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German Pages 248 [249] Year 2020
Wolf Schmid Narrative Motivierung
Narratologia
Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers
Band 69
Wolf Schmid
Narrative Motivierung Von der romanischen Renaissance bis zur russischen Postmoderne
ISBN 978-3-11-069093-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069103-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069110-8 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2020932668 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
| Für Ira
Vorbemerkung Das vorliegende Buch ist die Frucht meiner Emeritenzeit und wurde von Juli 2017 bis November 2019 geschrieben. In einzelnen Kapiteln greife ich auf Ergebnisse früherer Arbeiten zurück, die jeweils angegeben sind. Ich danke herzlich dem Hamburger anglistischen Kollegen Professor Peter Hühn, der das gesamte Manuskript kritisch gelesen und zahlreiche Anregungen zur Überarbeitung gegeben hat. * Englische Zitate werden nur im Original angeführt. Zitate aus anderen Sprachen werden auch in deutscher Übersetzung präsentiert. Soweit möglich und sinnvoll, wurde auf publizierte Übersetzungen zurückgegriffen, mit meinen gelegentlichen Revisionen, die mit Ü. rev. markiert sind. Bei einer Reihe von Werken habe ich die Zitate selbst übersetzt. Dann beziehen sich die Stellenangaben auf den Originaltext. Falls nicht anders angemerkt, entsprechen Hervorhebungen dem Original. Russische Werktitel und Personennamen werden nicht transkribiert, sondern in der internationalen Transliteration wiedergegeben. 1 Im Index wird in russischen Namen und Werktiteln durch Akzent die Betonung markiert. 2
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1 Zur Transliteration kyrillischer Buchstaben siehe die Tabelle im Duden (24. Aufl. 2006, S. 139). 2 Das e mit Trema (ë) wird jo gesprochen und ist immer betont.
https://doi.org/10.1515/9783110691030-202
Inhalt Vorbemerkung | VII 1
Einleitung | 1
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2
Ausgangsdefinitionen | 5 Motivierung und Motivation | 5 Kausale und künstlerische Motivierung | 6 Blanckenburgs Konzept der „Nothwendigkeit“ | 8 Vischers Dichotomie: „Künstlerische“ vs. „tatsächliche Motivierung“ | 9
3 3.1
Motivierung bei Aristoteles und den russischen Formalisten | 12 Aristoteles: Das „Wahrscheinliche“ und das „Passende“ in der „Zusammenfügung von Geschehnissen“ | 12 Šklovskijs und Ėjchenbaums Konzept der Motivierung | 18 Tomaševskijs Triade der Motivierungen | 21 Bachtins Kritik an der formalistischen Motivierungstheorie | 25 Tynjanovs frühstrukturalistisches Motivierungskonzept | 27
3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2
Die Auswahl der Geschehensmomente | 31 Geschehen und Geschichte | 31 Der Nexus zwischen formalen und thematischen Кomponenten | 33
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Sonderformen der kausalen Motivierung | 36 Lugowskis „Motivierung von hinten“ | 36 Martínez’ „finale Motivierung“ | 37 Determination durch Herkunft (Wolframs Parzival) | 41 Determination durch Scripts (Gottfrieds Tristan) | 42 Die Geschichtlichkeit der kausalen Motivierung | 48
6 6.1
Motivierungen in der Renaissance-Novelle | 51 Boccaccios Decameron und die kausale Motivierung im griechischen Abenteuer- und Liebesroman | 51 Die Pestschilderung in Boccaccios Decameron: Kausale und künstlerische Motivierung | 53 Lücken kausaler Motivierung in Cervantes’ La Gitanilla | 56
6.2 6.3
X | Inhalt
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.4 7.5 7.6 7.6.1 7.6.2 8 8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.4 8.4.1 8.4.2
Ambige kausale Motivierung in romantischen und postromantischen Narrationen | 62 Perspektive und Motivierung in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann | 63 Zwei Perspektiven | 63 Die Interpretationen | 67 Die Oszillation der Motivierungen | 71 Pharo der Motivierungen in Puškins Pique Dame | 75 Die drei sicheren Karten | 78 Zufall, Unbewusstes oder übernatürliche Macht? | 81 Der Geisterseher | 84 Der Fehlgriff | 90 Doppelmotivierung in Mérimées Novelle La Vénus d’Ille | 93 Die korrigierte kausale Motivierung in Gogol’s Erzählung Das Porträt | 98 Die psychologische Auflösung der ambigen kausalen Motivierung in Dostoevskijs Doppelgänger | 104 Perspektivische Motivierung der Ambiguität in Henry James’ The Turn of the Screw | 113 Ambiguität | 113 Die erzählte und die erzählende Gouvernante | 118 Künstlerische Motivierung der Verfahren in Realismus und Neorealismus | 124 Die Motivierung der Introspektion in Dostoevskijs später Erzählung Die Sanfte | 125 Die Motivierung der Erzählperspektive in den Notizbüchern zu Dostoevskijs Jüngling | 128 Die Komposition in Ivan Bunins Erzählung Leichter Atem | 132 Die „Überwindung der Fabel durch das Sujet“ | 132 Geschichte und Erzählung | 133 Äquivalenzen | 136 Die Richtung der Motivierung | 139 Motivierung der Verfremdung in Andrej Bitovs Erzählung Leben im windigen Wetter | 139 Die extrafiktionale, auktoriale Motivation | 139 Die intrafiktionalen Motivierungen | 142
XI | Inhalt
9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.2.7
Realistische und mythische Motivierung in der Moderne | 149 Re-mythisierender Postrealismus | 149 Evgenij Zamjatins Erzählung Die Überschwemmung | 152 Zwei-Welten-Narrationen und „integrale Bilder“ | 152 Mythische Korrespondenz von Innen und Außen | 153 Der fruchtbare Mord | 157 Mythische Prädetermination | 158 Das Geständnis: Vom Es zum Ich | 160 Leitmotive, Äquivalenzen und Identifikationen | 163 Figurale Motivation und narratoriale Motivierung | 167
10 10.1 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4
Neue Regeln künstlerischer Motivierung in der Avantgarde | 170 „Littérature du regard“: Jurij Oleša und Alain Robbe-Grillet | 170 Die thematische Einbettung der re-motivierten Objektdarstellung | 173 Der zwanghafte Blick in Robbe-Grillets Eifersucht | 178 Der verfremdende Blick in Olešas Neid | 181 Die neue, artistische Motivierung | 188 Das Ziel der Verfremdung bei Oleša | 193
11 11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3
Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne | 197 Ein Sonderfall der künstlerischen Motivierung | 197 Andrej Bitovs Dystopie Ein Photo von Puschkin | 198 Reflexionen in der Rahmengeschichte | 199 Der nicht reproduzierbare Puškin | 201 Die Motivierung im Rahmen | 204
12 12.1 12.2
Fazit und Ausblick | 206 Ergebnisse | 206 Probleme und Perspektiven einer diachronen Narratologie | 215
Literaturverzeichnis |219 Primärtexte | 219 Sekundärtexte | 221 Index der Namen und Werke | 233
1 Einleitung εἰκὸς γὰρ καὶ παρὰ τὸ εἰκὸς γίνεσθαι Es ist wahrscheinlich, dass sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit ereignet Aristoteles, Poetik, 1456a und 1461b
Der Begriff der Motivierung führt in der Literaturwissenschaft eine merkwürdige Existenz. Einerseits sind allenthalben Urteile darüber anzutreffen, ob in literarischen Werken etwas motiviert oder nicht motiviert ist, andererseits scheint eine große Unsicherheit darüber zu bestehen, was unter Motivierung zu verstehen sei. Die größte Sicherheit über die Motivierung besteht in Feststellungen ihrer Defizienz. Eine als fehlend empfundene Motivierung löst im Rezipienten, im Leser eines Romans oder im Betrachter eines Spielfilms Enttäuschung, die Empfindung der Leere, des Mangels an Sinn aus. Diese Wirkung führt zur anthropologischen Funktion der Motivierung. Ein konsequent motiviertes Werk kompensiert für den Menschen die erfahrene Kontingenz des Weltgeschehens und die empfundene Nicht-Schlüssigkeit des individuellen Lebens. Das gelungene Kunstwerk erfüllt den Wunsch nach Sinn, nach einem sinnvollen Zusammenhang der Dinge, Vorgänge und Handlungen. Sinnvoll erscheint ein Zusammenhang im literarischen Werk, wenn seine Komponenten zueinander passen, wenn die Teile hinsichtlich des Ganzen motiviert sind. Über das, was die Motivierung ist, welche Komponenten sie erfasst, aus welchen Relationen sie besteht, finden sich in den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Handbüchern und Lexika nur selten Hinweise, obwohl, wie die Register ausweisen, der Begriff durchaus häufig verwendet wird. In den mannigfachen Verwendungen des Begriffs der Motivierung greift man, wenn überhaupt eine Definition angestrebt wird, häufig auf den russischen Formalismus der 1920er Jahre zurück, in der der Begriff, nicht aber das Phänomen, zum ersten Mal systematisch reflektiert wurde. Definiert von Viktor Šklovskij (1917; 1919; 1921), aufgegriffen von Boris Ėjchenbaum (1919), wurde der Begriff der Motivierung am ausführlichsten und systematischsten in Boris Tomaševskijs Theorie der Literatur (1925) erörtert, die freilich, wie zu zeigen sein wird, nicht mehr als genuin formalistisch zu betrachten ist. Für die russischen Formalisten war die Motivierung eine Grundkategorie ihres aristotelischen, auf das ‚Machen‘ (πόιησις) einer ‚Geschichte‘ (μῦθος) gegründeten Literaturkonzepts. In diesem Sinne bezeichnete Roman Jakobson das „Verhttps://doi.org/10.1515/9783110691030-001
2 | Einleitung fahren“ (priëm) als den einzigen „Helden“ einer echten Wissenschaft von der Literatur und als dеren Grundlage die Frage nach der „Anwendung“ (primenenie) und „Rechtfertigung“ (opravdanie) der Verfahren ([1921] 1972, 32/33). Darin drückt sich eine Vorstellung aus, nach der das literarische Werk nicht Bestehendes abbildet oder gar ‚widerspiegelt‘, sondern eine eigene Welt als Modell des Möglichen hervorbringt. So verstanden die Formalisten die aristotelische Mimesis nicht als ‚Nachahmen‘, sondern als ‚Darstellen‘. Der Akt des Darstellens von Geschichten impliziert sowohl die Auswahl als auch die Zusammenfügung von Handlungen. Beide Operationen, Auswahl wie Zusammenfügung, bezeichneten die Formalisten als „Verfahren“. Die Verfahren aber bedurften in der Vorstellung der Formalisten der Begründung oder – wie Viktor Šklovskij (1921) es nannte – der „Motivierung“ (motivirovka). Jakobsons Definition postuliert, dass das im literarischen Werk Wichtige, seine ‚Helden‘ die ‚Verfahren‘ seien und dass die Handlung nur zur Begründung der Anwendung dieser Verfahren diene. Diesem provokativen Theorem des frühen Formalismus, das bereits in den Thesen Viktor Šklovskij formuliert wurde, widerspricht Michail Bachtin in seiner fundamentalen Kritik am Formalismus, in der nicht nur die Wertigkeiten dessen, was die Formalisten als ‚Verfahren‘ und ‚Material‘ bezeichnet haben, umgekehrt werden, sondern auch die von den Formalisten postulierte Hierarchie der Komponenten grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Kontroverse wird aufgehoben in Jurij Tynjanovs funktionalem und evolutionsdynamischem Ansatz, der den Übergang vom Formalismus zum Strukturalismus markiert. Nachdem in Kap. 2 „Ausgangsdefinitionen“ die Kategorien Motivierung und Motivation sowie künstlerische und kausale Motivierung geschieden worden sind, dient Kapitel 3 der Darstellung der widerstreitenden Konzepte. Es wird hier bei Aristoteles’ Poetik angesetzt, deren Bedeutung für die zeitgenössische Narratologie noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Die historische Linie führt dann von Šklovskij über Boris Tomaševskijs berühmte Triade und Bachtins Kritik hin zu Tynjanovs funktionalem evolutionsbezogenem Motivierungskonzept. Ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Studie ist nicht nur die Betrachtung der historischen Entwicklung des Konzepts der Motivierung, sondern auch und vornehmlich die zumindest skizzenartige Darstellung der Evolution des Verfahrens. In vormodernen Texten und Folkloregattungen, im archaischen mündlichen Erzählen gelten andere Motivierungsregeln als im realistischen Mainstream der fiktionalen Narration. Das erhellen die in Kap. 5 vorgestellten theoretischen Beiträge von Clemens Lugowski („Motivation von hinten“) und Matías Martínez
Einleitung |
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(„finale Motivierung“). An den beiden großen mittelalterlichen Epen Parzival und Tristan werden Formen der vormodernen Determination untersucht. Die Analyse der Motivierung in Werken der Neuzeit konzentriert sich auf die narrative Kurzform der Novelle. Wie unterschiedlich diese Gattung in den Nationalliteraturen auch realisiert sein mag, zeichnet sie sich durch eine Reihe von verbindenden Merkmalen aus: der Geometrisierung und Äquivalenzbildung, der Prägnanz ihrer Konstruktion, der Tendenz zur wahrnehmbaren Tektonik, zur Verräumlichung der semantischen Beziehungen (im Sinne von Joseph Franks [1945] spatial-form-Konzept). 3 Diese Strukturmerkmale bedingen eine Verstärkung des Bedarfs an Motivierung und des Bewusstseins für sie. Die beiden nichtnovellistischen Werke, die näher betrachtet werden, Jurij Olešas Roman Der Neid und Alain Robbe-Grillets Roman La Jalousie, nähern sich in manchen Merkmalen ihrer Faktur der Kurzprosa und exponieren nachdrücklich das Problem ihrer Motivierung. Der eigentliche historische Parcours setzt ein bei den Renaissance-Novellen Boccaccios und Cervantes’. Am Decameron wird einerseits die ironische Beziehung zum griechischen Liebes- und Abenteuerroman mit seinen stereotypen Motivierungen, andererseits die künstlerische Motivierung der initialen schreckenerregenden Pestschilderung behandelt. Cervantes’ Novela de la Gitanilla (das Eingangswerk der Sammlung Novelas ejemplares) lässt Zweifel an der Konsistenz der Motivierung zu und wirft die für eine diachronische Narratologie relevante Frage auf, wann sich bestimmte Motivierungsansprüche historisch etablieren. Hochvirulent wird das Problem der Motivierung in Zwei-Welten-Narrationen unterschiedlicher Kulturen und Epochen insbesondere romantischer oder neoromantischer Orientierung. Unterschiedlichen Ausprägungen der ambigen Motivierung gilt das Kapitel 7. Analysiert werden Meisterwerke, deren ambivalente Ontologie in der Geschichte ihrer Rezeption zu Irritationen geführt und tiefgreifende Kontroversen ausgelöst hat: E. T. A. Hoffmanns Sandmann, Aleksandr Puškins Pique Dame, Prosper Mérimées Vénus d’Ille, Nikolaj Gogol’s Porträt, Fëdor Dostoevskijs Doppelgänger und schließlich Henry James’ The Turn of the Screw. Das provokative frühformalistische Konzept der Motivierung der Verfahren durch die Thematik, das die Kritik Bachtins herausforderte, wird versuchsweise an realistischen und spätrealistischen Erzähltexten durchgespielt, an Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte, an seinem Roman Der Jüngling und an Ivan Bunins Erzählung Leichter Atem. ||
3 Zu den durch die Kürze des Textes und der Rezeption bedingten Eigenschaften von Erzählung und Novelle vgl. Hansen-Löve 1984 und Smirnov 1984; 1993.
4 | Einleitung Die literarische Avantgarde desavouierte in verschiedenen Kulturen die realistischen Motivierungsnormen und etablierte eigene Gesetze für den Zusammenhang von Emotion und Gegenstanderfassung. Das wird an zwei Vertretern der littérature du regard demonstriert, am russischen Avantgardisten Jurij Oleša und am französischen nouveau romancier Alain Robbe-Grillet. Obwohl zwischen den beiden Autoren keine Verbindung bekannt ist, besteht zwischen den Motivierungen in ihren Romanen Neid und La Jalousie eine frappierende Ähnlichkeit. Der Postrealismus der russischen Literatur zeichnet sich durch hybride Motivierungen aus. Es interferiert hier eine realistische Begründung der Handlungsweise der Figuren mit einer mythischen Motivierung. Diese doppelte Motivierung wird an der im ornamentalen Stil gehaltenen Erzählung Evgenij Zamjatins Die Überschwemmung analysiert. Schließlich wird an Andrej Bitovs von vielen als postmodern apostrophierter Erzählung Ein Photo von Puschkin eine besondere Modifikation der kompositionellen Motivierung vorgeführt: die Motivierung des für eine narrative Welt bestehenden zeit- und wahrnehmungsphilosophischen Konzepts, für das die Darstellbarkeit der Realität problematisch wird, durch eine einleitende Rahmenhandlung, die das Problem im kleinen alltäglichen Maßstab exponiert.
2 Ausgangsdefinitionen 2.1 Motivierung und Motivation In der russischen Theorie der 1920er Jahre hat die bis heute populärste Definition der Motivierung Boris Tomaševskij in seiner Theorie der Literatur geliefert. Im Kapitel Motivierung (Motivirovka) definiert Tomaševskij (1925, 137; dt. 1985, 227) das Phänomen als das „System der Verfahren (sistema priëmov), die die Einführung einzelner Motive und ihrer Komplexe rechtfertigen“.1 Es geht hier also um die Begründung der Aufnahme von thematischen Einheiten („Motiven“) in eine zu erzählende Geschichte. „Motive“ definiert Tomaševskij (1925, 137; dt. 1985, 217–218) als die Themen der „kleinsten, nicht weiter zerlegbaren Teile eines Werks“. Als Beispiele für Motive führt er an: „Es brach der Abend an“, „Raskol’nikov erschlug die Alte“, „Der Held starb“, „Ein Brief traf ein“. Motive sind in Tomaševskijs Auffassung also Kondensate, Abstraktionen bestimmter Sequenzen des Textes, sie sind aber nicht äqui-extensional mit diesen Sequenzen. 2 Ein anderes Konzept als die Formalisten verfolgt Vladimir Propp, der in seiner Morphologie des Märchens (1928, 83) im Abschnitt Motivierungen ausführt: „Unter Motivierungen versteht man sowohl die Beweggründe als auch die Ziele von Figuren, die sie zu bestimmten Handlungen veranlassen“. Mit den beiden Definitionen ist ein weiter Verwendungsbereich des Begriffs der Motivierung umschrieben. Es handelt sich dabei jedoch um durchaus unterschiedliche Konzepte. Tomaševskijs „Motivierung“ bezieht sich auf die künstlerische Tätigkeit des Autors, der um die Schlüssigkeit einer darzustellenden Handlung und die ästhetische Geschlossenheit seines Werks besorgt ist. Propps gleichlautender Begriff bezieht sich dagegen auf den Helden einer Erzählung und bezeichnet die Gründe, die den Helden dazu bewegen, eine Handlung auszuführen oder nicht auszuführen. Es scheint sinnvoll, die beiden Intensionen mit gesonderten Begriffen auszudrücken. Im Folgenden soll von Motivierung dann die
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1 Zum formalistischen Begriff des „Verfahrens“ und seinen Wurzeln vgl. Hansen-Löve 1978, 191–197. 2 Der nicht ganz klare Status des Motivs, der hinter einer quasi-naturwissenschaftlichen Erklärung („nicht weiter zerlegbarer Teil eines Werks“) verborgen wird, ist wohl der Grund dafür, dass mit Tomaševskijs Motiv-Begriff schwer zu operieren ist und er sich auch nicht durchgesetzt hat. Der Verzicht auf eine klare Definition erhellt auch aus dem Nachsatz, der jegliche funktionalextensionale Bestimmung aufhebt: „Im Grunde hat jeder Satz sein eigenes Motiv“ (Tomaševskij 1925, 137; dt. 1985, 218; Ü. rev.).
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6 | Ausgangsdefinitionen Rede sein, wenn es um die Tätigkeit des Autors geht, der mit bestimmten Verfahren seinem Werk Schlüssigkeit und künstlerische Geschlossenheit zu geben sucht. Von Motivation sprechen wir in Bezug auf den Helden und seine Beweggründe, seine psychische und emotionale Aktivität, die seinem Handeln zugrunde liegen. Natürlich kann die Motivierung der Handlung eines Werks in der bestimmten Motivation einer dargestellten Figur bestehen. So spielt in Dostoevskijs Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie) Rodion Raskol’nikovs Motivation zum Mord an der alten Pfandleiherin eine zentrale Rolle in der Motivierung der Handlung des Romans. Gleichwohl fallen die beiden Begriffe nicht zusammen. In der Entstehungsgeschichte des Romans hat Dostoevskij in der Suche nach einer schlüssigen Motivierung des Werks seinem Helden unterschiedliche Motivationen des Mords unterstellt, und Raskol’nikov selbst hat alle Mühe, in der Beichte vor Sonja Marmeladova seine Motivation wahrheitsgemäß – und für die Motivierung der Romanhandlung durch den Autor schlüssig – zu benennen (vgl. das Kapitel Die Motivation in Schmid 2017, 255–264). Auch der Autor wird eine Motivation beim Schaffen seines Werks gehabt haben. Sie zu ergründen soll nicht Gegenstand unserer Überlegungen sein. Allerdings darf man nach der Aufhebung des Verbots, vom Autor zu sprechen (vgl. dazu den Sammelband Markovič/Schmid Hg. 1996), durchaus legitim die Frage nach der Motivation des Autors stellen: Was könnte Dostoevskij dazu bewogen haben, seinem Helden die dann endgültig gewählte Motivation zu unterstellen und damit der Handlung des gesamten Romans jene Motivierung zu geben, die ihn in der Schlussfassung prägt? Diese gewiss nicht uninteressante Frage führt allerdings tief in die innere Biographie und die psycho-physische Befindlichkeit des realen, konkreten Autors der Schaffenszeit hinein und kann vom Literaturwissenschaftler nur mit psychologischen Spekulationen beantwortet werden. Auf diese wollen wir hier verzichten.
2.2 Kausale und künstlerische Motivierung Die hier eingeführte Dichotomie Motivierung vs. Motivation begegnet bereits bei den russischen Formalisten, bezeichnete dort indes anderes. Die Formalisten gingen von einer Dualität der Begründungskategorie aus, die ihrer Dichotomie von Fabel und Sujet entsprach. Die Rechtfertigung der pragmatischen Ordnung, die das Material der Fabel regiert, nannten sie Motivation (motivacija), die künstlerische Kohärenz, die im Sujet durch die Anwendung verfremdender Verfahren auf das Material hergestellt wird, Motivierung (motivirovka) (vgl. Hansen-Löve 1978, 197–200; 1989).
Kausale und künstlerische Motivierung |
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Unter Motivierung verstanden die Formalisten die Schaffung eines künstlerisch überzeugenden Zusammenhangs zwischen formalen Verfahren und thematischen Einheiten. Der Begriff der Motivierung bezog sich bei ihnen in der Regel auf das gesamte Werk. Im Weiteren werden wir diese das ganze Werk umfassende Motivierung die künstlerische nennen. Von der künstlerischen Motivierung ist eine partielle Motivierung zu unterscheiden, die sich auf die dargestellte Welt und in dieser hauptsächlich auf die erzählte Welt bezieht. Diese Motivierung im engeren Sinne, auf die die Formalisten mit ihrem Begriff der Motivation als der Begründung der pragmatischen Ordnung der Fabel abzielten, regelt die kausale Kohärenz der erzählten Handlung. Wir nennen sie die kausale Motivierung. Beide Motivierungen sind auktorial, d. h. sie gehen auf den Autor zurück. Die kausale Motivierung kann in bestimmten Aspekten mit narratorialem Ursprung fingiert, d. h. dem fiktiven Erzähler zugeordnet sein, bleibt dann aber letztlich auch in der Verantwortung des Autors. Kausale und künstlerische Motivierung befinden sich nicht auf derselben systematischen Ebene. Die kausale Motivierung ist im Kunstwerk vielmehr in der künstlerischen Motivierung inkludiert. Um von der einen zur anderen zu kommen, bedarf es allerdings eines Wechsels der Hinsicht. Der Ursache-Folge-Aspekt wird durch eine Adäquanz-Relation erweitert. Im Kunstwerk sind die UrsacheFolge-Relationen also doppelt bestimmt, einmal unter dem Aspekt der Kausalität und dann, auf höherer Ebene, unter dem das ganze Werke determinierenden Aspekt der ästhetischen Schlüssigkeit. Zwischen den beiden Motivierungen kann es zu Konflikten kommen, wenn etwa ein künstlerisch, unter kompositionellen Aspekten motivierter Handlungszug nicht hinreichend kausal begründet ist. Zwischen der kausalen und der künstlerischen Motivierung besteht auch ein Unterschied, der die Relationierung der Elemente betrifft. In der kausalen Motivierung geht es um die Begründung eines Handlungsmoments durch ein anderes, und es ist in der Regel einfach, das motivierende und das motivierte Element zu unterscheiden. So begründet ein auffälliges Verhalten eines Täters, dass der untersuchende Kommissar den Verdacht auf ihn richtet. Der Verdacht des Kommissars erscheint durch das Verhalten des Täters motiviert. In der künstlerischen Motivierung geht es dagegen nicht um kausale Beziehungen, sondern um Relationen des Zueinander-Passens, der Adäquatheit. So kann ein bestimmter Stil der Erzählersprache zu einer zu erzählenden Geschichte besonders gut passen. Stil und Handlung erscheinen dann als Elemente einer Motivierung, für die Motivierendes und Motiviertes zu unterscheiden nicht sinnvoll ist. Statt der Hierarchie haben wir eine wechselseitige Adäquatheit heterogener Ebenen.
8 | Ausgangsdefinitionen In jüngerer Zeit hat sich die narratologische Diskussion der Motivierung auf die kausale Kohärenz erzählter Geschichten konzentriert.3 Dem entsprechend wird die künstlerische Motivierung vernachlässigt. So kann Harald Haferland (2016, 25) in seinem „Systematisierungsversuch“ Motivierung im Erzähltext narrative Verfahren wie die Permutation von Ereignisfolgen und andere „Eigenschaften einer Motiviertheit der Darstellungsweise und des Erzählens selbst“ „ausklammern“, da sie nicht in der erzählten Welt „zum Tragen kommen“ und „auf einer höheren Ebene [liegen]“. Unter den verschiedenen Typologien der Motivierung, die in jüngerer Zeit vorgeschlagen wurden, kann die einfache Dichotomie von kausaler und künstlerischer Motivierung als hinreichend differenziert gelten. Die beiden Typen treten allerdings historisch in unterschiedlicher Gestalt auf, und die kausale Motivierung spaltet sich in einige mentalitätsgeschichtlich bedingte Sonderformen auf, die als eigene Typen neben der kausalen und der künstlerischen Motivierung zu betrachten keinen erkennbaren analytischen Vorteil bringt.
2.2.1 Blanckenburgs Konzept der „Nothwendigkeit“ Die Dichotomie von kausaler und künstlerischer Motivierung hat eine Vorgeschichte. Schon in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) zeichnet sich eine Unterscheidung zwischen der in der erzählten Welt und der im ganzen Werk wirksamen „Nothwendigkeit“ ab.4 An Christoph Martin Wielands Bildungs- und Erziehungsroman Die Geschichte des Agathon (erste Ausgabe, 1766–1767, die Blanckenburg vorlag) lobt Blanckenburg die innere Schlüssigkeit. Das Werk ist für ihn ein „vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung“ (Blanckenburg [1774] 2013, 12). In der Erörterung der aristotelischen Kategorien Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit unterscheidet er zwischen einer „Nothwendigkeit der handelnden Personen“ und der „Nothwendigkeit des Dichters“: Erstlich von der Nothwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit der handelnden Personen selbst ein Wort. Ich glaube, daß eine That nothwendig heiße, wenn zufolge des eigenthümlichen Charakters, und der ganzen jetzigen Lage der Person, nichts anders erfolgen könne, als was wirklich erfolgt. Es konnte nach dem, dem Agathon gegebnen Charakter, aus der
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3 Vgl. hierzu den von Márta Horváth und Katja Mellmann herausgegebenen Sammelband Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung (2016), insbesondere die Beiträge von Harald Haferland (2016) und Stefanie Luther (2016). 4 Vgl. Martínez 1996b, 20–21; 2000, 644–645; Veronika-Rose Seemann 2008, 10.
Kausale und künstlerische Motivierung |
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Situation, in welcher er das erstemal ins Haus der Danae kam, nichts anders erfolgen, – als daß er Danaen anfieng, zu lieben. Seine Liebe war gleichsam das Resultat von dem, was er selbst war, und von dem, was er von Danaen hörte und sahe. Bey einer solchen Nothwendigkeit wird uns nichts im Werke eines Dichters einen Augenblick aufhalten, oder anstößig werden können. Es ist nichts da, das bedenklich wäre; das Gewicht ist gerade so schwer, als die Last, die es in die Höhe ziehen soll. (Blanckenburg [1774] 2013,166) Ich verstehe unter der Nothwendigkeit des Dichters eine Begebenheit, die er nothig hat, damit er den Endzweck erreiche, den er mit seinem Werke sich vorgesetzt hat. Wenn Agathon das werden sollte, was er am Ende des Werks ist: so mußte ihn der Dichter in Situationen bringen, in welchen er die Menschen von der Seite kennen lernen konnte, von welcher sie sich gegen Oberherrn, Befehlshaber, Könige; und von der andern Seite, wie sie sich gegen Sclaven, gegen Anbeter, – mit einem Worte, wie die Menschen sich am Hofe zeigen? Dies war der Zweck, die Absicht des Dichters […] (Blanckenburg [1774] 2013,167)
2.2.2 Vischers Dichotomie: „Künstlerische“ vs. „tatsächliche Motivierung“ Eine Dichotomie, die der von kausaler und künstlerischer Motivierung entspricht, hat man auch in Friedrich Theodor Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846, III, 48) zu entdecken geglaubt (so Martínez 2000, 645 und nach ihm V.-R. Seemann 2008, 10; Haferland 2016, 30). Es fragt sich jedoch, ob der Philosoph mit seiner Unterscheidung zwischen der „künstlerischen Motivierung“ und der „tatsächlichen Motivierung des Gegenstands in der Wirklichkeit“ die Differenz von kausaler und künstlerischer Motivierung meint und nicht eher das unterschiedliche Vorkommen der einen und einzigen Motivierung, die er kennt, in „Naturschönem“ und „Kunstschönem“. Vischer definiert die Motivierung als „hinreichende Verbindung der Teile eines ästhetischen Ganzen unter dem Gesichtspunkte der Kausalität“: [Durch den Begriff der Motivierung werden] die Formen, Zustände, Handlungen, die zur Darstellung kommen, der Frage unterworfen, ob sie hinreichend begründet seien durch die Bedingungen, welche in demselben ästhetischen Ganzen zum Vorschein kommen oder als hinter ihm liegend angenommen werden. (Vischer [1846] 1851, III/1, 49)5
Für Vischer gilt das Gesetz der Motivierung in der Natur wie in der Kunst.
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5 Die Zitate aus Vischers Ästhetik sind angeführt nach: http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/vischer_aesthetik0301_1851 (1.3.2018). Die Rechtschreibung ist modernisiert.
