte Form der Artikulation darstellte. Stets wurde die zweite Stimme, welche er in die eigene einfließen ließ, aus dem Kontext fiktionaler Literatur entliehen und von ihm in den Gesprächen mit seinen Freunden in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt und somit intrasystemisch konstruiert. Als exemplarisch hierfür erweist sich die Verwendung eines Zitates aus Friedrich Schillers Trauerspiel Die Braut von Messina (1803), in dem sich zwei miteinander konkurrierende Brüder unwissentlich in die eigene Schwester verlieben. Bei einem Wiedersehen mit Karl, der den Vogelsang bereits zu Studienzwecken verlassen hatte, berichtet ihm Velten von Helene Trotzendorffs Rückkehr in die

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Vereinigten Staaten. Im Zuge dieses Gespräches wird deutlich, dass Velten die zuvor von ihm demonstrativ-geringschätzig als „Kröte“75 bezeichnete Helene keinesfalls so gerne hat abreisen lassen, wie er Karl vorzutäuschen versucht. Tatsächlich veranlasst der Weggang seiner Jugendfreundin ihn dazu, dem Schmerz über seinen Verlust mit Hilfe eines aus Schillers Drama entliehenen Zitates Ausdruck zu verleihen, und er wiederholt die Worte der Figur Don Manuel: „Ich habe mich aus ihrem Arm gerissen / Doch nur mit ihr werd ich beschäftigt sein“.76 Diesen in die eigene Aussage integrierten Worten, die Schillers Figur ursprünglich noch ohne das Wissen formuliert, dass es sich bei der geliebten Frau um die eigene Schwester handelt, lässt Velten dann im Laufe der Unterhaltung ein ehrliches Bekenntnis folgen, das – wie noch gezeigt wird – sowohl auf den Inhalt des Schiller-Dramas referiert als auch im Rahmen der erzählten Welt von Raabes Text von besonderer Bedeutung ist: Wäre dieser ganze Quark des Erzählens wert, wenn die [Helene, S. R.] nicht auch bei uns zu meiner Mutter Kind geworden wäre? Wie hätte man vor Lust kreischen können, wenn man nicht selber mit an dem Wurm erzogen hätte! Jetzt offen gesagt, ich ganz besonders sehr, Krumhardt! Karlos, sie gehörte doch zu uns, und so lasse ich sie auch noch nicht fahren. Sie weiß es auch selber, was für ein gut Stück von uns sie mit in die neue Herrlichkeit, drüben jenseits des Ozeans, nimmt. Krumhardt, ich nehme gar nichts dafür, mich auch vor dir bodenlos lächerlich zu machen: es steht geschrieben, daß ich dem Geschöpfchen bis an der Welt Ende nachlaufen soll. (Raabe, Akten, S. 848)

Velten offenbart durch sein Geständnis zweierlei: Zum einen – so geht aus dem direkten Bezug zu den Worten der Figur Don Manuel hervor – ist Velten tatsächlich „nur mit ihr […] beschäftigt“ und wird seiner unerfüllten Liebe Helene in die Vereinigten Staaten nachreisen. Eine weitere Deutungsweise seiner Worte ergibt sich mit Blick auf den Kontext des Schiller-Dramas. Veltens Formulierung, dass Helene „auch […] zu [s]einer Mutter Kind“ geworden ist, antizipiert hinsichtlich der Entwicklungen in Die Braut von Messina ein bestimmtes Schicksal Veltens, das ein ähnlich glückloses Ende des Lebens wie das der Figur Don Manuels vermuten lässt. Denn versteht man Veltens Äußerung wörtlich, so ergibt sich hieraus für ihn eine Art geschwisterliches Verhältnis zu Helene, das – auch wenn eine tatsächliche Verwandtschaft nicht der Fall ist – eine erotische Verbindung der beiden zwar nicht rechtlich verbietet, aber doch offenbar mas75 Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs [EA 1896]. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. S. 803–943. Hier: S. 847. München / Zürich 1961. Alle weiteren Raabe-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. 76 Hier zitiert nach: Friedrich Schiller: Die Braut von Messina [EA 1803]. Hg. von Matthias Luserke. Stuttgart 2002. V. 812 f. (S. 48).

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siv erschwert. Veltens Tragik besteht in der ambivalenten Beziehung zu Helene, die er einerseits zeitlebens unerwidert liebt, aber welche sich andererseits zugleich auch in die Rolle einer kleinen Schwester fügt, an der er „selber […] mit erzogen“ hat. Für Helene scheint ein gemeinsames Leben mit Velten ohnehin nicht zur Debatte zu stehen, da sie sich seit ihrer Ankunft im Vogelsang nach einer Rückkehr in die Vereinigten Staaten sehnt. Bezieht man die obige Äußerung Veltens nun auf den ursprünglichen Kontext der Worte Don Manuels, so ergibt sich eine proleptische Funktion der polyphonen Figurenstimme. In Schillers Drama ist es die erotische Liebe zu seiner leiblichen Schwester Beatrice, die Don Manuel das Leben kostet. Dieser hatte sich – ebenso wie sein Bruder Don Cesar – in die in einem Kloster aufgewachsene gemeinsame Schwester Beatrice verliebt, jeweils beide unwissend, dass es sich bei dem jungen Mädchen um ihre leibliche Schwester handelt. Als er von Don Cesar mit Beatrice beobachtet wird, tötet dieser Don Manuel aus Eifersucht. Folglich stirbt Don Manuel zwar durch die Hand seines mit ihm konkurrierenden Bruders; Auslöser dieser Tat ist aber die Liebe zu seiner Schwester. Bei Velten Andres ist die Todesursache weniger offenbar, jedoch scheint sie mit der unerfüllten Liebe in einem Zusammenhang zu stehen, die seine Gesundheit zeitlebens schwächte. Das rastlose, an seiner Lebensenergie zehrende Leben ist schließlich verantwortlich für die Entkräftung des sensiblen Velten, wie auch seine Vermieterin gegenüber Karl Krumhardt lakonisch resümiert: Also kurz: Er hat sein letztes halbes Jahr bei mir zugebracht und ist bei mir gestorben. […] Schade, daß er zu feine Nerven mitbekommen hatte und so, so, so sein Leben führen, und so, so zum Ende kommen musste, wenn er nicht als euer Narr oder im Irrenhause zu Grunde gehen wollte. (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 932)

Auch wenn die Lebenswege der beiden fiktiven Figuren Don Manuel aus Schillers Die Braut von Messina und Velten Andres aus Raabes Die Akten des Vogelsangs freilich verschieden verlaufen, so teilen sie doch ein entscheidendes Merkmal: Beiden wird die Liebe zu ihrer Schwester bzw. zu einer als Schwester empfundenen Person zum Verhängnis und ist somit – direkt oder indirekt – der Auslöser für ihren Tod. Die von der polyphonen Figurenstimme des Velten Andres geäußerten Worte erhalten nun zweifellos eine Brisanz, die sich erst durch den ursprünglichen Kontext des Schiller-Dramas erschließt. Der Rückgriff auf den Prätext von Schiller erlaubt es, das Schicksal Velten Andres’ unter einer bestimmten Vorausdeutung zu sehen und die sich innerhalb seiner Stimme offenbarende Polyphonie als Vorzeichen für eine tragische Entwicklung zu werten. Auch wenn Veltens Worte selbstverständlich nicht einer Vorhersehung gleichkommen (was für den realistischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts

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auch gänzlich unüblich wäre), so lassen die zitierten Worte Don Manuels zusammen mit der in einem Atemzug erwähnten schwesterlichen Verbindung zu Helene wenig Gutes mit Blick auf seinen weiteren Lebensweg hoffen. Im Anschluss soll nun noch eine weitere Funktionsweise der polyphonen Figurenstimme in dem Roman Die Akten des Vogelsangs vorgestellt werden. Als besonders bedeutsam erweist sich gleichermaßen für den Lebensentwurf der Figur Velten Andres und auch für die Handlungsmotivation in Raabes Text ein häufig auftauchendes Goethe-Zitat, das sich Velten gewissermaßen als Credo auserkoren hat und worauf auch von den anderen Figuren innerhalb der erzählten Welt im Zusammenhang mit Velten mehrfach hingewiesen wird. Es handelt sich hierbei um die erste Strophe der dritten Ode an Ernst Wolfgang Behrisch, die Johann Wolfgang von Goethe als Achtzehnjähriger im Jahr 1767 an seinen Freund verfasst hatte. Die zitierten Worte, die zunächst von Velten Andres im Rahmen seiner polyphonen Figurenstimme wiederholt werden, und im Anschluss noch häufig thematisiert werden, lauten folgendermaßen: Sei gefühllos! Ein leichtbewegtes Herz Ist ein elend Gut Auf der wankenden Erde77

Erstmalig wird diese Strophe von Velten nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten im Gespräch mit Karl Krumhardt zitiert. Anlass der Unterhaltung bildet ein Spaziergang „auf dem Osterberge“ (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 901), bei dem sich beide der gemeinsamen Kindheit erinnern und Velten das Zitat als eine Art Resümee nutzt, nachdem er seinem Freund ausführlich erklärt hatte, warum er seiner geliebten Mutter auch weiterhin einen glücklichen Menschen vorspielen wolle (ebd., S. 902). Dieser Kontext, der Velten als extrem sensibel und zugleich auch über sein bisheriges Leben verbittert kennzeichnet, beinhaltet nun einen zweiten – mit Blick auf die Chronologie der Ereignisse früheren – Kontext, innerhalb dessen Velten Andres erstmalig und zugleich auch prägend mit den Worten Goethes in Kontakt gekommen ist. So bekennt Velten gegenüber Karl: Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff, als mir beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilderbüchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in Puder, Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. […] Es war der Gesellschaftsabend, an welchem mir unsere Kleine aus dem Vogelsang

77 Hier zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: „Gedichte“. In: Ders. Sämtliche Werke. Vierzig Bde. Hg. v. Hendrik Birus u. a. Bd. 1. Frankfurt am Main 1987. Hier: S. 77.

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zum erstenmal ganz deutlich machte, was alles zu einem elenden Gut auf der Erde werden kann. (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 902 f.)

Dieser Abend, an dem Velten offensichtlich das erste Mal realisiert, wie aussichtslos seine Liebe zu Helene Trotzendorff tatsächlich ist, bildet nun die Grundlage für alle weiteren Einflechtungen des Goethe-Zitates innerhalb des Textes. Alle künftigen Verwendungen des Zitates im Rahmen der hier erzählten Welt verbindet jedoch, dass sie stets auf die Figur Velten Andres referieren und die erste Strophe der dritten Ode an Behrisch hier ihren ursprünglichen Kontext als lyrischer Text von Goethe verloren hat. Anders formuliert: Im Gegensatz zu dem zuvor betrachteten Zitat, das ebenfalls der polyphonen Figurenstimme des Velten Andres zugeordnet wird und das seine Bedeutung gerade durch den Rückbezug auf den ursprünglichen Kontext des Schiller-Dramas erhalten hatte, wird das Zitat in dem nun folgenden Fall von seinem eigentlichen Kontext gänzlich abgelöst und erhält seine Bedeutung in der erzählten Welt nur noch mit Blick auf den neuen, durch die mehrfache Verwendung des Zitates entstehenden, Kontext. Wie sehr die Figur Velten Andres sich die Goethes Worte zu eigen gemacht hat und wie untrennbar er mit ihnen verbunden ist, offenbart Velten selbst gegenüber Karl, als er dem Freund noch ausführlicher von seiner ersten Begegnung mit dem Goethe-Zitat berichtet: Verse habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komischen wie im Tragischen das momentan Gegenständliche, wenn du willst, das Malerische, das Theatralische jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geistesklarheit objektiv aufzufassen: ich habe an jenem, der alte Goethe würde sagen: bedeutendem Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus seinem Renommiertischexemplar gerissen, es fein zusammengefaltet und in die Brusttasche geschoben. Manches Leck in meinem Lebensschiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugestopft […]. (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 903)

Tatsächlich hat Velten auch den für ihn so bedeutenden Goetheschen Vers nicht „gemacht“, aber das von ihm beschriebene „Herausreißen und in die eigene Brusttasche schieben“ des Blattes symbolisiert zugleich auch die Vorgehensweise, derer er sich in einem übertragenen Sinne bei der aus der dritten Ode an Behrisch entliehenen ersten Strophe befleißigt: Velten trennt bestimmte Worte aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus, macht sie sich zu eigen und stellt sie – je nach Belieben und Situation – in einen neuen Sinnzusammenhang. Diese besondere Verwendung des Goethe-Zitats betrifft jedoch nicht nur seine Benutzung durch Velten Andres, sondern lässt sich auch bei anderen Figuren in ihrer Sicht auf Velten beobachten. So hat auch der Erzähler Karl Krumhardt die eigentümliche Symbiose seines Freundes mit den Worten Goethes vollkommen verinnerlicht und spielt bei seinem Bericht über einen mit Velten und dessen

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Mutter verlebten Abend auf das für seinen Freund so bedeutende Zitat an. An dieser Stelle wird deutlich, dass im Rahmen der hier erzählten Welt nicht mehr der ursprüngliche Kontext – nämlich die Ode als gesamter Text, welcher sich an den historischen Adressaten Behrisch richtet – berücksichtigt wird, sondern, dass die zitierten Worte in Raabes Text ausnahmslos mit der Figur Velten Andres verbunden sind, wie auch aus Karls Erinnerung an die gemeinsamen Stunden hervorgeht: Im Vogelsang saß auch ich noch ein Stündchen unter der Konzertmusik aus dem Tivoligarten mit dem Freunde und seiner Mutter. Er wußte jedenfalls sein gefühllos gewordenes Herz wohl zu verbergen und auf der wankenden Erde an diesem festen Punkte es wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern, Farben und Schatten, die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt machen, spielen zu lassen. (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 904)

Der leicht ironische Unterton innerhalb Karls Äußerung offenbart zugleich auch die Tragik, die sich für Velten Andres mit dem Motiv des Goethe-Zitates verbindet: Tatsächlich handelt es sich nicht um eine besondere Leistung des Freundes, „sein gefühllos gewordenes Herz wohl zu verbergen“, sondern der hochsensible Velten versagt bei dem Versuch, die auf der intellektuellen Ebene verinnerlichten Worte tatsächlich auch praktisch umzusetzen und gegenüber seiner Umwelt eine abgeklärte und emotionslose Haltung einzunehmen. Der Verwendung des Goethe-Zitates durch Velten Andres kommt nun also eine andere Funktion zu, als der Einbindung des zuvor besprochenen SchillerZitates, das Velten ebenfalls in die eigene Stimme einfließen lässt und das eine proleptische Funktion eingenommen hatte. Der Inhalt des Goethe-Zitates, den Velten als eine Art Selbstschutz zwar propagiert, aber nicht befolgt, verfehlt den eigentlichen von der Figur intendierten Zweck, indem er die Verletzbarkeit Veltens und sein fruchtloses Bemühen um inneren Gleichmut geradezu unterstreicht. Dieser Teil der polyphonen Figurenstimme ist verbunden mit der Geschehensmotivation innerhalb der erzählten Welt und steht metaphorisch für das Scheitern der Figur Velten Andres, denn wie dieser an der Umsetzung des von ihm gewählten Mottos scheitert, so scheitert er auch in verschiedenen anderen Bereichen des Lebens. So steht beispielsweise Veltens Verzweiflungstat, nach dem Tod der Mutter seinen gesamten materiellen Besitz zu verbrennen, ebenfalls unter dem bekannten Motto, das eigentlich Stärke demonstrieren soll, aber lediglich Veltens Hilflosigkeit offenbart: Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen, liebster Freund! Ein leichtbewegtes Herz und so weiter – wozu nützen uns die weisesten Aussprüche großer Lehrer, wenn man ihnen nichts weiter entnimmt als eine Stimmung für den Augenblick? Ein Hinweis darauf,

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daß der Meister selber keinen Gebrauch von seinem Diktum gemacht habe, verschlägt nichts. Hat er sein leichtbewegtes Herz durch seine achtzig Jahre mit sich geschleppt, so ist das seine Sache gewesen und hat auch vielleicht zum Vorteil der Literaturgeschichte – um sie interessanter zu machen – so sein müssen. Soll deshalb kein anderer die Fäden abschneiden dürfen, die ihn mit dem Erdenballast verknüpfen? Ja, ich heize in diesem Winter mit meinem hiesigem Eigentum an der wohlgegründeten Erde, mit meinen Habseligkeiten aus dem Vogelsang. (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, S. 915 f.)

Der Glaube, die mit der eigenen Vergangenheit verbundenen Erinnerungen durch das Verbrennen seiner Habseligkeiten gewissermaßen auslöschen zu können, erweist sich freilich als Trugschluss. Tatsächlich stellt die Vernichtung seines Hausrates die letzte Szene dar, in der Karl seinem Freund zu Lebzeiten begegnet. Veltens Unvermögen, sein Leben nach dem Verlust der Mutter und somit der letzten ihm nahestehenden Person noch zu meistern, gipfelt in seinem Tod durch Entkräftung und ist ebenfalls wieder mit den von ihm zwar befürworteten, jedoch nicht realisierten Worten Goethes verbunden. So verrät Karl Krumhardt über sein Gespräch mit der Vermieterin an Veltens Totenbett folgendes: ‚Ein leichtbewegtes Herz Ist ein elend Gut Auf der wankenden Erde‘, murmelte ich, bis ins Tiefste durch das ruhige Wort der verstandesklaren Greisin [die Karl zuvor über Veltens nähere Todesumstände informiert hatte, S. R.] erschüttert. ‚Das ist es, was er drüben mit Kohle an die Wand geschrieben hat. Nun sitzt die Frau Mungo davor und hält den Kopf mit beiden Händen darüber – das arme Ding. Als ob sie die Schuld davon trüge, daß euer Velten eigentumslos über und von der Erde gegangen ist!‘ (Raabe, Die Akten des Vogelsangs, 932)

Die über das Goethe-Zitat konstruierte Facette der polyphonen Figurenstimme von Velten Andres ist also auf eine bestimmte, metaphorische Weise mit der Handlung innerhalb der erzählten Welt verwoben: Seit seiner Amerika-Reise, auf der er sein Werben um Helene Trotzendorff als endgültig gescheitert ansehen musste, hat sich Velten dieses Zitat als Motto zu eigen gemacht. Den eigentlichen von Velten intendierten Zweck, ihn gegenüber dem Leben abzuhärten und vor weiteren emotionalen Enttäuschungen zu bewahren, verfehlt der Spruch jedoch. Im Gegenteil: Zitiert wird der Vers immer dann, wenn Velten seinen Gefühlen in besonderem Maße ausgeliefert ist und keine rationale Klärung der Situation herbeiführen kann. Geht man nun aus erzähltheoretischer Sicht von drei verschiedenen Varianten der Geschehensmotivation aus – dem kausa-

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len, finalen und dem kompositorischen bzw. ästhetischen Typus78 –, so lässt sich hier der Typus der kompositorisch-ästhetischen Geschehensmotivation feststellen. Das jeweilige Auftauchen des Mottos geht in seiner Bedeutung über die einzelne Situation hinaus: Das kontinuierliche Scheitern Veltens, sein zitiertes Motto einzuhalten, verweist metaphorisch auf das generelle Scheitern des Protagonisten am Leben. Mit Blick auf den letztlich durch Entkräftung eintretenden Tod teilt das zitierte Motto das Merkmal eines kräftezehrenden, aber zugleich auch fruchtlosen Bemühens; es wird zur Metapher für eine Sisyphos-Arbeit, bei der sich Velten anstrengt, aber zugleich auch ergebnislos erschöpft: So wie er sich auch in jeder Situation, in der das Motto zitiert wird, für die tatsächliche Umsetzung der Worte als untauglich erweist, so erweist sich Velten letztlich auch für die Herausforderungen des Lebens als untauglich. Somit dient das wiederholt zitierte Motiv nicht einer kausalen oder finalen Motivierung, sondern erweist sich als eine Metapher für das Unvermögen, diverse Ideen, Hoffnungen und Ziele im Laufe des Lebens auch zu verwirklichen. Aus dem obigen, nur anskizzierten Interpretationsansatz folgt, dass über die polyphone Figurenstimme bestimmte Charakterzüge einer literarischen Figur nur über den extratextuellen Kontext bzw. über die intertextuellen Bezüge (im Sinne Genettes) übermittelt werden. Weder wäre es für den Leser möglich, ohne den Rückgriff auf und ohne die Kenntnis von Schillers Die Braut von Messina das quasi-geschwisterliche Verhältnis zwischen Velten und Helene mit all seinen Konsequenzen zu verstehen, noch wäre die Figurencharakterisierung von Velten Andres ohne die Implikationen der über das Goethe-Zitat konstruierten Geschehensmotivierung komplett. Es wird deutlich, dass die polyphone Figurenstimme neben den bereits genannten Funktionen eine wertvolle Aufgabe im Rahmen einer narratologischen Theorie der Figur übernehmen kann. Im Anschluss an die von Fotis Jannidis entwickelte Theorie der Figur79 bleibt also zu ergänzen, dass für eine Figurenkonzeption neben dem ‚Informationskontext‘ und dem ‚Figurenkontext‘, die beide auf der Ebene der histoire, d. h. der Ebene der erzählten Welt angesiedelt sind, noch der extratextuelle Kontext zu berücksichtigen ist. Denn neben der semiotisch ausgerichteten Frage „Welche anderen Informationen sind neben der Figureninformation zu finden?“80 und der auf das gesamte Figurenpersonal abzielenden Frage „Welche Informationen zu einer Figur werden mit Informationen zu anderen Figuren in der Darstellung ver-

78 Vgl. Martínez / Scheffel, Einführung, S. 111–119. Vgl. ebenfalls Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996. Vgl. insbesondere S. 13–36. 79 Vgl. Jannidis, Figur und Person, insbesondere S. 220 f. 80 Ebd., S. 221.

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bunden?“81 ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass eine Theorie der Figur zugleich auch sämtliche extratextuellen Bezüge einzubeziehen hat, die sich für den Charakter einer literarischen Figur als prägend erweisen können. Die in dem von Fotis Jannidis aufgestellten Merkmalskatalog zu ergänzende Frage betrifft also den extratextuellen Kontext und lautet: „Welche intertextuellen Bezüge sind von Bedeutung und welche anderen Äußerungsinstanzen lässt die Figur in die eigene Stimme einfließen?“ Auf diese Weise lässt sich sowohl der vielschichtige Charakter einer literarischen Figur umfassender analysieren, als auch die künstlerische Komposition eines über intertextuelle Verweise konstruierten Textes erfassen. 3.2.1.2 Beispieltext: Paul Auster: City of Glass (1985) Als nächstes Beispiel für die polyphone Figurenstimme wird im Folgenden der 1985 erschienene Roman City of Glass von Paul Auster untersucht. Dieser Text bietet sich für eine Analyse unter dem Gesichtspunkt der Polyphonie insofern an, als seine narrative Struktur eine Besonderheit aufweist: Am Ende der Geschichte wird enthüllt, dass es sich bei der Erzählerstimme nicht um eine – wie es über die gesamte Narration erscheint – extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz handelt, sondern dass eine anonyme homodiegetische Figur von Beginn an den Part des Erzählers übernimmt, von der Figur Daniel Quinn berichtet und dessen Stimme zitiert, die ihrerseits ebenfalls mehrfach Zitate einbindet. Auch für die exemplarische Analyse dieser als polyphon konzipierten Stimme ist es wieder unerlässlich, zunächst den – in diesem Fall überaus komplexen – Inhalt des Textes knapp zu rekapitulieren: Der Schriftsteller Daniel Quinn wird nachts mehrfach von einem anonymen Anrufer kontaktiert und fälschlicherweise für einen Detektiv namens Paul Auster gehalten. Quinn entwickelt Interesse für den ihm geschilderten Fall und nimmt die Identität Austers an. Er erfährt, dass der Anrufer Peter Stillman als Kind von seinem Vater, der ebenfalls den Namen Peter Stillman trägt, für neun Jahre eingesperrt und auf brutale Weise vernachlässigt wurde. Nach dessen Haftentlassung fürchtet Peter, aus Rache von seinem Vater getötet zu werden. Virginia Stillman, die ihren geistig zurückgebliebenen und noch immer unter diesem Kindheitstrauma leidenden Ehemann Peter pflegt, erteilt nun dem mutmaßlichen Detektiv Paul Auster den Auftrag, den in Kürze in New York eintreffenden Peter Stillman Senior zu beschatten. Mit diesem Auftrag wird Quinn vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt: Bereits bei Stillmans Ankunft stellt sich das Problem, dass zwei einander bis ins 81 Ebd.

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Detail gleichende Männer den Zug verlassen, auf die jeweils die Beschreibung des zu Beschattenden passt. Quinn trifft eine zufällige Entscheidung und folgt dem potenziellen Stillman bei dessen Streifzügen durch New York. Dabei zeichnet er die Strecken in einem roten Notizbuch nach und glaubt so, herauszufinden, dass es sich bei den von Stillman zurückgelegten Wegen um ein Muster unterschiedlicher Buchstaben handelt, die letztlich zu einer verschlüsselten Botschaft zusammengesetzt werden können. Quinn verliert sich in seiner Rolle als Detektiv Auster immer mehr und beginnt zusehends, sich selbst und sein altes Leben als Schriftsteller zu vernachlässigen. Nachdem er von dem vermeintlichen Stillman Senior trotz sorgfältiger Beobachtung jegliche Spur verliert, erhofft sich Quinn Hilfe von dem tatsächlichen Detektiv Paul Auster, dem bereits der erste Anruf von Peter Stillman gegolten hatte. Von diesem stellt sich jedoch heraus, dass es ihn in New York gar nicht gibt – Quinn findet bei seinen Recherchen lediglich einen Schriftsteller namens Paul Auster. Nachdem sich der Fall Stillman für Quinn gewissermaßen in Luft aufgelöst hat, scheitert der Versuch, in sein altes Leben als Schriftsteller zurückzukehren, und es bleibt offen, wie sein weiteres Schicksal verläuft. Erzählt wird diese Geschichte retrospektiv von einem innerhalb der erzählten Welt anonym bleibenden Freund der fiktiven Figur Paul Auster. Grundlage der Narration sind die Aufzeichnungen über den Fall Stillman, die Daniel Quinn in seinem roten Notizbuch festgehalten hatte und das gemeinsam von Auster und der Erzählerfigur im Appartement der Stillmans – wo sich der letztlich obdachlose Quinn vor seinem Verschwinden aufgehalten hatte – gefunden wird. Da es sich bei der Erzählinstanz um eine intradiegetische Figur handelt, ist streng genommen jede Äußerung einer von ihr erzählten weiteren intradiegetischen Figur ein Zitat und die Stimme der anonymen Erzählerfigur somit polyphon. Um diese Form des Zitierens soll es aber an dieser Stelle nicht gehen, da ansonsten weite Teile des Textes als Zitat betrachtet werden müssten und keinerlei Unterscheidungen hinsichtlich eines entweder fiktionalen oder faktualen Kontextes für die Herkunft der wiederholten Wörter getroffen werden könnte. Genau diese Differenzierung soll aber für die folgende paradigmatische Analyse der polyphonen Figurenstimme im Vordergrund stehen. Zu Beginn dieses Kapitels wurde festgestellt, dass eine polyphone Figurenstimme bei ihrer Konstruktion nicht auf den Bereich fiktionaler Äußerungen festgelegt ist, sondern, im Gegenteil, dass sie die ansonsten häufig innerhalb der Literatur- und Fiktionalitätstheorie möglichst trennscharf vorgenommene Differenzierung zwischen fiktionalem und faktualen Erzählen aufzuheben vermag, indem sie beide Varianten innerhalb einer Stimme verschmilzt. Für die nun folgende Modellanalyse steht also im Vordergrund, dass die anonyme homodiegetische Erzählerfigur sich während der Narration des eigentlichen Plots mehrfach in Exkursen ver-

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liert, in welche sie oft längere Zitate einfließen lässt, die sowohl aus fiktionalen Texten stammen als auch dem Bereich faktualer Aussagen zuzuordnen sind. Im Anschluss soll nun die polyphone Figurenstimme des Daniel Quinn in Paul Austers City of Glass näher fokussiert und zugleich auch exemplarisch für eine sich anbietende Interpretation aus systemtheoretischer Sicht fruchtbar gemacht werden. Für diesen Anspruch ist es zunächst wichtig, die Ausgangsbasis dieser Differenztheorie, bei welcher im Folgenden der Ansatz von Niklas Luhmann zugrunde gelegt wird, zu verstehen: Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat, darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen. Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und können ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferenzieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung.82

Im Gegensatz zu bisherigen systemtheoretischen Untersuchungen in der Literaturwissenschaft, die sich jeweils auf einen einzelnen fiktionalen Text beschränken und diesen zum Gegenstand ihrer Analyse machen,83 soll im Folgenden die polyphone Figurenstimme als ein Konstrukt aufgefasst werden, das über die Inklusion außertextueller Bezüge ein neues, auf intertextuellen Bezügen basierendes System schafft. Durch die Erzeugung dieses Systems werden zugleich weite Teile der erzählten Welt aus dem bisher untersuchten System des gesamten Textes exkludiert, indem diese zur Umwelt des auf narrativer Polyphonie basierenden Systems werden. Das Ziel dieser Modellanalyse liegt jedoch nicht nur darin, einen neuen literaturwissenschaftlichen Zugriff auf die Systemtheorie zu erproben, sondern zugleich auch die bereits bei der Betrachtung des Raabe-Textes aufgestellte These zu stützen, dass eine in ihrem Ansatz auf Mehrstimmigkeit ausgerichtete Narratologie zu neuen Einsichten innerhalb der Literaturtheorie 82 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1988. S. 35. 83 Vgl. z. B. den bereits 1997 erschienenen Aufsatz von Gerhard Plumpe zu Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther: „Kein Mitleid mit Werther“. In: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen / Basel 1997. S. 215–232.Vgl. hierzu außerdem Nina Ort in ihrem Aufsatz zu Kafkas „Das Urteil“, in dem der Gesamttext als ein System verstanden wird: „Da Systemtheorie soziale Systeme, also Kommunikationssysteme, beobachtet, kann auch ein Text als System aufgefasst werden, das eine Umwelt hat“. Vgl. hierzu: Nina Ort: „Zum Gelingen und Scheitern von Kommunikation. Kafkas Urteil aus systemtheoretischer Sicht“. In: Oliver Jahraus / Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas „Urteil“ und die Literturtheorie. Stuttgart 2002. S 197–219. Hier S. 201.

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führen kann und die ansonsten häufig scharf gezogene Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität auch terminologisch zu überwinden vermag. Daniel Quinn wird von dem anonymen homodiegetischen Erzähler bereits als eine sich mit fremden Stimmen beschäftigende Figur eingeführt. Ob er beim Lesen eines von Marco Polo verfassten Reiseberichts die fremde Stimme laut vorliest oder nicht, bleibt offen; Tatsache aber ist, dass bereits zu Beginn der Narration sich eine zweite – fremde – Stimme untrennbar mit der Stimme des Protagonisten verbindet. So liest Quinn in dem Bericht Marco Polos die folgenden vieldeutigen Worte: We will set down things seen as seen, things heard as heard, so that our book may be an accurate record, free from any sort of fabrication. And all who read this book or hear it may do so with full confidence, because it contains nothing but the truth.84

Dieses Zitat geht in seiner Bedeutung über den Nachweis einer polyphonen Figurenstimme weit hinaus. Zum einen wird implizit ein metaphorischer Stimmbegriff postuliert und zitiert, indem das graphische Phänomen aneinandergereihter Buchstaben und eine akustische Definition der Stimme gleichgesetzt werden („all who read this book or hear it“). Zum anderen ironisiert das Zitat aus dem Marco Polo-Text zugleich auch das vorgebliche Konzept des von Auster verfassten Detektiv-Romans, denn weder lässt sich die so brüchige, unglaubwürdige und mit vielen Leerstellen gespickte Narration „with full confidence“ rezipieren, noch lässt sich auf der Grundlage des gefundenen roten Notizbuches – und somit einer eigentlich überaus strukturierten Informationsquelle – behaupten, „it [the narration, S. R.] contains nothing but the truth“. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wie der intradiegetische Erzähler am Ende des Romans selbst einräumt: „I have followed the red notebook as closely as I could, and any inaccuracies in the story should be blamed on me. […] The red notebook, of course, is only half the story, as any sensitive reader will understand“ (Auster, City of Glass, S. 132). An dieser Stelle übernimmt die polyphone Figurenstimme also zwei Funktionen: Zum einen verweist das im Rahmen des Marco Polo-Zitates vorgestellte metaphorische Verständnis von Stimme auf die verschiedenen Formen von Stimme(n) innerhalb der erzählten Welt – unabhängig davon, ob sie nun gelesen werden oder sich als intradiegetische Gesprächsteilnehmer mitteilen – welche über die Konstruktion der polyphonen Figurenstimme einander überlagern können. Zum anderen ironisiert das Zitat eines so unzweifelhaften Authentizitätsbekenntnisses im Rahmen dieser unzuverlässigen Narration einen alten Topos der amerikanischen Literaturgeschich84 Hier zitiert nach Paul Auster: City of Glass. London / Boston 1987. S. 6. Alle weiteren AusterZitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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te, innerhalb welcher sich die Autoren fiktionaler Texte traditionell in einer Erklärungsnot gegenüber der Fiktionsfeindlichkeit der Puritaner befanden. Mit Blick auf seinen pragmatischen Status handelt es sich bei dem zitierten Text von Marco Polo also nicht um einen fiktionalen Text, sondern um einen – wenn auch in seiner angeblichen Wahrheitstreue aus heutiger Sicht zweifelhaften – faktualen Reisebericht. Im Anschluss an den zuvor erstellten Merkmalskatalog für die verschiedenen Konstruktionsweisen der polyphonen Figurenstimme fällt das von Daniel Quinn zitierte Authentizitätspostulat folglich in den Rahmen einer intersystemischen Konstruktion, da der zitierte Text nicht dem Bereich einer intrasystemischen fiktionalen Darstellung zuzuordnen ist. Trotzdem – und das ist an dieser Stelle ausschlaggebend – ist die Integration des Zitates eines faktualen Textes Bestandteil des hier betrachteten Systems der polyphonen Figurenstimme, denn als konstitutiv für diese wurde festgehalten, dass sie einerseits über die Inklusion von Zitaten ein neues System schafft, und andererseits jede Äußerung, die nicht polyphon ist, aus dem System exkludiert und zu einer das System umschließenden Umwelt macht. Anders formuliert: Eine einzelne polyphone Figurenstimme kann auf verschiedene Weisen, d. h. auch als Mischform, konstruiert werden und ist nicht auf eine ausschließlich intratextuelle, intrasystemische oder intersystemische Genese festgelegt. Der Text City of Glass verdeutlicht dies, indem zu der beispielhaft vorgeführten intersystemischen Konstruktion über das faktuale Marco Polo-Zitat auch weitere, intrasystemische Bauweisen mittels Zitaten aus fiktionalen Texten ergänzt werden. So enthält beispielsweise der erste Eintrag in Daniel Quinns rotem Notizbuch das Zitat einer Figur aus E. A. Poes Geschichte „The Purloined Letter“ (1844), einem Klassiker der amerikanischen Detektivliteratur. Im Anschluss an das Gespräch mit Virginia Stillman, in welchem Quinn den ebenso verwirrenden wie kaum zu erfüllenden Auftrag erhält, Peter Stillman Senior zu beschatten, trägt der Protagonist folgende Notiz in sein Buch ein: „And yet, what is it that Dupin says in Poe? ‚An identification of the reasoner’s intellect with that of his opponent.‘ But here it would apply to Stillman senior. Which is probably even worse.“ (Auster, City of Glass, S. 40) Die Tatsache, dass Quinn das Zitat fälschlicherweise dem Detektiv Auguste Dupin zuschreibt, obwohl es dem anonymen Erzähler der Geschichte The Purloined Letter zuzuordnen ist, ist für die hier verhandelte Fragestellung sekundär; entscheidend ist an dieser Stelle lediglich, dass die Stimme Daniel Quinns als polyphone Figurenstimme sowohl intersystemisch als auch intrasystemisch konstruiert ist, d. h. dass die Stimme sowohl faktuale als auch fiktionale Äußerungen einfließen lässt. Zugleich ist die Stimme der Figur Daniel Quinn nicht die einzige Variante polyphonen Erzählens in Paul Austers City of Glass. Auch der Entwurf der Figur

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Peter Stillman Senior folgt einer äußerst elaborierten Stimmenkonstruktion, wie der folgende Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Daniel Quinn und der von ihm beschatteten Figur belegt. In dem folgenden Dialog über einen von Peter Stillman verfassten Text hat dieser zunächst auch das erste Wort: “The initials HD in the name Henry Dark refer to Humpty Dumpty.” “Who?” “Humpty Dumpty. You know who I mean. The Egg.” “As in ‘Humpty Dumpty sat on a wall?’” “Exactly.” “I don’t understand.” “Humpty Dumpty: the purest embodiment of the human condition. Listen carefully, sir. What is an egg? It is that which has not yet been born. A paradox, is it not? For how can Humpty Dumpty be alive if he has not been born? And yet, he is alive – make no mistake. We know that because he can speak. More than that, he is a philosopher of language. ‘When I use a word, Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, it means just what I choose it to mean – neither more nor less. The question is, said Alice, whether you can make words mean so many different things. The question is, said Humpty Dumpty, which is to be master – that’s all.’” “Lewis Carroll.” “Through the Looking Glass, chapter six.” “Interesting.” (Auster, City of Glass, S. 81)

Die genaue Betrachtung der an dieser Stelle als polyphon konzipierten Stimme der Figur Peter Stillman offenbart einen Unterschied zu der bereits besprochenen Figurenstimme Daniel Quinns. Während die Stimme des Protagonisten stets eine fremde Stimme in die eigene Äußerung hat einfließen lassen – unabhängig davon, ob diese nun einem fiktionalen oder faktualen außertextuellen Kontext zuzuordnen ist – integriert Peter Stillman den Dialog zweier Stimmen in seine Aussage, nämlich die Stimmen der beiden fiktiven Figuren Humpty Dumpty und Alice aus Lewis Carrolls Text Through the Looking Glass (1871). Diese besondere Konstruktionsweise ist für die Analyse insofern von Bedeutung, als die zweite Stimme nicht kommentarlos in die untersuchte Figurenstimme integriert wird (wie bei den vorherigen Beispielen gesehen), sondern dass diese sich selbst in einem dialogischen Verhältnis zu einer anderen, auf der gleichen Ebene angesiedelten Stimme befindet und somit durch diese dritte Stimme relativiert werden kann. Gleiches gilt auch für eben jene dritte Stimme: Diese steht folglich in einem Dialog mit der zweiten Stimme, und es lässt sich nur auf der Grundlage des intradiegetischen Kontextes der in City of Glass erzählten Welt erschließen, dass Peter Stillman mit der Meinung der Figur Humpty Dumpty sympathisiert und somit dieser Stimme ein größeres Gewicht einräumt als der Stimme von Alice, wie er im Dialog mit Daniel Quinn enthüllt:

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It’s more than interesting, sir. It’s crucial. Listen carefully, and perhaps you will learn something. In his little speech to Alice, Humpty Dumpty sketches the future of human hopes and gives the clue to our salvation: to become masters of the words we speak, to make language answer our needs, Humpty Dumpty was a prophet, a man who spoke truths the world was not ready for. (Auster, City of Glass, S. 81).

Offensichtlich hierarchisiert Stillman die beiden verschiedenen, in seine eigene Stimme integrierten Stimmen, indem er der Figur Humpty Dumpty die Rolle eines Propheten zuschreibt, der die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache bereits einige Dekaden vor dem auftauchenden Phänomen der Sprachskepsis um 1900 zu begreifen versucht. Geht man nun im Anschluss an Niklas Luhmann davon aus, dass die Systemtheorie soziale Systeme und zugleich sich selbst als System beobachtet, so wird zugleich deutlich, dass die System- oder Differenztheorie eine Theorie ist, die sich selbst reflektiert. In dem oben zitierten Falle ist es das System der Sprache, das einerseits das Mittel zur Reflexion darstellt, anderseits aber auch sich selbst mit all ihren Möglichkeiten und Grenzen thematisiert und somit auch sich selbst widerspiegelt. Bereits beim Erstellen dieser neuen Kategorie der Mehrstimmigkeit ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der polyphonen Figurenstimme um ein Konstrukt handelt, das nicht auf die Gattung fiktionaler Erzähltexte festgelegt ist. So hat schon die anskizzierte Analyse von Wilhelm Raabes Erzählung Die Akten des Vogelsangs deutlich gemacht, dass sich beispielsweise Romanfiguren der Stimme einer Dramenfigur bedienen können und diese zu zitieren vermögen. Da es sich bei der polyphonen Figurenstimme aber um ein transgenerisches Phänomen handelt, soll nun in einem kleinen Exkurs ein kurzer Blick auf ein amerikanisches Drama geworfen werden, das exemplarisch verdeutlicht, dass auch Dramenfiguren als polyphon konzipiert werden können, indem sie weitere Stimmen – unabhängig davon, ob sie nun fiktionaler oder faktualer Natur sind – in die eigene Stimme einfließen lassen. 3.2.1.3 Beispieltext: Thornton Wilder: The Skin of Our Teeth (1942) Paradigmatisch soll hierzu nun der Text The Skin of Our Teeth (1942) von Thornton Wilder herangezogen werden, der Figuren integriert, die bei der Aufführung des Stückes mittels ihrer Stimme nicht nur mühelos die Grenze zwischen fiktionalem und faktualen Erzählen passieren und sich innerhalb beider Kontexte abwechselnd entweder in ihrer fiktionalen Rolle oder als Schauspieler äußern können, sondern die sich zugleich auch verschiedener anderer Stimmen aus diversen Kontexten bedienen.

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In dem aus drei Akten bestehenden und zu verschiedenen Zeiten spielenden Stück werden in jedem Akt existentielle Gefährdungen vorgeführt, welche die vierköpfige Familie Antrobus paradigmatisch als ein Exempel der menschlichen Familie durchzustehen hat: Im ersten Akt sind sie gezwungen, ihr Überleben während der Eiszeit zu sichern; der zweite Akt konfrontiert sie mit der Sintflut und der dritte Akt zeigt die Familie kurz nach Kriegsende. Das Drama folgt einer kreisförmigen Struktur und schließt mit dem wiederholten Beginn des ersten Aktes, bei welchem Sabina, das Hausmädchen der Familie, auf die Rückkehr des Familienoberhauptes George Antrobus wartet, der aufgrund der nahenden Eiszeit einen beschwerlichen Rückweg von seiner Arbeitsstelle hat. Die Illusion des Stückes wird durch die oftmalige Einmischung und Kommentierung eines announcer durchbrochen und erhält zudem durch die häufigen Kommentare des Hausmädchens, das wahlweise als Figur Sabina spricht oder sich als Schauspielerin Miss Sommerset äußert und Einwände gegen den Fortgang der Handlung erhebt, den Charakter einer Theaterprobe. Dieses ‚Ausder-Rolle-Fallen‘, das mit Blick auf die polyphone Figurenstimme an Bedeutung gewinnt, findet bereits zu Beginn des ersten Aktes statt. Zunächst äußert sich Sabina noch als Sabina und drückt ihr Unbehagen darüber aus, dass George Antrobus noch immer nicht von der Arbeit zurückgekehrt ist: „Oh, oh, oh! Six o’ clock and the master not home yet.“85 Nachdem sie jedoch im Anschluss an ihren Monolog auf das Erscheinen der Hausherrin wartet, reagiert sie zunehmend gereizt darauf, dass diese ihrem Auftritt offensichtlich nicht nachkommt. Auf den Hinweis, sie solle – offenbar um die Zeit zu überbrücken – etwas erfinden, reagiert sie zunächst unsicher und darauf aggressiv, wie auch der kursiv markierte Hinweis aus dem Nebentext offenbart: Well … uh … this certainly is a fine American home … and – uh … everybody’s very happy … and – uh … [She suddenly flings pretence to the winds and coming downstage says with indignation] I can’t invent any words for this play, and I’m glad I can’t. I hate this play and every word in it. As for me, I don’t understand a single word of it, anyway – all about the troubles the human race has gone there’s a subject for you. Besides the author hasn’t made up his silly mind as to whether we’re all living back in caves or in New Jersey today, and that’s the way it’s all the way through. […] I took this hateful job because I had to. (Wilder, The Skin of Our Teeth, S. 101 f.)

Die Stimme Sabinas geht also im Zuge des sie enervierenden Wartens in die Stimme der sie verkörpernden Schauspielerin86 über. Markiert ist dieser Über85 Thornton Wilder: The Skin of Our Teeth. London 1962. Hier: S. 101. Alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. 86 Die in ihrer Funktion als Schauspielerin wiederum noch einmal von der Identität der sie verkörpernden realhistorischen Person zu trennen ist.

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gang durch den Hinweis aus dem Nebentext, der die Einleitung dafür liefert, dass die nun folgenden Worte nicht mehr von dem Hausmädchen, sondern von der Darstellerin des Hausmädchens geäußert werden. Dass es sich tatsächlich um einen Stimmenwechsel87 handelt und wir es nicht mehr mit der Stimme der Figur Sabina zu tun haben, verdeutlicht der Tadel des stage managers Fitzpatrick, der die Schauspielerin bei ihrem bürgerlichen Namen zur Ordnung zu rufen versucht: „[The stage manager puts his head out from the hole in the scenery.] Mr. Fitzpatrick: Miss Sommerset!! Miss Sommerset!“ (Wilder, The Skin of Our Teeth, S. 102). Die Interpretation dieses kurzen Dramenausschnitts verdeutlicht, auf welche Weise die Einführung der Kategorie der polyphonen Figurenstimme für die Dramenanalyse dienlich sein kann. Anders als bei fiktionalen Erzähltexten handelt es sich bei dramatischen Texten um eine Gattung, welche durch das Spiel mit und durch das Vorstellen von diversen Identitäten charakterisiert ist. In Thornton Wilders The Skin of Our Teeth wird eine Konstruktionsweise der polyphonen Figurenstimme vorgestellt, die sich innerhalb fiktionaler Erzähltexte nicht realisieren lässt, indem die Stimme einer fiktiven Figur (die freilich auch in Erzähltexten angesiedelt ist) in die Stimme der faktischen Darstellerin (welche in fiktionalen Erzähltexten nicht existent sind) überwechselt. Die Gattung des Dramas bietet also durch die Doppelrolle des Schauspielers (dargestellte Figur und ihr Darsteller zugleich) die Möglichkeit, narrative Polyphonie in actu zu demonstrieren, indem die Figur nicht nur als Figur, sondern zugleich auch als Darsteller der Figur sprechen kann. Wilder nutzt diese Form der Mehrstimmigkeit als episches Element zur Durchbrechung der Bühnenillusion; sie lässt sich – aus narratologischer Sicht – aber auch als ein weiteres Exempel deuten, dass insbesondere die Kategorie der ‚Stimme‘ vielfache Möglichkeiten bietet, die Grenze zur Fiktion durch die Äußerungsinstanz permeabel zu machen. Für die Gattung der Epik wäre eine solche Differenzierung zwischen ‚Schauspieler‘ und ‚Rolle‘ aus evidenten Gründen nicht möglich, da die literarische Figur als schriftliches Konstrukt lediglich in den Gedanken des Lesers entsteht und somit nicht an eine tatsächliche Person geknüpft ist. Weitaus größere Möglichkeiten könnte hier – zumindest theoretisch – die Verfilmung eines fiktionalen Textes bieten, bei dem eine Verfremdung insofern denkbar wäre, als sich eben auch ein Filmschauspieler von der ihm zugedachten Rolle distanzieren und diese vor laufender Kamera in Frage stellen könnte.

87 Im Sinne eines Wechsels von der Stimme einer fiktiven Figur hin zu der Stimme einer historischen Person.

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In The Skin of Our Teeth wird jedoch zusätzlich genau jene Form der polyphonen Figurenstimme konstruiert, die bereits in Raabes Die Akten des Vogelsangs und Austers City of Glass untersucht wurde: Die über Zitate generierte polyphone Figurenstimme. In einer bemerkenswerten Häufung findet sich diese Variante der Intertextualität im dritten Akt, der mit einer besonderen Form der Illusionsdurchbrechung beginnt: Von dem stage manager dazu aufgefordert, erläutert der die Figur des George Antrobus verkörpernde Schauspieler den Zuschauern, dass ein großer Teil des Ensembles krankheitsbedingt ausfällt und dass vermutlich eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit für die Erkrankungen verantwortlich ist (vgl. Wilder, The Skin of Our Teeth, S. 157 f.). Infolge dieses Engpasses an Darstellern werden kurzerhand verschiedene Freiwillige vorgestellt, die in irgendeiner Form dem Theater angehören: Von der Garderobiere bis zum Platzanweiser verkörpern nun diverse Laien „the hours of the night [which are] philosopher[s]“ (vgl. Wilder, The Skin of Our Teeth, S. 158). Diese sind so konzipiert, dass jeder einzelne ‚Ersatzschauspieler‘ nicht nur eine bestimmte Stunde im Sinne einer Uhrzeit darstellt, sondern dass diese Uhrzeit zugleich auch mit der Stimme eines Philosophen gleichgesetzt wird, dessen Worte zitiert werden. Auf das Stichwort des stage manager Fitzpatrick: „Ready – nine o’clock: Spinoza.“ entspinnt sich der nun folgende Dialog zwischen den Laiendarstellern und Fitzpatrick: [walking slowly across the balcony, left to right]: ‘After experience had taught me that the common occurrences of daily life are vain and futile –’ FITZPATRICK: Louder, Fred. ‘And I saw that all the objects of my desire and fear – ’ BAILEY: ‘And I saw that all the objects of my desire and fear were in themselves nothing, good nor bad save insofar as the mind was affected by them –’ FITZPATRICK: Do you know the rest? All right. Ten o’clock. Hester. Plato. HESTER: ‘Tell me, O Critias, how will a man choose the ruler that shall rule over him? Will he not –’ FITZPATRICK: Thank you. Skip to the end, Hester. HESTER: ‘… Can be multiplied a thousand fold in its effects among the citizens.’ FITZPATRICK: Thank you. – Aristotele, Ivy? IVY: ‘This estate of the mind possessing its object in energy we call divine. This we mortals have occasionally and it is this energy which is pleasantest and best. But God has it always. It is wonderful in us; but in Him how much more wonderful.’ […] (Wilder, The Skin of Our Teeth, S. 160) BAILEY

Die Darsteller, so geht aus dem obigen Ausschnitt hervor, äußern sich also nicht nur mit einer doppelten, sondern gewissermaßen mit einer dreifachen Stimme; so spricht der von dem stage manager an seinen Einsatz erinnerte Bailey nicht nur in seiner abstrakten, non-personalen Rolle als eine Uhrzeit, sondern er inte-

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griert in seine Stimme auch noch ein faktuales Zitat des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza. Auch wenn der von Wilder gewählte Beispieltext als ein künstlerisches Dokument des epischen Theaters freilich geradezu dazu prädestiniert ist, das Verhältnis von ‚Identität‘ und ‚Rolle‘ zu thematisieren und mit den verschiedenen Formen einander überlagernder Stimmen zu spielen, so ist doch deutlich gezeigt worden, dass das Konzept der polyphonen Figurenstimme, das mit Blick auf fiktionale Erzähltexte entwickelt wurde, sich gleichermaßen gewinnbringend auf andere fiktionale Darstellungen übertragen lässt. Resümierend kann man feststellen, dass die Kategorie der polyphonen Figurenstimme sich jeweils dann gewinnend anwenden lässt, wann immer eine Figur – unabhängig von Genre und Medium – spricht. Grundvoraussetzung jedoch ist, dass diese Figurenstimme mindestens eine weitere Stimme in die eigene integriert. In der Regel geschieht dieses durch jegliche Form des Zitierens, unabhängig von dem Medium der Darstellung, aus dem das Zitat entnommen wird, und dem Fiktionsstatus der Stimme, die in die eigene integriert wird. Eine weitere Möglichkeit der Konstruktion einer polyphonen Figurenstimme wurde anhand der anskizzierten Dramenanalyse von Thornton Wilders The Skin of Our Teeth kurz umrissen. Es wurde gezeigt, dass die erstellte Kategorie auch im Rahmen einer transgenerischen Narratologie zu einem präziseren Beschreibungsvokabular beitragen kann, und zwar jeweils dann, wenn über die Stimme eine Differenz zwischen ‚Schauspieler‘ und ‚Rolle‘ geschaffen wird und sich der Sprecher sowohl als derjenige äußert, den er im Spiel darstellt, und zusätzlich als derjenige, der in seiner Funktion als Schauspieler agiert. Hieraus folgt auch, dass sich die Kategorie nicht nur auf dramatische Texte anwenden lässt, sondern beispielsweise auch im Bereich der Filmnarratologie oder für die Interpretation von Hörspielen ein handhabbares Begriffsinstrumentarium bereitstellt. Im nächsten Kapitel soll es nun um eine Variante der Mehrstimmigkeit gehen, welche – ähnlich der bereits vorgestellten kollektiven narrativen Instanz – die gemeinsame Stimme einer homogenen Gruppe beleuchtet. Anders als bei der kollektiven narrativen Instanz, die sich zwar auf der heterodiegetischen Erzählebene befindet, aber für eine intradiegetische Gruppe äußert, wird nun mit der kollektiven Figurenstimme eine innerhalb der erzählten Welt befindliche homodiegetische Gemeinschaft genauer betrachtet. Anders formuliert: Im Folgenden wird ein Kollektiv fokussiert, bei dem die untersuchte Stimme nicht nur für dieses spricht, sondern eben auch zugleich als dieses Kollektiv bzw. als ein Bestandteil dessen spricht.

3.2 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme



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3.2.2 Die kollektive Figurenstimme Wie bereits anhand der Kategorie der kollektiven narrativen Instanz gezeigt wurde, besteht das wichtigste Merkmal einer kollektiven Aussageinstanz darin, dass die Mehrstimmigkeit als gemeinschaftlicher Ausdruck der Meinung einer homogenen Gruppe in Erscheinung tritt. Das bedeutet, dass sich die von der Aussageinstanz übermittelten Äußerungen nicht aus einander widersprechenden Aussagen zusammensetzen (wie bei der polyphonen narrativen Instanz) oder diversen weiteren Urhebern zugeschrieben werden können (wie bei der sich über Zitate generierenden polyphonen Figurenstimme), sondern dass sich die kollektive Aussageinstanz für eine homogene Gruppe innerhalb der erzählten Welt äußert. Mit der kollektiven narrativen Instanz teilt die kollektive Figurenstimme das Merkmal der Erzählebene erster Ordnung: Bei beiden Sprechinstanzen handelt es sich um extradiegetische Aussageinstanzen. Jedoch nehmen sie einen anderen Status hinsichtlich der erzählten Welt ein, so dass sich hier die größte Differenz zwischen den beiden Kategorien ergibt. Während die Aussageinstanzen gleichermaßen für ein intradiegetisches Kollektiv das Wort ergreifen, so ist nur die kollektive Figurenstimme zugleich auch ein Bestandteil dieser Gruppe; sie spricht nicht nur für eine bestimmte Gruppe, sondern auch als diese. Die kollektive narrative Instanz äußert sich wohl für eine homogene intradiegetische Gemeinschaft, jedoch verhält sie sich – als eine heterodiegetische narrative Instanz per definitionem – anders zu dem vermittelten Geschehen innerhalb der erzählten Welt; sie ist kein Teil dieser Gemeinschaft. Im Anschluss an die Abgrenzung von der kollektiven narrativen Instanz ist die kollektive Figurenstimme von der berichteten Rede zu trennen, da sie dieser erzähllogisch übergeordnet ist: Die kollektive Figurenstimme befindet sich als eine Erzählinstanz erster Ordnung durchgehend auf der extradiegetischen Erzählebene und stellt ein den Text durchziehendes narratives Konzept dar. Die berichtete Rede hingegen wird von einer narrativen Instanz erster Ordnung zitiert und liegt somit auf einer zweiten, d. h. der intradiegetischen, Erzählebene. Ein weiterer Unterschied betrifft die Frequenz dieser Aussagen und die Identifizierbarkeit des Sprechers: Wenn eine Figur im Rahmen der erzählten Geschichte von einem ‚Wir‘ spricht, so tut sie dies in der Regel nicht nur partiell,88 sondern auch zugleich als eine individuelle – zumeist auch namentlich genannte – Figur, die sich innerhalb anderer Äußerungen deutlich von dem Kollektiv abgrenzt und als einzelne Figur mit einer eigenen Identität spricht. Bei der kollektiven Figurenstimme hingegen lässt sich in ihrem Kern keine individuelle Figur 88 Eine Ausnahme wäre an dieser Stelle die Verwendung des Pluralis Majestatis.

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ausmachen: Es müssen mindestens zwei Stimmen als die kleinste Form eines Kollektivs in einer Aussageinstanz vereint sein, so dass der namentliche Rückschluss auf einen einzelnen Sprecher nicht möglich ist. Die Konstruktion einer solchen Erzählinstanz hängt mit den besonderen Möglichkeiten schriftlich-fiktionalen Erzählens zusammen. Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch besteht hier die Möglichkeit, eine einzelne Stimme anonym in einem Kollektiv aufgehen zu lassen; eine theoretische Konstruktion, die in der realen Kommunikation zwischen Menschen nicht denkbar ist. Indirekt verweist auch Michel Butor bei seinen Überlegungen zu den Personalpronomen im Roman89 auf die begrenzte Anwendbarkeit einer kollektiven Stimme in der alltagssprachlichen Erzählung: Man muß natürlich systematisch die Benutzung aller Personalpronomen im Roman untersuchen. […] Gibt es zum Beispiel eine Situation, auf die ein Bericht in der ‚Wir-Form‘ zutrifft? Die gewöhnlichste Unterhaltung liefert uns dafür zahlreiche Beispiele: Wenn wir nach der Rückkehr aus den Ferien Freunden erzählen, was wir gemacht haben, gebraucht derjenige von uns, der das Wort ergriffen hat, diese erste Person des Plurals und zeigt so, daß innerhalb der dadurch bezeichneten Gruppe, das Erzähl-Ich in jedem Augenblick von einem Individuum zum anderen übergehen, daß es ständig abgelöst werden kann.90

Wie aus den oben zitierten Ausführungen Butors hervorgeht, verweist das in der Alltagssprache verwendete Wir zur Bezeichnung eines homogenen Kollektivs auf eine Gemeinschaft, innerhalb welcher ein Übergehen von einem Individuum zum anderen nicht nur möglich, sondern – gewissermaßen im Sinne einer Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit – konstitutiv ist. Zugleich wird aber auch deutlich, dass es in einer realen Sprechsituation kein ‚Verschmelzen‘ des Individuums mit dem Kollektiv geben kann: Der reale Mensch bleibt stets ein Individuum, auch wenn er in seinem Status und in seiner Funktion als Mitglied einer als ein Kollektiv sprechenden Gruppe austauschbar ist bzw. sein kann. Anders verhält es sich mit Blick auf fiktionale Darstellungen, innerhalb derer die Konstruktion einer Sprechinstanz möglich ist, die als ein geschlossenes Kollektiv spricht, in welchem einzelne Stimmen nicht mehr erfasst werden können. Um dieser und möglichen weiteren Varianten innerhalb fiktionaler Erzähltexte gerecht zu werden, die sich aus der Verwendung diverser Personalpronomen in der Literatur ergeben können, sieht Michel Butor als logische Konsequenz seiner Überlegungen eine trennscharfe Differenzierung zwischen ‚Individuum‘ und ‚Funktion innerhalb des Textes‘ als unumgänglich an:

89 Michael Butor: „Der Gebrauch der Personalpronomen im Roman“. In: Probleme des Romans. Übersetzt von Helmut Scheffel. München 1965. S. 93–109. 90 Ebd., S. 108.

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Was das allgemeine Problem der Person betrifft, so zwingen derartige Betrachtungen und solche Praktiken dazu, diesen Begriff mehr und mehr von der des physischen Individuums zu lösen und sie als eine Funktion zu deuten, die innerhalb eines geistigen und gesellschaftlichen Milieus in einem Raum des Dialogs entsteht.91

Ausgehend von diesem Verweis auf die bisher innerhalb der (narratologischen) Forschung weitestgehend vernachlässigte Bedeutung pronominaler Funktionen in Erzähltexten, soll nun die kollektive Figurenstimme als Kategorie eingeführt werden, deren Grundvoraussetzung in der Verwendung des Personalpronomens Wir besteht. Dass es sich hierbei um eine zwar notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für die kollektive Figurenstimme handelt, soll im Folgenden noch paradigmatisch anhand von Johann Wolfgang Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809) gezeigt werden. Im Rahmen eines kurzen Blickes auf diesen Text wird offenbar, dass die wiederholte Verwendung des Personalpronomens ‚Wir‘ nicht zwingend für ein Kollektiv stehen muss, sondern sich dank eines genaueren Blickes auf den Kontext innerhalb der erzählten Welt als eine bestimmte Form der extradiegetisch-heterodiegetischen narrrativen Instanz klassifizieren lässt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Personalpronomen Wir als der Grundlage für eine narratologische Analysekategorie muss auch eine Abgrenzung zu der von Susan Sniader Lanser im Rahmen ihrer feminist narratology entwickelten communal voice92 erfolgen. Der sehr verdienstvolle, aber zugleich auch in mancher Hinsicht defizitäre Ansatz einer feministischen bzw. genderorientierten Narratologie wird in der in diesem Kapitel noch folgenden Auseinandersetzung mit Joshua Ferris’ Roman Then We Came to the End (2007) ausführlicher aufgegriffen; zunächst einmal gilt es jedoch, Lansers Kategorie der communal voice näher zu betrachten. In Fictions of Authority entwickelt Lanser die communal voice als Bestandteil einer Typologie, die im Rahmen einer feministischen Narratologie den historischen und kulturellen Bedingungen weiblichen Schreibens Rechnung tragen soll. Im Anschluss an die klassische Erzähltheorie, die ihren Blick primär auf die Struktur des Textes wirft und außertextuelle Faktoren wie die Kategorie Geschlecht weitgehend ausklammert, gelangt Lanser bei ihren Untersuchungen zu einem erweiterten Beschreibungsvokabular, das die Begriffe der authorial voice, personal voice und eben auch der communal voice umfasst. Letzere unterteilt Lanser nochmals in drei verschiedene Varianten:

91 Ebd., S. 109. 92 Susan Sniader Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca / London 1992.

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In Part III, I will distinguish three […] possibilities that result from various confluences of social ideology with changing conventions of narrative technique: a singular form in which one narrator speaks for a collective, a simultaneous form in which a plural “we” narrates, and a sequential form in which individual members of a group narrate in turn.93

Aus der obigen Definition von Lanser geht bereits hervor, dass von den drei genannten Spielarten einzig die simultaneous form eine gewisse Nähe zu der hier erstellten Kategorie der kollektiven Figurenstimme aufweist. Eine genauere Betrachtung dieser Variante markiert jedoch einen grundlegenden Unterschied zu der kollektiven Figurenstimme hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv: Lansers simultaneous form sieht kein Kern-Kollektiv vor, welches sich eine Stimme teilt. Als Beispieltext für ihre Kategorie führt sie Joan Chases Roman During the Reign of the Queen of Persia (1983) an und nennt in ihrer Analyse alle vier Protagonistinnen – die das kollektive We konstituieren – namentlich: Any of the four girls – Anne, Katie, Celia, or Jenny – might be temporarily a “third person,” a character set apart from the collective voice and thereby individualized, marked in difference. […] The novel is able, in other words, to take advantage of the semantic fluidity of the “we” to maintain the communal voice despite the momentary difference or even defection of an individual “I”.94

Die von Lanser genannte Individualisierung, das Herauslösen eines Charakters aus dem Kollektiv, ist noch kein direktes Ausschlusskriterium für eine Überschneidung mit der in diesem Kapitel erstellten kollektiven Figurenstimme, denn auch hier ist eine homogene Gruppe denkbar, an die einzelne namentlich genannte Figuren angeschlossen werden können. Ausschlaggebend für eine klare Differenzierung von der kollektiven Figurenstimme jedoch ist, wie oben bereits festgestellt, dass für Lansers Kategorisierung die Überlegung eines KernKollektivs offensichtlich keine Rolle spielt und der Individualität der einzelnen Figuren eine größere Bedeutung beigemessen wird. Zu einer ähnlichen Deutung von Lansers Definition kommen auch Gaby Allrath und Carola Surkamp, die die simultaneous voice als „eine Erzählinstanz, die als Repräsentantin einer Gruppe auf sich selbst mit dem Personalpronomen we Bezug nimmt“95 charakterisieren und ebenfalls auf die Individualität der Erzählinstanz hinweisen.

93 Ebd., S. 21. 94 Ebd., S. 260. 95 Gaby Allrath / Carola Surkamp: „Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung“. In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart 2004. S. 143–179. Hier: S. 146.

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Bei der in diesem Kapitel vorgestellten kollektiven Figurenstimme handelt es sich um ein erzähltechnisches Phänomen, dessen theoretische Kategorisierung in ihrer Anwendbarkeit nicht auf den Bereich fiktionaler Erzähltexte zu beschränken ist: Ein Kollektiv von fiktionalen Sprechern kann in jeder Form fiktionaler Darstellungen zu Wort kommen. Darunter fällt beispielsweise die Konstruktion einer kollektiven Figurenstimme in einem dramatischen Text, wie anhand eines kurzen Exkurses zu Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme (1930) später noch gezeigt werden wird. Eine Übertragung auf die Gattung des Dramas bietet sich zudem insofern an, als hier die übergeordnete extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz wegfällt: Wertet man den Nebentext nicht als eine solche Erzählerstimme, so befinden sich alle Figurenstimmen auf einer Erzählebene erster Ordnung; eine Positionierung, welche für eine Untersuchung dieser Stimmen im Hinblick auf die hier betrachtete Kategorie einer figuralen Mehrstimmigkeit fruchtbare Ergebnisse verspricht. Bevor die Anwendbarkeit der neuen Kategorie wieder exemplarisch anhand von deutschsprachigen und amerikanischen Texten dargestellt wird, seien die Merkmale der kollektiven Figurenstimme noch einmal zusammengefasst: –



– –



– –

Die kollektive Figurenstimme stellt hinsichtlich der Erzählebene das figurale Pendant zu Genettes extradiegetischen narrativen Instanz dar, d. h., es gibt keine ihr erzähllogisch übergeordnete Sprechinstanz (konstitutives Merkmal) Die kollektive Figurenstimme bildet auf dieser ersten Erzählebene den Konsens einer bestimmten intradiegetischen homogenen Gemeinschaft ab: Es wird nicht nur für diese gesprochen (wie im Falle der kollektiven narrativen Instanz), sondern zugleich auch als diese (konstitutives Merkmal) Daraus folgt, dass es sich bei der kollektiven Figurenstimme um eine extradiegetisch-homodiegetische Sprechinstanz handelt (konstitutives Merkmal) Grundvoraussetzung ist die Verwendung des Personalpronomens ‚Wir‘, welches jedoch nicht eine bestimmte Form auktorialen Erzählens markiert, sondern eindeutig auf eine pluralistische Erzählinstanz verweist (konstitutives Merkmal) Die kollektive Figurenstimme muss in ihrem Kern als ein Kollektiv von mindestens zwei als Stimme miteinander verwobenen Sprechern bestehen (konstitutives Merkmal) Das Kern-Kollektiv schließt nicht aus, dass auch namentlich genannte Figuren sich dem Kollektiv zusätzlich anschließen können Die Kategorie der kollektiven Figurenstimme ist für Untersuchungen einer transgenerisch ausgerichteten Narratologie anwendbar

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Um die kollektive Figurenstimme von einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz abzugrenzen, die wohl das Personalpronomen Wir gebraucht, zugleich aber eindeutig nicht als einzelne Stimme, geschweige denn als Sprechergruppe, der erzählten Welt angehört, wird nun für diese Form eines „souveräne[n] epischen Erzählstils“96 exemplarisch Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften herangezogen. Bereits der erste Satz des Textes erweckt zumindest formal den Anschein, es handle sich um ein gesamtes intradiegetisches Sprecherkollektiv: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen“.97 Mit diesem Einstieg evoziert die Erzählinstanz zweierlei: Zum einen scheint es der Leser – signalisiert durch den Gebrauch des Personalpronomens ‚Wir‘ – mit einem Kollektiv von Sprechern zu tun zu haben, das zum anderen auch der erzählten Welt angehört und den Eindruck einer homodiegetischen Sprechinstanz erweckt. Wie noch anhand der Beispieltexte für die kollektive Figurenstimme gezeigt werden wird, unterscheidet sich der Beginn der Wahlverwandtschaften der formalen Gestaltung nach nicht von Texten, die von einer extradiegetisch-homodiegetischen Erzählinstanz Gebrauch machen. Rein grammatikalisch lässt sich demnach – zumindest auf den ersten Blick – nicht zwischen der an dieser Stelle von Goethe gewählten Erzählinstanz und der kollektiven Figurenstimme unterscheiden. Der zweite Blick jedoch gilt wieder einem bestimmten intradiegetischen Kontext, welcher dazu verhilft, verschiedene Formen von Aussageinstanzen in fiktionalen Darstellungen genauer zu beleuchten und verborgene Varianten von Mehrstimmigkeit zu erfassen – oder eben auch nur scheinbare Formen von Polyphonie als einstimmig zu entlarven. Um den letztgenannten Fall handelt es sich bei der Erzählinstanz in den Wahlverwandtschaften. Die genaue Lektüre des gesamten Textes erlaubt es schließlich, die Erzählerstimme in Goethes Narration eindeutig als eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz im Sinne Genettes zu klassifizieren. Grundlegend für diese Kategorisierung ist, dass der anfänglich gebrauchte Plural zwar in Einzelfällen wieder aufgegriffen wird, jedoch geschieht dies nicht mit dem Gestus einer Teilhabe an der erzählten Welt, sondern vielmehr im Dienste einer Unterstützung der von Matías Martínez konstatierten Souveränität des Erzählers (s. o.). So haben die von einem vermeintlichen Kollektiv formulierten Sätze der Erzählinstanz in Goethes Wahl96 Vgl. hierzu Matías Martínez: Doppelte Welten, hier: S. 41. 97 Hier zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften [EA 1809]. Frankfurt am Main / Leipzig 2003. S. 11. Alle weiteren Goethe-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. Meine Hervorhebung.

3.2 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme



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verwandtschaften an vielen Stellen keinen mimetischen Charakter, sondern sie nehmen in den allermeisten Fällen den Status theoretischer Sätze ein, wie die folgende Textstelle exemplarisch verdeutlicht: Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben, gleich sodann ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und Preises würdig scheint. (Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 122)

Der Gebrauch des Personalpronomens Wir erfüllt in den Wahlverwandtschaften also einen gänzlich anderen Zweck, als er für die kollektive Figurenstimme definiert wurde: Weder wird hier über die Erzählinstanz der Konsens einer homogenen Gruppe vermittelt, noch gibt es Hinweise darauf, dass sich die Sprechinstanz innerhalb der erzählten Welt bewegt. Im Gegenteil: In Kombination mit dem gewählten Satzanfang „Im gemeinen Leben begegnet uns oft“ (s. o.) evoziert die narrative Instanz geradezu den Eindruck einer bewusst markierten Distanz zu den Geschehnissen innerhalb der erzählten Welt, so dass das darauffolgende ‚Wir‘ vielmehr den Eindruck erweckt, zum Zwecke einer ‚Verbrüderungsgeste‘ mit dem Leser eingesetzt zu werden, welchen die Erzählinstanz bei ihrem Blick auf die Ereignisse teilhaben lässt und zugleich mit ihren theoretischen Sätzen über das Leben belehrt. Um welches Kollektiv es sich bei dem formulierten ‚Wir‘ tatsächlich – im Sinne einer genauen Identifikation der Leserschaft – handelt, bleibt also letztlich offen; es ist jedoch festzuhalten, dass die Kategorie der kollektiven Figurenstimme in diesem Fall nicht sinnvoll angewendet werden kann. Das in aller Kürze erläuterte Textbeispiel unterstreicht ein weiteres Mal die in der Auseinandersetzung mit Mehrstimmigkeit bereits häufig zitierte Bedeutung des Kontextes für die Erschließung narrativer Polyphonie. Nur die genaue Lektüre eines gesamten Textes – oder im Falle transgenerischer bzw. transmedialer Untersuchungen die intensive Beschäftigung mit dem jeweils gesamten fiktionalen Gegenstand – erlauben eine aus erzähltheoretischer Sicht fundierte Einordnung einer bestimmten Erzählinstanz als mehrstimmig. Anhand von Goethes Wahlverwandtschaften wurde paradigmatisch gezeigt, dass auch eine Aussageinstanz, die formal nicht von einer kollektiven Figurenstimme zu unterscheiden ist, sich mittels einer genauen Analyse des Kontextes eindeutig als extradiegetisch-heterodiegetische einstimmige narrative Instanz klassifizieren lässt.