10 | Ausgangsdefinitionen Das Kompositionsgesetz […] bestimmt sich näher als Gesetz der Motivierung, d. h. der Begründung alles dessen, was zur Darstellung kommt, in hinreichenden Bedingungen; worin sich übrigens die Kunst zur Motivierung im Naturschönen ebenso verhält, wie das Ideal überhaupt zu diesem. (Vischer [1846] 1851, III/1, 49)
Der Künstler hat die im Naturschönen vorgefundene Motivierung an seinen Objekten herauszuarbeiten: Der ganze organische Leib ist eine wechselseitige Motivierung, denn er ist ein Ganzes, worin Alles gegenseitig Ursache und Wirkung ist; der Künstler hat dies Wechselverhältnis zu verstehen und in ein helleres Licht zu setzen. (Vischer [1846] 1851, III/1, 51)
In folgender Ausführung weist Vischer auf die notwendige Selektivität der künstlerischen Darstellung gegenüber der darzustellenden Wirklichkeit hin: […] die Frage ist aber, wie sich die Motivierung in der Kunst zur Motivierung in der Wirklichkeit zu verhalten habe. In der Wirklichkeit nun ist jede Erscheinung unendlich motiviert, d. h. sie steht in einem Kausalnexus, der auf eine Reihe ohne Ende zurückführt. […] denn das Eine, was die nächste Ursache eines Zustandes, die Triebfeder einer Handlung abgibt, hängt mit dem ganzen Dasein nach allen Seiten durch unzählige Fäden zusammen. Nun findet die unendliche Reihe und Vielheit zwar ihren Schlusspunkt im Akte der Freiheit; also, wo es sich um Motivierung einer Tat, eines Charakterbilds handelt, wäre schon im Stoff ohne die Kunst das Netz der unendlichen Fäden in Einen Faden gesammelt. Allein dies Sammeln des unbestimmt Vielen in Einen Brennpunkt weist ja eben auf alle die Fäden, die es sammelt, hinaus und kann daher so, wie es in der Wirklichkeit ist, in die Kunst nicht übergehen. […] die Beziehung des Einen auf das Viele, die Bindung des Mannigfaltigen in der Idee muss eine kürzere, straffere sein, als in der unendlichen Breite des Wirklichen, die Zahl der unendlichen Fäden muss sich in wenige und diese rasch in einen zusammenfassen. (Vischer [1846] 1851, III/1, 53)
Vischer verweist hier auf einen Sachverhalt, auf den Georg Simmel (1916) mit seiner Unterscheidung zwischen dem in jeder Hinsicht unendlichen, kontinuierlichen „Geschehen“ und der grundsätzlich begrenzten, diskontinuierlichen „Geschichte“ und Roman Ingarden (1931) mit seinem Begriff der „Unbestimmtheitsstelle“ gezielt haben. Wir werden weiter unten auf das Problem der grundsätzlichen Selektivität jeglicher Darstellung, künstlerischer wie nicht-künstlerischer, faktualer wie fiktionaler, ausführlich einzugehen haben. Wichtig ist hier auch, dass Vischer in den Kategorien der idealistischen Ästhetik fordert, dass die „Bindung des Mannigfaltigen in der Idee“ in der künstlerischen Darstellung eine „kürzere, straffere als in der unendlichen Breite des Wirklichen“ sein müsse und dass diese „Abbreviatur der Motivierung durch die Kunst“ historischer Veränderung unterliegt:
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Es ist nicht möglich, dieses Gesetz der Vereinfachung, der idealen Abbreviatur der Motivierung durch die Kunst, hier, in der Lehre vom allgemeinen Begriffe der Kunst, näher zu bestimmen, denn die geschichtlichen Formen der Phantasie und die verschiedenen Künste und Kunstzweige bedingen auch verschiedene Art und Breite der Motivierung: die symbolische, classische, romantische Phantasie motiviert anders, als die moderne […] (Vischer [1846] 1851, III/1, 53)
3 Motivierung bei Aristoteles und den russischen Formalisten 3.1 Aristoteles: Das „Wahrscheinliche“ und das „Passende“ in der „Zusammenfügung von Geschehnissen“ Es mag befremden, dass Aristoteles und die russischen Formalisten in einem gemeinsamen Kapitel behandelt werden. Aber die Formalisten waren unverhohlene Aristoteliker und bekannten sich offen zum Vater der Narratologie.1 Der Gedanke des Herstellens, „Machens“ (delan’e) verbindet die formalistische Kunstauffassung mit Aristoteles’ Konzeption der Mimesis als „Machen“ (πόιησις). Im Mimesis-Begriff der aristotelischen Poetik finden sich zweifellos noch Spuren des von Platon übernommenen semantischen Moments der Nachahmung von etwas bereits Bestehendem (vgl. Sörbom 1966, 176). Insgesamt ist die Poetik jedoch vom Geist einer Mimesis durchdrungen, die nicht Reproduktion bedeutet, sondern Darstellen, Darstellen von etwas nicht Vorgegebenem, das allererst in der Mimesis konstituiert wird.2 Aristoteles, der die platonische Lehre von der Drittrangigkeit der künstlerischen Darstellung als Nachahmung einer Nachahmung überwindet, erkennt der Mimesis, die er als „Machen“ begreift (vgl. Hamburger 1957, 7–8; 1994, 17–18) oder als Konstruktion (Zuckerkandl 1958, 233), nicht nur Primarität (Else 1957, 322) zu, sondern begründet auch ihre Erkenntnisfunktion (Boyd 1968, 24) und damit ihren Wert. Im Gegensatz zum Historiker, der erzählt, was geschehen ist, was zum Beispiel Alkibiades gesagt und getan hat, ist es die Aufgabe des Dich-
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1 Zu Viktor Šklovskijs Aristotelismus vgl. Schmid 2009; 2018b. 2 Zur aristotelischen Mimesis als Begriff, der nicht nur und nicht in erster Linie Nachahmung von bereits Existierendem bezeichnet, wie Platons Mimesis im 10. Kapitel des Staats, sondern auch und vor allem Darstellung von nicht bereits Existierendem, vgl. Koller 1954; Hamburger 1957, 6–10; 1994, 17–20; Flashar 1979, 79–83; Halliwell 1986, 109–137; Schmid 2014a, 32–33 und die dort angeführte Literatur. Halliwell (2002, 23), der vor einem zu simplen Verständnis des platonischen Mimesis-Begriffs und von Platons vermeintlichem Verdikt über die Kunst warnt, registriert in der Geschichte des Mimesis-Begriffs bereits vor Aristoteles zwei unterschiedliche Konzepte: das erste, das „‚world-reflecting‘ model“ betont die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und der Realität; das zweite, die „‚world-simulating‘ or ‚world-creating‘ conception“ rückt die interne Organisation und die fiktiven Eigenschaften des mimetischen Objekts in den Mittelpunkt. Zur Wirkungsgeschichte des aristotelischen Mimesis-Begriffs von der Renaissance bis zur Moderne vgl. Halliwell 2002, 344–381.
https://doi.org/10.1515/9783110691030-003
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ters, zu berichten, „was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit [κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον] Mögliche“ (29; 1451a, 37–38)3. Gegenstand des Dichters ist also nicht das wirklich „Geschehene“ (τὰ γενόμενα), sondern das „Mögliche“ (τὰ δυνατά). Deshalb ist die Dichtung „etwas Philosophischeres (φιλοσοφώτερον) und Ernsthafteres (σπουδαιότερον) als die Geschichtsschreibung“ (28; 1451b, 5–6). In der Poetik wird für Tragödie und Epos die „Darstellung der Handlung“ als Mythos bezeichnet (ἔστιν δὴ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις; 18; 1450a). Das ist ein Begriff, der am besten mit „(erzählter) Geschichte“ wiedergegeben ist.4 Definiert wird der Mythos als die „Zusammenstellung“ (σύνθεσις) oder die „Zusammenfügung“ (σύστασις) der „Geschehnisse“ (πράγματa) (20, 21; 1450a). Die dargestellte Handlung (πράξις), die der wichtigste Teil der Tragödie ist, entsteht also aus der Selektion und Kombination thematischer Einheiten, der „Geschehnisse“.5 Diese Schaffensakte stellen besondere Anforderungen an den Dichter:
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3 Die Zitate aus der der Poetik folgen der von Manfred Fuhrmann herausgegebenen Ausgabe Aristoteles 1994 mit Angabe der Seitenzahl und der Bekker-Zählung. In der Übersetzung werden von mir bestimmte, zum Teil erhebliche Revisionen im Terminologischen vorgenommen. Die wichtigste ist, dass Mimesis hier nicht mit ‚Nachahmung‘ übersetzt wird, sondern mit ‚Darstellung‘. Wenn Fuhrmann (1994, 159) formuliert, dass für Aristoteles das Kunstwerk „keine Nachahmung zweiter, sondern eine Nachahmung erster und einziger Stufe“ sei, stellt er seine Übersetzung von Mimesis als Nachahmung im Grunde infrage. Der Begriff der Darstellung legt sich aus einer Reihe von Ausführungen der Poetik nahe, etwa wenn Aristoteles drei Modi der Mimesis unterscheidet: „[Der Dichter] stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, dass sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten“ (S. 85; 1460b). Hier übersetzt selbst Fuhrmann Mimesis mit ‚Darstellung‘. Höchst problematisch ist die von Fuhrmann (2003, 17) vertretene Auffassung, nicht der Poiesis-, sondern der Nachahmungsbegriff sei die „wesentliche, die beherrschende Kategorie der aristotelischen Lehre“. Den Nachahmungsbegriff relativiert Fuhrmann (2003, 18) de facto, wenn er ausführt, dass Aristoteles „nicht so sehr auf die Nachahmung von Wirklichem, als vielmehr auf die Nachahmung von Möglichem abzielt“. Ist es sinnvoll, das noch „Nachahmung“ zu nennen? Fuhrmann (2003, 34) konzediert zwar, dass das 9. Kapitel der Poetik der Dichtkunst „eine gewisse Eigengesetzlichkeit einzuräumen suche“, glaubt aber, vor „übertriebenen Folgerungen“ warnen zu müssen; es gehe nicht an, aus der Poetik „das Postulat einer wahrhaft autonomen poetischen Welt herauszulesen“. Es kann aber kaum infrage gestellt werden, dass für Aristoteles Mimesis nicht Nachahmung existierender oder früherer Handlungen und Welten bedeutet, sondern künstlerische Konstruktion einer möglichen Welt. 4 Zu anderen Übersetzungen („Fabel“, „Sujet“, „Plot“, Handlung“, „intrigue“): Schmid 2014a, 32, Fn. 27. 5 Aristoteles spricht explizit nur von der Kombination („Zusammenfügung“), die Selektion ist dabei impliziert. Nicht zufällig sind die beiden Operationen im neo-aristotelischen Formalismus
14 | Aristoteles und die Formalisten „Anfänger in der Dichtung sind eher imstande, in der Sprache und den Charakteren Treffendes zustandezubringen, als die Geschehnisse zusammenzufügen (τὰ πράγματα συνίστασθαι; 23; 1450a)“. Der Mythos dient bei Aristoteles einem Ziel, er soll beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung auslösen. Im Fall der Tragödie besteht dieses Ziel darin, die Affekte Eleos und Phobos auszulösen und dadurch eine „Reinigung“ (Katharsis) von derartigen Erregungszuständen zu bewirken. Die beiden Affekte wurden von Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie mit „Mitleid und Furcht“ übersetzt, was ihnen eine unangemessen christliche Färbung gab.6 Manfred Fuhrmann (1994, 161–166; 2003, 92–94), der die Semantik der Ausdrücke klärt, übersetzt Eleos und Phobos mit „Jammer und Schaudern“. Dem heutigen Sprachgebrauch scheint mir die Wiedergabe durch „Rührung und Schrecken“ angemessener.7 Die von uns vorgenommen Scheidung von kausaler und künstlerischer Motivierung findet sich unter etwas andern Begriffen bereits bei Aristoteles. Für die erzählte Geschichte manifestiert sich das die Poetik regierende Leitideal in den Begriffen „Wahrscheinlichkeit“ (τὸ ἐικός) und „Notwendigkeit“ (τὸ ἀναγκαῖον). Das ist Aristoteles’ Formulierung der kausalen Motivierung. Diese erscheint in der Poetik sowohl explizit wie implizit. Explizit wird die Kategorie überall dort, wo von Begründen oder Rechtfertigen von Handlungszügen die Rede ist. Im 25. Kapitel spricht Aristoteles zum Beispiel von Bezügen, die die Einführung von Unmöglichem (ἀδύνατον) in die Handlung rechtfertigen (ἀνάγειν; wörtl.: ‚zurückführen auf‘): „Aufs Ganze gesehen muss man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen, oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift“ (93; 1461b, 9–10). Implizit ist die Kategorie der kausalen Motivierung wirksam, wo immer von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, den beiden Prinzipien für die Zusammenfügung von Geschehnissen zu Geschichten, die Rede ist. Wiederholt und nachdrücklich erwähnt Aristoteles das Erfordernis eines Nexus zwischen den zusammengefügten Geschehnissen: ||
und Strukturalismus zu den Konstituenten der sprachlichen und dichterischen Tätigkeit geworden, am explizitesten im bekannten Modell Roman Jakobsons (1960), wo sie als selection und combination figurieren. 6 Zum aristotelischen Eleos-Begriff im Kontext der griechischen Kultur- und Konzeptgeschichte vgl. Halliwell 2002, 207–233. 7 Diese Übersetzungen sind einzeln oder als Dichotomie bereits von einigen Spezialisten erwogen worden; Lessing selbst hatte Phobos zunächst mit „Schrecken“ übersetzt; vgl. den Kommentar von Otto Mann (1963, 455–459).
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1.
Die dargestellten Geschehnisse müssen nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgen (Kap. 7; 1451a, 12–13). 2. In der Odyssee und ähnlich auch in der Ilias nahm Homer nicht alle Geschehnisse auf, sondern nur solche, die nach den Gesichtspunkten der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit miteinander verbunden waren (Kap. 8; 1451a, 24 ff.). 3. Der Dichter teilt nicht mit, was wirklich geschehen ist, sondern das, was geschehen könnte und was möglich wäre entsprechend der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit (Kap. 9; 1451a, 36 ff.). 4. Auch die Komödiendichter fügen die erzählte Geschichte nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusammen (Kap. 9, 1451b, 13–14). 5. Eine erzählte Geschichte, in der die Episoden weder nach Wahrscheinlichkeit noch nach Notwendigkeit aufeinander folgen, ist episodisch. Unter den einfachen Geschichten und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten (Kap. 9; 1451b, 33–1452a, 1). 6. Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammenfügung der Geschichte selbst ergeben; sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Geschehnissen hervorgehen (Kap. 10; 1452a, 19–20). Nachdrücklich verweist Aristoteles auf den Unterschied zwischen einem lediglich temporalen und einem kausalen Nexus: 7. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Geschehnis infolge eines andern Geschehnisses eintritt oder nur nach einem andern (Kap. 10; 1452a, 21–22). Besonders hohe Anforderungen stellt Aristoteles an die Peripetie: 8. Die Peripetie ist der Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil, und zwar gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit (Kap. 11; 1452a, 22–24). 9. Die Lösung (λύσις) der Handlung muss sich aus der Handlung selbst ergeben und soll nicht durch den Eingriff eines Deus ex machina herbeigeführt werden (Kap. 15; 1454a, 33–36). Das Tat- und Sprechhandeln der Figuren bedarf der Motivierung durch den dargestellten Charakter (ἦθος), den Aristoteles nach dem Mythos zum zweitwichtigsten Element der Tragödie erklärt: 10. „Denn die Tragödie ist nicht Darstellung von Menschen, sondern von Handlungen [πράξεις] und von Lebenswirklichkeit [βίος]. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung [πράξις], und das Ziel [der Darstellung] ist eine Handlung [πράξις], nicht aber die Eigenschaft [ποιότης] [eines Charakters].
16 | Aristoteles und die Formalisten Die Menschen haben aufgrund ihres Charakters eine bestimmte Eigenschaft, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder unglücklich.) Folglich handeln die Personen nicht, um Charaktere darzustellen, sondern die Charaktere sind in den Handlungen enthalten [τὰ ἤθη συμπεριλαμβάνουσιν διὰ τὰς πράξεις]. Deshalb sind die Geschehnisse (τὰ πράγματα) und die Geschichte [μῦθος] das Ziel der Tragödie. Das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.“ (21; 1450a, 16–24; Ü. rev.) 11. Das Allgemeine, das die Dichtung mitteilt, besteht darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut (Kap. 9, 1451b, 8–10). 12. Man muss auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – nach dem Notwendigen oder dem Wahrscheinlichen streben, so dass es notwendig oder wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Charakter dieses oder jenes sagt oder tut und dass sich das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit aus dem Anderen ergibt. (Kap. 15; 1454a, 34–36). Obwohl Aristoteles der Historiographie den Bereich des „wirklich Geschehenen“ zuweist und der Dichtung den Bereich des „Möglichen“ (Kap. 9, 1451a, 36 ff.), schließt er nicht aus, dass der Dichter, dessen Aufgabe weniger im Versemachen besteht als im Zusammenfügen von Geschehnissen zu Geschichten, auch reale Handlungen darstellen kann: 13. Auch wenn der Dichter wirklich Geschehenes darstellt, ist er darum nicht weniger Dichter. Denn von wirklich Geschehenem kann manches so beschaffen sein, dass es nach der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte, und insofern ist er Dichter solcher Geschehnisse (Kap. 9; 1451b, 29–32). Geradezu dialektisch-paradoxal geht Aristoteles mit den Kategorien des Unwahrscheinlichen und des Unmöglichen um: 14. Es ist wahrscheinlich, dass sich vieles gerade auch gegen die Wahrscheinlichkeit ereignet (Kap. 18; 1456a, 24–25). 15. Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist (ἀδύνατα εἰκότα), muss man dem Möglichen, das unglaubwürdig ist (δυνατὰ ἀπίθανα), vorziehen (Kap. 24; 1460a, 27–29). 16. In der Dichtung ist das Unmögliche, das glaubwürdig ist (πιθανὸν ἀδύνατον), dem Möglichen, das unglaubhaft ist (ἀπίθανον καὶ δυνατόν), vorzuziehen. Das Beispielhafte muss überlegen sein. Es ist wahrscheinlich, dass sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit ereignet (Kap. 25; 1461b, 11–15).
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Das bisher Ausgeführte betraf nur die kausale Motivierung. Die künstlerische Motivierung kommt immer dann ins Spiel, wenn es um die anderen Komponenten und ihren Zusammenhang geht. Um die Geschehnisse darzustellen, bedient sich der Dichter der Musik und der Sprache. Auch die Sprache setzt die für erzählte Geschichten konstitutiven Operationen Selektion und Kombination voraus: „Ich verstehe unter Sprache die im Vers zusammengefügten Wörter“ (19; 1449b, 34– 35). Für die Komposition auf beiden Ebenen, sowohl für die „Zusammenfügung“ der Geschehnisse wie für die „Zusammenstellung“ der Wörter, gilt das allgemeine die gesamte Poetik regierende Ideal des „Passenden“ (τὸ πρέπον; 52; 1455a) oder „Angemessenen“ (τὸ ἁρμόττον; S. 46; 1450b et passim). Das „Passende“ und „Angemessene“ ist Aristoteles’ Begriff dessen, was wir die künstlerische Motivierung nennen. Das „Passende“ gilt allerdings auch als Ideal der Bildung des Mythos als erzählter Geschichte. Eine zentrale Forderung der Poetik nennt die Beteiligung von thematischer und sprachlicher Selektion und Kombination („Zusammenfügen“) an der Entstehung der erzählten Geschichte und die Relevanz des Kriteriums des Passenden für die Operationen auf beiden Ebenen: Man muss die Geschichten [τοὺς μύθους] zusammenfügen [συνιστάναι] und sprachlich ausarbeiten [τῇ λέξει συναπεργάζεσθαι], indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt. Denn wenn man sie so mit größter Deutlichkeit, als ob man bei den Geschehnissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen wäre, dann findet man das Passende [τὸ πρέπον] und übersieht am wenigsten das dem Passenden Widersprechende. (53/55; 1455a)
Der Begriff des Wahrscheinlichen (τὸ ἐικός) hat bei Aristoteles zwei Facetten. Einerseits bezeichnet er das lebensweltlich Wahrscheinliche, das kausal Begründete, anderseits das vom künstlerischen Ganzen her gesehen Passende, das der zu erzählenden Geschichte Adäquate. So ist das in der Poetik mehrfach formulierte Paradoxon aufzulösen, dass das – künstlerisch – Wahrscheinliche sich gegen die – kausale – Wahrscheinlichkeit ereignen kann. Als Beispiel für die Präferenz der künstlerischen Wahrscheinlichkeit vor der lebensweltlichen Wahrscheinlichkeit dient der Fall der Statue des Mitys. Dessen Nennung ist eingebettet in eine erneute Ausführung zur Funktion des Mythos: Die Darstellung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch eine solche, die Schrecken und Rührung erregt. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten [παρὰ τὴν δόξαν] und in Wechselwirkung [δι᾽ ἄλληλα] eintreten. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Erstaunlichen [θαυμαστόν], als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall [ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου καὶ τῆς τύχης] vonstatten gingen (denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am erstaunlichsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben
18 | Aristoteles und die Formalisten scheinen – wie es bei der Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja nicht willkürlich zu ereignen). Hieraus folgt, dass Geschichten von dieser Art die besseren sind. (33; 1452a; Ü. rev.)
Aristoteles entwirft ein rationalistisches Bild des Dichters und der Dichtung. Nicht der Platonische Enthusiasmus, die Inspiration durch eine göttliche Eingebung leitet die Poeisis, sondern das kalkulierende und bewusste Herstellen von Modellen des Möglichen, in denen die Prinzipien des „Wahrscheinlichen“ und „Passenden“ leitend sind. In diesen Modellen müssen alle Komponenten aufeinander abgestimmt sein. Die innere Stimmigkeit und Schlüssigkeit ist ein höherer Wert als referentielle Ähnlichkeit oder die lebensweltliche Wahrscheinlichkeit. Das Unmögliche kann dem Möglichen, aber Unglaubwürdigen vorgezogen werden, sogar wenn es widersinnig und absonderlich ist, sofern es nur glaubhaft ist und die künstlerische Wirkung fördert. Im Werk dient alles dem Ausdruck einer plausiblen Geschichte, die beim Rezipienten die beabsichtigte Wirkung hervorruft. Im Falle der Tragödie besteht diese Wirkung in Rührung und Schrecken. Insofern hat Aristoteles ein funktionalistisches Konzept des Werks. Alle Akte der Selektion und Kombination von thematischem oder sprachlichem Material sind der jeweiligen Hauptfunktion unterworfen, die die Grundmotivierung des Kunstwerks bildet.
3.2 Šklovskijs und Ėjchenbaums Konzept der Motivierung Im Einzelnen entwickelten die Vertreter des Formalismus durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die Zielrichtung der Motivierung. Generell waren sie wesentlich stärker an der künstlerischen Motivierung des Werks als an der kausalen Motivierung der in ihm dargestellten Handlung interessiert. Ja, sie tendierten dazu, die Begründung der Handlung als ein Problem der künstlerischen Motivierung zu betrachten. Deshalb finden wir bei ihnen nicht die Dichotomie von kausaler und künstlerischer Motivierung. Viktor Šklovskij, der die radikalste Variante des frühen Formalismus repräsentierte, suchte das Künstlerische ausschließlich in den Akten der verfremdenden Formung und schätzte die ästhetische Relevanz des zu formenden Materials, der Fabel, gering ein. Das Sujet als Formungsakt bedeutete für Šklovskij vor allem „Deformation“ der Fabel. Kunst war, wie der programmatische Titel von Šklovskijs bekanntem Essay (1917) postulierte, „Verfahren“, und die Verfahren des „Sujetbaus“ (sjužetosloženie) bestanden vor allem in jenen Techniken des Parallelismus, der Wiederholung, des Stufenaufbaus, der Zerkleinerung oder der
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Bremsung, die eine „Verfremdung der Dinge“ und eine „erschwerte Form“ bewirkten (Šklovskij [1917] 1969, 14). Gegenstand der Wahrnehmung, deren Schwierigkeit und Länge vergrößert werden sollten („denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden“; ebd.), waren die erschwerenden Formungsakte selbst, das – wie Šklovskij in einem schönen Bild formulierte – „Tanzen hinter dem Pflug“ (um des Empfindens des Pflügens willen), wobei „wir den gepflügten Acker nicht brauchen“ (Šklovskij [1919] 2009, 16): „[…] die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte dagegen ist in der Kunst nicht wichtig“ (Šklovskij [1917] 1969, 14). Wie in diesen Aperçus tendierte Šklovskij generell dazu, die übliche Hierarchie von Inhalt und Form umzukehren. Und so behauptete er mit der für ihn typischen provokativen Geste immer wieder, dass das Material die Sujetverfahren motiviere und nicht umgekehrt: Schiffbruch, Entführung durch Piraten usw. wurden [im Abenteuerroman] nicht aufgrund lebensweltlicher, sondern aufgrund künstlerisch-technischer Umstände für das Sujet des Romans ausgewählt. Lebenswelt ist hier nicht mehr enthalten als indische Lebenswelt im Schachspiel. (Šklovskij [1919] 2009, 19) Die Formen der Kunst erklären sich durch ihre künstlerische Gesetzmäßigkeit und nicht durch ihre lebensweltliche Motivierung. (Šklovskij [1921] 1969, 298/299)
Die thematischen Einheiten oder die Handlung sind also nicht Endzweck, sondern dienen nur dazu, bestimmte Verfahren des Sujetbaus zu motivieren. Fällt die Motivierung weg, so steht das Verfahren ohne schützende Kleidung nackt vor uns. Das nannte Šklovskij „Bloßlegung des Verfahrens“ (obnaženie priëma). Diese Bloßlegung beobachtete er systematisch an Laurence Sternes Tristram Shandy: „Typisch für [Sterne] ist die Bloßlegung des Verfahrens. Die künstlerische Form wird ohne jede Motivierung präsentiert, einfach als solche“ (Šklovskij [1921] 1969, 244/245; Ü. rev.). Wenn die erzählte Geschichte nur Motivierung der Verfahren ist, dann kann sie nicht den eigentlichen Inhalt des Romans ausmachen. So kommt Šklovskij konsequent zu dem provokativen Schluss: Bei Sterne „besteht der Inhalt des Romans darin, dass man sich der Form mit Hilfe ihrer Verletzung bewusst wird“ ([1921] 1969, 250/251). Die Präsentation der „Form ohne Motivierung“ (forma vne motivirovki) war auch für Boris Ėjchenbaum ein die Literatur charakterisierendes Verfahren. Er zeigt es an Nikolaj Leskovs Skaz, den das „wahrnehmbare Wort (oščutimoe slovo)“ kennzeichnet (Ėjchenbaum [1925] 1969, 230/231):
20 | Aristoteles und die Formalisten Die Wahrnehmbarkeit des Wortes wird [im komischen Skaz] erheblich erhöht; der komische Effekt lenkt […] unsere Aufmerksamkeit vom Gegenstand, vom Begriff zum Ausdruck selbst, zur reinen Wortkonstruktion, d. h. er präsentiert uns die Form ohne Motivierung. (Ėjchenbaum [1925] 1969, 230/231)16
In seinem Überblick Die Theorie der formalen Methode aus dem Jahr 1926 erklärt Ėjchenbaum Šklovskijs Wahl des Tristram Shandy und des Don Quijote als bevorzugten Objekten der Analyse damit, dass sich in ihnen die Konstruktionsprinzipien des Erzählens besonders anschaulich zeigten. In Don Quijote waren, so versteht Ėjchenbaum Šklovskijs Intention, Verfahren und Motivierung noch nicht so eng miteinander verflochten, dass sie einen völlig motivierten, in allen Teilen schlüssigen Roman ergeben hätten. Neues Material sei oft einfach nur eingefügt und nicht mit dem alten verschmolzen worden. In der Analyse Wie Don Quijote gemacht ist habe Šklovskij (1925) demonstriert, dass der Typus des unbeständigen Helden aus der Romankonstruktion resultiere. So sei die Herrschaft der Konstruktion, des Sujets über das Material hervorgehoben worden (Ėjchenbaum [1926] 1927, 132; dt. 1965, 30). Ėjchenbaum erklärt in seinem Überblick auch die Rigidität der frühformalistischen Formulierungen. Wenn den „Verfahren des Sujetbaus“ (wie Stufenkonstruktion, Parallelismus, Rahmentechnik, Aufreihung) das „Material“ entgegengestellt werde (die Fabel, die Motive, die Helden, die Ideen usw.), gehe es darum, die Einheit eines konstruktiven Verfahrens an unterschiedlichstem Material festzustellen. Es sei natürlich, dass die Formalisten in den Jahren des Kampfes und der Polemik ihre Anstrengungen darauf gerichtet hätten, die Bedeutung der „konstruktiven Verfahren“ zu zeigen und alles andere als „Material“ auf die Seite zu schieben. Die Leitsätze, die die Formalisten in den Jahren des erbitterten Kampfes mit ihren Gegnern (1916–1921) formuliert hätten, seien nicht nur wissenschaftliche Prinzipien gewesen, sondern auch Losungen, die zum Zwecke der Propaganda und des Widerspruchs paradoxal zugespitzt worden seien. Der Begriff der Motivierung habe es den Formalisten jedoch ermöglicht, literarische Werke, insbesondere den Roman und die Novelle, näher zu betrachten und die Details der Konstruktion zu analysieren
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16 Auch Roman Jakobson ([1921] 1972, 34/35) verweist auf die „Entblößung des Verfahrens von jeder logischen Motivierung“, hier in der Versdichtung der russischen Avantgarde, bei Vladimir Majakovskij.
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3.3 Tomaševskijs Triade der Motivierungen Von den zahlreichen Typologien der Motivierung, die in der Literaturwissenschaft verbreitet sind, genießt zweifellos immer noch die größte Popularität die Triade in Tomaševskijs Theorie der Literatur (1925). 17 Das Buch sucht zwar unterschiedliche Konzepte der russischen Formalisten zu systematisieren und zu vereinheitlichen, wird vor allem in der westlichen Rezeption auch als Kompendium des Formalismus rezipiert (vgl. Todorov 1971), kann aber nicht als genuin formalistisch gelten. Tomaševskij sah sich selbst zwar als Teil der formalistischen Bewegung18, bezeichnet seine Theorie der Literatur in einem Brief an Šklovskij vom 12.4.1925 indes als „ganz außerhalb der formalen Methode stehend“: Das ist einfach die alte Theorie der Wortkunst [slovesnost’] des Aristoteles, die ich deshalb geschrieben habe, weil das Publikum (nicht unsere Schüler) darum gebeten hat und ich eine solche Theorie der Wortkunst in einigen Kursen gelehrt habe. Es ist klar, dass ich mich mit diesem Buch weder an die Formalisten noch an unsere Schüler gewandt habe, denn unsere Sache ist es, Probleme aufzuwerfen und nicht Fakten in bereitgestellte Kästchen zu verteilen. Deshalb verwundert mich allein schon die Möglichkeit, dass Sie dieses Buch als irgendeine neue „Arbeit“ im bestimmten Sinne dieses Wortes bewerten. (Zit. nach Fleishman 1978, 385–386).19
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17 Das Buch erlebte bis 1931 sechs Auflagen mit einer für die papierarme Zeit der jungen Sowjetunion beachtlichen Gesamtzahl von 75.000 Exemplaren und wurde ganz oder auszugsweise in viele Sprachen übersetzt. Danach wurde es im sowjetischen Russland nicht mehr aufgelegt und verschwand wie alle Publikationen, die nach der im Land maßgebenden Kulturdoktrin als ‚formalistisch‘ galten, aus den öffentlichen Bibliotheken. In seinem Nekrolog auf Tomaševskij nannte Roman Jakobson (1959, 316) das Buch „aus dem Verkehr gezogen“. 1976 erschien im estländischen Tartu unter der Ägide von Jurij Lotman, dem Haupt der semiotischen „Schule von Moskau und Tartu“, in einer Auflage von 800 Exemplaren (in der damaligen Sowjetunion ein Tropfen auf dem heißen Stein) ein Teilabdruck des Kapitels Sujetaufbau. Zur russischen und internationalen Rezeption des Buches und insbesondere des Kapitels Thematik vgl. Klaus-Dieter Seemann 1985. Zur Position des Buches im Kontext der 1920er Jahre und zur Kritik von Seiten Michail Bachtins und anderer vgl. den Kommentar in Tomaševskij 1999. 18 Vgl. seinen 1927 in Leningrad geschriebenen und dann auf französisch erschienenen Überblick über die „neue russische Schule der Literaturgeschichte“ (Tomaševskij 1928). 19 Im weiteren Verlauf des Briefes bekennt sich Tomaševskij zur Konzeption des literarischen Werks als einer dynamischen Konstruktion und zu Jurij Tynjanovs funktionaler Betrachtungsweise, die in den ein Jahr zuvor erschienen Arbeiten (Tynjanov 1924a; 1924b) präsentiert worden war.
22 | Aristoteles und die Formalisten Tomaševskij geht davon aus, dass das System der Motive, die die Thematik eines Werkes bilden, eine künstlerische Einheit darstellen muss. Diese Einheit resultiert daraus, dass die Motive und ihre Komplexe hinreichend „eingepasst“ (prignany) sind. Die Einführung jedes einzelnen Motivs muss „gerechtfertigt“ (opravdano) oder „motiviert“ (motivirovano) sein (Tomaševskij 1925, 147; dt. 1985, 227). Da die Verfahren der Motivierung vielfältig und von unterschiedlicher Natur sind, bedürfen sie einer Klassifizierung. Tomaševskij schlägt drei Typen vor. Den ersten Typus nennt er kompositorische Motivierung (motivirovka kompozicionnaja). Sie beruht auf den Prinzipien der Ökonomie und Zweckmäßigkeit und besteht in der weiteren Verwendung einmal eingeführter Motive und in der Vermeidung blinder Motive. Als Beispiel nennt er das bekannte ‚Gesetz‘ Anton Čechovs: Wenn man zu Beginn einer Erzählung von einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen (Tomаševskij 1925, 147; dt. 1985, 227–228).20 Von diesem ersten Fall der kompositorischen Motivierung unterscheidet Tomaševskij einen weiteren: Charakteristische Details „sollen mit der Dynamik der Fabel harmonieren“. Dieses Harmonieren bezeichnender Details mit der Handlung kann entweder auf dem Prinzip psychologischer Analogie (etwa zwischen einer romantischen Landschaft und einer Liebesszene) oder auf dem Prinzip des Kontrastes (etwa mit der gleichgültigen Natur) beruhen. Als negativen Fall kompositorischer Motivierung nennt Tomaševskij die „falsche Motivierung“. Hierbei werden Motive eingeführt, die zunächst von der tatsächlichen Situation ablenken sollen. Solche falschen Motivierungen begegnen nach Tomaševskij häufig in Kriminalromanen, wo sie den Leser auf eine falsche Spur führen sollen, oder in Werken, „die vor dem Hintergrund einer großen literarischen Tradition geschaffen wurden“ (Tomаševskij 1925, 127; dt. 1985, 229). In diesem letzteren Fall soll der Leser, so Tomaševskij, erkennen, dass die falschen
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20 Diese Forderung Čechovs kursiert in verschiedenen Varianten. Prominenter als die von Tomaševskij zitierte Fassung ist die als „Čechovs Gewehr“ bekannte Version (vgl. den Artikel Chekhov’s gun in der englischsprachigen Wikipedia; https://en.wikipedia.org/wiki/Chekhov’s_gun). Im Sommer 1889 soll der Autor geäußert haben: „Wenn Sie im ersten Akt an der Wand eine Pistole aufgehängt haben, dann muss im letzten Akt aus ihr geschossen werden. Sonst hängen Sie sie lieber nicht auf“ (Čechov, Pis’ma III, 464). In einem Brief aus demselben Jahr (1.11.1898) schreibt Čechov: „Man darf auf der Bühne nicht ein geladenes Gewehr zeigen, wenn niemand beabsichtigt, damit zu schießen. Man darf nichts versprechen“ (Čechov, Pis’ma III, 273).
Tomaševskijs Triade |
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Details nur um einer unerwarteten Lösung willen eingeführt wurden.21 Die falsche Motivierung betrachtet Tomaševskij als Element der literarischen Parodie, wenn allgemein bekannte literarische Situationen vom Autor nicht in ihrer traditionellen Funktion verwendet werden. Als zweiten Typus der Motivierung nennt Tomaševskij die realistische Motivierung. Darunter subsumiert er Verfahren, die die Realität des fiktiven Erzählten wahrscheinlich machen sollen. Šklovskijs Hinweis auf die Existenz von Gesetzen der Sujetkomposition ([1919] 1969, 43; dt. 2009, 16) folgend, stellt Tomaševskij fest, dass diese Gesetze mit Wahrscheinlichkeit nichts zu tun haben und dass jede Einführung von Motiven ein „Kompromiss zwischen dieser objektiven Wahrscheinlichkeit und der literarischen Tradition“ sei: „Die vom realistischen Standpunkt absurde traditionelle Einführung von Motiven nehmen wir aufgrund ihrer Traditionalität nicht wahr“ (Tomаševskij 1925, 149; dt. 1985, 230). Nur in der parodistischen Verwendung werden wir auf ihre Künstlichkeit aufmerksam.22 In dem Maße, wie die Verfahren der realistischen Motivierung als künstlich und konventionell wahrgenommen werden, müssen sie um einer wirksamen Wirklichkeitsillusion willen durch neue Verfahren abgelöst werden.23 Auch in der phantastischen Literatur ist die realistische Motivierung gewöhnlich wirksam. Deshalb kann man die Handlung doppelt interpretieren, als realen und als phantastischen Vorgang. Für die Doppelkodierung der phantastischen Literatur beruft sich Tomаševskij auf den russischen Religionsphilosophen und Dichter Vladimir Solov’ëv [Solowjow] (1899), den er wörtlich zitiert: [Das echt Phantastische] tritt nie sozusagen in bloßgelegter Form auf. […] Im echt Phantastischen bleibt immer die äußere, formale Möglichkeit einer einfachen Erklärung durch die gewöhnlichen, stets vorhandenen Verknüpfungen der Phänomene, wobei allerdings diese Erklärung schließlich ihre innere Wahrscheinlichkeit einbüßt. (Tomаševskij 1925, 151–152; dt. 1985, 233)24
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21 Eine „falsche Motivierung“ in Tomaševskijs Sinne liegt den Erzählungen Belkins von Aleksandr Puškin zugrunde. Jede der fünf Novellen scheint zunächst dem Skript bekannter Geschichten sentimentalistischer oder romantischer Provenienz zu folgen, nimmt dann aber zur Überraschung sowohl für die betroffenen Figuren wie für den Leser eine gänzlich unerwartete Wendung (vgl. Schmid 1991). 22 In seinen Ausführungen zur parodistischen Verwendung traditioneller Verfahren rekurriert Tomаševskij offensichtlich auf Šklovskijs Konzept der ‚Bloßlegung des Verfahrens‘. 23 Hier rührt Tomаševskij an die formalistische Theorie der literarischen Evolution, ohne sie freilich weiter zu entfalten. 24 Diese Beschreibung weist voraus auf die spätere Definition der phantastischen Literatur durch Tzvetan Todorov (1970), der Solov’evs Äußerung aus Tomаševskijs Zitierung gekannt hat.