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3.2.2.1 Beispieltext: Gert Hofmann: Der Blindensturz (1985) Als erstes Beispiel für eine Aussageinstanz, die sich als die zu Beginn dieses Kapitels definierte kollektive Figurenstimme kategorisieren lässt, wird im Folgenden die Erzählung Der Blindensturz98 (1985) von Gert Hofmann vorgestellt. In diesem Text wird eine Erzählinstanz konstruiert, die sich bei genauer Lektüre als die kleinste Form eines Kollektivs herausstellt, nämlich als die gemeinsame Stimme eines ‚Wir‘, das sich auf zwei untrennbar miteinander verwobene Stimmen reduzieren lässt. Hofmanns Der Blindensturz greift als Ekphrasis thematisch das Werk „Der Blindensturz“ (1568) von dem niederländischen Genremaler Pieter Brueghel der Ältere auf und handelt von der Porträtierung einer Gruppe Blinder. Die erzählte Geschichte ist räumlich wie zeitlich in einer klaren Kreisstruktur komponiert, und sie umfasst einen Tag im Leben der Blinden von dem Moment ihrer frühmorgendlichen Abholung aus einer Scheune bis zu ihrer Rückkehr in selbige in der darauffolgenden Nacht. Beschrieben wird zunächst der ebenso mühevolle, wie auch von vielen Qualen begleitete Weg zum Haus des Malers. Auf ihrem Marsch sind die Blinden nicht nur dem Spott und den derben Späßen ihrer Mitmenschen ausgeliefert (vgl. z. B. das entwürdigende öffentliche Verrichten ihrer Notdurft [vgl. Hofmann, Der Blindensturz, S. 24]), sondern es besteht auch eine beständige Gefahr für Leib und Leben. So stürzt die Gruppe auf ihrer Reise in eine mit Wasser gefüllte Senkgrube (vgl. Hofmann, Der Blindensturz, S. 63), wird von einem Hund angefallen (vgl. Hofmann, Der Blindensturz, S. 64 f.) und droht schließlich bei dem Versuch, ihre durchnässten Kleider zu trocknen, zu verbrennen (vgl. Hofmann, Der Blindensturz, S. 84 f.). Bei dem Maler angekommen, setzt sich die Reihe der psychischen und physischen Peinigungen fort, indem die Gruppe den Sturz von einer Brücke, bei welchem sie gemalt werden soll, wiederholt einüben muss. Diese Prozedur, bei der sich die Blinden „nach und nach alle Kleider zerfetzen und nach und nach alle Glieder blutig schlagen“ (Hofmann, Der Blindensturz, S. 119) findet erst ein Ende, als der Maler sein Werk vollendet hat und die Gruppe ohne jegliche Form der Hilfe ihrem Schicksal überlässt. Am Ende der Erzählung ist es wieder Nacht und die Gemeinschaft befindet sich wieder in eben jener Scheune, aus der sie zu Beginn der Geschichte für ihre Porträtierung abgeholt wurde. Bereits der erste Satz der Erzählung evoziert, dass es sich um ein Kollektiv handelt, das von einem Erlebnis aus dem eigenen Leben berichtet: „An dem Tag, an dem wir gemalt werden sollen – dass schon wieder ein neuer Tag ist! – holt uns ein Klopfen ans Scheunentor aus unserem Schlaf hervor.“ (Hofmann, Der Blindensturz, S. 5). Diese Vermutung wird nach einer genauen Lektüre des 98 Gert Hofmann: Der Blindensturz. Darmstadt 1985. Alle hier verwendeten Hofmann-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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gesamten Textes bestätigt, da der für eine Analyse der Stimme notwendige Blick auf den intradiegetischen Kontext verdeutlicht, dass sich die Urheber der Erzählerstimme hier eindeutig innerhalb der erzählten Welt befinden und es sich somit tatsächlich um eine kollektive Figurenstimme handelt. Das ‚Wir‘, für welches die kollektive Figurenstimme das Wort ergreift, besteht aus sechs Blinden, von denen vier namentlich genannt werden. Der eigentliche Kern der Stimme besteht aus dem kleinsten möglichen Kollektiv, einem Duo, dessen Stimmen untrennbar zu einer einzigen Stimme verschmolzen sind: Dann ziehen wir unsere Kittel an, das heißt einer dem anderen. Bellejambe zieht Ripolus den Kittel an, Ripolus hilft dem Ausgeschälten, wir ziehen Malente den Kittel an, und Malente hilft uns mit unseren Kitteln. […] So wird man uns malen, ein größeres Bild, weil wir mehrere sind, noch sechs. (Hofmann, Der Blindensturz, S. 8)99

Aus dem obigen Zitat geht zweierlei hervor: Zum einen besteht die Gruppe der Blinden – so wird ausdrücklich gesagt – aus sechs Figuren, von denen sich vier eindeutig identifizieren lassen: Bellejambe, Ripolus, der Ausgeschälte und Malente. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass die verbleibenden zwei nicht voneinander unterschieden werden können und somit die eigentliche kollektive Figurenstimme aus dem Zusammenschluss dieser beiden Blinden besteht: Sie sprechen wohl für eine Gruppe von sechs, sie sprechen jedoch nur als eine kollektive Gemeinschaft von Zweien. Dass zwischen dem eigentlichen Kern der kollektiven Figurenstimme und den anderen Blinden ein Unterschied besteht, verdeutlicht auch die Möglichkeit des Kollektivs, als eine untrennbare Gemeinschaft mit den anderen Blinden in einen Dialog zu treten: He, rufen wir, Ripolus. Ja, sagt Ripolus, wer ruft? Wir rufen, sagen wir, wir. Und wo seid ihr, fragt Ripolus und tastet mit dem Stock nach uns. Wir sind hier, rufen wir, hier. Und was wollt ihr, fragt Ripolus. Nichts, sagen wir, wir wollen nichts. Und warum müßt ihr mich da rufen? Weil wir dich hören wollten. (Hofmann, Der Blindensturz, S. 28)

Dem zitierten Gesprächsausschnitt lässt sich entnehmen, dass das Kollektiv nicht nur gemeinsam spricht, sondern auch gemeinsam wahrnimmt und von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe Blinder als ein untrennbares ‚Ihr‘ wahrgenommen wird. Dieser Status wird nicht nur durch den Dialog mit anderen 99 Meine Hervorhebungen.

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aus der Gruppe bestätigt, sondern zeigt sich auch in Gesprächen mit weiteren Figuren innerhalb der erzählten Welt. So verdeutlicht der Dialog mit dem Dorfbewohner Balthasar noch einmal die Stellung des Kollektivs innerhalb der Gruppe: Und euch selber, fragt er [Balthasar, S. R.] später, seht ihr euch selber? Nein, sagen wir, uns sehen wir auch nicht. Und denken nach und sagen dann, daß wir uns aber fühlen. Womit, fragt Balthasar, mit den Händen? Nein, sagen wir, mit etwas anderem, wir wissen aber auch nicht womit. Wir fühlen, daß es sich um uns handeln muß, wenn wir sagen: Wir. Auch wenn wir es nicht beweisen können. Und wer seid ihr? Die in der Mitte. (Hofmann, Der Blindensturz, S. 57)

Zusammenfassend lässt sich also noch einmal festhalten: Die von Hofmann entworfene Erzählinstanz spricht zwar für eine Gemeinschaft bestehend aus sechs blinden Figuren, sie spricht jedoch nur als ein Kollektiv von zwei Blinden, das eine gemeinsame Stimme hat und sich nicht in zwei unterschiedliche Figuren innerhalb der erzählten Welt aufgliedern lässt. Für eine Beispielanalyse unter Berücksichtigung der neu erstellten Kategorie ist die Erzählung nun besonders geeignet, da in ihr die Konstruktion einer verdoppelten Erzählinstanz auf der discours-Ebene kunstvoll mit dem wiederkehrenden Motiv der Verdopplung auf der Ebene der histoire verknüpft wird. So wird bereits zu Beginn der Geschichte durch den Bericht von einem Traum durch die kollektive Figurenstimme nicht nur eine – aus narratologischer Sicht – zweite Erzählebene eröffnet, sondern auch die fiktionsinterne erzählte Welt gewissermaßen verdoppelt: Nein, nicht in uns wird geklopft, sondern draußen, bei den anderen. Was gibt es, rufen wir und finden schwer zurück. Wir sind in einem Traum. Und liegen, Wolken über uns, halb über, halb unter der Erde in der frischgezogenen Furche eines endlosen Ackerfeldes. Ein Bein steckt schon im Boden drin, das andere ist noch draußen. Um uns, in dicken weichen Flocken, an die wir uns noch gut erinnern, fällt in sanften Falten der Landschaft hinein der Schnee und begräbt alles: Das Unkraut, den Pflug, die Bäume, wie all die anderen, von uns längst aufgegebenen Gegenstände, die es aber wahrscheinlich noch gibt. Schließlich deckt er unser zweites Bein noch zu, das, wie ein schwarzer Stein, bis zuletzt in den Himmel stand. Gut, daß es zu Ende ist, denken wir und sind begraben. Unser Vergessensein beginnt. Und nun ziehen sie uns mit ihrem Klopfen wieder zu sich nach oben. Ja, rufen wir und kriechen hoch, was stört ihr uns noch? (Hofmann, Der Blindensturz, S. 5)

Innerhalb dieser zweiten Erzählebene fällt auf, dass die Zahl Zwei auch hier wieder die Erzählstruktur bestimmt und eine ordnende Funktion in Form von

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binären Oppositionen einnimmt. So ist der Raum der erzählten Welt innerhalb des Traumes auf drei verschiedenen Ebenen durch Gegensatzpaare eindeutig gegliedert: Topologisch durch die Begriffe „über / unter“ und „drinnen / draußen“, semantisch durch die Unterscheidung „erinnern / vergessen“ sowie topographisch durch die Gegenüberstellung „Himmel / Erde“. Das eigentliche Gegensatzpaar „fiktionsinterne Realität“ vs. „fiktionsinterner Traum“ – und damit die beiden Erzählebenen „intradiegetisch“ und „metadiegetisch“ – wird durch eine metaphorische Raumbewegung miteinander verbunden: Zunächst ist das träumende Kollektiv passiv und wird durch den herabfallenden Schnee begraben, was die kollektive Figurenstimme mit den Worten: „Unser Vergessensein beginnt“ kommentiert. Durch das Klopfen an das Scheunentor wird jedoch eine Verbindung zwischen der metadiegetischen Ebene des Traumes und der intradiegetischen Ebene der erzählten Welt geschaffen. Das Kollektiv erfährt in einem Zwischenschritt als erstes eine passive Raumbewegung („Und nun ziehen sie uns mit ihrem Klopfen wieder zu sich nach oben“) auf welche schließlich eine eigenständige aktive Bewegung folgt („Ja, rufen wir und kriechen hoch, was stört ihr uns noch?“).100 Es lässt sich also resümieren, dass komplementär zu den miteinander verschmelzenden Stimmen innerhalb der kollektiven Figurenstimme auch zwei verschiedenen Erzählebenen (die intradiegetische und die metadiegetische) durch einen fließenden Übergang miteinander verwoben werden, so dass sich auch hier das poetologische Prinzip einer Verzweifachung feststellen lässt. Das mittels der kollektiven Figurenstimme auf der Ebene des discours realisierte Prinzip einer Verdopplung findet sich im Zusammenhang mit der Porträtierung der Blinden mehrfach in Hofmanns Der Blindensturz. Zunächst wäre da die eigene Bewertung der Blinden, die sich selbst als Motiv hinterfragen und hinsichtlich ihrer Abbildung eine eindeutige Position beziehen: Eigenartig, daß er gerade uns malen will, denken wir. Weil uns die Leute ja nicht einmal ungemalt gerne sehen, also so, wie wir sind. Schon von weitem, wenn sie uns kommen sehen, gehen sie uns aus dem Weg, drücken sich an uns vorbei. Denn im Gegensatz zu unseren Freunden, den Krüppeln, bringen wir kein Glück. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie für uns ein tiefes Loch in der Erde graben und uns hineinwerfen und fest zudecken, damit wir weg sind, statt uns auch noch zu malen. Statt uns durch Malen festzuhalten, durch Malen zu verdoppeln. Nein, sagen wir, lieber ins Loch. (Hofmann, Der Blindensturz, S. 22)

Der Kommentar der Blinden lässt eine offensichtliche Verwunderung über die eigene Rolle als Motiv erkennen, da das Festhalten ihrer Körper im Rahmen ei100 Zur Semantisierung des Raumes in Erzähltexten vgl. grundsätzlich Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München 1993.

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ner künstlerischen Darstellung als eine ‚Verdopplung‘ empfunden wird. Diese Form der Verzweifachung überrascht das Kollektiv insofern, als es sich als isoliert und bestenfalls geduldet empfindet, so dass die eigene Vervielfachung durch eine künstlerische Darstellung ihnen zumindest fragwürdig erscheinen muss. Neben der Thematisierung einer künstlichen Verdopplung innerhalb der intradiegetischen erzählten Welt findet – im Zuge des von dem Kollektiv artikulierten Gedankenspiels – eine weitere Verdopplung statt: Die Vorstellung, sich in einem „Loch in der Erde“ zu befinden und „fest zudecken“ zu lassen, lässt sich auf den zuvor zitierten Traum des Kollektivs, „in der frischgezogenen Furche eines endlosen Ackerfeldes“ (vgl. Hofmann, Der Blindensturz, S. 5) von Schnee begraben zu werden, übertragen. Berücksichtigt man diesen Hintergrund, so lässt sich in Hofmanns Text eine weitere Variante der Verdopplung im Sinne einer Spiegelung erkennen: Die sich im Rahmen der intradiegetischen erzählten Welt vollziehende Reflexion über die eigene Rolle als ein künstlerisches Motiv greift ein bereits behandeltes Bild auf und spiegelt die auf einer metadiegetischen Ebene schon zuvor erzählte Vision. Verlässt man den Bereich der erzählten Geschichte und betrachtet die gesamte Erzählung als ein Kunstwerk, so lässt sich eine weitere Form der Verdopplung feststellen. Wie eingangs erwähnt, diente Hofmann das Gemälde „Der Blindensturz“ (1568) als Anregung für seinen Text, in dem er den Blinden eine Vorgeschichte zuschreibt, die den mühevollen Weg beschreibt, bis es letztlich zu dem schmerzvollen kollektiven Sturz kommt. Verglichen mit der Darstellung von Pieter Brueghel umfasst Hofmanns Erzählung freilich eine weitaus längere Zeitspanne, oder, anders formuliert: Die erzählte Zeit überragt die gemalte Zeit um ein Vielfaches, da der Maler die Darstellung innerhalb seines Kunstwerkes qua materia auf einen Moment reduzieren muss, während sich dem Schriftsteller alle Möglichkeiten temporaler Variationen bieten. Neben dieser inhaltlichen Erweiterung, die Hofmann durch den Bericht über das Vorher und Nachher des Sturzes vornimmt, findet aber auch eine Verdopplung statt, und zwar die Verdopplung genau jener Situation des Sturzes, welche auf dem Gemälde von Pieter Brueghel zu sehen ist. Die Erzählung Der Blindensturz verdoppelt also das Motiv des Gemäldes „Der Blindensturz“ und spiegelt das auf Brueghels Kunstwerk abgebildete kollektive Fallen der Blinden in narrativer Form. Zusammenfassend lässt sich resümieren, dass die von Gert Hofmann gewählte kollektive Erzählinstanz, die aus der Allianz zweier extradiegetisch-homodiegetischer Stimmen besteht, und im Folgenden an dieser Stelle als kollektive Figurenstimme bezeichnet wird, auf kunstvolle Weise ein poetologisches Konzept reflektiert. Das auf der Ebene des discours mittels der kollektiven Figurenstimme realisierte Prinzip der Verdopplung findet sich nicht nur in dem ge-

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spiegelten Verhältnis zwischen metadiegetischem Traum versus intradiegetischer fiktionsinterner Realität, sondern auch mit Blick auf das – auf der intradiegetischen Ebene artikulierte – Selbstverständnis der Blinden, die ihre Porträtierung mit Überraschung quittieren, da sie eine künstlerische Abbildung ihrer selbst als eine ‚Verdopplung‘ empfinden. Schließlich zeigt sich in der Adaption von Brueghels Motiv des Blindensturzes eine weitere Form der Verzweifachung, im Rahmen derer ein Motiv der Malerei für die Literatur übernommen und innerhalb eines fiktionalen Erzähltextes dargestellt wird. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt wurde, lässt sich die kollektive Figurenstimme über den Bereich der Epik hinaus zu einer besseren Beschreibung von Erzählinstanzen in fiktionalen Darstellungen gewinnbringend anwenden. Hier bieten sich insbesondere diejenigen Darstellungen an, in welchen explizit Figuren zu Wort kommen, wie innerhalb dramatischer Texte. Diese Gattung drängt sich insofern auf, als bereits im antiken Drama dem Chor als einer besonderen Variante gleichzeitig realisierter Mehrstimmigkeit eine bedeutsame Funktion zukam. Blickt man auf den zuvor definierten Merkmalskatalog der kollektiven Figurenstimme, so lassen sich anhand von Detlev Baurs Ausführungen zum Gruppencharakter des antiken Chores gewinnbringende Gemeinsamkeiten mit der zunächst in Anlehnung an fiktionale Erzähltexte erstellten Kategorie feststellen: Die Chöre [bestehen] aus homogen zusammengesetzten Gruppen; es handelt sich also nicht um bloße Ansammlungen von Individuen, sondern um Gemeinschaften, in denen die einzelnen Mitglieder an sich ohne jedes Interesse sind. Die Einheitlichkeit des Chores zeigt sich auch daran, daß er selbst häufig in der 1. Person Singular von sich spricht oder andere Personen in der Anrede oder im Gespräch über den Chor auch Singularformen benutzen, daß er also zu einer einzigen Figur zusammenwächst. Der Chor erhält seine Identität folglich ausschließlich aus seinem Gruppenbewußtsein und nicht durch das Selbstbewußtsein der einzelnen Mitglieder.101

Baurs Definition des antiken Chores überschneidet sich mit der kollektiven Figurenstimme sowohl hinsichtlich des Kriteriums der Homogenität der Gruppe als auch mit Blick auf die existenzielle Funktion des Gruppenbewusstseins, hinter dem das Individuum zurücktritt. Einzig der von Baur genannte – mögliche – Gebrauch von Singularformen widerspricht den eingangs festgelegten Punkten für die hier betrachtete Kategorie. Wird jedoch auf den Gebrauch der Singularform(en) verzichtet, so kann die Kategorie der kollektiven Figurenstimme gewinnbringend auf den Chor im Drama angewendet werden, wobei es sich nicht

101 Detlev Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen 1999. Hier: S. 20 f.

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zwingend um ein antikes Drama handeln muss, wie das nun folgende Beispiel verdeutlicht. 3.2.2.2 Beispieltext: Bertolt Brecht: Die Maßnahme (1930) In dem hier fokussierten Lehrstück von Bertolt Brecht geht es um die Rechtfertigung einer Gruppe von vier Agitatoren, die im Dienst der ihnen aufgetragenen Mission einen jungen Genossen getötet haben. Vor einem als ‚Kontrollchor‘ im Stück auftretenden Parteigericht müssen sie sich nun retrospektiv für ihre ‚Maßnahme‘ verantworten und darlegen, wie es zu der Ermordung des Gleichgesinnten hat kommen können. Die innerhalb des Dramas miteinander kommunizierenden Stimmen teilen sich auf in den Kontrollchor und jene sich verteidigenden vier Agitatoren, die zwar nicht namentlich genannt werden, jedoch qua Herkunft bei der anfänglich mittels Masken ausgelöschten Identität näher spezifiziert werden können. So werden drei der vier Agitatoren durch den Leiter des Parteihauses zunächst eindeutig mit ihrem Herkunftsort in Verbindung gebracht, um sie dann – im Dienste der Revolution – in einem Kollektiv aufgehen zu lassen: DER LEITER DES PARTEIHAUSES Dann seid ihr nicht mehr ihr selber, du nicht mehr aus Leningrad, du nicht mehr aus Kasan und du nicht mehr aus Moskau, sondern allesamt ohne Namen und Mutter, leere Blätter, auf welche die Revolution ihre Anweisung schreibt.102

Im Folgenden wird deutlich, dass das oben zitierte Auslöschen der eigenen Identität nicht nur ein körperliches Aufgehen des Individuums zur Bildung einer bestimmten Gemeinschaft bedeutet, sondern auch – wenn nötig – einen Abschied von der persönlichen Meinung verlangt. Trotzdem, so geht aus den genannten Geburtsorten der Agitatoren hervor, handelt es sich hier um eine Gruppe, die sich aus bestimmten Individuen formiert, so dass die Kategorie der kollektiven Figurenstimme an dieser Stelle nicht anwendbar ist, da kein untrennbares Kern-Kollektiv existiert. Eine sich innerhalb des Textes äußernde Stimme, in welcher der Einzelne nicht mehr identifizierbar ist und die als hier definierte kollektive Figurenstimme auftritt, bildet der Kontrollchor, der das bedingungslose Bekenntnis zum Kommunismus in ebenso deutliche wie fordernde Worte kleidet:

102 Bertolt Brecht: Die Maßnahme [EA 1930]. 3 Aufl. Frankfurt am Main 1978. Alle weiteren Brecht-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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DER KONTROLLCHOR Wer für den Kommunismus kämpft, der muß kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die Wahrheit nicht sagen; Dienste erweisen und Dienste verweigern; Versprechen halten und Versprechen nicht halten. Sich in Gefahr begeben und die Gefahr fliehen; kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: daß er für den Kommunismus kämpft. (Brecht, Die Maßnahme, S. 11)

Betrachtet man die Wortherkunft des Begriffes Kommunismus, so lässt sich der lateinische Begriff communis im Deutschen mit der Übersetzung ‚gemeinsam‘, ‚gemeinschaftlich‘, ‚allgemein‘ oder auch ‚öffentlich‘ wiedergeben.103 Mit Blick auf die oben zitierten Worte durch die kollektive Figurenstimme des Kontrollchores liefern folglich die ersten beiden Wortbedeutungen ‚gemeinsam‘ bzw. ‚gemeinschaftlich‘ die wichtigste Verbindung zwischen Formulierung und Formuliertem bzw. zwischen Form und Inhalt: Eine gemeinsame / gemeinschaftliche Stimme (die kollektive Figurenstimme des Kontrollchores) verlangt nach einer widerspruchslosen Aufopferung des Einzelnen für die Gemeinschaft der Kommunisten. Wie in dem vorherigen Beispieltext von Gert Hofmann dient die Konstruktion der kollektiven Figurenstimme auch in dem Brechtschen Drama dazu, eine bestimmte Isomorphie zwischen Form und Inhalt der fiktionalen Darstellung zu schaffen. Die Stimme des Kontrollchores verlangt nicht nur auf der Ebene der histoire nach einem Verschmelzen des Einzelnen mit der Masse, sondern in Brechts Lehrstück ist dieses Prinzip bereits auf der discours-Ebene realisiert, indem im Falle des Kontrollchores kein sprechendes Individuum auszumachen ist, sondern dieser als ein homogenes Stimmenkollektiv konzipiert ist. Zusammenfassend lässt sich also nach dem – an dieser Stelle nur in aller Kürze erfolgten – Blick auf das Drama von Brecht feststellen, dass die Anwendbarkeit der Kategorie einer kollektiven Figurenstimme nicht auf den Bereich schriftlich-fiktionaler Erzähltexte begrenzt ist. Sie stellt jeweils dann eine differenziertere Bezeichnungsmöglichkeit für eine homodiegetische Erzähl- bzw. Sprechinstanz dar, wenn innerhalb dieser der Konsens einer homogenen Gruppe besteht, wie exemplarisch anhand des Lehrstücks Die Maßnahme gezeigt wurde.104 103 Hier zitiert nach PONS Wörterbuch für Schule und Studium Lateinisch – Deutsch. Stuttgart 2000. S. 180. 104 Durch die – wenn auch nur sehr knappe – paradigmatische Analyse des Dramas von Brecht soll an dieser Stelle jedoch nicht der Eindruck entstehen, die Kategorie der kollektiven Figurenstimme sei auf die Gattungen der Epik und Dramatik eingeschränkt. Eine im Rahmen dieser Arbeit nicht mögliche, aber durchaus vielversprechende Anwendung der Kategorie könnte beispielsweise die Übertragung auf lyrische Texte, wie etwa Joseph von Eichendorffs

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3.2.2.3 Beispieltext: Joshua Ferris: Then We Came to the End (2007) In Ferris’ Debütroman Then We Came to the End105 (2007) schildert eine als betont assoziativ-berichtend konstruierte kollektive Figurenstimme den Arbeitsalltag der Angestellten einer Werbeagentur in Chicago. Die Erzählstruktur ist episodisch und besteht über weite Strecken aus einer Akkumulation höchst heterogener Geschichten über die Mitarbeiter, welche die kollektive Figurenstimme in einer Art vertraulichem Plauderton aneinanderreiht. Das verbindende Element in dem Bericht über die diversen Schicksale besteht in der beständigen Thematisierung der sich vollziehenden Entlassungen und der damit verbundenen umhergehenden Angst um den Arbeitsplatz. Während der eigentliche Kern des erzählenden Kollektivs aus zwei Figuren besteht, die anonym bleiben, werden einzelne Mitglieder der Belegschaft namentlich genannt und ihre Lebensumstände durch die Erzählinstanz näher charakterisiert, wobei insbesondere die Themen Krankheit und Tod eine große Rolle spielen und einen beständigen Gesprächsgegenstand der Belegschaft darstellen. So ziehen sich beispielsweise die Spekulationen um eine mögliche Krebserkrankung der gemeinsamen Chefin Lynn Mason ebenso als ein roter Faden durch die Narration wie die Entführung und der daran anschließende gewaltsame Tod von Janine Gorjancs kleiner Tochter Jessica. Auch das Ableben von Frank Brizzolero, der seinem Kollegen Benny Shassburger ein ungewöhnliches Erbe in Form eines Totempfahls hinterlässt, ist beständiger Gegenstand der Bürogespräche und wird von dem Erzählkollektiv genauso regelmäßig thematisiert wie die vielfältigen psychischen Probleme der sich durch Entlassungen sukzessive reduzierenden Belegschaft.106 Im Folgenden soll jedoch mit der über weite Strecken107 als eine kollektive Figurenstimme konstruierten Erzählinstanz der Besonderheit des Textes auf der Gedicht „Im Abendroth“ (1837), bieten. In diesem Gedicht kommt nicht ein lyrisches Ich zu Wort, sondern es spricht ein Kollektiv, ein lyrisches Wir, das von sich selbst berichtet, d. h. – wenn wir die Begrifflichkeiten der Narratologie auf die Gattung der Lyrik übertragen – Teil der erzählten Welt und somit homodiegetisch ist. 105 Joshua Ferris: Then We Came to the End. London 2007. Alle weiteren Ferris-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. 106 Vgl. etwa die psychische Veränderung von Tom Mota, der nach der Trennung von seiner Ehefrau zunehmend aggressiv wird und dessen seltsames Betragen nach seiner Entlassung in einem fingierten Amok-Lauf mit Gotcha-Kugeln gipfelt (vgl. S. 323), oder die Medikamentenvergiftung des an einer Depression erkrankten Carl Garbedian, der sich über Monate hinweg an den verschreibungspflichtigen Antidepressiva von seiner Kollegin Janine Gorjac heimlich bedient hatte und wegen einer Überdosierung ins Krankenhaus eingeliefert wird (S. 138 ff.). 107 Die Ausnahme bildet der in dem Kapitel „The Things to Do and the Place to Be“ (S. 196– 230) verfasste Bericht über den Vorabend der zunächst geplanten Operation Lynn Masons. Hier werden die Stunden des Abends von einer konventionellen extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz aus der Sicht Lynn Masons geschildert, in welchen eben kein Kollektiv be-

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Ebene des discours Rechnung getragen werden. Bereits das dem eigentlichen Roman vorausgehende Zitat Ralph Waldo Emersons aus „The American Scholar“ (1837) weist darauf hin, welche entscheidende Rolle dem Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv im Rahmen dieses Textes beigemessen wird. So stellt Ferris seiner Erzählung folgende Worte des Transzendentalisten Emerson voran: Is it not the chief disgrace in the world, not to be an unit; – not to be reckoned one character;– not to yield that peculiar fruit which each man was created to bear, but to be reckoned in the gross, in the hundred, or the thousand, of the party, the section, to which we belong […].108

Diesem anfänglich als Motto geäußerten Bedauern über die Aufkündigung des Individuums zugunsten einer Gemeinschaft folgt nun ein Erzähltext, der die gemeinsame Stimme eines bestimmten Kollektivs zu seinem Prinzip erhebt. Diese homogene Gruppe von Werbetextern soll im Folgenden genauer analysiert werden. Als konstitutive Eigenschaft dieser Gemeinschaft ist hervorzuheben, dass die kollektive Figurenstimme weder als eindeutig männlich, noch als explizit weiblich konstruiert ist und es sich somit um ein Kollektiv beiderlei Geschlechts handelt. Diese Feststellung ist aus erzähltheoretischer Sicht insofern von signifikanter Bedeutung, als die im Zuge der new narratologies entwickelte genderorientierte Narratologie sich bisher primär auf die Stimme der Frau konzentriert hat. Folglich klafft innerhalb der Forschung eine Lücke in Blick auf die besondere Konstruktion gemischtgeschlechtlicher kollektiver Sprechinstanzen und die Möglichkeit, diese im Rahmen einer systematischen Narratologie für die Erzähltextanalyse beschreibbar zu machen. In der Ergänzung einer solchen Kategorie liegt insofern ein Desideratum der Forschung, als die homodiegetischen, im Rahmen der erzählten Welt agierenden und sprechenden, Figuren eben nicht – wie eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz – von der Koppelung an eine Vorstellung von einer Person losgelöst werden können; sie sind nicht geschlechtsneutral, sondern fiktionale Konstrukte, denen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde liegen. Diese Feststellung wurde bereits im Zuge der Women’s Studies bzw. im Anschluss daran im Zusammenhang mit den Gender Studies getroffen und dank eines handhabbaren Analyseinstrumentariums auf fruchtbare Weise mit der Möglichkeit der Interpretation

richtet, sondern mittels innerer Monologe und erlebter Rede die Gedanken- und Gefühlswelt einer einzigen Figur überblicksartig fokussiert wird. 108 Hier zitiert nach: Ralph Waldo Emerson: „The American Scholar“. In: Nina Baym u. a. (Hg.): The Norton Anthology of American Literature. New York / London 1998. 5. Aufl. S. 1101–1114. Hier: S. 1113.

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fiktionaler Darstellungen verknüpft. Mit Blick auf kollektive und gemischtgeschlechtliche Sprechinstanzen ist das Beschreibungsvokabular jedoch defizitär und weist eine Lücke auf, die mittels der Kategorie der kollektiven Figurenstimme gefüllt werden kann. Als eine wichtige Studie zu einem erweiterten narratologischen Vokabular aus Sicht der Gender Studies ist Robyn Warhols Arbeit Gendered Interventions109 zu nennen, die in ihrer Untersuchung bestimmte Erzählstrategien fokussiert und das Verhältnis zwischen Erzählinstanz und Rezipient betrachtet. Im Zuge ihrer Ausführungen gelangt Warhol zu den Begriffen des engaging narrator und des distancing narrator,110 mit deren Hilfe sich die Stellung der Erzählinstanz zum Erzählten näher spezifizieren lässt und bestimmte Erzählstrategien nach Warhol als ‚typisch männlich‘ und ‚typisch weiblich‘ charakterisiert werden. Abgesehen von dem Umstand, dass Warhol hierzu die außertextuellen Instanzen der Produktion und Rezeption bemüht – eine Vorgehensweise, die bei dem hier erstellten, textzentrierten Ansatz nicht verfolgt wird – sagt Warhols Studie zu einer Verbindung von Narratologie und Gender Studies noch nichts über bestimmte Formen der Polyphonie aus und hilft aus diesem Grunde auch bei der hier verhandelten Fragestellung nicht weiter. Als ein grundlegender Ansatz innerhalb der Gender Studies mit Blick auf Mehrstimmigkeit wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels das auf Susan Sniader Lanser zurückgehende Beschreibungsvokabular genannt, welches von ihr im Zuge von Fictions of Authority (1992) entwickelt wurde. Der von Lanser geprägte Begriff der communal voice wurde eingangs erläutert und von der Kategorie der kollektiven Figurenstimme abgegrenzt, da Lansers Definition keine Sonderform kollektiver Sprechinstanzen berücksichtigt, innerhalb welcher zumindest ein Teil des Kollektivs nicht auseinander dividiert werden kann.111 Wie fruchtbar sich jedoch die Kategorie der kollektiven Figurenstimme aus Sicht der Gender Studies für die Erzähltextanalyse anwenden lässt, zeigt der paradigmatische Blick auf die Erzählinstanz auf Ferris’ Then We Came to the End. Bereits in der knappen obigen Zusammenfassung wurde betont, dass es sich bei der Erzählinstanz um ein gemischtgeschlechtliches Kollektiv handelt, eine Son109 Robyn Warhol: Gendered Interventions. Narrative Discourse in the Victorian Novel. New Brunswick / London 1989. 110 Vgl. ebd., S. 25–44. 111 Ebenfalls von einer letztlich möglichen Aufteilbarkeit des Kollektivs geht Uri Margolin aus, dessen Erläuterungen zur Erzählung in der Wir-Form darauf basieren, dass der Gebrauch der ersten Person Plural in den meisten Fällen an einen individuellen Sprecher gebunden ist und es sich demnach ausdrücklich nicht um einen Gruppensprechakt handelt. Vgl. hierzu Uri Margolin: „Telling Our Story: On ‚We‘ Literary Narratives“. In: Language & Literature 5 (1996), H. 2, S. 115–133.

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derform der Stimme, welche auch der ansonsten verdienstvolle Ansatz von Lanser nicht erfasst. Denn mit dem von Lanser unberücksichtigten Kernkollektiv, das sich nicht mehr in einzelne, namentlich zu benennende Figuren aufgliedern lässt, hängt eine Problematik zusammen, welche von der genderorientierten Narratologie bisher erstaunlicherweise ausgeklammert wurde, obwohl die Konstruktion von (Geschlechts-)Identitäten das Hauptaugenmerk der Gender Studies auf sich zog und noch immer zieht. Die Frage nach dem Geschlecht einer kollektiven homodiegetischen Erzählinstanz ist bisher vernachlässigt worden: Da homodiegetische Figuren innerhalb der erzählten Welt agieren, so die Annahme, sei ihr Geschlecht hinreichend markiert. Diese Haltung bescheinigen Gaby Allrath und Carola Surkamp auch Susan Sniader Lanser, deren theoretische Grundlage zu homodiegetischen Sprechinstanzen sie folgendermaßen zusammenfassen: Bezogen auf die verschiedenen Erzählsituationen stellt Lanser die Prognose auf, dass bei heterodiegetisch-extradiegetischen Erzählinstanzen das biologische Geschlecht im Normalfall unmarkiert bleibt, wohingegen bei homodiegetischen und intradiegetischen Erzählinstanzen das biologische Geschlecht zumeist spezifiziert ist, da eine solche Erzählinstanz ja gleichzeitig eine Figur in der erzählten Welt ist.112

Diese These dürfte auf die allermeisten homodiegetischen Erzählinstanzen zutreffen, sofern sie als eine einzelne Figur erzählen und ihr Geschlecht eindeutig markiert ist. Ein – letztlich anonym bleibendes – Kollektiv von Figuren kann ebenfalls eindeutig männlich oder weiblich sein; eine solche Konstruktion ist jedoch nicht zwingend der Fall, wie die in diesem Kapitel als kollektive Figurenstimme(n) kategorisierten Sprechinstanzen verdeutlichen. Gerade das in Ferris’ Roman Then We Came to the End berichtende Kollektiv entzieht sich einer eindeutigen Charakterisierung als entweder männlich oder weiblich; der Text spielt geradezu mit der bis zum Schluss ungeklärten Identität des Kernkollektivs und der damit verbundenen Unmöglichkeit der Zuweisung eines bestimmten Geschlechts. Der folgende Textausschnitt verdeutlicht, wie das Kollektiv im Zuge seines Berichts über den Bezug neuer Büroräume eindeutig auf das Vorhandensein beiderlei Geschlechts in der Gruppe verweist: When we got into a new office, a bigger office, and we brought everything with us into the new office, how we loved everything all over again, and thought hard about where to place things, and looked with satisfaction at the end of the day at how well our old things looked in this new, improved, important space. There was no doubt in our minds just then that we had made all the right decisions, whereas most days we were men and women of two minds. Everywhere you looked, in the hallways and bathrooms, the coffee bar and 112 Allrath / Surkamp, Erzählerische Vermittlung, S. 149 f.

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cafeteria, the lobbies and the print stations, there we were with our two minds. (Ferris, Then We Came to the End, S. 7)

Bezeichnenderweise betont das Kollektiv nicht nur eine Dopplung in der Geschlechtszugehörigkeit („men and women“), sondern auch so etwas wie eine Ambiguität in der Gefühlswelt, welche sich – ähnlich dem geflügelten Wort der zwei Seelen in einer Brust – in den „two minds“ spiegelt. Zugleich findet sich dieses Verschmelzen zweier Kontraste explizit in der Semantik des Raumes wieder, in dem sich die alten Habseligkeiten der Angestellten als „old things […] in this new, improved, important space“ mit den neuen Räumlichkeiten vereinen. Der berufliche Erfolg wird jedoch als stets nur temporär gekennzeichnet und verbindet sich mit einer grundsätzlichen unterschwelligen Angst vor der eigenen Entlassung, so dass die innere Zerrissenheit einer konstant mit drohender Arbeitslosigkeit konfrontierten Gruppe auch zu Problemen in den Bereichen Partnerschaft und Sexualität führt. Die aus der dauerhaften psychischen Belastung resultierenden Folgen für das Sexualleben formuliert die kollektive Figurenstimme ebenfalls mit dem Gestus einer sowohl aus Männern als auch aus Frauen zusammengesetzten homogenen Gemeinschaft: „Still, some of us had a hard time finding boyfriends. Some of us had a hard time fucking our wives“ (Ferris, Then We Came to the End, S. 8). Die aus dem Zitat abgeleiteten Zuordnungen („finding boyfriends“ wird eine weiblichen Sicht unterstellt, „fucking […] wives“ mit einer männlichen Betrachtung verbunden) könnten freilich Widerspruch provozieren, da sie auf die Annahme eines in seinen Bestandteilen heterosexuellen Kollektivs zurückgehen. Diese Zuschreibung beruht jedoch nicht auf der von Monika Fludernik definierten „heterosexual default structure“113, welche stets von einer gemischtgeschlechtlichen Partnerschaft ausgeht, sondern wird aus der Struktur des Textes gewonnen, die – abgesehen von wenigen und zugleich innerhalb der erzählten Welt nicht verifizierten Spekulationen des Kollektivs über die sexuelle Orientierung von Joe Pope – keinerlei homoerotische Beziehungen unter den Figuren nahelegt. Wie die kollektive Figurenstimme selbst betont,114 lässt sich die Vielfältigkeit der Gemeinschaft – trotz ihrer Homogenität mit Blick auf den gemeinsamen Beruf und der damit verbundenen Angst vor dem Verlust dieses Arbeitsplatzes – 113 Vgl. hierzu Monika Fludernik: „The Genderization of Narrative“. In: GRAAT 21 (1999). S. 153–173, hier: S. 154. 114 Vergleiche z. B. die Aussage des Kollektivs über die von der Gemeinschaft offenkundig abgelehnte Karen Woo, in welcher die Vielfalt der Gruppe hervorgehoben wird: „Anyway, Karen Woo. Did we dislike her because we were racists, because we were misogynists, because her ‚initiative‘ rankled and her ambition was so bald, because she wore her senior title like a flamboyant ring, or because she was who she was and we were forced by fate to be around her

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nicht mit der einfachen binären Opposition „männlich / weiblich“ erfassen, sondern sie besteht aus einer Gruppe von nur zu einem Teil namentlich genannter Männer und Frauen, deren Kern letztlich anonym bleibt und sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung entzieht. Dies ändert sich auch nicht im Zuge der sukzessiven Entlassung des Kollektivs, bei welcher der Arbeitsplatzverlust des Kernkollektivs mittels einer narrativen Strategie ausgespart wird. Das vorletzte Kapitel des Textes endet mit einem Bericht über den Vortag der Terroranschläge vom 11. September 2001 und somit zu einem aus realhistorischer Sicht höchst prägnanten Zeitpunkt: In the last week of August 2001, and in the first ten days of that September, there were more layoffs than in all the months preceding them. But by the grace of god, the rest of us hung on, hating each other more than we ever thought possible. Then we came to the end of another bright and tranquil summer. (Ferris, Then We Came to the End, S. 357)

Bezeichnenderweise greift der letzte Satz des oben zitierten Ausschnittes den Romantitel auf und markiert mit dem 10. September 2001 tatsächlich das Ende einer Zeitspanne, in welcher seit über 135 Jahren (Ende des Civil War 1865) kein Angriff auf die amerikanische Bevölkerung auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten, d. h. auf dem Gebiet der USA auf dem amerikanischen Kontinent, mehr stattgefunden hatte. Zwischen dem Ende dieses vierten Kapitels und dem Beginn des fünften Kapitels liegen fünf Jahre, ein erzählstrategischer Kunstgriff, der es ermöglicht, die sich einer Narration offenkundig entziehenden Ereignisse auszusparen und mit der Erzählung erst nach ihrem Vollzug wieder einzusetzen. Die kollektive Figurenstimme übergeht also nicht nur die Terroranschläge vom 11. September 2001, sondern auch die schrittweisen Entlassungen der noch verbleibenden kollektiven Belegschaft, und beginnt im fünften und letzten Kapitel ihre Narration erst wieder „in the summer of 2006“. (Ferris, Then We Came to the End, S. 358) Bemerkenswert ist, dass zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich das gesamte Kollektiv entlassen worden ist und die eigentliche Grundlage der Gemeinschaft – der Büroalltag und die Zugehörigkeit zu derselben Werbeagentur – somit erloschen ist. Diese Entwicklung ändert jedoch nichts an der aus narratologischer Sicht konstanten Erzählinstanz, die sich weiterhin als kollektive Figurenstimme zu Wort meldet und die eigene Situation nach der faktischen Auflösung der kollegialen Gemeinschaft reflektiert:

all the time? Our diversity pretty much guaranteed it was a combination of all the above.“ (Ferris, Then We Came to the End, S. 113)

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Where had we located the energy? Updating our resumes, interviewing again, learning a new commute route. We had spread out across the industry, finding work at other agencies, at design firms and in-house marketing departments, usually the first place that would have us. (Ferris, Then We Came to the End, S. 358)

Der Roman schließt mit einem Treffen der ehemaligen Arbeitskollegen und greift auch am Ende, als sich lediglich das Kernkollektiv spätabends auf einem Parkplatz befindet, das Thema der gemeinsamen Stimme noch einmal auf: Out to the parking lot, a few parting words. “Sure was good to see you again”, we’d say115. And with that, we’d get in our cars and open the windows and drive off, taping the horn a final time. But for the moment, it was nice just to sit there together. We were the only two left. Just the two of us, you and me. (Ferris, Then We Came to the End, S. 385)

Wie zu Anfang des Kapitels bei der Definition der kollektiven Figurenstimme festgelegt, bleibt bis zum Schluss offen, um wen es sich genau bei der aus einem you and me zusammengesetzten Sprechinstanz handelt. Die durch die kollektive Figurenstimme zitierten Worte der Verabschiedung werden bezeichnenderweise – obwohl das Kollektiv sich in ein you und ein me aufteilt – offensichtlich gleichzeitig von dem verbleibenden Kernkollektiv gesprochen. Die Zusammensetzung des Kollektivs aus einem you and me bedeutet also noch keine Individualisierung im Sinne einer namentlichen Benennung und somit Identifizierung des Kernkollektivs, sondern trägt lediglich der Struktur der erzählten Welt Rechnung, die auf eine fiktionale literarische Darstellung zeitgenössischer Gegenwart in Chicago zwischen 2001 und 2006 abzielt. Präsentiert wird eine erzählte Welt, die ihre Figuren als literarische Abbildungen von Personen konstruiert und – sofern nicht das Krankheitsbild einer Doppelfehlbildung vorliegt – diese auch mit menschlichen Zügen wie der einer einzelnen Figur (im Sinne eines Körpers) zugeordneten Stimme versieht. Dieses der Narration zugrundeliegende Weltbild kollidiert jedoch nicht mit dem zuvor Gesagten, da das literarische Schreiben für die Konstruktion von Stimmen Möglichkeiten bereitstellt, wie sie dem Menschen in seiner alltäglichen Kommunikation nicht gegeben sind. Die Mindestanforderung für eine kollektive Figurenstimme ist insofern erfüllt, als das letzte Wort des Textes zwar me ist, jedoch zu keinem Zeitpunkt der Narration deutlich wird, um wen es sich bei der sprechenden Instanz handelt, zumal an keiner Stelle des Textes ein singuläres me auftaucht, sondern eben nur das am Ende mit einem untrennbaren you verbundene Personalpronomen.

115 Meine Hervorhebung.

3.2 Neue Kategorien (2): Polyphone und kollektive Figurenstimme



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Mit Blick auf die zuvor angesprochenen Ansätze zu einer Erweiterung narratologischer Kategorien aus Sicht der Gender Studies sei unter Berücksichtigung der Ergebnisse zu Then We Came to the End noch einmal der Bezug zu der von Susan Sniader Lanser entwickelten communal voice hergestellt.116 Wie bereits gesagt wurde, grenzt Lanser kollektive Erzählinstanzen, die sich aus individuellen Figuren generieren, welche im Rahmen der erzählten Welt namentlich genannt werden, nicht von jenen – hier als kollektive Figurenstimme bezeichneten – Erzählkonstrukten ab, die zwar einzelne namentlich genannte Figuren integrieren können, deren Kern jedoch als eigentliche kollektive Figurenstimme anonym bleibt. Abgesehen von diesem formalen Unterschied in der Konstruktion der Kategorie liegt eine weitere große Differenz in der Grundlage und dem von Lanser ausgegebenen Erkenntnisziel ihrer communal voice, welches dezidiert auf die Beschreibung weiblicher Erzählinstanzen ausgerichtet ist: Although it is possible to represent female community without communal voice, it is difficult to construct communal voice without constructing female community. Communal voice thus shifts the text away from individual protagonists and personal plots, calling into question the heterosocial contract that has defined woman’s place in Western fiction.117

Lanser geht es also ausdrücklich um die Beschreibungsmöglichkeit ausschließlich kollektiver weiblicher Erfahrung und Identität, welcher das für die kollektive Figurenstimme zur Bedingung gemachte Kernkollektiv diametral entgegensteht: Gerade in der Anonymität eines stimmlich nicht mehr zu trennenden Kollektivs liegt die Möglichkeit, einer gemischtgeschlechtlichen Gemeinschaft auch formal eine Stimme zu verleihen. Wie anhand der kurzen Analyse von Then We Came to the End gezeigt wurde, besteht aber innerhalb einer systematischen Narratologie ein Defizit, genau jene Erzählinstanzen zu bezeichnen, die der Form nach aus einem Kollektiv generiert sind und sich aber zugleich einer ausschließlichen Zuordnung zu einem Geschlecht verweigern. Für Konstruktionen dieser Art bietet sich Lansers Begriff der communal voice – mit all seinen auf das weibliche Geschlecht fokussierten Implikationen – nicht an. Die in diesem Kapitel eingeführte Kategorie der kollektiven Figurenstimme trägt der Tatsache Rechnung, dass sich dem schriftlichfiktionalen Erzählen Möglichkeiten bieten, die in der Alltagskommunikation nicht gegeben sind, eben beispielsweise, dass sich eine Gruppe kollektiv zu 116 Da Warhol keine Angaben zu Formen der Mehrstimmigkeit in Erzähltexten macht, wird ihr Ansatz – gleichwohl er im Rahmen der Gender Studies bedeutend ist – an dieser Stelle nicht rekapituliert, da er mit dem an dieser Stelle verhandelten Thema der Polyphonie nicht in Verbindung steht. 117 Lanser, Fictions of Authority, S. 22.

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Wort meldet, ohne dass jeder einzelne Sprecher hinsichtlich seines Geschlechtes bestimmt werden könnte. Diese besondere Art fiktionalen Erzählens entspricht auch neueren Tendenzen und Perspektiven innerhalb der Gender Studies, wie Walter Erhart und Britta Herrmann feststellen: Frauenbild- wie Frauenliteraturforschung haben sich bis zu dem Punkt einander angenähert, an dem ihre einstige Zuschreibung auf Weiblichkeit verlorengeht, zugleich jedoch ein geschlechterspezifisches Feld literarischer Verfahrensweisen sichtbar wird, das alle Bedeutungsebenen miteinbezieht. Statt einer monotonen, immer wieder aufs neue auftauchenden Geschlechter-Differenz kommt dabei eher eine Vielfalt an Differenzen zum Vorschein: sowohl in historischer Perspektive […] als auch in den geschlechtsspezifischen Positionen selbst, die bei genauerem Hinsehen zwischen den Geschlechtern und Sexualitäten oszillieren. […] ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ enthüllen sich […] als diskursive Effekte und als rhetorische Figuren, die jede binäre Festlegung immer schon unterlaufen, indem die ihnen zugeschriebenen Charakteristika zwischen den vermeintlich getrennten Bereichen hin- und herwechseln […]. ‚Geschlecht‘ ist daher nicht mehr zu denken als ein System von Oppositionen, sondern als ein Ensemble von Positionen und Beziehungen, die sich je nach Kontext anders entfalten und anders gruppieren.118

Diese Verschiebung innerhalb der Geschlechterforschung, welche – nachdem lange Zeit versucht wurde, die Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit voneinander zu trennen – eine eindeutige Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage stellt, widerspricht Lansers Überlegungen zu der communal voice; jedoch lässt sich die klaffende Lücke der Bezeichnungsmöglichkeiten für gemischtgeschlechtliche bzw. in ihrer Geschlechtlichkeit nicht eindeutig zu erfassende Erzählinstanzen über die kollektive Figurenstimme schließen. Somit lässt sich die Kategorisierung der kollektiven Figurenstimme und ihre – an dieser Stelle nur sehr knapp vorgestellte – Anwendung als ein Zeugnis dafür werten, dass der im Zuge der new narratologies geöffnete Blick für Allianzen mit Theorien außerhalb der Erzähltheorie eine Beschreibung von den im Text angelegten Strukturen nicht ausschließt. Im Gegenteil: Die Kategorisierung der kollektiven Figurenstimme, welche – unabhängig von dem Inhalt des Textes – auf einer Analyse der erzählenden Instanz basiert, lässt sich, wie exemplarisch anhand von Ferris’ Roman Then We Came to the End gesehen, auf fruchtbare Weise mit neuen Ansätzen der Narratologie, wie beispielsweise der genderorientierten Erzählforschung, verbinden. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich: Die kontextorientierten new narratologies – wie hier paradigmatisch anhand der genderorientierten Erzähltheorie vorgeführt – müssen in keinem Widerspruch 118 Walter Erhart / Britta Herrmann: „Feministische Zugänge – ‚Gender Studies‘“. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 7. Aufl. München 2005. S. 498–515. Hier S. 512.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme



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zur klassischen Erzähltheorie stehen, sondern lassen sich auf der Basis textueller Strukturen auf vielversprechende Weise für Textinterpretationen anwenden. In dem anschließenden Kapitel soll es nun um ein gänzlich anderes Verständnis des Begriffes der Stimme gehen, als es bisher innerhalb der vorliegenden Typologie vorgestellt wurde. Denn die nun folgende Kategorie der figuralkonstruierten Stimme tritt im Sinne des hier zugrunde gelegten Kommunikationsmodells von Dieter Janik nicht als ein auf einer bestimmten Erzählebene angesiedelter Kommunikationsteilnehmer innerhalb des literarischen Textes auf, sondern die Existenz der gehörten Stimme ist einzig an die Psyche der sie hörenden Figur gebunden – dies jedoch mit weitreichenden Konsequenzen innerhalb der Struktur des Textes und für die erzählte Welt.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme Im Folgenden geht es also um ein gänzlich neues Verständnis einer Aussageninstanz innerhalb fiktionaler Erzähltexte. Die bisherige grundsätzliche Trennung zwischen heterodiegetischen narrativen Instanzen (Neue Kategorien [1]) und homodiegetischen Figurenstimmen (Neue Kategorien [2]) wird für die nun zu erstellende figural-konstruierte Stimme ebenso aufgegeben wie die zusätzliche Binnendifferenzierung zwischen polyphon und kollektiv. Ziel ist es, eine kategorisierende Beschreibungsmöglichkeit für diejenigen Stimmen in fiktionalen Darstellungen anzubieten, die sich der direkten Zuschreibung einer Äußerungsinstanz im Sinne einer Sprechinstanz zwar entziehen, welche aber dennoch innerhalb des Textes durch die Anbindung an die Wahrnehmung der sie hörenden Figur angelegt sind. Sie bekommen also den Status einer Aussageinstanz innerhalb des Textes von der sie hörenden Figur zugeschrieben, welche eine Stimme zu hören vermeint: Der Terminus der Stimme ist hier bewusst gewählt, da die Figur das vermeintlich Gehörte an die Vorstellung von einer anderen Figur anbindet, die gehörte Stimme also letztlich dem Grundmuster einer Vorstellung von einer Person verpflichtet ist. Es gilt zunächst, den Terminus näher zu erklären. Die gewählte Verschränkung von „figural“ und „konstruiert“ impliziert zweierlei: Das Hören der hier definierten Stimme ist zum einen ausschließlich an eine (oder mehrere) Figur(en) in der erzählten Welt gebunden und diese Stimme wird zum anderen – in Folge dieser Bindung – gewissermaßen im Kopf der Figur konstruiert. Die hörende Figur wird auf diese Weise zu einer mehrstimmigen Figur, da in ihr (mindestens) zwei Stimmen entstehen: Die eigene Sprechstimme und eben jene gedanklich

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konstruierte. Aus dieser Anbindung an die Psyche der Figur119 ergeben sich ebenfalls Konsequenzen für den Status der Stimme innerhalb des Erzähltextes, in dem die figural-konstruierte Stimme eben nicht die Rolle eines Kommunikationsteilnehmers einnehmen kann: Sie entspricht weder der extradiegetischen narrativen Instanz, welche mit dem fiktiven Leser kommuniziert, noch äußert sie sich als eine Figur innerhalb der erzählten Welt, die mit anderen Figuren in einen Dialog treten kann. Eine verbal kommunizierte Mitteilung oder gar ein verbaler Austausch mit anderen Stimmen, wie es intradiegetische Figuren untereinander vermögen, ist für die figural-konstruierte Stimme also nicht möglich. Trotzdem gilt: Auch wenn das Genettesche System sie nicht zu erfassen vermag, so handelt es sich bei dem hier verhandelten Phänomen doch um eine im Text angelegte Stimme, die innerhalb der erzählten Welt von entscheidendem Einfluss auf das präsentierte Geschehen ist. Sie äußert sich zwar nicht als eine narrative Instanz oder als eine Figurenstimme, aber sie wird grundsätzlich durch diese in Form einer Thematisierung hervorgebracht. Ausgangspunkt einer figural-konstruierten Stimme ist also die besondere psychische Disposition einer Figur. Um diese auch aus theoretischer Perspektive zu erfassen, ist es hilfreich, sich bestimmte Eigenschaften literarischer Figuren in Erinnerung zu rufen. Von grundlegender Bedeutung ist hierbei, dass sich die Darstellung von Figuren in aller Regel an einer Vorstellung des Lebenwesens Mensch orientiert: Figuren sind im Rahmen der erzählten Welt, innerhalb der sie agieren, mit eben den Fähigkeiten und Funktionen ausgestattet, die auch ein Mensch besitzt. Darunter fallen unter diversen Merkmalen eben auch die beiden Möglichkeiten, akustische Reize zu vernehmen und sich selbst mittels des Mediums der Sprache zu artikulieren. Um nun die Konzeptionsweise einer figural-konstruierten Stimme besser zu erfassen, erweist es sich als ausgesprochen erhellend, den Blickwinkel auf die kognitive Narratologie zu erweitern, die bereits dem Leser und seinen kognitiven Parametern im Rezeptionsprozess Rechnung getragen hat.120 Die Verbindung zur kognitiven Narratologie erfolgt hier aber nicht über den außertextuellen Rezipienten und die in ihm wirksamen Schemata, sondern über die Figur als rezipierende Instanz. Sie wird als ein Rezipient verstanden, der sich seinerseits ‚ein Bild‘ von 119 Im Folgenden wird von einer Figur gesprochen, d. h. die Singularform gewählt, wenngleich in manchen Fällen freilich auch mehrere Figuren ein gehörtes Geräusch als eine Stimme rezipieren können. 120 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Monika Fludernik, die davon ausgeht, dass jede Rezeption von Texten eine konstruktivistische ist, bei der der Leser aktiv beteiligt ist. Kognitive Schemata, die auch im Alltagsgespräch wirksam sind, werden auf die Textrezeption übertragen und bilden somit den Rahmen für das Verstehen von Texten. Vgl. Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London / New York 1996.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme



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dem Gehörten und dem folglich von ihm inferierten Urheber der Worte macht, und auf diese Weise das mentale Modell einer vermeintlich sprechenden Figur erzeugt. Bei der Erstellung der Kategorie einer figural-konstruierten Stimme wird also davon ausgegangen, dass sich innerhalb der rezipierenden Figur Abläufe vollziehen, die in ihrer Funktionsweise gewisse Analogien zu den kognitiven Tätigkeiten realer Rezipienten aufweisen. Im Vordergrund steht hierbei der Prozess, aufgrund bestimmter Informationen das mentale Modell einer Figur zu konzipieren. Denn die eindeutige „Identifizierung einer Entität als menschlich“121 ist nach Fotis Jannidis nicht die einzige Möglichkeit, um zu der Vorstellung von einer Figur zu gelangen, sondern dies kann auch auf der Grundlage einer Anthropomorphisierung von „Gegenständen oder fiktiven Gestalten“122 geschehen. Jannidis spricht in diesem Zusammenhang von sprachlichen Äußerungen, die einem Urheber mit einer bestimmten Intention123 zugeschrieben werden, um zu einer gedanklichen Vorstellung von einer Figur zu gelangen – und genau dies passiert auch auf der intradiegetischen Ebene, wenn Figuren akustische Reize rezipieren, die sie dann einem mentalen Modell von Figur zuschreiben.124 Es sei also betont: Der eingangs gewählte Fokus auf die Struktur des Textes wird weiterhin beibehalten, macht sich aber hierbei die Tatsache zunutze, dass es sich bei literarischen Figuren um semiotische Konstrukte handelt, deren Erscheinen innerhalb der erzählten Welt mit ihren Handlungen, Aussagen und Gedankenprozessen beobachtbar ist.125 Demnach ist das Auftauchen einer Stimme als figural-konstruiert mit Genette gesprochen ein discours-Phänomen und somit aus narratologischer Perspektive sowohl beobacht- und beschreibbar, als auch unveränderlich, als der gesamte Text als semiotisches Konstrukt sich in seiner Struktur ja nicht ändert. In dieser Hinsicht besteht die wohl größte Differenz zu einer kognitiven Narratologie, die sich an dem außertextuellen Rezipienten orientiert: Im Gegensatz zu dem Text und seinen Figuren ist der reale Mensch als Rezipient per se diversen Formen eines möglichen Wandels unter121 Jannidis, Figur und Person, S. 112. 122 Ebd. 123 Vgl. ebd., S. 113. 124 Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Theoriebildung des mentalen Modells einer Figur vgl. Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. Hier insbesondere S. 59 ff. 125 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Studie von Alan Palmer: Social Minds in the Novel. Columbus 2010. Palmer legt den Fokus seiner Arbeit auf die kognitiven Prozesse, die für die Inferenzbildung bei der Kommunikation von Kollektiven wirksam sind. Wenngleich Palmer sich also mit sozialen Gruppen beschäftigt, liefert sein Ansatz doch wertvolle Anregungen für das hier ins Zentrum gerückte Thema einer grundsätzlichen Beobachtbarkeit psychischer Vorgänge im (auch individuellen) Bewußtsein der Figur.

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worfen und muss stets mit Rücksicht auf seine individuelle und historische Situation betrachtet werden. Die figural-konstruierte ‚Stimme‘ hingegen stellt eine besondere Form bisher noch nicht berücksichtigter Aussageinstanzen in Erzähltexten dar: Sie ist immer an die Psyche der sie hörenden Figur gebunden und hat außerhalb dieser keine Existenz. Bedenkt man aber, dass sie innerhalb der erzählten Geschichte grundsätzlich eine Auswirkung auf das dargestellte Geschehen hat, so scheint es sinnvoll und notwendig, sie auch theoretisch zu erfassen. Ihr Auftauchen ist nicht zufällig, sondern eine figural-konstruierte Stimme treibt die Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt voran und ist, im Sinne von Wolf Schmids Begriffsverständnis von ‚narrativ‘, zustandsverändernd und somit innerhalb einer Typologie der narrativen Vielfalt und Vielstimmigkeit als eigenständige Kategorie zu ergänzen. Schmid liefert folgende Definition des Narrativen: „Narrativ im weiteren Sinne sollen entsprechend der strukturalistischen Konzeption Repräsentationen genannt werden, die die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen.“126 Auch wenn Schmids Definition des ‚Narrativen im weiteren Sinne‘ mit Blick auf gesamte Repräsentationen entwickelt wurde, so erweist sich ihre Übertragung auf die Konzeption der figural-konstruierten Stimmen innerhalb fiktionaler Darstellungen als sehr sinnvoll, da gerade diese gehörten Stimmen für Zustandsveränderungen im Rahmen der erzählten Welt verantwortlich sind. Anders formuliert: Würde die Figur auf jene im Texte angelegten Stimme(n) nicht hören und auf das von ihr Gehörte reagieren, so würde auch keine Zustandsveränderung eintreten. Somit strukturiert die figural-konstruierte Stimme nicht nur ein zeitliches Nacheinander der Ereignisse, sondern sie verleiht auch den Handlungen der sie hörenden Figur eine bestimmte Kausalität und somit der Gesamtstruktur des Textes Kohärenz. Für die Konstruktion einer figural-konstruierten Stimme sind zwei verschiedene Möglichkeiten gegeben. Die erste Variante ist grundsätzlich an ein tatsächliches Geräusch gebunden, d. h. an etwas, das innerhalb der erzählten Welt hörbar ist. Hierbei kann es sich entweder um einen Laut oder auch um ein Geräusch handeln, welche als eine Stimme fehlgedeutet werden, indem die hörende Figur ihn bzw. es mit einer Stimme verwechselt. Die zweite Spielart der figural-konstruierten Stimme entbehrt jeglicher Form des Geräusches und entsteht als verbale Äußerung – und somit auch als Stimme – einzig innerhalb der subjektiven Wahrnehmung einer Figur. Während jedes im Rahmen der erzählten Welt tatsächlich existierende Geräusch – zumindest theoretisch – auch von einer Gruppe rezipiert werden kann, ist diese zweite Möglichkeit der figural126 Schmid, Elemente, S. 3.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme



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konstruierten Stimme grundsätzlich an einzelne Figuren gebunden und kann somit kein Gegenstand kollektiven Erlebens sein. Als verbindungsstiftend für beide Varianten und zugleich auch als konstitutiv für die Kategorie der figural-konstruierten Stimme erweist sich jedoch, dass grundsätzlich etwas als fremde Rede einer – innerhalb der erzählten Welt vermeintlich existenten – anderen Figur rezipiert wird, welche aber de facto nicht zu dem erzählten agierenden Figurenpersonal gehört. Um die figural-konstruierte Stimme zu erschließen, kommen sowohl extradiegetische als auch intradiegetische Erzählinstanzen in Frage. Hierfür gilt partiell, was Gérard Genette in seinem Discours du récit über die von ihm etablierte Kategorie der narrativen Instanz formuliert hat, nämlich, dass auch die figural-konstruierte Stimme „im Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs […] hinterlassen hat“,127 zu untersuchen ist. Freilich hat sie den Diskurs nicht „hervorgebracht“, wie es bekanntermaßen für die narratologische Kategorie der narrativen Instanz charakteristisch ist (vgl. Genette, Die Erzählung, S. 152). Trotzdem sind ihre ‚Spuren‘ in den Text eingeschrieben und es gilt, diese zu erfassen, wobei es unerheblich ist, ob die Hinweise auf die figural-konstruierte Stimme nun von der narrativen Instanz stammen oder von den Figurenstimmen gegeben werden. Es ist bereits gesagt worden, dass die figural-konstruierte Stimme insbesondere Hinweise auf die erzählte Welt und die psychologische Konzeption einer Figur liefert. Analog zu der polyphonen Figurenstimme, die jede andere Stimme als Zitat in die eigene Stimme einbinden kann, sind auch den möglichen gehörten Stimmen keine Grenzen gesetzt. Konkret bedeutet das, dass eine Figur jede Form von Stimme(n) aus fiktionalen Darstellungen hören kann, wie z. B. die Erzähler oder Figuren anderer Erzähltexte oder auch Dramenfiguren, Figuren aus einem Hörspiel, aus einem Film, etc. sind mögliche (fiktionale) Stimmen, die sich integrieren lassen. Zum anderen ist für das Konstrukt einer fiktiven Figur aber auch denkbar, dass sie die Stimme realhistorischer Personen hört, so dass der Text auf zeitgenössische oder vergangene historische Umstände referieren kann. Und schließlich können die gehörten Stimmen auch anonym sein oder der im Text dargestellten fiktiven erzählten Welt entstammen: Das Feld möglicher Konstruktionen ist offen. Vice versa ergibt sich aus dem zuvor Gesagten nicht nur, dass es sich bei der figural-konstruierten Stimme um eine Kategorie handelt, die für eine kontextorientierte Narratologie geeignet ist (im Sinne einer genaueren Untersuchung des Kontextes, dem die gehörte Stimme entstammt), sondern auch, dass es sich bei der hier erstellten Beschreibungsmöglichkeit um einen Terminus handelt, der zugleich im Rahmen einer transgenerischen und transmedialen 127 Genette, Diskurs, S. 152.

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Narratologie anwendbar ist. Die Kategorie der figural-konstruierten Stimme kann immer dann auf eine fruchtbare Weise für die Analyse einer fiktionalen Darstellung genutzt werden, wenn Figuren handeln, die etwas als eine verbale stimmliche Äußerung verkennen, das de facto entweder ein einfacher Laut bzw. ein Geräusch ist oder lediglich im Kopf der Figur existiert. Bevor drei kurze Modellanalysen von Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer, Edgar Allan Poes Kurzgeschichte „The Murders in the Rue Morgue“ und aus transgenerischer Sicht August Wilsons Drama The Piano Lesson die erstellte Kategorie beispielhaft verdeutlichen, seien die einzelnen Merkmale der figural-konstruierten Stimme noch einmal zusammengefasst: – –





– –

Die figural-konstruierte Stimme ist grundsätzlich an die Wahrnehmung einer oder mehrerer Figur(en) gebunden (konstitutives Merkmal) Als figural-konstruierte Stimme kann ein Geräusch gedeutet werden (als Verwechslung mit einer tatsächlichen intratextuellen Stimme) oder die figural-konstruierte Stimme existiert als Stimme lediglich in den Gedanken einer Figur: Grundsätzlich jedoch gilt, dass die Einordnung der Stimme als Stimme aufgrund der psychischen Disposition einer Figur geschieht, die etwas als fremde Rede rezipiert, das eindeutig keinem Dialogpartner, d. h. keiner dazugehörigen Figur innerhalb der erzählten Welt zuzuordnen ist (konstitutives Merkmal) Der Wirkungsbereich der figural-konstruierten Stimme erschöpft sich innerhalb der erzählten Welt: Die figural-konstruierte Stimme ist keine erzählende Instanz (im Sinne Genettes oder Schmids) im Rahmen eines Kommunikationsmodells, sondern sie fungiert als ein Initiator für Zustandsveränderungen innerhalb der erzählten Welt (konstitutives Merkmal) Die figural-konstruierte Stimme kann sowohl über extradiegetische narrative Instanzen als auch über intradiegetische Figurenstimmen erschlossen werden Die figural-konstruierte Stimme erweist sich als besonders anschlussfähig für die transgenerische Narratologie Zugleich eignet sich die figural-konstruierte Stimme für eine transmedial ausgerichtete Narratologie

3.3.1 Beispieltext: Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer (2004) In Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer (2004)128 berichtet die autodiegetische Erzählinstanz Kata rückblickend von der mit ihrem kleinen Bruder Isti verbrachten Kindheit in Ungarn. Ausgangspunkt der Narration ist die Flucht der

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gemeinsamen Mutter in den Westen, welche ihre beiden Kinder verwirrt und hilflos zurücklässt. Für die Geschwister beginnt nun zusammen mit ihrem überforderten Vater eine Odyssee durch das Land, die sie zu diversen Verwandten und an verschiedene Orte führt. Eine neue Heimat wird bei der plan- und ziellosen Reise, deren Fortführung hauptsächlich Zufällen unterliegt,129 nicht gefunden, im Gegenteil: Die beständige Suche nach einem neuen Zuhause und der mehrfach unternommene Versuch von Vater und Kindern, das Leben nach dem Abschied der Mutter wieder in geordnete Bahnen zu lenken, misslingt zum wiederholten Male. Der beständige Wechsel von Ankommen und in absehbarer Zeit wieder Aufbrechen zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der beiden Kinder und bleibt nicht ohne Folgen. Insbesondere Katas jüngerer Bruder Isti ist durch den Weggang der Mutter schwer traumatisiert und entfernt sich durch die Flucht in eine eigene Welt sukzessive von der intradiegetischen Realität. Seinem letztlich in Folge einer Unterkühlung und Entkräftung eintretenden Tode geht eine längere Leidenszeit voraus, in der sich Istis psychischer Zustand zusehends verschlechtert und er ein zunehmend besonderes Verhältnis zu Stimmen und zur Sprache als Kommunikationsmedium aufbaut. Im Laufe der Reise zeichnet sich eine Entwicklung ab, die von einem noch spielerisch geprägten Umgang beider Geschwister mit der imaginierten Stimme der abwesenden Mutter130 über das nur von Isti zelebrierte Hören von Gegenständen führt, und letztlich in einer sich steigernden Abkehr von der dargestellten Realität kulminiert, auf deren Höhepunkt Isti kurz vor seinem eigenen Tode beginnt, mit seinem bereits vor Jahren durch einen Suizid verstorbenen Großvater zu kommunizieren. Zu Beginn des Romans wird deutlich, dass die Tätigkeit des Erzählens für beide Kinder von klein auf einen bedeutenden Raum eingenommen hatte. So erinnert sich Kata: „Als es meine Mutter für mich noch gab, erzählte sie uns Märchen, die mein Bruder für die Wahrheit hielt“ (Bánk, Der Schwimmer, S. 8). Aus dieser lakonischen Äußerung geht hervor, dass von Isti die beiden Bereiche der Realität und der Phantasie bereits zu einem früheren Zeitpunkt nicht klar voneinander unterschieden worden sind. Mit zunehmender Ernsthaftigkeit beschäftigt er sich mit Erscheinungen in der Natur und auch mit Gegenständen, 128 Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer. Frankfurt am Main 2004. Alle folgenden Bánk-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. 129 Vgl. etwa den einigermaßen hastigen Aufbruch aus Szerencs, dessen Gründe der Text nur indirekt mit einer wahrscheinlichen Liebesaffäre des Vaters Kálmán mit der Braut eines anderen Mannes andeutet (vgl. S. 51 ff.) oder den Weggang aus Siófok, nachdem das Haus der Obdach gewährenden Verwandten abgebrannt ist (S. 229 ff.). 130 Vgl. z. B. die als vorgegebene Dialoge getarnten Selbstgespräche ihrer Großtante Zsófi, die zum Trost der beiden Kinder angibt, sie könne die Stimme der Mutter hören und wisse daher, dass es dieser gut ginge (vgl. Bánk, Der Schwimmer, S. 43).

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welche de facto nicht zu hören sind, von ihm aber als ein akustisches Phänomen wahrgenommen werden, wie seine Schwester Kata retrospektiv erläutert: Das einzige Gefühl, das mich in diesen Zeiten nicht verließ, ganz gleich, was mit uns geschah oder wo und bei wem wir waren, war meine Angst um Isti. […] Seit dem Herbst, in dem meine Mutter in einen Zug gestiegen war, seit Isti Stunden und Tage damit verbrachte, auf dem Bett zu liegen und zu dämmern, seit er angefangen hatte, Dinge ohne Ton zu hören, hatte ich Angst um ihn, und ich wurde diese Angst nicht mehr los. (Bánk, Der Schwimmer, S. 103)

Parallel zu dieser psychischen Veränderung vollzieht sich bei Isti ein körperlicher Lernprozess, der ebenfalls nach und nach sein Leben bestimmt und als ein wichtiger Entwicklungsschritt im Prozess des menschlichen Heranwachsens gedeutet werden kann. Er erlernt das Schwimmen, wobei jedoch schnell deutlich wird, dass es sich hierbei für ihn weder um eine bloße Freizeitbeschäftigung noch um einen einfachen Schritt seiner kindlichen Entwicklung handelt. Das Wasser übt eine derart starke Anziehungskraft auf ihn aus, dass sich sein regelmäßiger Gang in die Fluten schon bald jeder rationalen Steuerung entzieht: Es gab keinen Grund für Isti, nicht im Wasser zu sein, er kümmerte sich weder ums Wetter noch um Mahnungen oder Verbote. Er landete mit einem Sprung im See, überall und jederzeit, und die anderen fingen an zu sagen, festbinden müsse man ihn, an eine Leine. (Bánk, Der Schwimmer, S. 85)

Blickt man zurück auf den von seinem Vater erzwungenen und zugleich sehr schmerzhaften Aufbruch aus seinem früheren Heimatort, (vgl. Bánk, Der Schwimmer, S. 13 f.) lässt sich feststellen, dass Isti sich seit dem Verlust seines Zuhauses, das ihm Ruhe und Schutz bot, in einem ständigen und von ihm selbst willentlich nicht kontrollierbaren Zustand eines ‚Dazwischen‘ befindet. So wird die reisende Familie bei den Verwandten stets geduldet, d. h., sie befindet sich zwar nicht direkt in der Fremde, doch sie findet auch kein behagliches Zuhause, und wenn Isti einem inneren Zwang folgend zum Schwimmen ins Wasser geht, so begibt er sich bei seinem risikoreichen Verhalten in dem fremden Element stets an die Schwelle zu einem möglichen unfallbedingten Tod, welcher letztlich auch eintritt. Als stärkste Form einer Fremdbestimmung und zugleich als verbindungsstiftend zwischen der räumlichen Einschränkung durch den Vater und der unkontrollierbaren Anziehung durch das Wasser erweisen sich jedoch die sich infolge seiner psychischen Erkrankung einstellenden Stimmen, denen sich Isti weder an Land noch zu Wasser entziehen kann. Gerade weil die Stimmen an sein Bewusstsein – und somit unmittelbar an seinen Körper – gebunden sind (d. h. weder an eine fremde Person, wie den Vater, noch in ihrer potenziellen Gefahr an ein bestimmtes Element), stellen sie dieje-

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nige Macht dar, die sein Handeln als ständiger Begleiter strukturiert. Anders gewendet: Die Kontrolle durch den Vater ist zeitlich begrenzt und dessen Vormachtstellung könnte – zumindest theoretisch – jederzeit durch eine räumliche Trennung von ihm aufgehoben werden; ähnlich verhält es sich mit dem Element Wasser, welches Isti ebenfalls nicht ständig umgibt. Diese beiden Formen der Einflussnahme auf Isti sind im Gegensatz zu den gehörten Stimmen nicht körperlich an seine Person gebunden, so dass zumindest die potenzielle Möglichkeit besteht, sich ihnen zu entziehen. In der folgenden paradigmatischen Analyse soll nun die Kategorie der figural-konstruierten Stimme mit dem narrativen Handlungsmodell der Anthropologie verknüpft werden. Zugrunde gelegt wird hierfür der Ansatz Arnold van Genneps und die daran anknüpfende Ausarbeitung Victor Turners hinsichtlich des Zustands der Liminalität. Dafür ist zunächst jedoch ein genauerer Blick auf Isti und seinen sich sukzessive verschlechternden psychischen Zustand erforderlich. Der Beginn des Hörens von Stimmen lässt sich zurückverfolgen und mit dem Sommer seiner Ankunft in Siófok datieren. Hier beschäftigt sich Isti offensichtlich erstmalig bewusst mit dem Weggang seiner Mutter und wird zusätzlich durch die Äußerungen seiner Verwandten mit ihrer Flucht konfrontiert. So erfährt der Leser durch seine Schwester Kata zunächst, dass Isti jede Gelegenheit nutzt, um seine Mutter zum Gegenstand von Geschichten zu machen und ihr auf diese Weise – wenn dies schon nicht innerhalb der intradiegetischen Realität gelingt, so doch zumindest in metadiegetischen Fiktionen – nahe zu sein: Ági [eine Großtante der Kinder, S. R.] [kam] zu uns unters Dach und erzählte Geschichten, für die Isti oder ich den ersten Satz vorgeben durften. Istis Geschichten fingen an mit Meine Mutter hatte einen Hut oder Meine Mutter konnte Kuchen backen oder Meine Mutter wollte einmal singen, während meine Geschichten begannen mit Wenn der Vogel fliegt oder Wenn der Frühling kommt oder Majestät hat sich angekündigt. Immer hatten Ágis Erzählungen ein gutes Ende, und ich begann mich darauf zu verlassen, daß es das geben konnte: eine Erzählung mit einem guten Ende. (Bánk, Der Schwimmer, S. 71 f.)