24 | Aristoteles und die Formalisten Ein dritter Typ ist für Tomаševskij die künstlerische Motivierung. Sie begründet, so viel erfahren wir, die künstlerische Konstruktion. Die Beschreibung dieser Form der Rechtfertigung fällt bei Tomаševskij recht karg aus. Wenn er das Verfahren der Verfremdung als Sonderfall der künstlerischen Motivierung erwähnt und Beispiele aus Tolstoj, Swift und Puškin anführt, bleibt die motivierende Wirkung ungeklärt. Unklar bleibt schon die Richtung der Begründung. Dient die Verfremdung etwa in Swifts Gullivers Travels tatsächlich der Einführung „außerliterarischen Materials“ und der Kritik an der politischen Ordnung, oder ist sie nicht eher selbst das Ziel der Motivierung, und dient das außerliterarische Material nicht der Rechtfertigung des Verfahrens? Im Unterkapitel Der Held spricht Tomaševskij von einem weiteren Typ der Motivierung, der psychologischen Motivierung. Sie sorgt dafür, dass die Handlungen eines Helden „aus einer psychologischen Einheit hervorgehen“, dass sie für die entsprechende Person psychologisch wahrscheinlich“ sind (1925, 155; dt. 1985, 238).25 In noch einem anderen Sinn spricht Tomаševskij von Motivierung, wenn er den literarischen Helden die „gleichsam verkörperte und personifizierte Motivierung der Motivverknüpfung“ nennt (1925, 157; dt. 1985, 240). In einem ähnlich unspezifischen Sinn verwendet er den Begriff für die Anekdote, die er auf die Überschneidung zweier Hauptmotive zurückführt: die übrigen Motive wie äußere Umstände, „Vorwort“ und Ähnliches sind nur „notwendige Motivierung“ für den spezifischen Effekt der für die Gattung charakteristischen Doppelsinnigkeit (1925, 157; dt. 1985, 240). Zur Rolle der Motivierungen im „Leben der Sujetverfahren“ behandelt Tomаševskij zwei typische Möglichkeiten. In der Literatur des 19. Jahrhunderts ist das ganze System der Motivierungen darauf ausgerichtet, die von den Autoren angewandten Verfahren nicht-wahrnehmbar zu machen, das literarische Material auf „natürliche“, nicht spürbare Weise zu entfalten. Dem steht eine andere Poetik gegenüber, in der es nicht um das Verdecken des Verfahrens geht, sie strebt vielmehr danach, das Verfahren „wahrnehmbar“ (zametnyj), „fühlbar“ (oščutimyj) zu machen (1925, 160; dt. 1985, 243–244).
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Nach Todorov zeichnet sich das Phantastische vom Wunderbaren, dessen Handlung eindeutig übernatürlich motiviert ist, durch eine ambivalente Motivierung aus und führt zur Verunsicherung des Lesers, der zwischen realistischer und übernatürlicher Aufnahme der dargestellten Welt schwankt 25 Diese psychologische Motivierung fällt keineswegs zusammen mit der Motivation des Helden, seinen Beweggründen, eine bestimmte Handlung auszuführen oder nicht auszuführen.
Bachtins Kritik |
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Die Systematik von Tomaševskijs Triade ist mehrfach Gegenstand der Kritik gewesen (vgl. z. B. Martínez 1996a, 22). Meir Sternberg (2013, 382) merkt an, dass Tomaševskijs „kompositorische“ Motivierung lediglich ein Untertyp der „künstlerischen“ Motivierung sei. Umgekehrt stellt Harald Haferland (2016, 30) fest, dass Tomaševskijs „realistische“ und „künstlerische“ Motivierung eher „ausbuchstabierte Ergänzungen“ der „kompositorischen“ Motivierung darstellten. Beide bei Tomaševskij gesondert behandelte Motivierungen schlägt Haferland vor, unter dem Begriff der „funktional-kompositorischen“ Motivierung zusammenzufassen und sie der „kausalen“ Motivierung entgegenzustellen, so dass nur zwei Motivierungstypen bleiben. Diese findet Haferland (2016, 31–33) in der Ästhetik Friedrich Theodor Vischers vorgegeben, die – wie Haferland versteht – zwei Motivierungen unterscheidet: 1) die „künstlerische“ Motivierung, die sich auf das ganze Werk und seine Faktur bezieht, 2) die „tatsächliche Motivierung des Gegenstands in der Wirklichkeit“, die die kausalen Beziehungen innerhalb der erzählten Welt betrifft. Wir haben dagegen festgestellt, dass Vischers Dichotomie nicht die zwischen kausaler und künstlerischer Motivierung ist, sondern sich auf das Vorkommen der einen, kausalen „Motivierung“, die Vischer kennt, einerseits im „Naturschönen“ und andererseits im „Kunstschönen“ bezieht.
3.4 Bachtins Kritik an der formalistischen Motivierungstheorie Eine frühe Kritik an der formalistischen Motivierungstheorie enthält das Buch Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, das 1928 unter dem Namen Pavel Medvedevs veröffentlicht wurde, von namhaften Kennern aber Michail Bachtin als dem wahren Autor zugeschrieben wird.26 ||
26 Die faktischen Grundlagen dieser Zuschreibung, die lange Zeit sehr umstritten war, liefert Sergej Bočarov (1993) (vgl. auch schon Grübel 1979). Die Bemühungen westlicher Bachtinisten, die Autorschaft an Medvedevs Buch und auch an Valentin Vološinovs Marxismus und Sprachphilosophie (1929) dem sogenannten „Bachtin-Kreis“ (zu diesem vgl. den Sammelband Brandist und Tihanov [2000]) zuzuschreiben, sind mit guten Argumenten von Natan Tamarčenko (2011, 9–35) zurückgewiesen worden, der sich für die alleinige Autorschaft Bachtins an den beiden Büchern ausspricht (nicht jedoch für die unter Medvedevs Namen erschienenen späteren vulgärmarxistischen Arbeiten wie etwa Medvedev 1934). Völlig verfehlt ist der Versuch von Helmut Glück, dem Herausgeber der deutschen Übersetzung, Medvedevs Buch von 1928 „als Ausgangspunkt für die Schaffung einer zum Formalismus in prinzipiellem Widerspruch stehenden marxistischen Poetik“ zu verstehen (Glück 1976, XVII). Bočarov (1993) legt dar, dass die in Bachtins Arbeiten enthaltenen Bekenntnisse zum Marxismus nach dessen eigenem Zeugnis als Erfüllung
26 | Aristoteles und die Formalisten Medvedevs/Bachtins grundsätzliche Kritik am formalistischen Begriff der Motivierung richtet sich insbesondere gegen seine Verwendung in Šklovskijs und Ėjchenbaums Werkbeschreibungen, trifft aber auch Tomaševskijs Konzeption. Der Begriff, der bei Medvedev/Bachtin im Zusammenhang mit der Kritik an der formalistischen Dichotomie Verfahren vs. Material erscheint, wird zunächst allgemein als völlig ungeeignet für die Beschreibung der künstlerischen Konstruktion verworfen (Medvedev [1928] 1993, 127; dt. 1976, 148). Gegen den Begriff der Motivierung werden zwei Einwände erhoben: Der erste betrifft die Umkehrbarkeit der von den Formalisten behaupteten Richtung der Motivierung. Anstatt die Verfahren durch das Material motiviert zu sehen, wie es Šklovskij im Falle des Tristram Shandy tue, könne man genauso gut die Verfahren als Motivierung betrachten und das Material als Motiviertes: Im Werk gibt es keine Kriterien für eine Unterscheidung zwischen dem, was Selbstzweck ist, und dem, was nur die Motivierung für die Einführung eines bestimmten Elements ist. Es ist durchaus möglich, ein beliebiges Element als Selbstzweck anzusehen: dann erscheinen andere Elemente, die obligatorisch mit ihm verbunden sind, als seine Motivierung. […] Mit demselben Recht kann man behaupten, dass in einem Vers irgendein Wort gewählt wurde, „damit es sich reimt“ – aber auch das Gegenteil: dass der Reim gemacht wurde, damit das betreffende Wort eingeführt werden konnte. (Medvedev [1928] 1993, 129; dt. 1976, 150–151)
Ein wirkliches Kriterium für die Unterscheidung zwischen Material und Verfahren liegt nach Auffassung Medvedevs/Bachtins nur dann vor, wenn ein Werk misslungen ist, wenn in ihm Elemente enthalten sind, die für die Konstruktion überflüssig sind und ausschließlich der Einführung anderer Elemente dienen. Die von den beiden Autoren geführte Polemik gegen Šklovskijs Interpretation des Tristram Shandy beruht auf der grundsätzlichen Ablehnung der formalistischen Präferenz für die Wahrnehmung der Form als Merkmal der ästhetischen Rezeption von Kunstwerken. Als besonders provokativ musste den beiden
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der in den 1920er Jahren von Seiten der offiziellen Kulturpolitik erhobenen Forderungen zu verstehen sind. Wenn Bachtin in den 1970er Jahren über den Marxismus sprach, verzog er nach Bočarovs Zeugnis das Gesicht. Die oberflächlichen marxistischen Züge in den Büchern Medvedevs und Vološinovs habe Bachtin selbst „unangenehme Ergänzungen“ genannt (Bočarov 1993, 71). Im eigenen Namen hätte Bachtin nach seinem Zeugnis „anders geschrieben“ (Bočarov 1993, 75). Auch nach den Bezeugungen Bočarovs bleibt die Frage nach dem konkreten Anteil Bachtins an den umstrittenen Büchern offen und wird wohl auch nie beantwortet werden können.
Tynjanovs Konzept |
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Autoren, die eher einer Gehaltsästhetik als einer Formästhetik anhingen, Šklovskijs oben zitierte Schlussfolgerung erscheinen, nach der der Inhalt des Tristram Shandy aus der wahrzunehmenden verletzten Form des Romans besteht. Folglich verwerfen Medvedev/Bachtin auch das Konzept der Bloßlegung des Verfahrens, das Šklovskij an Sternes Roman exemplifiziert. Das im Tristram Shandy enthaltene parodistische Moment, das Šklovskij auf die konventionellen Verfahren bezieht, wird von ihnen gänzlich anders gedeutet: Hier wird schlechte Literatur parodiert, schlechte im Sinne Sternes. Unter schlechter Literatur versteht Sterne genau diejenige, die völlig den formalistischen Rezepten entspricht. Es wird der Roman parodiert, so wie ihn Šklovskij versteht, der Roman, in dem das Material ungeschickt eingeführt wird, wo die Bremsung spürbar ist, wo die Sujetentfaltung (im Sinne Šklovskijs) die Fabel verdeckt. (Medvedev [1928] 1993, 128; dt. 1976, 149; Ü. rev.)
Der zweite Einwand, den Medvedev/Bachtin gegen den Begriff der Motivierung erheben, ist für sie noch prinzipieller: Einer Motivierung bedarf lediglich ein Element, das an sich keine innere Bedeutung hat. Wenn das Verfahren tatsächlich Selbstzweck wäre, dann hätte der Begriff der Motivierung gar nicht aufkommen können, am wenigsten wäre es angebracht gewesen, das Material als Motivierung des Verfahrens zu verstehen. Das Verfahren hätte keiner Motivierung bedurft. Der Begriff der Motivierung ist der Natur des Untersuchungsgegenstands, der künstlerischen Konstruktion, organisch fremd. […] Alles, was die Formalisten dem Material zurechnen, hat eine unbedingte konstruktive Bedeutung. Das, was sie Verfahren nennen, erweist sich als ein leeres, jeglichen Inhalts beraubtes Schema. (Medvedev [1928] 1993, 130; dt. 1976, 152; Ü. rev.)
Das ist zweifellos die schärfste und fundamentalste Kritik an den Grundpositionen der Formalisten, die in den 1920er Jahren und auch später vorgebracht wurde. Diese Kritik hat ihre Grundlage in der ästhetischen Konzeption, die Bachtin 1924 im Aufsatz Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen dargelegt hat. Der Aufsatz war von der neu gegründeten, von renommierten Autoren getragenen Zeitschrift Der russische Zeitgenosse (Russkij sovremennik) bestellt worden, konnte aber wegen der baldigen Schließung der Zeitschrift nicht erscheinen und wurde erst 1975 posthum veröffentlicht.
3.5 Tynjanovs frühstrukturalistisches Motivierungskonzept Bachtins Kritik des formalistischen Motivierungskonzepts berücksichtigt nicht die Version, die Jurij Tynjanov dem Phänomen gegeben hat. In seinem Buch Das
28 | Aristoteles und die Formalisten Problem der Verssprache27 definiert Tynjanov (1924a) den Begriff der Motivierung in extremer Verdichtung, mit Berufung auf Šklovskij und Ėjchenbaum: Motivierung in der Kunst ist die Rechtfertigung irgendeines Faktors von Seiten aller übrigen, seine Abstimmung [soglasovannost’] mit allen andern (V. Šklovskij, B. Ėjchenbaum); jeder Faktor ist durch seine Verbindung mit den übrigen Faktoren motiviert. (Tynjanov [1924a] 1993, 29; dt. 1977b, 44; Ü. rev.)
Der Begriff der Abstimmung (soglasovannost’), der im Allgemeinen für die Bezeichnung der grammatischen Kongruenz gebraucht wird, bedeutet hier die Koordination der Faktoren. Tynjanov weicht mit seiner Definition weit von dem bei Šklovskij und Ėjchenbaum Konzipierten ab. Bei den beiden war die Motivierung uni-direktional als Beziehung zwischen Verfahren und Material oder – in Šklovskijs epatistischer Umkehrung der Beziehung in Tristram Shandy – zwischen Material und Verfahren gedacht. Tynjanov stellt diesem Modell ein dynamisches, funktionsbezogenes Motivierungskonzept entgegen. Tynjanovs Vorstellung des Kunstwerks ist geprägt vom Gedanken des dynamischen Systems (Tynjanov 1924b; 1927). Die literarische Evolution, deren Prinzip Tynjanov ([1924b] 1969, 400/401) in „Kampf und Ablösung“ sieht, führt zu einer ständigen Umbesetzung und Umfunktionalisierung der Elemente dieses Systems. Deshalb ist weder eine statische Definition dessen, was Literatur ist, möglich noch eine feste Vorstellung von dem, was eine Gattung ist: „Alle festen statischen Definitionen von Literatur werden vom Faktum der Evolution hinweggefegt“ (Tynjanov [1924b] 1969, 398/399). In dem von Tynjanov konzipierten dynamischen System spielen drei Kategorien eine zentrale Rolle: 1. der „konstruktive Faktor“ (der mit Šklovskijs „Verfahren“ gleichgesetzt werden kann), 2. das „Material“ (welcher Begriff die im Werk untergeordneten Faktoren zusammenfasst), 3. das „Konstruktionsprinzip“ (das bestimmte konkrete Beziehungen zwischen einem konstruktiven Faktor und den untergeordneten Faktoren herstellt). Gegenüber den Modellen Šklovskijs und Ėjchenbaums sind zwei wesentliche Erweiterungen festzustellen: ||
27 Vor dem adäquateren Titel Das Problem der Verssemantik, das der Autor vorgesehen hatte, „schreckte“ nach Tynjanovs Worten der Leningrader Academia-Verlag „zurück“ (Tynjanov 1977a, 502).
Tynjanovs Konzept |
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„Konstruktiver Faktor“ und „Material“ sind nicht auf Formales und Inhaltliches festzulegen. Sie erscheinen statt dessen in der hierarchischen Vorstellung des dynamischen Systems als „Dominante“ und „untergeordnete Faktoren“: „Das Material ist ein zugunsten der hervorgehobenen konstruktiven Elemente der Form untergeordnetes Element“ (Tynjanov [1924b] 1969, 408/409; Ü. rev.) Da sich jedes dynamische System notwendig automatisiert, entsteht Evolution. Die der Dynamik der Literatur innewohnende Evolution führt zu ständig neuen Beziehungen zwischen dem konstruktiven Faktor und den untergeordneten Faktoren. Die Innovation besteht in einem neuen Konstruktionsprinzip, das die Beziehungen zwischen dem konstruktiven Faktor und den untergeordneten Faktoren (dem „Material“) auf veränderte Weise festlegt.
Tynjanov hat zwar keine explizite Theorie der literarischen Motivierung entwickelt. Aus seinem dynamischen Grundmodell des evolutionierenden literarischen Faktums kann man jedoch einige Prinzipien ableiten. Generell ist Tynjanov an der kausalen Motivierung von Handlungszusammenhängen nicht interessiert. Seine funktionalistischen und evolutionshistorischen Überlegungen bewegen sich ausschließlich im Umkreis dessen, was wir die künstlerische Motivierung genannt haben: 1. Die Rollen von Motivierendem und Motiviertem lassen sich nicht auf Formales und Inhaltliches aufteilen. Das Motivierte kann etwas Formales (der „Stil“) sein und das Motivierende etwas Thematisches (die „Fabel“). Wenn die sogenannte Sujet-Prosa „abgegriffen“ ist, so hat die Fabel im Werk andere Funktionen als dort, wo die „Sujet“-Prosa im literarischen System nicht „abgegriffen“ ist. Die Fabel kann lediglich eine Motivierung für den Stil oder für die Art der Materialentfaltung sein. (Tynjanov [1927] 1969, 442/443)
2.
Motivierendes und Motiviertes können in der Evolution einer Gattung ihre Rollen tauschen. Die Zuschreibung von Dominanz und Unterordnung hängt von dem literarischen System ab, aus dem die Zuschreibung erfolgt. Grob gesprochen: die Naturbeschreibungen in alten Romanen, die wir, wenn wir uns in einem bestimmten literarischen System bewegen, geneigt wären auf eine dienende Rolle zu reduzieren, auf die Rolle eines verbindenden oder bremsenden Elements (und das heißt: sie fast zu übergehen), würden wir, wenn wir uns in einem andern literarischen System bewegten, für ein ausschlaggebendes, dominierendes Element halten, denn es ist eine Situation möglich, in der die Fabel nur Motivierung, Vorwand zur Entfaltung „statischer Beschreibungen“ ist. (Tynjanov [1927]1969, 442/443; Ü. rev.)
30 | Aristoteles und die Formalisten 3.
Die Motivierung führt zu einer „gleichmäßigen Deformierung“ der Faktoren. Diese „Deformierung“, unter der Tynjanov eine Transformierung versteht28, glättet die spezifischen Eigenschaften der Faktoren, führt zu ihrem Gleichgewicht im Werk und macht die Kunst „‚leicht‘, akzeptabel“: „Motivierte Kunst täuscht“ (Tynjanov [1924a] 1993, 29; dt. 1977b, 44; Ü. rev.). Eben das erschwert erheblich die Untersuchung der Funktion eines Faktors in der durch die Motivierung „leichten“ Kunst. 4. Die Untersuchung der Funktionen der Faktoren gelingt leichter in Werken, in denen ein bestimmter Faktor „hervorgehoben“, d. h. nicht motiviert ist. 5. Die Motivierung, die zur „Abstimmung“, zur Harmonie der Faktoren eines Werks beiträgt und das Eigengewicht von Faktoren ausgleicht, ein Äquilibrium herbeiführt und das Heterogene homogenisiert, wirkt jeglicher Verfremdung entgegen, die auf Fokussierung, Isolierung, „Verbesonderung“ beruht.29 Tynjanovs Konzept der Motivierung läuft auf eine „Abstimmung“ aller im Werk enthaltenen Faktoren miteinander hinaus. Die Ideale des motivierten Werks sind Schlüssigkeit, Koordiniertheit aller Teile, Plausibilität. Diese Eigenschaften sind nicht von sich her gegeben, sondern müssen durch die Akte der Transformation, die Tynjanov „Deformation“ nennt, allererst hergestellt werden.
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28 Aus Anlass der Missverständnisse, die der Begriff der Deformation hervorrief, schrieb Tynjanov an seinen Kritiker Grigorij Vinokur: „Der Begriff der Deformation ist bei mir unglücklich gewählt, man sollte Transformation schreiben, dann wäre alles in Ordnung“ (zit. nach Paulmann 1977, 33, Fn. 109). 29 „Verbesonderung“ ist das treffende tschechische Äquivalent (ozvláštnění) des formalistischen Verfremdungsbegriffs, russ. ostranenie ‚Fremdmachen‘. Tynjanov hatte diese Äquivalenz der Begriffe jedoch sicher nicht im Blick.
4 Die Auswahl der Geschehensmomente 4.1 Geschehen und Geschichte Aristoteles fordert für die Tragödie eine wahrscheinliche, von künstlerischer Adäquatheit geleitete Handlung. Die Selektion und Kombination von thematischem und sprachlichem Material soll eine bestimmte Wirkdisposition des Werks ermöglichen. In der Neuzeit geht der Gedanke der narrativen Motivierung vom Ideal des kohärenten, schlüssigen, in sich plausiblen Erzählwerks aus. Das schlüssige Werk erfüllt angesichts der Inkohärenz und Nicht-Schlüssigkeit des Weltgeschehens und des individuellen Lebens den Wunsch nach Sinn. Die den Sinn garantierende Schlüssigkeit erfordert eine entsprechende Auswahl von thematischen Einheiten. Wir stehen hier vor dem Problem von Geschehen und Geschichte, einer auf Georg Simmel (1916) zurückgehenden ursprünglich historiographischen Dichotomie, die auch auf die Konstitution fiktionaler Erzählwerke sinnvoll angewandt werden kann. Nach Simmel muss der Historiograph eine „ideelle Linie“ durch die unendlich zerkleinerbaren Elemente eines Ausschnitts aus dem Weltgeschehen „hindurchlegen“, um zu einer historiographischen „Einheit“ wie etwa dem „Siebenjährigen Krieg“ oder der „Schlacht von Zorndorf“ zu gelangen (Simmel [1916] 1922, 165). Dem Hindurchlegen der ideellen Linie geht ein „abstraktes Konzept“ der jeweiligen Einheit voraus, das darüber entscheidet, welche „Geschehensatome“ zu der Einheit gehören und welche nicht. Während sich das Geschehen durch „Stetigkeit“ und „Kontinuierlichkeit“ auszeichnet, ist die „Geschichte“, die darüber geschrieben wird, mit Notwendigkeit „diskontinuierlich“. Wie der Historiograph einzelne Momente eines Ausschnitts des kontinuierlichen Geschehens auswählt und unter einem allgemeinen Begriff zu einer diskontinuierlichen Geschichte zusammenfasst, so bildet auch der Erzähler seine eigene, individuelle, unter einen Titel gebrachte Geschichte des von ihm zu erzählenden fiktiven Geschehens. 1 Historiograph und literarischer Erzähler wählen nicht nur Geschehensmomente aus, sondern auch bestimmte ihrer Eigenschaften. Wie jegliche Gegenstände in der Wirklichkeit sind die Momente des Geschehens in unendlich vielen Eigenschaften „bestimmt“ im Sinne von Roman Ingar||
1 In mehreren Publikationen habe ich die Relevanz der Dichotomie von Geschehen und Geschichte für die Narratologie dargelegt, zuletzt in Schmid 2014a, 223–230; dort findet sich auch eine Auseinandersetzung mit der Kritik an der Kategorie des Geschehens. Zur Theorie der narrativen Konstitution vgl. auch Scheffel 2014.
https://doi.org/10.1515/9783110691030-004
32 | Die Auswahl der Geschehensmomente dens (1931) Kategorie. Der historiographisch oder literarisch Erzählende hat zu entscheiden, welche der Eigenschaften, die dem gewählten Moment im Geschehen zukommen, für die zu erzählende Geschichte relevant sind und gewählt werden sollen. So viele Eigenschaften der Erzählende auch benennen mag, in seiner Geschichte werden die Geschehensmomente aufgrund der unausschöpfbaren Fülle ihrer Eigenschaften unausweichlich in großer Unbestimmtheit bleiben. Diese Unbestimmtheit kann auch durch die bemühtesten Konkretisierungsakte des Lesers nicht vollständig aufgehoben werden kann (vgl. die Ausführungen zur „Konkretisierung der dargestellten Gegenständlichkeiten“ in Ingarden [1937; dt. 1968, 49–55]). Unbestimmtheit ist also nicht ein besonderes literarisches Phänomen, sondern die unumgängliche Eigenschaft jeglicher verbalen Darstellung von Wirklichkeit, faktualer wie fiktionaler. Die Tatsache, dass vor der Schlacht bei Zorndorf Friedrichs Flöte einen Schaden erlitten hat (was hier um des Beispiels willen frei erfunden ist), wird in eine „Geschichte des Siebenjährigen Kriegs“ nicht eingehen. Es könnte allerdings ein Historiker auftreten, der aus diesem Flötenschaden auf die Gestimmtheit des Feldherrn schließt und dieser einen wesentlichen Einfluss auf den Schlachtverlauf unterstellt. Dann würde der Flötenschaden zu einem nicht unentscheidenden Geschehensmoment jener Geschichte des „Siebenjährigen Kriegs“ werden, die dieser Historiker erzählt. 31 Wenn auch ein Historiker, der auf dem Faktum des Flötenschadens besteht, nicht konkret zu erwarten ist, so bleibt doch unbestreitbar, dass es von dem Geschehen, das mit dem historiographischen Begriff „Siebenjähriger Krieg“ umschrieben wird, durchaus unterschiedliche Narrativierungen in der Gestalt historiographischer Geschichten gibt. Und diese Geschichten enthalten keineswegs dieselben Momente des Geschehens. Akzentuierung und Interpretation kommen in Geschichten in wesentlichem Maße durch die individuelle Auswahl von Geschehensmomenten und ihren Eigenschaften zustande. Von ein und demselben Ausschnitt aus dem Weltgeschehen, der mit dem Begriff des Siebenjährigen Krieges umschrieben wird, können unendlich viele historio||
31 Dass auch der Historiograph Geschichten erzählt, ist ein Konzept von Hayden White (1973), der die Tätigkeit des Geschichtsschreibers als emplotment bezeichnet (vgl. Fulda 2018, 436– 440). Bei der Bildung dieses Begriffs beruft sich White auf die von den russischen Formalisten vorgenommene Unterscheidung von Fabel und Sujet (Letzteres im Englischen von ihm als plot wiedergegeben). Insofern das emplotment auf narrativen Verfahren beruht (vgl. z. B. White 1978, dessen deutsche Übersetzung den programmatischen Titel trägt Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen), hebt White die Opposition faktualer und fiktionaler Texte auf, was in der europäischen Narratologie skeptisch betrachtet wurde (vgl. Nünning 1995, 129–144).
Formale und thematische Komponenten |
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graphische Geschichten mit unterschiedlicher Auswahl der Geschehensmomente erzählt werden. Auch für fiktionale Erzählungen gilt, dass jedes aus dem Geschehen für die Geschichte gewählte Detail und jede gewählte Eigenschaft eine gewisse Relevanz besitzt oder – besser – besitzen soll. Für ein Werk, das der Leser als gut gemacht erfährt, wird er die Motiviertheit der Auswahl dieser und nicht anderer Geschehensmomente und Eigenschaften vermuten. Die präsumtive Motiviertheit braucht sich nicht auf den Handlungsverlauf der Geschichte zu beziehen, sondern kann die von dem Werk evozierte Stimmung betreffen oder die Atmosphäre der erzählten Welt. Die Motivierung kann also sowohl eine kausale als auch eine künstlerische sein. Der Idealfall ist die kausale und künstlerische Motiviertheit jedes gewählten thematischen oder stilistischen Details des Werks. Für die Analyse der Motivierung lässt sich ein Katalog von Fragen aufstellen: 1. Was begründet die Auswahl bestimmter Geschehensmomente der Erzählung? 2. Welche gewählten Geschehensmomente passen nicht zu der erzählten Geschichte oder scheinen nicht zu passen, und in welchem Aspekt erscheint die Disparatheit und Inhomogenität? 3. Wie detailliert sind die gewählten Geschehensmomente mit Eigenschaften ausgestattet? 4. Als wie ‚notwendig‘ und ‚passend‘ (im Sinne der aristotelischen Kategorien) erscheint die Auswahl gerade dieser und nicht anderer Eigenschaften? 5. Gibt es überflüssig deskriptive Passagen, d. h. Geschehensmomente, für die unfunktional viele Eigenschaften genannt sind. 6. Sind die Geschehensmomente ausgewählt und mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet, um die kausale Kohärenz der Erzählung zu sichern, oder sollen sie hauptsächlich bestimmte atmosphärische Eindrücke evozieren, bestimmte Stimmungsqualitäten ausdrücken?
4.2 Der Nexus zwischen formalen und thematischen Werkkomponenten Nach Michail Bachtins Einwand gegen das formalistische Motivierungskonzept kann die Teleologie für beide Richtungen postuliert werden. Das hieße: Formales kann Thematisches motivieren und umgekehrt, Thematisches kann eingeführt werden, um bestimmte Verfahren zu rechtfertigen. Das Werk enthält nach Auffassung des Kritikers selbst keine Kriterien dafür, was in ihm das Motivierende und was das Motivierte ist. Nach diesem Argument müsste Bachtin allerdings die
34 | Die Auswahl der Geschehensmomente oben zitierte These Šklovskijs akzeptieren können, nach der das Thematische des Tristram Shandy die Verfahren des Romans motiviert, dessen eigentlicher Inhalt (im Sinne des zentralen Gegenstands der Wahrnehmung) aus der verletzten Form besteht. Aber daran hindert den Lebensphilosophen und Ethiker Bachtin seine grundsätzliche Ablehnung der formalistischen Präferenz für die Wahrnehmung der Form als Merkmal der ästhetischen Rezeption von Kunstwerken. Wir wollen jedoch daran festhalten, dass das Werk selbst keine Direktiven enthält, in welche Richtung die Motivierung anzusetzen ist. Die Entscheidung über die Motivierungsrichtung hängt ganz davon ab, welche Komponenten der Leser als „konstruktiven Faktor“ (im Sinne von Tynjanovs dynamischem, evolutionärem Modell) wahrnimmt. Der „konstruktive Faktor“ wird immer als das Motivierte erscheinen. „Dominante“ des Werks kann sowohl Thematisches wie Formales sein, und in der Evolution einer Gattung können, wie Tynjanov betont, Motivierendes und Motiviertes ihre Rollen tauschen. Wenn sich der Analysator nicht auf einen „konstruktiven Faktor“, Formales oder Thematisches als „Dominante“, festlegen will, wird er zumindest einen Nexus zwischen den angewandten Verfahren und dem dargestellten Thema konstatieren. Das heißt: Er wird sich im Fall Tristram Shandy weder auf die Seite Šklovskijs schlagen, der als Telos die Wahrnehmung der verletzten Form des Romans annimmt, noch auf die Seite Bachtins, der Sternes Roman als Parodie schlechter Literatur betrachtet. Er wird aber in jedem Fall eine besondere – positiv oder negativ zu bewertende – Verbindung zwischen dem Thema Life and Opinions und den angewandten Verfahren feststellen, die die Entwicklung des Themas immer wieder verzögern. Auf eine notwendige Differenzierung ist aufmerksam zu machen. ‚Bewirken‘ heißt nicht ‚motivieren‘. Wenn bestimmte formale Verfahren bestimmte Wirkungen des organisierten thematischen Materials zeitigen, fungieren sie deshalb noch nicht als ihre Motivierung. Mit der Zuschreibung des motivierenden Faktors ist, wie wir nach Bachtins Einwänden und Tynjanovs Strukturierungsvorschlägen annehmen können, eine Hierarchisierung der Komponenten des Werks verbunden, die weitgehend die Entscheidung des Rezipienten ist. Die Feststellung eines Nexus zwischen formalen und thematischen Werkkomponenten, ohne sich darauf festzulegen, welche von ihnen als motivierend und welche als motiviert gelten sollen, ist vermutlich die einzige Operation des Rezipienten, die mit einigem Konsens zu leisten ist. Die in der Motivierung verknüpften Komponenten brauchen also nicht ein und derselben Werkschicht anzugehören. Der Eindruck der Schlüssigkeit des Werkganzen, den die überzeugende Motivierung suggeriert, beruht gerade auf der Relationierung heterogener Komponenten. Insofern sich die ästhetische
Formale und thematische Komponenten |
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Wahrnehmung darin bekundet, dass alle Schichten und Phasen des Werks ganzheitlich, kognitiv wie sinnlich erfasst und auf eine gemeinsame ‚Bedeutung‘, Mukařovskýs „semantische Geste“ 32 , hin vereinheitlicht werden, erfordert die künstlerische Organisation, die eine ästhetische Einstellung auslösen soll, dass sämtliche Werkkomponenten in schichtenübergreifende Motivierungen integriert sind. Mit solchen Überlegungen bewegen wir uns freilich im Umfeld der künstlerischen Motivierung. Sofern sich die kausale Motivierung ausschließlich auf Zusammenhänge innerhalb der erzählten Geschichte bezieht, bleibt sie von dem Gedanken eines Nexus zwischen Inhaltlichem und Formalem unberührt. Mit dem Werkzeug der kausalen Motivierung wird sich allerdings der Unterschied zwischen einem Kriminalroman und einem Roman zum Beispiel Dostoevskijs nicht ergründen lassen.
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32 Zu diesem zentralen Begriff des tschechischen Strukturalismus vgl. bes. Mukařovský 1938; 1943.
5 Sonderformen der kausalen Motivierung 5.1 Lugowskis „Motivierung von hinten“ In einigen jüngeren Typologien figurieren mentalitätsgeschichtlich spezifische Sonderformen der kausalen Motivierung. Zu Ihnen gehört die von Clemens Lugowski ([1932] 1976) so genannte „Motivierung von hinten“. 1 Es geht in dieser Form, die vor allem in oralen und vorneuzeitlichen Erzählungen auftritt, um eine „Motivierungslücke“, die vom Ende der Geschichte her gefüllt wird. Die Geschehnisse sind nicht ‚von vorne‘ motiviert, d. h. ergeben sich nicht aus einer kausalen Folge in der Geschichte, sondern sind ‚von hinten‘, von einem vorgegebenen Ziel her bestimmt, auf das die Geschehnisse unaufhaltsam zulaufen.2 Nur vom Ende her ist die Handlung eines ‚von hinten‘ motivierten Werks als kohärent zu verstehen: Die strenge ‚Motivation von hinten‘ kennt keinen direkten Zusammenhang zwischen konkreten Einzelzügen am Leibe der Dichtung; der Zusammenhang geht immer über das Ergebnis, und soweit uns heute die vorbereitende Motivation im Blute liegt, sehen wir da nur Zusammenhanglosigkeit. (Lugowski [1932] 1976, 79)
Den Unterschied zur kausalen Motivierung von vorn beschreibt Matías Martínez (1996a, 21) wie folgt: Die Motivation von hinten ‚rechtfertigt‘, die vorbereitende Motivation ‚begründet‘ […] Die Motivation von vorn (vorbereitende Motivation) gibt den Realgrund, das heißt die Ursache eines Ereignisses an. Die Motivation von hinten liefert dagegen eine andere Art von Erklärung, einen ‚Erkenntnisgrund‘.
Lugowskis Begriff „Motivierung von hinten“ hat eine unübersehbare Ambivalenz. Einerseits charakterisiert er eine Erzählung, deren Handlung vom Ergebnis bestimmt ist, anderseits bezeichnet er „komponierte“ Dichtung: „Wo eine Dich||
1 Lugowski verwendet die Begriffe Motivierung und Motivation austauschbar, vgl. die Einführung der Begriffe in Lugowski [1932] 1976, 66. 2 Situierung der „Motivierung von hinten“ in Lugowskis Konzept des „formalen Mythos“ bei Martínez 1996b. Martínez verweist auch auf Ernst Cassirers (1925) Theorie des „mythischen Denkens“, auf das sich Lugowskis Konzept des „formalen Mythos“ stützt. Zur Bedeutung von Cassirer für Lugowski vgl. Heinz Schlaffer (1994, XI–XIV). Zu Lugowskis „Motivierung von hinten“ vgl. auch Haferland 2014, der sie auf die schwächeren Begründungsanforderungen des mündlichen Erzählens und seine grundsätzliche finale Orientierung zurückführt. Zur Bedeutung von Lugowskis Kategorie für das Erzählen im Mittelalter vgl. Armin Schulz ([2012] 2015, 296–299).
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tung ‚komponiert‘ ist, da spielt die ‚Motivation von hinten‘ eine Rolle“ (Lugowski [1932] 1976, 181) (vgl. dazu Meincke 2007, 121). Von dieser Ambivalenz geht Martínez (1996a, 29) aus, wenn er Lugowskis ‚Motivation von hinten‘ zwei „Komponenten“ unterstellt, eine „finale“ und eine „kompositorische“. Lugowskis ‚Motivierung von hinten‘ schließt eine gleichzeitige ‚Motivierung von vorne‘ nicht aus. Letztere kann etwa eingesetzt werden, um eine ‚Motivierung von hinten‘ zu „decken“ (Lugowski [1932] 1976, 110, 113). Nicht recht einleuchtend ist Harald Haferlands Vorschlag, von vorn kausal motiviertes Erzählen, das zugleich auch ‚von hinten‘ motiviert ist, „finales“ oder „durchschaubares“ Erzählen zu nennen oder in solchen Fällen von „Vorhersehbarkeit des Handlungsverlaufs“ zu sprechen; denn – so sein Argument – „kausale Motivierung schließt ‚Motivation von hinten‘ aus, nicht aber Finalität“ (Haferland 2014, 76). Von einer ‚Motivation von hinten‘ solle man – so Haferland – nur in jenen Fällen einer Koexistenz sprechen, in denen eine kausale Motivierung „offenkundig an den Haaren herbeigezogen ist“ (2014, 92, Fn. 27). Dem widerspricht, dass sich in der Literatur zahllose Fälle finden, in denen die beiden Begründungen, die Motivierung von vorn und die Motivierung von hinten ohne Einschränkung koexistieren.3
5.2 Martínez’ „finale Motivierung“ Aus Lugowskis ‚Motivierung von hinten‘ leitet Matías Martínez neben der „kompositorischen Motivation“ (die „auf das kausale Gefüge des Geschehens sozusagen einen ‚finalisierenden‘ Schatten wirft“; 1996a, 29) eine Motivierung ab, die er unter der Bezeichnung „finale Motivierung“ in die narratologische Diskussion eingebracht hat (1996a, 20; 2000, 644; Martínez/Scheffel [1999] 2002, 111–114).4
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3 Ein nicht überraschendes Pendant zu Lugowskis ‚Motivierung von hinten‘ entdeckt Heinz Schlaffer (1994, XV) bei Viktor Šklovskij, der in seinem Aufsatz über die Verfahren der „Sujetfügung“ zu dem Märchen Die weise Jungfrau feststellt: „Hier geht der Aufbau vom Schluss aus, die Erzählung wird geschaffen zur Motivierung der Unerlässlichkeit einer zutreffenden Lösung“ (Šklovskij [1919] 1969b, 80/81). 4 Der Begriff der „finalen Motivierung“ begegnet schon bei Kurt Ruh in Verbindung mit dem mittelalterlichen Artusroman: „Chrétien und Hartmann fragen nicht oder nur gelegentlich nach Beweggründen, sondern nach dem Wozu. Handlung ist nicht kausal, sondern final bedingt. […] Das in der Individualisierung der Personen eingeschlossene realistisch-psychologische Moment greift nicht in die Handlungsführung ein. Gerade die entscheidenden ‚Wendungen‘ der Erzählung bleiben ohne kausal-psychologische Motivierung“ (Ruh [1967] 1977, I, 114).
38 | Sonderformen der kausalen Motivierung Sie liegt vor, wenn die Handlung durch das Walten einer numinosen Instanz, einer Gottheit oder einer Macht wie dem Schicksal motiviert ist.5 In finaler Motivierung erscheint das Geschehen vor dem Sinnhorizont eines mythischen Weltmodells durch das Wirken einer allmächtigen numinosen Instanz determiniert. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an geplant, scheinbar freie Entscheidungen der Figuren oder Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Providenz. (Martínez 2000, 644)
Anne Sophie Meincke (2007, 146–147) formuliert für Martínez ‚finale‘ Motivierung fünf konstitutive Charakteristika: 1. Es gibt einen Zweck/ein Ziel, dem die kausal verknüpften Ereignisse des Geschehens untergeordnet sind. 2. Es gibt (mindestens) eine diegetische Instanz, die diesen übergeordneten Zweck setzt/das Ziel festlegt und dessen Erreichung durch gezielten Eingriff in das Geschehen bzw. völlige Steuerung des Geschehens sichert. 3. Die zwecksetzende/-n und -vollziehende/-n Instanz/-en hat/haben innerhalb der erzählten Welt den Status einer transzendenten Macht. 4. Die Handlungen der epischen Figuren beeinflussen nur scheinbar den weiteren Verlauf des Geschehens („geschlossener Handlungshorizont“). 5. Es gibt keinen Zufall. Soll eine solche Motivierung wirklich final sein, darf sie nicht nur im Schluss als überraschende Lösung erscheinen, sondern muss sie das Handeln der Figuren von Anfang an bestimmen. Ein klassischer Fall ‚finaler Motivation‘ ist der Deus ex machina, der zum Schluss eine unerwartete Lösung für unlösbare Verwicklungen herbeiführt. Schon Aristoteles, der nicht mehr einem mythologischen Denken anhing, fordert in seiner Poetik (Kap. 15; 1454a, 33–36), dass sich eine Lösung der Handlung in der Tragödie aus der Handlung selbst ergeben müsse und nicht mit Hilfe einer mechané herbeigeführt werden solle, d. h. durch den Eingriff eines Deus ex machina, der in der griechischen Dramenaufführung von einem Kran auf die Bühne herabgelassen wurde (vgl. Fuhrmann 1982, 122). Dieses Postulat bedeutet, auf die Erzählliteratur angewandt, dass auch in einer Geschichte, die ‚von hinten‘ oder ‚final‘ motiviert ist, das Walten der rettenden Instanz von Anfang an in bestimmten Anzeichen und Symptomen zu spüren sein muss. ||
5 Ausführliche Darstellung und kritische Diskussion von Martínez’ Ansatz bei Meincke (2007, 101–148). Insbesondere wird problematisiert, 1.) dass Martínez auf der Grundlage Lugowskis eine finale von einer kompositorischen Motivierung unterscheidet und 2.) dass der Komposition per se finalisierende Eigenschaften zugeschrieben werden.
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Eine finale Motivierung, die sich schon im Beginn der Geschichte zumindest in Andeutungen geltend macht, ist charakteristisch für Kulturen, die von mythischem Denken und von heilsgeschichtlichen Vorstellungen geprägt sind, oder für modernistische Epochen, die die Welt re-mythisieren (vgl. dazu z. B. den Band Mythos in der slawischen Moderne [Schmid Hg. 1987]). Dazu gehören nicht nur antike und religiös geprägte Kulturen wie die des christlichen Mittelalters, sondern auch spätere ideologisch gegründete Formationen mit säkularen Eschatologien wie etwa der des sogenannten „sozialistischen Realismus“. Die Handlung in den Musterwerken dieser sozialpädagogischen Literatur ist deutlich teleologisch aufgebaut und vom Ende einer „lichten Zukunft“ her motiviert. Finale Motivierungen treten durchaus auch in modernen Erzählwerken auf, die weit entfernt sind von der Sozialpädagogik des ‚sozialistischen Realismus‘. Das zeigen Martínez/Scheffel ([1999] 2002, 113–114) am Beispiel von Thomas Manns Novelle Tod in Venedig, wo die numinose Erklärung der Geschehnisse, d. h. die finale Motivierung, auf schwer entscheidbare Weise mit einer empirischen Erklärung, einer realistisch-kausalen Motivierung, konkurriert. In der russischen Literatur ist ein Beispiel für diese Sonderform der Motivierung in der neo-mythologischen Moderne Evgenij Zamjatins Erzählung Die Überschwemmung (Navodnenie, 1930). Hier finden wir die für modernistische Remythisierung charakteristische Interferenz von realistisch-kausaler und mythischfinaler Form sowohl in der Motivation der Heldin als auch in der Motivierung des Werks: Die Tötung der Nebenbuhlerin ist auf der realistischen Ebene ein Verbrechen, dem die Polizei nachgeht. Auf der mythischen Ebene ist sie dagegen ein Gebot, dessen Vollzug den Schoß der Mörderin fruchtbar macht (siehe dazu unten Kap. 9.2). Die beiden Beispiele zeigen, dass die finale Motivierung durchaus mit einer kausalen koexistieren kann. Es kommt dann zu konkurrierenden Kohärenzbildungen, die typisch sind für die den Realismus infrage stellende Poetik des Modernismus am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die zweideutige Motivierung führt dann zu jener ‚Verdoppelung der Welten‘, die Matías Martínez (1996a), bereits an Goethes Wahlverwandtschaften (1809) und E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Zusammenhang der Dinge (1921) demonstriert hat. In einer „empirischen Vorderwelt“, in der die Geschehnisse kausal durchaus begründet sind, eröffnet sich eine „mythische Hinterwelt“, die finale Motivierungen und einen höheren Sinn anbietet.
40 | Sonderformen der kausalen Motivierung Kulturepochen, in denen die finale Motivierung dominiert, haben eine natürliche Affinität zu niedriger Ereignishaftigkeit.6 In Welten, in denen der Ablauf von Geschichten vom künftigen Heil der so oder so interpretierten (Welt-)Geschichte determiniert wird, kann sich keine offene Ereignishaftigkeit entfalten. Volle Ereignishaftigkeit setzt das freie (Denk-, Sprech- und Tat-)Handeln autonomer Subjekte und das Risiko des Ungewissen voraus. Die „Überschreitung einer semantischen Grenze“, die nach Jurij Lotman (1970, 280–296; dt. 1972, 329–347; 1973, 347–367) das Modell des Ereignisses bildet (vgl. Hühn 2009; Schmid 2014a, 12–14; 2018a, 313–317), darf nicht von mythischen Mustern oder metaphysischen Vorstellungen vorgegeben sein. Die Verletzung der Normen, die die Grenzüberschreitung bedeutet, darf nicht von religiösen Geboten gefordert oder von Heilserwartungen salviert werden. Die für offene Ereignishaftigkeit erforderliche Freiheit von sakraler oder säkularer Eschatologie ist der Grund dafür, dass die Probleme sowohl der Ereignishaftigkeit als auch der Motivierung erst mit der Epoche der Renaissance aufbrechen, in der die teleologischen Globalentwürfe und das heilsgeschichtliche Denken zu verblassen beginnen und das theozentrische Weltmodell von einem anthropozentrischen allmählich abgelöst wird. (Die Formation des „sozialistischen Realismus“, der nur wenige Leser wirklich begeistern konnte, bedeutete ein kurzes und dann schnell erlöschendes Auflodern heilsgeschichtlicher Modellierung.) Es sei noch einmal betont: Die ‚Motivierung von hinten‘ und die ‚finale Motivierung‘ sind nicht kategorial andere Typen als die kausale Motivierung. Die narrativen Welten, in denen sie vorkommen, haben zwar eine andere Ontologie als die kausal ‚von vorne‘ motivierten Welten, aber zwischen der finalen und der kausalen Motivierung besteht werkstrukturell nicht der kategoriale Unterschied wie zwischen kausaler und künstlerischer Motivierung. Die ‚Motivation von hinten‘ und die ‚finale Motivierung‘ sind als metaphysisch geprägte Sonderformen der kausalen Motivierung zu betrachten, in denen die Richtung der Begründung umgekehrt ist und die in einem nicht-säkularen, vor-anthropozentrischen Weltmodell gründen.
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6 Zur Ereignishaftigkeit als historischem Phänomen und als Indikator von Mentalitätsstrukturen vgl. Schmid 2014a, 25–28; 2018a, 326–329.
Determination in Wolframs Parzival |
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5.3 Determination durch Herkunft (Wolframs Parzival) Neben den beiden genannten Varianten der kausalen Motivierung, die durchaus dynamisch sind, beobachten wir, vor allem in vormodernen Texten, eine statische, sich nicht entwickelnde Motivierung, die man als Determination bezeichnen kann. Es geht hier um eine in der narrativen Welt feststehende Determination der Helden für bestimmte Schicksale. Ein Beispiel ist Wolframs von Eschenbach Parzival (um 1200). Der Aufstieg des in der Waldeinöde ohne Belehrung über Gott und Welt aufwachsenden tumben Toren zum Gralskönig ist eine hochrelevante Zustandsveränderung, die volle Ereignishaftigkeit realisiert. Der Held erfährt die Erhöhung nicht unverdient. In schmerzhaften Kollisionen mit der Wirklichkeit legt er einen Weg zurück von der unbelehrten hôchvart, der Auflehnung gegen Gott, den er als seinen Lehnsherren betrachtet, zur wissenden diemuot. Er muss die Erfahrung machen, dass die schematische Anwendung angelernter Regeln andere zu Schaden bringen kann, und er bemüht sich, den jeweils angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Bei aller Selbstvervollkommnung wäre Parzival allerdings der Aufstieg zum Gralskönigtum verwehrt geblieben, wenn er nicht durch seine Herkunft dazu prädestiniert gewesen wäre. Nicht-Bestimmten wie Gawan bleibt der Weg zum Gral verschlossen, mögen sie auch über höchste ritterliche Tugenden verfügen. Parzival weiß zunächst nichts von seiner Herkunft und seiner Bestimmung. Aus Sorge vor der Wiederholung des Schicksals seines Vaters Gahmuret hat ihm die Mutter Herzeloyde seine Genealogie und seine Bestimmung zum Gralskönigtum vorenthalten. In dem Maße, wie Parzival seine hôchvart überwindet, wird ihm auch Wissen um die Abkunft zuteil. Eine große Rolle spielt dabei seine Cousine Sigune, die ihm nicht nur seinen Namen und seine Familie offenbart (Wolfram, 140, 16)7, sondern ihm auch seine Rechte nennt, die er von den Eltern geerbt hat. Sein Oheim Trevrizent eröffnet ihm Weiteres (494, 15 ff.), vor allem die Tatsache, dass er der einzige legitime Nachfolger des siechen Gralskönigs ist. Zur Selbsterkenntnis gehört für das Mittelalter das Wissen um die Genealogie und die dynastischen Beziehungen. Bevor der Erzähler den finalen Zusammenstoß Parzivals mit dem unerkannten heidnischen Halbbruder Feirefiz beschreibt, der für beide fatal auszugehen ||
7 Alle Zitate aus Wolframs Parzival nach der zweisprachigen Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns, revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. 2 Bände. 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2013. Angegeben sind jeweils die Nummern der ‚Strophen‘ (Lachmanns „Abschnitte von ungefähr dreißig Zeilen“) und Verse.
42 | Sonderformen der kausalen Motivierung droht, begründet er das Fehlen von Sorge um seinen Helden mit dem Wissen um die Determination: hie wellent ein ander vâren die mit kiusche lember wâren und lewen an der vrechheit. ôwê, sît d’erde was sô breit, daz si ein ander niht vermiten, die dâ umb unschulde striten! ich sorge des den ich hân brâht, wan daz ich trostes hân gedâht, in süle des grâles kraft ernern. in sol ouch diu minne wern. den was er beiden diensthaft âne wanc mit dienstlicher kraft. (Wolfram 737, 19–30)
Hier werden sich im Kampf begegnen, die so sanft sind wie die Lämmer und so mutig wie die Löwen. Ach, die Erde ist so groß – Warum verpassten sie sich nicht, die dort grundlos kämpfen werden? Ich hätte Angst um meinen Zögling, dächte ich nicht an die Hilfe, die ihm die Macht des Grals gewährt; auch die Liebe wird ihn schützen. Es war sein Dienst für Gral und Liebe unbeirrbar, rückhaltlos.
Den neuzeitlichen Leser wird das Wirken der von der Genealogie bestimmten Determination nicht wenig irritieren. Parzival prädestiniert für das Amt des Gralskönigs weniger seine charakterliche Entwicklung als seine Herkunft, und sogar was ihm als Verdienst zugeschrieben werden kann, nämlich der Kampf um Selbsterkenntnis und ethische Selbstvervollkommnung, zählt weniger als die Bewährung der Tugenden triuwe und erbärmde, die sich aus seiner ererbten art ergeben
5.4 Determination durch Skripts (Gottfrieds Tristan) Jede Determination bedeutet unausweichlich eine Minderung der Offenheit der Handlung für unterschiedliche Ausgänge und eine Relativierung der Ereignishaftigkeit des Handelns der Figuren. Eine gewisse Determination enthält jede Geschichte, die einem Skript folgt, selbst wenn dieses Skript allgemein ist und lediglich in einem happy ending besteht.8 Die Existenz eines Skripts, dem ein Autor folgt, enthebt ihn natürlich nicht von der Forderung, die Handlung plausibel so zu motivieren, als ob es kein Skript gäbe. ||
8 Ein Skript (Begriff geprägt von Schank und Abelson 1977; vgl. Emmott und Alexander 2009) ist eine kulturell kodierte Folge von erwarteten Verhaltensweisen für eine bestimmte Situation. Das klassische Beispiel ist das Skript eines Restaurantbesuchs. Die Sequenz der erwarteten Handlungen beginnt mit einem hungrigen Gast, der ein Restaurant betritt, bestellt, isst, bezahlt und das Restaurant verlässt.
Determination in Gottfrieds Tristan |
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Einen interessanten Umgang mit einem Skript beobachten wir in Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210). 9 Der Versroman, dessen irische Sagenquelle in vielen Sprachen Europas verarbeitet wurde, folgt einer Vorlage, auf die sich Gottfried auch ausdrücklich beruft (V. 146–16)10, den altfranzösische Tristan des „Tomas von Britanje“, wie Gottfried ihn nennt. Die Vorlage bildet das Skript, vor dessen Hintergrund die Kunst Gottfrieds gesehen werden muss. Der Versroman des Anglonormannen Thomas d’Angleterre Tristan et Ysolt, geschrieben zwischen 1160 und 1176, ist zwar nur fragmentarisch in fünf Handschriften erhalten, aber durch eine raffende Prosaübersetzung ins Altnordische weitgehend rekonstruierbar, so dass wir über diesen Umweg Gottfrieds Version mit der von Thomas vergleichen können. Gottfried weicht in zwei wesentlichen Punkten von seiner Vorlage ab. Königin Isolde von Irland vertraut dem Spielmann Tantris, als der der schwerverwundete Tristan von Irlands Königin Heilung gesucht und erfahren hat, ihre Tochter Isolde als Schülerin an. Tantris soll sie in Buchwissen, Saitenspiel und moraliteit unterweisen. Das Mädchen macht in einem halben Jahr solche Fortschritte in Bildung, Kunst und Anstand, „dass ihre Vortrefflichkeit jedermann rühmte“ (8 031–032). Sollte die Sehnsucht und der Liebesschmerz, die der „Zauber“ ihres Gesangs bei allen weckte, nicht auch das Herz ihres Lehrers berührt haben? Und sollte umgekehrt der Erfolg, den die Kunst der Schönen bei den Menschen hatte, sich nicht auch in ihrer Sympathie für den Lehrer niedergeschlagen haben? Gottfried wird sogar noch expliziter. Er lässt die junge Isolde den Spielmann Tantris mit unverhohlenem Wohlgefallen betrachten: nu nam Îsôt sîn dicke war und marcte in ûzer mâze an lîbe und an gelâze, sî blicte im dicke tougen an die hende und under d’ougen. sî besach sîn arme und sîniu bein, an den ez offenlîche schein, daz er sô tougenlîche hal.
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Isolde blickte ihn oft an und betrachtete mit außerordentlichem Interesse seinen Körper und sein Gebaren. Sie schaute ihm oft heimlich auf die Hände und in die Augen. Sie sah seine Arme und Beine an; an denen offenbar wurde, was er verbarg.
9 In die Ausführungen zum Tristan sind Ergebnisse und Zitate aus meinem Buch Mentale Ereignisse (Schmid 2017, 107–129) eingegangen. 10 Alle Zitate aus und Referenzen auf Gottfrieds Tristan nach der zweisprachigen Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1990–2002. Angegeben sind die Nummern der Verse.
44 | Sonderformen der kausalen Motivierung si bespehete in obene hin zetal. swaz maget an manne spehen sol, daz geviel ir allez an im wol und lobete ez in ir muote. (Gottfried 9 992–10 003)
Sie musterte ihn von oben bis unten. Was immer ein Mädchen an einem Mann betrachten soll, das alles gefiel ihr gut an ihm, und sie pries es in ihren Gedanken.
Die Einfügung des Lehrer-Schülerin-Verhältnisses in das Skript diente Gottfried offensichtlich dazu, die Liebe von Tristan und Isolde zu motivieren, genauer: die durch den Zaubertrank manifest gewordene Liebe auch psychologisch zu begründen. Die magische Motivierung wird bei Gottfried nicht angetastet und nicht relativiert, aber sie reicht ihm offensichtlich nicht. Es ist auch kaum vorstellbar, dass Gottfried sich in seiner senemære („Geschichte einer Leidenschaft“, 168), deren Prolog so ausführlich die widersprüchlichen Regungen des Herzens behandelt, allein auf die magische Gewalt des Minnetranks, eines Relikts aus den ältesten Schichten der Überlieferung des Stoffes, verlassen und das Unwiderstehliche des Zaubers nicht auch in die Herzen und Körper der Protagonisten verlegt hätte. Es ist bezeichnend, dass Gottfried die Wirkung des Zaubertranks im weiteren Verlauf kein einziges Mal erwähnt. In Thomas’ erhaltenen Textfragmenten wird der Trank (beivre) zwar nur einmal erwähnt (Keck 1998, 160), was mit der schlechten Überlieferung zusammenhängen mag, aber immerhin erinnert sich der todkranke Tristan an den Trank. Kaherdin, der Bruder von Isolde Weißhand (bei Thomas: Ysolt as Blanches Mains), soll die blonde Isolde an die Momente gemeinsamer Lust und Leidens erinnern. Dites li qu’ore li suvenge Des emveisures, des deduiz Qu’eümes jadis jurs e nuiz, Des granz peines, des granz tristurs E des joies e des dusurs De nostre amur fine e veraie Quant el jadis guari ma plaie, Del beivre qu’ensemble beümes En la mer quant suppris en fumes. (Thomas 2486–2494)
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Sagt ihr, dass sie sich jetzt erinnern solle an die Freuden, an die Beglückung, die wir einst Tag und Nacht hatten, an die großen Leiden, an die große Traurigkeit, an die Freuden und die Süßigkeit unserer vollkommenen und wahrhaften Liebe, nachdem sie einst meine Wunde heilte, an den Trank, den wir zusammen tranken auf dem Meer, als wir dadurch überwältigt wurden.11
11 Altfranzösischer Text und deutsche Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe: Thomas Tristan. Eingeleitet, textkritisch bearbeitet und übersetzt von Gesa Bonath (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. 21). München 1985.
Determination in Gottfrieds Tristan |
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Vergleichbare Erwähnungen des Zaubertranks finden wir bei Gottfried in den Isolde-Weißhand-Teilen nicht, obwohl die Wirkung des Tranks, die in den frühhöfischen Versionen auf vier (Eilhart von Oberge) bzw. drei Jahre (Béroul) begrenzt ist, bei Gottfried eine solche Begrenzung nicht erfährt. Die Magie scheint in den Isolde-Weißhand-Teilen keine Rolle mehr zu spielen. An dem Zitat aus Thomas wird noch etwa anderes deutlich. Die Aufzählung der Dinge, an die sich Isolde erinnern soll, weist die amur fine e veraie bereits der Zeit vor dem Trank zu, als Tristan sich in der Pflege der Königin Isolde befand und die junge Isolde in Buchwissen, Saitenspiel und moraliteit unterwies.12 Der Trank löst also nicht die Liebe aus, sondern bildet mit seinen Folgen nur eine Phase in einer längeren Entwicklung, die bereits lange vorher eingesetzt hat. Das Thomas-Zitat ist ein nicht unwichtiges intertextuelles Argument in der notorischen Kontroverse über den Beginn der Liebe in Gottfrieds Tristan. Gottfried weiß jedoch noch von einem anderen Zauber. Tristans und Isoldes Liebe ist vorgeprägt durch die Liebe zwischen Riwalin und Blanscheflur, Tristans Eltern, die nicht auf einem übernatürlichen Zauber beruhte, obwohl Blanscheflur in ihrem direkten inneren Monolog (982–1 076) für Riwalins Wirkung auf sie eine zouberlist (1 003) erwägt. Die Äquivalenz suggeriert auch für die Tristanminne eine Entstehung durch natürlichen „Zauber“. So wird das deterministische Skript des irischen Sagenstoffes durch die Einführung der psychologischen Motivik ‚aufgeweicht‘. Die zweite wesentliche Abweichung Gottfrieds von Thomas: In der normannischen Fassung heiratet Tristan Kaherdins Schwester Isolde Weißhand, vollzieht aber, eine Krankheit vortäuschend, in der Hochzeitsnacht und auch später die Ehe nicht. In Thomas’ Text gesteht Isolde Weißhand ihrem Bruder Kaherdin bei einem Ausritt, dass das Wasser, das aus einer Pfütze an ihren Schenkel gespritzt ist, weiter vorgedrungen sei als je die Hand eines Mannes. Gottfrieds Text bricht an der Stelle ab, an der Tristan in seinem dritten inneren Monolog die endgültige Zuwendung zu Isolde Weißhand erwägt. Er liebt das Mädchen nicht, verspricht sich aber von ihrer Hingabe einen Ersatz für die fehlende Gegenwart der blonden Isolde. Das Argument in dem dialogischen Selbstgespräch ist, dass die blonde Isolde verheiratet ist, glücklich mit ihrem Ehemann,
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12 Allerdings ist die zeitliche Folge von Liebe, Heilung und Trank in der zitierten Textstelle nicht eindeutig und wurde auch oft problematisiert (vgl. Keck 1998, 160–162). Keck (1998, 209) sei allerdings darin widersprochen, dass von einer Liebe vor dem Trank nicht die Rede sein könne (zum Beginn der Liebe und zu der bei Gottfried hinzukommenden psychologischen Motivierung vgl. meine Argumentation in Schmid 2017, 109–116).
46 | Sonderformen der kausalen Motivierung König Marke, lebt und nach ihm, dem einsamen Fernen, nicht einmal gesucht hat. Betrachten wir das Ende des ausgeführten Textes: Mîn vrouwe, an der mîn leben lît, weiz got diu solte nâch mir sît vil tougenlîche haben ersant al Curnewal und Engelant, Franze unde Normandie, mîn lant ze Parmenîe, oder swâ man seite mære, daz ir vriunt Tristan wære, daz sollte sider gâr sî ersuoht, und hæte sî mîn iht geruoht. nu ruochet sî mîn cleine, die ich minne und meine mê danne sêle unde lîp. durch sî mîde ich al ander wîp und muoz ir selber ouch enbern. in mac von ir niht des gegern, daz mir zer werlde sollte geben vröude unde vrôlîchez leben. (Gottfried 19 531–19 548)
Meine Herrin, an der mein Leben liegt, sollte, weiß Gott, inzwischen nach mir in aller Stille ausgeforscht haben ganz Cornwall und England, Frankreich und die Normandie, mein eigenes Reich Parmenien, oder wo man ihr auch sagte, dass ihr Geliebter Tristan sei, hätte sie seither nach mir absuchen sollen, wenn ihr etwas an mir läge. Aber ich bedeute ihr nichts, die ich liebe und verehre mehr als Leib und Seele. Um ihretwillen meide ich alle anderen Frauen und muss trotzdem auch sie selbst entbehren. Ich kann von ihr nicht das verlangen, was mir in dieser Welt geben würde Freude und ein glückliches Leben.
Für den Abbruch des Textes sind mannigfache Gründe angeführt worden. Zahlreiche Experten nehmen an, dass Gottfried durch Krankheit, Tod oder äußere Umstände daran gehindert wurde, den Text nach der Vorlage auszuführen. Es ist jedoch auch eine andere Erklärung zu erwägen, die nicht in der Biographie des Autors liegt, sondern in seinem Verhältnis zur Vorlage und zu seinem eigenen Text. Gottfried konnte erkannt haben, dass die Thomas-Lösung, nämlich die Heirat der nicht geliebten Isolde Weißhand, Ethos und Design seines Romans bedrohte. Er hatte sein senemære ja in hohen Tönen begonnen: ich wil […] wol bemæren von edelen senedæren, die reiner sene wol tâten schîn: ein senedeære und ein senedærîn, ein man ein wîp, ein wîp ein man, Tristan Isolt, Isolt Tristan. (Gottfried 121–130)
Ich will […] in rechter Weise berichten von vornehmen Liebenden, an denen sich vollkommene Leidenschaft bewies: ein Liebender, eine Liebende, ein Mann, eine Frau, eine Frau, ein Mann, Tristan, Isolde, Isolde, Tristan.
Mit reiner sene („vollkommener Leidenschaft“), die der Erzähler ankündigt, ist die pragmatische Lösung, die Thomas d’Angleterre vorgibt und mit der Tristan liebäugelt, schwer zu vereinbaren. Dies kann der Grund dafür gewesen sein, dass
Determination in Gottfrieds Tristan |
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Gottfried sein Werk nicht vollendete.13 Wenn man dieser Erklärung folgt, brach Gottfried seinen Roman ab mit Rücksicht auf die Motivierung. Das senemære vertrug sich nicht mit der bequemen Einrichtung des Lebens, die die Fortsetzung der Vorlage bedeutet hätte. Bezeichnend ist, dass Tristan in seinem letzten Monolog Isolde eine lebenspragmatische Entscheidung unterstellt und sich selbst von solchem Pragmatismus verführt sieht, aber letztlich nicht an diese Lösung glaubt. Gewiss scheint Tristan hier die Entscheidung für Isolde Weißhand rechtfertigen zu wollen, aber man muss gegenüber zahlreichen Interpreten, die hier eine endgültige Entscheidung sehen, darauf bestehen, dass Tristan von dieser Entscheidung zwar versucht wird, sie aber noch nicht getroffen hat. Schon in früheren Soliloquien hat er an der blonden Isolde gezweifelt und sich dann in dialogischer Gegenbewegung diesen Zweifel, der eine Ersatzliebe rechtfertigen sollte, energisch verboten: ich ungetriuwer, waz tuon ich? ich weiz doch wârez alse den tôt: Mîn herze und mîn leben Îsôt, an der ich hân g’unsinnet, diu enmeinet noch enminnet niht dinges ûf der erden noch enklan ir niht gewerden liep wan ich al eine und minne ich und meine ein leben, des si niht bestât. (19 142–158)
Ich Treuloser, was tue ich? Ich weiß ganz sicher: Mein Herz und mein Leben, Isolde, an der ich so sinnverwirrt gehandelt habe, sie schätzt und liebt nichts auf der Welt, und nichts kann ihr jemals so lieb sein wie ich allein. Ich dagegen liebe und begehre ein Leben, das mit ihr unvergleichlich ist.14
Gegen die Annahme, dass Gottfried seinen Roman wegen der Probleme mit der Motivierung nicht fortgesetzt hat, ist vorgebracht worden, dass an mittelalterliche Epik nicht Maßstäbe neuerer Literatur angelegt werden dürften. Insbesondere Kohärenz, Schlüssigkeit und Motivierung entsprächen nicht den Erwartungen, die man an neuere Literatur habe. Ein Vertreter dieses an sich richtigen Arguments ist Christoph Huber ([2000] 2013, 148–149), der die Berufung auf die „innere Folgerichtigkeit von Gottfrieds alles andere als konformistischem Text“ für ein schwaches Argument hält: es sei ||
13 Schon Julius Schwietering (1932, 186) argumentierte: selbst wenn Gottfried seinen Helden die Ehe asketisch führen lasse, so bedeute doch das Zustandekommen dieser Ehe für die innere Handlung einen tiefen Fall, der kaum zu überwinden sei. 14 Die letzte Zeile der Übersetzung ist schwer verständlich. Die Prosaübersetzung von Peter Knecht hat hier: „ein Leben, an dem sie keinen Anteil hat“ (Gottfried von Straßburg, Tristan. Bd. 2. Übersetzung von Peter Knecht. Berlin und New York 2004, 222.)
48 | Sonderformen der kausalen Motivierung kaum vorstellbar, dass Gottfried beim Beginn des Romans noch nicht gewusst habe, „wie er mit dem Ende des Stoffes zurechtkommen würde“. Doch, das ist durchaus vorstellbar. Es ist keineswegs auszuschließen, dass Gottfried, der gegenüber Thomas die Psychologie des Helden vertiefte und die Philosophie der Minne entwickelte, womit er die edelen herzen anzusprechen suchte, als er bei der Weißhand-Episode anlangte, den Handlungsverlauf der Vorlage mit dem Ethos seines Werks nicht mehr vereinbaren konnte. So viel Sorge um innere Schlüssigkeit ist bei aller Vorsicht vor anachronistischen Erwartungen auch dem mittelalterlichen Romandichter zuzutrauen. Held und Autor stehen, wenn der Text abbricht, vor einer Aporie. Tristan hat zu entscheiden, ob er der blonden Isolde, um deren unauslöschliche Liebe er in der Tiefe seines Bewusstseins weiß, die Treue halten oder dem Lockruf des bequemen Lebens an der Seite der liebenden, aber ungeliebten Isolde Weißhand folgen soll. Der Autor hat zu entscheiden, ob er das Ethos der von ihm begonnenen Geschichte durchhalten und sich dem Skript verweigern oder der Vorlage folgen soll, die die reine sene desavouiert.
5.5 Die Geschichtlichkeit der kausalen Motivierung Der Blick auf Gottfrieds Tristan hat gezeigt, dass die kausale Motivierung ein historisches Phänomen ist, genauer: dass an die Motivierung in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Während sich die irische Sage mit dem Zaubertrank als Begründung der schicksalhaften Liebe begnügte, führt Gottfried ein persönliches, psychologisches Moment ein. Und im Gegensatz zu Thomas, der Tristan die Ehe mit Ysolt as Blanches Mains eingehen lässt, zögert Gottfried, offensichtlich mit Rücksicht auf die Schlüssigkeit seines senemære, seinen Helden diesen Schritt tun zu lassen. Jüngste germanistische Publikationen zum mittelalterlichen Erzählen 15 arbeiten differenziert seine bislang nur pauschal und emphatisch behauptete Alterität heraus. Diese manifestiert sich auch in einer Begründung der Handlung, die den Ansprüchen neuzeitlicher kausaler Motivierung nicht entspricht. So wird etwa der Zusammenhang zwischen der psychologischen Konstitution einer Figur und ihrer Handlungsweise in mittelalterlichen Erzählungen vom neuzeitlichen Leser nicht selten als defizitär empfunden. Mittelalterliche Texte fordern dazu auf, wie Jan-Dirk Müller (1998) feststellt, Erwartungen an narrative Schlüssigkeit, ||
15 Peters 2007; Haferland und Meyer (Hgg. 2010); Schulz 2012; Kragl und Schneider (Hgg. 2013); von Contzen und Kragl (Hgg. 2018).
Geschichtlichkeit |
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wie sie eine entwickelte Schriftkultur erfüllt, zu suspendieren. Die Anforderungen zu rekonstruieren, die in unterschiedlichen Epochen an die Kohärenz und Schlüssigkeit einer Geschichte gestellt werden, ist eine der Aufgaben einer diachronen Narratologie.16 Vor allem in der Erwartung einer plausiblen kausalen Motivierung sieht sich der neuzeitliche Leser in mittelalterlichen Erzählungen oft enttäuscht. In ihrer Typologie von Inkonsistenzen in mittelhochdeutscher Epik konstatiert Karen Campbell (1987, 351): […] a modern reader equipped with an Aristotelian definition of ‘plot’ will have occasion many times in his confrontation with medieval German epics to note their deviance from his own norms of order. If he is conditioned to expect a consistent causal logic underlying the presentation of narrative events, he will not find it here, but be met instead by a whole spectrum of apparently arbitrary causal aberrations. From narrative to narrative, he may register the presence of non sequiturs and the absence of causal connectives, discover instances of ineffectual causality in aborted plot lines, or […] encounter cases of obscure or conflated motivation.