Die Dialoge über die Mutter beschränken sich jedoch nicht auf wohlwollende Geschichten mit einem guten Ende, sondern Kata und Isti sind offensichtlich auch regelmäßig dem Unverständnis ihrer Verwandtschaft ausgesetzt, welche über die möglichen Gründe der Flucht ihrer Mutter spekuliert und den Kindern so auf verletzende Weise den Schmerz über den eigenen Verlust in Erinnerung ruft – mit weitreichenden Konsequenzen für den jungen Isti: Wenn Ági mehr als zwei Gläser Schnaps getrunken hatte, änderte sich ihre Stimme, und sie fragte mich, sie hat euch verlassen, ja? Den Hof, die Jauchegrube, den Gottesdienst, ja? Und ihr wundert euch? Ági fragte, ohne eine Antwort haben zu wollen, und sie fragte in einem Ton, den ich nicht vergaß, weil er alles einfärbte, was Ági tat oder sagte. In die-

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sem Sommer fing Isti an, Dinge zu hören, die keinen Laut von sich gaben. (Bánk, Der Schwimmer, S. 72)

Aus den oben zitierten Textpassagen wird zweierlei deutlich: Zum einen befindet sich Isti auf einer Suche nach seiner Mutter, die er seit ihrer Flucht schmerzlich entbehrt. Die im Rahmen der erzählten Welt erdachten, fiktiven Geschichten über sie dienen ihm dazu, den empfundenen Verlust zumindest temporär ein wenig zu lindern und sich ihr auf eine spielerische Weise näher zu fühlen. Aus den im Alkoholrausch gesprochenen ehrlichen Worten der Großtante Ági geht aber auch hervor, dass der Weggang der Mutter offenkundig in der Unzufriedenheit mit ihren Lebensumständen begründet liegt und aus der Sicht einer Erwachsenen zumindest nachvollziehbar erscheint. Zudem lässt die einigermaßen emotionslose Analyse der Situation durch Ági wenig Hoffnung auf eine Rückkehr der Mutter beider Kinder zu. Istis verzweifelte Suche nach seiner Mutter lässt sich dem Handlungsschema einer Quest zuordnen und kann mit dem Anthropologen Arnold van Gennep als ein Übergangsritus näher spezifiziert werden. Van Gennep liefert hierzu folgende Definition: Übergangsriten erfolgen also, theoretisch zumindest, in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integrationsphase. […] Das dreigliedrige Schema der Übergangsriten teilt sich in bestimmten Fällen noch weiter auf – nämlich dann, wenn die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase genügend ausgestaltet ist, um eine Phase für sich zu bilden.131

Die Ablösungsphase ist für Isti sogar durch eine doppelte Trennung gekennzeichnet: Zunächst wird er von seiner Mutter verlassen und muss daraufhin unter der Bestimmung seines Vaters mit diesem und der Schwester von seiner Heimat Abschied nehmen. Diese Phase ist bei Isti bestimmt durch den Akt des Geschichtenerzählens, der ihm seit frühester Kindheit durch seine Mutter vertraut ist und das die Anfangszeit seiner Reise durch das Land kennzeichnet. Das Erzählen von Geschichten ist somit eng an die Figur der Mutter gekoppelt: Sie ist diejenige, die Isti einst als erzählendes Subjekt mit Geschichten in Berührung brachte und wird nach ihrem Weggang zum Objekt des Erzählten; somit verleiht sie in beiden Funktionen den Narrationen Struktur, sei es als erzählende Instanz selbst oder als Gegenstand des Erzählten. Eine dauerhafte Kompensation des Verlustes lässt sich durch das Geschichtenerzählen jedoch nicht bewerkstelligen, da das Bild der Mutter in den erdachten Erzählungen mit ihren Handlun-

131 Arnold van Gennep: Übergangsriten [EA 1909]. Frankfurt / New York 1986. Hier: S. 21.

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gen und ihrem Ansehen bei den Verwandten innerhalb der fiktionsinternen Realität kollidiert. Es besteht ein offensichtlicher Widerspruch zwischen Istis Wunsch und fiktionaler Realität, der die weitere Entwicklung des Jungen auf erhebliche Weise beeinflusst. So führt die ständige Konfrontation mit dem ambigen Bild der eigenen Mutter dazu, dass sich Isti aus der fiktionsinternen Realität zunehmend entfernt und sich in eine Welt des Irrealen begibt, die durch das subjektive Hören von Stimmen gekennzeichnet ist. Anhand der Struktur seiner psychischen Veränderung lässt sich also eine Isomorphie zwischen Istis Entwicklung und dem vorherigen Verhalten der Mutter beobachten: Beide haben sich aus der fiktionsinternen Realität verabschiedet (die Mutter räumlich, der Sohn sukzessive psychisch), und beide befinden sich auf der Flucht in eine vermeintlich bessere Welt, welche die Mutter in einem neuen Lebensraum zu finden hofft, während sich Isti in eine gedankliche Welt flüchtet. Bei seiner Suche nach der Mutter tritt Isti – initiiert durch die von ihm gehörten Stimmen – in einen Schwellenzustand ein. Diese Phase ist im Falle der Figur Isti dadurch gekennzeichnet, dass er nicht nur durch seine psychische Disposition von dem Hier und Jetzt der anderen Figuren getrennt ist, sondern auch dadurch, dass er sich immer häufiger physisch dem früheren Lebensraum entzieht und durch seinen Gang ins Wasser eine körperliche Distanz zu der Familie an Land schafft. Dieser Schwellenzustand wird von Victor Turner in Anlehnung an van Genneps Konzept ausgearbeitet und folgendermaßen charakterisiert: In der mittleren „Schwellenphase“ ist das rituelle Subjekt (der „Passierende“) von Ambiguität gekennzeichnet; es durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist. […] Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der „Liminalität“) oder von Schwellenpersonen („Grenzgängern“) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.132

Auf diesen Schwellenzustand, in dem Isti sich befindet, folgt jedoch keine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, die als eine Form der Weiterentwicklung die Quest abschließt, wie Turner in seinem Resümee des Strukturschemas erläutert:

132 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [EA 1969]. Frankfurt / New York 2005. S. 94 f.

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Die dritte, von van Gennep als Angliederung oder Inkorporation bezeichnete Phase umfaßt symbolische Phänomene und Handlungen, die die Rückkehr der rituellen Subjekte in die Gesellschaft und zu ihren neuen, relativ stabilen und genau definierten Positionen darstellen. Für diejenigen, die ein Ritual des Lebenszyklus’ durchlaufen haben, bedeutet das gewöhnlich einen höheren Status, einen Schritt weiter auf der kulturell vorbestimmten Straße des Lebens […].133

Dass die Phase der Angliederung von Isti nicht erreicht wird, sondern er bis zu seinem Tod in der Schwellenphase verharrt, liegt in seiner durch die gehörten Stimmen strukturierten psychischen Entwicklung begründet: Obwohl er – gemäß dem oben erläuterten Schema der Initiation – mit dem rituellen Erlernen des Schwimmens einen körperlichen Entwicklungsschritt vollzogen hat und somit zugleich eine Hürde auf dem Weg zur Erwachsenengesellschaft gemeistert hat, weist seine psychische Disposition den Weg in eine andere Richtung. Denn auch der regelmäßige und häufige Gang in den örtlichen See unterliegt nicht primär Istis Willen, sondern ist – wenngleich er bereits als einigermaßen ‚wetterfest‘ beschrieben wurde (s. o.) – in erster Linie dem Wandel der Natur unterworfen. So scheint es nicht verwunderlich, dass Istis seelischer Zustand in Siófok sich zu einer Zeit verschlechtert, in der er sich nicht in das ihn aus seiner Perspektive schützende Wasser flüchten kann: Wenn Ági die Fenster mit einem Stück Leder putzte und dabei dieser Ton entstand, von dem Isti meinte, er klinge schlimmer als eine Maus, die man in einem Karton gefangenhält, oder wenn Zoltán im Zimmer unter uns schnarchte, zur Mittagszeit, schrie Isti, er solle damit aufhören, sein Schädel drohe zu platzen, und Ági brüllte zurück: Leben hier nur Verrückte. Weil es schon zu kalt war, um zu baden, lag Isti auf dem Bett und starrte an die Decke. Er hörte Geräusche, die es hier nicht gab, und bald vertrieben wir uns die Zeit damit, auf dem Bett zu liegen und etwas zu hören, von dem ich weiß, Isti hat es wirklich gehört, nicht nur in seiner Vorstellung. (Bánk, Der Schwimmer, S. 104 f.)

Im Spätwinter wird Istis psychische Erkrankung von seiner Schwester als soweit fortgeschritten beschrieben, dass ihm „gleichgültig [war], was geschah, mit uns, mit ihm, mit mir [Kata, S. R.]“ (vgl. Bánk, Der Schwimmer, S. 185) und dass er fortan „die Dinge [nahm], wie sie kamen“ (ebd.). In letzter Konsequenz gipfelt seine Abkehr von den mit ihm gemeinsam lebenden Menschen darin, dass er sich der Stimme eines längst verstorbenen Familienmitglieds zuwendet. Wie die Erzählerin schildert, beginnt Isti bereits in dem folgenden Winter, die Stimme seines verstorbenen Großvaters zu hören:

133 Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels [EA 1982]. Frankfurt / New York 2009. S. 35.

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Isti fing an, mit ihm zu reden, und irgendwann erklärte er, Miklós [der verstorbene Großvater, S. R.] habe gesagt, morgen käme ein Brief, ein wichtiger Brief, und ich wußte nicht, ob Isti nur mit uns spielte, aber der Postbote brachte am nächsten Morgen wirklich einen Brief, und er trug ihn so, als wüßte er, was darin stand, als wüßte er, daß er ihn so zu tragen hatte, wie er ihn trug […]. (Bánk, Der Schwimmer, S. 246)

Nachdem Isti an einem Wintertag auf einem zugefrorenen Fluß ins Eis eingebrochen war (vgl. Bánk, Der Schwimmer S. 271 ff.) und darauf in einer Art Dämmerzustand von der Familie bis zu seinem Tod gepflegt wird, offenbart sich in aller Deutlichkeit der enge Zusammenhang zwischen der vergeblichen Suche nach der Mutter und Istis beständigem Drang ins Wasser zu gehen: Niemand schimpfte mit Isti, als er uns erzählte, wie er zum Fluß gelaufen war, obwohl Zsófi es verboten hatte. Keiner wunderte sich, als er uns erklärte, in seinem Kopf sei es längst schon Frühling gewesen, der Schnee, die Kälte, das Eis, all das sei ihm nicht aufgefallen, er habe es nicht bemerkt, einfach nicht bemerkt, und niemand staunte, als Isti sagte, er habe sie übers Wasser laufen sehen, seine Mutter, und er habe ihr bloß folgen wollen. (Bánk, Der Schwimmer, S. 277)

Zwischen dem Gang ins Wasser und dem Wunsch nach der Nähe der Mutter besteht zudem ein Zusammenhang, der über die offensichtliche Symbolik einer Rückkehr in den schützenden Mutterleib hinausgeht. Schon kurz nach seinen ersten erfolgreichen Schwimmversuchen hatte Isti erklärt, dass das Schwimmen und seine Familie für ihn in einem engen Zusammenhang stehen: Isti sagte, er trainiere. Für die Zukunft, für die Meisterschaft, für seine Freundin Virág, für die Gesundheit, für eine Schülermedaille, für die olympischen Spiele in fünfzehn Jahren und für die Familie. Als mein Vater ihn fragte, für welche Familie, erwiderte Isti: für meine, welche sonst. (Bánk, Der Schwimmer, S. 84)

Aus der taktlosen Bemerkung des Vaters geht hervor, weshalb das Schwimmen als Initiationsritual des Erwachsenwerdens versagt und es für Isti zugleich keine Möglichkeit gibt, seinen Schwellenzustand erfolgreich zu überwinden: Die Familie, welche als kleinste Form der menschlichen Gesellschaft fungiert, ist zerbrochen und somit als Ziel für eine Angliederung nicht mehr existent. Anders formuliert: Istis Versuch, durch seine sportliche Leistung Anerkennung, Zuneigung und Aufnahme in der Erwachsenenwelt seiner Familie zu finden, ist zum Scheitern verurteilt, da die Gemeinschaft der Familie seitens der Eltern aufgekündigt wurde: Durch die Mutter, indem sie ihre Familie verlassen hatte, und durch den Vater, indem dieser eine weitere Existenz der Gemeinschaft als eine Familie negiert. Istis fruchtloses Bemühen um eine (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft der Familie gleicht einer Sisyphos-Arbeit, bei der er sich durch

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seinen letzten Weg zum Fluss derart erschöpft, dass es ihn das Leben kostet. Eine Angliederung an die familiäre Gemeinschaft ist also ausgeschlossen, da sie in ihrer vorherigen Struktur (Vater, Mutter, Kinder) de facto nicht mehr besteht. Aus diesem Grunde lässt sich der Schwellenzustand von Isti auch nicht durch eine Rückkehr zu dem Ursprungszustand verlassen: Er kann weder seine frühere Rolle des behüteten Kindes einnehmen noch sich in der Welt der erwachsenen Familienmitglieder etablieren. Der Schwimmer kann also als eine Initiationsgeschichte gelesen werden, in welcher der Initiand an der erfolgreichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft scheitert. Das Misslingen des Übergangs ist bemerkenswerterweise hier jedoch nicht in erster Linie an ein Versagen Istis gebunden, sondern liegt primär in dem Selbstbild der Gemeinschaft begründet, in die er sich einzufügen versucht. Van Gennep liefert folgende Definition des Begriffs der Gesellschaft, welchen er seiner Untersuchung zugrunde legt: Man kann eine Gesellschaft mit einem Haus vergleichen, das in Zimmer und Flure unterteilt ist. Je mehr die Gesellschaft in ihrer Zivilisationsform der unseren ähnelt, umso dünner sind die Trennwände zwischen den Zimmern und um so weiter stehen die Türen der Kommunikation offen. In einer halbzivilisierten Gesellschaft dagegen sind die einzelnen Räume sorgfältig voneinander isoliert. Um von einem Raum in den anderen zu gelangen, sind Formalitäten und Zeremonien erforderlich […].134

In dem Roman von Bánk aber wird – um bei van Genneps Metaphorik zu bleiben – ein Haus präsentiert, in welchem nicht einmal mehr eine halbzivilisierte Gesellschaft besteht und sich einzelne Flure und Zimmer bereits von dem Haus abgeschottet haben: Der Weg zu ihnen ist versperrt und sie begreifen sich selbst als nicht mehr dem Hause zugehörig, wenngleich sie ihrem Status nach noch immer Teil des Gebäudes sind. So können sich zwar die flüchtige Mutter und der sich demonstrativ von seinen Kindern abwendende Vater nicht von ihrem Status als Erzeuger der beiden Kinder lossagen, sie übernehmen aber nicht mehr die Funktion eines Elternteils. Indem sie ihre Aufgabe innerhalb der familiären Gemeinschaft negieren, zerstören sie die Funktionsfähigkeit ihrer kleinen Gesellschaft, welche nur noch auf dem Papier besteht. Der verzweifelte Versuch Istis, seiner Mutter ins Wasser zu folgen und somit durch eine Wiedervereinigung mit ihr die ursprünglichen Familienverhältnisse wiederherzustellen, muss kläglich scheitern, da ihr vermeintliches Erscheinen im Fluss lediglich ein Symptom seiner Erkrankung darstellt und der Text keinerlei Hinweise auf eine tatsächliche Rückkehr der Mutter zu ihrer Familie liefert (vgl. S. 277). Die einzige Möglichkeit für Isti, den Schwellenzustand zu verlas134 van Gennep, Übergangsriten, S. 34.

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sen, bietet in letzter Konsequenz der Tod, der für ihn den letzten Schritt auf dem Weg aus der intradiegetischen Realität bedeutet und welchen er durch seinen sich sukzessive verschlechternden psychischen Zustand längst eingeschlagen hatte. Auf diese Weise erhält die künstlerische Komposition des Textes nun eine Geschlossenheit, da nur der Ausweg in den Tod den – andernfalls stagnierenden – Schwellenzustand Istis aufzuheben vermag. Zugleich wird mit dem Thema der Flucht am Ende ein Motiv aufgegriffen, das in Form der aus Ungarn geflohenen Mutter die Handlung direkt zu Beginn in Gang gesetzt hatte, so dass der Narration neben der Geschlossenheit auch eine Kreisstruktur verliehen wird.

3.3.2 Beispieltext: Edgar Allan Poe: „The Murders in the Rue Morgue“ (1841) Edgar Allan Poes 1841 publizierte Erzählung „The Murders in the Rue Morgue“135 gilt als der Prototyp der klassischen Detektivgeschichte und thematisiert die Aufklärung eines mysteriösen Verbrechens, das es retrospektiv nachzuvollziehen gilt. Die berichtete Handlung setzt zu einem Zeitpunkt ein, als sich die eigentliche Tat – die äußerst brutale Ermordung zweier Frauen in Paris – bereits vollzogen hat und wird von einer anonymen homodiegetischen Erzählinstanz geschildert, die dem Protagonisten, Auguste C. Dupin, dabei assistiert, den für die Polizei offensichtlich unlösbaren Fall aufzuklären. Von der Erzählinstanz erfährt man: Nachdem sein Bekannter Dupin und er durch eine Zeitungsnotiz von dem Verbrechen erfahren haben, setzt Dupin alles daran, mittels der analytischen Fähigkeiten seines Verstandes den Akt der Ermordung beider Frauen nachzuvollziehen. Ein besonderes Hindernis bei der Aufklärung stellt die Tatsache dar, dass sich die Gewalttat in einem abgeschlossenen Raum ereignet hat, den der Täter – zumindest nach menschlichem Ermessen – eigentlich nicht hätte verlassen können, da Fenster und Türen beim Eintreffen der Polizei von innen verriegelt waren. Letztlich wird sich herausstellen, dass ein von einem Seemann entlaufener Orang-Utan in die Wohnung eingedrungen war und die beiden Frauen mit – im wörtlichen Sinne – übermenschlichen Kräften getötet hat und durch ein Fenster entkommen ist. Eine entscheidende Rolle beim Verstehen der rückblickend betrachteten Ereignisse kommt den ‚Zeugenaussagen‘ verschiedener namentlich genannter Figuren zu, die das eigentliche Geschehen zwar nicht beobachtet haben, aber zu akustischen Zeugen der auf die Ermor135 Edgar Allan Poe: „The Murders in the Rue Morgue“. In: Patrick F. Quinn / G. R. Thompson (Hg.): Edgar Allan Poe. Poetry, Tales, and Selected Essays. New York 1996. S. 397–431. Alle PoeZitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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dung folgenden Situation geworden sind: Sie alle haben die auf Französisch gesprochenen Worte des Entsetzens durch den Seemann vernommen, der seinen entlaufenen Orang-Utan gesucht hatte und schließlich des Verbrechens gewahr wurde, das von seinem Tier verübt wurde. Wichtiger für die an dieser Stelle fokussierte Kategorie der figural-konstruierten Stimme ist jedoch, dass die Äußerungen des Tierbesitzers nicht ausschließlich als dessen Ausdruck der Fassungslosigkeit angesichts der brutalen Tat verstanden worden sind, sondern – in Kombination mit den Lauten des Orang-Utans – als Teil eines Dialoges zwischen zwei miteinander streitenden Stimmen interpretiert wurden. Wenngleich die Zeugenaussagen, wie im Anschluss noch genauer betrachtet werden soll, einander im Detail und vor allem bezüglich der Nationalität der Sprechenden widersprechen, so verbindet sie doch ein entscheidendes Merkmal: Alle zu dem Geschehen getroffenen Äußerungen berichten von einem lautstarken Gespräch zwischen zwei Erwachsenen – und missdeuten somit die tierischen Laute des Orang-Utans als eine menschliche Stimme, die in Übereinstimmung der Befragten als schrill und fremd charakterisiert wird, wie Dupin gegenüber seinem Freund erläutert: In regard to the shrill voice, the peculiarity is – not that they disagreed – but that, while an Italian, an Englishman, a Spaniard, a Hollander, and a Frenchman attempted to describe it, each one spoke of it as that of a foreigner. Each is sure that it was not the voice of one of his own countrymen. (Poe, “The Murders in the Rue Morgue”, S. 415)

Alle zitierten Aussagen zeichnen sich also dadurch aus, dass die folgende grundsätzliche Einigkeit besteht: Die vernommene Stimme wird zweifelsfrei einem Menschen zugeordnet, der kollektiv als fremd empfunden wird. Diese Einschätzung ist insofern bemerkenswert, als die Zeugen – die jeweils unterschiedlichen Nationalitäten angehören – die gehörte Stimme diversen Ländern zuordnen, welche andere Zeugen wiederum als Landsmann ausschließen: Each [witness, S. R.] likens it – not to the voice of an individual of any nation with whose language he is conversant – but the converse. The Frenchman supposes it the voice of a Spaniard, and ‘might have distinguished some words had he been acquainted with the Spanish’. The Dutchman maintains it to have been that of a Frenchman; but we find it stated that ‘not understanding French this witness was examined through an interpreter.’ The Englishman thinks it the voice of a German, and ‘does not understand German.’ The Spaniard ‘is sure’ that it was that of an Englishman, but ‘judges by the intonation’ altogether, ‘as he has no knowledge of the English.’ The Italian believes it the voice of a Russian, but ‘has never conversed with a native of Russia.’ A second Frenchman differs, moreover, with the first, and is positive that the voice was that of an Italian; but, not being cognizant of that tongue, is, like the Spaniard, ‘convinced by the intonation.’ (Poe, “The Murders in the Rue Morgue”, ebd.)

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Übereinstimmend werden die gehörten Laute also einer Sprache zugeordnet, welcher die jeweils Aussagenden, wie sie allesamt bekennen, nicht mächtig sind. Trotzdem wird das Gehörte zweifelsfrei als Ausdruck menschlicher Sprache und als Bestandteil eines Dialoges interpretiert. In diesem Falle handelt es sich bei der figural-konstruierten Stimme also um jene Variante, welche sich durch eine Fehldeutung von Geräuschen – oder hier vielmehr tierischer Laute – auszeichnet; sie ist nicht an die besondere Wahrnehmung einer einzelnen Figur gebunden (wie im Falles Istis in dem zuvor betrachteten Roman Der Schwimmer von Zsuzsa Bánk), sondern sie geht aus einer kollektiven Fehleinschätzung tatsächlich vorhandener akustischer Signale hervor. Die Kategorie der figural-konstruierten Stimme in Edgar Allan Poes Text bietet sich nun in besonderer Weise für die nähere Betrachtung aus Sicht einer kognitionspsychologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft an, da die Konstruktion der von den Zeugen gehörten Stimme auf einer bestimmten Form der Verarbeitung von Informationen basiert, auf welche die Kognitionspsychologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Augenmerk richtet. Folglich orientiert sich Poe nicht an modernen psychologischen Erkenntnissen, sondern demonstriert anhand seiner Figuren eine bestimmte Verhaltensweise, welche in ihrer theoretischen Struktur erst mehr als ein Jahrhundert später erfasst worden ist. Dieser erstaunlich moderne Aspekt des Textes bildet den Kern der folgenden kurzen Modellanalyse. Bereits in ihrer Einführung in die Erzähltheorie haben Matías Martínez und Michael Scheffel in „The Murders in the Rue Morgue“ ein Paradebeispiel dafür gesehen, wie fiktionale Texte den Fokus innerhalb ihrer Erzählstruktur darauf legen können, die Neugierde des Lesers anzuregen.136 Der Kategorie der figuralkonstruierten Stimme kommt beim Aufbau der Neugierde des Rezipienten nun insofern eine bedeutsame Rolle zu, als sie den Leser einerseits mit Informationen über ein vermeintliches Streitgespräch zweier Erwachsener versorgt, andererseits in ihrer Widersprüchlichkeit als eine Stimme, deren Sprechen keiner Nationalsprache eindeutig zugeordnet werden kann, aber auch genügend Raum für Spekulationen lässt und somit das Interesse des Rezipienten aufrecht erhält. William F. Brewer gibt folgende Definition für ein an der Neugierde des Rezipienten ausgerichtetes Erzählschema:

136 Vgl. Martínez / Scheffel, Einführung, S. 152. An dieser Stelle unterscheiden Matías Martínez und Michael Scheffel die Variante des an der Neugier des Lesers orientierten Erzählschemas noch von jenen Erzählstrukturen, die entweder auf einen Überraschungseffekt abzielen oder Spannung erzeugen wollen. Vgl. hierzu auch den im Folgenden zitierten Text von William F. Brewer: „The Story Schema: Universal and Culture-Specific Properties“. In: David R. Olson u. a. (Hg.): Literacy, Language, and Learning. The Nature and Consequences of Reading and Writing. Cambridge 1985. S. 167–194.

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An event structure capable of producing curiosity must include a significant event early in the event sequence. In a curiosity discourse structure the significant event is withheld from the discourse, but […] it provides enough information about the earlier event to let the reader know that the information is missing. This discourse structure leads the reader to become curious about the withheld information.137

Der Effekt des von Brewer charakterisierten Erzählschemas, nämlich die Neugierde des Rezipienten auf die ihm vorenthaltenen Informationen anzuregen, lässt sich hinsichtlich der in „The Murders in the Rue Morgue“ verwendeten figural-konstruierten Stimme mit der einst von Genette gestellten Frage: Wer spricht? zusammenfassen: Dem Leser werden genügend Informationen darüber gegeben, dass sich am Tatort ein zweiter, sich mittels akustischer Signale artikulierender Sprecher aufhält, der mit einem französischsprachigen Mann kommuniziert. Die Frage jedoch, die sowohl den neugierigen Rezipienten als auch die anonyme Erzählinstanz beschäftigt, betrifft die nähere Charakterisierung der Sprechinstanz: „while all the witnesses agreed in supposing the gruff voice to be that of a Frenchman, there was much disagreement in regard to the shrill, or, as one individual termed it, the harsh voice“ (Poe, „The Murders in the Rue Morgue“, S. 415). Es stellt sich also die Frage, zu welchem Urheber die schrille Stimme gehört und mit welchem Hintergrund er oder sie sich am Tatort befindet. Die figural-konstruierte Stimme in der hier untersuchten Kurzgeschichte ist demnach ein wichtiger Bestandteil innerhalb einer auf die Neugierde des Rezipienten ausgerichteten Erzählstruktur, da sie sowohl dem Initiator der Handlung, d. h. dem Täter, zugeordnet wird, als auch so charakterisiert ist, dass die ihr zugeschriebenen Leerstellen genügend Raum für Spekulationen seitens des Rezipienten bieten und somit sein Interesse an der Lösung des Falles aufrechterhalten. Ausgehend von der oben skizzierten Erzählstruktur, die sich an der Neugierde des Lesers orientiert, bietet sich aus kognitionspsychologischer Sicht noch eine weitere Untersuchung der Kategorie der figural-konstruierten Stimme an, die den Fokus von der Affektstruktur hin zur Psychologie der Figur verlagert. Betrachtet man die hier dargestellte Generierung der figural-konstruierten Stimme genauer, so lässt sich ein bemerkenswert moderner Ansatz erkennen, den Poe der Verhaltensstruktur seiner Figuren zugrunde legt. Die kollektive Konstruktion der gehörten Stimme folgt einem bestimmten Muster, das in seinen theoretischen Strukturen erst im Zuge des Cognitive Turn138 ab der Mitte des 137 William F Brewer: “The Story Schema: Universal and Culture-Specific Properties”, hier: S. 170. 138 Zu einer näheren Erläuterung des Umschwungs innerhalb der Psychologie vom Behaviorismus hin zur Kognitiven Psychologie vgl. z. B.: John Anderson: Kognitive Psychologie. 6. Aufl. Heidelberg 2007. S. 11 ff.

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20. Jahrhunderts erfasst worden ist und auf der Theorie von Scripts als Grundlage menschlicher Informationsverarbeitung basiert. Entwickelt wurde die Theorie der Ereignisschemata von Roger C. Schank und Robert P. Abelson,139 die ihren Ausführungen zu den Scripts verschiedene Fragen und eine These voranstellen: How do people organize all the knowledge they must have in order to understand? How do people know what behavior is appropriate for a particular situation? […] People know how to act appropriately because they have knowledge about the world they live in. What is the nature and form of that knowledge? How is it organized?140

Die Verarbeitung von Wissen hat also nach Schank und Abelson mit der Kenntnis der Welt zu tun, in der sich der Mensch befindet: Dieses ‚Weltwissen‘ ermöglicht es ihm, in verschiedenen Situationen angemessen zu reagieren. Im Folgenden wird zwischen zwei verschiedenen Klassen differenziert, die beim Verstehensprozess und Interpretieren diverser Situationen zum Tragen kommen: We recognize two classes of knowledge that people bring to bear during the understanding process: general knowledge enables a person to understand and interpret another person’s actions simply because the other person is a human being with certain standard needs who lives in a world which has certain standard methods of getting those needs fulfilled. […] We use specific knowledge to interpret and participate in events we have been through many times. Specific detailed knowledge about a situation allows us to do less processing and wondering about frequently experienced events.141

Bezieht man den oben skizzierten Ansatz nun auf das Verhalten der Zeugen in „The Murders in the Rue Morgue“, so lässt sich ihr Verhalten bei der Interpretation des ‚Dialogs‘ zwischen dem Französisch sprechenden Seemann und der anonymen anderen Stimme eindeutig unter die zweite Kategorie des specific knowledge subsumieren. Die dargestellten Figuren interpretieren das Gehörte als Variante einer ihnen wohl vertrauten Situation, nämlich dem Streitgespräch zwischen zwei verschiedenen Parteien. Die Tatsache, dass lediglich ein Sprecher als sprachmächtig, im Sinne von einer Nationalsprache kundig, erkannt wird, spielt für die generelle Einordnung des Gehörten als ein vermeintlicher Dialog offensichtlich keine Rolle, da alle auf ein bestimmtes Script zurückgreifen, welches sich gewissermaßen als ‚lautstarke Meinungsverschiedenheit zweier Parteien‘ zusammenfassen lässt. Die abstrahierte Definition eines Scripts lautet bei Schank und Abelson folgendermaßen: 139 Roger C. Schank / Robert P. Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale 1977. 140 Ebd., S. 36. 141 Ebd., S. 37.

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A script is a predetermined, stereotyped sequence of actions that defines a well-known situation. Scripts allow for new references to objects within them just as if these objects had been previously mentioned.142

Für das Script der ‚Meinungsverschiedenheit‘ spielt es also ganz offensichtlich keine Rolle, dass lediglich einer der beiden Sprecher genauer charakterisiert werden kann. Ihr – wenngleich in diesem Falle nicht applizierbares – Weltwissen erlaubt es den Figuren, die zweite Stimme als eine menschliche Stimme einzuordnen, da die ihnen wohl vertraute Situation eines Streitgespräches nur als Kommunikationsform innerhalb der menschlichen Gesellschaft als Script abgespeichert ist. Blickt man noch einmal zurück auf die anfänglich besprochene Erzählstruktur, welche auf die Neugierde des Rezipienten abzielt, so lässt sich die figural-konstruierte Stimme als genialer Schachzug Poes deuten, der die akustischen Zeugen der Handlung auf eine spielerische Art und Weise (da ohne Referenz auf die reale Welt) und die faktuale, d. h. reale, Instanz des extratextuellen Lesers gleichermaßen in eine neugierige Erwartungshaltung versetzt, wie sich das weitere Geschehen entwickeln wird und auf welche Weise sich die brutale Tat letztlich aufklären lässt. Freilich ohne es aus kognitionspsychologischer Sicht zu begründen, greift Poe unter Benutzung einer figural-konstruierten Stimme bereits den wissenschaftstheoretischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts voraus und überträgt mit den agierenden Figuren offensichtlich so etwas wie eine anthropologische Verhaltenskonstante in den Bereich fiktionaler Darstellungen. Seiner Zeit weit voraus, konstruiert der Autor Poe das Geschehen gewissermaßen über den Prototyp eines Erzählers, der für seine Geschichte bestimmte Scripts zugrundelegt: When someone decides to tell a story that references a script, he recognizes that he not (and because otherwise be considered rather boring, should not) mention every detail of his story. He can safely assume that his listener is familiar with the referenced script and will understand the story as long as certain crucial items are mentioned.143

Im Falle von „The Murders in the Rue Morgue“ geht die Referenz auf eine typische Situation, oder, mit modernen kognitionspsychologischem Vokabular formuliert, auf das Script eines Streitgesprächs, weit über die Vermeidung eines mutmaßlich langweiligen Erzählstils hinaus. Poe spielt mit dem Ablauf vermeintlich typischer Situationen zu dem Zweck, den Rezipienten in einer konstanten Neugierde hinsichtlich der weiteren Entwicklungen zu halten. Die figural-konstruierte Stimme hat also primär die Funktion, mit der angenommenen

142 Ebd., S. 41. 143 Ebd., S. 38.

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zweiten Stimme im Dialog eine falsche Fährte zu legen, der das Figurenkollektiv der Zeugen und mit ihnen die Rezipienten des Textes zunächst folgen. Somit fungiert die figural-konstruierte Stimme auch im Sinne der von Edgar Allan Poe verfassten Kurzgeschichtentheorie, die sich stark an der Rezeptionsästhetik orientiert und in welcher er für eine wohl durchdachte, einen bestimmten Effekt fokussierende Struktur der Erzählung plädiert: A skilful literary artist has constructed a tale. If wise, he has not fashioned his thoughts to accomodate his incidents; but having conceived, with deliberate care, a certain unique or single effect to be wrought out, he then invents such incidents – he then combines such events as may best aid him in establishing this preconceived effect. If his very initial sentence tend not to be outbringing of this effect, then he has failed in his first step. In the whole composition there should be no word written, of which the tendency, direct or indirect, is not to the one pre-established design.144

Die Integration einer figural-konstruierten Stimme ist also auch auf das von Poe formulierte poetologische Prinzip zurückzuführen, das auf einen bestimmten single effect abzielt: In dem vorliegenden Text ist es die Konzentration auf die Neugierde des Lesers, welche es gilt, bis zu der erst am Schluss des Textes erfolgenden vollständigen Enträtselung des Verbrechens konstant aufrechtzuerhalten.

3.3.3 Beispieltext: August Wilson: The Piano Lesson (1990) Zum Abschluss der Typologie soll der Blick nun noch einmal auf den Bereich der transgenerischen Narratologie ausgeweitet werden. Als Beispieltext für die Verwendung einer figural-konstruierten Stimme innerhalb eines dramatischen Textes wird im Folgenden August Wilsons The Piano Lesson (1990) genauer untersucht und die neu erstellte Kategorie hinsichtlich ihrer Form und einer möglichen Funktion fokussiert. Die komplexe Handlung des Dramas lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Nach einer dreijährig verbüßten Haftstrafe in Mississippi kehrt Boy Willie gemeinsam mit seinem Freund Lymon zu seiner Schwester Berniece und dem gemeinsamen Onkel Doaker Charles nach Pittsburgh zurück, um durch den Verkauf eines Familienerbstückes – eben des titelgebenden Klaviers – an Geld zu gelangen. Mit dem Erlös durch den Verkauf bezweckt er, ein Stück Land vom Bruder des kürzlich verstorbenen Plantagenbesitzers Sutter zu erwerben, auf dem seine und Bernieces’ Vorfahren als Sklaven 144 Edgar Allan Poe: „Nathaniel Hawthorne: Twice-Told Tales. Literary Criticism“. Hier zitiert nach Hans Bungert (Hg.): Die amerikanische Short Story. Theorie und Entwicklung. Darmstadt 1972. S. 1–8. Hier: S. 4.

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haben arbeiten müssen. Der Versuch seine Schwester, die das Klavier zu gleichen Anteilen besitzt wie er, zum Verkauf zu überreden, scheitert jedoch: Für sie stellt das Instrument eine unverkäufliche Brücke zur familiären Vergangenheit dar, von der sie sich keinesfalls trennen möchte. Im weiteren Verlauf stellt die Frage nach dem Verkauf des Instrumentes das zentrale Thema des Dramas dar und die Situation droht in einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Berniece und Boy Willie zu kulminieren. Letztlich löst sich die Situation friedlich durch eine zunächst unfreiwillige Verbrüderung der Geschwister, denn eng mit dem umkämpften Klavier verbunden ist das unheimliche Auftauchen der Stimme des jüngst ertrunkenen Sutter, der seinerseits durch seine Präsenz eigene Ansprüche auf das Klavier geltend macht. Boy Willie droht im Kampf gegen den Geist des Verstorbenen zu unterliegen, jedoch kann dieser durch einen Akt kollektiver familiärer Geschlossenheit vertrieben werden. Letztlich verzichtet Boy Willie auf den Verkauf des Instrumentes und kündigt seinen Abschied aus dem Hause Charles an. Die Verbindungen zwischen der Familiengeschichte und dem Klavier sind sehr kompliziert, aber auch für den Fortgang der Handlung und zum Verständnis der Kategorie der figural-konstruierten Stimme unerlässlich: Der Großvater des verstorbenen Plantagenbesitzers Sutter wollte besagtes Klavier seinem Bekannten Nolander abkaufen und seiner Ehefrau zum Geburtstag schenken. Da ihm das nötige Geld fehlte, erhielt er das Instrument im Tausch gegen zwei seiner Sklaven, bei welchen es sich um Doakers Vater und seine Großmutter handelte.145 Sutters Frau Ophelia fand zwar Gefallen an dem Klavier, begann jedoch im Laufe der Zeit, die für ihr Geschenk eingetauschten Sklaven zu vermissen und verfiel in Schwermut angesichts des Verlustes. Nachdem Nolander einen Rücktausch kategorisch abgelehnt hatte und sich Ophelias Gesundheit täglich verschlechterte, beauftragte Sutter den Ehemann der eingetauschten Sklavin (Doakers Großmutter), ihr Gesicht und das des ebenfalls eingetauschten gemeinsamen Kindes (Doakers Vater) in das Holz des Klavieres einzuschnitzen. Der Ehemann beließ es jedoch nicht beim Antlitz der beiden verkauften Sklaven, sondern gravierte nach und nach verschiedene Lebensstationen und Mitglieder der gesamten Familie Charles ein. Diese Bildnisse erfüllten ihren Zweck: Ophelia konnte genesen, und das Klavier verblieb auch viele Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei im Hause der Familie Sutter. Mit diesem Besitzverhält-

145 Für eine ausführliche Übersicht der Familiengeschichte vgl. die Zusammenfassung der Geschehnisse durch die Figur Doaker Charles, nachzulesen in der hier verwendeten Ausgabe: August Wilson: The Piano Lesson. New York 1990. Hier: S. 42 ff. Alle Zitate und Bezüge zum Wilson-Text nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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nis kann sich Doakers Bruder, der Vater von Boy Willie und Berniece, jedoch nicht abfinden. Doaker berichtet von seinem Bruder Boy Charles folgendes: DOAKER: Boy Charles used to talk about that piano all the time. He never could get it off his mind. Two or three months go by and he be talking about it again. He be talking about taking it out of Sutter’s house. Say it was the story of our whole family and as long as Sutter had it … he had us. Say we was still in slavery. (Wilson, The Piano Lesson, S. 45)

Boy Charles schafft es zwar, das Klavier zu stehlen, jedoch wird er daraufhin von Sutter (dem Enkel des einstigen Käufers des Klavieres) verfolgt. Beim Versuch, ihm in einem Zug, dem sogenannten Yellow Dog, zu entkommen, wird der Zug gestoppt und der Waggon, in dem sich Boy Charles gemeinsam mit vier Landstreichern aufhält, angezündet. Alle Männer verbrennen, und es bleibt offen, wer das Feuer letztlich gelegt hat. Doaker fasst zusammen, welche Verbindung zwischen dem Klavier, dem Feuer und der konsequenten Ablehnung eines Verkaufs durch Berniece besteht: DOAKER: Now, nobody know who done that [set the boxcar on fire, S. R.]. Some people say it was Sutter cause it was his piano. Some people say it was Sheriff Carter. Some people say it was Robert Smith and Ed Saunders. But don’t nobody know for sure. It was about two months after that that Ed Saunders fell down his well. Just upped and fell down his well for no reason. People say it was the ghost of them men who burned in the boxcar that pushed him in his well. They started calling them the Ghosts of the Yellow Dog. Now that’s how all that got started and that why we say Berniece ain’t gonna sell that piano. Cause her daddy died over it. (Wilson, The Piano Lesson, S. 45 f.)

Der wichtigste Handlungsstrang des Dramas, der Konflikt zwischen den Geschwistern um den Verkauf des Klaviers, lässt sich also nur verstehen, wenn man die Geschichte des Klaviers berücksichtigt und einordnen kann, mit welcher Bedeutung das Instrument in diesem Text aufgeladen ist. Der Fortgang der Handlung ist geprägt von weiteren Diskussionen um den Verkauf des gemeinsamen Erbstückes, bei welchen die Kategorie der figural-konstruierten Stimme in Form des sich bemerkbarmachenden Geistes von Sutter eine zunehmende Rolle spielt. Berniece hatte bereits zu Beginn der Handlung davon berichtet, dass ihr der Geist des jüngst verstorbenen Sutter erschienen sei und den Namen ihres Bruders gerufen habe: BERNIECE: He was standing there … had his hand on top of his head. Look like he might have thought if he took his hand down his head might have fallen off. […] Just had on that blue suit … I told him to go away and he just stood there looking at me … calling Boy Willie’s name. (Wilson, The Piano Lesson, S. 14)

176  3 Narrative Polyphonie: Kategorien mehrstimmigen Erzählens

Diese erste Erwähnung der Stimme des Verstorbenen ist ausschließlich an die Äußerung der Figur Berniece gebunden und wird von ihrem Bruder Boy Willie nicht ernst genommen. Im Gegenteil: Er verspottet die Präsenz des Geistes als lediglich auf Bernieces’ Kopf beschränkt (vgl. Wilson, The Piano Lesson, S. 16), und zeigt sich provokant, indem er den Geist Sutters geradezu herbeiwünscht, um diesem eine ordentliche Tracht Prügel zu versetzen (vgl. ebd.). Diese Thematisierung der figural-konstruierten Stimme ändert sich im Zuge der Geschehnisse gleichermaßen in der Art ihrer Hervorbringung und in der Bedeutung der gehörten Stimme für die Figuren. Denn parallel zu dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Boy Willie und Berniece gewinnt auch die Stimme von Sutters Geist an Macht und ist nicht mehr einzig an das Bewusstsein von Berniece gebunden, sondern tritt als ein Phänomen in den Vordergrund, welches für alle Familienmitglieder kollektiv hörbar rezipiert wird. Wurde die Stimme des Geistes zuvor noch ausschließlich von den Figuren thematisiert, so wird nun in dem Nebentext des Dramas auf ihr Auftauchen verwiesen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Sutters Geist weder als eine Figur auftritt noch als solche verzeichnet ist: Er wird nicht in den dramatis personae aufgeführt und tritt im Rahmen der Handlung nicht in einen tatsächlichen Dialog mit den anderen Figuren. Die besondere Wahrnehmung seiner Anwesenheit durch die Familie Charles unterstreicht, dass die Präsentation und Rezeption der Stimme des Geistes von Sutter anderen Kriterien folgt, als es für normale Figurenstimmen der Fall ist: So wird dieser nicht im Rahmen der dargestellten Handlung von den anderen Figuren gesehen, sondern von diesen vielmehr als im Raum anwesend empfunden. Somit ist auch die Stimme des Geistes von Sutter an die Psyche der sie hörenden Figuren gebunden, und zwar nicht als Ausdruck einer psychischen Erkrankung (wie im Falle der Figur Isti in Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer) oder als Fehldeutung bestimmter Laute als eine Stimme (wie anhand der Zeugen in Edgar Allan Poes „The Murders in the Rue Morgue“ dargestellt). Das Hören der Stimme von Sutters Geist steht in einer engen Verbindung zu der kollektiven Vergangenheit der Familie Charles, die bis in die dargestellte Gegenwart unter dem Einfluss der sie seit Generationen beherrschenden Familie Sutter – hier repräsentiert durch den Geist des jüngst Verstorbenen – steht. Bei dem Versuch Boy Willies, gemeinsam mit seinem Freund Lymon für einen möglichen Verkauf das Gewicht des Klaviers zu kontrollieren, ist es zunächst Doaker, der der Stimme von Sutters Geist gewahr wird. Diese Information wird jedoch nicht über seine eigene Figurenstimme mitgeteilt, sondern sie ist Teil des Nebentextes:

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme



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(As they start to move the piano, the sound of SUTTER’s GHOST is heard. DOAKER is the only one to hear it. With difficulty they move the piano a little bit so it is out of place.) BOY WILLIE: What you think? LYMON: It’s heavy … but you can move it. Only it ain’t gonna be easy. BOY WILLIE: It wasn’t that heavy to me. Okay, let’s put it back. (The sound of SUTTER’s GHOST is heard again. They all hear it as BERNIECE enters on the stairs.) (Wilson, The Piano Lesson, S. 50)

Die oben zitierten Zeilen dokumentieren also eine zweifache Entwicklung, die sich im Zuge einer stärker werdenden Präsenz der Stimme von Sutters Geist vollzogen hat: Zum einen ist sie nicht mehr ausschließlich an die Psyche von Berniece gebunden, deren Wahrnehmung der Stimme von ihrem Bruder zunächst noch als Hirngespinst abgetan worden ist. In dieser Szene ist es zunächst nur Doaker, der der Stimme des Geistes gewahr wird, doch kurz darauf wird sie für alle hörbar und entwickelt sich somit zu einem kollektiven Phänomen. Die zweite Veränderung betrifft die Form der Vermittlung der figural-konstruierten Stimme in diesem Text: Anders als noch in der zuvor zitierten Textpassage, in welcher ausschließlich die Figuren über die Stimme von Sutters Geist gesprochen haben, ist es nun der Nebentext, der über die Perzeption der Stimme durch die Figuren Auskunft gibt. Somit lässt sich nun ein kunstvolles poetisches Prinzip herausarbeiten, das August Wilson bei der Konstruktion seines Dramas verwendet und das die Ebenen der Form und des Inhalts gleichermaßen erfasst: Die Darstellung der Stimme von Sutters Geist folgt einer Poetik des Transzendierens, die dem gesamten Drama zugrunde liegt. So durchdringt die Stimme von Sutters Geist nach und nach das jeweilige Bewusstsein aller Figuren der Familie Charles und bleibt nicht auf die anfängliche Wahrnehmung durch Berniece beschränkt. War die Thematisierung der Stimme zunächst nur auf die Gespräche der Figuren untereinander beschränkt, so wird ihr Vorhandensein im weiteren Verlauf ebenfalls durch den Nebentext vermittelt. Daraus folgt, dass an dem Konstruktionsprozess noch eine weitere Stimme beteiligt ist, welche den Stimmen der Figuren aus erzähllogischer Sicht übergeordnet ist, so dass bei der Generierung der Kategorie in diesem Text ein Überschreiten der verschiedenen Erzählebenen konstitutiv ist. Die Folge der Beschreibung der Stimme im Rahmen des Nebentextes ist eine Form ihrer Authentifizierung und dient zur Verdeutlichung, dass es sich eben nicht – wie zunächst von Boy Willie in den Raum gestellt – um eine singuläre Wahrnehmung von Berniece handelt, sondern dass die Stimme ein tatsächlich hörbares Phänomen innerhalb der hier erzählten Welt146 darstellt. 146 Der von Genette entwickelte Begriff für Erzähltexte wird auch an dieser Stelle für einen dramatischen Text übernommen.

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Wilson gelingt durch die Einbindung einer figural-konstruierten Stimme zudem noch ein weiterer Kunstgriff, der aus logischer Sicht zunächst unmöglich erscheint: Das wahrnehmbare Hereinbrechen der Vergangenheit in eine dargestellte Gegenwart. Damit ist kein bildlicher Akt des Erinnerns gemeint, welcher im umgangssprachlichen Sinn häufig mit einem Einholen der Gegenwart durch die Vergangenheit verbunden wird, sondern Wilsons Poetologie geht über die metaphorische Verwendung des Begriffes hinaus. Indem eine bereits vor dem Einsetzen der Handlung verstorbene Figur sich nicht nur akustisch innerhalb der dargestellten Welt bemerkbar macht, sondern auch durch ihre physische Präsenz die Handlung entscheidend beeinflusst (vgl. den Kampf des Geistes von Sutter mit Boy Willie am Ende des Textes, S. 106 ff.) überbrückt der Dramatiker Wilson eine Kluft, die sich unter realistischen Bedingungen als unpassierbar erweist. In diesem Zusammenhang werden auch die besonderen Möglichkeiten schriftlich-fiktionaler Darstellungen deutlich, welche – anders als innerhalb der Realität – Grenzen passierbar machen, die in der für Menschen erfahrbaren Wirklichkeit impermeabel sind. Ein weiteres Verdienst der poetologischen Konzeption von Wilsons Text liegt in der kunstvollen Verknüpfung zweier Erzähltraditionen innerhalb der nordamerikanischen Literatur, welche in The Piano Lesson nicht nur gleichermaßen realisiert werden, sondern miteinander verschmelzen. Zum einen verbindet sich mit dem eng an die Stimme des Geistes von Sutter gekoppelten Klavier das innerhalb der afro-amerikanischen Literatur so bedeutsame Kommunikationsmedium der Musik, das auf eine oral tradition verweist und kombiniert mit den eingravierten Bildern durch ein non-verbales graphisches Zeichensystem ergänzt wird.147 Eine besondere Rolle kommt dem Klavier bei der am Schluss des Stückes erfolgenden Vertreibung des Geistes zu, der zunächst ein ungleicher Kampf zwischen Boy Willie und dem Geist von Sutter vorausgeht: BOY WILLIE: Come on, Sutter! (He starts up the stairs.) Come on, get some water! Come on, Sutter! (The sound of SUTTER’S GHOST is heard. As BOY WILLIE approaches the steps he is suddenly thrown back by the unseen force, which is choking him. As he struggles he frees himself, then dashes up the stairs.) […]

147 Zur besonderen Bedeutung der oral tradition in der afroamerikanischen Literaturgeschichte vgl. z. B. Gayl Jones: Liberating Voices. Oral Tradition in African American Literature. Cambridge / Mass. / London 1991.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme 

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(There are loud sounds heard from upstairs as BOY WILLIE begins to wrestle with SUTTER’S GHOST. It is a life-and-death struggle fraught with perils and faultless terror. BOY WILLIE is thrown down the stairs. […] [He] picks himself up and dashes back upstairs.) (Wilson, The Piano Lesson, S. 106)

Eine Rettung Boy Willies kann erst erfolgen, als sich Berniece ihrer Vergangenheit und der gemeinsamen Tradition ihrer Vorfahren bewusst wird: Sie setzt sich an das Klavier und beginnt ein altes Lied zu spielen, das ein Flehen und eine Kampfansage zugleich darstellt, indem sie die Textzeile „I want you to help me“ mehrfach wiederholt und in Ergänzung hierzu ihre verstorbenen Vorfahren namentlich anspricht (vgl. Wilson, The Piano Lesson, S. 106). Die Mobilisierung dieses Kollektivs führt schließlich zu der gewünschten Situationsveränderung, wie sich über den Nebentext erschließen lässt: „The sound of a train approaching is heard. The noise upstairs subsides.“ (Wilson, The Piano Lesson, S. 107; kursiv im Original). Demnach findet also eine finale Kommunikation zwischen den Familien Charles und Sutter statt, die auf eine besondere Weise vermittelt ist: Auf die von Gesang begleitete Klaviermusik folgt – gewissermaßen als eine Antwort – das Geräusch eines sich nähernden Zuges und anschließende Stille. Letztlich kann die Vertreibung des Geistes – und somit auch die Lösung des Konfliktes – also erst nach dem Muster einer call-and-response-Situation erfolgen, die ihre Wurzeln in den Predigten der African Americans hat. Gayl Jones liefert für das call-and-response-Schema folgende Definition: Antiphonal back-and-forth pattern which exists in many African American oral traditional forms, from sermon to interjective folktale to blues, jazz and spirituals, and so on. In the sermonic tradition, the preacher calls in fixed or improvised refrains, while the congregation responds, in either fixed and formulaic or spontaneous words and phrases. In oral storytelling the listeners may interject their commentary in a modified call-and-response pattern derived from African musical tradition.148

Die figural-konstruierte Stimme von Sutters Geist ist also – wie anhand der obigen Ausführungen deutlich wurde – im Rahmen von Wilsons Drama The Piano Lesson ausschließlich an Kommunikationssysteme der African Americans gebunden und taucht nicht nur einzig im Zusammenhang mit dem die afroamerikanische Geschichte symbolisierenden Klavier (die Geschichte aller African Americans im Allgemeinen, die Vergangenheit der Familie Charles im Besonderen) auf, sondern sie reagiert am Schluss auch ausschließlich auf die Melodie von diesem. Zusätzlich zu den traditionellen, nicht in Form schriftlicher Sprache fixierten Kommunikationssystemen der African Americans verweist die Ge148 Jones, Liberating Voices, S. 197.

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nerierung der figural-konstruierten Stimme durch ihre Hervorbringung auf verschiedenen Erzählebenen, und das bereits konstituierte Merkmal des Transzendierens auf die bedeutsamste philosophische Strömung innerhalb der amerikanischen Romantik: den Transzendentalismus nach Ralph Waldo Emerson. Dessen vielzitierte Lobpreisung der Natur, in welcher der Mensch aufgeht und mit allem verschmilzt, kann als eine Selbstcharakterisierung des toten Sutter gelesen werden, der als Verstorbener einerseits räumlich entschwunden ist und andererseits in Form des Geistes seiner selbst trotzdem anwesend ist und vor allem die Geschehnisse um ihn herum verfolgt: „I become a transparent eye-ball; I am nothing. I see all. The currents of the Universal Being circulate through me; I am part or particle of God.“149 Auch Sutters Geist ist gewissermaßen allgegenwärtig, indem er es auf mehrfache Weise schafft, innerhalb zweier vermeintlich unvereinbarer Bereiche zu verschmelzen: Die Konstruktion seiner Stimme erfolgt gleichermaßen über den Nebentext und die Figurenstimmen; er ist nicht nur innerhalb der Wahrnehmung einer einzelnen Figur präsent, sondern wird von allen Mitgliedern der Familie Charles gehört, und letztlich gelingt es ihm auf besondere Weise, die Grenze zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu passieren. Somit verhilft die im Rahmen von August Wilsons The Piano Lesson integrierte Kategorie der figural-konstruierten Stimme also zu einer Lesart des Textes, die über einen narratologischen Zugriff die kanonisierte amerikanische Literatur- und Geistesgeschichte mit der Erzähltradition der African Americans verbindet. Die Verbindung zwischen der Geschichte der African Americans und dem amerikanischen Transzendentalismus besteht zudem darin, dass letzterer wichtige Impulse für die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten lieferte. Emersons vielzitierter Ausspruch: „I think we must get rid of slavery, or we must get rid of freedom“150 lässt sich mit Blick auf die in The Piano Lesson dargestellte Handlung wie eine knappe Zusammenfassung der Lebenssituation der Familie Charles lesen. Analog zu den prägenden Ereignissen der amerikanischen Romantik, d. h. der Epoche, die wie keine andere durch Reformen geprägt ist, geht es auch hier um eine dringend notwendige Befreiung von der belastenden Vergangenheit, wenn ein zukünftiges Leben in Freiheit möglich sein soll. Problematisch innerhalb Wilsons Drama ist jedoch, dass das Klavier, welches die Vergangenheit symbolisiert, mit einer ambigen Bedeutung aufgeladen ist: 149 Ralph Waldo Emerson: „Nature“. Hier zitiert nach: Joel Porte u. a. (Hg.): Ralph Waldo Emerson. Essays and Poems. New York 1996. S. 9–49 Hier: S. 10. 150 Emerson äußerte diesen Satz im Juni 1856 in Concord. Anlass war eine Debatte um die Sklaverei, bei der sich Emerson gegen die Ausführungen des republikanischen Senators Charles Sumner aussprach. Hier zitiert nach: Barabara L. Packer: The Transcendentalists. Athens 2007. Hier: S. 232.

3.3 Neue Kategorien (3): Die figural-konstruierte Stimme



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Es steht nicht nur für die während der Sklaverei erlittene körperliche Pein und Freiheitsberaubung, sondern es ist durch die eingravierten Gesichter und Lebensstationen zugleich auch Ausdruck afroamerikanischer Kunst und Kulturgeschichte im Allgemeinen, sowie aufgrund seiner anschließenden Entwendung durch Boy Charles Trophäe und Zeugnis von Mut und Selbstbewusstsein innerhalb der Familie Charles im Besonderen. Doch auch bei den verschiedenen Semantisierungen des Klaviersymbols gelingt Wilson am Ende des Dramas ein Verschmelzen beider Bereiche: So lässt Boy Willie von seinem eigentlichen Anliegen ab, das Klavier – und somit die verhasste und schmerzhafte eigene Vergangenheit – zu verkaufen, während Berniece, die zuvor versucht hat, sich in ehrfurchtsvoller Distanz dem Klavier und somit der eigenen Geschichte zu entziehen, sich über das Spielen des Instruments dem Vergangenen annähert und durch die Vertreibung des Geistes von Sutter die Vergangenheit überwindet. Letztlich präsentiert Wilson also anhand der Entwicklung beider Geschwister ein versöhnliches Ende, das durch eine konstruktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gelingt und im Folgenden die Weichen für eine Zukunft in Freiheit stellt. Resümierend lässt sich festhalten, dass die figural-konstruierte Stimme – wie auch die bisher erstellten Kategorien – nicht nur eine Möglichkeit bietet, bis dato noch nicht erfasste erzähltheoretische Phänomene zu benennen, sondern dass sie sich zugleich auch als ausgesprochen anschlussfähig für weitere literaturtheoretische Ansätze erweist. So wurde die Kategorie im Zuge der Interpretation von Zsuzsa Bánks Roman Der Schwimmer mit dem erzähltheoretischen Modell der Anthropologie zusammengebracht und die Verwendung der figuralkonstruierten Stimme in Edgar Allan Poes Geschichte „The Murders in the Rue Morgue“ mit einem kognitionspsychologischen Interpretationsansatz gekoppelt. Abschließend wurde die Kategorie unter dem Gesichtspunkt einer transgenerischen Narratologie betrachtet und über die Analyse des Dramas The Piano Lesson erprobt.

4 Narrative Polyphonie zwischen Spätaufklärung und Postmoderne Im nächsten Teil sollen nun zwei weitere Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, die bei den bisherigen paradigmatischen Untersuchungen nur am Rande eine Rolle gespielt haben. Im Folgenden soll der Fokus von den im ersten Teil vorgestellten Einzeltextanalysen hin zu komparatistischen Untersuchungen verlagert werden, wobei auch der jeweilige literaturhistorische Hintergrund Beachtung findet. Grundsätzlich liegt also sowohl dem ersten als auch dem zweiten Teil – wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt – der Gedanke zugrunde, dass sich ein narratologisches Beschreibungsvokabular nicht in seiner Fähigkeit erschöpft, bisher nicht zu benennende Phänomene beschreiben und kategorisieren zu können. In den nun folgenden Vergleichen geht es darum, das heuristische Potenzial der erstellten Typologie auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis auszuschöpfen und zugleich neue Einsichten innerhalb einer komparatistisch ausgerichteten Narratologie zu bieten. Zu diesem Zweck wird nun ein diachroner Zugriff erprobt, der anhand von vier komparatistischen Analysen acht Texte aus je unterschiedlichen Epochen zwischen Spätaufklärung und Gegenwartsliteratur untersucht. Die Beispiele entstammen weiterhin der deutschsprachigen und amerikanischen Literatur, wobei pro Epoche jeweils ein deutscher und ein amerikanischer Text einander gegenübergestellt werden. Dass der Ausgangspunkt durch Charles Brockden Browns Roman Wieland markiert wird, verdankt sich der Tatsache, dass es sich bei diesem Text um eine sehr frühe fiktionale Produktion innerhalb der amerikanischen Literatur handelt. Auf diese Weise gelingt ein Querschnitt, der die vier Epochen Romantik, Realismus, Moderne und Postmoderne berücksichtigt und somit aus amerikanistischer Sicht von ihren Anfängen an die Kernzeit der fiktionalen Literaturproduktion bis zur Gegenwart erfasst.

4.1 Spätaufklärung und Romantik Die Geburt der Stimme aus dem Geiste der Vergangenheit: Zum Abhängigkeitsverhältnis von Historie, Imagination und Polyphonie in Charles Brockden Browns Wieland (1798) und E. T. A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ (1819) In Charles Brockden Browns Roman Wieland,1 der ersten amerikanischen Gothic Novel, wird von der homodiegetischen Erzählinstanz Clara Wieland rückblickend die Geschichte ihres Bruders Theodore Wieland erzählt, der sich unter https://doi.org/10.1515/9783110668810-005

4.1 Spätaufklärung und Romantik 

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dem Einfluss vermeintlich unerklärlicher Stimmen von einem rechtschaffenen Familienvater zum Mörder seiner Kinder und Ehefrau entwickelt. Wieland, der sich letztlich als das Opfer des skrupellosen Bauchredners Carwin entpuppt, hatte die von diesem nachgemachten und für ihn verstörenden Stimmen als einen Beweis göttlicher Erwählung fehlgedeutet und war infolge der Entwicklung eines sich steigernden religiösen Wahns zu der Überzeugung gelangt, es sei seine Aufgabe auf Erden, die eigene Familie als göttliches Opfer darzubringen. Als er sich der Täuschungen durch Carwin bewusst wird und die mit seiner psychischen Erkrankung einhergehende eigene Schuld realisiert, nimmt sich Theodore Wieland vor den Augen seiner Schwester Clara das Leben. Durch die letztliche Auflösung des Mysteriums, die Enthüllung der Stimmen als das bloße Produkt eines besonderen Talents von Carwin, liefert Brown eine rationale Erklärung des scheinbar Übernatürlichen und ermöglicht es dem Leser retrospektiv, eine plausible und stabile erzählte Welt zu rekonstruieren. Eine solche Dechiffrierung des Unerklärlichen über logische Kausalzusammenhänge erweist sich für die erzählte Welt von E. T. A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“2 auf den ersten Blick als diffiziler: Der Text spielt ebenfalls mit dem Einbruch irrationaler Wahrnehmungen in den Alltag, ohne diese aber direkt als Sinnestäuschungen des Protagonisten zu deklarieren. Dass es sich bei den von Elis Fröbom gehörten Stimmen nicht um tatsächliche Gesprächspartner handelt, sondern das Gehörte einzig im Kopf des Protagonisten existiert, muss sukzessive über die Logik der erzählten Welt erschlossen werden. Die Erzählung um den jungen Seemann befindet sich in dem Geschichtenzyklus Die SerapionsBrüder und ist durch die Einbettung in eine Rahmenhandlung auf besondere Weise komponiert. Diese narrative Konstruktion steht, wie abschließend noch gezeigt wird, in einem speziellen Wechselverhältnis zu der figural-konstruierten Stimme des Protagonisten. Elis Fröbom befindet sich nach dem Tod seiner Mutter in einer Lebenskrise und verfällt in Antriebslosigkeit und Schwermut. Nach dem Treffen mit einem alten Bergmann entscheidet er sich dazu, seinen eigentlichen Beruf aufzugeben und künftig ebenfalls als Bergmann in Falun zu arbeiten. Bereits während der Entscheidungsfindung hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft beginnt er, körperlose Stimmen zu vernehmen, deren Auftreten sich, in Falun angekommen, wiederholen und die das durch die neue Lebensaufgabe zunächst wiederge1 Charles Brockden Brown: Wieland; Or the Transformation and Memoirs of Carwin, the Biloquist [EA 1798]. Oxford 1998. Alle folgenden Brown-Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe direkt im Text. 2 E. T. A. Hoffmann: „Die Bergwerke zu Falun“ [EA 1819–1821]. In: E. T. A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder [Werke 3]. München 1966. S. 169–198. Alle Hoffmann-Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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wonnene seelische Gleichgewicht zunehmend angreifen. Elis glaubt, dem alten Torbern, einer zum Mythos gewordenen Gestalt in Falun, während seiner Tätigkeit unter Tage zu begegnen, und entwickelt eine regelrechte Obsession für seine Arbeit. Bei einem Einsturz wird er am Morgen seiner Hochzeit mit Ulla Dahlsjö verschüttet, und seine sterblichen Überreste werden erst Jahrzehnte später zufällig bei Arbeiten im Bergwerk gefunden. Sein jugendlich erscheinender, durch Vitriolwasser konservierter Körper wird von seiner mittlerweile greisen Braut identifiziert, die infolge dieser emotionalen Erschütterung ebenfalls stirbt. Das Irrationale – in Form der rezipierten Stimmen und der Erscheinung des alten Torbern – ist in Hoffmanns Erzählung grundsätzlich an die figurale Wahrnehmung durch Elis Fröbom gebunden. Alle Aussagen zu den gehörten Stimmen sind durch die Wahrnehmung von Elis geprägt, der sich aufgrund seiner psychischen Angegriffenheit in einem beständigen Ausnahmezustand befindet; somit sind alle Angaben zu den Stimmen hinsichtlich ihres tatsächlichen Wahrheitsstatus in Zweifel zu ziehen. Auch innerhalb der Forschung wird die besondere Wahrnehmung von Elis intensiv verhandelt; verschiedene Kritiker3 haben bereits auf die Ambivalenz der erzählten Welt verwiesen und der Problematik einer definitiven Entscheidbarkeit über den Existenzstatus der von Elis gehörten Stimmen Rechnung getragen. Eben dieser Mangel an einer rückblickenden Authentifizierung des Wunderbaren, d. h. der fehlende Nachweis darüber, dass dieses tatsächlich zu der fiktionsinternen Realität gehört, erlaubt – nicht zuletzt durch die Kombination mit dem wahrnehmenden Protagonisten, der sich in einer seelischen Ausnahmesituation befindet – m. E. im Folgenden eine Interpretation, die von einer stabilen erzählten Welt ohne phantastische Elemente ausgeht. Basis des nun folgenden Vergleichs der Erzählung mit dem Roman Wieland ist die Prämisse, dass die von Elis Fröbom vernommenen Stimmen und die Erscheinung des alten Torbern einzig der psychischen Erkrankung des Protagonisten geschuldet sind und nicht als Elemente einer vermeintlich unrealistischen erzählten Welt auszulegen sind. 3 Vgl. z. B. Anneli Hartmann: „Der Blick in den Abgrund. E. T. A. Hoffmanns Erzählung: ‚Die Bergwerke zu Falun‘“. In: Bettina Grube / Gerhard Plumpe (Hg.): Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg 1999. S. 53–73. Ebenfalls hierzu: Yvonne Holbeche: Optical Motifs in the Works of E. T. A. Hoffmann. Göppingen 1975. Aus rezeptionsorientierter Sicht verweist Marc Klesse zudem auf die Schwierigkeiten des Lesers, „die erzählten Begebenheiten als Realität oder Phantasie zu dechiffrieren“ (S. 30). Vgl. Marc Klesse: „Oszillationsfiguren. Zu einer Poetik des Traums in E. T. A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun“. In: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch. Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft. Hg. von Hartmut Steinecke und Claudia Liebrand. Bd. 18, 2010. S. 25–41.

4.1 Spätaufklärung und Romantik



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Vergleicht man die Figuren Elis Fröbom und Theodore Wieland, so ist als Basis für ihre psychische Entwicklung das Merkmal einer unbewältigten Vergangenheit von grundlegender Bedeutung. Beiden ist gemein, dass sie bereits in jungen Jahren ihren Vater verloren haben und sie dadurch innerhalb der Familienstruktur gezwungen waren, Rollen zu übernehmen, die nur schwierig mit ihrer noch jugendlichen persönlichen Entwicklung in Einklang gebracht werden konnten. Eine Konsequenz dieses frühzeitigen Verlustes und des darauffolgenden Versuches, die Stelle des Vaters zu vertreten, ist ein bei Elis und Theodore zu beobachtender Hang zur Melancholie und eine offensichtliche Verbindung zwischen der Erinnerung an den verstorbenen Vater und dem ersten Auftreten einer unerklärlichen Stimme. Dieses erste Hören der Stimme vollzieht sich zudem für beide Figuren jeweils an einem Ort, der in einer direkten Verbindung zu dem Tod des Vorfahren steht. Bei einem gemeinsamen Abendessen im Kreise der Familie Wieland und ihrer Freunde entspinnt sich eine Diskussion um den genauen Inhalt eines kürzlich eingetroffenen Briefes. Theodore entsinnt sich, diesen in dem auf einer Anhöhe befindlichen Tempel der Familie zurückgelassen zu haben, einem Bauwerk, welches sein Vater seinerzeit hatte errichten lassen, um seinem Glauben Ausdruck zu verleihen und sich zweimal täglich zu Gebeten zurückzuziehen.4 Bei seinem Aufstieg zu dem Tempel glaubt Theodore, von der Stimme seiner Frau Catherine vor der Fortsetzung seines Weges gewarnt zu werden, eine Wahrnehmung, die – wie er später erkennen muss – auch retrospektiv unmöglich erscheint, da Catherine bei der restlichen Gesellschaft im Hause verblieben war. Bei seiner Rückkehr berichtet Theodore den anderen von seiner kurzen und zugleich befremdlichen Erfahrung mit der vermeintlichen Stimme seiner Frau, und verweist in seinem Bericht sowohl auf den für ihn besonderen Ort, als auch die spezielle Stimmung, die ihn bei seinem denkwürdigen Erlebnis umgeben hatte: ‘The Conference’, said he, ‘was short; and far from carried on in a whisper. You know with what intention I left the house. Halfway to the rock, the moon was for a moment hidden from us by a cloud. I never knew the air to be more bland and more calm. In this interval I glanced at the temple, and thought I saw a glimmering between the columns. It was so faint, that it would not perhaps have been visible, if the moon had not been shrouded. I looked again, but saw nothing. I never visit this building alone, or at night, without being reminded of the fate of my father.’ (Brown, Wieland, S. 30)

Das Bekenntnis Theodores, er könne den Tempel niemals nachts oder alleine aufsuchen, ohne sich an das Schicksal seines Vaters zu erinnern, unterstreicht 4 Vgl. Brown, Wieland, S. 11.

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das besondere Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es wird deutlich, wie prägend die frühe Verlusterfahrung für den Protagonisten gewesen sein muss und wie sehr das Vergangene in die Gegenwart hineinwirkt. Das Schicksal des unter nicht genau geklärten Umständen verstorbenen Vaters,5 welches Theodore an dem Tempel gedanklich wieder einholt, lastet auf ihm in Form eines mahnenden Exempels, das es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Ab einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens hatte der streng religiöse Vater von einer nicht näher bezeichneten Pflicht gesprochen, die ihm auferlegt wurde, welcher er aber durch sein zauderndes Verhalten nicht nachzukommen imstande war. Fortan litt er als gläubiger Puritaner unter der Vorstellung, einen ihm mitgeteilten göttlichen Willen durch sein Zögern nicht erfüllt zu haben und als Folge dessen schuldig geworden zu sein: Suddenly the sadness that constantly attended him was deepened. […] When he deigned to be communicative, he hinted that his peace of mind was flown, in consequence of deviation from his duty. A command had been laid upon him which he had delayed to perform. He felt as if a certain period of hesitation and reluctance had been allowed to him, but that this period was passed. He was no longer permitted to obey. The duty assigned to him was transferred in consequence of his disobedience, to another, and all that remained was to endure the penalty. He did not describe this penalty. (Brown, Wieland, S. 12)

Gemäß dem puritanischen Glauben hatte Theodores Vater durch sein abwartendes Verhalten jede Möglichkeit auf ein zufriedenstellendes Weiterleben auf Erden verwirkt: Er hatte die Zeichen göttlicher Allmacht, die ihm offenbart wurden, ignoriert und war vom Wege Gottes abgewichen, was als Konsequenz innerhalb des Puritanismus zwingend eine harte Bestrafung nach sich ziehen musste. Für den sensiblen Sohn Theodore erweist sich dieser Lebens- und Leidensweg des Vaters als eine ständig präsente Last, die sein Verhalten prägt und seinen eigenen Weg in den Wahnsinn vorbereitet: Aufgrund der mysteriösen, von Carwin vorgetäuschten Stimmen erwächst in Theodore Wieland eine Angst, die ihn sukzessive nervlich derart angreift, dass er zusätzlich Stimmen zu hören beginnt, welche einzig in seinem Kopf entstehen und jeglichen akustischen Signals entbehren.6 Die weitere Entwicklung Theodores ist also bereits durch die 5 Alles deutet darauf hin, dass Theodores Vater aufgrund einer ‚spontaneous combustion‘ nahe seinem Tempel schwer verletzt wurde und kurze Zeit später verstarb. Bei diesem vermeintlichen Phänomen handelt es sich um den Mythos der ‚spontanen Selbstentzündung‘, d. h. dem Glauben an eine mysteriöse Todesart, in welcher der Mensch sich auf eine unerklärliche Weise selbst in Brand setzt und infolgedessen zu Tode kommt. 6 Carwin imitiert zunächst ausschließlich die Stimmen, die auch in der erzählten Welt als Dialogpartner auftreten, d. h. die Stimmen der Familienmitglieder und Freunde. Die vermeintliche Unmöglichkeit ihres Auftauchens führt jedoch dazu, dass Theodores seelische Gesundheit

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furchteinflößende Vita des Vaters vorgezeichnet; es ist die ständig präsente Sorge vor einer Wiederholung des Schicksals, die den Boden für die Rezeption einer figural-konstruierten Stimme einer göttlichen Allmacht bereitet. Der von seiner Anlage her ohnehin labile Protagonist ist ein dankbares Opfer für die beständige Verunsicherung durch Carwin, welche die nachfolgend stattfindende Selbsttäuschung mit den bekannten Folgen erst ermöglicht. Für die rezipierende Seite der figural-konstruierten Stimme ist der Einfluss der Vergangenheit also die Grundlage einer besonderen psychischen Verfassung, die ein Vernehmen des vermeintlichen akustischen Reizes erst ermöglicht. Leigh Eric Schmidt weist darauf hin, dass im Falle von Wieland interessanterweise auch bei dem Bauchredner Carwin die Ursachen für seine langjährige Beschäftigung mit Stimmen in der väterlichen Vergangenheit zu suchen sind.7 Zieht man zu einem besseren Verständnis der Motive von Carwin seine sich an den Roman anschließenden Memoiren hinzu, so erfährt man, dass das Übernatürliche bereits in seiner Herkunftsfamilie eine große Rolle gespielt hatte und auch sein Vater Stimmen hörte, die keiner lebendigen Figur innerhalb der intradiegetischen Welt zugeordnet werden konnten: A thousand superstitious tales were current in the family. Apparitions had been seen, and voices had been heard on a multitude of occasions. My father was a confident believer in supernatural tokens. The voice of his wife, who had been many years dead, had been twice heard at midnight whispering at his pillow. (Brown, Wieland, S. 234)

Carwin wuchs demnach in einem Klima auf, das ihn nicht nur mit den Gefahren eines religiösen Übereifers vertraut machte, sondern ihm diente der – aufgrund seiner irrationalen Fixierung auf das Übersinnliche – offensichtlich leicht zu täuschende Vater als ein Übungsobjekt, an dem er seine Gabe des Bauchredens schulen und entwickeln konnte. Hierbei lässt sich eine Ausdifferenzierung des Stimmenrepertoires feststellen, die von einer anfänglichen schlichten Imitation fremder Stimmen über das Vortäuschen der Äußerungen von Toten bis hin zu der Erschaffung einer vermeintlich göttlichen Aussageinstanz reicht. Wenngleich sich die fingierten Stimmen in ihrem Schwierigkeitsgrad verändert haben, so bleibt doch das Ansinnen Carwins beständig: Ihm geht es um die Demonstration von Macht, indem er andere manipuliert. Dieses lässt sich offennach und nach aus dem Gleichgewicht gerät und er zusätzlich beginnt, eine göttliche Stimme zu hören, die er selbst konstruiert und die einzig in seinem Kopf vorhanden ist. Lediglich um Theodore davon abzuhalten, seine Schwester Clara ebenfalls zu töten, täuscht Carwin bei einer Begegnung der Geschwister genau jene göttliche Stimme vor, die Theodore schon längere Zeit zu hören vermeinte (vgl. Brown, Wieland, S. 209 f.). 7 Leigh Eric Schmidt: „From Demon Possession to Magic Show: Ventriloquism, Religion, and the Enlightenment“. In: Church History. Jg. 67, Nr. 2, 1998. S. 274–304. Vgl. S. 288.