Die motivationellen Inkonsistenzen sind jedoch in den beiden Hauptlinien mittelalterlicher Epik, dem Heldenepos und der Epik des Artuskreises, nicht gleichartig. Während ersterer nach Campbell zu einem „overkill“ (367) von Motivierung und einem „hurly-burly, action packed arrangement“ (373) tendiert, beobachtet man in letzterer eine große Ökonomie von Begründungen. Damit wird dem Artusroman eine größere Strukturierung der narrativen Motivierung zugesprochen als dem Heldenepos. Campbell führt die beiden Typen motivationeller Inkonsistenz auf zwei gegensätzliche Typen der Konstitution der Geschichte zurück: in der Heldendichtung dominiere ein „hermeneutischer Code“, im Artusroman ein „proairetischer“ (im Sinne von Barthes 1970). Ersterer motiviere prospektiv, letzterer dagegen retrospektiv. (Man erkennt in dieser Dichotomie Lugowskis Opposition der ‚Motivierung von vorne‘ und der ‚Motivierung von hinten‘.) Die Ausrichtung auf das Ende bringt Campbell in Zusammenhang mit dem in der Blütezeit des Artusromans verbreiteten christlich-teleologischen Denken. Auf eine vergleichbare Doppelung der Motivierung im Artusroman verweist Walter Haug (1971), auf den sich Campbell auch bezieht. In diesem Romantypus, der von Chrétien vorgestellt wurde, wird die Handlung über einen Weg von Stationen in der Form eines Doppelkreises entwickelt. Ihre Bedeutung erhalten diese ||
16 Kritisch zu dem oft undifferenziert eingesetzten Argument der „Alterität“ mittelalterlicher Dichtung: Braun 2013 und die in seinem Band (Braun Hg. 2013) gesammelten Beiträge.
50 | Sonderformen der kausalen Motivierung Stationen nicht von ihrem Ort in der linearen Verknüpfung, sondern „quer zu diesem Zusammenhang aus ihrer strukturellen Position“ (669). Auswirkungen hat das nach Haug für die Motivierung: „Der Handlungszusammenhang lässt eine Motivierung in linearer Verknüpfung erwarten. Die eigentliche Begründung der Ereignisfolge liegt jedoch nicht in ihm, sondern in der Symbolstruktur“ (Haug 1971, 669). Diese Hinweise bilden einen weiteren Anlass, von der Geschichtlichkeit der kausalen Motivierung und ihrer Normen auszugehen und mentalitätshistorisch unterschiedliche Erwartungen an die Schlüssigkeit von Narrationen in Rechnung zu stellen. Die erwähnten erheblichen Unterschiede zwischen den Motivierungsstrukturen des Heldenepos und des Artusromans weisen darüber hinaus darauf hin, dass die kausale Motivierung nicht nur ein geschichtliches Phänomen ist, sondern in erheblichem Maße auch von der Gattung abhängt.
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Motivierungen in der Renaissance-Novelle
6.1 Boccaccios Decameron und die kausale Motivierung im griechischen Abenteuer- und Liebesroman Im Laufe ihrer Verwendung können kausale Motivierungen starr und konventionell werden und ihren Begründungscharakter verlieren. Das kann man am griechischen Abenteuer- und Liebesroman beobachten. In ihm geht es um die Trennung von Liebenden, ihr Nicht-Erkennen bei späterem Wiedersehen, und dann, in der Peripetie, um die Anagnorisis, das freudvolle Wiedererkennen.1 Um die unfreiwillige und nicht kurzzeitige Trennung der Liebenden zu begründen, greift der griechische Romanautor zu Entführung, Schiffbruch, Piratenüberfall, Gefangennahme, Scheintod, Verkauf in die Sklaverei oder Verschleppung ins Bordell usw.2 Diese Motivierung wurde zunehmend stereotyp, und es bildete sich ein regelrechtes Skript des Entführungsromans heraus. Viktor Šklovskij (2009, 19) beobachtet, dass Giovanni Boccaccio in seinem Decameron diese Kette der motivierenden Unglücke zum Gegenstand der Parodie macht.3 Die Geschehnisse der siebenten Geschichte des zweiten Tages fasst ihr Erzähler Panfilo (oder eher der Autor?) auf folgende Weise zusammen: Il soldano di Babilonia ne manda una sua figliuola a marito al re del Garbo, la quale per diversi accidenti in spazio di quattro anni alle mani di nove uomini perviene in diversi
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1 Als Beispiele sind vier der fünf erhaltenen Prosaromane der spätgriechischen Zeit zu nennen: Chaireas und Kallirrhoë (Τὰ περὶ Χαιρέαν καὶ Καλλιρρόην) des Chariton aus Aphrodisias (entstanden zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr.); Die ephesischen Geschichten von Anthia und Habrokomes (Τὰ κατ’ Ἄνθειαν καὶ Ἁβροκόμην ἐφεσιάκα) des Xenophon von Ephesos (etwa 2./3. Jahrhundert n. Chr.); Die Abenteuer der schönen Chariklea (Αἰθιοπικά) des Heliodoros (3./4. Jahrhundert n. Chr.) und die nur in lateinischer Übersetzung überlieferte Historia Apollonii regis Tyri eines unbekannten Autors aus dem 2./3. Jahrhundert n. Chr., die im Mittelalter außerordentlich populär war. 2 Das Sujetschema des griechischen Abenteuer- und Liebesromans skizziert Bachtin ([1937/38] 1975, 237–238; dt. 2008, 10–11). Zu den Strukturen dieser Gattung vgl. Isolde Stark 1989. 3 Zu den Spuren des griechischen Abenteuerromans im Decameron vgl. auch Šklovskij (1961). Šklovskij weist darauf hin, dass das Themas des Zweiten Tags das Grundprinzip des griechischen Romans fomuliert: „si ragiona di chi, da diverse cose infestato, sia, oltre alla sua speranza, riuscito a lieto fine“ ([…] wo […] von Menschen erzählt wird, die nach mancherlei Ungemach wider alle Hoffnung ein glückliches Ziel erreicht haben“; Boccaccio, Dekameron, I, 89).
https://doi.org/10.1515/9783110691030-006
52 | Renaissance-Novelle luoghi; ultimamente, restituita al padre per pulcella, ne va al re del Garbo, come prima faceva, per moglie. (122)4 Der Sultan von Babylon schickt seine Tochter dem König von Algarbien als Gemahlin, und sie gerät durch mannigfache Abenteuer in einem Zeitraum von vier Jahren an verschiedenen Orten neun Männern in die Hände; schließlich wird sie ihrem Vater als Jungfrau zurückgebracht und zieht, so wie früher, zum König von Algarbien als seine Gattin. (I, 155)
Der Schluss der Geschichte wird etwas frivoler präsentiert: Di ciò fece il re del Garbo gran festa, e mandato onorevolmente per lei, lietamente la ricevette; ed essa, che con otto uomini forse diecemilia volte giaciuta era, allato a lui si coricò per pulcella, e fecegliele credere che cosí fosse, e reina con lui lietamente poi piú tempo visse. E per ciò si disse: «Bocca basciata non perde ventura, anzi rinnuova come fa la luna». (142–143) Darüber war der König von Algarbien ganz glücklich; er schickte in ehrenvoller Weise um sie und empfing sie mit herzlicher Freude. Und sie, die mit acht Männern vielleicht zehntausendmal geschlafen hatte, legte sich als Jungfrau zu ihm und machte ihn glauben, sie sei es; und dann lebte sie lange als Königin in Freuden mit ihm. Und darum sagt man: ein geküsster Mund büßt nichts ein, sondern erneuert sich wie der Mond. (I, 180)
Šklovskij (2009, 20) merkt an, dass über die unberührt gebliebene Unschuld schon Cervantes lachte. Nach Auffassung des Formalisten mokiert sich Boccaccios Parodie über die im antiken Abenteuerroman gepflegte stereotype Motivierung der Trennungen durch Schiffbrüche, Piratenüberfälle und Entführungen, in denen, wie er hinzufügt, nicht mehr Lebenswelt enthalten war als indische Lebenswelt im Schachspiel (2009, 19). Zwischen Boccaccios Parodie und dem parodierten griechischen Abenteuerund Liebesroman ist ein entscheidender Unterschied nicht zu übersehen. Der griechische Roman führte seine Liebenden durch alle denkbaren Fährnisse, nur um ihre „unanfechtbare Treue“ (Kytzler 1983, 14) zu demonstrieren. Die „unwandelbare, ewige Liebe und Treue“ ist das den griechischen Abenteuer- und Liebesromanen gemeinsame „zentrale Strukturelement“. Die Gefährdungen, denen die Liebenden ausgesetzt sind, bestehen nur aus äußeren Bedrohungen, sind aber nicht „innere Gefährdungen des Gefühls“ (Stark 1989, 83). Wie anders bei Boccaccio: die wegen ihrer Schönheit von allen bewunderte Heldin gibt sich den jeweils neuen Männern, die sie mit stärkerer oder minderer Gewalt erobern, ohne ||
4 Zitate aus dem Original nach der Ausgabe: Giovanni Boccaccio, Il Decameron. Hg. von Aldo Francesco Massèra. Bari 1927; aus der deutschen Übersetzung nach der Ausgabe: Giovanni di Boccaccio, Das Dekameron. Mit 110 Holzschnitten der italienischen Ausgabe von 1492. Deutsch von Albert Wesselski. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972.
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große Gewissensbisse und mit vollem Genuss hin. Panfilo erzählt nicht ohne Ironie: quanto sventuratamente fosse bella una saracina alla quale in forse quattro anni avvenne per la sua bellezza di fare nuove nozze da nove volte. (123). wieviel Unglück die Schönheit über eine junge Sarazenin gebracht hat, der es um dieser Schönheit willen in vier Jahren neunmal beschieden war, eine neue Hochzeit zu halten. (I, 156)
Beim Erzählen von den unterschiedlichen Abenteuern der schönen Heldin wird von den zuhörenden Damen viel geseufzt. Über den Grund der Seufzer ist sich der Erzähler allerdings nicht ganz sicher: Forse v’eran di quelle che non meno per vaghezza di cosí spesse nozze che per pietá di colei sospiravano. (143) Vielleicht war eine oder die andere unter ihnen, die nicht minder aus Verlangen nach also häufigen Hochzeiten als aus Mitleid mit der Dame geseufzt hat. (I, 181)
Die Entführungen, die im griechischen Roman der Motivierung von Trennung, Entfremdung und Wiedervereinigung der Liebenden dienten und im glücklichen, die Treue bestätigenden Schluss überwunden sind5, werden bei dem Renaissancedichter zur keineswegs beklagenswerten Hauptsache. Šklovskij nennt Boccaccios Geschichte als Beispiel für sein Theorem der Verfremdung, nach dem „ein abgenutztes Verfahren noch einmal verwendet werden kann, und zwar als Parodie auf das Verfahren“ (Šklovskij 2009, 19–20). Wir können ergänzen: Mit ihrer Parodie endet das Leben der Motivierung nicht. In neuem Kontext kann sie durchaus in ernstgemeinter Gestalt neu erstehen.
6.2 Die Pestschilderung in Boccaccios Decameron: Kausale und künstlerische Motivierung Warum hat Boccaccio seine Novellensammlung mit der grauenerregenden Schilderung der Pest von 1345 eröffnet, einem, wie er in der Einleitung konzediert, „harten und traurigen Anfang“ („grave e noioso principio“, 9)? In der Vorrede zum Ersten Tag heißt es, dass dargelegt werden soll, „wieso es geschehen ist, ||
5 Die Tatsache, dass die entführten Jungfrauen im griechischen Roman durchweg ihre Unschuld bewahren, führt der ironische Šklovskij auf die „Höflichkeit der Sklavenhalter und Räuber“ zurück, in deren Hände die Schönen fallen.
54 | Renaissance-Novelle dass sich die später auftretenden Personen zum Erzählen zusammengefunden haben“ (I, 7) („per che cagione avvenisse di doversi quelle persone che appresso si mostrano ragunare a ragionare insieme“, 7). Für diese Erklärung, die der kausalen Motivierung für den Rückzug der sieben jungen Frauen und drei jungen Männer auf das Land diente, hätte ein knapper Hinweis auf die Katastrophe genügt. Warum aber hat der Autor ausführlich, mit vielen Einzelheiten den mit der Epidemie einhergehenden radikalen Verfall der Normen und Sitten, den Verlust von Religion und Moral, die Vertierung der Menschen und den Zusammenbruch der Florentiner Gesellschaft geschildert?6 Es muss ihm um mehr als die nur kausale Motivierung des Auszugs der zehn jungen Leute aus der von der Pest heimgesuchten Stadt gegangen sein. Tatsächlich weist der Autor in der Einleitung zum Ersten Tag sogleich auf einen Grund seiner abschreckenden Beschreibung, in dem wir die künstlerische Motivierung erkennen: Questo orrido cominciamento vi fia non altramenti che a’ camminanti una montagna aspra ed erta, appresso la quale un bellissimo piano e dilettevole sia riposto, il quale tanto piú viene loro piacevole quanto maggiore è stata del salire e dello scendere la gravezza. E sí come la stremitá dell’allegrezza il dolore occupa, cosí le miserie da sopravvegnente letizia sono terminate. A questa brieve noia; dico brieve in quanto in poche lettere si contiene; seguirá prestamente la dolcezza ed il piacere il quale io v’ho davanti promesso e che forse da cosí fatto inizio non sarebbe, se non si dicesse, aspettato. (9) Dieser schreckliche Anfang soll euch nichts andres sein, als was den Wanderern ein rauhes und steiles Gebirge ist, hinter dem die schönste und anmutigste Ebene liegt, die sie um so lieblicher dünkt, je beschwerlicher das Erklimmen und Herabsteigen war. Und so wie sich an die äußerste Freude der Schmerz schließt, so wird auch der Jammer von einer hinzutretenden Lust begrenzt. Auf diese kurze Traurigkeit – kurz sage ich, weil sie nur wenige Zeilen einnimmt – folgt alsbald das süße Vergnügen, das ich euch vorhin versprochen habe und das ihr vielleicht bei einem also beschaffenen Eingange ohne ausdrückliche Ankündigung nicht erwartet hättet. (I, 9)
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6 Für den Pest-Rahmen sind in der Forschung unterschiedliche Vorbilder und literarische Schemata ausgemacht worden. Den oft erwogenen Einfluss von Thukydides und Lukrez und überhaupt die Annahme eines Prätextes lehnt Otto Löhmann (1935, 78–93) ab: „Boccaccio hat […] selbständig und aus eigenem Erleben geschildert“ (90). Einen kritischen Überblick über die wichtigsten Hypothesen zu Prätexten gibt Elisabeth Schulze-Witzenrath (2012, 103–147). Sie verwirft insbesondere die weitverbreitete, von André Jolles (1921) vorgebrachte These, dass der Decameron-Rahmen von der orientalischen ‚Halserzählung‘ vorgeprägt sei. Für die den Rahmen prägende Motivfolge Katastrophe – geselliges Erzählen verweist Schulze-Witzenrath auf Filocolo, ein Prosawerk, das Boccaccio in den Jahren 1336–1339 in seiner neapolitanischen Lebensphase verfasst hat.
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Der Autor verweist hier auf die Komposition der Emotionen, die sein Text wecken soll. Erst der Kontrast zu den Schrecknissen und dem Verlust an Humanität, den der Rahmen darstellt, lässt die kultivierte Kommunikation der jungen Leute an sicherem und amönem Ort in seiner Annehmlichkeit recht genießen. Dem Verfall der Sitten in der von der Pest beherrschten Stadt steht der ehrbare Umgang der jungen Leute miteinander entgegen. Pampinea, die den in der Kirche Santa Maria Novella versammelten Frauen den Vorschlag unterbreitet, auf das Land zu ziehen, stellt dem „unehrbaren Beispiel“ der andern den „ehrbaren“ Rückzug entgegen: […] io giudicherei ottimamente fatto che noi, sì come noi siamo, sì come molti innanzi a noi hanno fatto e fanno, di questa terra uscissimo, e fuggendo come la morte i disonesti esempli degli altri, onestamente a’ nostri luoghi in contado, de’ quali a ciascuna di noi è gran copia, ce n’andassimo a stare, e quivi quella festa, quell’allegrezza, quello piacere che noi potessimo, senza trapassare in alcuno atto il segno della ragione, prendessimo. (20) […] würde ich es für das beste halten, wenn wir, wie wir hier sind, so wie es viele vor uns getan haben und noch tun, diese Stadt verließen und uns, das unehrbare Beispiel der andern wie den Tod fliehend, in ehrbarer Weise auf unsere Landgüter, deren jede von uns die Menge hat, begäben und uns dort Freude, Annehmlichkeit und Lust, wie wir nur könnten, verschafften, ohne die Grenze der Billigkeit irgendwie zu überschreiten. (I, 23)
Tatsächlich bleibt der Umgang der jungen Frauen und Männer bei aller Freiheit der Kommunikation und Freizügigkeit der erzählten Geschichten in den „Grenzen der Billigkeit“. Dass die drei jungen Männer zu je einer der Frauen in näheren Beziehungen stehen, wirkt sich auf ihr Verhalten nicht aus. Die jungen Männer wurden ja von Pampinea dazu eingeladen und stimmten zu, den sieben Frauen „mit reinem, brüderlichem Sinne“ (26; „con puro e fratellevole animo“, 23) Gesellschaft zu leisten. So entsteht eine Spannung zwischen der offen erotischen Sphäre vieler Geschichten und dem wohlanständigen Verhalten ihrer weiblichen und männlichen Erzähler und Hörer. Diese Spannung entspricht der Differenz zwischen den in den erzählten Geschichten entfalteten erotischen Fiktionen und der disziplinierten Realität der Erzählsituation, die mehr als ein Lächeln oder Erröten nicht zulässt. Die beachtete Grenze ist nicht eigentlich die Sittlichkeit, sondern, wie Pampinea ausdrückt, la ragione, die Vernunft. Das ist die auf Vernunft gegründete Disziplin. Die Disziplin, mit der sich die jungen Leute trotz ihrer weit abschweifenden Phantasien den selbstgesetzten Regeln bereitwillig unterwerfen, steht in denkbar großem Kontrast zu den gesetz- und sittenlosen Ausschweifungen in der Stadt. Nicht nur um das sorgenfreie Geschichtenerzählen in der amönen Natur, „la dolcezza ed il piacere“, mit den Schrecken der Pest-Stadt zu konfrontieren, sondern wohl auch um den Gegensatz zwischen dem Ordnungsver-
56 | Renaissance-Novelle lust in der Stadt und der Selbstdisziplin der Geschichten erzählenden Gemeinschaft hervorzuheben, wird Boccaccio seinen hundert Novellen die erschreckende Schilderung der Pest vorangestellt haben. Die Auswahl dieser Geschehensmomente diente nicht der kausalen Motivierung, sondern war von Gesichtspunkten der Sujetkonstruktion und ihrer Wirkung bestimmt, war also künstlerisch motiviert.
6.3 Lücken kausaler Motivierung in Cervantes’ La Gitanilla In schriftlichen Erzählungen der Frühen Neuzeit begegnen wir erstaunlich häufig Schwächen der kausalen Motivierung, die im mündlichen Erzählen, z. B. in Märchen, durchaus häufig vorkommen und anstandslos toleriert werden. Im literarischen Erzählen bemerken wir sie oft nicht, vor allem dann nicht, wenn es sich um weniger wichtige Details handelt. In neuerer Literatur kann das Fehlen einer kausalen Motivierung ein bewusst eingesetzter Kunstgriff sein, der die Konkretisationstätigkeit des Lesers anregen soll. So ist etwa in Aleksandr Puškins Novelle Pique Dame (Pikovaja dama, 1833) ein wichtiger Zug der Handlung nicht erklärt. Herrmann, der deutsche Ingenieur, überlegt, durch das abendliche Petersburg schlendernd, wie er die alte Gräfin dazu bringen könne, ihm die drei sicher gewinnbringenden Spielkarten zu nennen, die sie kennt, wie er durch Tomskijs Anekdote glauben gemacht wurde. Unversehens befindet er sich vor einem altertümlichen Haus, das ihm als Haus der Gräfin benannt wird, an die er als Besitzerin des Geheimnissses der drei Karten unentwegt gedacht hat. Der Leser muss hier entscheiden, ob er den schieren Zufall am Werk sehen will oder ob in Herrmanns Geschichte bestimmte rational nicht zu erfassende Kräfte am Werk sind. Als solche Kräfte bieten sich sowohl die Magie an, die die drei Karten dann tatsächlich gewinnen lässt, aber auch das Bewusstsein des Helden, das ihn im finalen Spiel statt des gewinnbringenden As in einem Fehlgriff die Dame ziehen lässt, die ihm, wie ihm scheint, höhnisch grinsend zuzwinkert. Eine ähnliche Ambiguität zwischen zwei ontologisch entgegengesetzten Leseweisen, die Tzvetan Todorov (1970), dem russischen Religionsphilosophen und Dichter Vladimir Solov’ev folgend, zum Merkmal des Phantastischen erklärt, charakterisiert Henry James’ Novelle The Turn of the Screw (1898). Einer diachronischen Narratologie stellt sich die Frage: Wann etablieren sich gewisse Ansprüche an die kausale Motivierung? Sind die Lizenzen in mittelalterlicher Literatur größer als in der Neuzeit? Letztere Frage, die von Mediävisten gerne pauschal bejahend beantwortet wird, ist wohl nur im Blick auf konkrete Werke und in ihnen bestimmte Stellen sinnvoll zu behandeln. Gottfrieds Tristan z. B. mag einige Motivierungslücken enthalten, aber der entscheidende innere
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Kampf in Tristan, der in drei ausgedehnten inneren Monologen ausgetragen wird, die ihn qälende Frage, ob er seiner Liebe zur blonden Isolde treu bleiben oder durch die Verbindung mit der nicht geliebten Isolde Weißhand in das Feld der bequem Eingerichteten übertreten solle, ist auch für den neuzeitlichen Leser psychologisch äußerst überzeugend motiviert Dass in der Renaissance-Novelle die Ansprüche an eine schlüssige Motivierung geringer als in späteren Poetiken sind, zeigt sich an Miguel de Cervantes’ Novela de la Gitanilla, dem Eingangswerk der Novelas ejemplares (1613), das zu den am spätesten geschriebenen Novellen des Zyklus gehört (Krauss 1959, 108). Die Geschichte variiert das Trennungs- und Wiederfindungssujet, dessen Spur über Boccaccios Novellen zum griechischen Roman zurückführt. Ein adeliges Mädchen wird in frühester Kindheit ihren Eltern von einer Zigeunerin geraubt und „in all ihren Zigeunerstreichen, Gaunereien und Diebeskünsten unterrichtet“ (13).7 Ein junger Adeliger verliebt sich in das bildschöne, alle bezaubernde und mit ihrer Gewitzheit und Weltklugheit erstaunende Mädchen, das noch nicht fünfzehn Jahre alt ist. Er wirbt um sie und willigt in ihre Bedingung ein, vor einer Verbindung mit ihr für zwei Jahre das Leben der Zigeuner zu führen. Der junge Mann wird wegen eines Totschlags, zu dem er provoziert wird, in den Kerker geworfen und erwartet seine Hinrichtung. In letzter Minute wird aufgedeckt, dass das Zigeunermädchen die einst geraubte Tochter des Stadtrichters ist. Es kommt zur Wiedererkennung zwischen Tochter und Eltern und zur Entdeckung der hohen Abkunft ihres im Kerker schmachtenden Zigeunerbräutigams. Der ehelichen Verbindung der beiden Liebenden steht nichts mehr im Wege. Cervantes war ein Autor, der sich der Probleme der Motivierung höchst bewusst war, wie Viktor Šklovskij (1925) am Don Quijote (1605 und 1615) demonstriert hat. Gleichwohl fallen dem heutigen Leser einige Momente auf, die nicht seinen Motivierungserwartungen entsprechen. Zum einen wird nicht begründet, woher das Zigeunermädchen Preciosa ihre Lebensklugheit und Weisheit gewonnen hat. Die alte Zigeunerin ist selbst erstaunt über das Wissen und die Beredtheit des Mädchens: Ea, niña – dijo la gitana vieja –, no hables más, que has hablado mucho, y sabes más de lo que yo te he enseñado. No te asotiles tanto, que te despuntarás; habla de aquello que tus años permiten, y no te metas en altanerías, que no hay ninguna que no amenace caída. (fol 10r)
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7 Zitate aus der deutschen Übersetzung nach der Ausgabe: Miguel de Cervantes, Die Novellen. Übersetzt von Konrad Thorer. Frankfurt a. M. 1987. Zitate aus dem Original nach: Novela de la gitanilla: http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/la-gitanilla--0/html/ff312792-82b1-11dfacc7-002185ce6064_15.html#I_0_
58 | Renaissance-Novelle He, Kleine, – rief die alte Zigeunerin –, schwatze nicht weiter. Du hast genug geredet und weißt mehr, als ich dich gelehrt habe. Machs nicht zu fein. Allzu scharf macht schartig! Sprich von dem, was sich für deine Jahre schickt, und fliege mir nicht zu hoch hinaus, denn Hochmut kommt vor dem Fall. (34)
Die Nennung der Bedingungen, unter denen sie bereit ist, dem verliebten Adeligen ihre Hand zur Ehe zu reichen, leitet Preciosa mit einer durch Beredtheit und Lebensklugheit verblüffenden Tirade ein: Yo, señor caballero, aunque soy gitana pobre y humildemente nacida, tengo un cierto espiritillo fantástico acá dentro, que a grandes cosas me lleva. A mí ni me mueven promesas, ni me desmoronan dádivas, ni me inclinan sumisiones, ni me espantan finezas enamoradas; y, aunque de quince años (que, según la cuenta de mi abuela, para este San Miguel los haré), soy ya vieja en los pensamientos y alcanzo más de aquello que mi edad promete, más por mi buen natural que por la esperiencia. Pero, con lo uno o con lo otro, sé que las pasiones amorosas en los recién enamorados son como ímpetus indiscretos que hacen salir a la voluntad de sus quicios; la cual, atropellando inconvenientes, desatinadamente se arroja tras su deseo, y, pensando dar con la gloria de sus ojos, da con el infierno de sus pesadumbres. Si alcanza lo que desea, mengua el deseo con la posesión de la cosa deseada, y quizá, abriéndose entonces los ojos del entendimiento, se vee ser bien que se aborrezca lo que antes se adoraba. Este temor engendra en mí un recato tal, que ningunas palabras creo y de muchas obras dudo. (fol 11v) Herr Ritter, bin ich auch nur eine arme und niedrig geborene Zigeunerin, so habe ich doch ein etwas schwärmerisches Köpfchen, das mich zu großen Dingen hinzieht. Mich rühren weder Versprechungen, noch machen mich Geschenke wankend, noch erweicht mich Unterwürfigkeit, noch bringen mich Liebesworte außer Fassung, und wenn ich auch nach der Rechnung meiner Großmutter am kommenden Michaelistage erst mein fünfzehntes Jahr vollende, so bin ich dem Geist nach doch schon gereift und weiter, als mein Alter vermuten lässt, freilich eher durch Mutterwitz als durch Erfahrung. Aber beides sagt mir, dass die Regungen der Liebe in denen, die zum ersten Mal verliebt sind, blind wütenden Stürmen gleichen, die den Willen aus seinen Angeln heben, so dass er alle Hindernisse niederwirft, töricht dem Ziel seiner Wünsche nachstürzt und, während er in den Himmel zu fliegen glaubt, den ihm seine Augen vorspiegeln, in die Hölle seines Unglücks fällt. Erreicht er das, was er wünscht, so schwindet der Wunsch mit dem Besitz des ersehnten Gegenstandes, und wohl ist’s möglich, dass sich dann die Augen des Verstandes öffnen und er nun verabscheut, was er früher angebetet hat. Diese Besorgnis macht mich so behutsam, dass ich keinen Worten glaube und bei gar vielen Taten misstrauisch bin. (37–38)8
Irritierend ist auch die Belesenheit des Zigeunermädchens, das von der Ereignisfülle des Ritterromans weiß, und die Klugheit, mit der die noch nicht Fünf||
8 Adäquater als ‚Mutterwitz‘ für das originale buen natural ist die Übersetzung ‚meine natürlichen Anlagen‘, wie Gerda von Uslar und Rolf Grossmann übersetzen (in Cervantes, Sämtliche Erzählungen, Köln 2016, 37).
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zehnjährige so reif über Liebe und Eifersucht räsoniert, dass selbst ihre vermeintliche Großmutter verblüfft ist und keine Erklärung findet: Satanás tienes en tu pecho, muchacha – dijo a esta sazón la gitana vieja–: ¡mira que dices cosas que no las diría un colegial de Salamanca! Tú sabes de amor, tú sabes de celos, tú de confianzas: ¿cómo es esto?, que me tienes loca, y te estoy escuchando como a una persona espiritada, que habla latín sin saberlo. (fol 12v) Du hast den Satan im Kopf, Mädchen, – rief hier die alte Zigeunerin – du redest von Dingen, die kein Professor von Salamanca im Munde führt; du weißt von Liebe, von Eifersucht, von Vertrauen: wie kommt das? Steh ich doch vor dir wie eine Gans und höre dir zu wie einer, die in der Verzückung lateinisch redet, ohne es gelernt zu haben. (40)
Der Autor unternimmt keine großen Bemühungen, die Weisheit und Wohlredenheit seiner Heldin zu begründen. Eine einzige Anmerkung verweist auf die von ihm vermutlich intendierte Motivierung: Ni los soles, ni los aires, ni todas las inclemencias del cielo, a quien más que otras gentes están sujetos los gitanos, pudieron deslustrar su rostro ni curtir las manos; y lo que es más, que la crianza tosca en que se criaba no descubría en ella sino ser nacida de mayores prendas que de gitana, porque era en estremo cortés y bien razonada. (fol 1r–1v) Weder Sonne noch Luft, noch auch alle Unbilden der Witterung, denen die Zigeuner mehr ausgesetzt sind als andre Leute, vermochten ihrer Schönheit Abbruch zu tun oder ihre Hände zu bräunen. Ja, was noch mehr ist, die rauhe Erziehung, die sie erhielt, konnte nicht verdecken, dass sie von gesitteteren Eltern abstammte, als es Zigeuner sind; denn sie war äußerst gewandt und sehr verständig. (13)
Cervantes scheint die verblüffenden musischen, geistigen Fähigkeiten und die Lebensklugheit des Mädchens ihrer edlen Abkunft zuschreiben zu wollen. Den genetischen Faktor so hoch anzusetzen entspricht dem Denken seiner Zeit. Und die Zeitgenossen waren mit der knappen Motivierung offensichtlich zufrieden. Ein zweites Moment, das den modernen Leser irritiert, ist die Motivierung der Liebe. Auf der Wanderung nach Madrid begegnen die Zigeunerinnen einem hübschen jungen Mann in reicher Reisekleidung. Er ist von Geist und Schönheit Preciosas so in Bann geschlagen, dass er nur den einzigen Wunsch hat, ihr zu dienen und zu tun, was immer sie wünschen mag. Preciosa, die den jungen Mann während seiner Werbung, in der er auch seine edle Familie offenbart, aufmerksam betrachtet hat und der „augenscheinlich seine Worte und seine Gestalt nicht missfallen haben“ (37; „sin duda que no le debieron de parecer mal ni sus razones ni su talle“, fol 11v), antwortet mit der oben genannten Bedingung, in die der junge Ritter sogleich einwilligt. Nicht überraschend angesichts der Anmut und des Geistes des jungen Mädchens ist die heftige Verliebtheit des jungen Mannes und seine Bereitschaft, sich allen möglichen Prüfungen zu unterziehen. Psycho-
60 | Renaissance-Novelle logisch schwerer nachzuvollziehen ist die schnelle und grundsätzliche Zustimmung Preciosas, die so beredt warnen kann vor der Blindheit, die der erste Liebessturm über die Menschen bringt. Das Einzige, das sie von dem Werber weiß, ist seine Ergebenheit und seine Familie. Man kann in der spontanen Ehevereinbarung, die die beiden binnen Minuten treffen, einen Reflex der Liebe auf den ersten Blick sehen, die im griechischen Liebesroman mit elementarer Gewalt über die Protagonisten hereinbricht (Stark 1989, 83). Auf den antiken Roman geht wohl auch der Preis der Jungfräulichkeit zurück, den Preciosa beim ersten Treffen mit dem jungen Mann mit wohlgesetzten Worten anstimmt. Im griechischen Liebesroman waren Keuschheit und Treue, wie schon erwähnt wurde, die höchsten Werte, die auch in den grausamsten Bedrängnissen nicht preisgegeben wurden. In Cervantes’ Novelle wirkt bei allem Preis der jungfräulichen Unschuld und trotz der rigiden Bedingungen, die Preciosa dem Bewerber stellt, ihre schnelle grundsätzliche Bereitschaft zur Ehe für den neuzeitlichen Leser nicht überzeugend. Zu sehr hat sie der Autor dafür mit einem skeptischen Verstand ausgestattet. Eine Herausforderung für die Glaubensfähigkeit des modernen Lesers ist auch die mühelose, perfekte und rückfallfreie Umstellung des reichen Adeligen auf die Lebenswelt der Zigeuner. Eine gründlichere psychologische Motivierung hätte Momente des Zögerns und der Rückfälligkeit vorgesehen.9 Diese und andere Motivierungsschwächen sind natürlich auch der Gattung geschuldet. Die Novelle, für die La Gitanilla ein Muster sein soll, lässt der psychologischen Begründung geringen Raum.10 Die erzählte Geschichte ist auf Ereignisse konzentriert, ihre unerwarteten Wendungen und die „ereignete unerhörte Begebenheit“, womit Goethe den Gegenstand der Novelle charakterisiert.11 Epochenmentalität und Gattung bedingen gleichermaßen die Aussparung der Psychologie. Und es scheint einem natürlichen Zusammenhang zu entsprechen, ||
9 Zum Mangel an Psychologie in den Novelas ejemplares vgl. Leo Spitzer ([1931] 1977, 210–213), der die Geschichte vom Eifersüchtigen Estremadurer (El celoso estremadureño) mit Dostoevskijs Erzählung Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett. Ein ungewöhnliches Begebnis vergleicht: „Wenn wir von Dostojewskis Menschenproblematik herkommen, muss uns die Psychologie des Cervantes geradezu primitiv vorkommen: […] der Charakter des Eifersüchtigen scheint allzu gradlinig, ganz holzschnittartig organisiert, er ist eben ein Charakter; der Charakter ist fertig, die Psyche wird, sie kann von allen möglichen Verwandlungen ereilt werden. Cervantes ist Charakterologe, er geht vom Charakter als fester Gegebenheit aus, Dostojewski ist Psychologe […]“ (211). 10 Vgl. dazu die heute noch lesenswerten Ausführungen von André Jolles ([1921] 1972, LXIX– LXX) zur deutschen Ausgabe des Decameron. 11 Zu Eckermann 25.1.1827.
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dass die Gattung der Novelle in einer Zeit mit geringen Anforderungen an die psychologische Plausibilität aufblüht. Die differenzierte Darstellung des Innenlebens der Figuren und der in ihnen stattfindenden mentalen Ereignisse findet man in den europäischen Literaturen erst mit der Entwicklung des Romans und vor allem des Briefromans im englischen 17. und 18. Jahrhundert (Aphra Behn und Samuel Richardson). Bezeichnenderweise schrieb Jane Austen, mit der der Beginn des Bewussteinsroman datiert wird, ihre Romane Sense and Sensibility (1811) und Pride and Prejudice (1813) zunächst als Briefromane.12 Wer allerdings die Geschichte des Erzählens als Entwicklung der Psychologie darzulegen geneigt ist, sei durch das Beispiel Gottfrieds gewarnt, dessen Held in seinen dialogisierten inneren Monologen eine erstaunliche ‚Modernität‘ aufweist.
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12 Die Titel dieser nicht erhaltenen Briefromane lauteten Elinor and Marianne (vor 1797) bzw. First Impressions (1796–1797).
7 Ambige kausale Motivierung in romantischen und post-romantischen Narrationen Eine herausragende Rolle spielt die kausale Motivierung in Narrationen mit einem Zwei-Welten-Modell, wie es in vielen romantischen Erzählungen der europäischen Literatur begegnet. Sofern die Welt des Wunderbaren nicht als autonomer Bereich erscheint oder eindeutig als subjektive Projektion psychologisch erklärt werden kann, haben wir es mit Phantastik zu tun, wie sie Tzvetan Todorov (1970; dt. 2018, 34) definiert hat: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit [hésitation], die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat“ (Todorov [1970] dt. 2018, 34). Todorov erhebt für seine Definition nicht den Anspruch auf Originalität 1 , sondern beruft sich unter anderem auf Boris Tomaševskij, der in seinem Kapitel Thematik, das seit 1965 von Todorov übersetzt und herausgegeben auf Französisch vorlag (Tomaševskij 1965a), den russischen Religionsphilosophen und symbolistischen Dichter Vladimir Solov’ev (Solowjow) als Gewährsmann für das Konzept des Phantastischen zitiert. In der Sprache des neoromantischen Symbolismus schrieb Solov’ev (1899) in seinem Nachwort zu Aleksej K. Tolstojs phantastischer Erzählung Der Vampir (Upyr’, 1841): Das eigentliche Gewicht und die Bedeutung des Phantastischen in der Poesie beruhen auf der Überzeugung, dass alles, was in der Welt und besonders im menschlichen Leben geschieht, nicht nur von realen und augenscheinlichen Ursachen abhängt, sondern auch noch von einer Art anderer Kausalität, einer tieferen und allumfassenden, die dafür aber weniger klar ist. Und dies ist das Unterscheidungsmerkmal des echt Phantastischen: Es tritt nie in sozusagen entblößter Form auf. Seine Phänomene dürfen niemals einen zwingenden Glauben an den mystischen Sinn der Lebensvorgänge wecken, sie sollen vielmehr auf diesen Sinn verweisen, ihn andeuten. Im echt Phantastischen bleibt immer die äußere, formale Möglichkeit einer einfachen Erklärung durch die gewöhnlichen, stets vorhandenen Verknüpfungen der Phänomene, wobei allerdings diese Erklärung schließlich ihre innere Wahrscheinlichkeit einbüßt. (Zit. nach Tomaševskij [1925] dt. 1985, 233)
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1 Zur Geschichte der Definitionen phantastischer Literatur vgl. Durst 2007, 17–47. Durst unterscheidet zwischen maximalistischen Definitionen, für die jegliche Verletzung der Naturgesetze Phantastik bedingt, und minimalistischen Definitionen, in denen die von Todorov ins Zentrum gestellte hésitation über das wahre Wesen des Übernatürlichen die entscheidende Rolle spielt. Zur durchaus kontroversen Rezeption von Todorovs Konzept vgl. Durst 2007, 47–69.
https://doi.org/10.1515/9783110691030-007
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Tomaševskij charakterisiert die Ambiguität phantastischer Erzählungen mit der zweifachen Interpretierbarkeit ihrer Fabel: man könne sie sowohl als reales als auch als irreales Ereignis verstehen. Für die Motivierung stellt sich in phantastischen Erzählungen in erster Linie die Frage, mit welchen Mitteln eine realistisch-psychologische und eine übernatürliche Wahrnehmung der Geschehnisse ausgelöst und begründet werden.2
7.1 Perspektive und Motivierung in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann 7.1.1 Zwei Perspektiven Auf den ersten Blick scheint Hoffmanns Sandmann (1817) nicht eine phantastische Erzählung im Todorovschen Sinne zu sein. Handelt es sich bei allem Übernatürlichen, das dem Helden Nathanael widerfährt, nicht um subjektive Konstrukte eines hypersensiblen Gemüts, das vom frühkindlichen Trauma der Schreckensgeschichte des die Augen raubenden Sandmanns versehrt, seelengenerierte Phantasmen nach außen projiziert? Muss sich der Leser nicht an die „notorisch vernünftige Braut Klara (!)“ (Preisendanz 1992, 121) halten, die dem Geliebten erklärt: Geradeheraus will ich es Dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte. (19) 3
Klara scheint umso vertrauenswürdiger zu sein, als sie Nathanaels Reaktion glaubhaft und für den Leser durchaus nachvollziehbar zu antizipieren vermag: Nun wirst Du wohl unwillig werden über Deine Klara, Du wirst sagen: ,,In dies kalte Gemüt dringt kein Strahl des Geheimnisvollen, das den Menschen oft mit unsichtbaren Armen umfasst; sie erschaut nur die bunte Oberfläche der Welt und freut sich wie das kindische Kind über die goldgleißende Frucht, in deren Innern tödliches Gift verborgen.“ (20)
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2 Die Motivierung ist in Zwei-Welten-Narrationen häufig ambig. Ambiguität, abgeleitet von lat. ambo (‚beide‘) und agere (‚in Bewegung setzen‘, ‚führen‘, ‚treiben‘), enthält im Gegensatz zu der oft als synonym aufgefassten Amphibolie ein aktives Begriffsmoment. Ambig ist danach etwas, das „nach zwei Seiten strebt“. 3 Alle Zitate aus dem Sandmann nach der Ausgabe: E. T. A. Hoffmann, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin und Weimar 1994. Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse. Bd. III.
64 | Romantik und Postromantik Tritt Klara nicht wie eine überzeugende Anwältin des Realen auf, wenn sie dem vom Unheimlichen bestürzten Geliebten – und mit ihm dem Leser – die Genese der Chimäre erklärt? Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muss sie in uns sich wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Patz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. (21)
Die vernünftige Analyse wird dann auch von Klaras Bruder Lothar vertieft: ,,Es ist auch gewiss“, fügt Lothar hinzu, ,,dass die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so, dass wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht.“ (21)
Die rationalen Erklärungen Klaras und Lothars waren für viele Interpreten Ansatzpunkte für eine das Übernatürliche psychologisch relativierende oder sogar eine psychoanalytische Deutung Nathanaels als eines Narzissten im Sinne von Sigmund Freuds Abhandlung über das Unheimliche (1919). 4 Der Befund eines subjektiven Wahns wird dann auch gestützt durch Nathanaels Haltung zu den beiden weiblichen Wesen. Während Nathanael die geliebte Klara, die sein düsteres Gedicht von der Zerstörung ihrer Verbindung durch Coppelius als „tolles – unsinniges – wahnsinniges Märchen“ (31) verwirft, in tiefster Entrüstung schilt: „Du lebloses, verdammtes Automat!“ (31), preist er die Puppe Olimpia, die, wie ihm scheint, mit ihrem Liebesblick zündend sein Inneres durchdringt, unter dem mühsam unterdrückten Gelächter seiner prosaischen Begleiter mit den Worten: „,O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt“ (38). Der Autor hat also einer Lektüre im Geiste des Wunderbaren massive Hindernisse in den Weg gelegt, die unhintergehbare Korrektive für Nathanaels Phantastereien zu sein scheinen. Die dem Phantastischen (im Sinne Todorovs) eigene Ambiguität wird sich nach der rationalistischen Einspurung in die Welt der ||
4 Ausführliche kritische Darstellung der psychologischen Ansätze, die die Rolle einer zweiten, übernatürlichen Welt leugnen, bei Tepe, Rauter, Semlow 2009, 196–217. Einen Überblick über psychoanalytische Befunde zum Sandmann vom Narzissmus bis zur Kastrationsangst gibt Kremer 1999, 70–73, der „in alchemistischer Lesart“ der Erzählung „die Liebe zum Automaten als narzisstische Falle“ deutet (82).
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Erzählung kaum einstellen können. Und dennoch hat der Autor in dem Werk unübersehbare Zeichen des Übernatürlichen gesetzt, die den initial beschworenen Rationalismus relativieren oder sogar außer Kraft setzen. Eine Geschichte, deren Wunderbares durch den Regress auf subjektiven Wahn eindeutig aufgelöst werden könnte, wäre auch gar nicht im Sinne des Autors gewesen, der im Nachgespräch zu der Serapions-Erzählung Die Automate in der Figur von Theodor erklärt5: Nichts ist mir mehr zuwider, als wenn in einer Erzählung, in einem Roman der Boden, auf dem sich die phantastische Welt bewegt hat, zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, dass auch kein Körnchen, kein Stäubchen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, dass man gar keine Sehnsucht empfindet, noch einmal hinter die Gardinen zu kucken. (Hoffmann, Gesammelte Werke, IV, 429)
Welche „Körnchen“ und „Stäubchen“ widerstehen im Sandmann dem rationalistischen – und wir können heute auch sagen – dem psychoanalytischen Besen? Ein ‚Körnchen‘, nein, ein veritables ‚Korn‘ ist die Doppelexistenz jener zentralen Figur, die einerseits als Advokat Coppelius auftritt und anderseits als Wetterglashändler Coppola erscheint. In Coppelius erkennt Nathanael den gefürchteten Sandmann aus dem Märchen der Kinderzeit, und bei seinen alchimistischen Versuchen findet Nathanaels Vater den Tod. Coppola verkauft Nathanael ein „Perspektiv“ (d. h. ein Fernglas), das Olimpia, die Automate des Physikprofessors Spallanzani, als glutäugige Schönheit erscheinen lässt und das durch sein Trugbild den Selbstmord des Helden auslöst. In dem dichten Gewebe thematischer Äquivalenzen spielen die Augen, das Sehen und das Perspektiv für die Existenz des Übernatürlichen eine wichtige und auf vielfache Weise integrierte Rolle. So sind die Namen beider unheimlicher Figuren, die über die Protagonisten Unglück bringen, von ital. coppo, ‚Augenhöhle‘ abgeleitet. Der Name des Konstrukteurs und Vaters der Olimpia Professor Spallanzani assoziiert das italienische spalancare ‚(die Augen) aufreißen‘.6 Ein Motiv des Wunderbaren, das nicht ohne Weiteres rational aufzulösen ist, findet sich im Schluss. Die beiden Liebenden, die nach Nathanaels scheinbar vollständiger Genesung von seinem Wahnsinn zur Heirat und zum Leben auf ||
5 In Verbindung mit dem Namen Theodor, dessen Träger in den Serapionsbrüdern als auktoriales Sprachrohr fungiert, ist nicht irrelevant, dass Nathanael das hebräische Äquivalent des griechischen Namens ist: mit der Bedeutung ‚Geschenk Gottes‘. 6 Zu diesen und weiteren Äquivalenzen um das Motiv der Augen(höhlen) im Sandmann vgl. Detlef Kremer (1993, 148–149; 1999, 74). Sehr weit geht Kremer allerdings in der Metaphorisierung, wenn er die Augen zum „eigentlichen Subjekt der Erzählung“ erklärt, „das für jede Handlungssequenz die Regie übernimmt“ (1993, 146).
66 | Romantik und Postromantik einem geerbten Landgut entschlossen sind, steigen auf Klaras Vorschlag auf den hohen Ratsturm der Stadt, der „zur Mittagsstunde“ (!) „seinen Riesenschatten [!] über den Markt [wirft]“, um, wie Klara sagt, in das ferne blaue Gebirge hineinzuschauen, das sich „wie eine Riesenstadt“ erhebt (46–47). Auf der Höhe schaut Nathanael durch Coppolas Perspektiv und wird, als ihm Klara vor die Linse kommt, erneut vom überwunden geglaubten Wahnsinn erfasst. Als er sich im Wahn anschickt, die Verlobte vom Turm herabzuschleudern, wird sie im letzten Moment von ihrem Bruder Lothar gerettet. Während Nathanael auf der Galerie herumrast und den (mit dem Augenmotiv verbundenen) „Feuerkreis“ beschwört, laufen die Menschen auf dem Markt zusammen: „[…] unter ihnen ragte riesengroß [!] der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und geradesweges nach dem Markt geschritten war“ (48). Coppelius muss nicht nur ein übernatürliches Wissen aus der Ferne auf den Markt des Städtchens geführt haben, er kann sogar auch Nathanaels schreckliches Ende voraussagen. Die auf dem Markt zur Rettung des auf der Galerie rasenden Nathanael bereiten Menschen hält der durch seinen riesigen Körper mit dem Turm äquivalent gesetzte Advokat mit den Worten ab „Ha, ha – wartet nur, der kommt schon herunter von selbst“. Kaum hat Nathanael Coppelius in der Menge erblickt, springt er mit den Worten „Ha! Sköne Oke – sköne Oke“ in die Tiefe, mit Worten also, mit denen der Wetterglashändler Coppola sein Perspektiv angeboten hat. „Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden“ (48). Hat Coppelius nicht nach dem Vater auch Nathanaels Tod verursacht? Ist er nicht, mit magischem Wissen ausgestattet, just zu dem Moment, da das junge Paar auf das Land und zur Eheschließung aufbrach, in dem Städtchen erschienen, um Nathanael den Untergang zu bereiten? Und ist er nach seinen Schandtaten nicht immer spurlos verschwunden? Welches Motiv sollte er aber dafür gehabt haben, Vater und Sohn zu vernichten? Ist nicht das Fehlen eines realen Grundes wiederum Anlass, an der Realität der Doppelgestalt Coppelius/Coppola und ihres Vernichtungswillens zu zweifeln? Und muss man die beiden Figuren nicht als Chimären betrachten, die eine überreiche Phantasie aus der Erzählung der Kinderfrau hypostasiert hat. Die Mutter hat das Kind, nach dem bösen Sandmann befragt, beruhigt: „Es gibt keinen Sandmann […] wenn ich sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hineingestreut“ (11). Die Kinderfrau dagegen, vom kleinen Nathanael befragt, was denn das für ein Mann sei, der Sandmann, gibt eine fatale Antwort, die Nathanael bis an sein schreckliches Ende verfolgen wird.: „Ei, Thanelchen […] weißt du das noch nicht? Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die
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Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“ (11)
Mit diesem Sandmann identifiziert der kleine Nathanael, wie er in seinem ersten Brief an Lothar schreibt, den an manchen Tagen zur Abendzeit mit schwerem langsamem Tritt die Treppe zum Vater heraufpolternden Unbekannten. Der Sandmann entzündet die Phantasie des Kindes: Der Sandmann hatte mich auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht, das so schon leicht im kindlichen Gemüt sich einnistet. Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolden, Hexen, Däumlingen und so weiter zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle hinzeichnete. (12)
Eines der heimlichen abendlichen Treffen des Vaters belauschend, stellt Nathanael fest, dass, der „fürchterliche Sandmann“ der alte Advokat Coppelius ist, der manchmal mit der Familie zu Mittag isst und dessen abstoßende Gestalt in dem Kind tiefstes Entsetzen erregt. Die Erzählung gestaltet also eine Oszillation zwischen Einerseits und Andererseits, führt zu einem Schwanken zwischen der natürlichen, psychologischen und der übernatürlichen, dämonologischen Motivierung, bringt den Leser zu jener hésitation, die Todorov als Merkmal phantastischer Erzählungen ausgemacht hat.
7.1.2 Die Interpretationen Der Sandmann ist unter allen Werken Hoffmanns das wohl am häufigsten und gewiss das am unterschiedlichsten interpretierte. „Es gibt kaum eine literaturwissenschaftliche Schule, die sich die Deutung des Sandmann hätte entgehen lassen“ (Drux 2003, 78). In einer groß angelegten Unternehmung haben Tepe, Rauter und Semlow 2009 auf der Grundlage von mehr als 80 Interpretationen des Sandmanns fünf Deutungsansätze unterschieden, die einander ausschließen, wie die Autoren postulieren: 1) „psychologische Ansätze“, 2) „dämonologische Ansätze“, 3) „Unentscheidbarkeitsansätze“, 4) „allegorische Ansätze“ und
68 | Romantik und Postromantik 5) „Kombinationen mehrerer Deutungsansätze und der radikale Interpretationspluralismus“ Die Präferenz der Autoren, die der Typologie eine „vollständige systematische Interpretation“ vorausschicken, liegt eindeutig auf der Option 2, womit sie sich dem Mainstream der Interpretationen und Lesereindrücke entgegenstellen, in dem der psychologische Ansatz dominiert.7 Das Hauptargument für eine „dämonologische“ Deutung bildet die offensichtlich magische Täuschung der Holzpuppe Olimpia, die, wie die Anhänger dieser Deutung argumentieren, nicht nur von Nathanael, sondern von allen Anwesenden („ganz kluge Studenten ausgenommen“, 44) für lebendig gehalten wird. Nathanaels Entzücken über Olimpia, das auf Spallanzanis Fest entsteht, sobald er sie durch Coppolas Perspektiv betrachtet, wird freilich keineswegs von allen Gästen geteilt. Nach Nathanaels Begeisterungsschrei sehen sich alle nach ihm um, und manche lachen. Der DomOrganist schneidet ein finsteres Gesicht und sagt nur „Nun, nun!“ (37). Zu Nathanaels Erstaunen bleibt Olimpia sitzen, wenn nicht er sie zum Tanz auffordert. Also bestehen ihr Liebreiz und ihre Lebendigkeit nicht für alle Anwesenden im gleichen Maße. Nathanael entgeht das Amüsement, das seine Begeisterung bei den Gästen hervorruft: Hätte Nathanael außer der schönen Olimpia noch etwas anders zu sehen vermocht, so wäre allerlei fataler Zank und Streit unvermeidlich gewesen; denn offenbar ging das halbleise, mühsam unterdrückte Gelächter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob, auf die schöne Olimpia, die sie mit ganz kuriosen Blicken verfolgten, man konnte gar nicht wissen, warum. (38)
In den Tagen nach Spallanzanis Fest ziehen die jungen Leute über die „todstarre, stumme“ Olimpia her, der man, „ihres schönen Äußern unerachtet, totalen Stumpfsinn andichten“ will (39). Selbst Siegmund kann nicht verstehen, wie es seinem Freund Nathanael möglich ist, sich in das „Wachsgesicht, in die Holzpuppe“ zu „vergaffen“ (40): „Wunderlich ist es doch, dass viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns – nimm es nicht übel, Bruder! – auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig so wie ihr Gesicht. Das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen
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7 Die Lesereindrücke wurden durch Umfragen unter Studenten vor der Behandlung der Erzählung erhoben (Tepe, Rauter und Semlow 2009, 80). Die Studenten votierten mit deutlicher Mehrheit für die Optionen 1 oder 3; die Option 4 stand dabei nicht zur Wahl. Die Option 2 fand nur wenige Befürworter.
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Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine, und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns, als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.“ (40)
Siegmund ist ganz nahe an der Wahrheit, bricht aber nicht zu ihr durch. Tepe, Rauter und Semlow (2009, 168) ist darin Recht zu geben, dass bei aller Distanzierung von Olimpia kein Zweifel an ihrer Menschennatur aufkommt.8 Mit der von den Besuchern des Festes und der Teezirkel monierten Puppenhaftigkeit der schönen Olimpia verfolgt der Autor eine satirische Absicht. Der gesellschaftliche Auftritt der automatenhaften Olimpia lässt manchen an der Lebendigkeit bürgerlicher Gattinnen zweifeln. Auch nachdem der Professor der Poesie und Beredsamkeit aufgeklärt hat, dass das Ganze eine „Allegorie – eine fortgeführte Metapher“ (45) sei, tritt keine Beruhigung ein: Aber viele hochzuverehrende Herren beruhigten sich nicht dabei; die Geschichte mit dem Automat hatte tief in ihrer Seele Wurzel gefasst, und es schlich sich in der Tat abscheuliches Misstrauen gegen menschliche Figuren ein. Um nun ganz überzeugt zu werden, dass man keine Holzpuppe liebe, wurde von mehrern Liebhabern verlangt, dass die Geliebte etwas taktlos singe und tanze, dass sie beim Vorlesen sticke, stricke, mit dem Möpschen spiele und so weiter, vor allen Dingen aber, dass sie nicht bloß höre, sondern auch manchmal in der Art spreche, dass dies Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze. Das Liebesbündnis vieler wurde fester und dabei anmutiger, andere dagegen gingen leise auseinander! (45)
Die Argumentation von Tepe, Rauter und Semlow (2009) zugunsten einer dämonologischen Leseweise ist plausibel und nachvollziehbar, auch und gerade in der harschen Kritik an der Überlegenheitsgeste mancher psychologischer Ansätze und der naiven Gewissheit einiger allegorischer Deuter, den richtigen Tiefensinn aufgespürt zu haben.9
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8 Die Puppenartigkeit mancher Gesellschaftsdamen ist ein Motiv, das der russische Hoffmannist Aleksej Perovskij (Pseudonym: Anatolij Pogorel’skij) in seiner russischen Version des Sandmanns unter dem Titel Fatale Folgen einer ungezügelten Phantasie (Pagubnye posledstvija neobuzdannogo voobraženija, 1828) im Rahmendialog anklingen lässt: „Gibt es denn irgendeine Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Mensch sich in eine Puppe verliebt? […] Schauen Sie auf die höhere Gesellschaft. Wie vielen Puppen beiderlei Geschlechts begegnen Sie dort, die absolut nichts anders tun und nicht tun können, als über die Straßen zu spazieren, auf Bällen zu tanzen, einen Knicks zu machen und zu lächeln. Ungeachtet dessen verliebt man sich oft in sie und zieht sie sogar manchmal Menschen vor, die ungleich würdiger sind!“ (Pogorel’skij, 84). 9 Vgl. die informative Rezension von Bruno Rossbach 2009.
70 | Romantik und Postromantik In systematischer Hinsicht bleibt jedoch ein Aspekt der Typologie unbefriedigend. Es werden für literarische Texte drei Textwelten unterschieden (57–59): 1) „natürliche Textwelten“, in denen alles auf natürliche Weise geschieht; 2) „Textwelten mit übernatürlichen Komponenten“; 3) „Textwelten mit unbestimmbarem Status“, „bei denen unentscheidbar ist, ob es sich um Typ 1 oder Typ 2 handelt“ (58). Die Typen 1 und 2, die unterschiedliche Ontologien der narrativen Welt bezeichnen, liegen jedoch auf einer anderen Ebene als der Typ 3, der sich auf die Erkennbarkeit der Ontologie bezieht. Zwischen den Typen 2 und 3 gibt es einen Sprung in der Systematik. Die Typen 2 und 3 schließen einander nicht aus, sondern sind durchaus miteinander vereinbar. Denselben Systemfehler beobachten wir in der Typologie der Ansätze, in der die „dämonologischen Ansätze“ und die „Unentscheidbarkeitsansätze“ einander keineswegs ausschließen, wie postuliert wird. Die Unentscheidbarkeit setzt die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz dämonischer Wesen in der gegebenen narrativen Welt voraus. Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, wenn in der narrativen Welt Übernatürliches ausgeschlossen ist, fehlt einer Unentscheidbarkeit des ontologischen Status der Geschehnisse die Grundlage. Ihren offensichtlichen Systemfehler, der auf die wenig plausible Unvereinbarkeit der Ansätze 2 und 3 hinausläuft, suchen Tepe, Rauter und Semlow 2009 dadurch abzumildern, dass sie für den Ansatz 2 (wie auch für die andern Ansätze) Varianten vorsehen. Der Sandmann realisiert für sie die Option 2b: „Die Erzählung wird als Dämonengeschichte gedeutet; dabei wird die Erzählstrategie des Offenhaltens von Deutungsmöglichkeiten mehr oder weniger konsequent berücksichtigt“ (229). Es handelt sich hier „nicht um eine offenkundige, sondern um eine verschleierte Dämonengeschichte“ (100). Es fragt sich allerdings, ob solche Konzessionen nicht die Differenz zwischen den Typen 2 und 3 aufheben und damit die gesamte Typologie zum Einsturz bringen. Wenn Tepe, Rauter und Semlow 2009 auch darin Recht zu geben ist, dass nicht alle Geschehnisse des Sandmanns psychologisch aufzulösen sind, dass also eine „dämonologische Option“ naheliegt, wird man schwerlich in Abrede stellen können, dass das Werk auf ein Schwanken zwischen natürlicher und übernatürlicher Motivierung zielt. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich (und wird auch von Tepe, Rauter und Semlow 2009, 73, konzediert), dass Hoffmann für die Druckfassung einige Züge der Handschriftenversion gestrichen hat, die die Unbezweifelbarkeit des Dämonischen verstärkten. So ist etwa ein Erzählerkommentar weggefallen, der die Identität von Coppola, Coppelius und Sandmann bestätigte (vgl. Lieb 2009, 169–171). Insgesamt ist die Überarbeitung unverkennbar von dem Bestreben geleitet, den Leser zwischen natürlicher und übernatürlicher Motivierung
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der Figuren und Geschehnisse schwanken zu lassen und eine frühe eindeutige Präferenz der dämonologischen Leseweise zu verhindern. Aufschlussreich ist, dass die zeitgenössische Kritik der Nachtstücke die Motivierung im Sandmann sehr kritisch beurteilte und insbesondere das Fehlen einer ‚wahrhaften Begründung‘ der dämonischen Figur des Coppelius bemängelte: Die erste Rauchsäule, der wir [in den Nachtstücken] begegnen, ist „Der Sandmann“… Wo soll nun das Schreckhafte, Geisterartige in dieser Erzählung liegen? Das einzige, was einen Sinn in diese Darstellung brächte, wäre, dass sich die Anschauung daraus ergäbe, wie ein reizbares Gemüt durch das Einwirken eines ihm feindlichen nach und nach könne verstrickt und zugrunde gerichtet werden. Hier ist aber die Darstellung so ungeschickt und trotz aller groben Pinselstriche so matt, dass kein Interesse, kein Leben sichtbar ist. Denn eine solche Anwendung eines Automats vermag nicht die Wirkung hervorzubringen. Um sich in dasselbe zu verlieben und längere Zeit in seiner Gesellschaft getäuscht zu leben, muss ... schon ein Grad von Verrücktheit stattfinden, der fürs Irrenhaus, nicht für die Poesie passt… Kurz, der Wahnsinn des Studenten, die Wirkung des Wetterglashändlers, die Liebe zu dem Automaten sind durchaus nicht motiviert; die letztere drängt sich als lächerlich und unglaublich zugleich auf. […] [Dass der Advokat] hier etwas mit seinem widerlichen Gesicht ins Dunkel gestellt wird, fast als gebiete er über dunkle Naturkräfte, kann nichts motivieren, da dergleichen eine leere Erfindung wäre, was der Dichter auch selbst mag gefühlt haben… […] Aus welchem Gesichtspunkte man daher auch Coppelius’ Verhältnis zu Nathanael betrachten mag, nirgends zeigt sich eine wahrhaft begründete Einwirkung, die so Schreckliches hervorbringen könnte. (Literaturkritiker Konrad Schwenk in Hermes oder Kritisches Jahrbuch der Literatur, 1823; zit. nach Kruse 1994, 485–486; Hervorhebung von mir, W. Sch.)
7.1.3 Die Oszillation der Motivierungen Wie ist das Schwanken zwischen den beiden Motivierungen ins Werk gesetzt? In einer Erzählung, in der das „Perspektiv“ als Instrument der realen oder illusionären Wirklichkeitserfassung eine zentrale Rolle spielt, ist es nicht weit hergeholt, nach der Perspektive der Darbietung der in ihrem ontischen Status ungewissen Begebenheiten zu fragen.10 Bezeichnenderweise setzt die Erzählung mit drei Briefen ein, die mit 15 von 39 Seiten einen erheblichen Teil des Gesamttextes einnehmen: 1) Nathanaels Brief an Lothar (irrtümlicherweise an Klara adressiert), 2) Klaras Brief an Nathanael, 3) Nathanaels Brief an Lothar. In den Briefen manifestieren sich die ||
10 Zum Problem der Perspektive im Sandmann vgl. schon Preisendanz ([1964] 1976, 287): „Das Erzählte gewährt Perspektiven und überlässt dem Leser das Problem, für welche er sich entscheiden solle“.
72 | Romantik und Postromantik unterschiedlichen Bedeutungspositionen der Schreiber, ihre axiologische oder ideologische Perspektive. Die Differenz zwischen den Perspektiven besteht vor allem in der Beurteilung der Möglichkeit des Übernatürlichen. Nathanael berichtet in seinem ersten Brief von dem „Entsetzlichen“, das in sein Leben getreten ist und ihn in eine „zerrissene Stimmung des Geistes“ versetzt hat, die ihm alle Gedanken verstört (9). Beachtenswert ist, dass Klara in ihrem Brief eine konsequent psychologische Erklärung der Nathanael ängstigenden Vorgänge vertritt. Der Autor antizipiert in diesen Erklärungen der jungen Frau einen Deutungstrend, der zum Mainstream geworden ist. Wenn Klaras Analyse, die durch Lothar gestützt wird, tatsächlich die im Text realisierte Intention ausspräche, hätte der Autor dramaturgisch ungeschickt gehandelt. Er ist in Wirklichkeit aber sehr geschickt vorgegangen, da Klaras rationale, aber eindimensionale Sicht Nathanaels Problem zu lösen scheint. Wer sich für eine andere Ontologie der erzählten Welt entscheidet, hat durch den gesamten Text hindurch Klaras Sicht zu widerlegen und an der Weltsicht der sympathischen, lebenspraktisch denkenden jungen Frau zu zweifeln. Das kann dem Leser nicht leichtfallen, zumal nicht, wenn er von einer narrativen Welt ausgeht, in der es kein autonomes Übernatürliches gibt, und wenn ihm gleich der „verständigen Klara […] mystische Schwärmerei im höchsten Grade zuwider“ ist (28). Es ist weiterhin zu beachten, dass Nathanael in seinem Brief an Lothar von Klaras natürlicher Erklärung des Übernatürlichen angesteckt ist, denn er geht nach dem Gespräch mit dem italienischen Professor Spallanzani davon aus, dass Coppola und Coppelius verschiedene Wesen sind. Tepe, Rauter, Semlow sehen hier zu Recht den Versuch einer Autosuggestion Nathanaels, der im „naiven Vertrauen“ auf den italienischen Professor und unkritisch gegenüber seinen in sich widersprüchlichen Auskünften das Übernatürliche in Klaras Sinne „wegzuerklären“ versucht (2009, 135–136). Das ist für den Leser ein weiteres Hindernis, mit dem ihm der Autor den Weg zur wahren, oszillierenden Motivierung erschwert. Erst im Anschluss an die drei Briefe meldet sich der Erzähler zu Wort. Er ist, da er Nathanael seinen „armen Freund“ (24) nennt, ein diegetischer Erzähler, gehört aber nur ganz peripher zur erzählten Welt. In seiner Apostrophe an den „günstigen Leser“ (eine imaginäre, fiktive Instanz) versucht er Verständnis zu wecken für die „siedende Glut“, die „Brust, Sinn und Gedanken“ seines Freundes erfüllt angesichts des „Seltsamen und Wunderlichen“, das sich mit ihm zugetragen hat (24). Selbst in seiner Seele erfüllt von dem „Wunderbaren, Seltsamen“ (25), hat der Erzähler keinen Erzähleinsatz gefunden, der „nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln [scheint]“. Deshalb hat er an die Stelle eines erzählerischen Beginns die drei Briefe gesetzt, und er will sich bemühen, in den „Umriss des Gebildes […] erzählend immer mehr und mehr
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Farbe hineinzutragen“ (25). Sein Ziel ist es, den Leser davon zu überzeugen, „dass nichts wunderlicher und toller sei als das wirkliche Leben und dass dieses der Dichter doch nur wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein auffassen könne“ (24). 11 Die eigentliche Erzählung beginnt mit der Rückkehr Nathanaels von seinem Studienort G. in die Heimatstadt. Obwohl zunächst der Eindruck herrscht, dass bei ihm jede Verstimmung über Klaras zur Ernüchterung aufrufender Brief verschwunden sei, fühlen die Freunde, dass die Gestalt des Wetterglashändlers Coppola, dem Nathanael, wie er im ersten Brief berichtet, den Kaufeines Glases verweigert hat, „recht feindlich in sein Leben getreten sei“ (27). Bei Coppolas zweitem Besuch ist Nathanael entsetzt über die ihn aus den Brillen (den „sköne Oke“) anstarrenden und krampfhaft zuckenden Augen, aber er beruhigt sich schnell, sobald die Brillen weggeräumt sind, und gelangt wieder zu Klaras Sicht der Dinge: Sowie die Brillen nur fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und, an Klara denkend, sah er wohl ein, dass der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen sowie dass Coppola ein höchst ehrlicher Mechanikus und Optikus, keinesweges aber Coppelii verfluchter Doppeltgänger und Revenant sein könne. Zudem hatten alle Gläser, die Coppola nun auf den Tisch gelegt, gar nichts Besonderes, am wenigsten so etwas Gespenstisches
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11 Goethe war bekanntlich kein Anhänger der hoffmannschen Phantastik. Für seine Ablehnung beruft er sich unter anderem auf das strenge Verdikt Walter Scotts über Hoffmanns Nachtstücke und insbesondere den Sandmann, das 1827 im Foreign Quarterly Review erschienen war. Den Originaltitel des Artikels On the Supernatural in Fictitious Composition übersetzt Goethe mit Das Übernatürliche in fabelhaften Erzählungen: „Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen; es sind nicht die Gesichte eines poetischen Geistes, sie haben kaum so viel scheinbaren Gehalt, als die Verrücktheiten eines Mondsüchtigen allenfalls zugestanden wurde; es sind fieberhafte Träume eines leicht beweglichen kranken Gehirns, denen wir, wenn sie uns gleich durch ihr Wunderliches manchmal aufregen oder durch ihr Seltsames überraschen, niemals mehr als eine augenblickliche Aufmerksamkeit widmen können. Fürwahr, die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten. Und wenn wir auch anerkennen, dass der Autor, wenn er seiner Einbildungskraft ernster geboten hätte, ein Schriftsteller der ersten Bedeutung geworden wäre, so dürfte er doch, indem er dem kranken Zustand seines zerrütteten Wesens nachhängt, jeder grenzenlosen Lebhaftigkeit der Gedanken und Auffassungen als anheimgegeben erscheinen.“ Goethe beschließt die Wiedergabe von Scotts Verdikt mit der Bemerkung: „Wir können den reichen Inhalt dieses Artikels nicht genugsam empfehlen: denn welcher treue, für Nationalbildung besorgte Teilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, dass die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutend-fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft worden.“ (Beide Zitate nach Goethe, WA, Abtlg. I, Bd. 42, 2, S. 87–90)
74 | Romantik und Postromantik wie die Brillen, und, um alles wieder gutzumachen, beschloss Nathanael, dem Coppola jetzt wirklich etwas abzukaufen. (34)
Kaum hat Nathanael in das erworbene Perspektiv geblickt, erleidet er wieder einen Rückfall in eine Sichtweise, die das Zauberhafte als real annimmt. Der Erzähler betont hier mit Verben der subjektiven Wahrnehmung (es schien; es war als) die Figuralität der Wahrnehmung und ihr mögliches Illusionäres: Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er hinein in Spallanzanis Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Arme darauf gelegt, die Hände gefaltet. – Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch- schöne Olimpia betrachtend. (34; Hervorhebung von mir, W. Sch.)