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kundig besonders gut erreichen, wenn die ausgewählten Opfer tief religiös sind und unter einer länger zurückliegenden Verlusterfahrung leiden. Eine frühe Verlusterfahrung ist auch im Falle des Protagonisten in „Die Bergwerke zu Falun“ die Grundlage einer bestimmten psychischen Vulnerabilität. Elis Fröbom, so wurde eingangs gesagt, ist durch den Tod seiner Mutter als junger Mann zu einer Vollwaise geworden, da er den Vater bereits Jahre zuvor verloren hatte. In einem Zustand der Melancholie und Antriebslosigkeit vollzieht sich auch sein erster Kontakt mit einer unerklärlichen Stimme,8 die körperlos und ausschließlich für ihn hörbar ist, an einem für ihn besonderen Ort, der mit dem Tod des Vaters in einem engen Zusammenhang steht. Zuvor berichtet Elis, dass er nicht nur den Vater in Ausübung seines Berufes auf hoher See verloren hatte, sondern nach dem zusätzlichen Tod seiner beiden Brüder dessen Stelle vertreten musste.9 Folglich scheint es mehr als ein Zufall zu sein, dass sich sein erster Kontakt mit einer unerklärlichen Stimme am Wasser vollzieht, jenem Ort, der für sein Schicksal bereits früh die Weichen gestellt hatte und ihm durch den Verlust des Vaters eine seelische Verwundung zugefügt hatte, die er auch als junger Erwachsener nicht zu heilen imstande ist: Er raffte sich auf und rannte nach dem Klippa-Hafen, wo der Jubel des Hönsnings aufs neue sich erhob. Aber bald gewahrte er, wie alle Lust an ihm vorüberging, wie er keinen Gedanken in der Seele festhalten konnte, wie Ahnungen, Wünsche, die er nicht zu nennen vermochte, sein Inneres durchkreuzten. Er dachte mit tiefer Wehmut an seine verstorbene Mutter […]. Von all diesen treibenden Gedanken hin und her geworfen, schaute er hinein in das Wasser. […] Die Kameraden rüttelten ihn aus der Träumerei, er musste ihrem Zuge folgen. Aber nun war es, als flüstre eine unbekannte Stimme ihm unaufhörlich ins Ohr: „Was willst Du noch hier? – fort! – fort! – in den Bergwerken zu Falun ist deine Heimat. – Da geht alle Herrlichkeit dir auf, von der du geträumt – fort, fort nach Falun!“ (E. T. A. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 179 f.)

8 Zuvor hatte Elis bereits mit einem alten Bergmann gesprochen, der ihm eindringlich geraten hatte, seinen Beruf als Seemann aufzugeben und ein neues Leben als Bergarbeiter zu beginnen (vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 174 ff.). Manche Interpreten gehen von einer Identität dieses Bergmannes und der von Elis figural-konstruierten Stimme des mythischen alten Torbern aus, vgl. z. B: Helmut Gold: Erkenntnisse unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik. Opladen 1990. Hier insbesondere S. 124 f. Auch Thorsten Valk geht in seiner Interpretation von einer Einheit zwischen der intradiegetischen Figur des alten Bergmannes und dem zum Mythos gewordenen alten Torbern aus. Vgl. hierzu Thorsten Valk: „‚Die Bergwerke zu Falun‘. Tiefenpsychologie aus dem Geist romantischer Seelenkunde“. In: Günter Saße (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Interpretationen. Stuttgart: 2004. S. 168–181. Vgl. insbesondere S. 172. Diese Gleichsetzung ist insofern problematisch, als der alte Bergmann als Figur tatsächlich innerhalb der erzählten Welt agiert, während Torbern als Mythos lediglich ein gedankliches Konstrukt der Einwohner von Falun darstellt. 9 Vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 174.

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Hatte Elis zuvor noch von einer Stimme geträumt, die ihm das Leben als Bergmann angepriesen hatte (vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 177 f.), so beginnt er nun, die ihn lockende Stimme auch im Wachzustand zu rezipieren. Der Gedanke an die verstorbene Mutter und der Blick aufs Wasser, also dasjenige Element, in dem er einst seinen Vater verloren hatte, führen zu einer deutlichen Intensivierung seiner Melancholie, die Elis für die Wahrnehmung einer de facto nicht vorhandenen Stimme sensibilisiert. Der jähe Einbruch der Vergangenheit durch die Erinnerung an die verstorbenen Eltern prägt nun in einer für ihn bisher unbekannten Weise die Gegenwart; das Hören einer verlockenden Stimme ist nun nicht mehr an einen Traumzustand gebunden, sondern bricht sich Bahn in Elis Gegenwart. Dass es sich hierbei nicht um eine Art Dämmerzustand nach einem wenig erholsamen Schlaf handelt, sondern Elis eine grundsätzliche Anfälligkeit für die Rezeption einer körperlosen Stimme entwickelt hat, wird schnell deutlich: „Drei Tage trieb sich Elis Fröbom in den Straßen von Götaborg umher, unaufhörlich verfolgt von den wunderlichen Gebilden seines Traums, unaufhörlich gemahnt von der unbekannten Stimme“ (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 180). Blickt man auf die erste Begegnung mit dem alten Bergmann und das sich anschließende Gespräch, das den Beginn von Elis’ Auseinandersetzung mit dem Berufsstand des Bergarbeiters markiert, so zeichnet sich hier bereits ein ungewöhnliches Vertrauen zu dem anonymen Gesprächspartner ab. Elis berichtet dem Fremden von seinem bisherigen Leben und offenbart seinen schmerzlichen Verlust: Elis schaute sich um, und gewahrte einen alten Bergmann, der mit übereinandergeschlagenen Armen an die Plankenwand des Schenkhauses angelehnt stand, und mit ernstem durchdringenden Blick auf ihn herabschaute. Sowie Elis den Alten länger ansah, wurde es ihm, als trete in tiefer wilder Einsamkeit, in die er sich verloren geglaubt, eine bekannte Gestalt ihm freundlich tröstend entgegen. Er sammelte sich, und erzählte, wie sein Vater ein tüchtiger Steuermann gewesen, aber in demselben Sturme umgekommen, aus dem er gerettet worden auf wunderbare Weise. (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 174)

Der ihm ‚bekannt‘ wirkende Mann, der Elis ‚freundlich tröstend‘ zu begegnen scheint, bildet durch sein Auftauchen eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit des Protagonisten. Eine ähnliche Verbindung ist im Fall von Theodore Wieland zu beobachten, der durch Carwins erstmalige Stimmenimitation nahe dem Tempel der Familie an seinen Vater erinnert wird; auch hier hängt der letztliche Auslöser der figural-konstruierten Stimme eng mit der Biographie der ‚hörenden‘ Figur zusammen. Elis Fröbom beginnt die Unterredung mit dem alten Bergmann unvermittelt über den Tod seines Vaters, eine Gesprächseröffnung, die auf eine ungewöhnliche Nähe zwischen den beiden ein-

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ander fremden Männern schließen lässt und die umso erstaunlicher erscheint, wenn man die Darstellung von Elis’ als melancholischer Einzelgänger bedenkt. Es gelingt dem alten Bergmann lediglich durch seine Präsenz in Elis etwas zu erwecken, das ihn zwangsläufig über die eigene Vergangenheit sprechen lässt. Und ebenso wie Theodore Wielands weiterer Lebensweg bereits früh durch das Schicksal des streng puritanischen Vaters vorgezeichnet und vorbelastet war, lässt Elis gegenüber dem alten Bergmann durchblicken, dass auch er zumindest beruflich dem Vorbild des Vaters hatte folgen müssen, „denn Seemann habe er doch nun einmal, von Kindesbeinen an dazu bestimmt, bleiben müssen“ (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 174). Sowohl bei Theodore Wieland als auch bei Elis Fröbom erweist sich die persönliche Vergangenheit als eine Determinante, die eine von dem Vorbild der Eltern, insbesondere der Leitfigur des Vaters, unabhängige Entwicklung des Protagonisten verhindert. Zugleich stellt diese Beeinflussung die Weichen für ein kontemplatives Wesen im Erwachsenenalter und bewirkt eine beständige Neigung zur Melancholie, die zeitlebens nicht überwunden wird. Die schmerzlichen Verluste in der Kindheit entpuppen sich auch im Mannesalter als eine traumatische Erfahrung, die den Grundstein für eine psychische Verwundbarkeit legt, die sie in beiden Fällen durch eine monomanische Fixierung zu kompensieren versuchen: Während Theodore Wieland bereits in jungen Jahren als ein übereifriger Schüler beschrieben wird, der sich vornehmlich in der Disziplin der Rhetorik hervortut (vgl. Brown, Wieland, S. 22 f.), schafft es Elis Fröbom, „in unglaublich kurzer Zeit [,] es dem geübtesten Bergmann in der Arbeit [gleichzutun]“ (vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 186). Alle Bemühungen, das in der Kindheit entstandene Manko auszugleichen und durch Ablenkung und extensives Arbeiten die Vergangenheit zu überwinden, erweisen sich jedoch als vergebens, da bei beiden Protagonisten die Imagination einen immer größeren Raum einnimmt. Kombiniert mit eben jenem Zustand der Unfreiheit und seelischen Angreifbarkeit, führt die Einbildungskraft dazu, Stimmen zu rezipieren, die keine figurale Entsprechung in der fiktionalen Realität finden. In beiden Fällen lässt sich eine Entwicklung feststellen, die seit dem erstmaligen Hören befremdlicher Stimmen ein beständiges Fortschreiten in Richtung einer pathologischen Wirklichkeitsauffassung markiert. Der erste Kontakt mit mysteriösen Stimmen vollzieht sich für Elis Fröbom noch während des Schlafes, also in einer Situation, in der das vermeintlich Übersinnliche durch den besonderen Zustand des Traumes legitimiert ist und die gedankliche Entrückung aus der Realität nur eine temporäre ist. Zunächst träumt Elis, er befände sich auf einem Schiff, sieht sich dann aber in seiner Einschätzung getäuscht, denn „Gestein war das nämlich, was er erst für den Wolkenhimmel gehalten“ hatte (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 178). Unweigerlich von

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diesem angezogen, wirft er sich „mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden“ (ebd.) und vernimmt die folgenden Worte: ‚Nun Elis Fröbom, wie gefällt es dir in dieser Herrlichkeit?‘ – So rief eine starke Stimme. Elis gewahrte neben sich den alten Bergmann, aber so wie er ihn mehr und mehr anschaute wurde er zur Riesengestalt aus glühendem Erz gegossen. Elis wollte sich entsetzen, aber in dem Augenblick leuchtete es aus der Tiefe wie ein jäher Blitz und das ernste Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. […] ‚Nimm dich in acht, Elis Fröbom, das ist die Königin, noch magst du heraufschauen.‘ […] Eine sanfte Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme seiner Mutter. Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. Aber es war ein holdes junges Weib die ihre Hand tief hinabstreckte in das Gewölbe und seinen Namen rief. ‚Trage mich empor‘, rief er dem Alten zu, ‚ich gehöre doch der Oberwelt an und ihrem freundlichen Himmel.‘ – ‚Nimm dich in acht‘, sprach der Alte dumpf, ‚nimm dich in acht, Fröbom! – sei treu der Königin, der du dich ergeben.‘ (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, ebd.)

Die von Elis im Traum vernommenen Stimmen sind eindeutig auf Figuren in der intradiegetischen Realität zurückzuführen. Neben der Stimme des alten Bergmannes, dem Elis kurz zuvor begegnet war und dessen Äußerungen in wörtlicher Rede wiedergegeben werden, hört er die Stimme seiner wehklagenden Mutter, deren Erscheinung im Traum sich jedoch in eine ihn lockende junge Frau verwandelt. Bei dem Geträumten, das einen nachhaltigen Einfluss auf Elis hat (vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 179 unten), handelt es sich um einen erklärbaren Vorgang und nicht um eine Imagination von Stimmen im Wachzustand. Durch die Situation des Schlafes ist Elis von der ihn umgebenden Wirklichkeit entrückt: Es findet keine bei Bewusstsein reflektierte Illusion eines akustischen Signals statt, sondern Elis sieht sich selbst als Handelnden und Hörenden, während er de facto passiv bleibt und dem Schlafzustand ausgeliefert ist. In dieser Verfassung ist er ein Beobachter seiner selbst und befindet sich – wenn auch unbewusst – in einer bestimmten Distanz zu seinem vermeintlichen Erleben. Das erste Mal, dass das Thema befremdlicher Stimmen für den Protagonisten überhaupt in den Fokus rückt, ist also durch die besondere körperliche Verfassung des Schlafs gekennzeichnet, so dass eine rationale Einordnung des vermeintlich Mysteriösen hier noch retrospektiv erfolgen kann: Die Stimmen werden nicht bei Bewusstsein imaginiert, sondern sind das Produkt eines Traumes. Anders verhält es sich bei der bereits zitierten Stelle, die Elis im Wachzustand beschreibt (vgl. Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 179 f.). Zwar steht er hier noch unter dem Einfluss der „wunderlichen Gebilde“ (ebd.) seines Traumes, jedoch ist die Stimme, die er hört, eindeutig nicht mehr der Figur des alten Bergmannes zuzuordnen, von der er zuvor geträumt hatte, sondern Elis wird „unaufhörlich gemahnt von der unbekannten Stimme“ (ebd., meine Her-

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vorhebung). Diese Klassifizierung der Stimme exemplifiziert die fortschreitende Entwicklung des Protagonisten in Richtung einer imaginierten Weltauffassung, die letztlich in seiner psychischen Vernichtung kulminiert. Die an dieser Stelle von ihm gehörte Stimme ist eben nicht mehr rational zu begründen wie seine vorherigen Träumereien, sondern sie markiert einen wichtigen Schritt auf seinem Weg in die Selbstzerstörung. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Elis durch die erlittenen Verluste in einer persönlichen Notlage, die zugleich auch eine Adoleszenzkrise darstellt.10 Diese steht in einer engen Verbindung mit der juvenilen Imaginationskraft und erwächst aus einem Missverhältnis zwischen einer idealisierten Vorstellung und der tatsächlichen Realität. Anneli Hartmann charakterisiert dieses Spannungsverhältnis folgendermaßen: Ausgelöst wird der Konflikt in der Regel durch das Erwachen des Begehrens. Die Hoffmannschen Helden schauen zumeist das Bild einer Frau, das ihre Imagination weckt. Zur Krisis kommt es nun, wenn die ‚Geschaute‘ zur Person aus Fleisch und Blut wird, wenn sie, wie Hoffmanns Formel dafür lautet, ‚ins Leben tritt‘. Es muß zur Krisis kommen, weil es, so Hoffmann, eine nicht tilgbare Differenz zwischen Imagination und Verkörperung gibt.11

Der Melancholiker Elis erweist sich in seinem Gefühl der Verlassenheit für die Gefährdungen einer überdurchschnittlich ausgeprägten Imagination als besonders anfällig. In seinem vorherigen Traum verbindet sich das Bild der kürzlich verstorbenen Mutter mit der Erscheinung von der Traumfigur, d. h. der von dem alten Bergmann als Königin bezeichneten lockenden jungen Frau. Sie verschmelzen zu einem Idealbild des Weiblichen, welches Elis im Wachzustand bei seiner Ankunft in Falun in Ulla, der Tochter des Bergwerkbesitzers Dahlsjö, realisiert sieht: – Ulla Dahlsjö war es, die ihm in dem verhängnisvollen Traum die rettende Hand geboten; er glaubte nun die tiefe Deutung jenes Traums zu erraten, und pries, des alten Bergmanns vergessend, das Schicksal, dem er nach Falun gefolgt. (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 183)

In Elis Wahrnehmung verbindet sich nicht nur das Vorbild der Mutter mit einer ihm bis dato fremden jungen Frau, sondern es vereinen sich auch Traum und Realität: Es findet keine Trennung mehr statt zwischen dem, was sich aus10 Vgl. zu dieser Deutung auch den bereits genannten Aufsatz von Anneli Hartmann; sowie Hartmut Böhme: „Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskultnovellen von Tieck, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann“. In: Text und Kontext. Literatur und Psychoanalyse. Band 10. Kopenhagen / München 1981. S. 133–176. 11 Hartmann, „Der Blick in den Abgrund“, S. 70.

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schließlich innerhalb seiner Psyche vollzieht, und den tatsächlichen Ereignissen der intradiegetischen Realität. Mitverantwortlich für dieses Verschwimmen des Realen und des Imaginierten ist eben jene Adoleszenzkrise des Protagonisten, die aus „einer charakteristischen ödipalen Konstellation“12 erwächst und ergänzend zu den anderen Mosaikteilchen seiner seelischen Vulnerabilität in den nicht aufgearbeiteten Erlebnissen der Vergangenheit wurzelt: Der Vater ist tot – psychodynamisch gesehen: entmächtigt; Elis übernimmt den Beruf des Vaters und wird dessen Stellvertreter: er erhält und ernährt die innig geliebte Mutter […] um den Preis der Ehelosigkeit, in der ödipalen Rolle des Geliebten der Mutter […]. Der Tod der Mutter bedeutet nun einen traumatischen Einbruch in das ödipale Gleichgewicht.13

Diese Diagnose von Hartmut Böhme unterstreicht einmal mehr die prägende Bedeutung einer Vorbelastung durch die persönliche Vita. Zugleich liefert er mit einem generellen Blick auf die Protagonisten bei E. T. A. Hoffmann einen plausiblen, aber nur partiellen Ausweg aus diesem Dilemma: Die Lösung der Hoffmannschen Helden – und dies bildet die Wurzel ihres strengen Kunstideals – besteht darin, daß die narzistische Imago strikt von der Realität abzuspalten und als ‚geistiges Bild‘, als ‚geistiges Innewohnen der Geliebten – niemals physisches Haben und Besitzen‘ […] zu sublimieren ist.14

Für den Bereich der Sexualität mag diese Form der Sublimierung für die von Hoffmann gezeichneten Protagonisten als eine – wenn auch körperlich unbefriedigende – Lösung funktionieren; die Trennung zwischen Wunschdenken und aktivem Handeln scheint kein Problem darzustellen, solange sich die „strikt[e] [Abspaltung] von der Realität“ auf ein bestimmtes Gebiet der physischen Bedürfnisse beschränkt und das Wirklichkeitsempfinden nicht generell gestört ist. Problematisch wird es, wenn – wie im Falle von Elis Fröbom – Wirklichkeit und Imagination untrennbar verschwimmen und ein den realen Bedingungen angemessenes Handeln in sämtlichen Lebensbereichen nicht mehr möglich erscheint. Das Abspalten von der Realität wird für ihn zu einem Daseinsmuster, das, freilich unreflektiert, die Regie über sein Fühlen und Tun übernimmt. Das zunehmende Hören einer ausschließlich in seiner Gedankenwelt angesiedelten Stimme ist letztlich auch dafür verantwortlich, die scheinbar

12 Böhme, „Romantische Adoleszenzkrisen“, S. 143. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 145. Böhme verweist hier zudem auf Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen 1971. Vgl. insbesondere S. 38 ff.

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überwundene Adoleszenzkrise wieder zum Ausbruch zu bringen, indem sie die für Elis haltbietende Beziehung zu seiner künftigen Frau Ulla in Frage stellt: ‚Was ist mit Dir, mein Elis?‘ fragte Ulla. Elis drückte sie an seine Brust und sprach: ‚Ja, ja! – Du bist wirklich mein und nun ist alles gut‘! Mitten in aller Wonne war es dem Elis manchmal als griffe auf einmal eine eiskalte Hand in sein Inneres hinein und eine dunkle Stimme spräche: ‚Ist es denn nun noch dein Höchstes, daß du Ulla erworben? Du armer Tor! – Hast Du nicht das Antlitz der Königin geschaut?‘ (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 192; meine Hervorhebungen)

Der in dem obigen Abschnitt verwendete Konjunktiv markiert, dass es sich bei der von Elis gehörten Stimme um eine figural-konstruierte Stimme handelt, und nicht um eine Äußerung, die in der erzählten Welt von einer intradiegetischen Figur de facto getätigt worden ist. Die Möglichkeitsform entspricht hier zugleich der Negation des Tatsächlichen und verweist auch aus grammatikalischer Sicht auf die Einbildungskraft des Protagonisten. Zudem verdeutlicht die arglose Frage Ullas nach Elis Befinden, dass die ihm zusetzende Stimme eben nicht allgemein auditiv rezipierbar ist, sondern dass sie ausnahmslos in Elis Kopf entsteht und auch einzig von ihm gehört wird. Die Gefahr der Imagination geht also mit einer Adoleszenzkrise einher, indem beide Faktoren einander reziprok begünstigen. Die Imagination des sensiblen jungen Protagonisten ist durch die vorherigen Belastungen stark anfällig für das vermeintlich Übersinnliche: Da ihm die Gegenwart zu einer Last geworden ist und ihm das eigene Leben nunmehr wertlos erscheint, erhält die Flucht in Träumereien eine entlastende Funktion, da sie ihn zumindest temporär aus der für ihn so schmerzhaften Realität befreit. Zugleich entwickelt sich die Kompensationsfunktion der Imagination, die dem adoleszenten Helden eigentlich zu einem seelischen Ausgleich verhelfen soll, im Falle von Elis Fröbom zu einem schwierig einzuschätzenden Faktor, da sie nicht auf den Bereich der Sexualität beschränkt bleibt, sondern sich auf alle weiteren Lebensbereiche ausdehnt und das Wirklichkeitsempfinden des Protagonisten nach und nach zerstört. Zusammengefasst bedeutet dies: Der ohnehin schon ausgeprägten Imagination von Elis werden durch seine Adoleszenzkrise noch größere Räume zugestanden, und parallel dazu lässt sich die Adoleszenzkrise nicht überwinden, da die auch im Wachzustand immer stärker präsente Imagination in Form eingebildeter Stimmen die genesungsversprechende Liebesbeziehung zu Ulla angreift und letztlich die Oberhand über die Entscheidungen von Elis gewinnt. Auch im Falle von Wieland lässt sich eine Entwicklung des Protagonisten beobachten, die zunächst noch eine rationale Einordnung der von ihm gehörten Stimmen erlaubt, später aber von einem unrealistischen Wirklichkeitsempfin-

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den geprägt ist. Als Theodore erstmalig mit einer für ihn unerklärlichen Stimme in Kontakt tritt, handelt es sich um eine Täuschung durch den intriganten Bauchredner Carwin, der ihn glauben lässt, die Stimme seiner Frau Catherine nahe dem familieneigenen Tempel zu vernehmen (s. o.). Wenngleich es sich hier aus der subjektiven Sicht des Protagonisten um ein Mysterium handelt, das erst viel später aufgeklärt wird, so ist seine auditive Wahrnehmung doch hier (noch) nicht das Resultat einer psychischen Erkrankung, sondern das Ergebnis einer hinterlistigen Täuschung; die gehörte Stimme entsteht nicht erst in Theodores Kopf, sondern sie ist real im Sinne von innerhalb der erzählten Welt potenziell auch für andere Figuren hörbar. Zu einer figural-konstruierten Stimme, wie sie in der zuvor erstellten Typologie definiert wurde, kommt es erst, als Theodore Wieland Stimmen zu hören beginnt, die jeglichen akustischen Signals entbehren. Auf die Bedeutung der nicht verarbeiteten Ereignisse aus der Vergangenheit für die Konstruktion einer solchen Stimme wurde bereits hingewiesen. Dieser Punkt ist allerdings nicht die einzige Parallele zwischen Elis Fröbom und Theodore Wieland, denn auch für die weitere psychische Entwicklung Wielands spielt die Imagination eine bedeutsame Rolle. Das entscheidende Differenzkriterium zu dem Protagonisten von E. T. A. Hoffmann stellt hier die Antriebsfeder für die ungebremste problematische Entwicklung von Theodore dar: Während es sich im Falle von Elis Fröbom um ein Zusammenspiel von seelischer Verwundbarkeit und einer juvenilen Adoleszenzkrise handelt, zeigt sich bei Theodore Wieland ebenso eine enorme emotionale Vulnerabilität, die sich aber in seinem Falle mit einer ausgeprägten Religiosität paart. Mit der fiktionalen Darstellung der potenziellen Gefahren einer überbordenden Imagination greift Charles Brockden Brown ein nationalspezifisches Thema auf, das seinerzeit innerhalb der Vereinigten Staaten im Fokus eines allgemeinen Interesses stand. Sowohl aus puritanischer Sicht als auch für die Vertreter der Aufklärung stellte die schöpferische Kraft der Imagination eine Gefährdung der eigenen Ziele dar: In the moralizing critical debate of eighteenth-century America the imagination was stigmatized as a non-conformist and potentially dangerous mental power because it was considered to be capable of producing images without direct reference to reality. The fictional text, being a manifestation of the latently subversive imagination, was held to be a threat both to puritan morality and to the main tenets of the Age of Enlightenment.15

15 Wolter, Jürgen: „‚Novels are…the most dangerous kind of reading‘: Metafictional Discourse in Early American Literature“. In: Connotations 4 (1994 / 95), H. 1–2. S. 67–82.

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Die ausgesprochen geschickte Präsentation seines Themas ermöglicht es Brown aber, seinen poetischen Text, der ja selbst ein Produkt schöpferischer Kreativität und somit das Ergebnis künstlerischer Imagination ist, in einer von den Dogmen des fiktionsfeindlichen Puritanismus geprägten Gesellschaft durch einen didaktischen Anspruch zu legitimieren: Zwar präsentiert er in seinem Roman eine künstliche, von ihm als Autor geschaffene Welt, jedoch wird seine schriftstellerische Tätigkeit dadurch gerechtfertigt, dass die Gefährdung des Menschen durch eine außer Kontrolle geratene Imagination auf eine so nachdrückliche Art und Weise geschildert wird, dass die fiktionale Literatur hier aus puritanischer Sicht als ein Medium der Warnung für den Einzelnen fungieren kann. Die Kunst erhält also ihre Daseinsberechtigung dadurch, dass der Niedergang eines von der Imagination beherrschten Menschen als ein mahnendes Exempel nachgezeichnet wird. Theodore Wieland soll der Leserschaft als ein abschreckendes Beispiel dienen und erfüllt so, zumindest oberflächlich, die strengen Konventionen des Puritanismus. Dass diese Imagination hier wiederum auf dem Nährboden eines zur Unfreiheit und Ängsten erziehenden Puritanismus erwächst und dieser eine auf derart gefährliche Weise ausufernde Phantasie paradoxerweise erst ermöglicht, wird freilich nicht explizit gesagt und ist nur zwischen den Zeilen zu erschließen. Während sich bei Elis Fröbom die Nicht-Bewältigung der Vergangenheit mit einer Adoleszenzkrise paart, die eine dauerhafte Annäherung an eine Frau verhindert und somit eine stabile Liebesbeziehung unmöglich macht, gehen die frühkindlichen Erfahrungen des Theodore Wieland mit seinem sich beständig steigernden religiösen Übereifer einher und verursachen – kombiniert mit den Täuschungen durch Carwin – eine seelische Krise. Anders als Elis, dessen emotionales Verharren in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter keinen Ausweg aus der Einsamkeit zulässt, befindet sich Theodore Wieland nach einer traumatisierenden und von Entbehrungen gezeichneten Kindheit in einer – zumindest auf den ersten Blick – geordneten und haltbietenden Familiensituation: Er hat geheiratet, ist mehrfacher Vater und lebt im Kreise seiner Schwester und Freunde in gesicherten finanziellen Verhältnissen. Zumindest äußerlich scheint es, als habe er verschiedene Entwicklungsstufen abgeschlossen und die Vergangenheit hinter sich lassen können. Seine persönliche Identitätskrise liegt nicht in dem Unvermögen begründet, sein Selbst zu finden – wie es bei Elis Fröbom der Fall ist –, sondern ihm wird die persönliche Vergangenheit dadurch zum Verhängnis, dass hier bereits der Keim für seine zwanghafte Religiosität gelegt wurde und er sich in dem aussichtslosen Bemühen verliert, seine vermeintlich von Gott auferlegten Pflichten zu erfüllen. Theodore Wieland scheitert nicht an dem Versuch, seine Identität zu finden, sondern er geht daran zugrunde, dass er sein bereits konstituiertes Selbst als Ehemann

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und Vater zunehmend verliert. Im Zuge seines religiösen Übereifers entwickelt er sich zu einer identitäts- und willenlosen Marionette, die sich einzig den Stimmen unterordnet, die sein Wahn ihm suggeriert oder mittels welcher der Bauchredner Carwin ihn tatsächlich manipuliert, indem er durch seine Täuschungen zugleich die Fehlbarkeit der seinerzeit so hochgelobten menschlichen Sinne vorführt. Durch diese besondere psychische Konstruktion der Figur Theodore Wieland, die sich durch eine pathologische, durch den Puritanismus geprägte Religiosität und eine daraus erwachsende Empfänglichkeit für Sinnestäuschungen auszeichnet, verbindet Charles Brockden Brown auf kritische Weise zwei Themenfelder, die den Diskurs in Amerika nach der Revolutionszeit bestimmten, und überträgt diese in das Medium der Kunst. Aus psychologischer Perspektive nimmt Brown hier eine ausgesprochen moderne Sichtweise ein, indem er auf das Potenzial der Sinnestäuschungen wohl eingeht und zudem die Fehlbarkeit einer Geisteshaltung vorführt, die sich auf bloße Erfahrungen gründet. Zugleich macht er aber deutlich, dass diese Täuschungen nur der Auslöser für Wielands Wahnsinn sind: Die eigentliche Gefahr, die Theodore Wieland bedroht, liegt in seinem eigenen Bewusstsein begründet, das offensichtlich eine bestimmte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen aufweist. Brown unterstreicht deutlich die Risiken, die mit einer Verabsolutierung der sinnlichen Wahrnehmung einhergehen, indem er deren Angreifbarkeit durch Wielands Trugschlüsse vorführt; von besonderer Bedeutung ist aber, dass die Fehlzuordnungen der Stimmen der Auslöser einer pathologischen Entwicklung sind,16 sich also die Täuschungen durch eine fremde Instanz mit einer bestimmten Form der Selbsttäuschung verbinden. Brown demonstriert anhand der fiktionalen Vita von Theodore Wieland eindringlich, dass auch der im ausgehenden 18. Jahrhundert auf dem Vormarsch befindliche Rationalismus der Scottish Common Sense School kein Garant für eine gesicherte Wahrheitsfindung darstellt, im Gegenteil: Theodores anfängliches ausschließliches Vertrauen auf seine sinnliche Wahrnehmung geht zunächst einher mit einem Ausblenden seiner Überlegungskraft; paradoxerweise entsprechen die de facto gehörten Stimmen nicht der Wahrheit im Sinne einer Identität von Stimme und angenommenem Sprecher. Zugleich fungiert die Religion in dieser Wahrnehmungskrise nicht als ein schutzgewährender Zufluchtsort, der dem Menschen Halt bietet, sondern sie erweist sich in Form eines rigiden Puritanismus als ein weiterer Faktor, der das verunsicherte Individuum unter Druck setzt und dadurch eine rationale Sicht 16 Vgl. hierzu auch Michael D. Bell: „‚The Double-Tongued Deceiver‘: Sincerity and Duplicity in the Novels of Charles Brockden Brown“. In: Early American Literature 9 (1974), H. 2. S. 143– 163.

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auf die Welt verhindert.17 Der Roman Wieland kann zugleich aber auch als eine Zeitdiagnose verstanden werden, die über die Bereiche der Religion und Erkenntnisphilosophie hinausgeht, indem sich innerhalb des Textes die Unsicherheiten einer jungen Republik spiegeln: Wieland channels a sense of the vulnerability of the new American republic, a feeling that reprises the fears of the Revolutionary period. […] Brown plays with the uncanny in order to highlight the alienation – even terror – experienced by a consciousness newly released from the confines of custom and tradition.18

Barbara Judson verweist hier auf eine Schwellensituation, in der sich die Vereinigten Staaten nach dem Erreichen ihrer Unabhängigkeit befanden, da die formale Eigenständigkeit einen Verlust alter Normen mit sich brachte, die zugleich eine Suche nach neuer Orientierung bedingte. Brown nutzt in seinem Roman das Phänomen der Mehrstimmigkeit exemplarisch, um die Verunsicherung zu porträtieren, die sich aus dem Verlust alter Autoritäten ergeben kann: Die neugewonnene Freiheit des Menschen, sich selbst und die Gültigkeit bisheriger Maßstäbe infrage zu stellen, geht einher mit der Pflicht der Selbstverantwortung und einer beständigen Gefahr der Überforderung.19 Auch Eric Wolfe überträgt die Darstellung der Entwicklung Theodore Wielands auf einen größeren historischen Zusammenhang und untersucht dessen (Fehl-)Interpretation der durch Carwin fingierten Stimmen. Wielands unbewusstes Bemühen, die gehörten Stimmen einem bestimmten Sprecher zuzuordnen, also eine Einheit zwischen Stimme und Identität herzustellen, sieht Wolfe in einem übertragenen Sinne als eine Kritik an dem nationalen Wunsch, auch auf politischer Ebene mit einer einheitlichen Stimme zu sprechen.20 Theodore Wieland und auch die anderen Figuren, die sich durch Carwins besondere Fähigkeiten täuschen lassen, stehen hier symbolisch für eine naive Logik, die mit dem Ziele der Einheit durch eine (vermeintliche) Kausalität strukturiert ist: „The characters in Wieland cannot 17 Zu einer Deutung des Textes als explizite Religionskritik durch Brown vgl. auch Leigh Eric Schmidt: „From Demon Possession to Magic Show: Ventriloquism, Religion, and the Enlightenment“. In: Church History 67 (1998), H. 2. S. 274–304. Vgl. ebenfalls die sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Religion bei Jenna Prince, die den Roman in der Tradition einer Verführungsgeschichte interpretiert, in der Wieland den weiblichen Part der von Gott Verführten übernimmt. Jenna Prince: „The Divine Rake: God’s Seduction of Theodore Wieland in Charles Brockden Brown’s Wieland“. In: The Sigma Tau Delta Review 7 (2010). S. 96–105. 18 Barbara Judson: “A Sound of Voices: The Ventriloqual Uncanny in Wieland and Prometheus Unbound”. In: Eighteenth Century Studies 44 (2010), H. 1. S. 21–37, hier: S. 25. 19 Vgl. hierzu auch Judson, „A Sound of Voices“, S. 34. 20 Eric A. Wolfe.: „Ventriloquizing Nation: Voice, Identity, and Radical Democracy in Charles Brockden Brown’s Wieland“. In: American Literature 78 (2006), H. 3. S. 431–457. Vgl. insbesondere S. 436 f.

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hear a voice without imputing it to a bodily source, or in the most extreme case, an extrabodily, or divine source. If bodies produce voices, voices also produce bodies.“21 Diese Fehleinschätzung durch die Figuren steht in Wolfes Interpretation stellvertretend für die Gefahren nach dem Ruf einer einheitlichen nationalen Identität. Der Wunsch nach einem kollektiven Willen stellt sich jedoch nicht nur wenig realistisch dar, sondern widerspricht zugleich auch den Grundprinzipien einer Demokratie, in der das Recht der Meinungsfreiheit als ein Grundwert verankert ist. Die Wirkungsmacht einer ungezügelten Imagination wird in dem Ansatz von Wolfe als eine Gefahr begriffen, die Individuum und Kollektiv gleichermaßen bedroht, indem sie den Wunsch nach einer Einheit nährt, die in einer durch Konflikte und Antagonismen strukturierten Welt unmöglich erscheint: Theodore Wieland scheitert an dem Versuch, disparate Dinge homogenisieren zu wollen, ein Versuch, der nicht nur misslingen muss, sondern zugleich auch nicht abschätzbare Konsequenzen nach sich zieht. Letztlich sind es nicht die Täuschungen durch Carwin, an denen Theodore Wieland zerbricht, denn diese erweisen sich lediglich als der Auslöser für seine zunehmende Introspektion,22 sondern es ist vielmehr eben jene überhandnehmende Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, die dem Protagonisten äußerst belastende, inhumane und kaum lösbaren Aufgaben suggeriert, die ihm vermeintlich von einer göttlichen Allmacht aufgetragen worden sind. Die pathologische Reflexion über das eigene Sein und die daran anknüpfenden Aufgaben, die er als gläubiger Puritaner erfüllen zu müssen glaubt, führt Theodore Wieland schließlich im wörtlichen Sinne in die Irre. Dieses Prinzip einer ständigen Selbstbeobachtung und Interpretation wurde aus narratologischer Sicht bereits für Clara Wieland herausgearbeitet, die den Roman als homodiegetische Erzählinstanz retrospektiv erzählt. Jürgen Wolter erkennt in dieser besonderen Form des Erzählens eine bemerkenswert moderne metafiktionale Komposition des Textes, die sich in einer Entwicklung Claras spiegelt: At the beginning of her narrative Clara is still a relatively objective, matter-of-fact historian, and she frequently emphasizes the factuality of her account, for, as she writes, ‘[if] my testimony were without corroborations, you would reject it as incredible’. Gradually, however, she realizes ‘the difficulty of the task’ which she has undertaken because her subjective reactions to the events begin to interfere with her rational report: the historian and eyewitness doubts the accuracy of her own perception of reality […]. History turns 21 Ebd., S. 434 f. 22 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Michael Bell, der Carwin ebenfalls wohl die Rolle des Auslösers, nicht aber die des Verantwortlichen zuweist. Vgl. Michael D. Bell: „‚The DoubleTongued Deceiver‘: Sincerity and Duplicity in the Novels of Charles Brockden Brown“. In: Early American Literature 9 (1974), H. 2. S. 143–163. Vgl. insbesondere S. 146.

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into psychography, history turns into his, or in this case, her story. This is a very modern concept […].23

Die Erzählinstanz, die ihre Aufgabe zunächst noch in der detailgetreuen Wiedergabe der Geschehnisse nach dem Vorbild eines sachlichen Historikers gesehen hatte, erkennt in einem Akt kritischer Selbstbetrachtung die Unmöglichkeit des von ihr gesteckten Zieles, da die vermeintlich objektiven Beobachtungen niemals von der grundsätzlich subjektiven Wahrnehmung der Außenwelt getrennt werden können. Die Figur Clara Wieland gelangt über ihren Erzählprozess zu einem neuen Selbstbild, das von ihrer ursprünglichen Vorstellung des neutralen Berichterstatters abweicht und sie als eine fiktionsschaffende Geschichtenerzählerin ausweist, die über den Vorgang der Narration nicht die (fiktionsinterne) Realität wiedergibt, sondern eine, d. h. ihre, Geschichte erzählt und somit eine neue Welt schafft. Dieser Prozess der fiktionalen Kreation einer erzählten Welt auf der extradiegetischen Ebene durch eine homodiegetische Erzählinstanz wird anhand der Figur Theodore Wieland zusätzlich auf der intradiegetischen Erzählebene gespiegelt. War es bei Clara hauptsächlich das belastende Involviertsein in die erzählten Ereignisse, das dem Anspruch einer sachlichen Wiedergabe der Ereignisse zuwiderlief, so ist bei Theodore die bereits genannte unbewältigte Vergangenheit verantwortlich für eine gefilterte Sicht auf das Geschehen um ihn herum.24 Als gläubiger Puritaner an eine beständige Beobachtung und Hinterfragung der eigenen Person gewöhnt, verliert sich Wieland zusehends in einer Welt der Introspektion und Imagination, die ihn seine ureigene Realität schaffen lässt. Freilich ohne es zu wissen und zu wollen, schlüpft er in die Rolle Gottes als Schöpfer der Welt und glaubt zugleich, dessen Stellvertreter auf Erden zu sein, indem er davon überzeugt ist, einen göttlichen Auftrag empfangen zu haben und diesen erfüllen zu müssen. Die von Jürgen Wolter herausgestellte Selbstreflexivität des Romans im Sinne einer Selbstbetrachtung25 auf der extradiegetischen Ebene des Erzählens, findet demnach eine Entsprechung auf der intradiegetischen Ebene, was dem Text eine zusätzliche Selbstreflexivität im Sinne eines ‚Sich-Selbst-Spiegelns‘26 verleiht. Somit schafft es Brown in seinem Roman, sich dank einer komplexen Erzählstruktur eines ambigen Themas anzunehmen und zugleich die literarischen 23 Wolter, „Novels“, S. 73. 24 Gemeint ist hier eine besondere Beeinträchtigung, die zu der grundsätzlich subjektiven Wahrnehmung hinzukommt. 25 Vgl. hierzu Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Zur Selbstreflexion im Sinne einer Selbstbetrachtung vgl. insbesondere S. 56 ff. 26 Vgl. ebd., S. 71 ff.

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Konventionen seiner Zeit nicht zu verletzen. Auf einer ersten Bedeutungsebene führt er anhand des Niederganges der Figur Theodore Wieland die Gefahren einer überbordenden Imagination vor, ein Zugeständnis an die geistesgeschichtliche Haltung seiner Zeit, die sowohl durch den Rationalismus der Aufklärung als auch durch das Erbe eines traditionell fiktionskritischen Puritanismus geprägt ist. Brown übt auf eine subtile Weise Kritik an eben jener Verabsolutierung der vermeintlich sachlichen sinnlichen Wahrnehmung, da diese grundsätzlich durch eine subjektive Perzeption gefiltert wird und somit zugleich auch immer von einem Akt der Interpretation begleitet ist. Angebunden sind diese Vorbehalte gegenüber dem Rationalismus an eine unterschwellige Warnung vor den Gefahren eines rigiden Puritanismus, indem Theodore Wieland exemplarisch als ein in Zwängen befindlicher und verunsicherter Mensch vorgeführt wird. Für Theodore entwickelt sich das puritanische Erbe zu einer gesellschaftsfeindlichen Last, indem sie das friedliche Zusammenleben in einer familiären Gemeinschaft zerstört und das Individuum isoliert. Das Prinzip der Selbstreflexion in Form bestimmter narrativer Strategien fungiert hier als ein streng durchkomponiertes künstlerisches Produkt, das unter der vermeintlich konformistischen Oberfläche einen deutlichen Gegenentwurf zu der beständigen Selbstbetrachtung in einem puritanischen Sinne markiert, welche nicht einer kritischen Reflexion dient, sondern einzig auf die Einhaltung strenger Dogmen abzielt. Brown präsentiert auf inhaltlicher wie formaler Ebene einen Prozess kritischer Erkenntnisfähigkeit und stellt somit geradezu das Pendant dessen dar, wozu eine unnachgiebige Religionsauffassung führen kann, indem sie den Menschen seiner intellektuellen Fähigkeiten beraubt und ihn in die Unfreiheit führt. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ folgen ebenfalls einem bestimmten narrativen Prinzip und entstammen der Geschichtensammlung Die SerapionsBrüder. Hierbei handelt es sich um einen Zyklus von Unterhaltungen innerhalb eines fiktiven Freundeskreises, in den wiederum verschiedene, in sich abgeschlossene, Erzählungen eingebettet sind. In ihren Untersuchungen zum serapiontischen Prinzip E. T. A. Hoffmanns27 spricht Ilse Winter von einer „besonderen Fähigkeit, das innerlich Geschaute, also das Eingebildete, so anschaulich zu gestalten, dass es Wirklichkeitscharakter annimmt“28 und formuliert so die Basis serapiontischen Erzählens. Dieses soll eine Synthese aus Phantasie und Realität schaffen: Es geht um das „Konzept von der ‚Duplizität des Seins‘ und das daraus resultierende Missverhältnis zwischen dem Innenleben eines Menschen und der faktischen Realität“,29 welches als ein Grundmuster das sera27 Ilse Winter: Untersuchungen zum serapiontischen Prinzip E. T. A. Hoffmanns. Den Haag 1976. 28 Ebd., S. 9. 29 Ebd., S. 10.

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piontische Erzählen durchziehen soll. Dieses besondere Verhältnis zwischen Realität und Phantasie als ein „Prinzip des poetischen Schaffens, [in dem] […] eine neue phantasiegeschaffene Welt […] aus der Anschauung der Wirklichkeit [entsteht]“,30 kann auf verschiedene Weise initiiert werden. „Die Bergwerke zu Falun“ wurden durch literarische Texte angeregt und gehen ursprünglich auf Berichte über einen jahrzehntelang konservierten Leichnam eines Bergmannes aus dem 18. Jahrhundert zurück, die wiederum durch Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft populär wurden.31 Bereits vor Hoffmann verarbeitete Achim von Arnim diesen Stoff in einem Gedicht und veranlasste Johann Peter Hebel zu seiner Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“. Inspiriert von diesen literarischen Vorläufern, erfüllt Hoffmanns Geschichte den Anspruch serapiontischen Erzählens, indem die Realität in Form naturwissenschaftlicher Berichte und der real-existierenden künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema als ein Grundstein genutzt wird, um dann unter Ergänzung der Phantasie eine neue (fiktionale) Welt zu schaffen. Als Urheber legt Hoffmann seine Erzählung Theodor in den Mund, der als fiktionaler Autor auftritt und somit außerhalb der von ihm erzählten Geschichte steht. Noch vor dem eigentlichen Beginn verweist Theodor auf die besondere Bedeutung der Einbildungskraft, die ihm – ganz im Sinne des serapiontischen Prinzips – das Verfassen seiner Erzählung erst ermöglicht hatte: Es wird spät, und das Herz würde es mir abdrücken, wenn ich euch nicht noch heute eine Erzählung vorlesen sollte, die ich gestern endigte. – Mir gab der Geist ein, ein sehr bekanntes und schon bearbeitetes Thema von einem Bergmann zu Falun auszuführen des breiteren, und ihr sollt nun entscheiden, ob ich wohlgetan der Hingebung zu folgen oder nicht. (Hoffmann, „Die Bergwerke zu Falun“, S. 170)

Neben dieser Rahmenkonstruktion, die den Grundvoraussetzungen serapiontischen Erzählens Rechnung trägt, findet sich das Prinzip auch auf der intradiegetischen Ebene. Die Figur Elis Fröbom verkörpert den Typus eines zerrissenen Menschen, dessen Innenleben in einem deutlichen Kontrast zu der ihn umgebenden Realität steht: Seine besondere Anschauung der Welt schafft eine ‚neue‘ Realität aus seiner subjektiven Sichtweise heraus und steht zugleich in einem engen Zusammenhang mit der Kategorie der figural-konstruierten Stimme. Denn die von Elis gehörte Stimme bildet nicht nur das Bindeglied zwischen Vergangenheit und fiktionsinterner Gegenwart (s. o.), sondern sie schlägt auch eine Brücke zwischen dem ‚innerlich Geschauten‘ und der Wirklichkeit; erst 30 Ebd. 31 Zur Entstehungsgeschichte siehe Hartmut Steinecke: Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt am Main / Leipzig 2004. Vgl. insbesondere S. 370 ff.

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durch die Versprachlichung der Wahrnehmung von Elis, die als figural-konstruierte Stimme über den Bericht der narrativen Instanz mitgeteilt wird, gelingt eine Synthese von Innen und Außen. Über die figural-konstruierte Stimme vollzieht sich eine Übertragung des inhaltlich ausgerichteten serapiontischen Prinzips auf formale Textfunktionen: Das spezielle Verhältnis zwischen Phantasie und Realität, das auf der inhaltlichen Ebene das Erzählte prägt, findet sich auch auf der Ebene des Erzählens wieder, indem hier eine besondere Variante der ‚Stimme‘ dazu genutzt wird, eine nonverbale subjektive Einbildung zu versprachlichen und ihr auf diese Weise eine Wirklichkeit zu verleihen. Sowohl in Browns Wieland als auch in Hoffmanns „Die Bergewerke zu Falun“ kommt der imaginierten Konstruktion einer Stimme durch die jeweiligen Protagonisten eine doppelte Funktion zu. Auf der inhaltlichen Ebene dient sie zu einem besseren Verständnis der vergangenen Ereignisse innerhalb der erzählten Welt und liefert zugleich Informationen zu der Psychologie der hörenden Figur. Zugleich ist sie Teil eines jeweiligen bestimmten Formprinzips, welches das Erzählen strukturiert und eine Spiegelung des Erzählten im Erzählen ermöglicht: Die aus dem Geiste der Vergangenheit geborene Stimme bricht sich nicht nur Bahn in die fiktionale Gegenwart der Protagonisten, sondern behauptet ihren Platz auch als strukturierendes Element im Erzählen.

4.2 Realismus Frauenfiguren im ausgehenden 19. Jahrhundert: Über die Wechselbezüge von Identität und Polyphonie in Theodor Fontanes L’Adultera (1882) und Kate Chopins The Awakening (1899) In seinem ersten Berliner Gesellschaftsroman L’Adultera (1882) präsentiert Theodor Fontane eine Geschichte aus der sogenannten ‚guten Gesellschaft‘ und stellt die Entwicklung der Protagonistin Melanie van der Straaten dar. Diese wird anfänglich gezeigt als eine junge Frau, die wohl materiell verwöhnt ist, aber zugleich in ihrer Ehe mit dem deutlich älteren Ezechiel van der Straaten auch abhängig und in ihrer ausschließlichen Rolle als Ehefrau und Mutter nicht dauerhaft glücklich ist. In dem sich zeitweise als Gast im Hause van der Straaten aufhaltenden Ebenezer Rubehn findet Melanie, die vor allem der zweideutige Humor ihres Ehemannes zunehmend abstößt und beschämt, einen tröstenden Freund in ihrem Alter, in den sie sich schließlich verliebt. Ebenezer erwidert ihre Gefühle und es kommt zu einer folgenschweren Begegnung in einem Palmenhaus, bei welcher Melanie die Ehe bricht und schwanger wird. Gemeinsam mit Ebenezer verlässt sie die Stadt in Richtung Italien, wo sie bei der Ge-

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burt des Kindes beinahe ihr Leben verliert. Zurück in Berlin leidet Melanie unter der Ablehnung ihrer beiden Töchter aus erster Ehe und der sich zusehends verschlechternden Beziehung zu ihrem zweiten Ehemann, die mittlerweile von einer angespannten Sprachlosigkeit und Entfremdung zwischen den beiden geprägt ist. Nach einem emotional aufwühlenden Kirchenbesuch drängt Melanie auf ein Gespräch, in welchem Ebenezer mit den finanziellen Problemen seiner Familie den Grund für seinen zunehmenden Rückzug nennt. Von der Gewissheit darüber beflügelt, dass es sich ausschließlich um wirtschaftliche Sorgen handelt, die ihre Ehe belasten, entwickelt Melanie den Wunsch, zum monatlichen Einkommen beizutragen und nimmt eine berufliche Tätigkeit als Fremdsprachenlehrerin auf. Der Roman schließt mit einer versöhnlichen Szene am Weihnachtsabend, an dem der von Melanie verlassene Ezechiel ihr eine Miniatur des titelgebenden Tintoretto-Gemäldes zukommen lässt: L’Adultera – die Ehebrecherin. Eine größere Gemäldekopie hatte während der Ehe noch für Unstimmigkeiten gesorgt und eine Diskussion um die Beziehung nach sich gezogen, bei dessen Ende Ezechiel freimütig bekannt hatte: „Und wenn ich dich je wieder daran erinnere, so sei’s im Geiste des Friedens und zum Zeichen der Versöhnung“.32 Einen solch harmonischen Abschluss findet Kate Chopins Roman The Awakening (1899) nicht. Auch hier steht die Entwicklung einer Ehefrau und Mutter im Vordergrund, die sich von ihrem Ehemann entfernt hat und die, ausgelöst durch die amouröse Begegnung mit einem jüngeren Mann, ihr bisheriges Leben hinterfragt. Zu Beginn der Narration befindet sich die Protagonistin Edna Pontellier mit ihrem Ehemann Léonce und den beiden gemeinsamen Söhnen im Urlaub am Golf von Mexiko, als sie sich in Robert Lebrun, den Sohn ihrer dortigen Vermieterin, verliebt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Beziehung mit Léonce, der seine Frau mehr als Besitz denn als Partnerin betrachtet, bereits nicht mehr intakt. Nach einer ersten Annäherung zwischen Robert und Edna, die sich bei gemeinsam verbrachten Stunden am Meer ergibt und bei welcher Edna zaghaft erlernt zu schwimmen, entzieht sich der junge Mann überfordert der Situation und reist zunächst nach Mexiko. Die Sommerferien gehen zu Ende und die Familie Pontellier kehrt zurück in ihr Haus nach New Orleans. Dort beginnt Edna ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen zu vernachlässigen und sich zunehmend Aktivitäten zu widmen, die ihr Freude bereiten. Als Léonce beruflich nach New York reist, nutzt Edna die Zeit ohne ihren Mann, um das eheliche Domizil zu verlassen und siedelt in ein nahegelegenes kleines Haus um. Zugleich beginnt sie eine Affäre mit dem stadtbekannten Frauenhelden Alcée Arobin, zu 32 Theodor Fontane: L’Adultera [1882]. Berlin 1998. Hier S. 156. Alle Fontane-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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dem sie im Gegensatz zu Robert Lebrun allerdings keine tiefe emotionale Bindung entwickelt. Zudem sucht sie verstärkt die Nähe zu Mademoiselle Reisz, einer zurückgezogen lebenden Musikerin, die in Briefkontakt zu dem noch in Mexiko befindlichen Robert Lebrun steht. Edna drängt darauf, über die Inhalte der Konversation informiert zu werden. Schließlich erfährt sie, dass Robert noch immer an sie denkt und sie zu den Hauptthemen der Korrespondenz gehört. Als er zurückkehrt, gesteht er Edna seine Liebe und bekennt, dass die vermeintliche Geschäftsreise nur eine Ausrede war, um sich der Situation zu entziehen. Noch bevor die komplizierten Beziehungsverhältnisse eindeutig geklärt werden können, wird Edna zu ihrer Freundin Adèle Ratignolle gerufen, die gerade unter Komplikationen ein Kind zur Welt bringt. Als Edna zurückkehrt, findet sie von Robert lediglich eine knappe Notiz, aus der hervorgeht, dass er den Kontakt zu ihr endgültig abbricht. Die Protagonistin reist daraufhin nach Grand Isle, an jenen Ort, an dem sie Robert kennengelernt hatte. Die Narration bricht ab, als Edna immer weiter ins Meer hinausschwimmt und ihr zunehmend die Sinne schwinden; ihr Suizid wird innerhalb des Romans nicht mehr explizit festgestellt, doch die Informationen zu ihrer schwächer werdenden Konstitution legen nahe, dass der Text mit dem nahenden Tod der Hauptfigur schließt. Beide Romane, sowohl L’Adultera als auch The Awakening, sind von den Zeitgenossen sehr kritisch betrachtet worden. In einem Brief vom 27. April 1894 an den schweizerischen Schriftsteller Joseph Viktor Widmann äußert sich Theodor Fontane über die Reaktionen auf L’Adultera und schreibt rückblickend: „Meine L’Adultera-Geschichte hat mir damals […] viel Anerkennung, aber auch viel Ärger und Angriffe eingetragen.“33 Diese Zweiteilung in der Sichtweise auf die Ehebruchsgeschichte, die durch einen historischen Fall in Berlin angeregt wurde,34 hält sich bis heute und zieht sich wie ein roter Faden kontinuierlich durch die Rezeptionsgeschichte. So attestiert Paul Heyse im Jahre 1884, nur zwei Jahre nach dem Erscheinen des Textes, dem Verfasser in Bezug auf L’Adultera eine wenig schmeichelhafte „Verirrung des Talents“35 und liefert damit eine Einschätzung, die auch in den Folgejahren zunächst keine nennenswerte Rehabilitierung erfährt. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die FontaneForschung zunächst ihre Probleme mit L’Adultera und tut sich schwer damit, in

33 Brief vom 27. April 1894. In: Richard Brinkmann / Waltraud Wiethölter (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Theodor Fontane. 2 Bde. München: 1973. Hier Band 2, S. 273. 34 Zu dem Fall der Eheleute Therese (geb. von Kusserow) und Louis Ravené vgl. Christian Grawe: „L’Adultera. Novelle“. In: Christian Grawe / Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart 2000. S. 524–533. Vgl. S. 525. 35 Hier zitiert nach Irmela von der Lühe: „‚Wer liebt hat recht.‘ Fontanes Berliner Gesellschaftsroman L’Adultera“. In: Fontane-Blätter 61 (1996). S. 113–133, hier: S. 116.

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dem Roman mehr als eine „Vorstufe“36 zu Fontanes späteren Erfolgen wie Irrungen, Wirrungen (1887) oder Effi Briest (1895/96) zu erkennen.37 In den letzten Jahren allerdings hat sich der Blick auf L’Adultera gewandelt, und es erscheinen verstärkt Arbeiten zu dem Text, die sich dezidiert mit der Symbolik beschäftigen. Diese loben den Modernitätsgehalt des Werkes und sehen in ihm bereits einen Vorläufer zur Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende.38 Ergänzend hierzu hat sich ein verstärktes Interesse herausgebildet, den Roman unter dem Gesichtspunkt der bildenden Kunst zu betrachten und ihn „auf den Zusammenhang von Ich-Bildung und Kunst“ hin zu untersuchen.39 Somit zeigt sich das Urteil über Fontanes Frühwerk bis in die Gegenwart insgesamt zwiespältig: Während die zeitgenössische Kritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts sich tendenziell geringschätzig äußert, fällt das Fazit der jüngeren Forschung durchaus wohlwollend aus. Trotz verallgemeinernder Untersuchungen zur Sprache40 steht eine dezidiert narratologische Untersuchung der Kategorie der Stimme noch aus, was umso erstaunlicher erscheint, als sich auch auf der formalen Ebene Merkmale moderner Narrationen finden (wie z. B. selbstreflexives und metafiktionales Erzählen), welche die bereits innerhalb der Forschung herausgestellten inhaltlichen Innovationen ergänzen. Wenngleich L’Adultera also erst relativ spät innerhalb der Fontane-Forschung gewürdigt wird, so kann man doch im Vergleich zu The Awakening von einer noch moderat verlaufenden Rezeptionsgeschichte sprechen. Bereits kurz nach Erscheinen dieses Textes findet sich in The Nation in der Ausgabe vom 3. August 189941 die vernichtende Einschätzung Kate Chopins als „one more clever 36 Charlotte Jolles: Theodor Fontane. 4. Aufl. Stuttgart u. a. 1993. Hier: S. 47. 37 Vgl. etwa die Kritik von Peter Demetz, der die „[noch] unsichere Hand des alternden Anfängers“ kritisiert (Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. München 1964. Hier: S. 135) oder Conrad Wandrey, der von einer „forcierten Symbolik“ spricht (Conrad Wandrey: Theodor Fontane. München 1919. Hier: S. 173). Einen ausführlichen Überblick zur Rezeption von L’Adultera liefert Helen Chambers: Theodor Fontanes Erzählwerk im Spiegel der Kritik. Würzburg 2003. S. 65–73. 38 Vgl. etwa Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle. Würzburg 2003. Außerdem z. B. Heide Eilert: „Im Treibhaus“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978). S. 494–517. 39 Vgl. Michael Scheffel: „Die Literaturkritik im 20. Jahrhundert und der aktuelle Forschungsstand“. In: Christian Grawe / Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart 2000. S. 927–964. S. 954. Hier auch weiterführende Literaturhinweise. 40 Vgl. z. B. Ingrid Mittenzwei: Die Sprache als Thema. Bad Homburg u. a. 1970. Zur besonderen Funktion des Zitats bei Fontane vgl. Hermann Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. 2. Aufl. Stuttgart 1967. S. 155–185. 41 Vgl. die Rezension im Providence Sunday Journal vom 4. Juni 1899. In: Nancy A. Walker (Hg.): Kate Chopin The Awakening. Complete Authoritative Text with Biographical, Historical, and Cultural Contexts, Critical History, and Essays from Contemporary Critical Perspectives. Boston u. a. 2000. Hier: S. 165.

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author gone wrong“, ein Fazit, das die hohe Erwartungshaltung an den Roman und zugleich die offensichtliche Enttäuschung über ihn dokumentiert. Nachdem der Text von den Zeitgenossen gar als ein verderblicher Einfluss für die amerikanische Jugend eingestuft wurde,42 schwindet er für lange Zeit aus dem Blickfeld der Forschung und wird erst im Zuge der feministischen Bewegung in den 1960er Jahren wiederentdeckt. Während dieser vergleichsweise kurzen Zeit der Rezeption haben sich vor allem die Frage nach den Perspektiven und Möglichkeiten weiblicher Existenz in den Vereinigten Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts und die Entfremdung des Individuums als Untersuchungsschwerpunkte zu The Awakening herausgebildet.43 Neuere, d. h. in den letzten Jahren erschienene Aufsätze betrachten den Roman vermehrt aus linguistischer Perspektive und zielen darauf ab, das vermeintliche ‚Erwachen‘ der Protagonistin Edna Pontellier als eine primär sprachliche Entwicklung zu interpretieren.44 Aus narratologischer Sicht scheint diese These aber diskussionswürdig, da der Leser im Laufe des Romans wohl zunehmend Informationen zu der Figur Edna Pontellier samt ihrer Kindheit und Jugend erhält, jedoch stammen diese – bis auf wenige Ausnahmen am Ende des Romans – nicht von ihr selbst, sondern vorwiegend von der narrativen Instanz. Oder anders gewendet: Es berichtet nicht primär die Protagonistin von ihrer Vergangenheit, sondern es wird über ihre Vergangenheit informiert, und dieses geschieht in erster Linie durch die Verwendung einer intern fokalisierten Erzählinstanz. Auf diese Weise wird zwar die Perspektive der Figur beibehalten, aber sie spricht nicht selbst, sondern bleibt passiv und wird – blickt man auf ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft – in einem doppelten Sinne bevormundet, so dass der attestierte Fortschritt Ednas in Form einer „gradual awareness of her own voice“45 kritisch zu überprüfen ist. Um mögliche Entwicklungen nachweisen zu können, sollen nun als Ausgangsbasis die ersten Szenen und Gespräche betrachtet werden, welche die beiden Frauenfiguren gemeinsam mit ihren Ehemännern in den jeweiligen Roman einführen. In L’Adultera nutzt Theodor Fontane das vergleichsweise kurze erste Kapitel, um die Eheleute van der Straaten vorzustellen. Der Fokus liegt hierbei zunächst auf Ezechiel van der Straaten, der „an der Börse bedingungslos, in der 42 Ebd., S. 166. 43 Für einen Forschungsüberblick vgl. Walker, S. 167 ff. Ebenso Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins ‚The Awakening‘. Tübingen 1994. 44 Vgl. Rebecca Dickson: „Kate Chopin, Mrs. Pontellier, and Narrative Control“. In: The Southern Quarterly 37 (1999). S. 38–44. Hierzu auch Dale Marie Bauer / Andrew M. Lakritz: „The Awakening and the Woman Question“. In: Bernard Koloski (Hg.): Approaches to Teaching Chopin’s ‚The Awakening‘. New York 1988. S. 47–53. 45 Bauer / Lakritz, S. 51.

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Gesellschaft nur bedingungsweise“ (Fontane, L’Adultera, S. 5) seinen Stand hat. Letzteres hängt mit „seine[r] Vorliebe für drastische Sprüchwörter und heimische ‚geflügelte Worte‘ von der derberen Observanz“ (Fontane, L’Adultera, ebd.) zusammen und stellt zugleich diejenige Facette seines Charakters dar, die sich in seiner Ehe mit Melanie zu einer zunehmenden Belastung entwickeln wird. Zu Beginn der Narration aber blicken die Eltern zweier Töchter auf „zehn glückliche Jahre, glücklich für beide Teile“ (Fontane, L’Adultera, S. 7) ihrer gemeinsamen Zeit zurück, die in Zufriedenheit und finanzieller Sicherheit verbracht worden sind. Der erste Dialog des Paares zeigt die van der Straatens an einem Wintertag in ihrer Stadtwohnung, als sie nach einem kurzen Gespräch über den ersten Subskriptionsball der Saison durch die Lieferung einer Gemäldekopie von Tintorettos ‚L’Adultera‘ unterbrochen werden. Die Ankunft des Bildes lenkt das Gespräch der beiden in eine ernsthaftere Richtung und initiiert eine Unterhaltung über die porträtierte Ehebrecherin, die schließlich in einer Hinterfragung des eigenen Zusammenlebens mündet. Als Melanie befürchtet, die Zurschaustellung des Porträts könne den Spott ihres Umfeldes herausfordern, nennt Ezechiel persönliche Gründe für die Anschaffung des Bildes und deutet im Dialog mit seiner Frau erstmalig seine Angst an, die deutlich jüngere Partnerin verlieren zu können: „Da sind welche, die halten es mit dem Vogel Strauß und stecken den Kopf in den Sand und wollen nichts wissen. Aber andere haben eine Neigung, ihr Geschick immer vor sich zu sehen und sich mit ihm einzuleben. Sie wissen genau, den und den Tag sterb’ ich, und sie lassen sich einen Sarg machen und betrachten ihn fleißig. Und die beständige Vorstellung des Todes nimmt auch dem Tode schließlich seinen Schrecken. Und sieh, Lanni, so will ich es auch machen, und das Bild soll mir dazu helfen… Denn es ist erblich in unserem Haus… und so gewiß dieser Zeiger…“ „Aber Ezel“, unterbrach ihn Melanie, „was hast Du nur? Ich bitte dich, wo soll das hinaus? Wenn Du die Dinge so siehst, so weiß ich nicht, warum du mich nicht heut’ oder morgen einmauern läßt.“ „An dergleichen hab’ ich auch schon gedacht. Und ich bekenne, ‚Melanie die Nonne‘ klänge nicht übel, und es ließe sich eine Ballade darauf machen. Aber es hilft zu nichts. Denn du glaubst gar nicht, was Liebende bei gutem Willen alles durchsetzen. Und sie haben immer guten Willen.“ „Oh, ich glaub’ es schon.“ „Nun siehst du“, lachte van der Straaten, den diese scherzhafte Wendung plötzlich wieder zu heiterer Laune stimmte. „So hör’ ich dich gern. Und zur Belohnung: das Bild soll nicht an den Eckpfeiler, sondern wirklich in die Galerie.“ (Fontane, L’Adultera, S. 14 f.)

Der oben zitierte Dialogausschnitt zeigt ein Missverhältnis, das zwischen Redeanteil einerseits und Souveränität in der Gesprächsführung andererseits besteht. Auf den ersten Blick scheint Ezechiel van der Straaten die Unterhaltung zu dominieren, da er den Hauptredeanteil besitzt und zugleich offenbar alleine

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darüber entscheidet, wo das bedeutungsschwangere Bild letztlich platziert wird. Sieht man von dieser vermeintlichen Macht einmal ab, so offenbart sich jedoch eine emotionale Unterlegenheit gegenüber seiner Frau, da er als eine, wie die narrative Instanz gleich zu Beginn bemerkt, „sentimental-humoristische Natur“ (Fontane, L’Adultera, S. 6) seinen Gefühlen ausgeliefert ist. Er kann seine Befürchtungen nicht konkret benennen und beginnt zunächst mit allgemeinen Formulierungen, die noch keinen direkten Bezug zu der eigenen Person herstellen. Anstatt seine eigenen Zukunftsängste zu offenbaren, verstrickt er sich anfänglich in Gemeinplätze und nutzt Formulierungen wie „Da sind welche […]“ und „Aber andere […]“ (s. o.), um überhaupt einen ersten Zugang zu dem für ihn so belastenden Thema zu finden. Im Gegenzug zeigt Melanie van der Straaten bereits zu Beginn des Romans eine narrative Souveränität, die sie gegenüber ihrem Mann in dieser Hinsicht als überlegen ausweist. Indem sie Ezechiels vage Äußerungen unterbricht und das Gespräch zugleich konkret auf sich und ihn bezieht, wird ein gegenseitiges Verstehen der Eheleute überhaupt erst möglich. Anders als bei ihrem Mann wird Melanies Kommunikation nicht von wechselnden Gefühlslagen beherrscht, sondern es gelingt ihr zusätzlich, durch ihre wenigen, aber geschickt gewählten Worte auf die Gemütslage van der Straatens einzuwirken, der im Laufe des Gesprächs „plötzlich wieder zu heiterer Laune“ (s. o.) findet. In diesem besonderen Kommunikationsgeschick Melanies sind ihre stimmlichen Fähigkeiten noch nicht erschöpft. Neben der Gabe der Gesprächslenkung, die sie durch einen bewußten Einsatz der eigenen Stimme bewerkstelligt, vermag sie, so wurde eingangs bereits gesagt, auch fremde Stimmen über Zitate in die eigene zu integrieren. Diese Form polyphonen Sprechens nutzt sie auch, um die in Ausschnitten vorgestellte Diskussion mit ihrem Ehemann zu einem versöhnlichen Abschluss zu bringen. Nachdem Ezechiel ihr versichert hat, dass er den zuvor geführten Dialog über einen möglichen Ehebruch vergessen wolle und sie, wenn überhaupt, „einzig zum Zeichen der Versöhnung“ (Fontane, L’Adultera, S. 15) daran erinnern würde, gibt sie dem Gespräch zunächst eine scherzhafte Wendung, indem sie ihren Mann an eine für diesen Tag geplante Einkaufsfahrt erinnert: „[…] Vorherbestimmt ist heute, daß wir ausfahren, und das ist die Hauptsache. Denn ich brauche die Robe viel, viel nötiger als du den Tintoretto brauchst. Und ich war eigentlich eine Törin und ein Kindskopf, daß ich alles so bitter ernsthaft genommen und dir jedes Wort geglaubt habe! Du hast das Bild eben haben wollen, c’est tout. Und nun gehab dich wohl, mein Dänenprinz, mein Träumer. Sein oder Nichtsein … Variationen von Ezechiel van der Straaten.“ (Fontane, L’Adultera, S. 15)

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Bevor Melanie das bekannte Shakespeare-Zitat aus dem Hamlet in ihre Rede einbaut, nimmt sie dem zuvor geführten Dialog auf humorvolle Weise die sukzessiv entstandene Spannung, die zu einer längerfristigen Verstimmung hätte führen können. Dies gelingt ihr auf eine äußerst geschickte Weise, indem sie ihrem Mann ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt und sein vorheriges rhetorisches Versagen ausgleicht: Mit ihrer Selbstbezeichnung als „Törin und […] Kindskopf“ (s. o.) nimmt sie nun die Rolle eines unterlegenen Kindes an und befördert Ezechiel zugleich in die Position des selbstsicheren Erwachsenen. Das Gleichgewicht zwischen den Eheleuten ist somit wieder hergestellt, und Melanie kann mit dem sich anschließenden Zitat den Misstönen ihre vorherige Schärfe nehmen und die Diskussion auf eine ebenso geistreiche wie harmonische Weise zu einem Ende bringen. Die polyphone Konstruktion der Figurenstimme an dieser Stelle weist aber zusätzlich über die Einzelszene, in der ihr eben jene beschwichtigende Funktion zukommt, hinaus. Zunächst einmal verrät die Kenntnis des Shakespeare-Zitats „Sein oder Nichtsein“ einen bestimmten Bildungshintergrund Melanies, den sie kurz zuvor noch klug verborgen hatte. Die Anspielung auf die bekannte Tragödie ist demnach eine Form der Selbstcharakterisierung und lässt sowohl auf eine bildungsbürgerliche Erziehung der Protagonistin als auch auf ihre Kompetenzen in der zwischenmenschlichen Kommunikation schließen. Die Bezeichnung Ezechiels als „Dänenprinz“ und „Träumer“ (s. o.), d. h. die Identifikation des Gatten mit der Tragödienfigur Hamlet, eröffnet zudem einen weiteren Kontext, unter dem der zuvor geführte Dialog des Ehepaares zu betrachten ist. Der scherzhafte Kommentar, der sich auf die von Ezechiel eingestandene innere Zerrissenheit bezieht, weist an dieser Stelle motivisch über sich hinaus: Neben der im Hamlet gestellten Frage, ob couragiertes Handeln einer passiven Akzeptanz neuer und belastender Gegebenheiten vorzuziehen sei, spielt die Umwälzung familiärer Hierarchien eine gewichtige Rolle. Im Hamlet vollzieht sich dieser Wechsel durch einen kaltblütig geplanten Brudermord, der das familiäre Oberhaupt entmachtet und neue Strukturen schafft, indem der Mörder zugleich der neue Machthaber an der Seite der Witwe wird. In L’Adultera wird sich der Machtwechsel auf eine unblutige und wesentlich sanftere Weise vollziehen, aber das Resultat lässt sich durchaus vergleichen: Die alte Hierarchie innerhalb der Familie mit Ezechiel van der Straaten an der Spitze wird aufgelöst zugunsten einer neuen Familienstruktur, in der mit Ebenezer Rubehn ein neuer Mann an Melanies Seite tritt. Die besondere Tragweite ihrer Anspielung auf die Shakespeare-Tragödie kann Melanie zu diesem Zeitpunkt der Narration freilich nicht bewusst sein; eine solche Form seherischer Fähigkeiten wäre mit den Konventionen des realistischen Romans im ausgehenden 19. Jahrhundert auch inkompatibel. Folglich

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ist in diesem Falle die kontextuelle Dimension der Polyphonie zunächst eine Variante der Intertextualität im Sinne Genettes,46 da in Form des wörtlichen Zitats von Melanie ein direkter Bezug zu dem Prätext von William Shakespeare vorliegt. Nach wiederholter Lektüre von L’Adultera kommt der Thematisierung veränderter Familienstrukturen zusätzlich auch eine proleptische Funktion zu, da die Auflösung alter Hierarchien die Basis für die Weiterentwicklung von Melanies Identität darstellt. Der eng verwobene Zusammenhang von Mehrstimmigkeit, Macht und Identität wird zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Romans deutlich und tritt bereits bei der Einführung der Protagonistin Melanie van der Straaten zutage. In The Awakening47 werden die Eheleute Pontellier zu Beginn der Narration ebenfalls in einem Dialog miteinander gezeigt, der ein stimmliches Ungleichgewicht aufweist. Hier ist es die Protagonistin Edna Pontellier, die ihrem Mann Léonce rhetorisch unterlegen ist und sich gegen seine kritische Bevormundung nicht zur Wehr setzen kann. Als sie mit ihrem Bekannten Robert Lebrun, in den sie sich später verlieben wird, von einem gemeinsamen Bad im Meer zurückkehrt, empfängt sie ihr Ehemann mit einer Flut von Vorwürfen: “What folly! to bathe at such an hour in such heat!” exclaimed Mr. Pontellier. […] “You are burnt beyond recognition,” he added, looking at his wife as one looks at a valuable piece of personal property which has suffered some damage. She held up her hands, strong, shapely hands, and surveyed them critically, drawing up her lawn sleeves above the wrists. Looking at them reminded her of her rings, which she had given to her husband before leaving for the beach. She silently reached out to him, and he, understanding, took the rings from his vest pocket and dropped them into her open palm. (Chopin, The Awakening, S. 23 f.)