Das laute Lachen des die Treppe herabsteigenden Coppola deutet Nathanael als Zeichen dessen, dass er das Perspektiv zu teuer bezahlt hat. Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst. – Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. „Klara“, sprach er zu sich selber, ,,hat wohl recht, dass sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält; aber närrisch ist es doch, – ach, wohl mehr als närrisch, dass mich der dumme Gedanke, ich hätte das Glas dem Coppola zu teuer bezahlt, noch jetzt so sonderbar ängstigt […]“. (35)
Wir sind hier Zeugen des inneren Kampfes in Nathanael um die rechte Ontologie. Todesseufzer und Angst können durch die Aneignung von Klaras nüchterner Diagnose („Geisterseher“) nicht bezwungen werden. Indes scheint Klaras psychologische Erklärung am Ende noch ein Mal zum Zuge zu kommen. Olimpia, die als „leblose Puppe“ entlarvte, hat statt Augen „schwarze Höhlen“ (43). Sie erinnern an die „scheußlichen, tiefen schwarzen Höhlen“ (15), die der kleine Nathanael im nächtlichen magischen Treiben des Coppelius mit dem Vater an den ringsumher sichtbaren Menschengesichtern beobachtet hat. Somit scheint sich wieder einmal Klaras Erklärung des Dämonischen aus Nathanaels Kindheitserlebnissen zu bestätigen, eine Erklärung, die so viele Interpreten in ihren magischen Bann gezogen hat. Im Sandmann realisiert der Autor eine Leserlenkung über die Wendungen seines Helden, der, vom Dämonischen entsetzt, sich immer wieder zu Klaras natürlicher Sicht überreden möchte und deshalb zwischen natürlicher und übernatürlicher Erklärung hin- und hergerissen ist. In dem Maße, wie Nathanael in der
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„zerrissenen Stimmung [seines] Geistes“ (9) zwischen den Sichtweisen schwankt, vermittelt sich die hésitation dem Leser, oszilliert im Werk die Bewegung zwischen der dämonologischen und der psychologischen Motivierung. Letztlich aber dominiert das Dämonische, wie es Nathanael von Anfang an befürchtet hat, wenn er im ersten Brief schreibt, „dass ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat, den ich vielleicht nur sterbend zerreiße“ (16).
7.2. Pharo der Motivierungen in Puškins Pique Dame Aleksandr Puškins Erzählung Pique Dame ist, ähnlich wie Hoffmanns Sandmann, eine Herausforderung für die Interpretation und Katalysator der hermeneutischen Ideologien. 12 Für keine Erzählung der russischen Literatur sind so viele und so unterschiedliche Deutungen mit so verschiedenen Schlüsseln vorgeschlagen worden wie für diese Novelle. Für ihren hermeneutischen Reiz ist unter anderem die Verschränkung zweier einander ausschließender Motivierungssysteme verantwortlich. Die Handlung ist zum einen realistisch-psychologisch motiviert, zum andern aber greift eine übernatürliche Kraft in das Geschehen ein. Für alle wesentlichen Motive wird eine zweifache Erklärung angeboten, fast jedes Detail ist doppelt – realistisch wie übernatürlich – begründbar. Die ambige kausale Motivierung der Handlung in Pique Dame hat auf höchst aufschlussreiche Weise Fëdor Dostoevskij kommentiert, der die Novelle in einem Brief vom 15. Juni 1880 an Julija Abaza „den Gipfel der phantastischen Kunst“ nennt: Sie glauben, dass Hermann wirklich eine Vision hatte, und zwar eine, die mit seiner Weltanschauung übereinstimmte, aber am Ende der Erzählung, d. h. wenn Sie sie zu Ende gelesen haben, wissen Sie nicht, wie Sie entscheiden sollen: Ist diese Vision aus der Natur Hermanns hervorgegangen, oder gehört er wirklich zu denen, die mit einer andern Welt in Berührung gekommen sind, einer Welt böser und der Menschheit feindlich gesinnter Geister. […] Das ist wahre Kunst! (Dostoevskij, PSS, XXX/1, 192)
Das alles schreibt Dostoevskij aus der Perspektive seiner eigenen Poetik, die das Irreale von außen nach innen, in die Psyche des Helden verlegt hat. So wird die romantische Doppelgängerei in Dostoevskijs Erzählung Der Doppelgänger (Dvoj||
12 Im vorliegenden Kapitel greife ich auf meinen deutschsprachigen Aufsatz (Schmid 1997) und auf dessen russische Version (Schmid 2013) zurück. Während es in diesen Arbeiten um die metatextuellen Aspekte der Novelle ging, steht hier die Frage nach der Motivierung der Handlung im Mittelpunkt.
76 | Romantik und Postromantik nik, 1846) als subjektiver Wahn eines psychisch Kranken aufgelöst (siehe dazu unten, Kap. 7.5). Wie aus der von Dostoevskij im Brief an Frau Abaza formulierten Regel hervorgeht, betrachtet er auch das Übernatürliche in Pique Dame als Schein, als Versuchung, in die uns der Autor führt: Фанастическое должно до того соприкасаться с реальным, что Вы должны почти поверить ему. (Dostoevskij, PSS, XXX/1, 192) Das Phantastische muss sich so eng mit dem Realen berühren, dass Sie ihm fast vertrauen müssen.
Dostoevskij legt die Betonung auf fast.13 Für Puškin galt die darin enthaltene Einschränkung indes nicht. Seinem Übernatürlichen müssen wir tatsächlich vertrauen. Es ist in demselben Maße ein wirksamer Faktor des Motivierungssystems wie die Psychologie. Der Autor hat sorgfältig eine ständige Opposition der modalen Indizien und ein Äquilibrium der Motivierungen herausgearbeitet. Weder die realistische noch die übernatürliche Motivierung kann für sich alleine die Geschichte vollständig und befriedigend begründen. Es bleiben immer unmotivierte Reste. So opfert die in den letzten Dekaden gepflegte psychologische und tiefenpsychologische Lektüre den unauflösbaren ontologischen Synkretismus der Novelle einer fragwürdigen Vereindeutigung und hat alle Mühe, zwei wesentliche Motive zu erklären: Warum gerät Hermann vor das ihm unbekannte Haus der Gräfin, und warum gewinnen die drei „sicheren“ Karten tatsächlich? Eine plausible und auch künstlerisch überzeugende Antwort auf die beiden Fragen hat noch keiner der „realistischen“ Interpreten geben können14. Wer in der erzählten Geschichte aber über||
13 Es ist aufschlussreich, dass Dostoevskij am Tag nach dem zitierten Brief die ersten Skizzen zum Kapitel Der Teufel. Der Albtraum Ivan Fëdorovičs im Roman die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy) anfertigte, einem Kapitel, das in den ursprünglichen Plänen nicht vorgesehen war. In ihm figuriert der Teufel als Dialogpartner des seelisch tief erschütterten Ivan Karamazov (vgl. den Kommentar zum Brief an Frau Abaza: Dostoevskij, PSS, XXX/1, 362). – Einen Vergleich zwischen der Phantastik (im Sinne des Übernatürlichen) bei E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe unternimmt Dostoevskij im Vorwort zum Abdruck von drei Erzählungen Poes in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Zeit (Vremja, 1861; Dostoevskij, PSS, XIX, 88–89). Während Hoffmann, wie die meisten europäischen Romantiker, sein Ideal „außerhalb des Irdischen“ („вне земного“) suche, sei Poe phantastisch nur durch die „äußere Gestalt“, „ohne über die Grenzen der materiellen, irdischen Wirklichkeit hinauszugehen“. Poes Phantastik hat, so der Kommentator zu dem Vorwort (Dostoevskij, PSS, XIX, 282), für Dostoevskij „mehr den Charakter eines psychologischen Experiments“. 14 Von den Anhängern der realistischen Interpretationsrichtung ist immer wieder vorgebracht worden, Puškin „mit seinem nüchternen Verstand, seiner Liebe zum Einfachen und Realen“
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natürliche Kräfte am Werk sieht15, tendiert dazu, die Intervention des Menschen, die Kompetenz seiner Einbildungskraft, die Kreativität seines Bewusstseins zu gering zu veranschlagen. Jene Sinnzuweisungen, die sowohl die Psyche als auch übernatürliche Kräfte als Handlungsfaktoren betrachten, geraten in einen Widerstreit, insofern sie die beiden Motivierungen unterschiedlich gewichten und die in ihrer Realität fraglichen Ereignisse auf je andere Weise in halluzinierte und übernatürliche teilen.
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(Geršenzon 1919, 97) habe das Übernatürliche nicht ernsthaft als Handlungsfaktor erwägen können. Indes gibt es auch unter biographischem Gesichtspunkt kein apriorisches Argument gegen Puškins Glauben an die Realität des Übernatürlichen. Der Eleve des französischen 18. Jahrhunderts, glaubte, wie einige seiner Handlungsweisen in wichtigen Situationen zeigen, – zumindest halb – an das Wirken okkulter Mächte. Pëtr Grinëv, der Held des Romans Die Hauptmannstochter (Kapitanskaja dočka, 1836), der seinen Glauben an die Prophetie eines Traumes rechtfertigt, spricht auch im Namen des Autors: „Der Leser wird mich entschuldigen, denn er weiß wahrscheinlich aus eigener Erfahrung, wie sehr der Mensch trotz aller Verachtung von Vorurteilen dazu neigt, sich dem Aberglauben hinzugeben“ („Читатель извинит меня: ибо вероятно знает по опыту, как сродно человеку предаваться суеверию, не смотря на всевозможное презрение к предрассудкам“, Puškin, PSS, VIII, 288–289). Puškins Verhältnis zum Übernatürlichen ist vom Modus des Vielleicht bestimmt, vgl. den Brief an Praskov’ja Osipova vom November 1830 aus Boldino: „Le bonheur… c’est un grand peut-être, comme le disait Rabelais du paradis ou de l’éternité“ (Puškin, PSS, XIV, 123). – Von Puškins Aberglaube zeugt der berühmte Vorfall mit dem Hasen. Als dem Dichter bei der illegalen Rückkehr aus dem Verbannungsort Michajlovskoe nach St. Petersburg ein Hase über den Weg läuft (in Russland ein Vorzeichen kommenden Unheils), entschließt er sich zur Umkehr. Der Hase rettet ihm das Leben und Russland den künftigen Nationaldichter, denn in St. Petersburg fand nur wenig später der Dekabristenaufstand statt, nach dessen Niederschlagung zahlreiche Freunde Puškins hingerichtet oder nach Sibirien deportiert wurden. Im Jahr 2000 errichtete Andrej Bitov unter großer öffentlicher Beteiligung dem rettenden Hasen ein Denkmal auf der Straße von Michajlovskoe (vgl. dazu Andrej Bitovs Buch Puschkins Hase. Dt. von Rosemarie Tietze, Vignetten von Rezo Gabriadze. Frankfurt a.M. 1999). 15 Ein Exponent dieser Richtung ist Andrej Kodjak (1976), der sogar dem Erzähler ein „supernatural insight into human destiny and the universe“ zuspricht (100) und, Hermanns Rede vom Teufelspakt wörtlich nehmend, einen solchen Vertrag zwischen der jungen Gräfin und dem „Mephisto“ Saint-Germain rekonstruiert. Von den sowjetischen „Realisten“ oft kritisiert (und von Kodjak nicht zur Kenntnis genommen), hat die Realität des Übernatürlichen und das Schwanken des Lesers zwischen der übernatürlichen und realistischen Aufnahme des Erzählten sehr überzeugend schon früh, in seiner formalistischen Phase, Aleksandr Slonimskij (1923) herausgearbeitet.
78 | Romantik und Postromantik 7.2.1 Die drei sicheren Karten Hermann, ein junger Pionieroffizier 16 verbringt ganze Nächte beim Pharospiel seiner Kameraden, ohne sich am Spiel zu beteiligen.17 Eines frühen Morgens sitzen die Spieler wieder einmal nach nächtlichem Spiel ermüdet am Soupé und unterhalten einander mit Erstaunlichem. Surin verliert in einem fort, obwohl er vorsichtig spielt, niemals hitzig wird, sich nie aus der Fassung bringen lässt. Und Hermann erst, sagt einer der Gäste, er hat noch nie eine Karte angefasst und sitzt bis fünf Uhr bei uns und schaut uns beim Spiel zu. Hermann erwidert, das Spiel interessiere ihn sehr, aber er sei nicht in der Lage „Unentbehrliches zu opfern in der Hoffnung, Überflüssiges zu gewinnen“ (185; „жертвовать необходимым в надежде приобрести излишнее“, 227)18. „Hermann ist Deutscher: er rechnet, das ist alles!“ (185; „Германн немец: он расчетлив, вот и всё“, 227) relativiert Tomskij das Erstaunliche in Hermanns Verhalten. Aber wenn er jemanden nicht begreifen kann, dann ist es seine Großmutter, die nicht spielt. Auf die Nachfrage der Gäste, was daran erstaunlich sei, dass eine Achtzigjährige nicht spielt, erzählt Tomskij die Geschichte, wie seine Großmutter vor sechzig Jahren, als sie in Paris als Vénus moscovite bewundert wurde, sich mit hohen Spielschulden an den Grafen Saint-Germain wandte und von ihm ein Geheimnis erfuhr, das sie in den Stand setzte, mit dreimaligem Pointieren ihre Schulden zurückzugewin-
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16 Die russische Bezeichnung lautet „Ingenieur“. Das Wort bezeichnet in Puškins Zeit den Absolventen einer technischen Militärerziehungsanstalt. In dieser Zeit waren alle Ingenieure Militärs. 17 Kurze Erläuterung zu dem in Puškins Zeit hochpopulären und in Europa weitverbreiteten Spiel „Pharo“ oder „Pharaon“ (andere Bezeichnungen: „Stoß“ oder „Bank“), das E. T. A. Hoffmann in Spielerglück (1820) das „in seiner Einfachheit […] verhängnisvollste“ (Hoffmann, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, II, 252) nennt. Man benutzt zwei Kartenspiele. Der Spieler sucht sich aus seinem Kartenstoß eine Karte aus, auf die er setzt, legt sie offen oder verdeckt vor sich auf den Tisch und bezeichnet seinen Einsatz. Der Bankhalter mischt sein Kartenspiel und legt daraus Karten links und rechts von der Karte des Spielers. Wenn die vom Bankhalter gelegte Karte mit der vom Spieler gezogenen ranggleich ist (Farben spielen keine Rolle), wird ein Gewinn erzielt: fällt die Karte zur Rechten des Bankhalters, also zur Linken des Spielers, gewinnt der Bankhalter, im andern Fall der Spieler. Rechts ist für die beiden Parteien jeweils die Gewinnseite. Das Spiel ist vorbei, wenn entweder der Stoß des Bankhalters aufgebraucht oder die Bank gesprengt ist (ausführliche Erläuterung bei Urban 1999, 393–394, Anm. 48. Zur Geschichte, zu weiteren Regeln und zur Terminologie des Pharospiels vgl. in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Pharo [3.6.2018]) 18 Die Zitate aus dem Original nach Bd. VIII der Akademieausgabe (Puškin, PSS), die deutsche Übersetzung nach: Aleksandr Puškin, Die Erzählungen einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe. Neu übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Berlin 1999.
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nen.19 Tomskijs Kameraden reagieren auf seine Geschichte unterschiedlich. Einer sagt: „Zufall!“ („Случай!“). Herman bemerkt: „Ein Märchen!“ („Сказка!“). Ein Dritter fragt: „Gezinkte Karten?“ („Порошковые карты?“, 229; 188). Anders als den Kameraden geht Hermann die Anekdote von den drei Karten aber nicht mehr aus dem Sinn. Что, если, думал он на другой день вечером, бродя по Петербургу: что, если старая графиня откроет мне свою тайну! — или назначит мне эти три верные карты! Почему ж не попробовать своего счастия?.. Представиться ей, подбиться в ее милость, — пожалуй, сделаться ее любовником, — но на это всё требуется время — а ей восемьдесят семь лет, — она может умереть через неделю, — через два дня!.. Да и самый анекдот?.. Можно ли ему верить?.. Нет! Расчет, умеренность и трудолюбие: вот мои три верные карты, вот что утроит, усемерит мой капитал, и доставит мне покой и независимость! (235) „Was, wenn, – dachte er am Abend des anderen Tages, durch Petersburg schlendernd, – was, wenn die alte Gräfin mir ihr Geheimnis entdeckt! – oder mir diese drei sicheren Karten nennt! Warum sein Glück nicht versuchen?.. Sich ihr vorstellen lassen, sich ihre Gunst erschleichen, – womöglich ihr Liebhaber werden, – doch all das braucht Zeit, und sie ist siebenundachtzig Jahre alt, – sie kann in einer Woche tot sein, – in zwei Tagen!.. Und die Anekdote selbst?.. Darf man ihr glauben?.. Nein! Berechnung, Mäßigung und Arbeitsamkeit: das sind meine drei sicheren Karten, das ist, was mein Kapital verdreifachen, versiebenfachen wird und mir Ruhe und Unabhängigkeit bringen kann!“ (196; Ü. rev.)
Hermanns Selbstbild bedarf freilich einer gewissen Korrektur. Merkwürdigerweise kommt dem, der von Tomskij als „rechnend“ apostrophiert wird und der sich auf die „Berechnung“ als eine seiner drei sicheren Karten beruft, gar nicht der Gedanke, den Spielreichtum mit mathematischem Kalkül zu erwerben. Die Literatur der Zeit war reich an Helden, die das Spielerglück mit exakter Berechnung gewinnbringender Zahlen oder Karten, mit einem todsicheren System zu
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19 In diesem Zusammenhang muss auf eine Diskussion der mehr oder weniger abwegigen Interpretationen verzichtet werden, die Saint-Germain eine weitere Rolle in der Handlung zusprechen, etwa die des Zentrums einer inzestuösen Verschwörung, in die sowohl der von der Gräfin mit dem Geheimnis betraute Spieler Čaplickij als auch der als Hermanns Antagonist figurierende Bankhalter Čekalinskij einbezogen sind (vgl. die Zusammenfassung bei Davydov 1999, 325–326). Zur legendumwobenen Figur des Grafen Saint-Germain vgl. Schmid 1999. Čekalinskijs Beschreibung, sein Alter („um die sechzig“, Puškin, Erzählungen, 215; „лет шестидесяти“, Puškin, PSS, VIII, 250) und die Tatsache, dass er sein Leben lang am Kartentisch verbracht hat, wecken den Verdacht, dass er der Sohn der Gräfin sein könnte, die vor sechzig Jahren dem Grafen SaintGermain für seine Hilfsbereitschaft ihre Dankbarkeit erwiesen hat. Aber wie viele Beziehungen in dieser Novelle bleibt auch die Kindschaft Čekalinskijs im Status der nicht beweisbaren Vermutung.
80 | Romantik und Postromantik erzwingen suchten.20 In Puškins Bibliothek fanden sich Bücher zur mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, die man auf das Glücksspiel anzuwenden pflegte. Eine solche Idee, um die die Phantasie vieler Spieler kreiste, kommt Hermann gar nicht in den Sinn. Der Ingenieur vertraut nicht der Berechnung, sondern dem Wunderbaren. Er tut Tomskijs Anekdote als „Märchen“ ab und folgt doch ihrer magischen Logik. Gewiss, er zweifelt kurzzeitig, ob man der Anekdote glauben könne, und setzt gegen das Geheimnis seine „drei sicheren Karten“: „Berechnung, Mäßigung und Arbeitsamkeit“. Aber wie verlässlich ist dieser Einsatz? Als „berechnend“ (rasčëtliv) erweist sich Hermann nur in der übertragenen, charakterologischen Bedeutung des Wortes. „Mäßigung“ wird durch seine „heftigen Leidenschaften und seine glühende Vorstellungskraft“ (196; „сильные страсти и огненное воображение“, 235) bedroht. Und wie mag es mit seiner „Arbeitsamkeit“ bestellt sein, wenn er ganze Nächte bei den Kartentischen sitzt und „mit fieberhaftem Zittern“ (196; „с лихорадочным трепетом“, 235) die verschiedenen Wendungen des Spiels verfolgt. Auch die Formel, mit der er seine Enthaltung vom Spiel begründet, seine wirtschaftlichen Verhältnisse erlaubten ihm nicht, „Unentbehrliches zu opfern in der Hoffnung, Überflüssiges zu gewinnen“, wird von seiner Lebenswirklichkeit widerlegt. Er kommt ja nur mit seinem Gehalt aus, braucht nicht einmal die Zinsen, geschweige denn das Kapital des väterlichen Erbes anzurühren. Wenn er sich von seinen drei sicheren Karten die Verdreifachung und Versiebenfachung seines Kapitals erhofft, bespricht er sein Lebensziel mit den im Pharo-Spiel gesetzmäßigen Gewinnmöglichkeiten.21 Und wenn er in seinen Gedanken die Gräfin siebenundachtzig Jahre alt sein lässt, weisen die dem tatsächlichen Alter hinzugefügten sieben Jahre auf die im Pharospiel mögliche Gewinnsumme sept et le va. Diese Fixierung auf das Pharospiel und seine Gewinnmöglichkeiten begründet, dass der Erzähler Hermann „einen Spieler in der Tiefe seines Herzens“ nennt (196; Ü. rev.; „будучи в душе игрок“, 235).
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20 Einer dieser Texte war der Roman Der holländische Jude des in den 1820er Jahren in Deutschland populären Autors Heinrich Clauren (eigentlicher Name: Carl Heun). In dem Roman, der 1825 in russischer Übersetzung als Der holländische Kaufmann (Gollandskij kupec) in der Zeitschrift Sohn des Vaterlands (Syn otečestva) erschien, ergibt die mathematische Berechnung die Drei und die Sieben als Gewinnkarten (vgl. Vinogradov [1936] 1980, 187–189). 21 Vgl. die Ausdrücke „trois et le va“ und „sept et le va“, die die dreifache und siebenfache Vermehrung eines Anfangseinsatzes („le va“) nach einem zweiten und dritten Gewinn bezeichnen: 1 + (1 + 2) = trois et le va, 1 + (1 + 2 + 4) = sept et le va (vgl. Nabokov 1964, II, 261). Die unterschiedlichen Gewinnsummen, die Puškin in den Plänen der Novelle für ihren Helden erwogen hat (Puškin, PSS, VIII, 836), bezeichnen entweder den siebenfachen Zugewinn zu einem Anfangseinsatz oder aber die Gesamtsumme sept et le va.
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7.2.2 Zufall, Unbewusstes oder übernatürliche Macht? In Gedanken an seine drei sicheren Karten gelangt Hermann vor ein Haus älterer Bauart in einer der Hauptstraßen Petersburgs. Vor dem Haus hält eine Equipage nach der andern. Auf Hermanns Frage nach dem Besitzer des Hauses wird die Gräfin genannt. Wie ist motiviert, dass der in Gedanken an die Gräfin versunkene Held just vor ihr Haus gelangt? Es gibt darauf drei mögliche Antworten: unbewusstes Streben, Zufall oder Fügung einer übernatürlichen Macht. Dass Hermann unbewusst zu diesem Haus gestrebt ist, hat wenig für sich, denn er weiß noch nicht, wo die Gräfin wohnt. Der Zufall, generell eine schwache Motivierung in künstlerischen Handlungsstrukturen, ist dadurch diskreditiert, dass bereits die erste der drei Erklärungen für das Geheimnisvolle in Tomskijs Anekdote, nämlich „Zufall“, von den beiden folgenden Erklärungen übertrumpft worden ist. Es empfiehlt sich als überzeugende Motivierung lediglich die übernatürliche Macht. Aber im Pharo der Motivierungen bleiben die Karten Unbewusstes und Zufall durchaus im Spiel. Als Hermann erfährt, dass er vor dem Haus der Gräfin steht, überkommt ihn starke Erregung: Германн затрепетал. Удивительный анекдот снова прeдставился его воображению. Он стал ходить около дома, думая об его хозяйке и о чудной ее способности. (236) Hermann erzitterte. Die sonderbare Anekdote stand erneut in seiner Vorstellung auf. Er begann, vor dem Hause auf und ab zu gehen, in Gedanken an seine Besitzerin und deren wunderbare Fähigkeit. (197)
Es fällt wieder auf, wie vorbehaltlos der Ingenieur dem Wunderbaren vertraut. Dass Hermann bei der Auskunft ‚erzitterte‘, korrespondiert mit dem fieberhaften ‚Zittern‘, mit dem er als Beobachter die Wendungen des Spiels der Kameraden verfolgt. In der folgenden Nacht kommen ihm Träume, in denen sich seine geheimen Wünsche erfüllen: er sitzt am grünen Spieltisch, setzt Karte um Karte, erhöht entschlossen den Einsatz, gewinnt unaufhörlich, scharrt das Gold zu sich heran und stopft Assignaten in die Tasche. Spät erwacht, seufzt er über den Verlust seines „phantastischen“ (d. h. geträumten) Reichtums, geht wieder schlendernd durch die Stadt und findet sich abermals vor dem Haus der Gräfin. „Eine unbekannte Kraft schien ihn zu dem Haus zu ziehen“ (197; Ü. rev.; „Неведомая сила, казалось, привлекла его к нему“, 236). Hier stoßen die psychologisch-realistische und die phantastische Motivierung aneinander. Während der Held selbst eine übernatürliche Kraft für wirksam hält, wird der Leser nun eher jene unbe-
82 | Romantik und Postromantik wusste Steuerung in Erwägung ziehen, die bei Hermanns erstem Weg zu dem Haus weniger wahrscheinlich schien. Die Fortsetzung des Textes führt den Leser zunächst in die Irre: Он остановился, и стал смотреть на окна. В одном увидел он черноволосую головку, наклоненную, вероятно, над книгой или над работой. Головка приподнялась. Германн увидел свежее личико и черные глаза. Эта минута решила его участь. (236) Er blieb stehen und begann zu den Fenstern hinaufzuschauen. In einem erblickte er ein schwarzhaariges Köpfchen, gesenkt, wahrscheinlich, über ein Buch oder über eine Arbeit. Das Köpfchen hob sich. Hermann erblickte ein frisches Gesichtchen und schwarze Augen. Dieser Augenblick entschied sein Schicksal. (197)
Die insinuierte Liebesgeschichte zwischen Hermann und Lizaveta Ivanovna findet nicht statt. Obwohl Hermann die Ziehtochter der Gräfin von der Straße aus stundenlang mit blitzenden Blicken aus seinen schwarzen Augen zu magnetisieren sucht22, ist er an der jungen Frau nur als Vermittlerin des Wegs zur Gräfin interessiert. Als er schließlich Lizaveta Ivanovna mit seinen drängenden Briefen, die von Leidenschaft beflügelt scheinen und sowohl die „Unbeugsamkeit seiner Wünsche als auch die Wirrnis einer ungezügelten Phantasie“ (200; Ü. rev.; „непреклонность его желаний, и беспорядок необузданного воображения“, 238) ausdrücken23, dazu überredet hat, ihm ein nächtliches Stelldichein zu gewähren, zeigt sich seine wahre Präferenz. Er geht nicht durch die ihm bedeutete linke Tür, die über eine schmale Wendeltreppe zu Lizavetas Kammer hinaufführt, sondern durch die rechte Tür, in das dunkle Kabinett der Gräfin. Auch hierbei realisiert er eine Pharo-Präferenz, denn in dem Spiel ist Rechts die Seite des Gewinns. Im Schlafzimmer der Gräfin wird Hermann Zeuge ihrer abstoßenden Toilettengeheimnisse. Wie beim Kartenspiel erweist er sich bei der alten Frau als Voyeur. Entkleidet sitzt die Greisin in ihrem Voltairesessel und schwankt nach links und nach rechts, womit sie die Bewegung der Pointeure beim Pharo-Spiel wiederholt (vgl. Vinogradov [1936] 1980, 103), und dieses Schwanken macht den ||
22 Franz Anton Mesmers „Animalischer Magnetismus“, vom späten 18. Jahrhundert bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts in Russland hochpopulär, war eine frühe Form der Hypnose. Der Magnetismus als teuflische Hypnose ist ein Motiv in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Magnetiseur (1813, russ. 1827) und in Antonij Pogorel’skijs Romanfragment mit dem gleichen Namen (Magnetizër), das 1830 in Puškins Literaturzeitung (Literaturnaja gazeta) erschien. Zu weiteren magnetistischen Motiven in Pique Dame vgl. Schmid 1997; 2013. 23 Der Ausdruck „ungezügelte Phantasie“ könnte eine Anspielung auf den Titel von Pogorel’skijs russischer Version des Sandmanns von E. T. A. Hoffmann Fatale Folgen einer ungezügelten Phantasie sein. Puškin war mit Pogorel’skijs Werken gut vertraut.
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Eindruck, als rührte es von einem verborgenen Galvanismus her.24 Beim Anblick des unbekannten Mannes ist die Greisin keineswegs zu Tode erschreckt, sondern im Gegenteil belebt sich das erstorbene Gesicht der ehemals Vénus moscovite Genannten. Hermann bedrängt die Gräfin. Sie könne das Glück seines Lebens machen, er wisse, sie könne drei Karten hintereinander erraten. Die Antwort der Gräfin, die erst jetzt begreift, was Hermann von ihr will, ist nach „Zufall“, „Märchen“ und „gezinkte Karten“ die vierte und zweifellos glaubwürdigste Erklärung des „Geheimnisses“, von dem Tomskijs Anekdote berichtet hat: „Das war ein Scherz […] ich schwöre es ihnen! Das war ein Scherz!“ (205; „Это была шутка […] клянусь вам! Это была шутка!“, 241). Für solche causerie des beau monde hat der Aufsteiger Hermann kein Verständnis: „Mit so etwas treibt man keinen Scherz!“ (205; „Этим нечего шутить“, 241). Hermann tritt dann als überaus beredter Verführer auf, der zunächst in der Sprache empfindsamer und romantischer Diskurse die Greisin als Liebhaberin, Gattin und Mutter eines neugeborenen Sohnes beschwört und ihr dann in religiöser Sprechweise in Aussicht stellt, seine Kinder, Enkel und Urenkel würden ihr Andenken segnen und es verehren wie ein Heiligtum. Die Gräfin schweigt jedoch beharrlich, und als Hermann mit gezogener, aber ungeladener Pistole die Antwort erzwingen will, fällt sie tot in ihrem Sessel zurück. Im Glauben, die tote Gräfin könne schädlichen Einfluss auf sein Leben nehmen, nimmt der abergläubische Hermann an ihrer Beerdigung teil. Als er sich über den Katafalk beugt, scheint ihm, als blicke ihn die Tote spöttisch, mit einem Auge zwinkernd an. Hermann prallt zurück, stolpert und schlägt rücklings zu Boden. Man hilft ihm auf. Zur gleichen Zeit trägt man die ohnmächtig gewordene Lizaveta Ivanovna in die Vorhalle (für Puškins Zeitgenossen ein klarer Fall von mesmeristischem rapport).
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24 Wie Franz Anton Mesmer war Luigi Galvani ein Entdecker aus den jungen Jahren der Gräfin, den 1770er Jahren. Die Entdeckungen Galvanis und Mesmers galten Puškins Zeitgenossen keineswegs als unbezweifelbare, wissenschaftliche Fakten, sondern waren in ihrer Seriosität durchaus umstritten und von einer Aura des Magischen und der Scharlatanerie umgeben. Zwischen dem Abenteurer und Alchimisten Saint-Germain und den Begründern exakter Wissenschaft, als die Galvani und Mesmer später erkannt wurden, bestand für Puškins Zeit kein grundsätzlicher Unterschied.
84 | Romantik und Postromantik 7.2.3 Der Geisterseher In der folgenden Nacht wacht Hermann unversehens auf. Er sieht, wie jemand von der Straße zu ihm durch das Fenster blickt, und hört dann, wie die Tür im Flur aufgeschlossen wird. Hermann denkt zunächst an seinen Burschen: Но он услышал незнакомую походку: кто-то ходил, тихо шаркая туфлями. Дверь отворилась, вошла женщина в белом платье. Германн принял ее за свою старую кормилицу, и удивился, что могло привести ее в такую пору. Но Белая женщина, скользнув, очутилась вдруг перед ним, — и Германн узнал графиню! (247) Doch er hörte einen unbekannten Gang: jemand ging, leise in Pantoffeln schlurfend. Die Tür öffnete sich, eine Frau im weißen Kleid trat ein. Hermann nahm sie für seine alte Kinderfrau und wunderte sich, was sie um diese Zeit zu ihm führen könnte. Doch die weiße Frau, die immer näher glitt, stand plötzlich vor ihm, – und Hermann erkannte die Gräfin! (213)
Der Status dieser Wahrnehmung ist höchst zweifelhaft. Handelt es sich um eine übernatürliche Erscheinung oder um ein Produkt „ungezügelter Phantasie“? Der Erzähler hat eine Reihe von Anzeichen für ein psychogenes Phantasma gesetzt. Hermann war den ganzen Tag über außerordentlich zerstreut, hat wider seine Gewohnheit viel getrunken, in der Hoffnung, die innere Erregung zu betäuben. – „Doch der Wein erhitzte seine Vorstellung nur um so mehr“ (213; „Но вино еще более горячило его воображение“, 247). Zu Hause angekommen, wirft er sich angekleidet auf das Bett und fällt in tiefen Schlaf. Für eine übernatürliche Erscheinung spricht dagegen, dass Hermann die Gräfin zunächst für seine alte Kinderfrau hält. Wäre die Erscheinung ein reines Phantasma gewesen, hätte Hermann sie vermutlich sofort richtig identifiziert. Der Geist der Gräfin offenbart das Geheimnis und nennt die Bedingungen: Я пришла к тебе против своей воли, — сказала она твердым голосом: — но мне велено исполнить твою просьбу. Тройка, семерка и туз выигрывают тебе сряду, — но с тем, чтобы ты в сутки более одной карты не ставил, и чтоб во всю жизнь уже после не играл. Прощаю тебе мою смерть, с тем, чтоб ты женился на моей воспитаннице Лизавете Ивановне… (247) „Ich komme zu dir wider eigenen Willen“, sagte sie mit fester Stimme, „aber man hat mir befohlen, deine Bitte zu erfüllen. Drei, Sieben und As gewinnen für dich nacheinander, – doch unter der Bedingung, dass du an einem Tag mehr als eine Karte nicht setzt und dass du danach dein Lebtag nicht wieder spielst. Ich vergebe dir meinen Tod unter der Bedingung, dass du meine Ziehtochter Lizaveta Ivanovna heiratest… (213–214)
Das Geheimnis der drei Karten und seine Bedingungen sind stark geprägt von Hermanns Bewusstsein. Dass die Gräfin nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf
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fremden Befehl bei ihm erschienen ist, entspricht ganz seiner Wahrnehmung ihres Todes. Er hat die Greisin mit der Pistole zu Tode erschreckt. Wie könnte er dann annehmen, dass sie ihr Geheimnis aus eigenem Antrieb preisgibt. Er muss also von einem Befehlsgeber ausgehen. Aber was könnte diesen überirdischen Befehlsgeber veranlasst haben, Hermanns Bitte um die Nennung der drei Karten zu erfüllen? Wie sind die drei sicheren Gewinnkarten künstlerisch motiviert? Die Gräfin gibt naturgemäß keine Begründung. Die bedrängte Greisin hat das Kartengeheimnis ja zum Scherz erklärt. Die Karten müssen Hermanns Phantasie entsprungen sein. Die künstlerische Motivierung erfordert, dass sie irgendwo im Text verborgen sind. Einige Interpreten leiten die Drei und Sieben aus literarischen Prätexten ab, in denen die beiden Karten als gewinnbringend figurieren. 25 Aber wie gelangt dieses Wissen zu Hermann? Er wird mit keiner Erwähnung als Leser vorgestellt. Viel natürlicher ist die bereits von Aleksandr Slonimskij (1923) vorgetragene Erklärung, die Werte der beiden Karten entsprächen Hermanns Absicht, mit „seinen drei sicheren Karten“ „sein Kapital zu verdreifachen, zu versiebenfachen“.26 Verdreifachung und Versiebenfachung sind, wie Nabokov (1964, II, 261) gezeigt hat, im Pharospiel die regulären Gewinnmöglichkeiten bei zweimaligem und dreimaligen Spiel mit Verdoppelung des Einsatzes. Woher kommt Hermann aber das As? Eine Motivierung dieser Karte besteht darin, dass Hermann mit seinen drei Karten ein „As“ werden will. Im Russischen wird als „As“ (tuz) ein in einem gesellschaftlichen Bereich einflussreicher, bedeutender Mensch bezeichnet.27 Verbreitet ist auch die numerologische Extrapolation. Man kann das As mit dem Zahlenwert 1 ansetzen, dann ergibt sich bei dreifachem Gewinn die Folge: 1 (le va); 1 + (1 + 2) = trois et le va; 1 + (1 + 2 + 4) = sept et le va, wobei le va den Anfangseinsatz bezeichnet. Sergej Davydov (1999), der diese Erklärung Nabokovs erwägt, merkt an, dass damit aber die reale Setzfolge Drei – Sieben – As noch nicht motiviert ist. Eine gewagte, aber angesichts von Puškins Kunst des anagrammatischen Verbergens keineswegs abwegige Herleitung des As und der beiden ersten Karten
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25 Zu diesen Texten gehört Heinrich Claurens Roman Der holländische Kaufmann (siehe dazu oben, Anm. 20). 26 Diese Ausdrücke findet N. P. Kašin (1927, 33–34) bereits in Fëdor Glinkas Gedicht Tobias’ Hochzeitsgelage (Bračnyj pir Tovija, 1827). 27 Vgl. Slovar’ russkogo jazyka v četyrech tomach, Moskau 1984, s.v. tuz.