Obwohl die Maßregelung durch ihren Ehemann übertrieben und der Situation unangemessen erscheint, vermag sich Edna Pontellier nicht zu verteidigen und bleibt stumm. Als sie sich an ihre vor dem Baden abgelegten Ringe erinnert, erbittet sie diese schweigend zurück, indem sie ihrem Mann die Hand entgegenstreckt. Ein verbaler Austausch, wie er im Gespräch der van der Straatens stattgefunden hat, ist hier nicht zu beobachten, im Gegenteil: Léonce Pontellier zeigt kein Interesse daran, mit seiner Frau ein Gespräch zu beginnen, sondern es geht ihm lediglich um eine Demonstration seiner Machtposition innerhalb 46 Zu einer Unterscheidung der einander entgegengesetzten Intertextualitätsbegriffe nach Gérard Genette und Julia Kristeva vgl. Kapitel 1.6 dieser Arbeit. 47 Kate Chopin: The Awakening [EA 1899]. In: Nancy A. Walker (Hg.): Kate Chopin The Awakening. Complete Authoritative Text with Biographical, Historical, and Cultural Contexts, Critical History, and Essays from Contemporary Critical Perspectives. Boston / New York 2000. S. 22–139. Alle Chopin-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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der Ehe. Edna ist für ihn keine gleichberechtigte Partnerin; sie fungiert vielmehr als ein Teil seines Besitztums, welches sich, zu seiner Verärgerung, temporär seiner Kontrolle entzogen hatte. Als „valuable piece of personal property“ (s. o.) verhält sich Edna bei ihrer Rückkehr rollenkonform und zeigt sich, wie es von einem sächlichen Gegenstand erwartet wird, stimmlos. Anders als die rhetorisch geschickte Melanie van der Straaten vermag sie die unterschwellige Aggressivität der Situation nicht zu entkrampfen und nimmt die Vorwürfe ihres Mannes unwidersprochen hin. Die ersten Worte, die Edna spricht, werden bemerkenswerterweise auch nicht freiwillig von ihr formuliert, sondern Léonce verlangt nach einer Erklärung für eine offensichtliche Belustigung seiner Frau und Robert Lebruns: […] Clasping her knees, she looked across at Robert and began to laugh. The rings sparkled upon her fingers. He sent back an answering smile. “What is it?” asked Pontellier, looking lazily and amused from one to the other. It was some utter nonsense; some adventure out there in the water, and they both tried to relate it at once. It did not seem half so amusing when told. They realized this, and so did Mr. Pontellier. (Chopin, The Awakening, S. 24)

Das gemeinsame Erlebnis von Edna und Robert verunsichert Léonce und weckt seine Neugierde auf das von ihm Verpasste. Der anschließend von ihm eingeforderte Bericht ist in zweierlei Hinsicht für die Konstruktion der Stimme von Edna Pontellier bezeichnend. Zunächst fällt auf, dass Edna und Robert ihre gemeinschaftliche Erfahrung in einem übertragenen Sinne einstimmig, d. h. zeitgleich schildern. Zugleich ist beachtlich, dass die Erzählung der beiden von der Erzählinstanz zusammengefasst und nicht in Form der direkten Rede wiedergegeben wird. Anders als Léonce Pontellier zuvor werden Edna und Robert in dieser Szene keine eigenen Stimmen samt wörtlicher Rede zugestanden. Somit wird bereits an dieser Stelle eine tendenzielle Reduktion der Stimme Edna Pontelliers deutlich, die sich im Laufe der Narration noch steigern wird; bereits zu Beginn des Romans wird sie als eine Figur eingeführt, die bei ihrem ersten Auftritt zunächst schweigt und dann nur mit Unterstützung durch eine parallel erklingende Stimme spricht, was wiederum von einer übergeordneten Erzählinstanz lediglich erwähnt wird, nicht aber für den Rezipienten als wörtliche Rede nachzuvollziehen ist. Eine weitere Reduzierung erfährt die Stimme der Protagonistin durch ein besonderes narratives Verfahren: Die Erzählinstanz beginnt, sich partiell unzuverlässig, d. h. widersprüchlich über die Entwicklung Edna Pontelliers zu äußern und ihr mittels einer zweiten ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz eine vermeintliche Selbsterkenntnis zuzuschreiben. Geht man von dem eigentlichen Plot des Romans aus, der aus einer Rekonstruktion der tragischen Ge-

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schichte der Protagonistin besteht, so lässt sich anhand der über die erzählte Welt mitgeteilten Fakten kein Anhaltspunkt dafür finden, dass Edna zu einer differenzierten Sicht auf die eigene Person gelangt und einen Reifeprozess durchläuft. Eine solche Entwicklung suggeriert jedoch die unzuverlässige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz, indem sie sich nicht nur stellvertretend für Edna Pontellier äußert und ihre Gedanken mitteilt, sondern zugleich auch eine Schlussfolgerung aus deren angeblichen Denkprozessen zieht. Diese zweigeteilte Haltung der Erzählinstanz tritt erstmalig auf, nachdem sich Edna Pontellier von Robert Lebrun zu einem gemeinsamen Strandbesuch hat überreden lassen. Zunächst erfolgt aber noch eine Information der zuverlässigen ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz über die innere Zerrissenheit der Protagonistin: Edna Pontellier could not have told why, wishing to go to the beach with Robert, she should in the first place have declined, and in the second place have followed in obedience to one of the two contradictory impulses which impelled her. (Chopin, The Awakening, S. 34)

Diese Charakterisierung fügt sich in das bisherige Bild, das von Edna Pontellier gezeichnet worden ist: Die Protagonistin verhält sich unentschlossen, widersprüchlich und bleibt sich selbst fremd. Die Formulierung „[she] could not have told why“ (s. o.) unterstreicht einmal mehr ihre Unfähigkeit, Gedanken zu versprachlichen bzw. mithilfe einer inneren Stimme diese erst einmal im Geiste vorformulieren zu können. Umso überraschender erscheint es, dass die narrative Instanz kurz darauf von einer plötzlichen Selbsterkenntnis Ednas berichtet, die sich nur schwerlich mit dem zuvor Gehörten verträgt: […] Mrs. Pontellier was beginning to realize her position in the universe as a human being, and to recognize her relations as an individual to the world within and about her. This may seem like a ponderous weight of wisdom to descend upon the soul of a young woman of twenty-eight – perhaps more wisdom than the Holy Ghost is usually pleased to vouchsafe to any woman. (Chopin, The Awakening, S. 34)

Blickt man auf sämtliche vorherige Angaben zu Edna, so ist ihr eine solche philosophische Einsicht in ihr Dasein und in ihre Rolle als ein soziales Wesen nicht zuzutrauen. Diese Skepsis gegenüber der Vertrauenswürdigkeit eines Teiles der narrativen Instanz hängt auch mit dem Konzept der erzählten Welt zusammen: Dieses orientiert sich an den Kausalitäten der extradiegetischen Realität und gründet, für die Epoche des literarischen Realismus und der hier vertretenen Strömung der local color fiction typisch, auf einem stabilen und logischen Weltbild. Ein derart widersprüchlicher Erkenntnisprozess, der sich von einem Moment zum nächsten vollzieht, ist mit dem Welt- und Figurenbild, wie es in rea-

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listischen Texten propagiert wird, nicht in Einklang zu bringen. Zugleich handelt es sich bei Kate Chopins The Awakening aber auch nicht um eine durchgängig unzuverlässige Erzählinstanz, da bereits wenige Zeilen später wieder Informationen zu Edna Pontellier übermittelt werden, die dem vorherigen Porträt einer innerlich zurückgezogenen Frau entsprechen, die sich nicht mitzuteilen vermag: Mrs. Pontellier was not a woman given to confidences, a characteristic hitherto contrary to her nature. Even as a child she had lived her own small life all within herself. At a very early period she had apprehended instinctively the dual life – that outward existence which conforms, the inward life which questions. (Chopin, The Awakening, S. 35)

Diese Charakterisierung der Protagonistin entspricht dem bisherigen, über weite Strecken des Romans erzeugten Bild Ednas und liefert zusätzliche Auskünfte über ihre Kindheit, welche anscheinend ebenfalls bereits in Einsamkeit und sprachlicher Ohnmacht zugebracht wurde. Aus diesen Gründen scheint es naheliegend, von einer polyphonen narrativen Instanz auszugehen, die über weite Strecken des Textes mit einer glaubhaften ‚Stimme‘ erzählt, zugleich jedoch eine zweite unzuverlässige ‚Stimme‘ enthält, welche einen menschlichen Reifeprozess der Protagonistin zu suggerieren versucht. Beide ‚Stimmen‘ existieren auf der gleichen Erzählebene nebeneinander und bilden gemeinsam die Textfunktion der narrativen Instanz. Trotz der nach außen hin ähnlichen Lebensumstände der Protagonistinnen, die sie als verheiratete zweifache Mütter ausweisen, die in finanziell gesicherten Verhältnissen leben, bringen Edna Pontellier und Melanie van der Straaten hinsichtlich des Phänomens der Stimme unterschiedliche Voraussetzungen mit. Wie aus den knapp skizzierten ersten Dialogen mit ihren Ehemännern hervorgeht, betreffen diese sowohl die eigenen stimmlichen Fähigkeiten hinsichtlich Ausdrucksfähigkeit und Durchsetzungskraft, als auch die jeweiligen Gatten als Gesprächs-und Lebenspartner: Bereits zu Beginn der Narrationen ist deutlich, dass zwischen den Eheleuten van der Straaten trotz der Differenzen ein gedanklicher Austausch dank Melanies Kommunikationsgeschickes möglich ist, während Edna Pontellier keine versierte Rednerin ist und ihr Partner Léonce zudem keinerlei Interesse an einer gleichberechtigten Konversation mit seiner Frau zeigt. Im weiteren Verlauf lassen sich bei allen Unterschieden im Detail wieder motivische Gemeinsamkeiten beider Romane ausmachen. Nachdem sich die Protagonistinnen jeweils in einen jüngeren Mann verlieben, kommt es zu einer räumlichen Trennung von dem Ehemann und zu einer psychischen Krise, welche sich aber bei den Frauen auf verschiedene Weise zeigt und einen je unter-

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schiedlichen Ausgang nimmt. Wieder sind es stimmliche Phänomene, die sowohl an Melanies Genesung beteiligt sind, als auch in Verbindung mit Ednas persönlicher Katastrophe stehen. Nachdem sich Melanie in den zu einem Gastbesuch im Hause van der Straaten weilenden Ebenezer Rubehn, den Sohn eines Geschäftsfreundes von Ezechiel, verliebt hatte und von ihm ein Kind erwartet, entwickelt sie neben einer körperlichen Schwäche auch Anzeichen einer Depression, die sich bei ihr in wechselnden Stimmungen niederschlägt. Als bereits die Entscheidung getroffen ist, gemeinsam mit Rubehn in den Süden zu reisen, kommt es unmittelbar vor ihrem Aufbruch zu einem nächtlichen Gespräch mit van der Straaten, in dem er erklärt, er wolle das Kind wie sein eigenes großziehen. Melanie schlägt dieses Angebot aus und verlässt das Haus, ohne sich von ihren beiden Töchtern zu verabschieden. In Italien kommt es – durch van der Straatens Einwilligung in eine Scheidung – zu einer Eheschließung mit Rubehn, von der Melanie ihrer in Berlin verbliebenen Schwester per Brief als „von ihrem Glück“ (Fontane, L’Adultera, S. 122) berichtet. Da eine erhoffte Antwort auf ihren Brief ausbleibt, verfällt Melanie wieder in eine andauernde Schwermut und Schwäche, die, zusammen mit den körperlichen Strapazen der Geburt, sie beinahe das Leben kostet: „Und einen Tag lang wußte der Zeiger nicht, wohin er sich zu stellen habe, ob auf Leben oder Tod“ (Fontane, L’Adultera, S. 127). Das Kind wird geboren, und die Familie Rubehn kehrt gemeinsam nach Berlin zurück, wo Melanie zunächst „glücklich […] über alles“ (Fontane, L’Adultera, S. 129), aber zugleich auch gesellschaftlich isoliert ist. Mit Hilfe ihrer Schwester Jacobine, die nach der Rückkehr der jungen Familie den Kontakt wieder aufnimmt, wird ein Treffen mit den beiden zurückgelassenen Töchtern arrangiert, das für Melanie zu einer herben Enttäuschung gerät und mit der demonstrativen Abkehr der Mädchen von ihrer Mutter endet. Als sie nach Hause zu Rubehn zurückkehrt, findet sie ihren Mann ebenfalls in gedrückter Stimmung vor; es scheitert aber jeder Versuch, ihrerseits mit ihm zu kommunizieren und die Gründe für seine Gereiztheit zu erfahren. In dieser Situation gelangt Melanie in ihrer persönlichen Situation an einen Scheideweg: Nachdem sich die beiden leiblichen Töchter aus ihrer ersten Ehe sehr deutlich von ihr abgewandt haben und auch der Ehemann ihr keinen Trost mehr bieten kann, ist sie gänzlich alleine ohne jegliche Form von Zuspruch und Unterstützung. Zugleich markiert diese Situation aber auch einen Wendepunkt in ihrem Leben. Melanie entschließt sich, einen Gottesdienst zu besuchen. Mit dieser bewussten Entscheidung nimmt sie ihr Schicksal aktiv in die Hand und tritt aus der unfreiwilligen Isolation heraus. Die Gesellschaft anderer Menschen und das gemeinsame Erleben als Teil eines Kollektivs bedeuten einen weiteren Schritt auf dem Weg ihrer Genesung. Eine besondere Rolle kommt hierbei wieder Mela-

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nies Stimme zu, die ihr in der Kirche dazu verhilft, sich nach einer langen Zeit der Einsamkeit erstmalig wieder einer Gemeinschaft angehörig zu fühlen. Dieses geschieht über den gemeinsamen Gesang, zu dem Melanie von zwei ihr fremden Mädchen während des Armengottesdienstes eingeladen wird: […] Zwei von den kleinen Mädchen [rückten] halb schüchtern an Melanie heran und gaben ihr ihr Gesangbuch und zeigten auf die Stelle. Und sie sang mit: ‚Du lebst, Du bist in Nacht mein Licht, Mein Trost in Not und Plagen, Du weißt, was alles mir gebricht, Du wirst mir’s nicht versagen.‘ Und bei der letzten Zeile reichte sie den Kindern das Buch zurück und dankte freundlich und wandte sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen. Dann aber murmelte sie Worte, die ein Gebet vorstellen sollten und es vor dem Ohre dessen, der die Regungen unseres Herzens hört, auch wohl waren, und verließ die Kirche still und seitab, wie sie gekommen war. (Fontane, L’Adultera, S. 152 f.)

In einem Moment größter Einsamkeit erfährt Melanie Verbundenheit und Trost in einem Kreise von ihr bis dahin völlig unbekannten Menschen. Nach dem deprimierenden Treffen mit den beiden leiblichen Töchtern geschieht diese Aufnahme nun auf die Initiative zweier kleiner Mädchen hin, die ihre Unsicherheit erkennen und sich ihrer annehmen; nur aufgrund der Aufmerksamkeit und Einladung durch die Kinder findet Melanie Anschluss an die Gemeinde und kann sich an dem kollektiven Gesang beteiligen. Neben einer einführenden Funktion enthält diese Szene auch einen versöhnlichen Symbolcharakter: Wenn fremde Mädchen einen Schritt auf sie zugehen und sie am gemeinsamen Erleben teilhaben lassen, so scheint auch eine Annäherung an die eigenen Töchter in der Zukunft möglich. Indem Melanie ein Kirchenlied anstimmt, wird sie wieder mit einer polyphonen Figurenstimme gezeichnet, die mindestens eine weitere Stimme in die eigene integriert. In diesem Fall handelt es sich zunächst um den Verfasser des Chorals, Karl August Döring,48 dessen Worte Melanie in die eigene Stimme einfließen lässt. Zugleich findet sich hier aber auch ein in mehrfacher Hinsicht kollektives Phänomen. Zum einen orientiert sich Döring bei seinem Text bereits an der Bibel (vgl. Hiob 19, 25), d. h. an einem Text, für den eine unüberschaubare Vielzahl an Beiträgern verantwortlich zeichnet und für den eine definitive Au48 Vgl. hierzu die Anmerkung von W. Keitel und H. Nürnberger: „Es handelt sich um die vier ersten Zeilen der vorletzten Strophe des Chorals ‚Ich weiß, daß mein Erlöser lebt‘ (nach Hiob 19, 25) von Karl August Döring (1783–1844)“. In: Walter Keitel / Helmut Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Werke, Schriften und Briefe. Bd. 2. München 1990. Hier: S. 862.

4.2 Realismus



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torschaft folglich nicht geklärt werden kann. Für das Buch Hiob, welches Döring als Anregung für seinen Choral dient, lässt sich der Ursprung der Geschichte nicht nachverfolgen,49 ebenso wenig ist überliefert, ob es sich bei diesem Bibeltext um einen Verfasser oder ein ganzes Kollektiv handelt. Neben dem Komponisten Döring und mindestens einem Verfasser zitiert Melanie während ihres Gesanges zugleich eine unüberschaubare Anzahl vergangener Kirchenbesucher, die das Lied bereits vor ihr gesungen haben, und singt selbst wiederum nicht alleine, sondern als Teil einer Gemeinschaft während der Predigt. Die Polyphonie in Melanies Figurenstimme erfüllt in dieser Situation wieder einen besonderen Zweck, jedoch hebt sie sich von der eingangs vorgestellten Szene ab, in welcher die Protagonistin das Shakespeare-Zitat verwendet hatte. Im Dialog mit ihrem früheren Ehemann Ezechiel hatte die Stimme ihr dazu gedient, eine vorherige Diskussion auf eine versöhnliche Weise zu beenden; die polyphone Figurenstimme war hier ein distinktives Merkmal, das Melanie aufgrund ihrer rhetorischen Fähigkeiten von ihrem Mann abgrenzte und die Individualität beider Gesprächspartner deutlich machte. In der Kirche nimmt die polyphone Figurenstimme eine diametral entgegengesetzte Funktion ein, da Melanie sich durch sie gerade nicht von ihrem Umfeld abhebt, sondern mit diesem verschmilzt: Die Stimme dient an dieser Stelle als das Bindeglied zwischen Individuum und Kollektiv und ermöglicht es Melanie, über den Gesang Teil einer Gemeinschaft zu werden, die sie bedingungslos aufnimmt. Im kollektiven Gesang kann Melanie ihre Sorgen aussprechen und teilen, und sie verspürt zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr nach Berlin Trost in ihrer Einsamkeit und Hoffnung auf eine Besserung ihres Befindens. Die letzte Zeile des Liedes, die einen optimistischen Blick in die Zukunft wirft und von dem Vertrauen auf Hilfe durch eine höhere Macht geprägt ist, markiert für Melanie einen neuen Anfang. Durch die Unterstützung der Gemeinschaft gestärkt, findet die Protagonistin nun auch als Individuum zu neuer Kraft. Sie verlässt die Kirche nicht nach Beendigung des Gottesdienstes mit der Gemeinde, sondern, nachdem sie persönliche „Worte, die ein Gebet vorstellen sollten“ (s. o.) formuliert hat. Somit erfährt Melanie durch ihren Kirchenbesuch eine – wenn auch nur temporäre – rituelle Aufnahme innerhalb einer kleinen Gemeinde, die sie für eine spätere Wiederaufnahme in die Berliner Gesellschaft rüstet und ihr als eine Vorbereitung dafür dient. Mit Arnold van Gennep lässt sich bei Melanies Weg aus der Isolation von einem Übergangsritus sprechen, der sich in drei verschiedene Phasen aufteilt und aus einem Trennungsritus, einer Zwischenphase und einer 49 Vgl. hierzu z. B. Felix Gradl: Das Buch Hiob. Stuttgart: 2001. S. 15 f. Gradl verweist an dieser Stelle auch ausdrücklich darauf, dass ebenfalls ungeklärt ist, ob es sich um einen oder mehrere Verfasser handelt.

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Integrationsphase besteht.50 Bei der ersten Phase, dem Trennungsritus, kann zwischen einem zunächst aktiven und einem später passiven Moment differenziert werden. Das aktive Moment besteht in der bewussten Trennung von Ezechiel und ihren beiden Töchtern aus erster Ehe, ein Schritt, der durch die Reise nach Italien zugleich auch eine räumliche Entfernung von der Berliner Gesellschaft bedeutet. Das passive Moment der Trennungsphase besteht in der ablehnenden Haltung der Gesellschaft gegenüber der jungen Familie Rubehn, als diese nach Berlin zurückkommt. Durch diese Exklusion befindet sich Melanie zugleich auch in einer unfreiwilligen Isolation; für sie ist, zumindest zu diesem Zeitpunkt, im wörtlichen Sinne kein Platz in ihrer vorherigen Gemeinschaft. Der Verlust der gesellschaftlichen Stellung lässt in der Folge nur zwei alternative Lösungen zu: Das abschließende Heraustreten aus der Gesellschaft (beispielsweise durch eine endgültige räumliche Trennung oder den Tod), oder den Versuch einer Rückkehr auf den angestammten Platz durch eine Wiedereingliederung. Melanies Weg in die Kirche, der im Folgenden als eine Zwischenphase noch genauer beleuchtet werden soll, ist somit ein eindeutiges Bekenntnis zum Leben: Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht. Das Leben eines Menschen besteht somit in einer Folge von Etappen, deren End- und Anfangsphasen einander ähnlich sind: Geburt, soziale Pubertät, Elternschaft, Aufstieg in eine höhere Klasse, Tätigkeitsspezialisierung. Zu jedem dieser Ereignisse gehören Zeremonien, deren Ziel identisch ist: Das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso definierte hinüberzuführen. […] Jedenfalls hat sich das Individuum verändert, wenn es mehrere Etappen hinter sich gebracht und mehrere Grenzen überschritten hat.51

Für Melanies (Wieder-)Aufstieg in eine höhere Klasse ist die Zwischenphase in der kleinen Kirchengemeinde die entscheidende Schwelle, die es zu passieren gilt: Hier vollzieht sich nicht nur eine erste Annäherung an eine größere Gruppe von Menschen, sondern Melanie findet nach einer langen und belastenden Phase abwechselnder Gemütszustände zu ihren alten rhetorischen Fähigkeiten zurück. Durch den gemeinsamen Gesang wird Melanies Stimme in einer doppelten Hinsicht wiedererweckt: Zunächst als ein Mitglied des Kollektivs während des Gottesdienstes und im Anschluss daran im Dialog mit Rubehn, für den Melanie nun gerüstet ist und der zugleich auch die dritte Phase des Übergangs, die Integrationsphase einläutet. Diese beginnt mit Melanies Rückkehr in die gemeinsame Wohnung der Familie Rubehn. Nachdem der erste Vorstoß, mit dem Ehemann in einen Dialog zu treten, gescheitert war und sie von ihm keinerlei Be50 Vgl. hierzu van Gennep, Übergangsriten, S. 21. 51 Ebd., S. 15.

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gründung für seine Kümmernisse erhalten hatte, wagt sie nun einen entschlosseneren zweiten Versuch, Ebenezer zu einem Gespräch zu bewegen: ‚Sprich, mein Einziger, was ist es? […] Reiße mich aus dieser Ungewißheit. Sage mir, was es ist, was dich drückt, was dir das Leben vergällt und verbittert. Sage mir’s. Sprich.‘ Er fuhr sich über Stirn und Auge, dann nahm er den beiseite geschobenen Brief und sagte: ‚Lies‘. (Fontane, L’Adultera, S. 153 f.)

Deutlich selbstbewusster und gestärkt durch das positive Erlebnis in der Kirche, erweist sich die zweite Gesprächsaufforderung als erfolgreich. Auffällig ist, dass Melanie – wie auch schon in dem zuvor betrachteten Dialog mit ihrem ersten Ehemann Ezechiel – ihrem Partner rhetorisch überlegen ist. Erst auf ihr mehrfaches Bitten hin ist Ebenezer bereit, seine Frau über die Gründe für seine Verstimmung aufzuklären. Dieses geschieht jedoch nicht verbal, sondern indem er ihr eine schriftliche Mitteilung seines Vaters zum Lesen gibt; er ist unfähig, seine Gefühle zu versprachlichen und bleibt stumm. Für Melanie hingegen bedeutet die couragierte Initiative, ihren Familienkonflikt zu regeln, auch einen nächsten kleinen Schritt, um wieder Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Denn für sie bringen die Nachrichten von ihrem Schwiegervater, der seinen Sohn über schwerwiegende finanzielle Probleme in Kenntnis setzt, eine Wende in ihrem Schicksal und sie resümiert: „Und was Eurem Hause Unglück bedeutet, mir bedeutet es Glück […]“ (vgl. Fontane, L’Adultera, S. 154). Die Protagonistin fasst den Entschluss, einen eigenen Beitrag zur Überwindung der wirtschaftlichen Misere zu leisten und die Familienkasse durch Französischunterricht aufzubessern (vgl. Fontane, L’Adultera, S. 157). Die Aufnahme einer eigenen Berufstätigkeit ist für sie nicht nur gleichbedeutend mit einem dringend benötigten finanziellen Gewinn, sondern sie bringt zugleich auch Sinn und Struktur in Melanies Leben, das seit dem Beginn ihrer gemeinsamen Zeit mit Ebenezer Rubehn von wechselhaften Gemütszuständen und dem Fehlen eines perspektivischen Zukunftsentwurfes geprägt war. Der nun gefasste Entschluss, durch Sprachunterricht Geld zu verdienen, verbindet die Bereiche der Stimme und Identität: Melanie findet zu ihrer früheren Kraft und Stabilität zurück, indem sie sich als gebürtige Genferin an ihre Muttersprache erinnert, die ihre Identität prägt und diese Identität wiederum über die eigene Stimme zum Ausdruck bringt. Mit der Entscheidung hin zu einem aktiven Arbeitsleben bereitet Melanie den letzten Schritt vor, um in die Gesellschaft zurückzukehren und das Übergangsritual abzuschließen, welches sie mit der bewussten Trennung von ihrem ersten Ehemann und den beiden gemeinsamen Töchtern begonnen hatte. Anders als bei ihrem zuvor unternommenen Kirchenbesuch, bei dem sie bedin-

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gungslos als Teil einer größeren Gemeinschaft akzeptiert worden war, handelt es sich bei der von ihr angestrebten Unterrichtstätigkeit nun um eine Situation, bei der sie sich in eine neue Rolle begibt, die – ähnlich dem Kirchenbesuch – den Kontakt mit anderen Menschen beibehält, sie zugleich aber als einzelne explizit heraushebt. Durch den Status als Lehrende erhält ihre Stimme ein besonderes Gewicht und ermöglicht es ihr, sich selbst wieder als ein Individuum darzustellen. Diese Entwicklung verdeutlicht noch einmal die besondere Funktion eines Zwischenschrittes, den der gemeinsame Gesang in der Kirche für Melanies Werdegang markiert: Der polyphone Gesang bedingt hier ein kollektives Erlebnis, das die Protagonistin nach einer langen Zeit der Isolation erstmalig in eine größere Gruppe von Menschen integriert und zugleich eine Rückkehr in das gesellschaftliche Leben Berlins initiiert. Auf die Wiederaufnahme in die Berliner Gesellschaft lässt Fontane die Versöhnung mit Ezechiel van der Straaten folgen. Hierbei greift Fontane auf das Bild der Heiligen Familie zurück, indem er die kleine Familie Rubehn am Weihnachtsabend einträchtig und mit der Welt um sie herum ausgesöhnt präsentiert. Bei der harmonischen Schlussgestaltung kommt Ezechiel eine besondere Rolle zu, denn er sendet Melanie am Weihnachtsabend ein Päckchen, das ein Medaillon mit einem kleinen Tintoretto-Bildchen enthält: Es handelt sich um eine Miniatur eben jener Gemäldekopie von L’Adultera, die eingangs eine hitzige Diskussion zwischen den damaligen Eheleuten ausgelöst hatte und welche von Ezechiel nun auf humorvolle Weise wieder in Erinnerung gerufen wird. Das Wiederaufgreifen des sensiblen Themas stellt zugleich auch einen Akt der Vergebung durch den zuvor Betrogenen dar, hatte Ezechiel doch bereits bei dem zurückliegenden Streit angekündigt, Melanie nicht mehr an das Gespräch zu erinnern, oder nur „im Geiste des Friedens und zum Zeichen der Versöhnung“ (Fontane, L’Adultera, S. 15). Durch diese Kreisstruktur gelingt Fontane nicht zuletzt auch aus formalästhetischer Perspektive ein harmonischer Abschluss, der Anfang und Ende der Narration auf kunstvolle Weise miteinander verknüpft. Edna Pontellier gelingt die eigenmächtige Überwindung der seelischen Probleme und eine anschließende Wiederaufnahme in die Gesellschaft indes nicht. Obwohl auch sie sich von ihrem Mann lossagt und eine räumliche Trennung vornimmt, markiert diese lebensverändernde Entscheidung bei ihr nicht den Anfang eines positiven Übergangsrituals, das in einer neuen und zugleich zufriedenstellenden Lebenssituation mündet. Vielmehr handelt es sich um eine halbherzige Form der Flucht aus einer zur Belastung gewordenen Ehe- und Familiensituation, ohne aber eine konsequente Trennung von ihrem Mann Léonce Pontellier zu vollziehen. Edna begründet ihren Entschluss, in ein kleines Nachbarhaus zu ziehen, recht lapidar: „I know I shall like it, like the feeling of freedom and independence“ (Chopin, The Awakening, S. 102). Anders als bei Mela-

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nie van der Straaten vollzieht sich ihr vermeintlicher Neubeginn aber ohne eine entscheidende Zukunftsperspektive: Obwohl auch ihre Zuneigung zu einem jungen Mann von diesem erwidert wird, ist es weder zu einer Liebesbeziehung noch zu einer sexuellen Begegnung gekommen. Im Gegenteil: Robert Lebrun ist, von der Situation überfordert, auf unbestimmte Zeit nach Mexiko abgereist, so dass Edna nun – anders als die schwangere Melanie – nicht einem neuen gemeinsamen Leben in einer kleinen Familie entgegenblickt, sondern durch ihren Abschied von Robert, Léonce und den Kindern noch weiter in die Isolation gerät. Aus der vorherigen emotionalen Vereinsamung im Kreise der eigenen Familie wird nun für Edna ein faktisches Alleinsein, das weniger die von ihr angestrebten Freuden der Freiheit und Unabhängigkeit bereithält, als vielmehr zu einem nahezu völligen Verstummen der Protagonistin führt. Lediglich für einen kurzen Moment scheint eine Wendung in ihrem Schicksal möglich, nachdem Robert aus Mexiko zurückkehrt und beide einander ihre gegenseitige Zuneigung gestehen. In dieser Nacht wird Edna wegen einer bevorstehenden Entbindung zu einer Freundin gerufen und erhält bei diesem Anlass die Gelegenheit, sich gegenüber ihrem väterlichen Freund und Hausarzt Dr. Mandelet ein wenig zu öffnen. In dieser Situation, die zugleich als ein retardierendes Moment fungiert, gelingt es der Protagonistin zum ersten und zugleich einzigen Mal, ihre Not in Worte zu fassen: “Some way I don’t feel moved to speak of things that trouble me. Don’t think I am ungrateful or that I don’t appreciate your sympathy. There are periods of despondency and suffering which take possession of me. But I don’t want anything but my own way. […] Oh! I don’t know what I am saying, Doctor. Good night. Don’t blame me for anything.” (Chopin, The Awakening, S. 135)

In der Konversation mit Dr. Mandelet versucht Edna, das eigene Empfinden, das ihr noch immer unverständlich bleibt, zu benennen. An dieser Stelle gelingt erstmalig die Versprachlichung der persönlichen Notsituation, die zwar artikuliert, aber nicht reflektiert wird. Der Einladung des Arztes, ihn zu einem für sie entlastenden weiteren Gespräch zu besuchen, wird Edna jedoch nicht Folge leisten: Als sie nach Hause zurückkehrt, findet sie eine knappe Notiz von Robert, in der er seinen endgültigen Abschied ankündigt (vgl. Chopin, The Awakening, S. 135 f.). Der erneute Verlust des Geliebten beendet die ersten Schritte zu einer Aufarbeitung ihrer Probleme und raubt Edna die aufkeimenden Kräfte, die zusammen mit der Unterstützung von Dr. Mandelet zu einer Genesung hätten führen können. Durch die erneute Enttäuschung ergibt sich Edna ihrer Hoffnungslosigkeit, so dass ihr Rückzug in eine stumme Resignation nicht mehr aufzuhalten ist: „Edna grew faint when she read the words. She went and sat

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on the sofa. There she stretched herself out there, never uttering a sound“ (Chopin, The Awakening, S. 136). Die Aufgabe der eigenen Sprachmächtigkeit gipfelt in einem Gang ins Wasser, im Zuge dessen die Narration ebenfalls abbricht. Das weitere Schicksal Ednas bleibt somit offen, jedoch legen es die letzten Aussagen über ihre schwindenden Sinne nahe, dass ihr Weg ins Wasser einem Suizid gleichkommt. In der abschließenden Szene des Romans äußert sich abermals die unzuverlässige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz, die mit ihren Bemerkungen über eine erneute plötzlich eintretende Erkenntnisfähigkeit Edna Pontelliers in einem diametralen Gegensatz zu den Informationen durch die glaubhafte ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz steht, die über weite Strecken des Romans berichtet. Zunächst wird von der zuverlässigen ‚Stimme‘ geschildert, wie Edna gedankenversunken den Weg zum Strand zurücklegt und sich offensichtlich in einem Zustand befindet, der eine nüchterne Bestandsaufnahme der eigenen Situation nahezu unmöglich erscheinen lässt: „Edna walked on down to the beach rather mechanically, not noticing anything special except that the sun was hot. She was not dwelling upon any particular train of thought“ (Chopin, The Awakening, S. 138). In diesem Stadium einer bereits leichten geistigen Entrückung erreicht Edna das Meer, entledigt sich ihrer Kleidung und begibt sich ins Wasser, ungeachtet der Tatsache, dass sie das Schwimmen erst kürzlich erlernt hatte und die offene See somit eine noch immer unberechenbare Gefahr für sie darstellen muss: She went on and on. She remembered the night she swam far out, and recalled the terror that seized her at the fear of being unable to regain the shore. She did not look back now, but went on and on, thinking of the blue-grass meadow that she had traversed when a little child, believing that it had no beginning and no end. (Chopin, The Awakening, S. 139)

Anders als in einer ähnlichen Situation in Ednas jüngster Vergangenheit, als sie der Blick zurück zu dem in die Ferne gerückten Strand noch geängstigt hatte, hält sie nun keine Ausschau nach dem hinter ihr liegenden Ufer. Im Gegenteil: Der ‚Blick zurück‘ findet hier eben nicht in einem wörtlichen Sinne statt, sondern in einem übertragenen Sinn und konfrontiert Edna mit Erlebnissen aus ihrer frühesten Kindheit. Diese Konzentration auf das Vergangene geht mit einer Vernachlässigung der gegenwärtigen Gefahren einher, welche nun auch zu einer körperlichen Erschöpfung führt: „Her arms and legs were growing tired“ (Chopin, The Awakening, ebd.). In dieser Situation körperlicher und emotionaler Angegriffenheit meldet sich nun die unzuverlässige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz zu Wort

4.2 Realismus



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und unterstellt Edna eine vermeintliche Selbsterkenntnis, die sie ihre jahrelange Rolle als Ehefrau und Mutter scheinbar plötzlich begreifen lässt: „She thought of Léonce and the children. They were part of her life. But they need not have thought that they could possess her, body and soul“ (Chopin, The Awakening, ebd.). Diese überraschende Einschätzung der eigenen Lage erscheint umso unwahrscheinlicher, als wiederum die glaubhafte ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz kurz darauf erklärt, dass Edna Pontellier offensichtlich am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte angelangt ist: „Exhaustion was pressing upon and overpowering her“ (Chopin, The Awakening, ebd.). Diese nüchterne Bestandsaufnahme der momentanen Verfassung passt in das Bild der Protagonistin, das bereits über weite Strecken des Romans von ihr gezeichnet worden ist, und stellt die logische Konsequenz ihrer sukzessive vorangeschrittenen seelischen Leiden dar, die nun in einer auch körperlichen Entkräftung ihren Höhepunkt finden. Eine derart reflektierte und realistische Sicht auf die eigene Position innerhalb der Familie, wie sie die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz Edna Pontellier unterstellen möchte, scheint nicht nur mit Blick auf den bisher gezeichneten Charakter der Figur unwahrscheinlich, sondern zugleich auch in dieser besonderen Situation physischer Erschöpfung unrealistisch. Anders als Melanie van der Straaten, die in ihrer letzten Szene im Kreise ihrer Familie gezeigt wird und bereits Pläne für ihre Zukunft als Sprachenlehrerin entwickelt hat, ist Edna Pontellier in ihren letzten geschilderten Momenten allein und blickt wortlos auf ihre Vergangenheit zurück. Dominiert werden ihre Gedankengänge von der Erinnerung an die Stimmen ihr nahestehender Personen, deren Äußerungen für sie in wörtlicher Rede präsent sind (vgl. Chopin, The Awakening, ebd.). Sie wird, obwohl sie sich zu diesem Zeitpunkt als einzige am Strand befindet, selbst in ihren letzten Augenblicken noch von den Stimmen anderer dominiert und ist der Erinnerung an eine nicht mehr zu verändernde Vergangenheit ausgeliefert. An erster Stelle steht hier die vergegenwärtigte Stimme Robert Lebruns, dessen Abschiedsworte Edna mit Resignation rekapituliert. Seine schriftlich formulierten letzten Worte: „Good-by – because I love you“ (Chopin, The Awakening, ebd.) leiten nun eine für Edna nicht zu überwindende Schwellensituation ein, die einen Gegenentwurf zu der von Melanie van der Straaten glücklich vollzogenen Rückkehr in die Gesellschaft darstellt. Im Anschluss an dieses letzte Gedenken an Robert beginnt die beständig schwächer werdende Edna sich ihrer Kindheit zu entsinnen und hört die Stimmen und Geräusche einer längst vergangenen Zeit:

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Edna heard her father’s voice and her sister Margaret’s. She heard the barking of an old dog that was chained to the sycamore tree. The spurs of the cavalry officer clanged as he walked across the porch. There was the hum of bees, and the musky odor of pinks filled the air. (Chopin, The Awakening, ebd.)

Die zunächst vernommene stimmliche Präsenz Roberts geht in dieser Szene, die auch den Abschluss des Romans markiert, in eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit über, die zugleich als ein synästhetisches Erlebnis erfahren wird, indem akustische und olfaktorische Wahrnehmungen miteinander gekoppelt werden. Bemerkenswerterweise verbinden sich sämtliche Stimmen, die von der Protagonistin in ihren letzten geschilderten Augenblicken rezipiert werden, nicht mit einer Äußerungsinstanz, die innerhalb der fiktionalen Realität zu diesem Zeitpunkt als ein Gesprächspartner präsent wäre: Sowohl bei der Stimme Robert Lebruns als auch bei den Stimmen von Ednas verstorbenem Vater und ihrer Schwester handelt es sich um figural-konstruierte Stimmen, die von Edna imaginiert werden. Diesen figural-konstruierten Stimmen kommt am Ende des Textes eine besondere Funktion zu, indem sie in mehrfacher Hinsicht für eine Schwellensituation stehen. Die Protagonistin befindet sich mental in einem fluktuierenden Zustand, da sie ihren Erinnerungen an Stimmen ausgeliefert ist, die beliebig zwischen der weit zurückliegenden Kindheit und der jüngsten Vergangenheit changieren. Zudem drücken ihre abnehmenden Kräfte und das schwindende Bewusstsein aus, dass sie sich ebenfalls physisch in einer Schwellensituation zwischen Leben und Tod befindet. Auch räumlich hat sich Edna Pontellier an einen Ort begeben, der sich einer genauen Zuschreibung entzieht: Zwar hat sie durch ihren Gang ins Wasser einerseits keinen – im wörtlichen Sinne – sicheren Boden mehr unter den Füßen, andererseits scheint das aus ihrer Sicht noch deutlich zu erkennende Ufer sich in einer Entfernung zu befinden, die für eine Rettung zumindest theoretisch durchaus zu bewältigen wäre. Am Ende der Narration wird Edna Pontellier als eine Figur beschrieben, die zu einer besonderen sinnlichen Wahrnehmung befähigt ist und eine synästhetische Erfahrung macht, indem sie Geräusche und Gerüche zeitgleich rezipiert. Diese Dopplung befördert den Text, der gemeinhin der local color fiction zugeordnet wird, d. h. innerhalb des amerikanischen Realismus zu verorten ist, zugleich auch an die Schwelle eines epochalen Umbruchs. Denn neben dem deutlich erkennbaren lokalen Kolorit des Textes, das die Geschichte Edna Pontelliers im Louisiana des ausgehenden 19. Jahrhunderts positioniert, zeigen sich inhaltlich wie formal erste Merkmale modernen Erzählens. Das offene Ende, welches über das weitere Schicksal Edna Pontelliers letztlich nur Spekulationen zulässt, und der besondere Fokus auf die sinnliche Wahrnehmung weisen bereits auf die sich ankün-

4.2 Realismus



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digende Epoche der Moderne hin und lassen den Roman auch aus literaturhistorischer Sicht als Ausdruck einer Schwellensituation erscheinen. Somit geraten die verschiedenen Konstruktionsweisen von Aussageinstanzen in Theodor Fontanes L’Adultera und Kate Chopins The Awakening zu einem Differenzkriterium, das sowohl die Darstellung weiblicher Charaktere am Ende des 19. Jahrhunderts betrifft als auch zu einer (Neu-)Verortung der Texte innerhalb der Literaturgeschichte verhelfen kann. Trotz aller herausgestellten Parallelen auf der Ebene der histoire finden sich im Bereich des discours deutliche Unterschiede in den konstruierten Varianten von Polyphonie innerhalb beider Texte, die ein je eigenes Verständnis der literarischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Gegenwart ausdrücken. In seinem Aufsatz „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“52 liefert Theodor Fontane folgende Definition für den Begriff ‚Realismus‘: „Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst […].“ Dieses auf die Ebene der histoire bezogene Verständnis von Realismus findet in L’Adultera aus narratologischer Perspektive seine formale Entsprechung in der Stimmengestaltung: Durch die Konstruktion einer figuralen Sprechinstanz, die ihre Mehrstimmigkeit durch das Zitieren real-existenter Äußerungen generiert, wird ‚wirkliches Leben‘ im ‚Elemente der Kunst‘ gespiegelt. So fungiert beispielsweise das Hamlet-Zitat insofern als ein ‚Teil wirklichen Lebens‘, als es Bestandteil eines real-existenten dramatischen Textes von William Shakespeare ist; künstlerisch widergespiegelt wird es, indem es Eingang in das fiktionale (Kunst-)Werk L’Adultera findet. Zum Ausdruck zeitgenössischer Gegenwart wird diese Variante der Polyphonie, da das Zitat bei Fontane „gemeinhin als Konversationszitat [fungiert]“53 und somit zugleich die zitierende Figur, wie auch ihre Zeit und ihre gesellschaftliche Schicht charakterisiert. So bemerkte Theodor Fontane in einem Brief an seine Tochter vom 24.08.1882 mit Blick auf L’Adultera, er wolle „die Menschen so sprechen lassen, wie sie wirklich sprechen“.54 Mit dem sich äußernden Menschen meint Fontane aus erzähltheoretischer Perspektive freilich eine Figur, und bringt in dieser Nachricht an seine Tochter zugleich sein Verständnis realistischer Literatur zum Ausdruck: Die Artikulation der Figuren und ihre Dialoge spiegeln ein Stück zeitgenössischer Lebenswirklichkeit wider

52 Theodor Fontane: „Unsere epische und lyrische Poesie seit 1848“. In: Walter Keitel / Jürgen Kolbe (Hg.): Theodor Fontane. Sämtliche Werke. München: 1969. S. 236–260. Hier: S. 242. 53 Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle. Motive der Dekadenz in ‚L’Adultera‘, ‚Cécile‘ und ‚Der Stechlin‘. Würzburg 2003. Hier S. 195. 54 Vgl. Fontanes Brief an seine Tochter vom 24. August 1882, zit. nach: Richard Brinkmann / Waltraud Wiethölter (Hg.): Theodor Fontane. In: Dichter über ihre Dichtungen. München 1973, Teil II, S. 302.

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und vermitteln dem Leser einen lebendigen Eindruck der gehobenen Berliner Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Kate Chopin hingegen präsentiert in The Awakening ein Konzept von Realität, in dem sich bereits die kommende Epoche der Moderne ankündigt. In ihrem Text geht es nicht ausschließlich um ein möglichst realistisches, intersubjektiv nachvollziehbares Porträt einer bestimmten Gesellschaftsschicht, sondern auch um die subjektive Wahrnehmung dieser Gemeinschaft durch die Protagonistin. Somit bleibt ein Grundanspruch realistischer Literatur im Allgemeinen und der local color fiction im Besonderen bestehen: Durch die eindeutige Datierung und Lokalisierung der Geschichte werden die Besonderheiten einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit vermittelt und ermöglichen so eine Bewahrung der kulturellen Eigenheiten dieses Landstrichs. Dieser inhaltliche Aspekt trägt dem Bedürfnis Rechnung, sich innerhalb einer Nation, die durch die zunehmende Industrialisierung mehr und mehr zur Vereinheitlichung tendiert, zumindest seiner regionalen Wurzeln zu erinnern und ein lebendiges Bild zeitgenössischer Lebensumstände im Louisiana des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu tradieren. Als vergleichsweise modern erscheint darüber hinaus, dass neben dem genannten Fokus auf regionale und historische Aspekte die subjektive Realität der weiblichen Protagonistin in den Blick gerückt und in ihrer inneren Zerrissenheit mit allen Konsequenzen bis zu ihrem letzten Gang ins Wasser dargestellt wird. Formal spiegelt sich der Zwiespalt Edna Pontelliers in der polyphonen narrativen Instanz, welche durch die einander widersprechenden beiden ‚Stimmen‘ der Zerrissenheit der Protagonistin auf der discours-Ebene Ausdruck verleiht und den Text somit bereits Aspekte modernen Erzählens vorwegnehmen lässt.55 Die Zweiteilung der ‚Stimme‘ wird in Chopins Roman zu einem Ausdruck des ‚Dazwischen‘, in dem sich Edna Pontellier auch aus kulturhistorischer Sicht be55 Die Bezüge zur Moderne wurden in der Forschung zu The Awakening lange Zeit vernachlässigt. In den letzten Jahren sind die Verbindungen jedoch zunehmend berücksichtigt worden. Vgl. z. B. den Aufsatz von Elizabeth Nolan, die Kate Chopin „a willingness to experiment with form and genre“ (S. 118) attestiert und den für den Realismus untypischen Fokus auf die Psyche hervorhebt: „By placing emphasis on the psyche of her protagonist, she enacts a variation on realism, posing a challenge to its depiction of external reality“ (S. 122). Vgl. Elizabeth Nolan: „The Awakening as Literary Innovation. Chopin, Maupassant and the Evolution of Genre“. In: Janet Beer (Hg.): The Cambridge Companion to Kate Chopin. Cambridge 2008. S. 118–131. Vergleiche hierzu auch die folgende erzähltheoretische Analyse, in der explizit auf den polyphonen Charakter des Romans eingegangen wird: Xianfeng Mou: „Kate Chopin’s Narrative Techniques and Seperate Space in The Awakening“. In: The Southern Literary Journal 44 (2011). S. 103–120. Sämtliche Bezüge zur Mehrstimmigkeit werden jedoch bei Mou basierend auf der Theorie von Bachtin hergestellt, so dass es sich nicht um eine Form der Polyphonie im hier definierten Sinne handelt.

4.2 Realismus 

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findet. In ihrer Figur kündigt sich bereits der Typus der new woman an, die ihre Rolle neu und vor allem eigenständig definiert. Edna trägt bereits Züge der ‚neuen Frau‘, doch zugleich findet sie noch keinen Platz in ihrer Gesellschaft. Sie ist ihrer Zeit voraus und somit deplatziert in einem Umfeld, das noch keinen Wechsel innerhalb der Rollenbilder vollzogen hat, sondern, im Gegenteil, die Tradition kultiviert und einem konservativen Frauen- und Familienbild verpflichtet ist. Die Protagonistin reagiert auf die Widerstände der Gesellschaft mit Sprachlosigkeit, die zugleich Ausdruck ihrer mangelnden Selbstreflexivität ist: […] [S]uch a complex and fleeting construction as human identity – the self in time – can only exist as a narrative construction. Without the narrative fabric, it seems even difficult to think of human temporality and historicity at all.56

Zu einer solchen narrativen Konstruktion des eigenen Seins ist Edna Pontellier nicht fähig; sie scheint keine eigene Vorstellung davon zu haben, wer sie ist und welche Wünsche und Ziele sie verfolgt. Anders als Melanie van der Straaten scheitert sie an einer (Re-)Konstruktion ihrer Identität, da dieser grundsätzlich ein auf Kausalitäten basierendes Verständnis der eigenen Vergangenheit zugrunde liegt: „Um zu empfinden, wer wir sind, brauchen wir eine Vorstellung davon, wie wir es geworden sind und wohin wir unterwegs sind.“57 An eben diesem Überblick mangelt es Edna Pontellier bis zuletzt; in den letzten Augenblicken, in denen von ihr berichtet wird, ist sie den Erinnerungen an ihre Vergangenheit gänzlich ausgeliefert, und zwar ohne diese in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, geschweige denn verbalisieren zu können. Der stumme Gang ins Wasser bedeutet hier den Weg in eine Schwellensituation, die nicht erfolgreich überwunden werden kann. Sowohl L’Adultera als auch The Awakening führen vor, welche Rolle der eigenen Stimme bei der Identitätsfindung zukommt. Wenn sie nicht entwickelt wird, so ist der Mensch existentiell gefährdet: Weder ist es ihm möglich, seine Bedürfnisse und Wünsche der Außenwelt zu kommunizieren noch kann er ein historisch gewachsenes Selbstbild erstellen (geschweige denn verbalisieren), das die eigene Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft und den Blick auf die Zukunft strukturiert. 56 Jens Brockmeier / Donald Carbaugh: Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture. Amsterdam / Philadelphia 2001. S. 15. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Aufsatz von Michael Scheffel: „Erzählen als anthropologische Universalie: Funktionen des Erzählens im Alltag und in der Literatur“. In: Manfred Engel / Rüdiger Zymner (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004. S. 121–138. S. 126 ff. 57 Charles Taylor: Quellen des Selbst: Die Entstehung einer neuzeitlichen Identität. Übers. v. J. Schulte. Frankfurt am Main 1996. S. 94.

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4.3 Moderne Polyphonie als Instrument sozialer Systembildungen: Zur Funktion kommunizierender Gruppen in Arthur Schnitzlers „Der Empfindsame“ (1895) und William Faulkners „A Rose for Emily“ (1930) William Faulkners „A Rose for Emily“58 weist eine Besonderheit in der narrativen Struktur auf, die sich durch die gesamte Erzählung zieht: Es berichtet eine erzählende Instanz erster Ordnung als ein gemeinschaftliches we rückblickend und chronologisch ungeordnet aus dem Leben der verstorbenen Protagonistin Emily Grierson. Die Geschichte um Emily, Bewohnerin der fiktiven südstaatlichen Kleinstadt Jefferson, wird durchgängig von dem anonymen Kollektiv erzählt, das die Protagonistin zeitlebens mit einem regen Interesse an ihrer Entwicklung beobachtet hatte. Dieses Kollektiv tritt als eine homogene Gruppe auf, deren Äußerungen nicht auf einzelne Figuren zurückgeführt werden können, sondern die als eine geschlossene Gemeinschaft die Ansichten der gesamten Stadt repräsentieren. Der Bericht über das Leben der Protagonistin folgt einzig der willkürlichen Assoziationskette der Gemeinschaft und entbehrt in seiner präsentierten Abfolge einer sinnstiftenden Ordnung der Geschehnisse. Somit liefert die als eine kollektive Figurenstimme gekennzeichnete Erzählinstanz eine Art Rohmaterial in Form relevanter Informationen, die der Leser bei seinem Rezeptionsprozess in eine sinnvolle und Kausalzusammenhänge schaffende Interpretation zusammenfügen muss. Die Erzählung beginnt mit der Erinnerung an Emilys Tod und stellt folglich das (Lebens-)Ende der Figur an den Anfang der Narration. Sukzessive erfährt der Leser von ihrer Vereinsamung zu Lebzeiten und dem ungewöhnlichen Familienleben, in welchem die Beziehung zu ihrem Vater von einer extremen Abhängigkeit gekennzeichnet war. Dessen Tod zog zunächst eine längere Erkrankung und einen Rückzug der Protagonistin nach sich,59 in deren Folge sich Emily nach ihrer Genesung häufiger mit dem aus dem Norden stammenden Straßenarbeiter Homer Barron zeigt. Fortan bestimmen die Spekulationen um eine mögliche Romanze der beiden das Stadtgespräch. Eine weitere Information, die von der kollektiven Figurenstimme unvermittelt, d. h. ohne eine Kausalitäten herstellende Einleitung, mitgeteilt wird, ist Emilys Erwerb einer größeren Menge von Arsen. Dieser ungewöhnliche Kauf führt zwischenzeitlich zu der 58 William Faulkner: „A Rose for Emily“. In: These Thirteen. Volume Two of the Collected Short Stories of William Faulkner. London 1974. S. 9–20. Alle Faulkner-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text. 59 Vgl. Faulkner, „A Rose for Emily“, S. 14.

4.3 Moderne



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Überlegung des Kollektivs, dass Emily ihrem Leben ein Ende zu setzen gedenkt: „So the next day we all said, ‚She will kill herself‘; and we said it would be the best thing“ (vgl. Faulkner, „A Rose for Emily“, S. 16). Retrospektiv erweist sich diese Conclusio zwar als falsch, die Information über das gekaufte Gift jedoch als ein Hinweis auf ein Verbrechen der Protagonistin.60 Nachdem Homer Barron zunächst nur kurzzeitig aus dem Beobachtungsfeld der Stadtbewohner entschwunden war und sich wenige Tage später wieder in Emily Griersons Haus einfindet, entzieht er sich kurz darauf ein zweites Mal den neugierigen Blicken der Nachbarn und wird fortan nicht mehr gesehen (vgl. Faulkner, „A Rose for Emily“, S. 17). Erst nach Emilys Tod wird sein verwester Leichnam in einem abgeschlossenen Raum ihres Hauses gefunden (vgl. Faulkner, „A Rose for Emily“, S. 20). Diese Rekapitulation der wichtigsten Ereignisse im Leben der Protagonistin stellt eine stark verkürzte Zusammenfassung dar, die den mutmaßlichen Abläufen des Geschehens innerhalb der erzählten Welt folgt, aber, wie bereits gesagt wurde, nicht der assoziativ-ungeordneten Narration der kollektiven Figurenstimme entspricht, die sich bei ihrem Erzählen ausschließlich an sprunghaften Erinnerungen orientiert. In Arthur Schnitzlers Erzählung „Der Empfindsame“61 blickt ebenfalls eine intradiegetische Gruppe auf das Leben eines kürzlich verstorbenen Mitglieds der Gemeinschaft zurück. Anders als in Faulkners Text berichtet hier zunächst eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz von der Zusammenkunft einer Reihe junger Menschen, die sich über den Selbstmörder Fritz Platen unterhält. Bei den Gesprächsteilnehmern handelt es sich um die namentlich genannten Figuren Rhode, Friedel und Willner (vgl. Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 187), d. h., es äußert sich kein anonymisiertes Kollektiv wie in Faulkners Geschichte, sondern es kommen individualisierte Figuren zusammen, die gemeinsam über die Gründe spekulieren, die ihren Freund Fritz Platen in den Suizid getrieben haben könnten. Auch Schnitzlers Text enthält eine besondere Variante der Mehrstimmigkeit, die hier in Form einer polyphonen Figurenstimme präsentiert wird, d. h. durch die Stimme einer Figur, die wiederum in Form von Zitaten eine oder mehrere fremde Stimme(n) in die eigene eingebaut und somit als polyphon ausgewiesen ist. In dem vorliegenden Fall wird sie durch einen Brief an den Verstorbenen generiert, der von Albert Rhode vorgelesen wird. Rhode, der die Zeilen beim Ordnen der Papiere seines verstorbenen Freundes

60 Die Vergiftung von Homer Barron durch Emily Grierson wird durch einzelne Informationen innerhalb des Textes nahegelegt. 61 Arthur Schnitzler: „Der Empfindsame“. In: Arthur Schnitzler. Erzählungen. Hg. von Hartmut Scheible. Düsseldorf / Zürich 2002. S. 187–194. Alle Schnitzler-Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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gefunden hatte, liest eine Nachricht der Geliebten von Fritz Platen im Kreis der Trauernden vor und weist seiner Inklusion einer fremden Stimme in die eigene zugleich eine bestimmte Funktion der Aufklärung zu: „An seiner Empfindsamkeit ist er gestorben, und ich will euch zum Beweis dafür einen merkwürdigen Brief vorlesen“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 187). Der Inhalt des Briefes, so lässt sich resümieren, besteht in der Rekapitulation der gemeinsamen Beziehung aus der Perspektive der Geliebten, die den Verstorbenen offensichtlich kürzlich verlassen hatte. Bemerkenswert ist hierbei, dass der zitierende Albert Rhode den Namen der Briefschreiberin bewußt verschweigt, da sie „aller Wahrscheinlichkeit nach […] bald eine sehr berühmte Person sein [wird]“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, ebd.). Aus den Zeilen geht hervor, dass für die Schreiberin, eine Sängerin, von Beginn an nicht die Liebesbeziehung zwischen ihr und Fritz Platen im Vordergrund gestanden hatte, sondern, dass sie sich den jungen Mann auf Anraten mehrerer Ärzte als Sexualpartner zufällig ausgesucht hatte. Das Ziel dieser – aus heutiger Sicht kurios anmutenden – kalkulierten Wahl war, durch den intimen Kontakt mit einem beliebigen Mann eine bisher nicht behandelbare Erkrankung der Stimme zu heilen und somit eine vollständige Genesung desjenigen Organs zu erzielen, das für die Sängerin vor allem beruflich von zentraler Bedeutung war. Für den Verlassenen wird durch den Abschiedsbrief der Geliebten nicht nur die gemeinsame Zeit relativiert, die für die Künstlerin von Beginn an einen anderen Stellenwert besessen hatte als für ihn selbst, sondern er wird zugleich durch die erläuternden Zeilen in seiner Ehre gekränkt, indem die ehemalige Partnerin rückblickend die Machtverhältnisse verdeutlicht, die ihn als den von der ersten Begegnung an unterlegenen Part ausweisen (vgl. Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 189). Mit ihren letzten Zeilen unterstreicht die ehemals Geliebte noch einmal die nüchterne Funktion des Mannes, die dieser für sie die gesamte Zeit über eingenommen hatte: „Ich werde eine gefeierte Sängerin sein, und Du wirst das Bewußtsein haben, dass ich es in Deinen Armen geworden bin. Wenn Du mich wirklich so lieb gehabt hast, wie Du mir’s sooft gesagt, so muß Dir das ein Trost dafür sein, dass Du die Geliebte verloren“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 193). Da kein Abschiedsbrief des Verstorbenen vorliegt, der zu dieser Perspektive in ein Verhältnis gesetzt werden könnte, bietet ihre schriftliche Nachricht den einzigen Anhaltspunkt für die trauernden Freunde des Verstorbenen. Somit nimmt der Brief eine zentrale Stellung bei der Suche nach möglichen kausalen Zusammenhängen ein, über welche die Freunde zum Selbstmord von Fritz Platen spekulieren. Die knappen Zusammenfassungen beider Erzählungen offenbaren bereits die Bedeutung, die das Gespräch als ein soziales Phänomen innerhalb der Narrationen einnimmt: Es geht um Kommunikation im Allgemeinen und den Austausch innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im Besonderen. In bei-

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den Geschichten wird von intradiegetischen Figurengruppen retrospektiv aus dem Leben verstorbener Figuren berichtet und zugleich über das gemeinschaftliche Erzählen versucht, Kausalitäten im Verhalten der jeweiligen verblichenen Protagonisten zu erkennen. Hierbei besteht eine grundlegende Schwierigkeit: Analog zu einer analytischen Erzählung62 haben sich zu Beginn der erzählten Handlung die entscheidenden Ereignisse bereits vollzogen; in beiden Fällen liegt der Tod des jeweiligen Protagonisten (und im Falle der Narration von Faulkner ein vermeintlicher zusätzlicher Mord) bereits in der Vergangenheit, und keine der sich äußernden Figuren hat diesen miterlebt oder verfügt über zuverlässige Informationen zu den Todesumständen. Während in „A Rose for Emily“ ausschließlich eine kollektive Figurenstimme über die Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt informiert, findet sich in Schnitzlers „Der Empfindsame“ eine übergeordnete extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz, die knapp in die Geschichte einführt. Mit Blick auf die retrospektive Aufklärung der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt aber hat diese Stimme einen primär formalen Charakter (und zwar insofern, als sie vorhanden ist), jedoch liefert sie selbst de facto keine dienlichen Hinweise, die zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit der Figuren beitragen: Sämtliche Informationen, die zu einer sinnvollen Erklärung des Selbstmordes des Protagonisten führen könnten, werden über die polyphone Figurenstimme übermittelt. Folglich ergibt sich im Fall beider Geschichten eine Problemlage, die es im Zuge der Narrationen nicht nur für die sich über das vergangene Geschehen äußernden Figuren zu lösen gilt, sondern auch für den Rezipienten, der zu Beginn der Erzählungen lediglich auf eine zuverlässige Information zurückgreifen kann: die gesicherte Kenntnis über den Tod der Protagonisten. Der bereits genannte Fokus, der in beiden Erzählungen auf das eifrige Gesprächsverhalten der Figuren gelegt wird, legt eine Interpretation nahe, welche die figuralen Äußerungen als eine literarische Darstellung menschlicher Kommunikationssituationen behandelt: Es ist gerade die Thematisierung und die poetische Repräsentation des Alltagsgespräches, die die Texte von Schnitzler und Faulkner ausmacht und somit einen Vergleich der Gruppen- und Gesprächsdynamiken innerhalb der erzählten Welten erlaubt. Abstrakter formuliert, stellen die kommunizierenden Gruppen durch ihre Spekulationen um die Todesumstände der Protagonisten in beiden Texten jeweils ein systematisches Geflecht dar, das in ihren gemeinsamen Dialogen um ein besseres Verständnis der für sie interessanten, aber noch nicht geklärten Todesfälle ringt. Aus diesem Grunde bietet es 62 Zu einer Erläuterung des Begriffes vgl. Dietrich Weber: Theorie der Erzählung. München 1975. Weber verweist hier darauf, dass der Terminus „ein [erzähl-]technisches Prinzip […] in Analogie zum analytischen Drama“ (Weber, Theorie, S. 9) bezeichnet.

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sich an, die jeweiligen Gruppen als intradiegetische Systeme zu verstehen, denen mit ihrer sukzessiven Erhellung des Geschehens eine bestimmte Funktion zukommt: Im gemeinsamen Austausch werden nach und nach die Informationen zusammengetragen, die für ein retrospektives Verständnis der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt Relevanz besitzen. Um dieses Kriterium der Relevanz zu erfüllen, sind sämtliche andere Themen von den Gesprächen ausgeschlossen, die keinen Beitrag zu der ‚Detektivarbeit‘ der Gemeinschaft leisten: Artikuliert wird nur, was in einem direkten Bezug zu den vergangenen Todesfällen steht. Die Selektion der getätigten Äußerungen erfolgt also nach einem einfachen binären Code, der zwischen den für die Vergangenheit wichtigen und unwichtigen Wortmeldungen differenziert und in der Folge nur die Wortmeldungen übermittelt, die für die Enträtselung der ominösen Todesfälle dienlich sind. Auf diese Weise gelingt eine systematische Strukturierung, die rückblickend den berichteten Ereignissen sowohl Linearität als auch Kausalität verleiht. Diese Schaffung von Kohärenzen ist insofern wichtig, als ja eine Ordnung durch eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz in beiden Fällen nicht gegeben ist, da sich diese entweder sehr stark zugunsten der Figurenstimmen zurückzieht oder gar nicht erst vorhanden ist. Die Erzähltexte weisen also formal und inhaltlich verschiedene Gemeinsamkeiten auf. Auf der Ebene des discours operieren beide mit dem übergeordneten Prinzip der Polyphonie, das sich in je verschiedenen Kategorien der Mehrstimmigkeit widerspiegelt: In „A Rose for Emily“ wird die Geschichte durch eine kollektive Figurenstimme vermittelt, während in Schnitzlers „Der Empfindsame“ vorwiegend eine polyphone Figurenstimme über die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt informiert. Beide Varianten der polyphonen Aussageinstanzen verfahren inhaltlich wiederum nach demselben Selektionsprinzip der getätigten Äußerungen: Von einer potenziell unendlichen Menge der Möglichkeiten verbaler Mitteilungen finden in beiden Texten nur diejenigen Eingang in die Narration, die dem Verständnis der in der Vergangenheit liegenden Ereignisse dienen. Die jeweiligen kommunizierenden Gruppen innerhalb der erzählten Welten fungieren also als in sich geschlossene Systeme, die sich beide mit dem übergeordneten Begriff der ‚Erklärung‘ benennen lassen, da sie die nicht beobachtbaren (da in der Vergangenheit liegenden) Ereignisse rekonstruieren und in ein plausibles Verhältnis zu dem berichteten Verhalten der Protagonisten setzen. Das Ziel einer solchen vergleichenden Analyse liegt demnach in einem besseren Verständnis der Kausalzusammenhänge innerhalb der erzählten Welt, indem über eine genaue Betrachtung der kommunizierenden Gruppen eine sinnvolle, d. h. eine strukturierte und sachlich begründete Retrospektive erstellt wird: Einzelne narrative Mosaikteilchen werden zu einem Ganzen geordnet und ermögli-

4.3 Moderne



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chen so eine kausal motivierte Hypothese über die vorausgegangenen Ereignisse, die bereits vor Beginn der Narration abgeschlossen waren. In der Forschung findet sich zu Schnitzlers 1895 entstandenen und 1932 aus dem Nachlass veröffentlichten Erzählung ausgesprochen wenig.63 Bisher gibt es keine Publikation, die sich dezidiert diesem Text widmet, wohl aber einzelne Erwähnungen im Rahmen anderer Veröffentlichungen. Hierbei wird nahezu ausschließlich auf die Verbindungen Schnitzlers zu seiner Tätigkeit als Mediziner verwiesen, in deren Rahmen er auch zu den Wechselwirkungen zwischen der menschlichen Psyche, Sexualität und Stimmverlust forschte. So legt auch Frederick J. Beharriell in seinem Aufsatz zu den Beziehungen zwischen Arthur Schnitzler und dem Psychologen Sigmund Freud64 den Fokus auf den Zusammenhang von Sexualität und Medizin und verweist im Zuge dessen auf die Erzählung „Der Empfindsame“. Anhand der Figur der anonym bleibenden Sängerin sieht Beharriell „die sexuelle Ursache der Hysterie“ literarisch verarbeitet: Zweifellos hat Schnitzler hier das Ergebnis seiner eigenen unmittelbaren Erfahrungen in der Behandlung der Hysterie und besonders in Fällen der Aphonie – er hat ja auch eine Spezialabhandlung über die Behandlung hysterischen Stimmverlustes geschrieben – verwertet und seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, daß man so dieser Krankheit ätiologisch und therapeutisch zuleibe rücken kann.65

Dass Schnitzler die seinerzeit virulenten psychologischen Theorien und Kontroversen in seinem Werk implizit zum Ausdruck bringt, interpretiert Beharriell als „ein weiteres Beispiel jener ‚unheimlichen‘ Intuition und Einsicht […], die Freud seinem Zeitgenossen zugestand“.66 Beharriells Anmerkungen stellen hier eine zweifellos interessante Analogie zwischen Schnitzler und Freud her, ohne dabei aber die spezifische narrative Struktur des Textes zu berücksichtigen.67 Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Beharriells liefert Bernd Urban, der in seinen Bemerkungen ebenfalls auf das Verhältnis von Sexualität und Medizin eingeht, zugleich aber eine Akzentverschiebung vornimmt und in dem Schnitzler63 Erschienen in: Neue Rundschau 43, Heft 5, Mai 1932, S. 663–669. 64 Frederick J. Beharriell: „Schnitzler: Freuds Doppelgänger“. In: Literatur und Kritik (2) 1967. S. 546–555. 65 Ebd., S. 553. 66 Ebd. 67 Der einzige Verweis auf den die Narration prägenden Brief der Sängerin provoziert m. E. diskussionswürdige Interpretationen: „Der ‚Empfindsame‘ hat sich das Leben genommen und einen langen erklärenden Brief hinterlassen“ (vgl. Beharriell, S. 552). Diese Formulierung suggeriert, dass der Brief von Fritz Platen selbst verfasst wurde und ist aus Sicht einer die Kategorie ‚Stimme‘ fokussierenden Analyse insofern problematisch, als der Verstorbene in dem gesamten Text seiner Stimme geradezu beraubt ist und weder mündlich noch schriftlich zu Wort kommt.

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Text weniger die Ursachen der Aphonie, als vielmehr die „therapeutische Methode der Suggestion“ literarisch verarbeitet sieht.68 Reinhard Meyer-Kalkus verweist in einer Fußnote seiner Monographie Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert69 ebenfalls auf den medizinischen Aspekt der Erzählung, mit dem sich eine für die Zeit offensichtlich hochaktuelle Themenwahl verbindet: Auch in der zeitgenössischen Literatur war die Aphonie zu einem Thema des modernen Liebeslebens aufgestiegen, etwa in Arthur Schnitzlers Erzählung „Der Empfindsame“ (1895). Schnitzler gibt ein fast klinisch zu nennendes Bild der hysterischen Aphonie […].70

Neben den medizinischen Implikationen schlägt Meyer-Kalkus mit seinem Urteil zugleich die Brücke zu einem Thema, das den zeitgenössischen Diskurs offenbar bestimmte, und geht somit über den Verweis auf rein medizinische Zusammenhänge hinaus. Die Bemerkung, dass es sich bei dem Phänomen der Aphonie um ein „Thema des modernen Liebeslebens“ handele, erweitert den Blick auf den Text, der nun um die Facette der zwischenmenschlichen Paarbeziehung ergänzt wird. Aphonie wird hier als ein Problem verstanden, das den Bereich der Sexualität stark betrifft und zugleich aber auch über ihn hinausgeht; eine Beschränkung auf die reine Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers ist nicht möglich. Wenn sich der unter Aphonie leidende Patient in einer Liebesbeziehung mit einem Partner befindet, so lässt sich aus der Bemerkung von Meyer-Kalkus schließen, rückt neben der reinen Physis auch das emotionale Miteinander zweier Menschen in den Vordergrund. Auch Konstanze Fliedl widmet der Erzählung in ihrer Überblicksdarstellung zu Arthur Schnitzler71 einen knappen Eintrag und macht neben einem Verweis auf die pathologischen Implikationen des Textes auch auf die psychische Situation des männlichen Protagonisten aufmerksam: Die Geschichte baut auf die populäre, vorwissenschaftliche Erklärung der Hysterie: Weibliche „Störungen“ wurden auf ein sexuelles Defizit zurückgeführt. Fiel Schnitzler damit hinter die fortgeschrittene Hysterieforschung des späten 19. Jahrhunderts zurück, so geht die humorige Pointe der Erzählung mindestens ebenso auf Kosten des männlichen Helden, der die betreffende narzisstische Kränkung seines Ego nicht überwinden kann.72 68 Bernd Urban: „Arthur Schnitzler und Sigmund Freud: Aus den Anfängen des ‚Doppelgängers‘. Zur Differenzierung dichterischer Intuition und Umgebung der frühen Hysterieforschung“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 24, 1974. S. 193–222. Hier S. 212. Meine Hervorhebung. 69 Reinhard Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001. 70 Ebd., S. 395. 71 Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005. 72 Ebd, S. 106.

4.3 Moderne



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Fliedls kurze Bemerkungen schließen thematisch an den von der Forschung durchweg eingenommenen Blick auf das Spannungsverhältnis von Hysterie und Sexualität an, zugleich gehen sie durch die Charakterisierung des männlichen Protagonisten aber – wie auch die Ausführungen von Meyer-Kalkus – über den Aspekt der Medizin hinaus. Der Verweis auf den Protagonisten, der die offensichtliche Ohnmacht der erlittenen Kränkung nur durch einen Suizid zu beenden vermag, macht auf die möglichen Konsequenzen der Aphonie aufmerksam und rückt den „Empfindsamen“ als das eigentliche Opfer der komplexen Verflechtungen, die Schnitzler darstellt, in den Fokus. In diesen wenigen Anmerkungen zu den charakterlichen Figurenmerkmalen ist die inhaltliche Auseinandersetzung der Forschung, die über die Gegenüberstellung von Medizin und Sexualität hinausgeht, bereits erschöpft; Interpretationen zu der Ebene des discours (und somit auch dezidiert zu der Kategorie der ‚Stimme‘) fehlen bisher gänzlich. Diametral entgegengesetzt stellt sich die Forschungssituation für William Faulkners Kurzgeschichte „A Rose for Emily“ dar. Hier findet sich eine unüberschaubare Menge an Texten und Themenkomplexen, die in der Sekundärliteratur bereits verhandelt worden sind. Eine eigene Disziplin bildet hier die Fokussierung der besonderen Erzählstruktur, die Faulkner für seine Narration gewählt hat. Trotz der durchgängig als Plural konzipierten Erzählinstanz gerät bei den Analysen allerdings überraschenderweise der kollektive Charakter der Figurenstimme häufig in den Hintergrund. Das Gros der Interpreten geht davon aus, dass es sich bei der Äußerungsinstanz um einen männlichen Bewohner73 der Kleinstadt Jefferson handelt, der die Pluralform einzig in seiner Funktion als Stellvertreter des Stadtkollektivs verwendet und somit als einzelner für eine Gruppe spricht.74 Andere Forschungsarbeiten zur Erzählstruktur schlagen zugleich eine Brücke zu außertextuellen Größen und Aspekten. So wählt Pierre Bourdieu einen Interpretationsansatz, der den Autor William Faulkner gewissermaßen als historisches Sprachrohr der intradiegetischen Gruppe ausweist

73 Eine Ausnahme bildet hier die Interpretation von Michael L. Burduck, der von einer femininen Erzählinstanz ausgeht, die als Vertreterin für das weibliche Kollektiv der Stadt zu Wort kommt. Vgl. Michael L. Burduck: „Another View of Faulkner’s Narrator in ‚A Rose for Emily‘“. In: The University of Mississippi Studies in English 8 (1990). S. 209–211. 74 Vgl. z. B. Joseph M. Garrison: „‚Bought Flowers‘ in ‚A Rose for Emily‘“. In: Studies in Short Fiction 16 (1979), H. 4. S. 341–344; Jack Scherting: „Emily Grierson’s Oedipus Complex: Motif, Motive and Meaning in Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: Studies in Short Fiction, 17 (1980), H. 4. S. 397–405.; Hal Blythe: „The Chivalric Narrator of ‚A Rose for Emily‘“. In: The University of Mississippi Studies 6 (1988). S. 280–284; Thomas Klein: „The Ghostly Voice of Gossip in Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: The Explicator 65, (2007), H. 4. S. 229–232.

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und mittels einer Spiegelung in den Text inkludiert sieht.75 Ziel der selbstreflexiven Erzählweise sei es, über die Brechung mit traditionellen Erzählkonventionen diese zugleich anzuprangern.76 Aus narratologischer Perspektive hervorzuheben sind zwei zu Anfang der 1970er Jahre erschienene Aufsätze von Helen E. Nebeker77 und Ruth Sullivan78, die der kollektiven Konstruktion der Erzählinstanz Rechnung tragen und die besondere Form pluralistischen Erzählens in der eigenen Interpretation fruchtbar machen. Gleich zu Beginn ihrer Analyse macht Nebeker darauf aufmerksam, dass innerhalb der Forschung ein Desiderat hinsichtlich der besonderen Fokalisierung und der strukturellen Ambiguität in Faulkners Text besteht.79 Um zu einem besseren Verständnis der Geschichte zu gelangen, müsse zunächst die Identität der Erzählinstanz verstanden werden: For the truth of the Miss Emily episode lies not in the character and motivation of Miss Emily, but in the identity of the narrator. And to arrive at that identity, the reader must untangle the deliberate ambiguity of the various pronoun references which control the point of view.80

Ein Blick auf die ersten beiden Kapitel der Geschichte führt Nebeker zu der wichtigen (allerdings innerhalb der Forschung auch in der Folgezeit nahezu komplett ausgeblendeten) Feststellung, dass die Erzählinstanz ein Kollektiv darstellt, welches sich aus Nebekers Sicht wiederum aus drei verschiedenen Gruppen zusammensetzt: Thus, in the first two sections, we have ambiguously but definably presented before us three groups – the general townspeople of the inclusive our; the they of a contemporary society functioning when Miss Emily was in her late 50s or early 60s and to whom she refused to pay taxes; and the they of an earlier group.81

Diesen drei verschiedenen Gruppen lassen sich zugleich drei verschiedene Generationen zuordnen, und zwar: 75 Vgl. Pierre Bourdieu: „A Reflecting Story“. In: Michael S. Roth (Hg.): Rediscovering History: Culture, Politics and the Psyche. Stanford 1994. S. 371–377. 76 Vgl. ebd., S. 375 f. 77 Helen E. Nebeker: „Emily’s Rose of Love: Thematic Implications of Point of View in Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: The Bulletin of the Rocky Mountain Modern Language Association 24 (1970). S. 3–13. 78 Ruth Sullivan: „The Narrator in ‚A Rose for Emily‘“. In: Journal of Narrative Technique 1 (1971), H. 3. S. 159–178. 79 Vgl. Nebeker, S. 3. 80 Vgl. ebd., S. 4. 81 Ebd.

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Predictable Faulknerian generations: the autocratic pre-Civil War hierarchy to whom a lady is always a lady; the generation this hierarchy breeds, Emily’s generation, characterized by decay, ruin, but also reverence for the past; the unknowing, uncaring opportunistic new breed which will dun a lady for her taxes.82

Aus dieser Interpretation der von der kollektiven Figurenstimme gewählten Pronomen lässt sich viel für eine Analyse gewinnen, die sich der besonderen Form des mehrstimmigen Erzählens innerhalb verschiedener Gemeinschaften nähern möchte. Denn ohne explizit diesen Ansatz zu verfolgen, stellt Nebeker drei sich äußernde Gruppen, drei kommunizierende Systeme heraus, die es im Folgenden näher zu betrachten gilt: Die passiv-betrachtende und zugleich als alterslos erzählende kollektive Figurenstimme, die unter der Verwendung der Pronomen we und our Emily zeitlebens beobachtet, und zwei davon klar abzugrenzende agierende Gruppen, von denen sich die kollektive Figurenstimme durch die Verwendung des Personalpronomens „they“ klar distanziert. Hierbei handelt es sich einerseits um eine ältere Generation, die den Werten einer idealisierten Vergangenheit verpflichtet ist und die Emily mit der einer Dame traditionell gebührenden Würde behandelt, und andererseits um die jüngere Generation, die sich von alten Traditionen losgelöst hat und primär wirtschaftliche Interessen verfolgt; auch diese Generation wird von der kollektiven Figurenstimme als „they“ tituliert. Entscheidend festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die durch die Personalpronomen „we“ und „our“ auf sich selbst bezugnehmende kollektive Figurenstimme nicht in Kontakt zu der Protagonistin tritt und ausschließlich aus den eigenen Beobachtungen heraus über sie berichtet, während die beiden mit „they“ bezeichneten Gruppen kommunikativ aktiv werden und durch den Dialog mit der Protagonistin weitere Hinweise auf den Charakter von Emily Grierson liefern. Ruth Sullivan legt ein Jahr später den Fokus ihrer Studie auf die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz in Faulkners Geschichte, die sie mit der emotionalen Beteiligung der berichtenden Stimme begründet.83 Hierbei berücksichtigt sie auch deren besondere Form der Kollektivität: Who is the narrator? Not a single person because Faulkner uses a first-person plural point of view, “we”; that “we” is townspeople, but only such as are in position to watch Emily constantly for fifty or sixty years: they are anonymous townspeople, for neither names nor sexes nor occupations are given or hinted at; and they seem to be naïve watchers, for they speak as though they did not understand the meaning of events at the time they occurred. Further, they are of indeterminate age. By details given in the story they are nei-

82 Ebd. 83 Vgl. Sullivan, S. 160.

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ther older nor younger nor of the same age as Miss Emily. The most significant action the narrator performs is watching.84

Für eine im Folgenden vorzunehmende Analyse, die ihren Fokus insbesondere auf das Kommunikationsverhalten bestimmter Gruppen legt, lässt sich aus den Anmerkungen von Ruth Sullivan vor allem die für die erzählende Instanz herausgestellte Tätigkeit des Beobachtens und ihre betonte Alterslosigkeit gewinnbringend nutzen. Die Stimme, so lässt sich mit Sullivans Ausführungen schon einmal festhalten, besteht primär als ein die Protagonistin passiv beobachtendes Kollektiv von Stadtbewohnern undefinierbaren Alters, das in deutlicher Abgrenzung zu der von ihm konstant ins Visier genommenen Emily agiert. Zieht man nun die zuvor von Helen Nebeker getroffene Differenzierung zwischen dem nur beobachtenden und berichtenden „we“ eben dieser Gruppe und den nicht berichtenden, aber dafür mit Emily in Kontakt tretenden und mit „they“ betitelten Akteuren innerhalb der erzählten Welt hinzu, so lassen sich schon einmal mindestens drei kommunizierende Systeme klar voneinander unterscheiden.85 Welchen Gewinn verspricht nun eine komparatistische Analyse beider Texte, welche die Disziplin der Narratologie mit einer Theorie kommunizierender Systeme zu verbinden sucht? Zunächst einmal stellt diese Perspektive in beiden Fällen eine neue Lesart dar, die im Fall von „A Rose for Emily“ die ausgesprochene Vielfalt bisheriger Interpretationen ergänzt und für „Der Empfindsame“ eine dezidiert literaturwissenschaftliche Analyse liefert, die über das bisher fokussierte Verhältnis Schnitzlers zu seiner Ausbildung und Tätigkeit als Mediziner hinausgeht. Zugleich trägt der hier gewählte Ansatz der besonderen narrativen Struktur der Texte Rechnung, da beide Geschichten die jeweiligen Todesumstände der Protagonisten nur ungeordnet und lückenhaft in der Retrospektive enthüllen und ein systematischer Zugriff somit eine ordnende Funktion erhält. Faulkners Text, so wurde bereits gesagt, verzichtet gänzlich auf eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz und in Schnitzlers Narration ist diese zugunsten der sich vorrangig äußernden Figurenstimmen auf ein Minimum reduziert. Folglich ist der Leser auf seine eigene ‚Detektivarbeit‘ angewiesen, um eine plausible Version der Geschehnisse innerhalb der erzählten Welten zu erstellen und so ein chronologisch geordnetes Verstehen derjenigen Ereignisse zu produzieren, die den Äußerungen der Figuren vorausgehen: Das Ziel liegt demnach in einem besseren Verständnis des extradiegeti84 Ebd., S. 161. 85 Bei den mit Emily kommunizierenden Stadtbewohnern („they“) lässt sich zudem noch einmal eine Binnendifferenzierung vornehmen, welche die älteren Stadtbewohner von den jüngeren trennt.

4.3 Moderne



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schen Universums, das die erzählte Welt umgibt und zugleich erklärt. Eine narratologische Analyse, die mit einer Theorie kommunizierender Systeme kombiniert wird, zielt also in diesem Falle auf eine begründete, schlüssige und wahrscheinliche Vorgeschichte zu den von den Figuren überlieferten Informationen ab. In ihrem Aufsatz „Umwelten der Literatur“86 verweisen Gerhard Plumpe und Niels Werber auf die Begriffe „Funktion, Code und Medium […] [als] die entscheidenden Kategorien zur Differenzierung“,87 um bestimmte Systeme von anderen Systemen abzugrenzen. Strukturell generieren sich die Systeme ‚Erklärung‘ in „A Rose for Emily“ und „Der Empfindsame“ bis auf eine kleinere Differenz in der Kategorie Medium nahezu identisch: Beide Texte operieren mit dem binären Code relevant / nicht relevant im Hinblick auf die zu ergründenden Todesumstände; erzählt wird nur, was als in dieser Hinsicht bedeutsam aus der unendlichen Menge an potenziellen Äußerungen selektiert wird. In beiden Texten folgt diese Auswahl der gleichen Funktion, nämlich einer Herstellung von Kausalität, welche die von den Figuren nicht beobachteten Todesumstände der Protagonisten plausibel machen soll. Zudem arbeiten beide Systeme mit dem Medium der Polyphonie, das in „A Rose for Emily“ in Form einer kollektiven Figurenstimme zu Tage tritt und in „Der Empfindsame“ als polyphone Figurenstimme realisiert wird. Das Medium Polyphonie erweist sich also ebenfalls als verbindend, tritt jedoch in verschiedenen Varianten auf. Im Folgenden werden nun also beide Texte genauer mit Blick auf die verschiedenen dargestellten Kommunikationssysteme untersucht. Hierbei soll neben der bereits genannten Funktion einer Herstellung von Kausalität(en) über das narrative Prinzip der Polyphonie abschließend noch auf eine weitere besondere Struktur des Erzählens eingegangen werden: Beide Geschichten folgen neben der inhaltlichen Fokussierung relevanter Äußerungen auch formal einer Kreisstruktur, die das Motiv der Relevanz der Protagonisten an den Anfang der Narration stellt und am Ende wieder aufgreift. Die Frage nach der Relevanz bestimmt also nicht nur das Selektionsprinzip der Äußerungen, sondern sie wird auch in einem übertragenen Sinne für die Zeit nach dem Tod der jeweiligen Hauptfiguren gestellt, die ihr Umfeld in ganz unterschiedlichem Maße geprägt haben und von unterschiedlicher Bedeutung für dieses sind. William Faulkners Kurzgeschichte „A Rose for Emily“ beginnt mit einer Erinnerung an die Beerdigung der Protagonistin, die zugleich einigen Aufschluss über die Zusammensetzung des sprechenden Kollektivs liefert: 86 Gerhard Plumpe / Niels Werber: „Umwelten der Literatur“. In: Dies. (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995. S. 9–33. 87 Ebd., S. 10.

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When Mrs. Emily Grierson died, our whole town went to her funeral: the men through a sort of respectful affection for a fallen monument, the women mostly out of curiosity to see the inside of her house, which no one save an old manservant – a combined gardener and cook – had seen in at least ten years. (Faulkner, “A Rose for Emily”, S. 9)

Das Personalpronomen „our“ macht deutlich, dass es sich hier um die kollektive Figurenstimme handelt, die Emily zeitlebens beobachtet hatte, aber nicht mit ihr in Kontakt getreten ist. Zugleich ist das Kollektiv geschlechtsneutral, da es sowohl männliche als auch weibliche Mitglieder enthält.88 Gleich im ersten Satz der Narration erhält der Leser neben den Anhaltspunkten zu der Erzählinstanz bereits Informationen zu der verblichenen Protagonistin, die hinsichtlich ihrer Geschichte relevant sind: Zum einen werden Neugierde und Respekt als Gründe genannt, die das Kollektiv veranlasst haben, ihre Beerdigung zu besuchen. Beide Motive dokumentieren bereits an diesem frühen Zeitpunkt der Narration ein distanziertes Verhältnis zu der Verstorbenen, die offensichtlich bis zu ihrem Tod eine Außenseiterrolle eingenommen hatte. Die Tatsache, dass das Innere ihres Hauses seit mindestens zehn Jahren von jemandem aus dem Kollektiv nicht mehr in Augenschein genommen worden ist, verstärkt diesen Eindruck. Somit lässt sich direkt zu Beginn der Erzählung das Kollektiv als ein kommunizierendes System ausmachen, welches sich autopoietisch durch seinen Bericht über Emily Grierson erzeugt und die Protagonistin als Gesprächsobjekt zugleich als Teil der Umwelt des Systems, als bereits zu Lebzeiten nicht dazugehörig, ausweist. Diese Information über Emilys Außenseiterstatus ist für die Rekonstruktion der Ereignisse insofern relevant, als ihre Vereinsamung in einem engen Zusammenhang mit der Suche nach Kausalitäten durch das Kollektiv steht: Es ist primär der fehlende verbale Austausch mit der Protagonistin, der für das Kollektiv der Stadtbewohner (und folglich auch für den Leser) zu Unklarheiten und Spekulationen hinsichtlich der Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt führt. Arthur Schnitzlers Erzählung „Der Empfindsame“ beginnt mit dem Bericht der heterodiegetisch-extradiegetischen narrativen Instanz, der zu Anfang der Geschichte eine einzelne längere Erzählpassage eingeräumt wird: Die jungen Leute waren heute sehr traurig. Sie dachten an den armen Fritz Platen, der so oft da neben ihnen gesessen war, plaudernd, lächelnd, Kaffee trinkend, Zigaretten rauchend. Eines Abends vor acht Tagen war er nicht gekommen, sondern war zu Hause ge88 Diese Mischung innerhalb einer Stimme gehört zu den Spezifika schriftlich-fiktionalen Erzählens, das männliche und weibliche Stimmen kombiniert als theoretisches Konstrukt einer singulären Stimme darstellen kann, während im Falle realer Sprechsituationen von Menschen lediglich die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Äußerungen gegeben ist, indem sie ihre Stimmen unisono erheben.

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blieben, hatte sich vor seinen Schreibtisch gesetzt und sich eine Kugel durch den Kopf geschossen. Niemand wußte, warum. Fritz Platen war ein lieber, junger Mensch gewesen, bildhübsch, ziemlich wohlhabend und ein bißchen empfindsam. Und sie sprachen darüber, wie dumm oder wenigstens wie unbegreiflich das von einem so netten, hübschen, wohlhabenden und empfindsamen jungen Menschen sei, eines Tages plötzlich nicht ins Kaffeehaus zu kommen, sondern zu Hause zu bleiben und sich totzuschießen. (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 187)

Schnitzlers Narration beginnt demnach mit einem konventionellen Erzähleinstieg, der sich in Form einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz gestaltet, die die Figuren in die Geschichte einführt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass für die narrative Instanz als Perspektive die interne Fokalisierung gewählt wird und sie somit keinen Wissensvorsprung gegenüber den anderen Figuren besitzt: Sowohl von Seiten der narrativen Instanz als auch aus dem Blickwinkel der Figuren werden Unverständnis und Unkenntnis über die vorherigen Ereignisse, die Fritz Platen in den Tod getrieben haben könnten, vermittelt; die narrative Instanz blickt also mit den ratlosen Figuren auf das zunächst unverständlich erscheinende Geschehen. Im Anschluss an die einführende Passage durch die narrative Instanz verschiebt sich das Gewicht der Stimme(n) zugunsten der Figuren, die im Folgenden den Hauptredeanteil besitzen. Zu diesem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Erzählung wird von Albert Rhode, dessen Stimme über weite Strecken als polyphon konzipiert ist, bereits die Brücke zu einer möglichen Aufklärung des unerwarteten Selbstmordes von Fritz Platen geschlagen: „Zu empfindsam“, sagte plötzlich einer von den jungen Leuten, und das war Albert Rhode, der beste Freund des Toten, der einzige, der sogar Trauer für ihn trug. – „Wieso?“ fragten die zwei anderen, Hugo Friedel und der kleine Willner. „An seiner Empfindsamkeit ist er gestorben, und ich will euch zum Beweis dafür einen merkwürdigen Brief vorlesen.“ „Ist also doch einer dagewesen?“ Rhode schüttelte den Kopf. „Keiner von ihm, ihr wißt es ja. Aber ich habe heute seine Papiere geordnet, und da habe ich einen gefunden, der am Tage seines Selbstmordes an ihn gelangt ist, und der löst das Rätsel.“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 187)

Vergleicht man den Anfang von Schnitzlers Erzählung mit dem Beginn von „A Rose for Emily“, so wird auch im Fall von „Der Empfindsame“ zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Außenseiterstellung des verstorbenen Protagonisten deutlich. Wenngleich der Verstorbene Fritz Platen durch seinen Freundeskreis zumindest auf den ersten Blick einige soziale Kontakte besessen hatte, so scheint er doch ob seiner von Rhode betonten Empfindsamkeit zugleich ein Einzelgänger gewesen zu sein, der in dieser Hinsicht aus der Gruppe der anderen jungen Männer ausgeschlossen war. Diese besondere Sensibilität hatte offensichtlich

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auch einen verbalen Rückzug aus der Gemeinschaft zur Folge, denn die einzigen schriftlichen Worte, die Aufschluss über sein unerwartetes Ableben geben können, stammen nicht von ihm selbst, sondern werden als Nachricht seiner ehemaligen Geliebten von Albert Rhode durch den im Anschluss vorgelesenen Brief zitiert. Auf diese Weise bedient sich auch Schnitzler einer Variante der Polyphonie, indem er eine fremde Stimme in die Stimme einer Figur einfließen lässt: Die beiden anderen waren höchst erstaunt. „Von wem ist dieser Brief?“ fragten sie. – „Ich kann den Namen der Schreiberin nicht nennen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie bald eine sehr berühmte Person sein.“ „Woher ist der Brief?“ fragten die anderen. „Auch das muß ich verschweigen, denn das würde leicht auf die Spur führen.“ „So lies“, riefen die anderen. […] Albert Rhode schüttelte den Kopf und reichte ihnen den Brief hin. Er wies auf die letzte Seite. Statt der Unterschrift eine Stelle, wo das Papier abgeschabt und grau aussah … Er hatte den Namen ausradiert. „Übrigens ist das nebensächlich“, sagte der kleine Willner, der sehr diskret war. – „Gewiß“, erwiderte Albert Rhode. „Nun hört.“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 187 f.)

Auch in Schnitzlers Erzählung erfolgt die Selektion der Informationen nach einer bestimmten Codierung, die nach Niklas Luhmann zu einem „erste[n] Strukturgewinn“89 mit Blick auf das fokussierte System führt, indem wie im Falle von „A Rose for Emily“ nach dem Code Relevanz / Irrelevanz differenziert wird. Als eindeutig irrelevant für die Todesumstände von Fritz Platen werden von den Freunden der Name der Verfasserin und der Ort der Herkunft des Briefes erachtet. Letztlich bleibt offen, aus welchen Gründen Albert Rhode die vermeintlich künftig prominente Person schützt und ihre Anonymität wahrt. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass ihre Identität offenbar keinerlei zusätzliche Hinweise auf den Suizid von Fritz Platen liefern könnte; um dieses Ereignis zu verstehen, ist ausschließlich von Bedeutung, was ihm widerfahren ist, und nicht, durch wen er seinen Lebensmut verloren hat. Damit ist auch die Funktion der Codierung deutlich: Der im Anschluss über das Medium einer polyphonen Stimme vorgetragene Brief folgt einzig dem Zweck, Kausalitäten zu schaffen und so eine Erklärung innerhalb der Gruppe für das überraschende Verhalten des verstorbenen Freundes zu finden. Es geht nicht darum, eine individualisierte Schuldzuweisung vorzunehmen, sondern unabhängig von Individuen Sachverhalte aufzuklären und somit Verhaltensweisen zu verstehen. In „A Rose for Emily“ findet eine solche explizite Verbalisierung dessen, was zu der Ergründung der Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt von Bedeutung ist und was nicht, nicht statt. Hier ist es die Aufgabe des Rezipienten, 89 Niklas Luhmann: „Ist Kunst codierbar?“ In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981. S. 245–266, hier: S. 246.

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die von der kollektiven Figurenstimme erzählten Ereignisse zunächst chronologisch zu ordnen, um Kausalitäten im Verhalten der Protagonistin zu erkennen. Die Codierung Relevanz / Irrelevanz findet hier folglich auf eine andere Weise statt als bei Schnitzler: Entscheidend ist, dass etwas erzählt wird, da jede assoziativ eingefügte Episode ein einzelnes Mosaikteilchen darstellt, das – zusammengefügt mit den anderen Teilen – ein retrospektives Psychogramm von Emily Grierson ermöglicht. In Faulkners Text erfolgt diese Codierung implizit, indem sie sich jeweils aus einem vagen Bezug auf die Vergangenheit ergibt: Zwar werden keine genauen Daten genannt, aber sämtliche Ereignisse, die sich für den Leser rückblickend als besonders bedeutsam für die Rekonstruktion des Geschehens innerhalb der erzählten Welt erweisen, werden von der kollektiven Figurenstimme durch einen assoziativen Bezug auf Emilys Vergangenheit eingeleitet. Es lässt sich keine singuläre und definitive Zeitleiste erstellen, die alle Ereignisse genau datiert,90 aber es kann eine grobe Abfolge der Geschehnisse rekonstruiert werden, die Emilys Entwicklung in einem sinnvollen Nacheinander ordnet und Verbindungen zwischen einzelnen Episoden und Verhaltensweisen schafft. Von ganz zentraler Bedeutung ist offensichtlich der Tod ihres Vaters, der eine Zäsur im Leben der Protagonistin darstellt. So berichtet die kollektive Figurenstimme, dass Emily zunächst das Ableben ihres Vaters negiert und sich geweigert hatte, den Leichnam zur Bestattung freizugeben, bis sie letztlich unter Androhung juristischer Konsequenzen nachgab. Was sich in der Folge abgespielt hat, berichtet die kollektive Figurenstimme unter der Verwendung temporaler Angaben, welche die zum Verständnis der Figur Emily Grierson höchst bedeutsamen Ereignisse einleiten: Just as they were about to resort to law and force, she broke down, and they buried her father quickly. We did not say she was crazy then. We believed she had to do that. We remembered all the young men her father had driven away, and we knew that with nothing left, she would have to cling to that which had robbed her, as people will. (Faulkner, “A Rose for Emily”, S. 14)91

Die in dem obigen Zitat hervorgehobenen temporalen Angaben fungieren demnach als Signalwörter, die auf eine bestimmte Relevanz der Äußerungen schließen lassen. Der Verweis auf eine – zumindest relative – zeitliche Verortung des 90 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Geene M. Moore, der bereits in seiner Untersuchung aus dem Jahr 1992 darauf hinweist, dass in den vorherigen 30 Jahren innerhalb der Forschung allein acht verschiedene Chronologien zu „A Rose for Emily“ erstellt worden sind, die jeweils verschiedene Möglichkeiten der temporären Ereignisfolge nachzeichnen. Vgl. Gene M. Moore: „Of Time and its Mathematical Progression: Problems of Chronology in Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: Studies in Short Fiction 29 (1992). S. 195–204. 91 Meine Hervorhebung.

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Geschehens ist somit ein direkter Ausdruck des implizit angewendeten Codes: Was mittels temporaler Adjektive auf der subjektiven Zeitleiste der kollektiven Figurenstimme vermerkt ist, besitzt hinsichtlich der Ergründung des Geschehens innerhalb der erzählten Welt Relevanz und schafft somit Kausalzusammenhänge im Verhalten der Protagonistin. Es ist eingangs gesagt worden, dass sich die passiv-beobachtende kollektive Figurenstimme deutlich von den beiden mit „they“ titulierten Kollektiven abgrenzt, die mit der Figur Emily Grierson in Kontakt treten. Beide Gruppierungen, die Vertreter der älteren Generation, die Emily mit der einer Dame im ‚alten Süden‘ traditionell gebührenden Würde behandeln, sowie die Gemeinschaft der jüngeren Stadtbewohner, die ihr Verhalten gegenüber Emily primär an wirtschaftlichen Interessen orientiert, stellen eigene Systeme dar, die wiederum von dem System der kollektiven Figurenstimme beobachtet werden und innerhalb der Narration bestimmte Funktionen erfüllen. Anders als die kollektive Figurenstimme, die im Erzählen retrospektiv die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt Revue passieren lässt, dienen die beiden mit „they“ bezeichneten intradiegetischen Kollektive dazu, durch ihre verbale Kontaktaufnahme mit Emily Grierson die Protagonistin näher zu charakterisieren. So ist sowohl für die Gruppe der Jüngeren, als auch für die Gemeinschaft der älteren Stadtbewohner festzuhalten, dass ihr jeweiliger Versuch, mit Emily in Kontakt zu treten, zu einem jeweils nur sehr kurzen Gespräch führt. Ein wirklicher Austausch scheitert letztlich, da Emily nach wenigen Sätzen die Kommunikation verweigert: Das System kommuniziert, aber Emily negiert die Autorität des Systems und beendet an dieser Stelle die Kommunikation. So scheitert auch der Versuch der jüngeren Stadtbewohner, bei Emily eine mittlerweile jahrelang angehäufte Summe an Steuerschulden einzutreiben. Auf diese Zahlung, die ihr Jahrzehnte zuvor noch von den ehemaligen Autoritäten der Stadt erlassen worden war, möchte die junge Generation, die nun die Finanzen von Jefferson verwaltet, nicht verzichten: Her voice was dry and cold. “I have no taxes in Jefferson. Colonel Sartoris explained it to me. Perhaps one of you can gain access to the city records and satisfy yourself.” “But we have. We are the city authorities, Miss Emily. Didn’t you get a notice from the sheriff, signed by him?” “I received a paper, yes,” Miss Emily said. “Perhaps he considers himself the sheriff … I have no taxes in Jefferson.” “But there is nothing on the books to show that, you see. We must go by the –” “See Colonel Sartoris. I have no taxes in Jefferson.” “But, Miss Emily –” “See Colonel Sartoris.” (Colonel Sartoris had been dead almost ten years.) “I have no taxes in Jefferson. Tobe!” The Negro appeared. “Show these gentlemen out.” (Faulkner, “A Rose for Emily”, S. 11)

Bezeichnenderweise nimmt das von der kollektiven Figurenstimme als „they“ titulierte Kollektiv der jüngeren Stadtbewohner auf sich selbst ebenfalls grund-

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sätzlich in der ersten Person Plural Bezug. Durch den Gebrauch des kollektiven we verweist die Gemeinschaft auf ihren Status als Gruppe, die zugleich als ein System agiert, welches das Recht vertritt und eben dieses durch das gesprochene Wort durchzusetzen gewillt ist. Diesem verbalen Austausch widersetzt sich Emily Grierson und grenzt sich demnach im Sinne von Niklas Luhmann aus einem autopoietischen System aus. Sie verweigert eine Inklusion in das soziale System der Stadtbewohner, indem sie den Kommunikationsversuch der Gemeinschaft nach wenigen floskelhaften Antworten abbricht und somit jegliche Form der Anschlusskommunikation verhindert: Die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme verlangt eine genaue Angabe derjenigen Operation, die die Autopoiesis des Systems durchführt und damit ein System gegen seine Umwelt abgrenzt. Im Falle sozialer Systeme geschieht dies durch Kommunikation. Kommunikation hat alle dafür erforderlichen Eigenschaften: Sie ist eine genuin soziale (und die einzige genuin soziale) Operation. Sie ist genuin sozial insofern, als sie zwar eine Mehrheit von mitwirkenden Bewußtseinssystemen voraussetzt, aber (eben deshalb) als Einheit keinem Einzelbewußtsein zugerechnet werden kann.92

Aus dieser Gruppe von miteinander kommunizierenden Bewusstseinssystemen schließt sich Emily willentlich aus, indem sie die das System definierende Operation ablehnt: Indem sie die Kommunikation beendet bzw. gar nicht erst auf einer sinnvollen Ebene entstehen lässt, markiert sie ihren eigenen Status als nicht zum System gehörig, d. h. als einen Teil der Umwelt des Systems. Im Gegensatz zu den sämtlichen Bewußtseinssystemen der Gruppe, die sich durch Verbalisierung ihrer Gedanken mitteilen und somit in einen kommunikativen Austausch treten, bleibt Emilys Bewußtsein mangels Versprachlichung unbeobachtbar und somit außerhalb des Systems. Eine solche bewusste Nicht-Teilhabe an einem sozialen System vollzieht Emily auch im Fall der ebenfalls von der kollektiven Figurenstimme mit „they“ titulierten Gemeinschaft der älteren Stadtbewohner. So berichtet die kollektive Figurenstimme davon, dass von Emilys Haus Jahre zuvor ein übler Geruch ausgegangen war, der offensichtlich so unangenehm war, dass sich das Kollektiv der damaligen älteren Stadtbewohner darüber einig wurde, dass in dieser Hinsicht Handlungsbedarf bestand. Die kollektive Figurenstimme fügt ihrem Bericht abermals eine relative Zeitangabe bei und verweist auf diese Weise wieder auf die Relevanz des nun Kommenden. Die folgende Episode aus Emilys Leben schließt an die eben fokussierte Geschichte über ihre Weigerung, den jungen Autoritäten der Stadt die bestehenden Steuerschulden zu bezahlen, an und be-

92 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997. Hier: S. 81.

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ginnt mit dem Fazit über ihren Triumph gegenüber den jungen Vertretern der Stadt Jefferson: So she vanquished them, horse and foot, just as she had vanquished their fathers thirty years before about the smell. That was two years after her father’s death and a short time after her sweetheart – the one we believed would marry her – had deserted her. After her father’s death she went out very little; after her sweetheart went away, people hardly saw her at all. (Faulkner. “A Rose for Emily”, S. 11 f.)

Der eigentliche Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Homer Barron und dem bald darauf einsetzenden Geruch erschließt sich freilich erst retrospektiv; an dieser Stelle ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass Emily Grierson offensichtlich bereits dreißig Jahre zuvor als Siegerin aus einem Konflikt mit dem System der Stadtbewohner hervorgegangen war. Wie das folgende Zitat verdeutlicht, ist dies abermals durch eine bewusste Ablehnung einer Kommunikation zwischen dem Kollektiv der älteren Stadtbewohner und Emily geschehen. Zunächst hatte sich das Kollektiv selbst nach längerer Überlegung dazu entschlossen, Emily aus Gründen der Höflichkeit nicht verbal mit dem Geruch zu konfrontieren, sondern lieber selbst aktiv zu werden (vgl. Faulkner, „A Rose for Emily“, S. 12). Als es dann tatsächlich zu einer nächtlichen Handlung kommt, bei welcher eine mit „they“ bezeichnete Gruppe von vier Männern dem unangenehmen Geruch mit Kalk zu Leibe rückt, ist es Emily, welche die Gruppe durch ihr Verhalten brüskiert und sich abermals klar von dem agierenden System distanziert: So the next night, after midnight, four men crossed Miss Emily’s lawn and slunk about the house like burglars, sniffing along the base of the brickwork and at the cellar openings while one of them performed a regular sowing motion with his hand out of a sack slung from his shoulder. They broke open the cellar door and sprinkled lime there, and in all the outbuildings. As they recrossed the lawn, a window that had been dark was lighted and Miss Emily sat in it, the light behind her, and her upright torso motionless as that of an idol. (Faulkner, “A Rose for Emily”, S. 13)

Wieder beginnt die Erzählung der kollektiven Figurenstimme mit einem relativen temporalen Hinweis und markiert so gleich zu Beginn die Relevanz der nun folgenden Äußerung für ein Verständnis des Gesamtgefüges der Narration. Anders als in dem zuvor zitierten Textauszug findet hier kein Kommunikationsversuch seitens der als System agierenden Gruppe statt, sondern diese versucht, im Gegenteil, möglichst unbemerkt im Schutz der Nacht das Problem mit dem unerwünschten Geruch zu lösen. In diesem Fall markiert Emily ihren Status außerhalb des Systems, d. h. zur Umwelt gehörig, indem sie – im hell erleuchteten Fenster sitzend – auf sehr plakative Weise auf sich aufmerksam macht und so-

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mit die ungebetenen Eindringlinge beschämt. Indem sie sich selbst wie ein Götzenbild inszeniert und dafür den geschützten Raum im Rahmen ihres Fensters wählt, grenzt sie sich auch räumlich von dem Kollektiv ab, das seinerseits bis zu einem gewissen Grad in ihren Bereich eingedrungen ist. Durch ihr unvermitteltes Auftauchen, indem sie kommentarlos auf die Gruppe der Männer herabblickt, signalisiert ihr Schweigen abermals ihren Status als nicht der Gruppe angehörig. Ihr geschützter Raum, der nicht nur sie schützt, sondern zugleich auch eine deutliche Grenze nach außen markiert, stellt für die vor dem Haus agierende Gruppe eine impermeable Grenze dar: Emily befindet sich in einem Raum, der für das System nicht zugänglich ist und somit auch verbal nicht erreicht werden kann. Auf diese Weise erfüllt Emilys Selbstinszenierung eine doppelte Funktion, indem sie zum einen die Gruppe beschämt, die sie so offenkundig auf frischer Tat ertappt. Zum anderen bewirkt ihre geschützte Platzierung gleichermaßen eine Ablehnung jeglicher Kommunikation mit der von ihr beobachteten Gruppe. Die obigen Beispiele, die Emily jeweils mit einer Gruppe konfrontiert zeigen, verdeutlichen einmal mehr den Außenseiterstatus der Protagonistin innerhalb der erzählten Welt: Emily passt in keines der sozialen Systeme, die innerhalb der Kleinstadt Jefferson agieren, da sie nicht willens oder nicht in der Lage ist, mit den Gruppen zu kommunizieren. Ihre Ablehnung jeglicher Verständigung über das gesprochene Wort kommt der Absage einer Teilhabe an jeglicher Gemeinschaft gleich; sie verharrt in ihrem Status als ein Teil der jeweiligen Umwelt, die die Systeme umgibt. Aus systemtheoretischer Perspektive bedeutet dies, dass sie zwar als Bewohnerin der Stadt visuell beobachtbar ist, nicht aber ihr Bewusstsein, denn dieses könnte einzig über den Weg der Sprache vermittelt werden. Somit besitzen die von der kollektiven Figurenstimme berichteten Episoden über Emily nicht nur eine bestimmte Relevanz für die retrospektive Erschließung der Ereignisse, sondern sie dienen auch dazu, die Figur Emily Grierson näher zu charakterisieren und ihre Vereinsamung inmitten einer kommunizierenden, strukturierten und funktionstüchtigen Gemeinschaft herauszustellen. Es ist eingangs gesagt worden, dass auch für Arthur Schnitzlers Geschichte „Der Empfindsame“ das Merkmal der Polyphonie eine besondere Rolle spielt und in Form einer polyphonen Figurenstimme über das Schicksal des Verstorbenen berichtet wird. Das Phänomen der Mehrstimmigkeit tritt hier also in einer Variante zutage, die kein geschlossenes Kollektiv repräsentiert, sondern gerade dadurch definiert ist, dass in eine Stimme wiederum einzelne andere Stimmen inkludiert sind, die individuell zurückverfolgt und somit klar voneinander unterschieden werden können. Bereits die ersten von Albert Rhode vorgelesenen

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Worte des gefundenen Briefes liefern wichtige Hinweise auf den rätselvollen Freitod des Freundes: „Mein lieber, lieber Fritz“… Albert Rhode unterbrach sich. Seine Stimme hatte gezittert. Er biß sich auf die Lippen. Die anderen sahen vor sich hin und waren etwas verlegen. Albert Rhode faßte sich, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern der linken Hand zwischen Kragen und Hals einige Male hin und her. Dann las er weiter: „Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich fort, weit fort, vielleicht für immer. Ich habe Dir’s nicht sagen wollen. Es hätte Dir weh getan und mir auch. Lieber sag’ ich Dir so adieu und habe als letzte Erinnerung von Dir Dein liebes, lächelndes Gesicht und Deine Worte: Also morgen abend, mein Schatz… Du hättest ja geweint, und ich hätte mit Dir weinen müssen, und das wäre nicht schön gewesen“. (Arthur Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 188)

Im Gegensatz zu dem Namen der Schreiberin, den Albert Rhode bewußt verschweigt, wird bei der Lektüre der Beginn des Briefes als relevant erachtet und aus diesem Grund in die polyphone Figurenstimme integriert: Vorgelesen wird, was zu einer Erhellung der vorausgegangenen Ereignisse dient und den Suizid des gemeinsamen Freundes begreiflich macht. Direkt anhand der ersten Worte wird deutlich, dass Fritz Platen in einer Liebesbeziehung gestanden haben muss und kürzlich ohne ein persönliches Gespräch von der scheidenden Geliebten verlassen worden ist. Dass die Verfasserin der Abschiedsnotiz nach eigenen Angaben auf eine direkte Unterhaltung verzichtet hatte, spricht in diesem Fall weniger für die vermeintliche Sensibilität, sich und ihrem Partner als Paar eine beklemmende Trennungssituation zu ersparen, als vielmehr für ihre Feigheit und ihr Unvermögen, sich und ihre Situation auf eine ehrliche Weise zu erklären und Fritz Platen die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben. Indem Albert Rhode die Zeilen vorliest, integriert er neben der Stimme der Verfasserin zugleich auch die Stimme des Verstorbenen, dessen Worte „Also morgen abend, mein Schatz“ (s. o.) wiederum von der Abschied nehmenden Künstlerin rekapituliert werden: Es handelt sich in diesem Falle also um ein zitiertes Zitat. Diese doppelte Polyphonie ist in zweifacher Hinsicht für ein besseres Verständnis der Narration von Interesse. Von der Gemeinschaft der Freunde, d. h. dem sozialen System, das im gemeinsamen Dialog die Gründe für den Suizid nachzuvollziehen versucht, wird über Fritz Platen gesprochen; sein Tod ist der einzige Gesprächsgegenstand an diesem Nachmittag im Kaffeehaus und stellt somit das ausschließliche Gesprächsobjekt dar. Von der ehemals Geliebten des Verstorbenen wird für Fritz Platen gesprochen: Anstatt das persönliche Gespräch mit ihm zu suchen, vermeidet die Künstlerin eine direkte Kommunikation und rekapituliert lediglich die Worte von Fritz Platen in ihrem Brief. Dieses Erinnern seiner Aussage ist freilich kritisch zu betrachten, da die Figur der Künstlerin an ihre subjektive Perspektive gebunden ist und somit die Zuverlässigkeit der von ihr

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vergegenwärtigten Stimme nicht gewährleistet sein muss. Ergänzend zu dieser Unsicherheit lässt sich festhalten, dass Schnitzler eine Form der Narration wählt, in der das narrative Konstrukt der Mehrstimmigkeit Fritz Platen in doppelter Hinsicht seiner Stimme beraubt: Der Verblichene bekommt an keiner Stelle der Erzählung die Gelegenheit, sich zu Lebzeiten selbst zu äußern und für sich zu sprechen. Bei einer solchen Stimmlosigkeit bleibt es jedoch nicht, sondern anstelle eines neutralen Schweigens wird zugleich über und für ihn gesprochen: Fritz Platen ist also nicht nur zum Schweigen verdammt, sondern wird zeitgleich auch bevormundet. Dies ist insbesondere mit Blick auf das Verständnis der Figur der Künstlerin aus psychologischer Sicht höchst bedeutsam, da sie selbst, die einst im Rahmen ihres Berufes als Sängerin an Stimmverlust erkrankte, nun ihr Problem gewissermaßen auf Kosten der Lebenskräfte Fritz Platens auf diesen transferiert. War zuvor noch ihre Stimmlosigkeit der Grund, überhaupt den Kontakt zu Fritz aufzunehmen, so überträgt sie nun, nachdem sich ihre Zwangslage offenbar durch den Kontakt zu ihm gelöst hat, ihr individuelles Problem auf – im bildlichen Sinne – dasjenige Hilfsmittel, das ihr zuvor noch zur Genesung verholfen hatte. Auf diese Weise verknüpft Schnitzler das Phänomen der Stimme mit dem für seine Texte charakteristischen Thema eines Spannungsverhältnisses zwischen Typus und Individuum. Die Stimmerkrankung der Sängerin ist der Ausgangspunkt ihrer Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht, welche von Beginn an ausdrücklich nicht auf ein Individuum, sondern auf einen Typus ausgerichtet war, der seinerseits lediglich das Kriterium der Männlichkeit zu erfüllen hatte. Somit verkehrt Schnitzler die Darstellung der Macht- und Geschlechterverhältnisse der Zeit, die oftmals durch die Dominanz des Mannes über die Frau und eine gänzlich andere Typenbildung gekennzeichnet war: Hier war häufig das ‚süße Mädel‘ aus der Wiener Vorstadt das Objekt männlicher Begierde und fungierte als austauschbarer Typus, zu dem schnelle und vor allem unverbindliche Beziehungen geknüpft und ebenso schnell wieder aufgekündigt werden konnten. Mit dieser Reversion der zeittypischen sozialen Rollen von Mann und Frau kommt Fritz offenbar nicht zurecht: Er zerbricht daran, dass das Interesse der Sängerin ihm ohne sein Wissen lediglich als Typus, nicht aber als Individuum gegolten hatte; ähnlich dem ‚süßen Mädel‘ hat er seinen Reiz verloren, sobald das Ziel der Anbahnung eines Sexualkontakts erreicht und das körperliche Bedürfnis befriedigt war. Die Tatsache, dass sich die Sängerin ihn nicht primär zu ihrem sexuellen Lustgewinn, sondern dezidiert als Mittel zur Genesung erwählt hatte, dürfte für Fritz’ Gefühl einer Degradierung zum Objekt zweitrangig sein: Das Bedürfnis nach Sexualität wird lediglich durch den Wunsch nach Gesundheit ersetzt; der eine Zweck physischen Wohlbefindens wird gegen einen anderen ausgetauscht.

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Das zuvor geschilderte narrative Verfahren lässt zugleich eine Parallele zu „A Rose for Emily“ erkennen, denn das erzähltheoretische Instrument der Mehrstimmigkeit dient an dieser Stelle wie in Faulkners Geschichte auch dazu, über die Analyse eines kommunizierenden Systems die Kausalzusammenhänge innerhalb der erzählten Welt verständlich zu machen. Wie auch Emily Grierson in „A Rose for Emily“, deren Außenseiterstatus mit Blick auf soziale Systeme bereits analysiert worden ist, befindet sich Fritz Platen ebenfalls außerhalb eines kommunizierenden Systems. Dies liegt nicht, wie auf den ersten Blick gemutmaßt werden könnte, an seinem bereits vollzogenen Freitod, der jede gegenwärtige und zukünftige kommunikative Beteiligung unmöglich macht, sondern an seiner auch für Lebzeiten bereits attestierten Stimmlosigkeit durch Bevormundung. Seine durch Albert Rhode anonym bleibende ehemalige Partnerin aber tritt durch ihren Brief in einen Kontakt mit der Trauergemeinde und generiert durch die vorgelesenen Zeilen mit den Hinterbliebenen ein soziales System: Sowohl das Bewusstsein der trauernden Freunde als auch das Bewusstsein der Künstlerin sind durch mündliche bzw. schriftliche Kommunikationen beobachtbar; gemeinsam bilden sie ein durch Kommunikation autopoetisch, d. h. selbst erzeugtes, soziales Gefüge, das dem Zweck einer kausal begründeten Rekapitulation der Geschehnisse folgt. Diesem System steht Fritz Platen als stummes Objekt der Kommunikation als ein Teil der das System umgebenden Umwelt gegenüber: Weder war sein Bewusstsein innerhalb der Narration zu Lebzeiten über das Kommunikationsmedium der Sprache beobachtbar, noch kann es dies nach seinem vorzeitigen Tod jemals sein. Als Stimme taucht Fritz Platen einzig in der Erinnerung seiner ehemals Geliebten auf, die seine – aus ihrer Perspektive – subjektiv erinnerten Worte in den Abschiedsbrief einfügt. Eine weitere Parallele zu der Kurzgeschichte „A Rose for Emily“ ergibt sich mit Blick auf die Darstellung eines intradiegetischen Kollektivs, das die Entwicklungen innerhalb der erzählten Welt vorantreibt und somit zusätzliche Hinweise liefert, um rückblickend die Geschichte des Protagonisten zu ergründen. Im Falle von Schnitzlers Geschichte „Der Empfindsame“ entfällt der weitaus größere Teil der Narration bekanntermaßen auf den Brief der entschwundenen Geliebten, der einen umfangreichen Einblick in die Psyche dieser Figur liefert und zugleich auch durch die Inklusion eines sprach- und handlungsmächtigen Kollektivs die Ereignisse innerhalb der dargestellten Welt entscheidend vorantreibt. Auch im Falle der Narration von Schnitzler findet sich – ebenso wie bei Faulkner – innerhalb der erzählten Welt ein soziales System, das in Form eines Kollektivs kommuniziert und durch seinen Kontakt mit einem der Protagonisten (in diesem Falle handelt es sich um die anonym bleibende Künstlerin) den Geschehnissen innerhalb der erzählten Welt als eine Art Katalysator dient. So berichtet die ehemalige Geliebte des Verstorbenen in ihrem Brief von einem Kol-

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lektiv der Ärzteschaft, das sie zur Heilung ihres Stimmproblems konsultiert hatte und das ihr geschlossen den Rat zu einem Liebhaber gegeben hatte: Mancher hatte schon gesagt: Ach, Fräulein, Sie sind eben nervös, es wäre gut, wenn Sie heirateten; und andere drückten sich ungeheuer vorsichtig aus und sprachen von einer durchgreifenden Änderung der Lebensweise; und einige waren riesig verschmitzt und sagten: Fräulein, waren Sie denn noch nie verliebt… Und andere waren wieder frech und sagten: Wissen Sie, was Sie brauchten… und machten sehr glühende Augen, und das war mir so zuwider… Freilich ging’s mir selbst zuweilen durch den Kopf, aber doch nur so, als wenn es gar nie ernst werden könnte, und wenn ich daran denken wollte, daß ich dadurch meine schöne, wunderschöne Stimme wiederbekommen sollte – hab ich einfach lachen müssen. Aber ich fing an zu verzweifeln […]. (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 191)

Das Kollektiv der Ärzteschaft befindet sich mit der Protagonistin in einem verbalen Austausch, so dass über diesen Ärzte-Patienten-Dialog ein geschlossenes System zu beobachten ist. Strukturiert sind die jeweiligen Kommunikationen nach einem binären Code, der zwischen Gesundheit und Krankheit differenziert und folglich die Äußerungen zulässt, die der Künstlerin eine Heilung von ihrer „Stimmlosigkeit“ versprechen sollen. Von besonderer Bedeutung für den Fortgang der Handlung ist hier, dass die Gruppe der Ärzte, die der Protagonistin auf je verschiedene Weise den gleichen Therapieansatz nahelegen, durch ihren kollektiven Rat den Boden für eine tatsächliche Veränderung im Leben der Sängerin bereiten, die sich letztlich als schicksalhaft für Fritz Platen erweisen wird. So zeigt nach einer zermürbenden Zeit ohne Therapieerfolg letztlich die brutale Aufforderung eines weiteren konsultierten Mediziners Wirkung, der ihr bei einem Besuch regelrecht entgegenschreit, sie solle sich einen Liebhaber nehmen (vgl. Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 192 f.). Die Inklusion dieses Berichtes in den Brief, d. h. die genaue Erklärung, aus welchen Beweggründen sich die Sängerin Fritz Platen zugewandt hatte, folgt nach der bereits genannten Codierung Relevanz / Irrelevanz mit Blick auf die vergangenen Ereignisse: Die Gründe für den Suizid Fritz Platens werden durch die Kenntnis dieser Vorgeschichte erst verständlich. Somit erfüllt das soziale System der Ärzteschaft innerhalb der Narration eine doppelte Funktion, von welcher sich die erste bereits bei der Lektüre des Briefes durch Albert Rhode vollzogen hat. In einem ersten Schritt hat das Kollektiv der Mediziner durch seine übereinstimmende Diagnose eine bestimmte Handlungsweise der Künstlerin initiiert und folglich die Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt in Gang gesetzt: Nur auf den einstimmigen und eindringlichen Rat der Ärzte ist zurückzuführen, dass die Sängerin sich bewusst nach einem Liebhaber umgeschaut hatte, von dem sie sich dann eine Heilung ihrer stimmlichen Probleme erhofft hatte. Die zweite Funktion ergibt sich so-

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wohl aus dem Einfügen dieser retrospektiven Information durch die Künstlerin in ihren Abschiedsbrief, d. h. die bewusste Entscheidung, Fritz Platen bei ihrem Weggang über die Gründe ihres Interesses an seiner Person aufzuklären, als auch durch den Akt der Lektüre von Albert Rhode im Kreise der trauernden Freunde. Denn wie bereits zuvor deutlich wurde, verschweigt Rhode bestimmte Informationen, die er für eine Erklärung der Sachzusammenhänge als nicht relevant erachtet. Der bewusste Verweis auf das soziale System der Ärzteschaft und darauf, was sie kommunizieren, besitzt demnach in doppelter Hinsicht Relevanz: Er besitzt Relevanz aus Sicht der Künstlerin, indem sie Fritz Platen über die eigentliche Absicht ihrer vermeintlichen Zuneigung aufklärt und ihn auf diese Weise desillusioniert, und er besitzt Relevanz aus der Perspektive Albert Rhodes, da die sich hieraus ergebende tiefe seelische Verletzung Fritz Platens Hinweise zu seinem Selbstmord liefert. Relevanz ist hier – wie auch im Falle der zuvor analysierten Textstellen in „A Rose for Emily“ – gleichbedeutend mit Kausalität: Was relevant ist, dient der Erklärung der Geschehnisse und hilft dabei, rückblickend jeweils eine textinterne Logik herzustellen, welche die Kohärenzlücken in den Geschichten schließt. Der Begriff der Relevanz, der sich, wie dargestellt wurde, in beiden Narrationen aus narratologischer wie aus systemtheoretischer Sicht als textstrukturierend erweist, wird in beiden Texten am Ende der Geschichte aus einer weiteren Perspektive aufgegriffen. Auf einer rein inhaltlichen Ebene wird abschließend auf je spezifische Weise die Frage nach der Bedeutsamkeit, der Relevanz der verstorbenen Protagonisten, verhandelt. Implizit wird hier zur Diskussion gestellt, was in einem bildlichen wie auch wörtlichen Sinne von den Verblichenen bleibt und welche Wirkung über den Tod hinaus zu erwarten ist. Schnitzlers „Der Empfindsame“ schließt mit einem Fazit der trauernden Freunde, die anhand ihrer Schlussfolgerung zugleich auch demonstrieren, dass sich aus ihrer Perspektive die zunächst lückenhafte Kette unklar gebliebener Kausalzusammenhänge im gemeinsamen Dialog geschlossen hat. Zwar haben die von der polyphonen Figurenstimme übermittelten Informationen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Selbstmordes aufgerufen, zugleich aber wurde aus logischer Sicht die Frage nach dem „Warum?“ gelöst, so dass die Zurückbleibenden abschließend zu einem Resümee gelangen: „Daß er sich erschossen hat wegen dieser herzlosen Person, das ist doch übertrieben und kaum zu begreifen“, fanden die Freunde. „Wenn man zu empfindsam ist“, sagte Rhode… „Es ist sehr traurig. Und du willst uns den Namen dieser Dame nicht sagen?“ – „Nein, sie wird sehr berühmt werden, dank unserm armen Fritz.“ Der andere schüttelte den Kopf. „Und sein Name“, fuhr Albert Rhode fort, indem er den Brief zerknitterte und in die Tasche steckte, „sein Name – so ungerecht ist der Ruhm – wird in keiner Musikgeschichte zu finden sein.“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 194)

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Der als ‚Burleske‘ überschriebenen Text endet seinem Genre gemäß mit einem ebenso derben wie auch komischen Schlusssatz, indem Rhode darauf verweist, dass Fritz Platen in seiner Rolle als ‚Stimmenretter‘ der Künstlerin nicht in die Annalen eingehen wird. Angesichts des tragischen Todes eines jungen Menschen mutet die Feststellung, dass der Verblichene künftig trotz seiner Verdienste nicht in den Musikgeschichtsbüchern auftauchen wird, wenig mitfühlend an. Darüber hinaus weist Albert Rhode aber mit seiner nüchternen Aussage auf ein wichtiges Defizit hin, das für Fritz Platen offensichtlich zu Lebzeiten wie auch im Tode festgehalten werden kann: sein Unvermögen, die Geschehnisse um ihn herum zu beeinflussen. In einem bildlichen Sinne ist er der eigentliche Patient, der passiv Leidende, der als Mittel zum Zweck von seiner ehemaligen Geliebten benutzt wurde, bis er seinen Zweck erfüllt hatte und überflüssig geworden ist. In der obigen Analyse wurde bereits festgestellt, dass Fritz seiner Stimme beraubt und im wörtlichen Sinne bevormundet wurde; dieses Zwischenfazit lässt sich nun retrospektiv ergänzen: Nicht nur seine Stimme besitzt für die in der erzählten Welt dargestellten Ereignisse keine Relevanz, sondern die gesamte Figur Fritz Platen erfüllt die Funktion eines stummen, austauschbaren Objekts. Der erkrankten Künstlerin dient er dazu, ihre gesundheitlichen Probleme zu lösen, und für den Kreis der zurückblickenden Freunde fungiert er letztlich als Gegenstand eines Gespräches, welches recht pietätlos mit der Sorge um seinen postumen Rang in Musikgeschichtsbüchern beschlossen wird. Am Ende steht für die Freunde also nicht die Trauer um einen geliebten Menschen im Vordergrund, sondern die Empörung darüber, dass sein Freitod ihm trotz seiner Bedeutung für die Sängerin keinerlei Ruhm in der Wissenschaftsgeschichte der Musik einbringen wird; der eigentliche Verlust des Freundes tritt in den Hintergrund. Vergleicht man das Ende der Erzählung „Der Empfindsame“ von Schnitzler mit den abschließenden Worten in „A Rose for Emily“, so wird ein signifikanter Unterschied deutlich. Während sich in Schnitzlers Geschichte keinerlei Hinweise darauf finden, dass die Gruppe der Freunde Fritz Platens Leichnam gesehen hat, endet Faulkners Geschichte mit dem Fund eines mutmaßlichen physischen Überbleibsels von Emily Grierson. Nachdem ihr Leichnam bereits bestattet wurde, verschafft sich das als kollektive Figurenstimme auftretende Kollektiv der Stadt Zutritt zu ihrem Haus und stößt dabei zunächst auf eine männliche Leiche, den bereits verwesenden Körper von Emilys verschwundenen Partner Homer Barron: The man himself lay in the bed. For a long while we just stood there, looking down at the profound and fleshless grin. The body had apparently once lain in the attitude of an embrace, but now the long sleep that outcasts love, that conquers even the grimace of love,

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had cuckolded him. […] Then we noticed that in the second pillow was the indentation of a head. One of us lifted something from it, and leaning forward, that faint and invisible dust dry and acrid in the nostrils, we saw a long strand of iron-gray hair. (Faulkner, “A Rose for Emily”, S. 20)

Das obige Zitat lässt den Schluss zu, dass Emily Grierson noch lange Zeit nach der Ermordung ihres Geliebten neben dem verwesenden Leichnam im Bett gelegen hatte. Auf diese Weise wird retrospektiv auch der Einfügung der – zunächst zusammenhangslos wirkenden – Szene Relevanz verliehen, in der die Protagonistin in einer Apotheke Arsen erstanden hatte: Alles deutet darauf hin, dass Emily Homer Barron damit getötet hatte, um daraufhin seinen Leichnam bis zu ihrem eigenen Tod zu ‚besitzen‘. Der Fund eines langen grauen Haares, das neben dem Toten liegt, bildet zugleich den Abschluss der Geschichte. Anders als mutmaßlich Fritz Platen gerät Faulkners Protagonistin nicht in Vergessenheit, sondern, im Gegenteil, sie ruft sich posthum auf eine makabre Weise in Erinnerung, indem im wörtlichen Sinne ein kleiner Teil von ihr zurückbleibt. Während Schnitzlers Narration durch das ernüchternde Fazit von Albert Rhode insofern einen tatsächlichen Abschluss findet, als das Ende eines Dialoges über Fritz Platen angekündigt wird, gelingt es Emily Grierson auch nach ihrem Ableben, das Gespräch über sie in Gang zu halten, oder, um es aus systemtheoretischer Perspektive zu formulieren: Die Protagonistin bleibt ein Garant für erfolgreiche Anschlusskommunikation, in der weiterhin über ihre Lebens- und Todesumstände spekuliert werden kann. Emily Grierson bietet auch posthum genügend Gesprächsstoff und Raum für Spekulationen, da viele Fragen zu ihrem Leben und Sterben sich auch retrospektiv nicht beantworten lassen. Abschließend betrachtet, zeigt sich also ein deutlicher Unterschied hinsichtlich der posthumen Nachwirkung, die beide Figuren innerhalb der Narrationen einnehmen und die zugleich übereinstimmt mit dem, was zuvor über den jeweiligen Status innerhalb der Gemeinschaft bekannt geworden ist. Während Emily Grierson zeitlebens das Stadtgespräch bestimmte und somit für das kollektive menschliche Grundbedürfnis nach Austausch Relevanz besessen hatte, ist Fritz Platen selbst seinen Freunden letztlich fremd geblieben, denn bis zu seinem Tod war offensichtlich überhaupt nicht bekannt, dass er eine Liebesbeziehung geführt hatte; Platens persönliches Schicksal und seine Befindlichkeiten waren in dem oberflächlichen Kreis der jungen Männer zu Lebzeiten von keiner besonderen Bedeutung. Diese Irrelevanz wird sich auch nach seinem Tode nicht verändern, sondern Fritz Platen wird – wie Albert Rhode in seinem Resümee treffend bemerkt – auch aus musikhistorischer Perspektive trotz seiner singulären Bedeutung für die Sängerin keine tragende Rolle einnehmen.

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Auch aus Sicht der Memoria-Studien Jan Assmanns, welche die Art der Erinnerung an Verstorbene aus kulturhistorischer Perspektive untersucht und in zwei verschiedene Varianten unterteilt, lässt sich eine bemerkenswerte Differenz zwischen den beiden Protagonisten ausmachen, die Fritz Platen auch im Vergleich zu Emily Grierson abermals als den unterlegenen Part ausweist. Zunächst sei die theoretische Unterscheidung der Erinnerungsformen rekapituliert: Die Erinnerung an die Toten gliedert sich in eine retrospektive und in eine prospektive Erinnerung. Das retrospektive Totengedenken ist die universalere, ursprünglichere und natürlichere Form. Es ist die Form, in der eine Gruppe mit ihren Toten lebt, die Toten in der fortschreitenden Erinnerung lebendig hält und auf diese Weise ein Bild ihrer Einheit und Ganzheit aufbaut, das die Toten wie selbstverständlich miteinbegreift. […] In der prospektiven Dimension geht es um den Aspekt der Leistung und fama, der Wege und Formen, sich unvergeßlich zu machen und Ruhm zu erwerben. Dabei kann jedoch das, was den Einzelnen unvergeßlich macht, von Kultur zu Kultur sehr verschieden sein.93

Emily, die bereits zu Lebzeiten für ihre Mitmenschen von Interesse war und zugleich das Gesprächsthema der gesamten Stadt dargestellt hatte, erfüllt nach ihrem Tod die Kriterien gleich beider Varianten des Totengedenkens und sichert auf diese Weise ihr Andenken. Tatsächlich ist sie zunächst Teil einer retrospektiven Erinnerung der Stadtbewohner, wodurch diese „ein Bild ihrer Einheit und Ganzheit aufbaut“ (s. o.). Dass Emily nun gerade kein Teil der Gemeinschaft war, steht dem Gemeinschaftsgefühl der Gruppe keinesfalls entgegen, da diese über Generationen hinweg ihre zusammenhaltstiftende Identität vor allem in Abgrenzung zu der Protagonistin herausgebildet hatte. Zugleich ist Emily aber auch Teil einer prospektiven Erinnerung, die sich gewissermaßen auf Formen der ‚Nachwirkung‘ des Verstorbenen gründet, welche dieser sich zu Lebzeiten erarbeitet hatte. Bei Emily liegt diese offensichtlich in einer konsequent zurückgezogenen Lebensführung begründet, welche die Protagonistin zeitlebens und kompromisslos durchgehalten hatte. Emily war ihr gesamtes Leben hindurch von Interesse für ihre Umgebung, was sich beständig dadurch steigerte, dass sie selbst nur wenige Einblicke in ihren Alltag gewährte und zugleich ihre Bedürfnislosigkeit hinsichtlich sozialer Kontakte offensiv zur Schau gestellt hatte. Oder anders formuliert: Während die Protagonistin allezeit im Mittelpunkt des städtischen Interesses gestanden hatte, nutzte sie ihrerseits jegliche Möglichkeit dazu, ihr eigenes Desinteresse an anderen und ihre Unabhängigkeit von der Meinung ihrer Mitmenschen zu demonstrieren. Diese selbstbewusste Form der Autarkie in einer Kleinstadt, die sie zu einem freiwilligen Außenseiter macht,

93 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München 1999. Hier: S. 61.

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sichert ihr neben der gruppenkonstituierenden retrospektiven Erinnerung auch die Bewunderung einer prospektiven Erinnerung, die ihrem unangepassten Individualismus Rechnung trägt und ihre Konsequenz als eine Form der Lebensleistung anerkannt. Die selbstgewählte Zurückgezogenheit gibt Emily etwas Würdevolles und sichert ihr eine prominente Stellung in der Historie der Einwohner von Jefferson. Im Fall von Fritz Platen hingegen scheint es mehr als fraglich, ob sein Andenken auf eine der beiden vorgestellten Weisen bewahrt wird. Anders als Emily, die sich gerade durch ihre bewusste Distanzierung von der Gemeinschaft als gruppenkonstituierend erweist, ist Fritz Platen für das Bild der Einheit und Ganzheit der Gruppe offenbar nicht von Bedeutung. Während Emily das Interesse einer gesamten Kleinstadt zeitlebens und auch posthum auf sich konzentriert hatte, ist die Trauergesellschaft, die Fritz Platen gedenkt, auf wenige Freunde konzentriert. Und im Unterschied zu Emily, deren Liebesleben hinter verriegelten Türen einen Gegenstand von besonderem Interesse für die Einwohner Jeffersons darstellte, sind in Schnitzlers Erzählung offenbar nicht einmal die engsten Freunde des Protagonisten darüber informiert, dass sich dieser in einer Beziehung zu einer dem Freundeskreis unbekannten Frau befunden hatte. Fritz Platen war offensichtlich zu Lebzeiten nicht interessant genug für die Gruppe der Freunde, um sich näher mit ihm zu befassen. Dass nun über ihn gesprochen wird, liegt weniger daran, dass der Freundeskreis ihn „in der fortschreitenden Gegenwart gegenwärtig“ (s. o.) halten möchte, sondern scheint mehr in seinem auf den ersten Blick nicht nachvollziehbaren Suizid begründet. Auch hier zeigt sich wieder ein bestimmtes Spannungsverhältnis zwischen Typus und Individuum: Nicht das Individuum Fritz Platen ist von Interesse, sondern ausschließlich die sehr individuelle (im Sinne von atypische) Begründung für seinen Selbstmord, die den Freunden „übertrieben und nicht zu begreifen“ (Schnitzler, „Der Empfindsame“, S. 194) erscheint. Nachdem sich die Gründe für seinen Freitod im gemeinsamen Gespräch geklärt haben, hat sich das Interesse der Freunde für Fritz Platen bereits erschöpft; die Anmerkung von Albert Rhode, dass Fritz’ Name „in keiner Musikgeschichte“ (ebd.) zu finden sein werde, nimmt bereits vorweg, dass Fritz Platen auch nicht Teil einer prospektiven Erinnerung ist, die dem zu Lebzeiten erworbenen ‚Ruhm‘ des Verstorbenen huldigt und ihn aufgrund eines bestimmten Alleinstellungsmerkmals postum würdigt. Auf diese Weise ist auch der bereits zuvor als systembildend charakterisierte Begriff der Relevanz eng mit der Memoria-Kultur verquickt: Während Emily Grierson gleichermaßen aus Sicht einer retrospektiven und prospektiven Erinnerung Relevanz besitzt, erweist sich Fritz Platen zu Lebzeiten wie auch nach seinem Tode als vergleichsweise wenig bedeutsam für seine Mitmenschen. Rele-

4.4 Postmoderne und Gegenwartsliteratur



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vant – auch im Sinne von interessant für die anderen – sind einzig die Beweggründe für seinen Freitod: Die speziellen Kausalzusammenhänge, die ihn sein Leben haben beenden lassen, sind individuell und werden zugleich als „übertrieben“ abqualifiziert, während die Figur Fritz Platen selbst vor und nach seinem Tod als zu sensibel und somit nicht (über-)lebensfähig typisiert und zugleich als für die menschliche Gemeinschaft irrelevant eingestuft wird. Folglich sind beide untersuchten Geschichten durch ihre sorgfältige Thematisierung der Bedeutsamkeit beider Protagonisten am Anfang und am Ende der Narration in einer Kreisstruktur komponiert: Faulkner beginnt und schließt seine Narration mit je nachdrücklichen Verweisen auf die Relevanz seiner Protagonistin, während Schnitzler den Außenseiterstatus seiner vereinsamten und der Gemeinschaft fremd bleibenden Hauptfigur an den Anfang und an den Schluss des Textes stellt. Die Frage nach ‚Relevanz‘ erweist sich somit als ein formgebendes Prinzip, welches nicht nur die retrospektive Aufarbeitung der jeweiligen Schicksale der Protagonisten aus systemtheoretischer Sicht strukturiert, sondern zugleich auch mit der Differenzierung zwischen Typus und Individuum verquickt ist, Fragen der Memoria-Kultur streift und zugleich der gesamten Narration einen Rahmen verleiht.

4.4 Postmoderne und Gegenwartsliteratur Polyphonie als Ausdruck der (In-)Stabilität von Familienstrukturen. Über das poetologische Prinzip der Mehrstimmigkeit in Toni Morrisons The Bluest Eye (1970) und Marcel Beyers Flughunde (1995) In Toni Morrisons erstem Roman The Bluest Eye94 (1970) wird die Geschichte des schwarzen Mädchens Pecola Breedlove erzählt, das die Schönheitsideale der weißen anglo-amerikanischen Gesellschaft internalisiert hat und sich sehnlichst blaue Augen wünscht. Aufgrund ihrer problematischen Familienverhältnisse – die Breedloves leben in Armut, und der Vater ist ein gewaltbereiter Trinker – wird Pecola zeitweilig in der benachbarten Familie MacTeer untergebracht und macht dort die Bekanntschaft mit den neun und zehn Jahre alten Töchtern Claudia und Frieda. Die MacTeers sind ebenfalls schwarz und in materieller Hinsicht nicht sorgenfrei, doch die Familie ist intakt und hat ihren Alltag sowie ihr finanzielles Auskommen strukturiert. Als sich Pecola im Alter von elf Jahren wieder einmal im Haus ihrer leiblichen Eltern aufhält, wird sie von ihrem be94 Toni Morrison: The Bluest Eye. New York 1970. Alle Morrison-Verweise und Zitate nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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trunkenen Vater vergewaltigt und geschwängert. Das Kind wird zu früh geboren und verstirbt; Pecola wird psychisch krank und lebt schließlich, nachdem ihr Bruder die Familie verlassen hat und der jähzornige Vater im Arbeitshaus verstorben ist, allein mit ihrer Mutter am Rande der Stadt. Formal folgt Morrisons Roman einer raffinierten Komposition und integriert mehrere Aussageinstanzen, die das Geschehen vermitteln. Jeweils in Abschnitten schildert entweder eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz oder Claudia MacTeer abwechselnd die Ereignisse, wobei beide Aussageinstanzen Besonderheiten aufweisen: Die Figur Claudia erzählt sowohl aus einer nah am Geschehen angesiedelten kindlichen Perspektive, als auch als souverän zurückblickende Erwachsene. Zudem weist Claudias Figurenstimme das Merkmal der Polyphonie auf, da sie in ihrem Erzählen die anderen Figuren der erzählten Welt und deren bereits getätigten Äußerungen zitiert. Es handelt sich hier also um die Variante der intratextuellen Konstruktion der polyphonen Figurenstimme,95 da ihre Zitate ihren Ursprung ausschließlich in dem um sie herum befindlichen intradiegetischen Figurenkreis haben. Die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz ist ebenfalls auf eine besondere Weise konzipiert und durch das Merkmal der Polyphonie ausgezeichnet. In einigen Passagen erzählt sie auf eine konventionelle Art und ist als eine nullfokalisierte Aussageinstanz gekennzeichnet, welche die Vergangenheit der Figuren und das Geschehen souverän überblickt. Zusätzlich tritt sie als eine zitierend-polyphone narrative Instanz auf, die als eine weitere ‚Stimme‘ Passagen aus einem Schulbuch für Leseanfänger, dem Dick-and-Jane Primer, in die eigene Aussageinstanz einfließen lässt. Diese Ausschnitte, die im Folgenden noch näher zu betrachten sind, werden den von der narrativen Instanz vermittelten Abschnitten vorangestellt und im Text kursiv markiert. Zugleich findet eine Variation statt, die längere Passagen oder einzelne Wörter der Schulbuchauszüge wiederholt. Eine weitere Form mehrstimmigen Erzählens wird am Ende des Romans präsentiert und erfolgt in der Darstellung einer figural-konstruierten Stimme, welche die psychisch kranke Pecola Breedlove als Aussageinstanz innerhalb der erzählten Welt zu hören glaubt und die somit ausschließlich an die Wahrnehmung Pecolas gebunden ist. In Marcel Beyers Roman Flughunde96 (1995) wird die fiktive Geschichte der Familie Goebbels erzählt, deren Kinder während des Zweiten Weltkriegs die Bekanntschaft mit dem Stimmenforscher Hermann Karnau machen. Karnau, der als Techniker in Diensten der nationalsozialistischen Propaganda fungiert, wird 95 Vgl. hierzu auch das Kapitel 3.2.1. 96 Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt am Main 1996. Alle Beyer-Zitate und Verweise nach dieser Ausgabe direkt im Text.

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als ein zurückgezogen lebender Wissenschaftler in die Handlung eingeführt, der seiner Umwelt und seinen Mitmenschen mit einer reservierten und emotionslosen Haltung begegnet. Die zufällige Bekanntschaft mit Joseph Goebbels97 bringt ihm dessen Wertschätzung ein und führt dazu, dass die kleinen Kinder der Familie bei Karnau untergebracht werden, als Magda Goebbels das sechste Kind zur Welt bringt und sich währenddessen nicht um die anderen fünf kümmern kann. In der gemeinsamen Zeit entwickeln die der Erwachsenenwelt skeptisch gegenübertretenden Kinder ein gewisses Vertrauen zu Hermann Karnau, das auch nach ihrem Abschied aus seiner Wohnung bestehen bleibt. Einige Jahre später ergibt sich in den letzten Tagen des Krieges ein Wiedersehen mit Karnau im sogenannten ‚Führerbunker‘, wo die Kinder seine Nähe suchen und sich die alte Vertrautheit schnell wiedereinstellt. Letztlich kommt es dort zur Ermordung der mittlerweile zwölfjährigen Tochter Helga Goebbels und ihrer jüngeren Geschwister durch die Eltern im Rahmen einer gemeinsamen Selbsttötung. In Beyers Erzählung bleibt unklar, unter wessen Begleitung und Hilfe diese die Tötungen haben bewerkstelligen können; der Text legt jedoch nahe, dass sich einer (oder mehrere) der im Bunker anwesenden Wissenschaftler einer Mittäterschaft schuldig gemacht hat. Karnau selbst gelingt die geplante Flucht aus dem Bunker und er sichert so sein (Über-)Leben, das er fortan unter der Annahme eines neuen Berufes als Wachmann in einem Dresdener Schallarchiv führt. Der Roman schließt mit einem Blick auf den Stimmenforscher Karnau, der sich alte Tonaufnahmen der Kinder von den letzten Minuten ihres Lebens anhört. Ein Blick auf die formale Gestaltung des Textes offenbart eine besonders raffinierte Konstruktionsweise der Stimmen. Erzählt werden die Ereignisse jeweils abschnittsweise abwechselnd von den Figuren Hermann Karnau und Helga Goebbels, der ältesten Tochter der Familie. Eine kurze Passage im siebten Kapitel, die über Hermann Karnaus Überleben und seinen angeblichen Beruf als Wachmann informiert, wird von einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz vermittelt. Der weitaus größte Teil der Narration aber, der auf die Stimmen der Figuren Hermann Karnau und Helga Goebbels entfällt, folgt einer ausgefallenen Konzeption: Die Figuren weisen jeweils eine intratextuell konstruierte polyphone Figurenstimme auf, d. h. sie sind insofern mehrstimmig konzipiert, als in ihren Erzählungen sämtliche Gesprächsteilnehmer der erzählten Welt zitiert werden, also mit ihren jeweiligen Stimmen in die Aussageinstanzen Karnau und Helga integriert sind. Die von den beiden zitierten Stimmen der anderen Figuren sind jedoch nicht durch Anführungszeichen ge97 Der Name der Figur Joseph Goebbels wird nicht erwähnt, jedoch lassen eindeutige Hinweise darauf schließen, dass es sich bei dem Vater der Kinder um eine Romanfigur handelt, die zwar fiktiv ist, aber eindeutige Bezüge zu dem historischen Joseph Goebbels aufweist.

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kennzeichnet; in vielen Fällen wird sogar zusätzlich auf ein verbum dicendi verzichtet, so dass formal kein Stimmenwechsel markiert ist. Ein Wechsel des Sprechers ist oftmals lediglich über den Inhalt des Gesagten zu erschließen, so dass eine besondere Nähe zwischen den beiden Figurenstimmen einerseits und den von ihnen zitierten fremden Stimmen andererseits entsteht. Dass als Erzähltempus das Präsens gewählt wird, unterstreicht den Eindruck einer besonderen Unmittelbarkeit. Neben dieser speziellen Machart der beiden einzelnen polyphonen Figurenstimmen, die jeweils eine enge formale Verbindung zu den von ihnen zitierten Stimmen eingehen, besteht auf der extradiegetischen Ebene eine zusätzliche Verbindung zwischen den beiden Aussageinstanzen Karnau und Helga. Auch hier ist ein Sprecherwechsel schwierig zu erschließen und wird lediglich durch die Drucklegung des Textes signalisiert: Oftmals ist es einzig eine Leerzeile, welche die Aussage des einen von der der anderen trennt. In einzelnen Passagen wird selbst auf diesen kleinen formalen Hinweis verzichtet, so dass eine Stimmenzuordnung nur über den Inhalt des Gesagten erfolgen kann und es somit in Einzelfällen letztlich offenbleibt bzw. bleiben muss, wer von beiden an diesen Stellen spricht. Anders formuliert: Marcel Beyer präsentiert in seinem Roman also eine Form der Polyphonie, für die das Ineinanderfließen von Stimmen offenbar auf mehreren Erzählebenen konstitutiv ist und die als ein poetologisches Prinzip den gesamten Text durchzieht. In der Forschung sind die beiden Romane von Morrison und Beyer bereits ausgiebig analysiert worden. Bei The Bluest Eye galt das Interesse vielfach dem Thema Rassismus bzw. den kulturellen Differenzen zwischen Schwarzen und Weißen in der amerikanischen Gesellschaft98 sowie der ästhetischen Verbindung von Musik und Erzählen.99 Gattungstheoretische Ansätze haben die Entwicklung Claudia MacTeers mit dem Genre des Bildungsromans in Verbindung gebracht,100 während aus erzähltechnischer Perspektive insbesondere die Kon-

98 Grundlegend: Jennifer L. J. Heinert: Narrative Conventions and Race in the Novels of Toni Morrison. New York / London 2009. Ebenfalls hierzu: Evelyn J. Schreiber: Subversive Voices. Eroticizing the Other in William Faulkner and Toni Morrison. Knoxville 2001. Vgl. aus feministischer Perspektive Anniah H. H. Gowda: „Feminine Black Voice“. In: Literary half-yearly 35 (1994), H. 1. S. 28–33. Vgl. auch Chikwenye Okonjo Ogunyemi: „Order and Disorder in Toni Morrison’s The Bluest Eye“. In: Critique: Studies in Modern Fiction 19 (1977), H. 1, S. 112–120. 99 Cat Moses: „The Blues Aesthetic in Toni Morrison’s The Bluest Eye“. In: African American Review 33 (1999), H. 4. S. 623–637. Außerdem: Linda Dittmar: „Will the Circle be Unbroken? The Politics of Form in The Bluest Eye“. In: Novel: A Forum on Fiction 23 (1990), H. 2. S. 137–155. 100 Phyllis R. Klotman: „Dick-and-Jane and the Shirley Temple Sensibility in The Bluest Eye“. In: Black American Literature Forum 13 (1979), H. 4. S. 123–125. Vgl. hierzu auch Heinert, Narrative Conventions. Heinert stützt ihren Begriff des Bildungsromans nicht ausschließlich auf die

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struktion der doppelten Sichtweise Claudia MacTeers und die Inklusion der Schulbuchzitate in den Text untersucht worden sind.101 In der Forschung zu Marcel Beyer wurden vor allem die Aspekte der Vergangenheit und der Erinnerung102 diskutiert sowie die Instrumentalisierung der Medien für die Propaganda des nationalsozialistischen Regimes besprochen.103 Formalästhetische Analysen haben sich der Wahl des Präsens als Erzähltempus gewidmet und zudem die besondere Erzählweise der Figuren Hermann Karnau und Helga Goebbels fokussiert.104 Die Deutungsvorschläge für diese beiden Figurenstimmen sind vielfältig und vernachlässigen aus einer narratologischen Perspektive im Extremfall die besonderen Möglichkeiten schriftlich-fiktionalen Erzählens, von denen Beyer durch seine spezielle Konzipierung der beiden gleichberechtigt nebeneinander stehenden Figurenstimmen auf originelle Weise Gebrauch macht.105 Entwicklung Claudias, sondern weitet ihn auf mehrere Figuren aus und spricht von „multiple bildungsroman narratives“ (Narrative Conventions, S. 12). 101 Vgl. Moses, „The Blues Aesthetics“, sowie Carl D. Malmgren: „Text, Primers and Voices in Toni Morrison’s The Bluest Eye“. In: Critique. Studies in Contemporary Fiction 41 (2000), H. 3. S. 251–262. Außerdem Klotman, „Dick-and-Jane“ und Shelley Wong: „Transgression as Poesis in The Bluest Eye“. In: Callaloo 13 (1990), H. 3. S. 471–481. 102 Vgl. Eleni Georgopoulou: Abwesende Anwesenheit. Erinnerung und Medialität in Marcel Beyers Romantrilogie Flughunde, Spione und Kaltenburg. Würzburg 2012; Thomas E. Schmidt: „Erlauschte Vergangenheit. Über den literarischen Stimmensucher Marcel Beyer“. In: Thomas Kraft (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München 2000. S. 140–150. Birtsch, Nicole: „Strategien des Verdrängens im Prozeß des Erinnerns. Die Stimme eines Täters in Marcel Beyers Roman Flughunde“. In: Carsten Gansel / Pawel Ziminiak (Hg.): Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Fallstudien. Dresden 2006. S. 316–330. Christian Thomas: „Marcel Beyers Flughunde als Kommentar zur Gegenwart der Vergangenheit“. In: Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln 2007. S. 145–169. 103 Vgl. Ulrich Schönherr: „Topophony of Facism: On Marcel Beyer’s The Karnau Tapes“. In: The Germanic Review 73 (1998), H. 4. S. 328–348. Leslie Morris: „The Sound of Memory“. In: German Quarterly 74 (2002), H. 4. S. 368–378. Ulrich Baer: „‚Learning to Speak Like a Victim‘: Media and Authenticity in Marcel Beyer’s Flughunde“. In: Paul Michael Lützeler / Stephan K. Schindler (Hg.): Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Tübingen 2003. S. 245– 261. Helmut Schmitz: „Soundscapes of the Third Reich – Marcel Beyer’s Flughunde“. In: Ders. (Hg.): German Culture and the Uncomfortable Past. Representations of National Socialism in Contemporary Germanic Literature. Farnham 2001. S. 119–141. 104 Vgl. Philipp Alexander Ostrowicz: Die Poetik des Möglichen. Das Verhältnis von „historischer Realität“ und „literarischer Wirklichkeit“ in Marcel Beyers Roman „Flughunde“. Stuttgart 2005; Sven Hanuschek: „‚Jeder Zeuge ist ein falscher Zeuge‘. Fiktion und Illusion in Marcel Beyers Roman Flughunde“. In: Marijan Bobinac u. a. (Hg.): Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts. Zagreb 2004. S. 387–397. 105 So geht beispielsweise Ulrich Schönherr in seiner Interpretation von einem Schreibakt Hermann Karnaus aus, der jedoch an keiner Stelle des Romans suggeriert oder gar verifiziert

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Wenngleich sowohl The Bluest Eye als auch Flughunde hinsichtlich ihrer speziellen Erzählform innerhalb der Forschung berücksichtigt und gewürdigt worden sind, steht also eine dezidiert narratologische Untersuchung, die sich den in den Texten angelegten Varianten von Polyphonie widmet, noch aus. Diese Formen der Mehrstimmigkeit, so meine These, stehen als ein poetologisches Konzept in einem engen Zusammenhang mit einem sozialen Phänomen, nämlich mit den jeweiligen Entwürfen von Familie, welche die Romane präsentieren. Das Prinzip einer grundsätzlichen Offenheit, das einen Grundzug der Polyphonie darstellt (hier gegenüber einer Pluralität von Stimme), spiegelt sich in den Bildern von Familie der beiden Romane Morrisons und Beyers wider. Denn auch die dargestellten Formen familiären Zusammenlebens zeichnen sich durch den Aspekt der Offenheit aus, der hier primär im Sinne einer Instabilität zum Ausdruck kommt: Das Merkmal einer konstitutiven Durchlässigkeit im Bereich der Stimme entspricht einer mangelnden Festigkeit und Konturierung in den jeweils gelebten Formen von Familie. Das früher vorherrschende Konzept einer „Abkapselung der Familie gegen die weitere soziale Umwelt“,106 das Heidi Rosenbaum in ihrer Untersuchung noch für das Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts konstatierte, hat innerhalb der hier untersuchten Narrationen offensichtlich ausgedient. Präsentiert werden Bilder der Familie, die sich – mit Ausnahme der MacTeers in The Bluest Eye – durch eine konstitutive Offenheit auszeichnen, die allerdings nicht als ein Zeichen von Weltoffenheit und einem ausgeprägten Interesse an den Mitmenschen fungiert, sondern vornehmlich einen Ausdruck gescheiterten Zusammenlebens darstellen. Die Stimmen der je-

wird (vgl. Schönherr, „Topophony“, S. 331). Aus narratologischer Perspektive ist diese These zudem problematisch, da die Annahme eines schriftlichen Erzählaktes eine weitere Erzählebene zwischenschaltet, welche die Stimme Helgas lediglich als ein Zitat Karnaus erscheinen ließe, d. h. diese in ein – de facto nicht gegebenes – Abhängigkeitsverhältnis zur Stimme Karnaus stellen würde. Vgl. ebenfalls kritisch zu der Annahme Schönherrs: Schmitz, „Soundscapes“, S. 140, und Ian Thomas Fleishman: „Invisible Voices: Archiving Sound as Sight in Marcel Beyer’s Karnau Tapes“. In: Mosaic 42 (2009), H. 2. S. 19–35, hier: S. 21. Ebenfalls diffizil ist die ambivalente Deutung der Stimme Helgas, bei der zur Diskussion gestellt wird, „ob [sie] als innere Stimme Karnaus oder als tatsächliche Romanbekanntschaft [fungiere]“ (Birtsch, „Strategien“, S. 329). Auch diese m. E. im Text nicht angelegte Existenz der Stimme Helgas als ausschließlich an die Psyche Karnaus gebunden, hätte für eine erzähltheoretische Einordnung insofern Konsequenzen, als wir es hier nicht mehr mit einer polyphonen Figurenstimme, sondern mit einer – lediglich an die Wahrnehmung Karnaus gekoppelten – figural-konstruierten Stimme zu tun hätten, die sich – ähnlich dem von Schönherr postulierten Zitat durch Karnau – ebenfalls in einem Abhängigkeitsverhältnis befände. 106 Vgl. Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982. Hier S. 311.

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weiligen Familienmitglieder sind durch ihren Mangel an Konturierung ebenso durchlässig wie die einzelnen Rollen innerhalb der Gesellschaft, denen es ebenfalls an Festigkeit fehlt und die einer klaren Zuschreibung entbehren: Die Eltern kommen ihrer Aufgabe der Fürsorgepflicht nicht nach, während die Kinder bereits in verantwortliche Funktionen gedrängt werden. Um eben dieses Defizit an Stabilität und die fehlende Abgrenzung nach außen hin soll es in der folgenden Analyse der narrativen Strukturen beider Texte gehen. Die einzelnen Varianten polyphoner Stimmen werden auf der Ebene des discours zu einem erzähltechnischen Abbild der innerhalb der Familien gelebten Offenheit und mangelnden Rollenzuweisung. In The Bluest Eye wird der Leser gleich zu Beginn mit einem bestimmten Bild von Familie konfrontiert. Noch bevor die eigentliche Narration einsetzt und der Fokus auf die erzählte Welt gerichtet wird, eröffnet Morrison ihren Text mit einem Zitat aus einem amerikanischen Schulbuch für Leseanfänger,107dem Dick-and-Jane Primer. In diesem Zitat, das die Erzählerstimme als eine zitierendpolyphone narrative Instanz ausweist, wird auf den Stereotyp des vermeintlichen Idealbildes weißer amerikanischer Familien angespielt, das zu Beginn des Romans nicht nur präsentiert, sondern zugleich auch in zwei weiteren Formen variiert wird. Zunächst wird der Text in der für Leseanfänger gängigen Form wiedergegeben: Here is the house. It is green and white. It has a red door. It is very pretty. Here is the family. Mother, father, Dick and Jane live in the green-and-white house. They are very happy. (Morrison, The Bluest Eye, S. 7)

Das an dieser Stelle noch leicht verständliche Zitat wird im Anschluss wiederholt und zugleich variiert, indem auf Satzzeichen sowie Groß- und Kleinschreibung verzichtet wird: Here is the house it is green and white it has a red door it is very pretty here is the family mother father dick and jane live in the green-and-white house they are very happy […] (Ebd.)

Eine letzte Veränderung erfährt der Kinderbuchauszug in einer abschließenden dritten Form, in welcher nicht mehr zwischen einzelnen Wörtern differenziert 107 In der Forschung zu The Bluest Eye wird durchgängig davon ausgegangen, dass es sich hier um authentische Zitate aus einem Dick-and-Jane Primer handelt. Da die von Morrison verwendete Ausgabe vergriffen ist, ist ein exakter Nachweis des Primärtextes nicht mehr möglich. Allerdings hatte Phyllis Klotman bereits 1979 in ihrer Untersuchung überzeugend darauf hingewiesen, dass es sich wohl um den 1965 erschienenen Fun with the Family Reader handelt (vgl. Klotman, „Dick-and-Jane“, S. 125).

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wird und auf den ersten Blick lediglich eine Aneinanderreihung von Buchstaben präsentiert wird: Hereisthehouseitisgreenandwhiteithasareddooritisveryprettyhereisthefamilymotherfatherdickandjaneliveinthegreenandwhitehousetheyareveryhappy […] (Ebd., S. 8)

Die Montage dieser drei Varianten als Romanauftakt erfolgt ohne jegliche Form der Einleitung oder Kommentierung. In ihrer Abfolge zeigt sich eine erkennbare Abnahme in der Berücksichtigung grammatikalischer Regeln, welche mit einer Zunahme an Komplexität für die Rezeption korreliert: Der Leser muss eine deutlich größere Eigenleistung erbringen, um das Artikulierte noch möglichst sinnvoll zu rezipieren. Die Präsentation und zweifache Variation eines knappen Familienporträts ist in der Forschung mehrfach mit den innerhalb des Romans vorgestellten Familien in Verbindung gebracht worden. So steht der ursprüngliche, lesbare Texte für den Standard der amerikanischen Durchschnittsfamilie, deren Mitglieder in The Bluest Eye zwar nicht als Protagonisten agieren, aber deren Normen und Werte den Roman unterschwellig durchziehen und den schwarzen Figuren als ein unerreichbares Ideal dienen.108 Die erste Variation, die auf jegliche Interpunktion verzichtet, wird dem Familienmodell der MacTeers zugeschrieben: The lack of punctuation shows some disorder in a world that could be orderly; however, the world is still recognizable, like the MacTeers’, which still has some order, some form of control, some love […].109

Die darauffolgende, nahezu unleserliche Variante wird Pecola Breedlove und ihrer Familie zugeordnet. Hier sind sämtliche kohärenzschaffende Strukturen zusammengebrochen: The third paragraph is a repetition of the first but without punctuation and without word division, and it demonstrates the utter breakdown of order among the Breedloves.110

Diese jeweiligen Zuordnungen zu den im Roman dargestellten Entwürfen von Familie sind ebenso naheliegend wie auch nachvollziehbar. Das abschließende Durcheinander, das mit dem Zusammenbruch der Familie Breedlove in Verbindung gebracht wird, setzt somit den Schlusspunkt einer degenerativen Entwicklung, die in der belasteten, aber funktionstüchtigen Familie MacTeer einen Zwischenschritt findet. Was bisher weniger berücksichtigt wurde, ist die eigent108 Vgl. hierzu u. a. Ogunyemi, „Order“, S. 112 f. 109 Ebd., S. 113. 110 Ebd.

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liche Ursache für das in der zweiten Variante präsentierte narrative Chaos: Der mangelnde Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben, der letztlich ein Ineinanderfließen der Wörter nach sich zieht. In der abschließenden Variante ist eine Differenzierung zwischen den einzelnen Wörtern schwierig bis nahezu unmöglich. Das einzelne Wort als eine sinnstiftende Einheit, die gegenüber anderen sinnstiftenden Einheiten abgegrenzt werden kann, ist nicht mehr existent. Auf diese Weise spiegelt die zitierend-polyphone narrative Instanz noch vor Beginn der eigentlichen Geschichte auf der Ebene des discours das auf der Ebene der histoire verhandelte Thema einer scheiternden Abgrenzung, die wiederum – wie noch gezeigt wird – in der Rollenbeliebigkeit der Figuren und den dazugehörigen durchlässigen Stimmen ihren Ausdruck findet. Das Merkmal der Polyphonie aus erzähltechnischer Sicht repräsentiert nicht nur ein Beispiel narrativer Vielstimmigkeit, sondern es steht auch für Strukturlosigkeit und mangelnde Stabilität. Auch der Zusammenbruch der Breedloves fußt auf dem Unvermögen, eine interne Festigkeit im Sinne eines gelebten familiären Zusammenhalts durch Abgrenzung nach außen zu demonstrieren. Das Konstruktionsprinzip der zitierend-polyphonen narrativen Instanz zieht sich in dieser Form weiter durch den Roman. Sämtliche Kapitel, die nicht von der Figur Claudia MacTeer, sondern von der narrativen Instanz erzählt werden, beginnen mit einem der eigentlichen Narration vorangestellten Zitat aus dem Dick-and-Jane Primer. Durch diese spezielle Form des Erzählens kontrastiert Morrison den gesellschaftlich akzeptierten Idealtypus einer weißen Familienidylle mit dem von der Familie Breedlove gezeichneten Bild des Verfalls auf eine doppelte Weise; die dem Text vorangestellten Zitate folgen alle der dritten Variante des Schulbuchtextes, die bereits als ein narratives Durcheinander beschrieben worden ist. Die graphische Darstellung des Zitats ist zunächst ein Widerspruch in sich: Inhaltlich bezieht es sich auf den standardisierten Typus der Bilderbuchfamilie, der gemeinhin akzeptiert ist und das gesellschaftliche Idealbild darstellt. Formal allerdings verweist die durch mangelnde Abgrenzung zwischen den Wörtern bedingte Unlesbarkeit auf den – im wörtlichen Sinne – aus der Form geratenen Familienentwurf der Breedloves: Form und Inhalt des Zitats stehen hier also in einem ausgesprochenen Kontrast. In einem weiteren Spannungsverhältnis stehen die Zitate, wenn sie mit dem nun folgenden Text der narrativen Instanz in eine Beziehung gesetzt werden. Die Abschnitte befinden sich hier in einem diametralen Gegensatz zueinander: Das jeweilige Zitat verweist inhaltlich auf ein Idyll und zeigt sich formal unkonventionell, während das sich anschließende Kapitel über die Breedloves formal korrekt dargestellt ist, aber auf der Ebene des Inhalts sukzessive das Schwinden von stabilen Formen und der Zusammenbruch einer Gemeinschaft vermittelt wird. Morrison spielt also nicht nur inhaltlich mit verschiedenen Entwürfen, sondern bedient

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sich auch zunehmend graphischer Möglichkeiten der Textgestaltung, die über ein formales Erscheinungsbild einen bestimmten Inhalt zu transportieren vermögen. Verglichen mit dieser Extravaganz hinsichtlich der visuellen Gestaltung erscheint die narrative Instanz in Marcel Beyers Roman Flughunde zunächst konventionell und optisch weniger auffällig. Zudem ist bemerkenswert, dass sie – im Verhältnis zu den äußerst umfangreichen Erzählabschnitten der beiden Figuren Karnau und Helga – vergleichsweise wenig Raum zugestanden bekommt. Gleichwohl weist auch sie, ihrem knappen Umfang zum Trotz, Besonderheiten in der Konzeption auf, die dem bereits genannten poetologischen Prinzip des Ineinandergleitens und der mangelnden Abgrenzung entsprechen. Ihr wichtigstes Merkmal ist die ausgesprochene Nähe zur Stimme Hermann Karnaus, welche teilweise in unmarkierten Übergängen gipfelt und eine deutliche Unterscheidung zwischen narrativer Instanz und Figurenstimme an diesen Stellen unmöglich macht. So berichtet die narrative Instanz im siebten Kapitel von der Begegnung zwischen einer Untersuchungskommission, die sich einem kürzlich entdeckten, im Keller eines Dresdener Waisenhauses befindlichen Schallarchivs widmet, und dem dort tätigen – angeblichen – Wachmann Hermann Karnau. Nach einer aus erzähltechnischer Sicht gänzlich unspektakulären Eingangspassage, die über den Zeitsprung in das Jahr 1992 und die seinerzeit stattfindende Entdeckung des Schallarchivs informiert, übergibt sie das Wort an Karnau: Im Juli 1992 findet man bei einer Besichtigung des städtischen Waisenhauses in Dresden im Keller ein Schallarchiv, das bisher hinter einem mit Brettern vernagelten Mauerdurchbruch verborgen gelegen hat. Trotz seiner langen Geschichte, die aufgrund des eingelagerten Materials außer Zweifel steht, ist dieses Archiv bisher unbekannt gewesen. […] Unterlagen über das Personal des Schallarchivs existieren allerdings kaum noch. Aus einer Kartei, die größtenteils vernichtet worden ist, lässt sich lediglich der Name eines Wachmanns mit Sicherheit entnehmen: Hermann Karnau. Beim ersten Lokalaugenschein in Begleitung einer Kommission von Untersuchungsbeauftragten erörtert Karnau: Hier finden sich alle erdenklichen, für die Forschung nutzbringenden Anlagen und Aufzeichnungen. Selbstverständlich eine ganze Bibliothek mit regelmäßigen Aufnahmen aller wichtigen Personen aus Politik und öffentlichem Leben seit der Erfindung des Schallträgers. Sofern sich die Herrschaften solche zeitaufwendigen Kontrollen leisten konnten. Selbst jene berühmten, lange verschollen geglaubten Aufnahmen DER FÜHRER HUSTET, noch auf Schellack, bei 78 Umdrehungen pro Minute, sind in unserem Besitz. Wozu diente diese Einrichtung denn überhaupt? Karnau erklärt: Die Pulsfrequenz bei Anstrengung, in Bewegung oder beim Halten einer Rede wurde wöchentlich in Wachs gepreßt, um turnusgemäß Vergleiche anstellen zu können durch das simultane Abspielen verschiedener Wochenergebnisse. (Beyer, Flughunde, S. 219 f.)

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Der doppelte Sprecherwechsel im oben zitierten Textausschnitt findet auf eine so dezente Weise statt, dass er in beiden Fällen kaum zu bemerken ist. Nach den einführenden Worten der narrativen Instanz ist es zunächst Karnau, der sein internes Wissen über das Schallarchiv mitteilt. Dieser Sprecherwechsel wird einzig durch die Bemerkung der narrativen Instanz: „[…] erörtert Karnau: […]“ (Beyer, Flughunde, S. 219) initiiert, woran sich dann die wörtliche Rede Karnaus schließt. Diese Variante ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert und irritierend zugleich. Einerseits wird auf Anführungszeichen, welche die wörtliche Rede in der Regel markieren, verzichtet. Andererseits handelt es sich nicht um die indirekte Rede Karnaus, welche die narrative Instanz in die eigene Rede einbaut, da bei dieser Form der transponierten Rede die Verbformen in den Konjunktiv zu verschieben wären, was hier allerdings nicht passiert. Einzig das verbum dicendi „erörtert“ und der Doppelpunkt weisen darauf hin, dass die nun folgenden Ausführungen von Hermann Karnau in wörtlicher Rede getätigt werden. Aus erzähltechnischer Sicht noch bemerkenswerter als dieser kaum markierte Redebeginn Karnaus ist die fehlende Kennzeichnung des Endes, und der kurz darauffolgende Wiederbeginn seiner Ausführungen. Denn ohne dass ein Wechsel der Sprechinstanzen verzeichnet wäre, stellt die narrative Instanz eine Frage, auf die Karnau – irritierenderweise – mit einem nächsten Satz antwortet: „Selbst jene berühmten, lange verschollen geglaubten Aufnahmen DER FÜHRER HUSTET, noch auf Schellack, bei 78 Umdrehungen pro Minute, sind in unserem Besitz.“ [Stimme Karnaus, S. R.] Wozu diente diese Einrichtung denn überhaupt? [Frage der narrativen Instanz, S. R.] Karnau erklärt: „Die Pulsfrequenz bei Anstrengung, in Bewegung oder beim Halten einer Rede wurde wöchentlich in Wachs gepreßt, um turnusgemäß Vergleiche anstellen zu können durch das simultane Abspielen verschiedener Wochenergebnisse.“ [Antwort Karnaus auf die Frage der narrativen Instanz, S. R.] Einzig wenige Leerzeichen vor dem Zeilenumbruch geben ein graphisches Signal, dass die sich anschließende Frage nach dem Sinn der Institution von der narrativen Instanz gestellt wird. Die scheinbar selbstverständliche Antwort Karnaus täuscht darüber hinweg, dass an dieser Stelle eine Metalepse vorliegt: Die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz stellt eine Frage, die von einer intradiegetischen Figur beantwortet wird. Aus logischer Sicht ist eine solche Kommunikationssituation – jedenfalls in der hier konzipierten quasi-realistischen erzählten Welt – eigentlich nicht möglich, jedenfalls nicht, ohne dass der Rezipient auf den Konstruktionscharakter des Gelesenen verwiesen wird und den schriftlich-fiktionalen Status der Narration realisiert. Wie kommt es nun aber, dass sich eine solche nach Genette „bizzare Wirkung, die mal ko-

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misch […], mal phantastisch“111 ist, nicht einstellt? Der Grund hierfür liegt wohl in eben dieser ausgesprochenen Nähe zwischen der narrativen Instanz und der Stimme Hermann Karnaus. Da keine harte Trennung zwischen den beiden Aussageinstanzen erfolgt, sondern beide sanft ineinander zu gleiten scheinen, rückt der damit verbundene Wechsel der Erzählebenen in den Hintergrund und die logische Unmöglichkeit eines Austausches zwischen den beiden Instanzen wird nicht realisiert. Dass es sich bei dem oben zitierten Ausschnitt nicht um einen Einzelfall in der Ausgestaltung der Nähe zwischen der narrativen Instanz und der Figurenstimme von Hermann Karnau handelt, verdeutlicht eine weitere Textstelle. Diese hebt den Übergang von der einen Aussageinstanz in die andere noch weniger hervor: Karnau erweist sich nicht nur als recht gesprächig, er verfügt auch über ein Fachwissen, das seinem Status als Wachmann gar nicht entspricht. Neben den präzisen Darstellungen der Aufgabenbereiche der Einrichtung verliert er sich zuweilen in Anekdoten: Wenn der Vormittag vorüber war und die Klienten uns, wie man sagen könnte, ihre Stimme geliehen hatten, traf man sich in den Pausen zwischen zwei Arbeitsgängen oft im Besprechungszimmer. (Beyer, Flughunde, S. 223)

Vergleicht man diesen Ausschnitt mit der zuvor zitierten Passage, so fällt auf, dass lediglich ein Doppelpunkt den Sprecherwechsel markiert. Im Gegensatz zu dem vorherigen Zitat wird also sowohl auf ein verbum dicendi (z. B. „erklärt“, s. o.), als auch auf eine Beendigung des Satzes und einen Zeilenumbruch verzichtet: Die Stimme Karnaus wird innerhalb eines Satzes unmittelbar in die Äußerungen der narrativen Instanz integriert. Diese besondere Konstruktionsweise ist zunächst aus formalistischer Perspektive interessant, zugleich erfüllt sie aber auch eine erzähltechnische Funktion und spiegelt auf der Ebene des discours die wichtigste Eigenschaft Karnaus wider, durch die er charakterisiert ist: Seine Anpassungsfähigkeit, die es ihm ermöglicht, sich schnell in neue Kontexte einzufinden und mit diesen zu verschmelzen. Diesem Zug ist es zu verdanken, dass seine Tätigkeit als Aufpasser für die Kinder der Familie Goebbels glückt und er von diesen an Elternstatt akzeptiert wird. Begünstigt wird diese Aufnahme wiederum durch die, wie noch gezeigt wird, instabile interne Struktur, die eine Familie hervorgebracht hat, in welcher die Eltern unfähig sind, in ihren Rollen als Erziehungsberechtigte zu funktionieren und die Kinder weitestgehend sich selbst überlassen sind. Richtet man den Blick von der extradiegetischen narrativen Instanz auf die intradiegetischen Figuren, so fällt bei einer vergleichenden Analyse der Romane 111 Genette, Diskurs, S. 168.

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von Morrison und Beyer auf, dass sich diese in zwei Kategorien einteilen lassen: Die sich entwickelnden und zugleich überlebenden Figuren auf der einen Seite und die in ihrer Entwicklung stagnierenden und am Leben scheiternden Figuren auf der anderen Seite. Zunächst sollen mit Claudia MacTeer und Hermann Karnau die Figuren näher beleuchtet werden, denen eine Lebensveränderung glückt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es sich bei Claudia MacTeer um eine Figur handelt, die sich in ihrer Narration sowohl in ihre kindliche Perspektive als kleines Mädchen zurückversetzt, als auch aus der späteren Sicht einer erwachsenen Frau berichtet. Als polyphone Figurenstimme, die wörtlich getätigte Äußerungen anderer Figuren in die eigene Stimme inkludiert, folgt sie einem konventionellen Muster und die eingefügten Zitate sind – anders als im Falle Hermann Karnaus – deutlich von der eigenen Stimme abzugrenzen und im Text zusätzlich von ihren eigenen Worten graphisch durch Anführungszeichen abgesetzt. Von spezieller Bedeutung für sie und ihre Entwicklung ist die Gemeinschaft der Erwachsenen, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester Frieda als ein Pendant zu der eigenen kindlichen Welt wahrnimmt. Von besonderem Interesse für die beiden Mädchen ist hierbei der Klang der Stimmen, denen die beiden in ihrem Elternhaus gemeinsam lauschen: Frieda and I are washing Mason jars. We do not hear their words, but with grown-ups we listen to and watch out for their voices. “Well, I hope don’t nobody let me roam around like that when I get senile. It’s a shame.” “What they going to do about Della? Don’t she have no people?” “A sister’s coming up from North Carolina to look after her. I expect she wants to get aholt of Della’s house.” “Oh, come on. That’s a evil thought, if I ever heard one.” […] Their conversation is like a gently wicked dance: sound meets sound, curtsies, shimmies, and retires. Another sound enters but is upstaged by still another: the two circle each other and stop. Sometimes their words move in lofty spirals; other times they take strident leaps, and all of it is punctuated with warm-pulsed laughter – like a throb of a heart made of jelly. The edge, the curl, the thrust of their emotions is always clear to Frieda and me. We do not, cannot, know the meanings of all their words, for we are nine and ten years old. So we watch their faces, their hands, their feet, and listen for truth in timbre. (Morrison, The Bluest Eye, S. 15 f.)

Die erste Passage des obigen Zitats spiegelt das narrative Konzept der Figur Claudia MacTeer als polyphone Figurenstimme wider. Formal ist diese Stelle insofern besonders, als die inkludierten Stimmen anonym wiedergegeben werden und die Äußerungen ohne Verwendung von verba dicendi unmittelbar einander abwechseln; lediglich die Anführungszeichen markieren den Sprecherwechsel

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graphisch. Diese Art der Darstellung ermöglicht die Zeichnung eines realistischen Bildes der von den Kindern belauschten Unterhaltung der Erwachsenen, das zudem durch die rasche Stimmenabfolge eine besondere Lebhaftigkeit erhält. Aus psychologischer Sicht bedeutsam für die Entwicklung Claudia MacTeers ist dann der sich anschließende zweite Teil des zitierten Textausschnittes, in dem sie über die Stimmen der Erwachsenen reflektiert. Claudia nimmt die Gemeinschaft der Erwachsenen als eine geschlossene homogene Gruppe wahr, zu der sie und ihre Schwester sich eindeutig nicht zugehörig fühlen. Indem die beiden Schwestern die Erwachsenen als ein Pendant zu ihrer eigenen Kindlichkeit begreifen, können die beiden in ihren natürlichen Rollen verharren: Sie befinden sich sowohl körperlich als auch geistig-seelisch in einem Entwicklungsstadium, das sich von dem der Erwachsenen deutlich unterscheidet und sie in einem positiven Sinne von deren Konversationen ausgrenzt. Positiv ist dies insofern, als – wie im Falle der Entwicklung Pecola Breedloves noch gezeigt werden wird – die zu frühe und brutale Konfrontation mit der Erwachsenenwelt zu irreparablen Schäden führen kann, die eine spätere Bewältigung des Lebens unmöglich machen. Neben der naturgemäßen Rollenverteilung zeigt sich ein weiterer Grundstein, auf dem die positive Entwicklung Claudia MacTeers fußt: Das Vertrauen in die Welt und die Worte der Erwachsenen. Da Claudia und Frieda den Inhalt des Gesprächs noch nicht verstehen können, konzentrieren sie sich auf die Art und Weise des Sprechens. Hierbei wird deutlich, dass die Unterhaltungen der Erwachsenen – die ihnen aufgrund der Nichtverständlichkeit befremdlich vorkommen müssen – keinesfalls eine bedrohliche Wirkung auf die Kinder haben, im Gegenteil: Ihr verbaler Austausch wird in einem metaphorischen Sinne als eine Art Tanz beschrieben und mit ebenso emotionalen wie positiven Attributen bedacht. So ist beispielsweise von einem „warm-pulsed laughter“ (Morrison, The Bluest Eye, S. 16) die Rede, welches trotz der tendenziell wenig humoristischen Thematik (es handelt sich um Klatsch und Lästereien) eine gewisse ironische Distanz signalisiert und den Bemerkungen ihre Schärfe nimmt, so dass die Kinder Vergnügen daran finden, den Erwachsenen zuzuhören. Der Mangel an Verständnis für die kommunizierten Inhalte wird über ein genaues Studium der Art des Sprechens kompensiert. Hierbei verlassen sich die Schwestern gänzlich auf ihre Sinne, indem sie die Mimik und Gestik der Sprecher beobachten und sich auf „[the] truth in timbre“ (ebd.), also auf eine bestimmte Wahrheit innerhalb des Tonfalls fokussieren. Claudias Wortwahl zeugt hier von einem großen Vertrauen in das Wort der Erwachsenen: Die Kinder verlassen sich ausschließlich auf ihre Sinneseindrücke und setzen grundsätzlich voraus, dass die Erwachsenen in ihrem Umfeld die Wahrheit sagen.

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Wie sehr sich Claudias Alltagssorgen fernab der Probleme der Erwachsenen befinden und sich um kindgerechte Dinge drehen, verdeutlicht ihre Erinnerung an ein Weihnachtsfest. Hier hatte sie eine – aus Sicht der Erwachsenen schöne – Puppe geschenkt bekommen, die den angenommenen Höhepunkt des Festes für Claudia bilden sollte: It had begun with Christmas and the gift of dolls. The big, the special, the loving gift was always a big, blue-eyed Baby Doll. From the clucking sounds of adults I knew that the doll represented what they thought was my fondest wish. I was bemused with the thing itself, and the way it looked. What was I supposed to do with it? […] I could not love it. But I could examine it to see what it was that all the world said was lovable. Break off the tiny fingers, bend the flat feet, loosen the hair, twist the head around […]. (Morrison, The Bluest Eye, S. 20)

Offensichtlich war die Einschätzung der Erwachsenen nicht richtig, und das liebevoll ausgewählte Geschenk hat sein eigentliches Ziel, das Erfüllen eines vermeintlichen Herzenswunsches, nicht erreicht. Denn anders als vorausgesetzt, teilt Claudia keineswegs die in der Gesellschaft verbreitete Vorstellung davon, was als wünschenswert und niedlich empfunden wird. Im Gegenteil: Sie verweigert sich der ihr entgegengebrachten Erwartungshaltung und beginnt, sich für die innere Beschaffenheit der Puppe zu interessieren; ein Wissensdurst, der nur über die Zerstörung des Geschenks gestillt werden kann. Diese Reaktion löst bei den Erwachsenen wiederum Ärger und Unverständnis aus, wie die besondere Form ihrer Antwort verdeutlicht: Grown people frowned and fussed: “You-don’t-know-how-to-take-care-of-nothing-. Inever-had-a-baby-doll-in-my-whole-life-and-used-to-cry-my-eyes-out-for-them. Now-yougot-one-a-beautiful-one-and-you-tear-it-up-what’s-the-matter-with-you?” How strong was their outrage. Tears threatened to erase the aloofness of their authority. The emotion of unfulfilled longing preened in their voices. (Morrison, The Bluest Eye, S. 21)

Besonders ist die Art und Weise der Antwort in einer doppelten Hinsicht. Zunächst fällt der auf jedes Wort folgende Trennungsstrich auf, der die atemlose Empörung der Erwachsenen auf die visuelle Ebene des Textes überträgt. Auch ist bemerkenswert, dass die Gruppe der Erwachsenen – Claudias Verweis auf ihre Pluralität zum Trotz – die erste Person Singular verwendet („I never had […] in my whole life […]“, s. o.). Der Gebrauch dieser grammatischen Form steht in diesem Fall der Kollektivität der Gruppe jedoch nicht entgegen, sondern verdeutlicht, dass es sich hier um eine homogene Gemeinschaft mit den gleichen Erfahrungswerten in ihrer eigenen Kindheit handelt. Oder anders gewendet: Sie alle haben in ihrer Kindheit – jeder für sich, aber alle auf eine ganz ähnliche

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Weise – unter Entbehrungen gelitten, die sie Claudia ersparen möchten. Aus grammatikalischer Sicht zitiert Claudia also an dieser Stelle lauter Individuen, allerdings handelt es sich um Individuen, die einer gemeinsamen Erfahrungswelt angehören und eine Wertegemeinschaft bilden. Die Emotionalität, mit der sie ihrer Enttäuschung über Claudias vermeintliche Undankbarkeit Ausdruck verleihen, zeigt jedoch nur vordergründig die Empörung über die mangelnde Wertschätzung Claudias für das gekaufte Präsent. Als mindestens ebenso schmerzhaft erweist sich für sie das Gefühl der Zurückweisung durch ein Mädchen, dem sie – von Vorfreude auf die kindliche Begeisterung begleitet – mit Bedacht ein Weihnachtsgeschenk ausgesucht hatten. Dass Claudias ungewöhnliche Reaktion auf die misslungene Überraschung nicht nur Wut über ihr Verhalten auslöst, sondern auch eine gewisse Verletzlichkeit der Erwachsenen offenbart, verweist auf ein inniges Verhältnis zu der sie umgebenden Erwachsenenwelt. Ihr kindliches Vertrauen, das sie den Worten der Erwachsenen aus einer rein emotionalen Perspektive heraus lauschen und vertrauen lässt, spricht ebenso für eine ausgeprägte Nähe wie der Versuch der Erwachsenen, ihr durch ein mit Bedacht ausgesuchtes Präsent ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Den von Claudia zitierten Stimmen kommt also eine bedeutsame Rolle in ihrer Entwicklung zu: Sie dienen als eine Kontrastfolie zu der eigenen kindlichen Gemeinschaft, die Claudia gemeinsam mit ihrer Schwester Frieda bildet. Somit stellen sie einen Gegenentwurf dar, von dem sie sich – wie anhand der Diskussion um das missglückte Geschenk gesehen – abgrenzen kann und eine eigene Position entwickelt. Zugleich geht gerade die sinnliche Wahrnehmung der Stimmen mit einem Gefühl des Vertrauens einher und vermittelt ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Dieses Verhältnis wird auch aus narratologischer Perspektive abgebildet: Claudia gelingt sowohl eine sinnvolle Integration der Erwachsenenstimmen (über die verwendeten Zitate) als auch eine gleichzeitige Abgrenzung von ihnen, da die inkludierten Worte deutlich von der eigenen Aussageinstanz unterschieden werden, was auch formal durch die Anführungszeichen abgebildet wird. Die dem jeweiligen Alter entsprechenden Rollen bleiben also eindeutig verteilt; Kinderwelt und Erwachsenenwelt berühren einander, ohne dass es hierbei zu folgenschweren Übergriffen käme wie im Falle der Figuren Pecola Breedlove oder Helga Goebbels. In Beyers Flughunde wird mit Hermann Karnau ebenfalls eine Figur dargestellt, für die die persönliche Entwicklung eng an das Phänomen der Stimme geknüpft ist. Wie auch Claudia MacTeer ist Karnau mit einer polyphonen Figurenstimme ausgestattet, d. h., er inkludiert die Worte anderer Figuren in seine eigene Rede und ist somit als eine mehrstimmige Aussageinstanz konzipiert. Im Unterschied zu Claudia aber sind die von ihm eingefügten Zitate graphisch nicht deutlich als fremde Rede von den eigenen Aussagen abgegrenzt, sondern

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sie fügen sich nahezu unmarkiert in die von ihm getätigten Aussagen ein. Bereits zu Beginn des Romans wird Karnau als mehrstimmig eingeführt, und er integriert die Stimme eines anonym bleibenden Scharführers in die eigene: Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser. Die Pfähle mit dem Hammer tief einrammen in den weichen Erdboden. Mit aller Kraft. Die Schilder dürfen nicht wegsacken. Die Befehle des Scharführers hallen über das Sportfeld. (Beyer, Flughunde, S. 9)

Einzig der Doppelpunkt weist darauf hin, dass es sich bei den Befehlen nicht um Hermann Karnau als Urheber der im Anschluss gesprochenen Worte handelt, sondern er lediglich die Arbeitsanweisungen des Scharführers wiedergibt. Auf diese Weise wird bereits auf der ersten Seite des Romans das poetologische Prinzip vorgestellt, das den Text bis zum Ende durchzieht: Die prinzipielle Offenheit von Aussageinstanzen und ihre Fähigkeit, fremde Worte scheinbar unbemerkt in die eigene Rede einfließen zu lassen. Im Fall von Hermann Karnau ist es aber nicht nur die formale Konzipierung als polyphone Figurenstimme, die einen Berührungspunkt mit dem Phänomen der Stimme darstellt, denn die Figur hat ihr persönliches Interesse hierfür zu ihrem Beruf gemacht: Karnau ist Stimmenforscher und widmet seine ganze Energie dieser Tätigkeit, die ihn auch über das tägliche Dienstende hinaus fasziniert und zu privaten Forschungen antreibt. Auch als Privatperson kann er sich von dieser Passion nicht distanzieren und nimmt die ihn umgebenden Stimmen ungefiltert auf, wie eine von ihm erinnerte Episode aus einem Elektrogeschäft verdeutlicht. Dort wird er mit einer geistig verwirrten Frau konfrontiert, deren Stimme sofort seine Aufmerksamkeit fesselt: Fassungslos starre ich diese Verrückte an, die, weil niemand auf sie reagiert, noch lauter redet: Will endlich wieder meinen Heinz Rühmann hören. Den ganzen Tag lang sollen die seine Lieder bringen, nicht Siegesfeiern und den ganzen Quatsch. Dann fängt sie auch noch an zu singen, krächzt ein paar Schlagerzeilen, die Stimme schwankt, heult, überschlägt sich und setzt wieder am Anfang ein. Doch niemand weist die Frau zurecht, es ist, als merkten die anderen Kunden gar nicht, wie sich die furchtbare Stimme in jede Körperzelle frißt. Bin ich der einzige, der diesen markerschütternden Ton wahrnimmt? Ein Ton, der auf das Schläfenbein hämmert und den gesamten Schädel zum Vibrieren bringt. Als wäre ich als einziger hellwach in tiefer Nacht, während ein Angriff aus der Luft bevorsteht, während die Bomben schon bald auf uns niedergehen. Und es gibt keinen sicheren Keller. (Beyer, Flughunde, S. 22 f.)

Wie sehr Karnau von den stimmlichen Phänomenen in seiner Umgebung gefangen genommen wird, zeigt sein Vergleich von der gehörten Stimme mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins in einer Kriegssituation. Zugleich ist ihm seine Son-

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derstellung bei dem Empfang akustischer Signale bewußt: Die anderen Menschen in dem Geschäft scheinen die Lärmbelästigung durch die verwirrte Kundin nicht zu bemerken, oder aber sich zumindest davor abschotten zu können; jedenfalls reagieren sie nicht mit der gleichen Empfänglichkeit und Empfindlichkeit auf das Gehörte wie der Stimmenforscher. Sein Unvermögen, sich von der ihn umgebenden Umwelt abzugrenzen, birgt jedoch auch Vorteile, da er über die Fähigkeit verfügt, sich wechselnden Situationen zügig anzupassen und er neue Anforderungen wie selbstverständlich verinnerlicht. Oder anders formuliert: Die ihm eigentümliche Durchlässigkeit für akustische Signale geht einher mit einer grundsätzlichen Disposition, das Fremde in sich eindringen zu lassen und auf diese Weise ein Teil von diesem Fremden zu werden. So schafft es Karnau, der abgesehen von ihren jeweiligen Stimmen kein besonderes Interesse an seinen Mitmenschen hegt, erstaunlich zügig, zu den von ihm zeitweise betreuten Kindern der Familie Goebbels Kontakt zu knüpfen und temporär Aufnahme in ihrer Familie zu finden. Dies ist umso bemerkenswerter, als er weder eigene Kinder hat, noch viel über seine Herkunftsfamilie bekannt wird. Vielmehr erscheint seine eigene Kindheit als eine Zeit, über die innerhalb der Narration wenig vermittelt wird und die für Karnau – zumindest so viel erfährt der Leser – mit einem diffusen Gefühl des Ausgeliefertseins in einer von Erwachsenen dominierten Welt verbunden ist (vgl. Beyer, Flughunde, S. 42 f.). Auch die sich daran anschließenden Jahre der Jugend bleiben rückblickend für den Stimmenforscher selbst eine Zeit der Ungewissheit, von der er nicht einmal mit Sicherheit sagen kann, ob sich bei ihm der für Jungen übliche Stimmbruch in der Pubertät vollzogen hat (vgl. Beyer, Flughunde, S. 76). Bedenkt man also, welche vergleichsweise geringe Bedeutung die Themen Kindheit, Jugend und Familie in Karnaus bisherigen Leben gespielt haben, so scheint es auf den ersten Blick erstaunlich, wie mühelos die von ihm betreuten Kinder ihn in ihren Kreis als vollwertiges Familienmitglied aufgenommen haben. Von einer besonderen Nähe zwischen Karnau und den Kindern zeugt auch die folgende Passage, die von einer morgendlichen Begegnung zwischen ihnen berichtet. Die bereits erwachten Kinder versammeln sich gemeinsam an seinem Bett, um ihn zu wecken, was von dem noch im Halbschlaf befindlichen Karnau zunächst falsch interpretiert und dann mit Erstaunen registriert wird: Was ist in meinen Hund gefahren? Warum legt Coco sich auf meinen Arm am frühen Morgen? Will er mich wecken? Jetzt auch noch ein Gewicht auf meinen Beinen. So groß ist Coco gar nicht. Ich blinzele: Es ist schon hell. Und da strahlt mich ein Kindergesicht an. Und noch eins. Er hat die Augen aufgemacht.

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Sie fangen an zu kichern. Die Kinder haben sich hereingeschlichen und sitzen auf meinem Bett. Ein fünffaches Guten Morgen. Hellwach sind sie schon alle, sie schütteln ihre kleinen Köpfe wie ein Hund, wenn er geschlafen hat. (Beyer, Flughunde, S. 68)

Dieser kurze gemeinsame Moment zwischen Karnau und den ihm fremden Kindern ist eine Szene von bemerkenswerter Vertrautheit. Verglichen mit der zuvor rekapitulierten Passage der Begegnung mit einer geistig verwirrten Frau (s. o.), reagiert Karnau nun gänzlich anders und empfindet die auf ihn einstürmende Geräuschkulisse nicht als eine Belästigung, der er sich nicht entziehen kann. In dieser Passage scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: Nachdem er die Kinder während der Weckphase noch mit seinem Hund Coco verwechselt hat, registriert er danach sehr wohl, dass es sich um die ihm anvertrauten Schützlinge handelt und lässt deren kindliches Spiel geschehen. Karnau, der den Umgang mit seinen Mitmenschen ansonsten nur auf seinen wissenschaftlichen Nutzen reduziert, toleriert in dieser Situation sowohl den unvermeidbaren Lärmpegel von fünf kleinen Kindern als auch eine relative körperliche Nähe, wenn sie alle auf seinem Bett Platz nehmen. Ohne, dass die Szene in irgendeiner Weise sexuell motiviert wäre – der Text liefert keinerlei Hinweise darauf, dass Karnau pädophile Interessen haben könnte – lässt der Stimmenforscher einen Moment der Intimität zu und gewährt den Kindern einen Einblick in seine ansonsten gut geschützte Privatsphäre. Diese temporäre Bildung einer Gemeinschaft findet auch auf formaler Ebene ihren Ausdruck. Die von den Kindern gemeinsam gesprochenen Worte („Er hat die Augen aufgemacht“) finden nahtlos ihren Eingang in die Rede Hermann Karnaus; kein verbum dicendi oder keine Anführungszeichen trennen die Stimmen voneinander und signalisieren einen Wechsel innerhalb der Aussageinstanz. Lediglich der Zeilenumbruch gibt einen graphischen Hinweis, dass hier für eine Zeile das Wort an die Kinder überreicht worden ist; gleich der nächste Satz („Sie fangen an zu kichern“) ist wieder Hermann Karnau zuzuschreiben. Dieses offenbar mühelose Hinein- und wieder Herausgleiten der Kinderstimmen in die Aussageinstanz Hermann Karnaus ist zugleich ein Spiegel der gesamten Begegnung des Stimmenforschers mit den Kindern. Genauso unvermittelt, wie die fünf in seinem Leben Einzug gehalten haben, kehren diese nach der Geburt des Geschwisterkindes wieder zu ihren Eltern zurück; und auch das Wiedersehen in dem Bunker wenige Jahre später endet abrupt mit der Ermordung der Kinder durch die eigenen Eltern bzw. mit der Flucht Karnaus. Anders als die älteste Tochter Helga, die zu Karnau Vertrauen fasst und in ihm eine wichtige Bezugsperson sieht, scheinen für Karnau die Begegnungen mit den Kindern lediglich episodische Ereignisse in seinem Leben darzustellen. So zufällig, wie sie in sein Leben hineingetreten sind, so treten sie auch wieder hin-

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aus. Karnau passt sich den jeweiligen Umständen an und zeigt sich in seinem Umgang mit ihnen geschickt und mit einer gewissen Sensibilität für die kindlichen Fragen und Bedürfnisse ausgestattet. Tatsächlich zu berühren – im Sinne einer lebensverändernden Begegnung – vermögen sie ihn allerdings nicht. So bezeichnet er zwar die Stimmaufnahmen, die von ihrem Todeskampf angefertigt worden sind, als einen „erschreckende[n] Besitz“ (Beyer, Flughunde, S. 286), aber eine tiefergehende emotionale Erschütterung über die Ermordung sechs junger Menschen stellt sich zu keinem Zeitpunkt ein. Auch hier zeigt sich wieder Karnaus Anpassungsfähigkeit: Als der Tod der Kinder eingetreten ist, bedeutet dies für ihn primär eine Veränderung beim Hören der Tonbandaufnahmen, und er konstatiert nüchtern: „Ab diesem Zeitpunkt spricht niemand mehr“ (Beyer, Flughunde, S. 301). Eine retrospektive Verantwortung für die Kinder, mit denen er an Eltern statt gemeinsam in einer Wohnung gelebt hatte, verspürt er nicht. Karnaus besonderes Verhältnis zu Menschen, das sich primär auf ein Interesse an ihren Stimmen beschränken lässt, soll ihm schließlich das Leben retten. Verbunden mit seiner speziellen Gabe – kritisch betrachtet kann diese auch als Oberflächlichkeit gewertet werden – einer mühelosen Anpassungsfähigkeit an schnell wechselnde Lebensumstände, vermag er sich in Kürze eine zweite Identität anzueignen, die ihn aus der Position eines Mittäters heraushebt und in die Rolle eines vermeintlichen Opfers schlüpfen lässt. Nachdem eine Gruppe von Ärzten und weiteren Bewohnern, die sich gemeinsam im sogenannten ‚Führerbunker‘ versteckt gehalten haben, ihre Flucht beschließt, rät der Arzt Stumpfecker Karnau zu einer ausgefeilten Verstellungstaktik: Bevor wir losgehen, wendet sich Stumpfecker noch einmal an mich: Solange für uns alle die Gefahr besteht, von den Besatzern aufgegriffen zu werden, müssen Sie sich dies eine genau einprägen: Vordringlichste Aufgabe ist es nun, wie ein Opfer sprechen zu lernen. Erinnern Sie sich genau an die Worte, den Satzbau, den Tonfall Ihrer eigenen Versuchspersonen, rufen Sie sich das alles ins Gedächtnis. Imitieren Sie, sprechen Sie nach, erst langsam und im Geiste, dann leise murmelnd, sprechen Sie mit niedergeschlagenen Augen, lassen Sie Pausen im Sprachfluß, als sei Ihnen Grausames widerfahren, dessen Beschreibung Sie nicht über sich bringen – und lassen Sie in Ihrer Rede genau dieses vermeintliche grausame Geschehen aus. […] Verzerren Sie das Gesicht, stammeln Sie, lernen Sie feuchte Augen willentlich hervorzurufen, geben Sie sich auskunftsfreudig, hilfsbereit, geben Sie vor, über das Grauen, das Ihnen widerfahren sei, berichten zu wollen, aber es leider nicht zu können. Kollabieren Sie, und man wird von weiteren Fragen absehen, man wird Sie am Ende bemitleiden und Sie tatsächlich für ein Opfer halten […]. (Beyer, Flughunde, S. 215)

Wie in den anderen zitierten Passagen, nimmt Karnau auch hier eine fremde Stimme nahezu übergangslos in die eigene auf; einzig der Doppelpunkt ver-

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weist wieder auf einen Wechsel der Aussageinstanz. In diesem Fall sind es allerdings nicht nur die Worte, die der Stimmenforscher sich gewissermaßen einverleibt, sondern er verinnerlicht auch den perfiden Plan, den Stumpfecker ihm vorschlägt: Karnau wechselt mühelos von dem einen Extrem in ein anderes und eignet sich alle Züge und Merkmale derjenigen an, die ihm kurz zuvor noch als Versuchsobjekte im Zuge der nationalsozialistischen Ideologie hatten dienen müssen. Ob Karnau von seiner neuen Identität als traumatisiertes Opfer Gebrauch gemacht hat, lässt der Text offen. Zumindest hat er aber sein Überleben sichern können, und der Leser erfährt im folgenden Kapitel von der narrativen Instanz, dass Karnau sich zu Beginn der neunziger Jahre in die Rolle eines angeblichen Wachmannes im Schallarchiv geflüchtet hatte (vgl. Beyer, Flughunde, S. 219 ff.). Sowohl in The Bluest Eye als auch in Flughunde werden somit polyphone Figurenstimmen vorgestellt, für die sich Stimme(n) als essentiell für das eigene Leben erweisen. Im Fall Claudia MacTeers ist es das zitierte Kollektiv der Erwachsenenstimmen, das ihr Sicherheit vermittelt und den für ein gesundes Aufwachsen nötigen Gegenentwurf zu der eigenen Rolle als Kind darstellt. Für Karnau bedeutet die ständige Beschäftigung mit der menschlichen Stimme nicht nur den Inhalt seines beruflichen Schaffens, sondern zudem auch ein privates Interesse, das aber über ein gewöhnliches Hobby hinausgeht. Seine Besessenheit von Stimmen ist in seiner Situation Fluch und Segen zugleich: Einerseits leidet er darunter, sich nicht von den auf ihn einströmenden Stimmen abgrenzen zu können; andererseits profitiert er aber auch von seiner Befähigung, fremde Stimmen in die eigene Aussageinstanz einzugliedern und sich auf diese Weise als Flüchtling einen Schutzpanzer in Form einer Opferrolle zulegen zu können. Einen solchen Profit vermögen weder Pecola Breedlove noch Helga Goebbels aus dem Phänomen der Stimme zu schlagen. Im Gegenteil: Auf je spezifische Weise wird hier die Stimme in beiden Fällen zum Ausdrucksmittel eines gescheiterten Lebens. Pecola Breedlove, die nach der Vergewaltigung durch ihren Vater und dem anschließenden Verlust ihres zu früh geborenen Kindes gemeinsam mit ihrer Mutter am Stadtrand lebt, verliert zwar nicht ihr Leben (wie es bei Helga Goebbels der Fall ist), jedoch büßt sie im Zuge der Ereignisse ihre geistige Gesundheit ein und entwickelt eine psychische Störung, von der Claudia MacTeer als Erwachsene retrospektiv berichtet. Jene äußert sich so, dass Pecola schließlich in ihrer Einsamkeit eine imaginäre Freundin ersinnt, mit der sie sich unterhält; diese wird in Form einer figural-konstruierten Stimme in den Roman eingeführt. Graphisch abgesetzt wird die figural-konstruierte Stimme durch eine Kursivierung im Text, die sie somit deutlich von der zitierten Stimme Pecolas unterscheidet. Die besondere Vermittlungsweise durch die polyphone Figurenstimme

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Claudia MacTeer schließt an dieser Stelle einen inneren Monolog Pecolas aus, da Claudia nur das rückblickend wiedergeben kann, was sie auch zuvor akustisch vernommen hat. Das Zwiegespräch zwischen Pecola und ihrer imaginierten Freundin ist also innerhalb der erzählten Welt hörbar und dreht sich thematisch abermals um die von Pecola so lange ersehnten blauen Augen. Diesem Selbstgespräch, welches das kranke Mädchen allerdings nicht als solches realisiert, geht ein Erlebnis voraus, das für das Mädchen einen weiteren Vertrauensmissbrauch durch einen Erwachsenen bedeutet hatte.112 Ihre psychische Erkrankung gipfelt in der Annahme, nun tatsächlich blaue Augen zu besitzen, welche zunächst als Gesprächsgrundlage dienen. Im Zuge dieser ‚Unterhaltung‘ mit der imaginierten Freundin tritt mit der Erwähnung einer zweiten Vergewaltigung durch den Vater eine weitere traumatisierende Begebenheit aus Pecolas Vergangenheit ans Licht, die innerhalb der Narration bisher ausgespart wurde: Horrible. Really? Yes. Horrible. Then why didn’t you tell Mrs. Breedlove? I did tell her! I don’t mean about the first time. I mean about the second time, when you were sleeping on the couch. I wasn’t sleeping! I was reading! You don’t have to shout. You don’t understand anything, do you? She didn’t even believe me when I told her. So that’s why you didn’t tell her about the second time? She wouldn’t have believed me then either. You’re right. No use telling her when she wouldn’t believe you. That’s what I’m trying to get through your sick head. (Morrison, The Bluest Eye, S. 155)

Das Zwiegespräch mit der imaginierten Freundin offenbart also eine weitere Episode aus der Lebensgeschichte Pecola Breedloves, die zugleich einigen Aufschluss über das Verhältnis zu ihrer Mutter gibt. Diese hatte ihr bereits die erste Vergewaltigung durch den Vater nicht geglaubt, so dass Pecola nach der Wiederholung der Tat nicht den Mut gefunden hatte, sich ihr ein zweites Mal anzu112 Um sich ihren innigsten Wunsch zu erfüllen, hatte sie einen in einem zweifelhaften Ruf stehenden Mann aufgesucht, der von den Bewohnern der Stadt Soaphead Church gerufen wird. Von ihm, der sein Geld als „Reader, Adviser, and Interpreter of Dreams“ (vgl. Morrison, The Bluest Eye, S. 130) verdient, erhoffte sich das Mädchen Rat und Hilfe für das Erlangen blauer Augen. Soaphead Church, ein sadistischer Misanthrop, der aus den Sehnsüchten und Sorgen der Menschen Kapital zu schlagen gewöhnt ist, sicherte ihr diese zu. Im Gegenzug brachte er sie dazu, einen Hund unwissentlich mit Gift zu füttern, was Pecola schockiert realisiert, als es für das Tier bereits zu spät ist.

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vertrauen. Neben einem besseren Verständnis der Psychologie der Figur Pecola erfüllt die figural-konstruierte Stimme an dieser Stelle noch eine weitere Funktion innerhalb der Narration und das Zwiegespräch mit der imaginierten Freundin fungiert als Analepse. So gelingt es Morrison, entscheidende Entwicklungen innerhalb der erzählten Welt in der Erzählung auszusparen und zunächst nur die Konsequenzen vergangener Ereignisse anzudeuten. Auf diese Weise wird der Leser an dieser Stelle – analog zu dem Rezipienten einer analytischen Erzählung – zu einem Detektiv, der erst mit den Konsequenzen der ihm unbekannten Handlungen konfrontiert wird, um dann sukzessive ihre Ursachen zu erkennen. Die figural-konstruierte Stimme als eine Form der Verdopplung der Stimme Pecolas spiegelt somit das vorherige Zerbrechen der gesamten Familie Breedlove: Das Mädchen, das samt seiner durch den Vater erlittenen Sorgen kein Gehör bei der Mutter findet, befindet sich auf der Suche nach einem tröstenden Gesprächspartner, den sie letztlich aber nur in ihrer eigenen gespaltenen Stimme findet. Mehrstimmigkeit ist hier also ein besonderes Erzählverfahren in The Bluest Eye, das auf dieser ersten Ebene anders zu bewerten ist als die Polyphonie Claudia MacTeers, die als polyphone Figurenstimme bewusst fremde Zitate zum Zwecke der Handlungsvermittlung inkludiert. Pecolas Polyphonie ist zunächst Ausdruck einer erkrankten Psyche, die unter dem Druck der erlittenen Kränkungen Zuflucht in einem imaginierten Gesprächspartner sucht. Auf einer zweiten Ebene dient die figural-konstruierte Stimme aber auch hier der Geschehensvermittlung, da sie als ein Zitat in die polyphone Figurenstimme Claudia MacTeers eingebunden ist. Oder anders formuliert: Claudia zitiert Pecola, die wiederum eine Unterhaltung mit einer von ihr selbst hervorgebrachten Stimme führt. Dieses ‚Gespräch‘ wird dann von Claudia MacTeer retrospektiv wiedergegeben, wie der Abschluss des Selbstgesprächs und das daran anschließende Fazit Claudias zeigen: Don’t go. Don’t leave me. Will you come back if I get them? Get what? The bluest eyes. Will you come back then? Of course I will. I’m just going for a little while. You promise? Sure. I’ll be back. Right before your very eyes. So it was. A little black girl yearns for the blue eyes of a little white girl, and the horror at the heart of her yearning is exceeded only by the evil of fulfillment. We saw her sometimes, Frieda and I – after the baby came too soon and died. After the gossip and the slow wagging of heads. She was so sad to see. Grown people looked away; children, those who were not frightened by her, laughed outright. (Morrison, The Bluest Eye, S. 158)

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Pecolas Selbstgespräch, in dem sie ihre imaginierte Freundin anfleht, sie nicht zu verlassen, endet mit ihrem anfänglichen Wunsch nach blauen Augen. Wenngleich sie die absurde Konstruiertheit ihres Dialoges mit sich selbst in ihrer Krankheit nicht zu realisieren scheint, so ist ihr doch offensichtlich bewusst, dass sich ihr Sehnen nach blauen Augen nicht erfüllt hat. Pecolas Entwicklung hat sich demnach auf eine tragische Weise vollzogen, indem die erwünschte äußerliche Verwandlung nicht eingetreten ist, sondern sich im Gegenzug eine innerliche Veränderung von einem ursprünglich gesunden Mädchen hin zu einer gespaltenen Persönlichkeit samt gespaltener Stimme ergeben hat. Ähnlich wie Pecola Breedlove krankt auch Helga Goebbels in Beyers Flughunde daran, dass sie in eine Rolle gezwungen wird, der sie als Heranwachsende nicht gerecht werden kann. Auch ihr werden die Pflichten einer erwachsenen Frau aufgebürdet, denen sie nicht gewachsen ist: Während Pecola Breedlove unter dem sexuellen Missbrauch durch den Vater leidet, d. h. körperlich in die Position der erwachsenen Mutter gezwängt wird, muss Helga Goebbels auf ihre kleinen Geschwister aufpassen und diesen als älteste Tochter der Familie auf einer emotionalen Ebene die weibliche Bezugsperson ersetzen. Durch diesen elterlichen Anspruch wird Helga in eine Position gedrängt, aus der sich für sie eine Aporie ergibt: Einerseits soll sie ihren jüngeren Geschwistern den mütterlichen Zuspruch zukommen lassen, den ihre Mutter Magda Goebbels aus Krankheitsgründen nicht zu gewährleisten in der Lage ist. Andererseits ist sie nicht nur in der geistigen und seelischen Verfassung eines Kindes gefangen – zu Beginn der Narration ist sie noch im Grundschulalter –, sondern sie befindet sich zugleich naturgemäß auch noch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern. Zwar vernachlässigen diese weitestgehend ihren Erziehungsauftrag; jedoch befinden sie über Lebensumstände und Aufenthaltsort ihrer Nachkommen, was den Kindern durch die Ermordung im Bunker letztlich zum Verhängnis wird. Der besondere Anspruch an Helga, den jüngeren Kindern ein Elternteil zu ersetzen, wird auch formal abgebildet und lässt sich als eine besondere Nähe der Stimme Helgas zu den Stimmen der Eltern beobachten. Hierbei zeichnet sich eine Entwicklung ab: Während Helga die Stimmen ihrer Eltern zunächst wertfrei in die eigene Aussageinstanz einfließen lässt und auf diese Weise alltägliche Kommunikationssituationen innerhalb der Familie wiedergibt, lässt sich später ein zunehmendes Unwohlsein bei der Tochter beobachten, das die sich verschärfende Gefahr für Leib und Leben der Kinder gegen Ende des Krieges widerspiegelt. Helga befindet sich hinsichtlich ihrer Position innerhalb der Familie zunehmend in einem Dilemma: Sie wird von den Eltern fremdbestimmt, die sie in eine quasi-mütterliche Rolle zwingen und ihr die Verantwortung für die jüngeren Geschwister aufbürden. Zugleich nehmen die kleineren Kinder,

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die ebenfalls die Fürsorge der Eltern entbehren, Helgas Rolle dankbar an und vereinnahmen sie ihrerseits, indem sie ihr – freilich ohne Bewusstsein für ihr Handeln – als Leitfigur der Geschwisterschar die Verantwortung für die Gemeinschaft übertragen. Analog zu den von den Eltern zitierten Stimmen, die sich nahtlos in die Stimme Helgas einfügen, ergreifen auch die Geschwister Besitz von der Aussageinstanz der großen Schwester. Je näher die Katastrophe rückt, desto größer wird der Raum, den sie beanspruchen; stellenweise lässt sich nicht mehr differenzieren, welches Kind exakt mit seiner Stimme gerade Eingang in Helgas Stimme gefunden hat. Anfänglich zitiert Helga Gespräche beider Elternteile, die sich thematisch mit alltäglichen Anlässen befassen. Zu diesem früheren Zeitpunkt der Narration gibt Helga den Dialog vergleichsweise emotionslos wieder und es zeigen sich noch keine Hinweise auf ein gesteigertes Unbehagen bei der ältesten Tochter: Papa ist gerade nach Hause gekommen, ich höre, wie er sich unten an der Treppe mit Mama unterhält: Ganz wunderbar, das neue Sportcoupé. Sprich etwas leiser, bitte, die Kinder schlafen schon. Aber es ist ja noch ganz hell. Du kannst sie doch nicht wieder wecken. Die schlafen bestimmt längst noch nicht, die Mädchen liegen wach in ihren Betten und langweilen sich zu Tode. Nein, geh jetzt nicht hinauf, das kann auch bis morgen warten. Dieses Coupé werden sie bewundern, da kann man ihnen eine Probefahrt nicht verwehren. Laß die Mädchen bitte schlafen. Willst du ihnen denn gar nichts gönnen? Sie unternehmen ohnehin so selten etwas mit ihren Eltern, sie kennen uns ja kaum. (Beyer, Flughunde, S. 106 f.)

Der von Helga zitierte Dialog der Eltern zeichnet sich durch einen raschen Stimmenwechsel aus, der – analog zu den anderen Aussageinstanzen in Flughunde – ohne die typischen Anführungszeichen und ohne verba dicendi auskommt. Insbesondere der letzte Satz, der unter Zuhilfenahme des Kontexts der Figur Joseph Goebbels zugeschrieben werden kann, offenbart, wie problematisch sich hier das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern innerhalb der Familie gestaltet. Die offensichtliche Entfremdung zwischen beiden Parteien, die der Vater an einem Mangel gemeinsam verbrachter Zeit festmacht, soll durch einen nächtlichen Ausflug mit dem neu erstandenen Auto kompensiert werden. Dass es sich hierbei eher um die Befriedigung des väterlichen Geltungsdrangs als um ein selbstloses Geschenk für die noch kleinen Kinder handelt, scheint außer Frage zu stehen. Es stehen also weniger die kindlichen Bedürfnisse im Vordergrund, als vielmehr der Wunsch des Vaters, sich mit seinen Interessen gegenüber der

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Mutter durchzusetzen. Zwar gipfelt der hier zutage tretende Egoismus, sich über das Wohl der Kinder hinwegzusetzen, letztlich in der bereits erwähnten Tötung der Nachkommen; an dieser Stelle aber ist von einer sich verschärfenden Bedrohung für die Gesundheit der Kinder noch nichts zu spüren. Der zitierte Dialog ist auf der inhaltlichen Ebene von ausgesprochen harmloser Natur und wird von Helga zu diesem Zeitpunkt noch gelassen hingenommen. Auch ihr abschließendes Fazit lässt darauf schließen, dass es sich bei dem elterlichen Streitgespräch für sie eher um nächtliche Unterhaltung denn um ein angsteinflößendes Ereignis gehandelt hatte: „Hilde und ich haben gespannt gehorcht, wer von den beiden am Ende siegt“ (Beyer, Flughunde, ebd.). Die sich steigernde Inbesitznahme durch die Eltern geht jedoch einher mit einem zunehmenden Unbehagen der ältesten Tochter, welche die sich anbahnende Katastrophe mehr und mehr zu spüren scheint. Proportional zu der Vereinnahmung durch die Eltern, die Helga als große Schwester sukzessive in die Rolle der Mutter zwingen, steigt auch die stimmliche Dominanz, die Magda Goebbels auf ihre Tochter ausübt. Man kann hier in einem doppelten Sinne von einer Bevormundung sprechen, da die bereits zuvor geäußerten Worte der Mutter formal in einem sich steigerndem Maße Eingang in die Stimme der Tochter finden und diese zugleich in ihrer Rolle als heranwachsendes Kind eingeschränkt wird. Ein besonders deutliches Beispiel für einen solchen Übergriff durch die Mutter findet sich, als die Kinder Magda Goebbels in einem Sanatorium besuchen. Bei einem Blick auf die umliegende Landschaft wird die stimmliche Inbesitznahme so weit getrieben, dass Helga zunächst lediglich als ein Medium fungiert, durch das die Mutter spricht: Welch ein Panorama. Was für ein unermeßliches Echogebiet hier vor unseren Augen. Berauschend die durchfurchte Landschaft. Die Felsklüfte jenseits des Tales. Die schneebedeckten Gipfel der Gebirgskette. Und wie sie in die Augen stechen, das strahlende Sonnenlicht scheint wider von den Gletscherspalten, den Firnflecken hinunter bis zur Baumgrenze, der breiten Schneespur, die sich in die Bewaldung hineingefressen hat. Die dichten Tannen schlucken hier das Licht. Welche Höhen erreichen jene Gipfel wohl? […] Und welch ein Himmel, Schlachtengemäldewolken in Bewegung. Nun schau doch auch einmal, Helga. Ja, sehr schön, die schönen Berge. Mama liebt diese Landschaft, sie hat diesen Platz als Hintergrund ausgesucht für das Photo, das von uns gemacht werden soll. Ich kann nicht richtig hinschauen, obwohl ich es versuche, ich sehe mir jeden Felsen genau an, aber ich kann nicht frei atmen, und das lenkt mich immer wieder ab. Ist das die Bergluft, ist sie hier oben schon so dünn, daß man schneller atmen muß? Oder liegt es am engen Kragen, an diesem Halsband und dem neuen Kleid? (Beyer, Flughunde, S. 119)

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Der oben zitierte Ausschnitt ist aus formaler Sicht ausgesprochen diffizil gestaltet und erlaubt keine einfache Antwort auf die Frage: Wer spricht? Die größte Schwierigkeit dürfte an dieser Stelle darin bestehen, dass dem Zitat kein einleitender Kontext vorausgeht, der auf die ineinander verschränkten Stimmen vorbereitet, wie es z. B. in dem zuvor besprochenen Abschnitt der Fall ist („Papa ist gerade nach Hause gekommen, ich höre, wie er sich unten an der Treppe mit Mama unterhält […]“, s. o.). Bei der obigen Landschaftsbeschreibung handelt es sich um den Beginn des vierten Kapitels, das ohne weitere Erklärung mit der Lobpreisung der Umgebung durch Helgas Mutter einsetzt. Einzig der Zeilenumbruch markiert nach geraumer Zeit, dass die nun folgenden Worte dem Ursprung nach nicht mehr Magda Goebbels, sondern ihrer Tochter Helga zuzuschreiben sind. Ebenfalls verweist das in Folge häufiger gebrauchte Personalpronomen „ich“ darauf, dass Helga ab diesem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr als ein – im wörtlichen Sinne – Sprachrohr ihrer Mutter fungiert, sondern wieder eigenverantwortliche Äußerungen tätigt. Dass es sich bei dem obigen Textausschnitt um die Stimme Helga Goebbels’ handelt, die die Stimme ihrer Mutter unmarkiert in die eigene Aussageinstanz einfließen lässt, wird demnach nicht deutlich, wenn diese Stelle isoliert betrachtet wird. Einzig die Kenntnis des poetologischen Prinzips der gesamten Narration – nämlich abwechselnd Hermann Karnau und Helga Goebbels neben der narrativen Instanz als einzige Figurenstimmen erzählen zu lassen – erlaubt die Schlussfolgerung, dass es sich bereits zu Beginn des Kapitels um die Stimme Helgas handelt, die ihre Mutter ohne einleitende Worte zitiert. Welche Konsequenzen hat diese formale Finesse nun für die Analyse der Textstelle? Hierzu muss der Inhalt der Äußerungen freilich mitbedacht werden. Die Rede der Mutter von einem „unermeßlichen Echogebiet“ (s. o.) lässt sich als eine Metapher für die innerfamiliäre Rolle der eigenen Tochter verstehen: Auch Helga ist als „Echogebiet“, d. h. als ein Raum des Widerhalls, der Stimmen aufnimmt und wiedergibt, scheinbar unbegrenzt. Die Stimmen der Eltern und, wie im Anschluss noch gezeigt wird, der jüngeren Geschwister, werden von ihr bereitwillig aufgenommen und zugleich reflektiert. Ähnlich der mythologischen Gestalt Echo wird Helga dazu verdammt, die Worte der anderen wiedergeben zu müssen, was zu Last der eigenen Stimme geht: Zwar kann Helga – im Unterschied zu der Gestalt aus dem Mythos – noch eigenverantwortliche Äußerungen tätigen, aber sie muss die eigene Stimme den fremden unterordnen, was sukzessive zu einem deutlichen Gefühl des Missbehagens bei Helga führt. Ihre Aussage, sie könne „nicht frei atmen“ und sei deshalb von der Landschaft abgelenkt (s. o.), scheint ursächlich doch über die von ihr selbst vermutete Anstrengung durch die Bergluft oder den zu engen Kragen des Kleides (s. o.) hinauszugehen. Helga bleibt in dem oben zitierten Ausschnitt nicht nur in einem wörtlichen Sin-

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ne die Luft weg, sondern im Zuge der familiären Vereinnahmung auch die eigene Stimme, welche nach und nach den Stimmen der anderen weichen muss. Ein Beispiel für die stimmliche Dominanz der Geschwister über Helga findet sich kurz vor dem Eintritt der gemeinsam erlebten Katastrophe, d. h. vor dem finalen Übergriff durch die Eltern in Form der Tötung der Geschwister. Die Kinder treffen im Führerbunker auf ihren früheren väterlichen Freund Hermann Karnau und tauschen sich mit ihm über die Erlebnisse der vergangenen Jahre aus, in denen sie einander nicht mehr gesehen hatten. Helga gibt den Dialog wieder, indem auch die Stimme Hermann Karnaus nahtlos, d. h. abermals ohne Anführungszeichen und ohne verba dicendi, in die eigene Aussageinstanz eingefügt wird: Hilde will wissen, was Herr Karnau in der ganzen Zeit gemacht hat. Erzählt doch ihr erstmal. Wie geht es euch denn überhaupt? Ganz gut. Seid ihr auch erst eben eingetroffen? Ja. Vor ein paar Stunden. Und vorher wart ihr in Schwanenwerder? Ja. Aber zuletzt hier in der Stadt in der Hermann Göhring-Straße. Doch nur drei Tage. Vorher war es noch schön, in Schwanenwerder. Aber auch nicht mehr ganz so schön wie früher. Warum? Holde weiß keine Antwort. Helmut sagt: Da waren so viele Leute bei uns. Heide erinnert sich: Manchmal ging abends das Licht aus, im ganzen Haus. Einmal hatten wir Angst, unsere Mama war nicht da, und Papa auch nicht. Auf einmal war es ganz dunkel, dabei hatte keiner den Lichtschalter berührt. Ein Stromausfall? Ja, sowas. Und Papa kam erst spät nach Hause. (Beyer, Flughunde, S. 251 f.)

Das obige Zitat stellt lediglich einen kleinen Auszug aus dem von Helga wiedergegeben Gespräch zwischen den Geschwistern und Hermann Karnau dar, erweist sich aber aus formaler Perspektive als exemplarisch für den Gesprächsverlauf. Während die Stimme Hermann Karnaus sich vergleichsweise problemlos identifizieren lässt – es handelt sich um die Antwortstimme, die sich an ein „ihr“, d. h. an das Kollektiv der Kinder wendet – lassen sich die einzelnen Kinderstimmen nicht mit Bestimmtheit zuordnen. Nach der anfänglichen Information, dass sich Hilde dafür interessiert, wie Hermann Karnau seine Zeit verbracht hat, wird in dem anschließenden Gespräch nicht deutlich, mit wem von den Kindern sich der Stimmenforscher unterhält: Offensichtlich wechseln sich die Kinderstimmen ab und lassen sich nur dann genau identifizieren, wenn Helga in Ausnahmefällen die Namen ergänzt.

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Der Effekt dieser Beliebigkeit von Kinderstimmen besteht darin, dass sie die jüngeren Kinder als eine untrennbare Gruppe erscheinen lässt, die sich gewissermaßen Zutritt in die Stimme der älteren Schwester verschafft. Wie zuvor bereits die Eltern, ergreifen nun auch die jüngeren Geschwister – im Einzelfall austauschbar, insgesamt aber als eine Einheit – von Helga Besitz; sie ist das Medium, durch das gesprochen wird und das somit aus dem Kollektiv bis zu einem bestimmten Grade ausgeschlossen ist. Helga wird von den Eltern und den Geschwistern gleichermaßen beansprucht, was dazu führt, dass die eigene Stimme von den fremden Stimmen durchsetzt ist und von diesen aufgezehrt wird. Für das älteste Kind der Familie lässt sich keine Rolle finden: Bevor ihr Leben von den eigenen Eltern ausgelöscht wird und sie auch aus medizinischer Sicht zu existieren aufhört, ist ihr Dasein als unabhängiges Individuum in einem übertragenen Sinne bereits beendet. Kurz vor ihrem Tod fungiert Helga primär als das Sprachrohr von Eltern und Geschwistern; die eigene Stimme hat Platz gemacht für fremde Bedürfnisse und besteht nur noch als Kommunikationsträger in den Diensten der anderen. Die Verbindung von Polyphonie und Instabilität lässt sich, so hat die obige Untersuchung gezeigt, auf verschiedene Weise ausgestalten. Grundsätzlich kann man innerhalb der beiden betrachteten Texte zwischen zwei Formen unterscheiden, die sich als entweder positiv für die Figuren erweisen oder aber zu ihrem Scheitern beitragen. Gemein ist ihnen aber ein genereller Bezug zu den dargestellten Familienmodellen, mit denen die diversen Spielarten der Mehrstimmigkeit eine enge Bindung eingehen. Als eindeutig zuträglich für die Entwicklung der Figur erweisen sich die Formen der Mehrstimmigkeit, die an Claudia MacTeer gekoppelt sind. Ihre Stimme ist als intratextuelle polyphone Figurenstimme ausgestaltet, die sich durch die Inklusion fremder Zitate der innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren auszeichnet. Ihre Wiedergabe der fremden Worte folgt einer konventionellen Zitierweise, die die eingefügte Stimme grundsätzlich durch Anführungszeichen und häufig auch ergänzende verba dicendi kenntlich macht und von der eigenen Stimme absetzt. Auf diese Weise wird formal abgebildet, was für die Entwicklung Claudia MacTeers eine wichtige Rolle spielt: Sie vermag sich von den auf sie einströmenden Stimmen abzugrenzen und sich selbst diesen gegenüber klar zu positionieren. Dies wird besonders deutlich anhand ihrer Beziehung zu den Erwachsenen in ihrem Umfeld: Diese bilden einen Gegenpol zu der kindlichen Welt von ihr selbst und ihrer Schwester Frieda und fungieren auf diese Weise als ein Reibungspunkt und Ort der Sicherheit zugleich. Das Kollektiv der Erwachsenen hat für sie nichts Bedrohliches, sondern wird als eine Sicherheit bietende Gemeinschaft empfunden, von der sich Claudia als Kind ihrer natürlichen Rolle gemäß abgrenzt und in die sie sich später offensichtlich erfolgreich eingegliedert hat.

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Auch der mit einer intratextuellen polyphonen Figurenstimme ausgestattete Hermann Karnau weist ein spezielles Verhältnis zu dem Phänomen der Mehrstimmigkeit auf. Anders als Claudia MacTeer lassen sich die von ihm übermittelten Zitate jedoch weniger eindeutig von der eigenen Stimme abgrenzen und scheinen gewissermaßen problemlos in die Aussageinstanz hinein- und wieder hinauszugleiten. Dieser Mangel an Abgrenzung führt bei ihm allerdings nicht zu den Problemen, die sich für die Figur Helga Goebbels ergeben haben: Hermann Karnau wird bereits als Erwachsener in die Narration eingeführt, der sich von den Eltern unabhängig in der Gesellschaft bewegen und den Alltag bewältigen kann. Sein Defizit, sich von fremden Stimmen abzuschotten, birgt für ihn in der Summe mehr Vorteile denn Nachteile. Wenngleich er es als unangenehm empfindet, die auf ihn einstürzenden Stimmen nicht in einem einfachen Sinne ‚ausschalten‘ zu können, so erweist sich seine herausragende Sensibilität für stimmliche Phänomene doch als ein Rettungsanker, um sich in den höchst instabilen Kriegszeiten den verschiedenen Situationen anzupassen. Auf diese Weise gelingt ihm der problemlose Wechsel von einem alleinstehenden Mann zu einem Quasi-Mitglied der Goebbels-Familie, deren Kinder er zeitweise hütet. Als die wohl größte Veränderung dürfte ihm allerdings die im Zuge seiner Flucht angestrebte Wandlung von einem Mittäter des Naziregimes hin zu einem wehrlosen Opfer gelungen sein, für die er sich Stimme und Habitus der Gepeinigten aneignet. Karnaus Nähe zu fremden Stimmen ist derart intensiv ausgestaltet, dass selbst eine narrative Metalepse nicht als solche wahrgenommen wird, sondern die Kommunikation Karnaus mit der narrativen Instanz wie selbstverständlich in den Text integriert scheint; eine formale Finesse, die bei einem genaueren Hinschauen die charakterliche Komponente Karnaus, sich mühelos mit anderen Stimmen zu verbinden, auch auf die Ebene des discours überträgt. Einem formal ähnlichen Konzept folgt die ebenfalls als intratextuelle polyphone Figurenstimme gestaltete Figur Helga Goebbels in Beyers Flughunde. Für Helga bedeutet die offene Konzeption der eigenen Stimme, die fremde Stimmen ungefiltert aufnimmt, allerdings ein deutliches Hemmnis in der persönlichen Entwicklung, das sie in der letzten Zeit ihres jungen Lebens in einem bildlichen Sinne aufzehrt. Als ältestes Kind der als ausgesprochen fragil dargestellten Familie Goebbels wird die instabile Stimme von Helga zum Ausdruck ihrer Rolle innerhalb der Familie: Für sie ist das Dazwischen konstitutiv, auf das sowohl die Bedürfnisse der Eltern, als auch die der jüngeren Geschwister einstürzen. Bereitwillig nimmt sie die Ansprüche anderer auf und lässt dabei das Fremde immer mehr das Eigene verdrängen. Als sie letztlich ihren physischen Tod durch die Hand ihrer Eltern erfährt, hat ihre innere Persönlichkeit schon keinen

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großen Anteil mehr an einem selbstbestimmten Leben; Helga stirbt als Projektionsfläche und Kommunikationsmedium der Bedürfnisse ihrer Familie. Auch das scheiternde Leben von Pecola Breedlove weist einen engen Zusammenhang zu dem Phänomen der Polyphonie auf. Anders aber als Helga Goebbels, die als polyphone Figurenstimme agiert und deren Stimme in einem längeren Prozess nach und nach aufgezehrt wird, findet sich das Merkmal der Mehrstimmigkeit erst als das Ergebnis eines degenerativen Prozesses: Die Figur Pecola ist nicht per se als mehrstimmig konzipiert, sondern entwickelt im Anschluss an die von ihrer Familie erlittenen Qualen (der Vater vergewaltigt und schwängert sie, die Mutter lässt sie mit ihren Nöten alleine) eine psychische Störung. Infolge dieser beginnt Pecola, die Stimme einer real nicht existenten Freundin zu hören und mit dieser zu kommunizieren; diese Form der Mehrstimmigkeit wird als figural-konstruierte Stimme in den Text integriert. Die imaginäre Konstruktion einer weiblichen Bezugsperson ist an dieser Stelle also das direkte Resultat des Scheiterns einer Herkunftsfamilie: Die Spaltung der Persönlichkeit und das damit einhergehende Plus an Stimme ist der krankhafte Versuch, den Mangel an familiärer Stabilität und Geborgenheit zu kompensieren. Gespiegelt wird dieser Prozess des Zugrundegehens anhand der bis zur Unkenntlichkeit variierten Zitate aus einem Schulbuch, die den von der zitierendpolyphonen narrativen Instanz vermittelten Abschnitten vorangestellt werden: Hier sind bei der Beschreibung einer vermeintlichen Bilderbuch-Familie Grammatik und Satzbau ebenso zusammengebrochen wie die zusammenhaltstiftenden Strukturen innerhalb der Familie Breedlove. Polyphonie, so lässt sich für The Bluest Eye und Flughunde resümieren, tritt in beiden Texten als ein discours-Phänomen auf, das auf je spezifische Weise nicht von dem innerhalb der histoire dargestellten Zusammenbruch familiärer Strukturen zu trennen ist.

5 Varianten und Anwendungspotenziale narrativer Polyphonie: Ein Resümee Das Problem der Polyphonie ist mit grundsätzlichen Fragen der Literatur- und Erzähltheorie verknüpft und steht zugleich in einem engen Zusammenhang mit einer Vielzahl sozialer Konflikte, die in literarischen Texten dargestellt werden. Es hat sich gezeigt, dass die erzähltheoretische Kategorie der ‚Stimme‘ sowie das kommunikative Ausdrucksmittel der Stimme sich in einem doppelten Sinne als das Bindeglied von formaler und inhaltlicher Gestaltung erweist: Aus narratologischer Perspektive handelt es sich bei ihr um eine Kategorie der formalen Gestaltung, die retrospektiv aus der Strukturanalyse des Textes gewonnen wird. Dieses discours-Phänomen der ‚Stimme‘ transportiert mit der erzählten Welt wiederum einen speziellen Inhalt, der das stimmliche Potenzial aus einer anderen Perspektive aufgreift und reflektiert: Als subjektives Ausdrucksmittel der agierenden Figuren fungieren Stimmen als Instrumente, die den Austausch zwischen Individuen ermöglichen und zugleich soziale Spannungen darstellen. Aufgrund der Singularität einer jeden Narration sind diese freilich auf je spezifische Weise gestaltet, jedoch stellte sich bei der Lektüre der in dieser Arbeit untersuchten Texte heraus, dass sie sich letztlich auf bestimmte Grundmuster zurückführen lassen, die einer binär-oppositionellen Struktur folgen und unter dem Oberbegriff der Subjektkonstitution subsumiert werden können. So kreisen die verhandelten sozialen Konflikte um die drei Schwerpunkte der Identitätsbildung (Individuum vs. Kollektiv), der Wahrnehmung (Schein vs. Sein) und der Kommunikation (geglückter Austausch vs. scheiternder Austausch). An dieser Stelle lässt sich also bereits ein Zwischenfazit ziehen: ‚Stimmen‘ vermitteln nicht nur Erzählungen auf der Ebene des discours, sondern sie interagieren auch als Instrumente auf der Ebene der histoire und stellen auf diese Weise Formen sozialer Differenzen dar. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick schlicht anmuten, sie birgt allerdings bei einem genaueren Blick auf die Verbindung der beiden Ebenen ein enormes heuristisches Potenzial: Erzählen und Erzähltes existieren auch als polyphone Phänomene nicht ohne eine bestimmte subtile Verknüpfung, die allerdings leicht übersehen wird und in ihrer Elaboriertheit bisher noch keine Beachtung gefunden hat. Die Ebenen stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander und stellen die sozialen Konflikte auf eine vielschichtige Weise dar, indem die jeweils gewählte Form der narrativen Gestaltung mit dem transportierten Inhalt korrespondiert. Um nun dieses spezielle Wechselverhältnis von discours und histoire erkennen zu können, bedarf es eines heuristischen Schlüssels, der literarische Texte aus einem neuen Blickwinkel fokussiert und eben jene kunstvolle Differenzierthttps://doi.org/10.1515/9783110668810-006

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heit, mit der fiktionale Narrationen gesellschaftliche Spannungen formal wie auch inhaltlich transportieren, herausarbeitet. Hierbei rücken drei zusammenhängende Dimensionen in den Vordergrund: Die systematische Dimension, die zu einer formalen Kategorisierung verhilft, die thematische Dimension, welche verschiedene Varianten der Subjektkonstitution herausarbeitet, und letztlich die historische Dimension, die die narrativen Konstrukte als Ausdruck kulturgeschichtlicher Phänomene begreift. Spezifiziert handelt es sich bei der systematischen Dimension um die hier erstellte Typologie potenzieller Varianten von Mehrstimmigkeit, die gleichermaßen im Anschluss an und in Abgrenzung zu bereits bestehenden literaturtheoretischen Überlegungen zum Aspekt der Polyphonie erstellt wird. Die thematische Dimension zielt auf den Prozess der Identitätsbildung ab, der sich in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu den in den Texten dargestellten sozialen Konflikten befindet. Die historische Dimension stützt sich auf eine diachrone Reihe von Narrationen, die die erstellten Kategorien polyphonen Erzählens als transepochal nachweist. Grundsätzlich ist hier zu bemerken, dass die verschiedenen Varianten der Mehrstimmigkeit klar voneinander unterschieden werden können, während thematische und (sozio-)historische Bezüge untrennbar miteinander verbunden sind. Um zu einer systematischen neuen Sichtweise auf die Texte samt einer Typologie der Beschreibungsmöglichkeiten zu gelangen, wurden zunächst bestehende Ansätze reflektiert, die eine Verbindung zu der Kategorie der ‚Stimme‘ in Erzähltexten aufweisen. Ausgehend von Gérard Genettes Unterscheidung zwischen den beiden narratologischen Kategorien der ‚Stimme‘ und der ‚Fokalisierung‘, die sich als ausgesprochen fruchtbare Basis erwiesen hat, wurden verschiedene literaturtheoretische Ansätze diskutiert, die alle in Verbindung mit der Frage nach einer Vervielfältigung von Stimme(n) stehen. Michail Bachtins Konzepte der Dialogizität und des polyphonen Romans wurden als Formen der ‚Stimmenpluralität‘ reflektiert, die eine Mehrzahl an Meinungsäußerungen in Fiktionen zur Grundlage ihres Erkenntnisinteresses erheben. Anschließend wurden aus dem von Wayne C. Booth beschriebenen Phänomen des unzuverlässigen Erzählens wertvolle Anregungen gewonnen, narrative Instanzen auf eine besondere Form polyphonen Erzählens hin zu untersuchen, in welcher sich eine zuverlässige ‚Stimme‘ mit einer unzuverlässigen ‚Stimme‘ innerhalb einer narrativen Instanz abwechselt. Der erstmalig von Etienne Lorck in die erzähltheoretische Diskussion eingeführte Terminus der erlebten Rede fußt auf einer grundsätzlichen Verquickung der ‚Stimme‘ einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz mit dem Wahrnehmungshorizont einer intradiegetischen Figur und macht so auf die außerordentlichen Möglichkeiten fiktionalen Erzählens aufmerksam, bei dem ‚Stimme‘ und Bewusstsein – anders als im alltäglichen Erzählen – nicht denselben Ursprungsort besitzen müssen.

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Der im Anschluss diskutierte Skaz-Begriff aus dem russischen Formalismus liefert insofern wertvolle Anregungen für das Konzept narrativer Polyphonie, als er auf den Aspekt einer suggerierten Mündlichkeit, d. h. einer anderen Form der ‚Stimme‘ in Erzähltexten, hinweist und somit für eine Vielzahl potenzieller Aussagestile sensibilisiert. Das als Abschluss der theoretischen Zugriffe vorgestellte Begriffsverständnis der Intertextualität nach Gérard Genette, das auf einem eindeutigen Bezug zwischen Zitat und Prätext basiert, dient als Ausgangspunkt einer bestimmten Variante der Polyphonie, deren Vielstimmigkeit auf der wörtlichen Wiederholung bereits getätigter Aussagen gründet. Die Auseinandersetzung mit den bisher innerhalb der Literaturtheorie und Narratologie vertretenen Ansätzen hat zu der Erkenntnis geführt, dass für den speziellen Fall der schriftlich-fiktionalen Erzählung zunächst ein eigenständiger Begriff gefunden werden muss, der sämtliche Sprechsituationen, aber auch Rezeptionsvarianten von Stimmen in Erzähltexten erfasst. Grundlegend hierfür war, dass zunächst die von Genette postulierte Verbindung von ‚Stimme‘ und ‚Person‘ für die narrative Instanz aufgegeben wurde, um sich dem Phänomen der Polyphonie überhaupt nähern zu können, da jede Person – im Sinne einer gedanklichen Anbindung an die Vorstellung von einem Menschen – einstimmig ist und zu unnötigen Restriktionen bei der Textanalyse führt. Zudem galt es zu berücksichtigen, dass eben nicht ausschließlich die narrative Instanz über eine ‚Stimme‘ verfügt, sondern auch die von ihr hervorgebrachten Figuren sich verbal artikulieren und untereinander in einen sprachlichen Austausch treten. Außerdem wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass auch dort eine Äußerung rezipiert werden kann, wo de facto keine getätigt worden ist und es sich lediglich um ein fehlgedeutetes Geräusch oder um eine Einbildung des Hörenden handelt. In beiden Fällen wird hier das Gehörte als vermeintliche Stimme erst im Kopf des intradiegetischen Rezipienten konstruiert, die möglichen Folgen dieser intellektuellen Fehlleistung innerhalb der erzählten Welt entsprechen aber denen einer tatsächlichen Äußerung. Um diese heterogenen Phänomene verbalen Ausdrucks und akustischer Rezeption abzudecken, wurde der Terminus der Aussageinstanz begründet, der allen Kategorien der sich anschließenden Typologie übergeordnet ist und gleichermaßen sprachliche Äußerungen wie auch Rezeptionen auf den Ebenen der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz und der der Figurenstimmen erfasst. Ziel dieses Ansatzes, dieses speziellen Wahrnehmungsrasters ist es nun, als eine Art ‚Brille‘ für Erzählstrukturen zu fungieren und zugleich mit einer Metasprache zu operieren, die zudem eine Verbindung zu bestimmten inhaltlichen Diskursen schafft. Anhand einer Vielzahl von Beispieltexten wurde eine Typologie verschiedener Varianten von Polyphonie etabliert, die in Form von Kategorien den subtilen Strukturen mehrstimmigen Erzählens Rechnung trägt und die narrativen

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Phänomene beschreibbar macht. Die Systematik gründete hierbei auf einer Mischung aus induktiven und deduktiven Verfahren. So wurden zunächst theoretische Überlegungen angestellt, welche Möglichkeiten der Polyphonie in schriftlich-fiktionalen Erzähltexten realisierbar erscheinen. In Ergänzung hierzu wurde ein breites Textkorpus untersucht, das aufgrund seiner transepochalen und komparatistischen Ausrichtung eine ausgesprochen heterogene Mischung diverser Formen und Funktionen des Erzählens garantiert. Folgende typologische Formen konnten auf diese Weise erstellt werden: Für die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz wurden drei Unterscheidungen getroffen, die polyphone Narrationen von denjenigen unterscheiden, die im Hinblick auf das mehrstimmige Erzählen unauffällig sind. So wurde zunächst die polyphone narrative Instanz als eine Bezeichnung für diejenigen narrativen Instanzen gewählt, die eine bestimmte Divergenz innerhalb ihrer Struktur erkennen lassen und auf diese Weise den Eindruck vermitteln, es stünden mehrere Varianten des berichteten Geschehens nebeneinander. Eine spezielle Spielart dieser Kategorie stellt die zitierend-polyphone narrative Instanz dar, die ihre Mehrstimmigkeit nicht durch einen inhaltlichen Widerspruch, sondern durch die Eingliederung einer fremden Stimme in Form eines Zitates generiert. Den Gegensatz zu den voneinander klar abgrenzbaren Stimmen bildet die kollektive narrative Instanz, welche die gemeinsame Haltung eines Kollektivs übermittelt und durch diese Bündelung einer Vielzahl von Stimmen als mehrstimmig ausgewiesen ist. Anschließend wurde der Fokus auf die intradiegetische Erzählebene gerichtet und mit der polyphonen Figurenstimme eine Kategorie eingeführt, die Figuren bezeichnet, welche sich durch die Verwendung fremder Stimmen, d. h. durch den Akt des Zitierens, auszeichnen. Zudem findet sich auch auf der Ebene der Figuren eine Variante kollektiver Äußerungen, die nun mit dem Terminus der kollektiven Figurenstimme aus formaler Sicht beschreibbar sind. Abgeschlossen wird die Typologie durch die Kategorie der figural-konstruierten Stimme, für die eine spezielle psychische Konstitution der sie hörenden Figur konstitutiv ist. Diese grundsätzliche Anbindung an eine (oder mehrere) rezipierende Figur(en) überwindet die zuvor zugrunde gelegte Differenzierung von ‚polyphon‘ und ‚kollektiv‘ und verschiebt den Fokus explizit auf die subjektive Perzeption des Hörers, in dessen Kopf die Stimme erst als solche konstruiert wird. Betrachtet man nun die im Rahmen der erstellten Typologie und die in den komparatistischen Analysen verwendeten Textbeispiele, so wird deutlich, dass es sich beim polyphonen Erzählen um ein Phänomen handelt, das in verschiedenen Formen und transepochal auftritt; grundsätzlich ist jeder Typus zu jeder Zeit denkbar und es ließen sich wohl jeweils entsprechende Beispiele auch in sämtlichen Nationalphilologien finden. Neben diesem breiten und vielfältigen

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Vorkommen polyphonen Erzählens lassen sich aber auch aus den hier gewählten Exempla vorsichtige Tendenzen mit Blick auf epochenspezifische Charakteristika innerhalb der einzelnen Nationalphilologien ablesen. So weist der im Jahre 1841 erschienene Text „The Murders in the Rue Morgue“ von Edgar Allan Poe eine figural-konstruierte Stimme auf, die mit einem innerhalb der amerikanischen Romantik besonders fokussierten Thema in einer direkten Verbindung steht und eine vermeintlich rational erkennbare Wirklichkeit als eine grundsätzlich subjektive Konstruktion entlarvt. Auf diese Weise gelingt es Poe, der aufgrund seiner fehlenden Auseinandersetzung mit nationalspezifischen Stoffen seinerzeit noch als vergleichsweise ‚unromantisch‘ – im Sinne von nicht konform mit den Wünschen des zeitgenössischen Lesepublikums – galt, ein zunehmend virulentes Thema der Epoche in den Fokus zu rücken. Denn mit der von gleich mehreren Figuren unabhängig voneinander gebildeten figural-konstruierten Stimme wird die im 19. Jahrhundert sukzessiv zunehmende Skepsis gegenüber einer gesicherten Erkenntnis der Welt mittels der noch in der Aufklärung gefeierten Ratio in die Literatur übertragen, und zwar gleichermaßen auf die Ebenen des Erzählens und des Erzählten. Poe führt auf diese Weise das zeitgenössische Vertrauen in die Strömungen des Empirismus und Rationalismus gleichermaßen ad absurdum: Die scheinbar gesicherten Erkenntnisse über die Sinne (d. h. in diesem speziellen Falle die Affenlaute, die fälschlicherweise als menschliche Äußerungen gehört werden), die mit den vermeintlich logischen Fähigkeiten der Ratio verknüpft werden (d. h. als Teil eines Streitgespräches zweier Menschen interpretiert werden), stellen in ihrem Ergebnis nichts weiter als eine subjektive Konstruktion von Wirklichkeit dar, die mit der tatsächlichen intradiegetischen Realität nicht kongruiert. Somit reiht sich der von Poe verwendete Typus mehrstimmigen Erzählens in die Reihe ein, die in dem historischen zweiten Teil zur Spätaufklärung und Romantik ebenfalls anhand von Charles Brockden Browns Wieland und für den deutschsprachigen Bereich mit E. T. A. Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ vorgestellt worden ist. In Browns Wieland und Hoffmanns „Die Bergewerke zu Falun“ findet sich mit der figural-konstruierten Stimme ebenfalls die wohl komplizierteste Variante der Polyphonie auf der intradiegetischen Ebene, da diese Form der Mehrstimmigkeit zunächst über eine genaue Analyse der Psyche der stimmenhörenden Figur erschlossen werden muss. Und auch in diesen beiden Texten dominiert auf der Ebene der histoire die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung in einer Zeit, die sich durch ein Spannungsfeld zwischen dogmatischer Religiosität und aufstrebendem Wissenschaftsglauben auszeichnet. Somit erweist sich für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Mehrzahl von Narrationen die figural-konstruierte Stimme als eine spezielle

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Form narrativer Gestaltung, um dem seinerzeit drängenden Thema der subjektiven Wahrnehmung in fiktionalen Erzählungen Ausdruck zu verleihen. Während aus geistesgeschichtlicher Sicht deutliche Überschneidungen innerhalb beider Nationalphilologien in der Skepsis gegenüber einer Verabsolutierung von Empirie und Rationalismus bestehen und dieses Sujet eine Vielzahl von Texten der Romantik auf beiden Seiten des Atlantiks eindeutig verbindet, zeigt sich vor allem innerhalb der Epoche des Realismus ein diversifiziertes Bild, das sich in einzelnen Strömungen niederschlägt und zugleich Eingang in die formale Gestaltung der Texte findet. Die in der Typologie vorgestellte Kurzgeschichte „A New England Nun“ von Mary E. Wilkins Freeman weist die erzähltechnische Besonderheit einer polyphonen narrativen Instanz auf. Aus literaturhistorischer Perspektive ist sie als ein Exemplum der local color fiction unter der gleichen Strömung realistischen Erzählens in Amerika zu subsumieren, wie der im historischen Teil vorgestellte Roman The Awakening von Kate Chopin, der ebenfalls durch eine polyphone narrative Instanz gekennzeichnet ist. Wie auch in Chopins Text, wird in „A New England Nun“ ein Frauenschicksal in den Mittelpunkt gerückt und die Frage aufgeworfen, wie der Versuch einer weiblichen Identitätsfindung am Ende des 19. Jahrhunderts glücken kann und welche Möglichkeiten zufriedenstellender Lebensentwürfe realisierbar sind. Dieser inhaltliche Aspekt ist noch kein besonders Kennzeichnen des amerikanischen Realismus, bedenkt man vor allem die oftmals als ‚Frauenromane‘ bezeichneten Texte von Theodor Fontane im deutschsprachigen Raum oder beispielsweise die Werke großer Realisten wie Gustave Flaubert und Leo Tolstoi, die mit Emma Bovary und Anna Karenina weibliche Figuren geschaffen haben, die weltberühmt geworden sind. Eine inhaltliche Besonderheit liegt in der speziellen Typisierung beider Protagonistinnen in den hier vorgestellten Texten der local color fiction: Louisa Ellis stellt eben nicht den häufig in realistischen Narrationen anzutreffenden ‚Durchschnittstypus‘ einer Dame innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsschicht dar, sondern sie ist gezeichnet als ein regionaler Typus, als eine alleinlebende Frau, deren Lebenspartner, so wird zu Beginn der Narration deutlich, sie bereits vierzehn Jahre zuvor in Richtung Australien verlassen hatte. Zusammen mit dieser typischen Repräsentantin im ländlich geprägten New England stellt Freeman eine Region dar, der im ausgehenden 19. Jahrhundert längst nicht mehr die Zukunft Amerikas gehört und deren Niedergang sich auch in solitären Lebensformen und einer gewissen Perspektivlosigkeit der Bewohner spiegelt. Die spezielle Strömung der local color fiction ist inhaltlich noch stark romantisch geprägt und weicht mit Blick auf die Auswahl der sonderlichen Charaktere und deren regional-spezifischen Lebensumstände deutlich von den Figuren ab, die beispielsweise in den realistischen Romanen von Mark Twain, Henry James oder William Dean Howells verewigt sind.

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Anhand der exemplarischen Analysen von „A New England Nun“ innerhalb der Typologie und The Awakening im Rahmen der historischen Interpretationen lässt sich diese Differenz zwischen Realismus und spezifisch regionalem Realismus nun auch auf formaler Ebene durch die in beiden Fällen gewählte polyphone narrative Instanz nachvollziehen. Diese weist in den Texten nämlich eine Gemeinsamkeit auf: Die Geschichten werden von einer jeweils zweistimmigen narrativen Instanz erzählt, deren eine ‚Stimme‘ das Geschehen mit dem Gestus eines detailliert berichtenden, das Geschehen vergleichsweise nüchtern betrachtenden Erzählers schildert. Die andere ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz weicht jedoch von diesem für den Realismus typischen, möglichst objektiven Schema der Darstellung ab und wirft einen idealisierenden Blick auf die intradiegetischen Ereignisse. Idealisierend sind die Aussagen dieser ‚Stimme‘ insofern, als keinerlei Informationen innerhalb der erzählten Welt auf eine Berechtigung ihrer optimistischen Einschätzung hindeuten und darauf schließen lassen, dass Louisa Ellis auch nach vierzehn einsam verbrachten Jahren sich auf eine gemeinsame Zukunft mit ihrem längst entfremdeten Verlobten freut. Der romantisierte Blick in Freemans Geschichte auf die angeblich geduldig wartendende Protagonistin ist demnach auch zugleich – auf einer zweiten, höheren Ebene – ein in hohem Maße ironisierter Kommentar, der das im ausgehenden 19. Jahrhundert noch verbreitete Frauenideal der passiven und rücksichtsvollen Partnerin verspottet. Denn auf ein lang ersehntes Wiedersehen mit Joe Dagget deutet nun wirklich nichts in dem Verhalten von Louisa Ellis hin; die Rückkehr ihres vor vielen Jahren entschwundenen Verlobten stört lediglich die Ordnung der Protagonistin und versetzt ihr Leben bis zu der endgültigen Trennung in eine stete Unruhe. Der gleiche Effekt stellt sich in Chopins Roman The Awakening ein, in dem neben einer sachlich-nüchternen narrativen Instanz eine zweite ‚Stimme‘ ebenfalls einen idealisierenden Standpunkt vertritt und der Protagonistin Edna Pontellier einen geistig-seelischen Reifeprozess unterstellt, der de facto innerhalb der erzählten Welt nicht stattfindet. Auch hier entwickelt sich der Lebensweg der Hauptfigur in einem scharfen Kontrast zu den angeblichen, von der unglaubwürdigen ‚Stimme‘ konstatierten Fortschritten der Hauptfigur und schafft so über die explizite Romantisierung dieser ‚Stimme‘ eine deutliche Ironisierung des weiblichen Werdegangs. Diese formale Finesse, die auch auf der Ebene des Erzählens die für die Literatur der local color fiction so typische Kombination aus Realismus und Romantisierung verbindet und zugleich auch wieder ironisch bricht, erreicht durch eben diese Struktur ein weiteres Merkmal regionalen Erzählens und führt in seiner Konsequenz letztlich zu einem resümierend-nostalgischen Blick in die Vergangenheit. Oder anders formuliert: Die realistische ‚Stimme‘ vermittelt, was tatsächlich geschieht, die romantisierende ‚Stimme‘ schafft einen idealisie-

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renden Gegenentwurf, der allerdings mit Blick auf die Fakten innerhalb der erzählten Welt nicht haltbar ist. Aus diesem ironischen Gemenge aus Realismus und Romantisierung ergibt sich ein gewissermaßen ‚bittersüßer‘ Blick zurück in eine vermeintlich bessere Zeit, in der die Ideale noch im Alltag gelebt wurden und die Beziehungen zwischen Mann und Frau in New England nicht dadurch verkompliziert wurden, dass die Männer eine im Abschwung befindliche Gegend verlassen mussten, um Arbeit zu finden. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Figur Edna Pontellier: Auch hier wird über die Romantisierung und gleichzeitige Ironisierung das Verlustgefühl einer lange zurückliegenden Zeit mit längst verlorengegangenen Werten beklagt, in welcher eine Dame in einer stolzen Gegend ihren Verpflichtungen nachkam und ihre Rolle im alten Süden noch zu spielen wusste. Die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz, die Edna Pontellier eine beständige Weiterentwicklung bescheinigt und ihr eine wachsende Selbsterkenntnis unterstellt, ist weit von dem entfernt, was in der erzählten Welt als gesichertes Wissen gelten darf: Die Protagonistin verliert nach und nach den Bezug zu sich und zu ihrer Umwelt, was letztlich in einem Gang in die offene See mündet. Von dem Idealbild einer selbstbewussten Frau, die um ihre Verpflichtungen als ‚Southern Belle‘ weiß und diesen Anforderungen mit der ihrer Rolle gebührenden Grazie nachkommt, ist Edna Pontellier am Ende des 19. Jahrhunderts ähnlich weit entfernt wie der Süden von seiner glorreichen Zeit. Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs rückt ein für den Realismus typisches Thema in den Vordergrund und widmet sich dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion auf besondere Weise. Der Roman folgt einer vergleichsweise komplizierten Erzählstruktur, in der eine polyphone Figurenstimme als Aussageinstanz erster Ordnung sämtliche Figuren zitiert, die wiederum Zitate in die eigene Stimme einfließen lassen. Zudem reflektiert Karl Krumhardt, der die ‚Akten‘ als eben jener extradiegetischer Berichterstatter zu Papier bringt, beständig seinen Schreibprozess und baut durch sein assoziatives schriftliches Erzählen häufige Zeitsprünge ein, die sich scheinbar ungeordnet zwischen der einige Jahrzehnte zurückliegenden eigenen Kindheit und der fiktionsinternen Gegenwart bewegen. Die für diesen Text konstitutive Gegenüberstellung von Fiktion und Wirklichkeit wird über die doppelte Polyphonie innerhalb seiner Stimme strukturiert und damit zusammenhängend über den besonderen Sprachgebrauch des Protagonisten Velten Andres konstruiert: Die polyphone Figurenstimme Karl Krumhardt zitiert Velten Andres, seinen Freund aus Kindheitstagen, der wiederum bei seinen eigenen Aussagen häufig Gebrauch von Zitaten macht, die zumeist aus dem Bereich realhistorischer literarischer Veröffentlichungen entlehnt sind. Durch diese Konstruktion ist die Stimme Veltens derjenigen von Karl untergeordnet, da seine Äußerungen gänzlich von den Entschei-

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dungen des Schreibers der Akten abhängen: In den Bericht werden ausschließlich die Sätze aufgenommen (und somit zitiert), die Karl Krumhardt erinnert und zugleich für seine Dokumentation als würdig erachtet. Dieses Verfahren bedingt nun die Darstellung eines spezifischen Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit (hier im Sinne von real erschienener Texte) in Wilhelm Raabes Roman: Karl Krumhardt zitiert als fiktive Figur eine zweite fiktive Figur, der wiederum Zitate aus realhistorischen Fiktionen zugeschrieben werden. Über den Bericht von Karl Krumhardt wird Velten Andres demnach als eine Figur aufgebaut, die sich durch den Rückgriff auf eine außertextuelle Wirklichkeit auszeichnet und folglich Elemente einer außertextuellen Realität – hier eben mittels realexistierender fiktionaler Zitate, wie beispielsweise die von Velten zitierte Ode an Behrisch von Johann Wolfgang von Goethe– unmittelbaren Eingang in den Roman finden. Mit anderen Worten: Die für den Realismus konstitutive Auseinandersetzung mit der Darstellung von Wirklichkeit findet auch in Raabes Text nicht nur als ein Phänomen der histoire Eingang in die Narration, sondern erweist sich zudem als ein strukturgebendes Prinzip auf der Ebene des discours. Eine Analogie findet sich in dem historischen Teil dieser Arbeit: Auch in Theodor Fontanes realistischen Roman L’Adultera findet sich die Konstruktion einer polyphonen Figurenstimme und Fontane weist auf diese Weise auf das Thema einer Verbindung von Kunst und Wirklichkeit sowie die Möglichkeiten seiner Darstellung hin. Präziser formuliert, wird in L’Adultera der Typus der intrasystemischen polyphonen Figurenstimme verwendet, der bei der Eingliederung der Zitate auf außertextuelle Äußerungen zurückgreift, die sich zugleich aber im Bereich fiktionaler Darstellungen bewegen. Folglich wird der Blick auf verschiedene Referenztexte und somit die Verknüpfung mit einer bestimmten Form der kontextorientierten Narratologie notwendig. In dieser Hinsicht findet sich eine Analogie zu dem Raabe-Text aus der Typologie: Die für den Realismus typische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Lebenswirklichkeit findet im wörtlichen Sinne als eine Form der Widerspiegelung von Realität – nämlich in Gestalt de facto existierender kunsthistorischer Zitate – statt. Auffällig ist für die Texte von Raabe und Fontane zudem die untrennbare Verknüpfung dieser wörtlichen Wiedergaben mit dem in den Fokus gerückten problematischen Geschlechterverhältnis: Während in Die Akten des Vogelsangs das sich wiederholende Goethe-Zitat als eine Art Mantra die beständige Seelenqual des unglücklich verliebten Velten Andres reflektiert, nutzt Fontane in L’Adultera die in den ehelichen Dialogen der van der Straatens verwendeten Zitate vorrangig, um den ironischen Umgang des Paares miteinander zu verdeutlichen; das uneigentliche Sprechen wird hier – getarnt als ein bildungsbürgerliches Spiel – zum Ausdruck eines zunehmenden Unvermögens, das eigentlich Gemeinte mit eigenen Worten zu verbalisieren.

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Richtet man den Blick auf die innerhalb der Typologie betrachteten deutschsprachigen Texte der sogenannten Moderne, so findet sich in den gewählten Beispielen eine gewisse thematische Nähe, die sich wiederum in verschiedenen Formen des polyphonen Erzählens niederschlägt. Die Texte von Leo Perutz und Friedo Lampe stehen hier exemplarisch für eine Epoche, in der die Phänomene eines subjektiven Zeitempfindens und der Traumzustand – kurz: das menschliche Bewusstsein und seine Wahrnehmung – mehr und mehr Eingang in literarische Texte finden. In Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun werden beide Themen auf besondere Weise verknüpft und zugleich mit einer polyphonen narrativen Instanz verbunden, die zu einem Geschehen (Stanislaus Demba stirbt auf seiner Flucht vor der Polizei durch den Sprung von einem Dachboden) mit jeweils einer ‚Stimme‘ zwei verschiedene Auflösungsmöglichkeiten präsentiert (Demba stirbt einige Augenblicke später versus Demba überlebt und irrt mit wenigen Blessuren noch zwölf Stunden durch Wien). Die mehrstimmige Erzählinstanz sorgt also dafür, dass der Rezipient bis zum Ende seiner (ersten) Lektüre an ein Weiterleben des Protagonisten glauben kann. Ein wiederholtes Lesen entlarvt freilich die raffinierte Erzählstruktur, die Perutz gewählt hat: Lediglich die ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz, die vergleichsweise wenig erzählerischen Raum zugestanden bekommt und am Ende nüchtern den Tod von Stanislaus Demba konstatiert, ist vertrauenswürdig und informiert zuverlässig über die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt. Die ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz, die den weitaus größten Redeanteil für sich beansprucht und eine geglückte Flucht des Protagonisten behauptet, ist als unzuverlässig einzustufen. Die Schwierigkeit, die sich mit dieser komplexen narrativen Struktur verbindet, liegt darin, dass die von der unzuverlässigen ‚Stimme‘ gelegten falschen Fährten bei einer erstmaligen Lektüre (noch) nicht als solche zu erkennen sind. Auch das zunächst naheliegende Fazit nach einer kompletten Lektüre, es handele sich bei der vermeintlich glücklichen Rettung des Protagonisten um die Traumvision eines Sterbenden, ist nach wiederholter Lektüre zu revidieren, da vor allem die Sätze, die ein stetes Voranschreiten der Zeit suggerieren, nicht unter Verwendung der internen Fokalisierung formuliert werden, sondern aus der Perspektive einer das Geschehen überblickenden narrativen Instanz, mittels der Nullfokalisierung bewerkstelligt werden. Mit anderen Worten: Nicht der Protagonist phantasiert während des Sterbens darüber, dass er seinen tollkühnen Sprung überlebt habe, sondern die unglaubwürdige ‚Stimme‘ innerhalb der narrativen Instanz versucht dem Leser weiszumachen, es handele sich um die Traumvision eines Sterbenden. Dieser Täuschungsversuch lässt sich durch eine genaue Analyse der Fokalisierungsstrategie innerhalb der unzuverlässigen narrativen Instanz entlarven. Die auf der Ebene der histoire in den Blickpunkt gerückten Themen eines (vermeintlichen) Traumes

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und dem damit verbundenen subjektiven Zeitempfinden finden also auf kunstvolle Weise Eingang in die Erzählstrategie des Textes: Das auf der inhaltlichen Ebene fokussierte Verschwimmen von Wirklichkeit und vermeintlichem Traum und die Divergenz zwischen dem realen Ablauf der Zeit und der subjektiven Einschätzung selbiger wird auf der Ebene des Erzählens durch das Nebeneinander zweier verschiedener ‚Stimmen‘ innerhalb der narrativen Instanz gespiegelt. Der Roman Zwischen neun und neun weist also eine besondere Konstruktionsweise der narrativen Instanz auf, die mit zwei unterschiedlichen ‚Stimmen‘ zwei miteinander konkurrierende Varianten der zeitlichen Abläufe erzählt: Die längere Version der einen ‚Stimme‘, die dem Leser bis kurz vor dem Einsetzen der glaubhaften narrativen Instanz am Schluss eine rätselhafte Geschichte vom Überleben und Sterben des Protagonisten vermittelt, und die deutlich weniger Raum beanspruchende glaubhafte ‚Stimme‘, die am Ende sachlich und vergleichsweise nüchtern den Tod von Stanislaus Demba konstatiert. Perutz wählt demnach für seine Erzählung eine narrative Instanz, die durch die detaillierte Beschreibung des seltsamen Lebens und Sterbens von Demba Elemente des Unheimlichen mit der realistischen Bestandsaufnahme und den Folgen von dessen Todessprung verbindet. Aus dieser Perspektive erweist sich Zwischen neun und neun bereits als eine Ankündigung des magisch-realistischen Erzählens und dessen spezielle Darstellung von Wirklichkeit: Hier halten das Unheimliche und Morbide Einzug in eine realistisch konzipierte Welt; bei Perutz zieht sich diese Dopplung bis in die Strukturierung des Textes und geht folglich über eine rein inhaltliche Darstellung hinaus. Perutz zeigt in seinem Roman eine Figur, deren Kampf um das eigene Überleben sich in einer inneren und äußeren Spannung vollzieht und präsentiert den in seinem freien Handeln eingeschränkten Menschen in all seiner schicksalhaften Getriebenheit. In einer erweiterten Linie dieser Erzählweise steht Friedo Lampes Septembergewitter als ein Exemplum, das mit seinem Erscheinungsjahr 1937 in die Hochphase magisch-realistischen Erzählens fällt. Bereits auf der histoire-Ebene lässt sich mit der Thematisierung eines rätselvollen Todesfalls, der die Stimmung innerhalb der erzählten Welt durchgängig durchzieht und unterschwellig prägt, eine Parallele zu Perutz’ rätselhaft-realistischer Todesdarstellung in Zwischen neun und neun ausmachen. Zugleich ist auch das Thema der Zeit verbunden mit ihrem subjektiv empfundenen Voranschreiten in den Fokus gerückt und findet Eingang sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours. Hierbei gelingt Lampe eine bemerkenswerte Darstellung verschiedener Formen von Simultaneität, die in einer Ästhetik des Nebeneinanders die Mechanismen filmischen Erzählens aufgreift und scheinbar unverbundene Mo-

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mentaufnahmen einer an einem Fluss gelegenen Stadt präsentiert. Wenngleich schriftliches Erzählen aufgrund seiner Materialität grundsätzlich seriell ablaufen muss, so nutzt Lampe mit dem Blickwinkel einer Gruppe, die aus einem Heißluftballon herabblickt, doch einen raffinierten Kunstgriff, um ein Panorama unterschiedlicher Figuren und Szenerien scheinbar simultan zu präsentieren. Dieser Eindruck einer Gleichzeitigkeit wird zusätzlich durch die Verwendung einer bestimmten Variante der Mehrstimmigkeit gestützt und über eine kollektive narrative Instanz vermittelt. Die Grundlage dieser Form der Polyphonie besteht in der kollektiven internen Fokalisierung der ‚Stimme‘, die über einen bestimmten Sprachgebrauch – häufig unter der Verwendung von Signalwörtern wie z. B. ‚man‘ – den Konsens einer homogenen intradiegetischen Gruppe zum Ausdruck bringt. Neben der Artikulation einer gemeinschaftlichen Haltung erfüllt die kollektive narrative Instanz zudem noch einen Zweck, der in einer engen Verbindung zur Strömung des magisch-realistischen Erzählens steht. Denn die kollektive narrative Instanz, so wurde aus der knappen Analyse des Textes innerhalb der Typologie gewonnen, meldet sich vorwiegend dann zu Wort, wenn es darum geht, eine unterschwellige Bedrohung der Gemeinschaft zu äußern. Das gemeinschaftlich empfundene Grauen, das sich mit dem zunächst noch nicht geklärten Mord an einer jungen Lehrerin verbindet und das die Bewohner allesamt erfasst, erweist sich als verbindungsstiftender Grundton der kollektiven narrativen Instanz. Auf diese Weise erfolgt eine Verknüpfung der scheinbar zusammenhangslos nebeneinander stehenden Einzelaufnahmen der Figuren: Zwar werden alle in verschiedenen Situationen isoliert voneinander beobachtet, aber sie agieren alle unter der im doppelten Sinne drückenden Grundstimmung des drohenden Gewitters und der Furcht vor dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefassten Mörder. Das Auftauchen der kollektiven narrativen Instanz ist auf diese Weise mit dem Grundton magisch-realistischen Erzählens verbunden und koppelt die formale Funktion einer polyphonen Äußerung mit dem inhaltlichen Aspekt einer als bedrohlich empfundenen Wirklichkeit. Das Sujet einer Verknüpfung von aneinandergereihten Ausschnitten in Kombination mit einem Mord greift auch William Faulkner in seiner Geschichte „A Rose for Emily“ auf seine Weise auf. Formal wird hier mit der kollektiven Figurenstimme eine Aussageinstanz genutzt, die es ermöglicht, die gemeinschaftliche Haltung einer gesamten kleinstädtischen Einwohnerschaft in eine einzelne Stimme zu übertragen. Dieses formale Unisono ist eng mit dem sozialen Konflikt verknüpft, der in Faulkners Narration verhandelt wird: Der eigentümlichen Protagonistin Emily Grierson steht das gesamte Kollektiv der Einwohnerschaft ihrer Heimatstadt Jefferson gegenüber, welches sie von früher Jugend an beäugt und ihr Verhalten zeitlebens kommentiert. Die achronische Erzählweise korrespondiert hier mit

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der – gewissermaßen ebenfalls aus der Zeit gefallenen – Hauptfigur: Genauso wenig, wie sich ein Erzählabschnitt chronologisch und stringent an den nächsten fügt, fügt sich Emily in das sukzessive modernisierte Miteinander der Gemeinschaft; sie ist das Relikt einer längst vergangenen Epoche, das keinen Eingang in das Kollektiv und seine gemeinschaftlich erhobene Stimme findet. Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft bestimmt auch thematisch Arthur Schnitzlers Erzählung „Der Empfindsame“ und wird gleichermaßen auf der discours-Ebene gespiegelt. Indem sämtliche Äußerungen des sensiblen Protagonisten ausschließlich über eine polyphone Figurenstimme vermittelt werden, wird die prekäre Situation von Fritz Platen deutlich; seine in einem Übermaß vorhandene Empfindsamkeit ist hier gleichbedeutend mit Fragilität und Selbstverlust, die formal über eine vollständige Stimmlosigkeit – seine Worte sind lediglich als zitiertes Zitat im Text vorhanden – zum Ausdruck kommt. Indem ein Freund des Verstorbenen den Brief von Fritz Platens ehemaliger Geliebten vorliest, erfährt die Stimme des Protagonisten einen doppelten Bruch und somit zugleich eine zweifache Abschwächung. Auf diese Weise wird die polyphone Figurenstimme zum Ausdrucksmittel einer fehlenden Sprachmächtigkeit der Hauptfigur, die zugleich mit einem grundsätzlichen Unvermögen korreliert, widrige Situationen im Leben zu bewältigen und Probleme konstruktiv zu lösen. Dieses Manko gipfelt letztlich in seinem Freitod, nachdem sich seine Geliebte von ihm getrennt hatte. Abermals ist das erzählerische Instrument der Mehrstimmigkeit eng mit dem thematischen Motiv der Paarbeziehung zwischen Mann und Frau verbunden; hier korrespondiert der Stimmgewinn der Frau mit dem Stimmverlust des Mannes, so dass die Verwicklungen des Geschlechterverhältnisses über eine verkomplizierte narrative Struktur abgebildet werden. Wendet man sich nun den unter den Oberbegriffen der Postmoderne bzw. Gegenwartsliteratur subsumierten Texten zu, so erweist sich bei aller Heterogenität der Narrationen ebenfalls das Thema der Identität als verbindend. Paul Auster entwirft in seinem Roman City of Glass ein narratives Verwirrspiel, in dem bereits auf den ersten Seiten die Detektivarbeit des Rezipienten eröffnet wird und der sich letztlich ergebnislos daran aufreibt, wenn er die Genettesche Frage: Wer spricht? zu beantworten versucht. In diesem Falle muss die Frage unbeantwortet bleiben, da ein scheinbar müheloser Wechsel von Identitäten – und somit einer verbindlichen dazugehörigen Stimme – für diese Erzählung konstitutiv ist: Erzählt wird der Roman von einer anonymen homodiegetischen polyphonen Figurenstimme, die den über weite Strecken als Ich-Erzähler auftretenden Autor Daniel Quinn zitiert, der unter dem Pseudonym William Wilson publiziert und nach dem verstörenden Anruf eines Fremden anfänglich die Identität einer fiktionalen Figur namens Paul Auster annimmt. Der anonyme Erzähler ist wiederum ein Freund von jenem fiktionalen Paul Auster und stützt

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sich bei seinem Bericht auf die schriftlichen Aufzeichnungen von Daniel Quinn, der sich die Identität seines Freundes gewissermaßen ‚ausgeliehen‘ hatte. Schon anhand dieser kurzen Ausführungen wird deutlich, dass sich das Thema der ‚Identität‘ als ein roter Faden durch den Text zieht und zugleich aber auch aufgrund der ebenso kontingenten wie letztlich unauflösbaren Kausalzusammenhänge innerhalb der erzählten Welt ins Leere läuft: Die sich verzweigende Mehrstimmigkeit der polyphonen Figurenstimme, deren eigene Identität aufgrund der Namenlosigkeit bis zum Ende unklar bleibt, wird in Austers Roman als ein Mittel genutzt, um das auf der Ebene der histoire verhandelte Thema der Unbestimmtheit auf die Ebene des discours zu übertragen. Anders als in den vorgestellten Texten der Romantik, in der die Wahrnehmung der Wirklichkeit noch als ein subjektives Konstrukt präsentiert wurde, wird hier jeglicher Entwurf von ‚Realität‘ als zufällig entlarvt: Angefangen mit einem verirrten Anruf, der seinen eigentlichen Adressaten nicht erreicht, kann die komplette Narration der polyphonen Figurenstimme nur darauf abzielen, den Leser auf die Suche nach Bedeutungen von Zusammenhängen innerhalb des Textes zu schicken, die letztlich nicht vorhanden sind, ja, es nicht sein können, da einzig der Zufall den Fortgang der Geschichte steuert. Der Blick wird also nicht nur auf die Konstruktion figuraler Identitäten gelenkt, sondern auch auf die damit verbundene Stimmenvielfalt, die durch ihre Uneindeutigkeit wiederum jegliche Einheit von Stimme und Identität dekonstruiert. Ebenfalls als metafiktional, d. h. auf den Status der künstlerischen ‚Gemachtheit‘ des Werkes hinweisend, erweist sich Gert Hofmanns Roman Der Blindensturz. Das Thema der Identität wird hier mit dem Verfahren der Verdopplung kombiniert und spiegelt sich gleichermaßen auf der inhaltlichen Ebene wie auch in der Verwendung einer kollektiven Figurenstimme auf der Ebene des discours. Ausgangspunkt der Narration ist das Gemälde „Der Blindensturz“ von Pieter Bruegel, das Gert Hofmann als Anregung nimmt, für den als Bild festgehaltenen Moment des Sturzes eine literarische Vorgeschichte zu ergänzen. Auf diese Weise wird im Bereich der Kunst das Motiv verdoppelt und findet neben der bildenden Kunst auch Eingang in die Literatur. Zudem findet der Akt der Verdopplung auch innerhalb der kollektiven Figurenstimme statt: Hier spricht eine homodiegetische Gemeinschaft in der Form eines kollektiven Wirs für sechs Figuren, die letztlich allerdings aus dem Zusammenschluss zweier anonymer Figuren besteht; vier weitere Figuren, für die sich geäußert wird, treten sukzessive als namentlich genannte Einzelfiguren hervor. Für die Verbindung von Polyphonie und Identität erweist sich demnach als maßgeblich, dass auch hier Identität nicht im Sinne einer singulären Individualität vorgestellt wird: Die Frage, wer hier als extradiegetisch-homodiegetische Aussageinstanz eigentlich ‚spricht‘, kann mit der Kategorisierung einer kollektiven Figurenstimme

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wohl aus narratologischer Perspektive präzisiert werden. Es erweist sich aber als geradezu konstitutiv für diesen Text, dieses Kollektiv nicht näher spezifizieren zu können: Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, wird hier das Schicksal einer Gruppe in den Mittelpunkt gerückt, in welcher der einzelne lediglich Teil eine Kette, nicht aber in seiner Singularität von Bedeutung ist. Mit seiner Erzählung Der fernste Ort, die sich an den Erzählverfahren von Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ und Leo Perutz’ Zwischen neun und neun orientiert, verknüpft Daniel Kehlmann ebenfalls das Thema der Identität mit einem besonderen narrativen Prinzip der Polyphonie. Über die Konstruktion einer polyphonen narrativen Instanz werden zwei miteinander konkurrierende Geschichten erzählt, von denen in diesem Text letztlich offenbleibt, welcher der beiden Handlungsstränge innerhalb der erzählten Welt Gültigkeit beanspruchen darf. Als gesichertes Wissen innerhalb der fiktionalen Realität gilt, dass der Protagonist Julian bei einem beruflichen Aufenthalt in Italien einen Badeunfall erleidet. Nicht aufzulösen ist jedoch, ob er – wie die eine ‚Stimme‘ behauptet – den Unfall überlebt, sich einen fremden Pass besorgt und auf diese Weise ein neues Leben beginnen kann, oder aber – wie die zweite ‚Stimme‘ suggeriert – sein beständig schwindendes Bewusstsein unter Wasser einen baldigen Tod der Figur eintreten lassen wird. Anders noch als in den Narrationen von Bierce und Perutz verzichtet Kehlmann durch sein offenes Ende auf eine Auflösung der rätselhaften Umstände und macht eine Hierarchisierung der ‚Stimmen‘ als glaubwürdig bzw. unglaubwürdig unmöglich. Somit stehen der von der einen ‚Stimme‘ behauptete glückende Identitätswechsel und der von der anderen ‚Stimme‘ suggerierte bald eintretende Tod des Protagonisten gleichberechtigt nebeneinander: Die polyphone narrative Instanz wirft die Frage nach dem Wesen der Identität zwar auf, eine definitive Antwort aber bleibt sie bis zur letzten Seite schuldig. In dem Roman Der Schwimmer von Zsuzsa Bánk werden die von der Figur Isti gehörten Stimmen zu einem Indikator für den schleichenden Realitäts- und Identitätsverlust eines traumatisierten Jungen. Als figural-konstruierte Stimmen in den Text eingebaut, erweisen sich die akustischen Wahrnehmungen des Kindes als ein Seismograph für seine sukzessive voranschreitende seelische Erkrankung, die durch die unerwartete Trennung von seiner in den Westen geflohenen Mutter ausgelöst worden ist. Zsuzsa Bánk, die hier exemplarisch für eine beständig wachsende Anzahl an Schriftstellern mit biographischem Migrationshintergrund im deutschsprachigen Raum steht, verlegt den Schauplatz ihrer Geschichte sowohl zeitlich als auch räumlich ins Ungarn der 1950er und 1960er Jahre. Somit wird auch die Frage danach, was Heimat bedeutet und inwiefern sich diese als identitätsstiftend erweist, in ein sich auf doppelte Weise von der Bundesrepublik Deutschland unterscheidendes diegetisches Universum verlegt:

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Der Konflikt besteht nicht darin, mögliche Assimilationsschwierigkeiten zu überwinden und als Einwanderer das ‚Eigene‘ in einem fremden Land zu bewahren, sondern der von Isti ausgetragene Konflikt ist ein innerer, der sich durch ein stetes Abwenden von der ihn umgebenden Realität hin zu einer Flucht in seine eigene Welt – markiert durch die von ihm gehörten, aber tatsächlich nicht als Gesprächspartner in der erzählten Welt auftauchenden Stimmen – auszeichnet. Das Einflechten figural-konstruierter Stimmen steht hier in einem direkten Verhältnis zu der Fragilität kindlicher Identität, die seit der Trennung von der Mutter im Falle Istis einem unumkehrbaren Degenerationsprozess unterworfen ist. Joshua Ferris’ Roman Then We Came to the End greift die Probleme des modernen Arbeitslebens in dem schnelllebigen Kommunikationszeitalter des 21. Jahrhunderts auf und verbindet diese mit den individuellen Schicksalen seiner Protagonisten. Erzählt wird der Roman von einer als kollektive Figurenstimme auftretenden extradiegetischen Aussageinstanz, die für die Belegschaft einer Chicagoer Werbeagentur spricht und deren gemeinschaftliche Angst vor der drohenden Entlassung thematisch den gesamten Text durchzieht. Dieser inhaltliche Schwerpunkt wird über die Entwicklung der kollektiven Figurenstimme gespiegelt: Analog zu der stetig voranschreitenden Reduzierung der Arbeitsplätze fallen sukzessive sämtliche Figuren aus dem Kollektiv heraus, bis am Ende der Narration lediglich zwei anonyme Sprecher übrigbleiben, die den Kern der kollektiven Figurenstimme bilden. Die anderen Figuren werden im Zuge eines gnadenlosen Rationalisierungsprozesses nach und nach aus dem arbeitenden Kollektiv – und somit auch aus der kollektiven Figurenstimme – entfernt; ihre namentliche Nennung bedeutet zugleich auch eine Individualisierung, die wiederum einen Ausschluss aus der Gruppe zur Folge hat. Bei seinem Porträt einer unter beständigem Leistungs- und Zeitdruck stehenden Belegschaft kennzeichnet Ferris jegliche Form der Kommunikation als potenziell bedrohlich. Unabhängig davon, ob es sich um den konventionellen morgendlichen ‚Büroklatsch‘, unter Anspannung erwartete mögliche Anrufe oder die alltägliche E-Mail-Flut des modernen Arbeitslebens handelt: In Then We Came to the End bedeutet das Berufsleben in erster Linie einen kaum überschaubaren Austausch an Informationen, die allesamt mit einem kollektiven Gefühl des Unbehagens und der Angst vor einer drohenden beruflichen Veränderung rezipiert werden. Interessanterweise verhandelt Ferris das aktuelle, d. h. das für den Beginn des 21. Jahrhunderts charakteristische Problem als eine geschlechtsneutrale Stresssituation. Die ständige Erreichbarkeit und die permanente Forderung nach einer Bereitschaft zur Kommunikation sind hier nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden, sondern betreffen als ein soziales Phänomen die gesamte Gesellschaft, die hier in den Fokus genommen wird.

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Verglichen mit den oben genannten Erzähltexten handelt es sich bei Toni Morrisons Roman The Bluest Eye sowie Marcel Beyers Roman Flughunde um die anspruchsvollsten Beispiele polyphonen Erzählens. Morrisons Text weist gleich drei verschiedene Varianten der Mehrstimmigkeit auf und lässt einige Passagen von einer polyphonen Figurenstimme erzählen, welche die anderen Figuren aus der erzählten Welt zitiert. Analog zu Browns Wieland und Hoffmanns „Die Bergwerke zu Falun“ findet sich auf der Ebene der Figuren zudem noch eine figural-konstruierte Stimme und auf der Ebene der extradiegetischen narrativen Instanz tritt der vergleichsweise selten genutzte Typus der zitierend-polyphonen narrativen Instanz auf, der in dem hier vorliegenden Fall Zitate aus einem Schulbuch für Leseanfänger in die Aussageinstanz einfließen lässt. Morrisons Fülle an formalen Finessen reflektiert mit einer bemerkenswerten Konsequenz die Vielzahl gesellschaftlicher Problemfelder, die in dem Roman behandelt werden. So thematisiert The Bluest Eye die Vergewaltigung eines Kindes, Inzest, häusliche Gewalt, Rassendivergenzen, Alkoholismus, psychische Erkrankungen, Prostitution und Armut – um nur einige Konfliktbereiche zu benennen – und präsentiert auf diese Weise ein Panorama individueller, gesellschaftlicher und kultureller Konflikte, die hier zwar im Kern in dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen in der amerikanischen Gesellschaft angelegt sind, die letztlich aber in ihren Konsequenzen weit in das Allgemeinmenschliche hineinreichen. Beyers Flughunde wird – bis auf eine kurze Passage im siebten Kapitel, die eine extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz übernimmt – durchgängig von zwei einander abwechselnden polyphonen Figurenstimmen erzählt. Die Konstruktionsweise ist analog zu den Texten von Schnitzler und Morrison intratextuell und bleibt auf das Zitieren von innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren begrenzt. Allerdings verlangt die Art der Darstellung eine deutlich größere Mitarbeit des Rezipienten, da die von den Figuren eingefügten Stimmen nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet sind. Und dies ist nicht die einzige Schwierigkeit: Häufig wird zusätzlich auf ein verbum dicendi verzichtet, so dass der Sprecherwechsel formal überhaupt nicht markiert wird und oftmals lediglich über den Inhalt des Gesagten erschlossen werden kann. Durch diese überaus komplexe Erzählweise überträgt auch Beyer inhaltliche Motive auf die Ebene des discours und bildet die dominierenden Themen einer Instabilität einerseits und der mangelnden Fähigkeit zur Abgrenzung andererseits auch mit bestimmten Techniken der Narration ab. Hermann Karnau zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Anpassungsfähigkeit aus, die ihn scheinbar mühelos mit anderen Menschen verbindet und schnell zu einem Teil fremder sozialer Gruppen werden lässt. Diese auf den ersten Blick vielleicht positiv erscheinende Eigenschaft wurzelt jedoch in einer ausgeprägten, von Kindheit an bestehenden Bindungs- und Haltlosigkeit, die Karnau zu einem

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oberflächlichen und wenig gefühlvollen Menschen geformt hat. Die Durchlässigkeit, die seine Stimme auszeichnet und dank derer er fremde Äußerungen mit Leichtigkeit in seine Stimme hinein- und wieder hinausfließen lässt, korrespondiert mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit am Schicksal der anderen; seine Mehrstimmigkeit ist zugleich ein Spiegel seines Charakters und ein Symptom der eigenen Vergangenheit. Die Figur Helga Goebbels zeichnet sich ebenfalls durch eine Durchlässigkeit in ihrer Stimme aus, die sich in dem häufigen Zitieren anderer und das Verschmelzen mit fremden Stimmen niederschlägt. Formal ähnelt ihr Stimmprinzip also demjenigen Hermann Karnaus, allerdings ist ihre Offenheit für weitere Aussageinstanzen psychologisch anders begründet. Während Karnau durch einen Mangel an Empathie und Bindungsfähigkeit gegenüber anderen Menschen hervorsticht, ist Helga durch ein Übermaß an Identifikation mit ihren jüngeren Geschwistern und einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie gekennzeichnet. Diese Gewissenhaftigkeit führt zu einer Vereinnahmung Helgas durch die Eltern und Geschwister, die sich wiederum in ihrer Stimme niederschlägt: Der beständige Einfluss verwandtschaftlicher Stimmen auf Helga gleicht einer Inbesitznahme, die ihre eigene Stimme zunehmend verdrängt. Auf diese Weise wird Helgas Stimme zu einem Ausdruck der häuslichen Konflikte: Ihre Mehrstimmigkeit ist das formale Symptom ihrer Stellung innerhalb einer Familie, die gewissenlos Grenzen überschreitet und ohne Rücksicht auf Helgas individuelle Bedürfnisse von ihr Besitz ergreift. Wie anhand sämtlicher Beispieltexte herausgearbeitet worden ist, stehen discours und histoire in einem bestimmten Wechselverhältnis zu einander, das unter dem Fokus der Polyphonie noch nicht betrachtet worden ist. Literarische Texte stellen Konflikte nicht nur auf der inhaltlichen Ebene dar, sondern sie nutzen eine Vielfalt an Stimmen und Stimmgestaltungen als soziale Instrumente, die Spannungen bedeuten und auf subtile Weise den Inhalt mit der Form verknüpfen. Das in dieser Arbeit erstellte Beschreibungssystem erlaubt es nun, dieses narrative Phänomen des Wechselbezugs zu sehen und zugleich mittels der hier erstellten Typologie in seinen einzelnen Ausprägungen zu benennen. Auf diese Weise verhilft die Typologie dazu, eine bestimmte Leistung von Literatur zu beschreiben und zu Analysen zu gelangen, die vielfach eine neue Deutung der Texte erlauben. Polyphonie fungiert demnach als eine ästhetische Ausdrucksform, die die Ebenen der histoire und des discours gleichermaßen durchzieht, indem bestimmte Konflikte inhaltlich verhandelt und zugleich auf der Ebene der Form gespiegelt werden. Zudem hat der diachrone Blick auf die Texte gezeigt, dass über das Phänomen der Mehrstimmigkeit auch bestimmte historische Motivkonstellationen aufgegriffen werden, wie beispielsweise die Thematisierung des

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Unheimlichen in der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die Emanzipation der Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert, das zunehmende Interesse an Psyche und Pathologie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die besondere Fokussierung auf die Bedeutung des Phantastischen und Wunderbaren in magisch-realistischen Texten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anhand dieser wenigen Exempel wird bereits deutlich: Zwischen den mikroskopischen Analysen der Einzeltexte und kulturhistorischen Entwicklungen besteht offenbar ebenso eine Korrelation wie zwischen den formalen Stimmgestaltungen der discours-Ebene und den sozialen Divergenzen, die auf der histoire-Ebene verhandelt werden. Polyphonie erweist sich demnach als ein gleichermaßen überzeitliches, d. h. über die verschiedenen Epochen hinweg auftauchendes, sowie in seinen einzelnen Ausprägungen historisch gebundenes Phänomen, das auf das spezielle Potenzial von Literatur verweist: Die differenzierte Darstellung sozialer Konflikte auf den Ebenen des discours und der histoire. Die vorliegende Arbeit erhebt mit Blick auf ihre Typologie freilich keinen Anspruch auf Abgeschlossenheit. Gleichwohl lassen die Ergebnisse darauf hoffen, dass die neuen Kategorien auch in ihrer Anwendung auf weitere Nationalphilologien, Epochen und Autoren zu fruchtbaren Ergebnissen führen.

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7 Register Abelson, Robert P. 171 Allrath, Gaby 132, 147 Anderson, John 170 Antor, Heinz 21–22, 24 Assmann, Jan 101, 255 Aumüller, Matthias 26 Auster, Paul – City of Glass 108, 118–124, 127, 300–301 Bachmann, Ingeborg 4 Bachtin, Michail M. 3–5, 9–10, 14–16, 28, 30–31, 34, 289 Banfield, Ann 13 Bánk, Zsuzsa – Der Schwimmer 158–166, 169, 176, 181, 302 Barthes, Roland 79–80, 84 Baur, Detlev 141 Beyer, Marcel – Flughunde 257–262, 266–269, 272–277, 280–282, 284, 286–287, 304 Bierce, Ambrose – An Occurrence at Owl Creek Bridge 71–72, 76, 302 Blödorn, Andreas 9, 11–13, 15–16 Booth, Wayne C. 9, 17–20, 24–25, 34, 59, 64, 67, 74, 289 Bourdieu, Pierre 236 Brecht, Bertolt – Die Maßnahme 133, 142–143 Brewer, William F. 169–170 Brockmeier, Jens 227 Brössel, Stephan 93 Brown, Charles Brockden – Wieland 182–187, 190, 194–201, 203, 292, 304 Bühler, Karl 39–40 Butor, Michel 130 Carbaugh, Donald 227 Carroll, Lewis – Through the Looking Glass 123 Chase, Joan – During the Reign of the Queen of Persia 132 Chatman, Seymour 19–20 https://doi.org/10.1515/9783110668810-008

Chopin, Kate – The Awakening 203–204, 206–207, 211– 214, 220–227, 293–294 Cohn, Dorrit 24 de Spinoza, Baruch 128 Döblin, Alfred – Berlin Alexanderplatz 94 Dolezel, Lubomír 75 Dos Passos, John – Manhattan Transfer 94 Dostojewski, Fjodor 4 Eichenbaum, Boris 26–27 Eichendorff, Joseph von – Im Abendroth 143 Eisenstein, Sergej M. 94–95 Emerson, Ralph Waldo 180 – The American Scholar 145 Engel, Manfred 2 Erhart, Walter 152 Faulkner, William – A Rose for Emily 228–229, 231–232, 235, 238–244, 246, 250, 252–254, 257, 299 Ferris, Joshua – Then We Came to the End 131, 144–152, 303 Flaubert, Gustave 293 Fludernik, Monika 18, 21, 148, 154 Fontane, Theodor 293 – Effi Briest 206 – Irrungen, Wirrungen 206 – L'Adultera 203–212, 214–216, 219–220, 225, 227, 296 – Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 225 Freud, Sigmund 233 Genette, Gérard 1–2, 5–6, 9–15, 22–23, 25, 29, 31–39, 42–47, 51–52, 55, 58, 64, 78, 81, 85, 94, 106–107, 134, 154–155, 157, 170, 177, 211, 267–268, 289–290, 300 – Discours du récit 1, 9–11, 36–37, 157 – Nouveau Discours du récit 1, 9 Gibson, Andrew 12–13 Giesen, Bernhard 99, 101 Goethe, Johann Wolfgang von 131, 296

318  7 Register

Goethe, Johann Wolfgang von – Die Wahlverwandtschaften 134–135 – Ode an Behrisch 114–116 Grein, Marion 4–5 Hamburger, Käte 41–42 Helbig, Jörg 19 Herrmann, Britta 152 Herrnstein Smith, Barbara 44–45 Hoffmann, E.T.A. – Die Bergwerke zu Falun 182–185, 188–195, 201–203, 292, 304 – Die Serapions-Brüder 183, 201 Hofmann, Gert – Der Blindensturz 136–140, 143, 301 Howells, William Dean 293 Hurston, Zora Neale – Their Eyes Were Watching God 86–87, 95– 104 James, Henry 293 Janik, Dieter 17, 45–48, 153 Jannidis, Fotis 7, 63, 117–118, 155 Jones, Gayl 178–179 Kablitz, Andreas 22 Kehlmann, Daniel – Der fernste Ort 72–74, 76, 302 Kindt, Tom 19–20 Klein, Christian 42 Kozloff, Sarah 94 Kristeva, Julia 31–33, 211 Krogh Hansen, Per 1 Kuhn, Markus 94 Lampe, Friedo 104, 297 Lampe, Friedo – Am Rande der Nacht 86–89 – Septembergewitter 86–95, 104, 298 Langer, Daniela 11, 15–16 Lanser, Susan S. 131–132, 146–147, 151 Leech, Geoffrey 21 Lorck, Etienne 21–22, 289 Lothe, Jacob 93 Lotman, Jurij M. 139 Luhmann, Niklas 120, 124, 242, 245 Margolin, Uri 146 Martínez, Matías 11, 17, 23, 42, 53, 63, 66, 75, 108, 117, 134, 169 Martínez-Bonati, Felix 69

Meyer-Kalkus, Reinhard 234–235 Morrison, Toni – The Bluest Eye 257, 260, 262–264, 269– 271, 277–279, 287, 304 Müller, Hans-Harald 19–20 Nebeker, Helen E. 236–238 Nünning, Ansgar 18, 36, 132 Nünning, Vera 132 Ort, Nina 120 Ovid – Metamorphosen 78, 81–84 Palmer, Alan 155 Pascal, Roy 5, 22–23 Perutz, Leo 297 – Zwischen neun und neun 59, 64–71, 74, 76, 297–298, 302 Pfister, Manfred 63 Plumpe, Gerhard 239 Poe, Edgar Allan – Nathaniel Hawthorne – Twice-Told Tales 173 – The Murders in the Rue Morgue 49, 158, 167–172, 181, 292 – The Purloined Letter 122 Raabe, Wilhelm 120 – Die Akten des Vogelsangs 108, 110–116, 124, 127, 295–296 Ransmayr, Christoph – Die letzte Welt 78–80, 83–84 Roggenbuck, Stefanie 3 Rosenbaum, Heidi 262 Ryan, Marie-Laure 76 Schank, Roger C. 171 Scheffel, Michael 2, 6–7, 11, 17, 23, 42, 53, 63, 69, 71, 75, 83, 108, 117, 169, 200, 206 Schiller, Friedrich – Die Braut von Messina 110–112, 117 Schmid, Wolf 28–30, 48–51, 156 Schneider, Ralf 155 Schnitzler, Arthur – Der Empfindsame 228–234, 238–243, 247–252, 254, 256–257, 300, 304 Shakespeare, William – Hamlet 210, 225 Short, Michael 21 Souza, Miguel 4

7 Register

Spielhagen, Friedrich 61 Stanzel, Franz K. 22–23, 25 Sullivan, Ruth 236–238 Surkamp, Carola 75, 132, 147 Taylor, Charles 227 Tolstoi, Leo 293 Turner, Victor 163–164 Twain, Mark 293 van Gennep, Arnold 161–162, 166, 217–218 Vinogradov, Viktor 27–28, 30 Völkel, Svenja 4 Warhol, Robyn 146, 151 Weber, Dietrich 231



319

Weixler, Antonius 3 Werber, Niels 239 Werner, Lukas 3 Wilder, Thornton – The Skin of Our Teeth 124–128 Wilke, Tobias 4 Wilkins Freeman, Mary E. – A New England Nun 60–64, 74, 293–294 Wilson, August – The Piano Lesson 158, 173–181 Wolter, Jürgen 195, 199–200 Zymner, Rüdiger 2