86 | Romantik und Postromantik schlägt Davydov selbst vor. Als Hermann vor dem noch nicht identifizierten Haus der Gräfin steht, beobachtet er die Auffahrt der Kutschen: Улица была заставлена экипажами, кареты одна за другою катились к освещенному подъезду. Из карет поминутно вытягивалась то стройная нога молодой красавицы, то гремучая ботфорта, то полосатый чулок и дипломатический башмак. (236) Die Straße stand voller Equipagen, die Wagen rollten einer nach dem andern an der Auffahrt vor. Alle Augenblicke wurde aus den Wagen mal das schlanke Bein einer Schönen gestreckt, mal ein dröhnender Kanonenstiefel, mal ein gestreifter Strumpf im Diplomatenschuh. (197)
Die Auffahrt der Wagen nimmt der vom Pharo-Spiel besessene Hermann als Folge von Karten wahr. Das russische Wort kareta (‚Wagen‘) scheint karta (‚Karte‘) anagrammatisch zu enthalten. So ergibt sich eine Äquivalenz der Sätze Karety odna za drugoju katilis’ („Die Wagen rollten einer nach dem andern…“) und [Germann] stavil kartu za kartoj („[Hermann] setzte eine Karte nach der andern“). In den drei Füßen, die aus den Kutschen gestreckt werden, erkennt Hermann – in Davydovs Interpretation – die drei später vom Geist der Gräfin genannten gewinnbringenden Karten. Das schlanke Bein einer Schönen ruft die Vorstellung der Drei auf. Der dröhnende Kanonenstiefel repräsentiert die Sieben und der gestreifte Strumpf im Diplomatenschuh das gesellschaftliche As. 28 Für diese Assoziationen rekurriert Davydov auf die später bei Hermann einsetzende Deutung der Menschen als Karten. Im Besitz des Kartengeheimnisses kehrt Hermann die Repräsentationsidee um: nun bedeuten nicht mehr die Karten die Menschen, sondern die Menschen bedeuten die Karten. So sieht Hermann in jedem
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28 Nicht erwägenswert scheint mir dagegen Davydovs (1999, 314) Ableitung des As aus der Wortfuge zwischen den russischen Wörtern verdreifachen und versiebenfachen zu sein: utroiT, USemerit. Das Zusammenziehen von Wortende und Wortanfang ergibt tus, was kein russisches Wort ist. Man könnte einwenden, dass das z im Auslaut von tuz stimmlos gesprochen wird, aber im vorliegenden Fall steht das z nicht im Auslaut. Zu Unrecht schilt Davydov die „Kurzsichtigkeit“ der vielen Interpreten, die in ihrer Analyse anagrammatischer Erscheinungen in der Pique Dame diese vermeintliche Quelle des As übersehen haben.
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jungen Mädchen eine Herz Drei29; wenn er nach der Zeit gefragt wird, gibt er als Stunde die Sieben an; und jeder beleibte Herr erinnert ihn an ein As.30 Wie sind in diesem semantischen Kontext die Worte zu verstehen, die der Erzähler der Darstellung von Hermanns Imaginationstätigkeit vorausschickt? Две неподвижные идеи не могут вместе существовать в нравственной природе, так же, как два тела не могут в физическом мире занимать одно и то же место. Тrойка, семерка, туз — скоро заслонили в воображении Германна образ мертвой старухи. (249) Zwei fixe Ideen können in der sittlichen Natur nicht nebeneinander bestehen, ebenso wenig wie zwei Körper in der physischen Welt denselben Platz einnehmen können. Drei, Sieben und As – sie verdunkelten in Hermanns Vorstellung bald das Bild der toten Greisin. (214)
Wenn die drei Karten das Bild der toten Gräfin verdecken, verdrängt Hermann nicht nur seine Missetat, sondern vergisst auch die Gattungsrolle, die er der Trägerin des Geheimnisses zugesprochen hat. Tomskijs Anekdote vom Kartengeheimnis hat er als „Märchen“ abgetan, aber er ist wenig der Handlungslogik und der Verteilung der Rollen in dieser Gattung eingedenk. Er hätte bedenken müssen, dass im Märchen die übermäßige Gier und die Tötung bestraft werden. Wenn er die lebende, aber stumme Gräfin „alte Hexe“ (206; „старая ведьма“, 242) nennt, wie kann er dann darauf vertrauen, dass ihm das Kartengeheimnis der nächtens als Geist Erscheinenden zum Glück verhelfen werde? Hermann mangelt es ja überhaupt an Gattungsbewusstsein. Dem sozialen Aufsteiger wird das Kartengeheimnis in Tomskijs Anekdote, die die Kameraden lediglich unterhält, ohne dass sie irgendwelche Konsequenzen aus ihr ziehen, zur unbedingten, unbezweifelbaren Realität. Er weiß nichts von der referentiellen Unbestimmtheit der im beau monde gepflegten Diskurse, und er empört sich darüber, dass man mit einem Kartengeheimnis Scherze treiben kann. Es gibt also starke Anzeichen für eine realistisch-psychologische Motivierung der drei Karten. Die Karten entspringen Hermanns seelischer Tätigkeit. Auch die Bedingungen verweisen auf Hermanns Bewusstsein. An einem Tag ||
29 Die Herz Drei stellt einerseits (dreimal) das Emblem der Liebe dar, wird in ihrer Konstellation der drei Herzen zur Imago der weiblichen Figur und assoziiert anderseits in ihrer russischen Bezeichnung červonnaja trojka jene „Goldmünzen“ (červoncy), die Hermann im Traum haufenweise gewinnt (zu dieser Assoziation und zur Gestalt der Spielkarte in Puškins Zeit vgl. Rosen 1975, 261–262). Das russische Wort für die Drei (trojka) bildet im Übrigen eine phonische Äquivalenz mit ‚schlank‘ (strojnyj), jener Eigenschaft, mit dem sowohl das aus der Kutsche herausgestreckte Bein einer Schönen als auch die Herz Drei attributiert werden. 30 Vgl. dazu die Bilder und Zeichnungen, mit denen Davydov (1999, 318–319) Hermanns Assoziationen erklärt.
88 | Romantik und Postromantik nicht mehr als eine Karte zu setzen, entspricht der deutschen Tugend der „Mäßigung“. Beim Gewinn der Vénus moscovite in Versailles mit Saint-Germains Geheimnis war von einer solchen Einschränkung nicht die Rede. In Tomskijs Erzählung wählte die Gräfin drei Karten und setzte sie eine nach der andern: alle drei waren Siegerkarten und seine Großmutter hatte alles zurückgewonnen. Das Verbot weiteren Spielens kann Hermann Tomskijs Anekdote entnommen haben. Tomskijs Onkel, Graf Ivan Il’ič, hat ihm bei seiner Ehre versichert, dass die Gräfin einmal ihr Kartengeheimnis weitergegeben habe, dem wegen seiner ungeheuren Spielschulden verzweifelten jungen Čaplickij, allerdings unter der Bedingung, dass er danach nie wieder spiele. Der junge Mann muss diese Bedingung verletzt haben, denn er starb, wie Tomskij erwähnt, in Armut. Das Gebot, Lizaveta Ivanovna zu ehelichen, könnte Ausdruck der Gewissensbisse sein, die sich in Hermann angesichts der grausamen Instrumentalisierung der sehnsüchtig auf ihren „Erlöser“ wartenden jungen Frau regen. Das Kapitel der Erscheinung des Geistes endet mit einer in der Literatur zu Pique Dame weithin unbeachteten Pointe: „Hermann kehrte in sein Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und zeichnete seine Erscheinung auf.“ (214; Ü. rev.; „Германн возвратился в свою комнату, засветил свечку, и записал свое видение“, 248). Der Techniker Hermann wird zum schreibenden Visionär und wiederholt die Karriere jenes Emanuel Swedenborg, dem das Motto des fünften Kapitels untergeschoben ist. Swedenborg begann als Naturwissenschaftler, war – wie Hermann – Kriegsingenieur und endete als visionärer Theosoph31, der großen Einfluss auf bedeutende europäische Schriftsteller und Philosophen hatte, unter ihnen Goethe, Schiller und Schelling, in Frankreich Balzac.32 Kant dagegen apostrophierte Swedenborg in seiner Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) respektlos als einen „Kandidaten des Hospitals“ und als „Erzphantasten unter allen Phantasten“, der ihn mit seinen Berich||
31 Nach seiner religiösen Wende, die in Christusvisionen gipfelte, gab der Assessor der schwedischen Bergbaubehörde seine wissenschaftliche und technische Tätigkeit auf, um sich ganz einer visionären Theorie der spirituellen Welt zu widmen (vgl. Brokgauz/Efron 1900, XXIX, 75– 80). Swedenborg gründete eine theosophisch orientierte „Neue Kirche“, die in deutschsprachigen Ländern und als „New Jerusalem Church“ in England und Nordamerika noch heute recht verbreitet ist. In der Nähe von Los Angeles befindet sich unweit vom Ufer des Pazifiks eine ganz aus Glas erbaute Kirche der Swedenborgianer. 32 In Russland waren die Werke des schwedischen Theosophen von der geistlichen Zensur verboten worden. Das Verbot bezog sich auch auf Schriften über Swedenborg und galt bis 1905. Puškin und seine Zeitgenossen kannten den Mystiker jedoch aus französischen und deutschen Übersetzungen sowie aus kursierenden Handschriften russischer Übersetzungen (vgl. Šarypkin 1974, 132).
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ten aus der Welt jenseits des Todes in ein „Schlaraffenland der Metaphysik“ verschleppen wolle. Für Puškins Zeit war Swedenborg auch ein Deuter von Träumen und Visionen, ein Spezialist für das Kartenspiel, ein Held von Wahrsagebüchern und sogar ihr Autor (vgl. Šarypkin 1974, 134–135). Swedenborg war eine der Hauptfiguren im Roman Arwed Gyllenstierna. Eine Erzählung aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts (1823) des deutschen Autors Carl Franz van der Velde. Auf Russisch erschienen Auszüge aus dem Roman unter dem Titel Der Tod Karls XII (Smert’ Karla XII) in der Zeitschrift Der Moskauer Bote (Moskovskij vestnik, 1828, Teil. VII, 279–301). Puškin kannte den Roman, wie Erwähnungen in den Handschriften des Eugen Onegin belegen (vgl. Jakubovič 1935, 206–212). In Puškins Zeit kursierte die Legende, auf Swedenborg habe einen schicksalhaften Einfluss eine reiche alte Tante gehabt, in ihrer Jugend eine Schönheit, dann eine energische und herrschsüchtige Person der höheren Gesellschaft, deren Geist dem Mystiker drei Tage nach ihrem Tod erschienen sei (vgl. Sigestedt 1952, 68, 80, 97, 256; Šarypkin 1974, 135). Das in Swedenborgs Schriften nie belegte Motto zum V. Kapitel der Pique Dame könnte auf diese Legende anspielen: В эту ночь явилась ко мне покойница баронесса фон-В***. Она была вся в белом, и сказала мне: „Здравствуйте, господин советник!“ Шведенборг (246) In dieser Nacht erschien bei mir die verstorbene Baronesse von V***. Sie war ganz in Weiß und sagte zu mir: „Guten Abend, Herr Rat!“ Swedenborg (211)
Die Äquivalenz zwischen Motto und Ereignis löst die Frage nach dem ontologischen Status von Hermanns Vision keineswegs. Es ist kaum zu übersehen, dass die in der Aufzeichnung mitgeteilte Begrüßung durch die Erscheinung überaus trivial ist. Diesem Prosaismus entspricht, dass die Erscheinung in Hermanns Vision mit den Pantoffeln schlurft, was zweimal erwähnt wird. Aus beiden Prosaismen kann man den Schluss ziehen, dass sich Puškin zu den Geistererscheinungen Swedenborgs und Hermanns nicht ohne Ironie verhält. Aber diese Ironie ist noch kein Argument gegen die Realität des Übernatürlichen.
7.2.4 Der Fehlgriff Die Frage nach der Motivierung muss sich im letzten der sechs Kapitel entscheiden, das Hermann bei seinen drei Spielen zeigt. Ein starkes Argument für die
90 | Romantik und Postromantik übernatürliche Realität des Geistes und seines Geheimnisses ist darin zu sehen, dass die drei von der Erscheinung genannten Karten in Hermanns Spielen tatsächlich fallen. Es versagt nicht das Kartengeheimnis, sondern der Spieler. Im ersten Spiel setzt Hermann zur Verwunderung des Bankhalters Čekalinskij und aller Anwesenden siebenundvierzigtausend, offensichtlich das gesamte vom Vater geerbte Kapital, auf die Drei und gewinnt. Am nächsten Abend setzt er seine siebenundvierzigtausend und den Gewinn vom Vortag auf die Sieben. Die Sieben gewinnt, und Hermann entfernt sich mit seinen vierundneunzigtausend noch im selben Augenblick. Am dritten Abend steht Hermann bereits im Mittelpunkt des Interesses. Alle haben ihn erwartet und lassen ihre Spiele liegen, um Hermanns Spiel zuzusehen. Hermann steht allein am Tisch, bereit, gegen den bleichen, doch nach wie vor lächelnden Čekalinskij zu setzen. Es gleicht einem Zweikampf. Wer Čekalinskij, den Zeitangaben des Textes besondere Bedeutung beimessend, als Kind der Verbindung zwischen St. Germain und der Gräfin betrachtet, wird in dem Bankhalter den Rächer seiner Mutter sehen. Čekalinskij deckt die Karte auf. „Das As hat gewonnen“ (218; „Туз выиграл!“, 251), sagt Hermann und deckt seine Karte auf. „Ihre Dame ist geschlagen“ (218; „Дама ваша убита“, 251) sagt Čekalinskij freundlich.33 Германн вздрогнул: в самом деле, вместо туза у него стояла пикобвая дама. Он не верил своим глазам, не понимая, как мог он обдернуться. В эту минуту ему показалось, что пиковая дама прищурилась и усмехнулась. Необыкновенное сходство поразило его… — Старуха! — закричал он в ужасе. (251) Hermann fuhr zusammen: tatsächlich, statt eines Asses lag die Pique Dame vor ihm. Er traute seinen Augen nicht, begriff nicht, wie er so hatte danebengreifen können. In diesem Augenblick schien ihm, als habe die Pique Dame gezwinkert und ihm spöttisch zugelächelt. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit bestürzte ihn… „Die Alte!“, schrie er entsetzt auf. (219)
Das Pendel scheint hier wieder zur psychologischen Motivierung auszuschlagen. In zahllosen psychologischen und tiefenpsychologischen Deutungen hat man Hermanns Fehlgriff als Freudsche Fehlleistung gewürdigt, die ein verdrängtes Unbewusstes zum Ausdruck bringt.34 Die Interpreten versuchen dabei zu begreifen, was Hermann selbst nicht begreifen kann und was der Erzähler nicht preisgibt, nämlich: welcher unterschwellige Gedanke, welcher Versuch einer Ver||
33 Čekalinskijs Kartenspielausdruck ubita ‚geschlagen‘ heißt in der Normalsprache ‚getötet‘. 34 Extremisten der psychoanalytischen Deutung der Novelle sind etwa Schwartz & Schwartz 1975 und Barker 1984.
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drängung seiner Schuld und welche unbewussten Motive der Selbstbestrafung Hermann dazu geführt haben können, statt des Asses versehentlich die Dame zu ziehen, die Opfer war und nun zur Rächerin wird. Es ist nun zu bedenken, dass an Hermanns Fehlleistungen die Gräfin durchaus nicht unbeteiligt ist. Zumindest nimmt es Hermann so wahr. Bei der Verneigung vor der aufgebahrten Gräfin scheint es ihm, dass ihn die Tote spöttisch anblicke und ihm mit einem Auge zuzwinkere (vgl. oben S. 83). Daraufhin „vertritt er sich“ (ostupilsja). Nun, im Spiel scheint es ihm wieder, als habe die Pique Dame gezwinkert und ihm spöttisch zugelächelt. Sollte sein ‚Vergreifen“, ‚Danebengreifen‘ (obdernulsja) nicht von einer Intervention der Gräfin provoziert worden sein? Die beiden in der Wortbildung ähnlichen Verben ostupit’sja (‚sich vertreten‘, ‚danebentreten‘) und obdernut’sja (‚sich vergreifen‘, ‚danebengreifen‘), die im Russischen durch das Präfix o- verbunden sind, bezeichnen beide eine Fehlhandlung, die durch Ablenkung oder seelische Verwirrung verursacht ist. Es muss allerdings offenbleiben, ob die Intervention der Gräfin tatsächlich von außen stattgefunden hat oder nur in Hermanns Bewusstsein geschehen ist. Zwischen der übernatürlichen und der psychologischen Motivierung besteht wieder ein Unentschieden. Es ist ein unscheinbares Detail zu beachten. In der erlebten Wahrnehmung Hermanns wird die tatsächlich gezogene Karte als Pique Dame identifiziert. Das ist insofern bemerkenswert, als Farben im Pharospiel keine Rolle spielen. Hermann tritt damit aus der Pharowelt heraus und nimmt in einer semiotischen Metalepse das Kartenbild als Abbildung der Gräfin. Er hat die Gräfin ja schon mehrfach in einem Rahmen wie als Bild gesehen. In ihrem Schlafzimmer hing ein in Paris von Mme Lebrun gemaltes Portrait: eine junge Schöne mit Adlernase, frisierten Schläfen und einer Rose im gepuderten Haar. Wenn später zweimal erwähnt wird, dass die Gräfin in einem Voltaire-Sessel saß, ist der Schluss zu ziehen, dass der auf die Karten fixierte Hermann sie vor dem hohen, geraden Rücken des Sessels wie als auf einer Spielkarte abgebildet wahrnimmt (zu diesem Eindruck vgl. Rosen 1975, 268). Mit der Nennung der Farbe Pique kommen neue Aspekte ins Spiel. Pique (russisch Pika) bedeutet auf Französisch ‚Lanze‘. Auf den Spielkarten in Puškins Zeit ist die Lanze größer als auf modernen Karten dargestellt. Die Dame wirkt bedrohlich, martialisch. Indem sich das Kartensymbol in eine reale Konfiguration (Dame mit einer Lanze) verwandelt, erlangt auch die Farbe Pique Bedeutung. In solcher Weise desemiotisiert oder reifiziert, vom Spielfarbensymbol zur Darstellung einer Waffe zurückverwandelt, enthüllt das piktographische Emblem Pique dieselben Merkmale der Feindseligkeit, die die russische Phraseologie an die Wörter
92 | Romantik und Postromantik pika und pikovyj knüpft35. Das Bild der Lanze benutzt man, um ein absichtliches Ärgern auszudrücken: sdelat’ komu-to čto-to v piku (‚jemandem etwas zum Trotz tun‘; pikirovat’sja heißt ‚sich sticheln‘, ‚spitze Worte austauschen‘, pikovoe položenie wird eine ‚unangenehme, schwierige Situation‘ genannt, und Hermann befindet sich am Schluss der Geschichte genau in der Lage, die die russische Wendung ostat’sja (oder okazat’sja) pri pikovom interese bezeichnet: er ‚hat das Nachsehen‘, er ‚geht leer aus‘. 36 Die feindselige Haltung der Pique Dame wird schon im Generalmotto der Novelle ausgedrückt: Пиковая дама означает тайную недоброжелательность Новейшая гадательная книга Pique Dame bedeutet heimliche Missgunst.
Der neueste Traumdeuter
Als Quelle für diese Definition wird im Original „das neueste Wahrsagebuch“ angegeben.37 Die entscheidende Frage ist: konnte Hermann mit diesem Buch und der in ihm enthaltenen Warnung vertraut sein? Man wird diese Frage nicht verneinen können, denn der Erzähler charakterisiert Hermann auf folgende Weise: „Er hatte wenig wahren Glauben, dafür um so mehr um so mehr Aberglauben“ (Ü 211; „Имея мало истинной веры, он имел множество предрассудков“, 246). Zu den abergläubischen Vorstellungen, die Hermann hegt, kann durchaus die im „neuesten Wahrsagebuch“ enthaltene Definition der Pique Dame gehören. Es wäre bezeichnend, dass er diese Warnung, wenn er sie kennte, missachtet, so wie er auch die Logik des Belohnens und Bestrafens verdrängt, die das Märchen enthält, obwohl er Tomskijs Anekdote ein „Märchen“ und die Gräfin „alte Hexe“ nennt. Wenn der gattungsbewusste Autor seinen Helden schließlich scheitern lässt, so bestraft er ihn für die Gewalt, die er den Gattungen angetan hat. Für seinen falschen Umgang mit der Anekdote und den magischen Diskursen wird er paradoxerweise gerade damit bestraft, dass sich der Wahrheitsgehalt
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35 Zum Piktogramm der Pique Dame auf russischen Spielkarten um 1830 vgl. die Abbildung bei Rosen 1975, 261. Die Dame hält eine Rose in der Hand und blickt nach links, wo in beträchtlicher Größe das Farbensymbol erscheint, das noch deutlich als Lanzenspitze zu erkennen ist. 36 Zu den Phraseologismen: Slovar’ russkogo jazyka v četyrech tomach, Moskau 1984, s. v. pika, pikirovat’sja, pikovyj. 37 Wahrsagebücher, auch Losbücher oder Punktierbücher genannt, sind eine seit dem Spätmittelalter populäre Gattung der mantischen Literatur und gehen auf Traditionen der antiken und arabischen Literaturen zurück (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Losbuch [1.7.2018]; für das Russische: https://ru.wikipedia.org/wiki/Гадательные_книги [1.7.2018]).
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der unzuverlässigen Texte in der erzählten Wirklichkeit auf wunderbare Weise bestätigt. Das Schwanken zwischen den Motivierungen entspricht dem aleatorischen Binarismus, der das Pharospiel beherrscht. So wie sich dort die Welt in Rechts und Links teilt, ist der über dem wahren Geheimnis und seinem falschen Griff wahnsinnig Gewordene in seiner geistigen Tätigkeit auf die Alternanz zweier Kartenfolgen reduziert: Тройка, семерка, туз! Тройка, семерка, дама!.. (252) Drei, Sieben, As! Drei Sieben Dame!.. (219).
7.3
Doppelmotivierung in Mérimées Novelle La Vénus d’Ille
Die Unsicherheit über die kausale Motivierung, das Schwanken zwischen einer übernatürlichen Begründung des Geschehens und einer rationalen Erklärung, ist ein in vielen romantischen Erzählungen begegnender Zug. Diese Struktur liegt etwa auch Prosper Mérimées Novelle La Vénus d’Ille (1837) zugrunde, die der Autor selbst noch aus großem zeitlichem Abstand (1857) als sein Meisterwerk bezeichnete.38 Das Beispiel ist nicht willkürlich gewählt. Puškin und Mérimée haben, ohne sich je begegnet zu sein oder auch nur Briefe gewechselt zu haben, einander gelesen, geschätzt und übersetzt. 39 Mérimée, der eigens Russisch gelernt hatte, um Puškin im Original zu lesen, übertrug unter anderem die Erzählungen Der Schuss (Vystrel, 1831) und Pique Dame. Letztere erschien unter dem Titel La Dame de Pique zweimal in der Revue des Deux Mondes. Den Text der ersten Ausgabe 1849 korrigierte Mérimée mehrfach für die zweite Ausgabe 1852, unter anderem mit der Hilfe von Puškins Bruder Lev, der ihn in Paris auf missverstandene russische Wendungen aufmerksam machte (Kirnoze 1987, 10).40 ||
38 Vgl. die Anmerkungen von Willi Hirdt in Merimée, Sämtliche Novellen, 767. 39 Puškins Lieder der Westslaven (Pesni zapadnych slavjan, 1835), ein Zyklus von 16 Gedichten, sind in 11 Gedichten eine Übersetzung von Mérimées Sammlung La Guzla, ou choix de poésies illyriques recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, La Croatie et l’Herzégovine (1827). Es handelte sich bei Mérimées Prosatexten um eine Mystifikation, die Puškin, anders als Goethe, als echt betrachtete. Zum Verhältnis der beiden Autoren vgl. den Sammelband Mérimée – Puškin (hg. von Zoja Kirnoze 1987). In dem Band sind auch die jeweiligen Originale und Übersetzungen beider Autoren abgedruckt. 40 Im Frankreich der romantischen Epoche wurde die Einfachheit der Puškinschen Prosa als wenig zeitgemäß empfunden. Das belegt auch eine Stelle in Mérimées Brief an A. S. Sobolevskij
94 | Romantik und Postromantik Der Erzähler der Novelle La Vénus d’Ille, ein Archäologe aus Paris, besucht in dem kleinen Ort Ille-sur-Têt im Roussillon den Liebhaber von Altertümern Monsieur de Peyrehorade, der ihm eine antike Venusstatue zeigen will. Die Einheimischen betrachten die Statue als „Götzenbild“, das Unglück über sie bringt. Beim Ausgraben ist einem der Arbeiter von der umstürzenden Figur ein Bein zerschmettert worden. Der Erzähler beobachtet nachts von seinem Zimmer auf dem Gut des Gastgebers, wie ein junger Lehrling, der die Statue mit einem Stein beworfen hat, von dem zurückprallenden Geschoss getroffen wird. Der Bursche stößt einen Schmerzensschrei aus: „Sie hat ihn mir zurückgeworfen!“ (281; „Elle me l’a rejetée!“ 164)41 Am nächsten Tag betrachtet der Archäologe die Statue genauer. Er bewundert ihre Vollkommenheit: […] il est impossible de voir quelque chose de plus parfait que le corps de cette Vénus; rien de plus suave, de plus voluptueux que ses contours; rien de plus élégant et de plus noble que sa draperie. Je m’attendais à quelque ouvrage du Bas-Empire; je voyais un chefd’œuvre du meilleur temps de la statuaire. Ce qui me frappait surtout, c’était l’exquise vérité des formes, en sorte qu’on aurait pu les croire moulées sur nature, si la nature produisait d’aussi parfaits modèles. (166) […] man konnte unmöglich etwa Vollkommeneres sehen als den Körper dieser Venus. Nichts konnte anmutvoller und zugleich wollüstiger wirken als ihre Konturen. Etwas Geschmackvolleres und Edleres als ihr Gewänderwurf lässt sich kaum denken. Ich hatte mich auf irgendein Werk aus der späten Kaiserzeit gefasst gemacht, und nun sah ich ein Meisterwerk aus der höchsten Blütezeit der Bildhauerkunst vor mir. Was mir vor allem auffiel, war die überaus reizvolle Lebenswahrheit der Formen. Man hätte wirklich glauben können, sie seien einem lebendigen Leib nachgeformt worden, wenn die Natur überhaupt so vollkommene Vorbilder erschaffen könnte. (282–283)
Der Blick auf den Gesichtsausdruck der Statue offenbart jedoch eigenartige und befremdliche Züge:
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vom 31.8.1849. Zu Pique Dame schreibt der Novellist: „Je trouve que la phrase de P. est toute française, j’entends française du XVIIIe siècle car on n’écrit plus simplement aujourd’hui“ (zit. nach Kirnoze Hg. 1987, 422). Mérimées Version der Pique Dame zeigt dann auch eine nicht unbedeutende Verschiebung der Poetik: die im allgemeinen genaue Übersetzung erweitert Puškins karge Beschreibung durch spezifizierende Angaben und lässt anderseits scheinbar unwichtige Details weg, die bei Puškin der indirekten psychologischen Charakterisierung dienten. Vgl. dazu Barsch 1983. 41 Zitate aus dem französischen Original nach Mérimée, Colomba et autres Contes et Nouvelles. Paris 1845; aus der deutschen Übersetzung nach Mérimée, Sämtliche Novellen. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Widmer u. a. München 1982.
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Ce n’était point cette beauté calme et sévère des sculpteurs grecs, qui, par système, donnaient à tous les traits une majestueuse immobilité. Ici, au contraire, j’observais avec surprise l’intention marquée de l’artiste de rendre la malice arrivant jusqu’à la méchanceté. […] Dédain, ironie, cruauté, se lisaient sur ce visage d’une incroyable beauté cependant. (166) Es war nicht die stille, strenge Schönheit der griechischen Bildhauer, die bewusst und grundsätzlich allen Zügen eine erhabene Unbewegtheit verliehen. Hier fiel mir im Gegenteil zu meiner Verwunderung die unverkennbare Absicht des Künstlers auf, dem Gesicht den Ausdruck von Spottlust zu geben, die sogar bis zur Bosheit ging. […] Hochmut, Hohn, Grausamkeit, all dies las man auf diesem Antlitz, das aber desungeachtet unsagbar schön wirkte. (283; Ü. rev.)
An diesem Tag, einem Freitag, dem Tag der Venus, wie Monsieur de Peyrehorade die Wahl des Tages begründet, begeht sein Sohn Alphonse seine Hochzeit mit Mademoiselle de Puygarrig, zu der der reisende Archäologe eingeladen ist. Kurz vor der Trauung mischt sich der bereits feierlich gekleidete Bräutigam in ein Ballspiel zwischen Einheimischen und aragonesischen Maultiertreibern ein. Da ihn der dicke Diamantring, der für die Braut bestimmt ist, im Spiel stört, steckt er ihn der Venusstatue an den Finger. Die Partei des Bräutigams gewinnt danach das Spiel überlegen, und Alphonse demütigt die unterlegenen Aragonesen. Deren hünenhafter Anführer ist zutiefst gekränkt und kündigt zähneknirschend Vergeltung an. Alphonse fährt zur Trauung ohne den Ring, den er am Finger der Venus vergessen hat. Er ist keineswegs von Liebe bewegt, sondern an der Mitgift der reichen Braut interessiert. Das achtzehnjährige Mädchen ist nicht nur schön, sondern, wie der Erzähler emphatisch ausdrückt, „berückend lieblich“ (séduisante). Ihre zarte Gestalt wirkt neben ihrem ungeschlachten, derben Bräutigam wie sein leibhaftiger Gegensatz. Auch ihr feines Benehmen und ihre gepflegte Konversation kontrastieren mit der groben Art des Bräutigams. Dem Erzähler, den die vollkommene Natürlichkeit ihres Verhaltens und ihrer Worte berührt, fällt allerdings eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Gesichtsausdruck der Venusstatue auf: […] son air de bonté, qui pourtant n’était pas exempt d’une légère teinte de malice, me rappela, malgré moi, la Vénus de mon hôte. Dans cette comparaison que je fis en moi-même, je me demandais si la supériorité de beauté qu’il fallait bien accorder à la statue ne tenait pas, en grande partie, à son expression de tigresse ; car l’énergie, même dans les mauvaises passions, excite toujours en nous un étonnement et une espèce d’admiration involontaire. (173) […] der gütige Ausdruck ihres Gesichts, der freilich eines Anflugs von Schalkhaftigkeit nicht entriet, erinnerte mich unwillkürlich, ich weiß nicht wieso, an die Venus meines Gastgebers. Während ich nun im Stillen diesen Vergleich anstellte, fragte ich mich, ob die überlegene Schönheit, die man der Statue zugestehen musste, nicht zu einem großen Teil auf ihrem raubtierhaft-wilden Ausdruck beruhte; denn Tatkraft und Willensstärke, selbst wenn
96 | Romantik und Postromantik sie argen Leidenschaften dienen, erwecken ja in uns immer Staunen und eine Art unwillkürlicher Bewunderung. (291)
Bei der Trauung steckt Alphonse seiner Braut den Ring einer Pariser Putzmacherin an, mit der er offensichtlich eine Liaison hatte. Als er an der Festtafel, schon angetrunken, sich an den Diamantring erinnert und ihn von der Statue abziehen will, gelingt ihm das nicht. Die Statue hat, wie ihm scheint, die Hand gekrümmt und will den Ring nicht wieder hergeben. In der Hochzeitsnacht kann der Erzähler lange keinen Schlaf finden. Er denkt an das bildschöne unschuldige junge Mädchen, das nun einem betrunkenen Rohling preisgegeben ist. In der tiefen Stille der Nacht hört er schwere Schritte, die die Treppe heraufkommen. In der Morgendämmerung hört er dieselben schweren Schritte die Treppe hinuntergehen. Kurz darauf gellt verzweifeltes Jammergeschrei durch das Haus. Das Hochzeitsgemach ist voller Menschen. Der Bräutigam liegt halb ausgekleidet auf dem Bett. Er ist tot. Auf seiner Brust entdeckt der Erzähler ein bläuliches Quetschmal, als ob er von einem eisernen Reifen umschlungen worden wäre. Sein Todeskampf muss grauenvoll gewesen sein. Am andern Ende des Gemachs windet sich die Braut in grässlichen Zuckungen, wie ein Tier schreiend, kaum von zwei kräftigen Mägden festgehalten. Auf dem Boden entdeckt der Erzähler den Diamantring. Der Archäologe findet im Haus keine Spuren gewaltsamen Eindringens. Im Garten kann er nur tief ins Erdreich eingepresste Spuren schwerer Tritte erkennen. Jedesmal wenn er an der Statue vorbeigeht, kann er nicht ohne Grauen ihren höhnisch schadenfrohen Ausdruck betrachten. Einem verwirrten Geist entsprungen scheint dem hinzugezogenen Staatsanwalt die Aussage der jungen Witwe: danach hat sich die eherne Venus in das Hochzeitsgemach begeben, sich neben sie gelegt und den sich dann einfindenden Bräutigam mit aller Kraft umschlungen. Monsieur de Peyrehorade stirbt bald nach seinem Sohn. Erste Sorge seiner Witwe war, die Venus einschmelzen und eine Glocke daraus gießen zu lassen. Ein Unstern scheint über all denen zu walten, die im Besitz dieses Erzes sind. Denn seitdem die Glocke in Ille läutet, sind dort zweimal die Reben erfroren. In dieser im Sinne Todorovs phantastischen Novelle hat der Autor unverkennbare Signale der Relativierung des Übernatürlichen gesetzt und lässt eine mögliche realistische Erklärung zugleich in Frage stellen. Nahegelegt wird die Erklärung, dass der Mord von dem gedemütigten aragonesischen Maultiertreiber begangen wurde. Aber der Erzähler wagt nicht daran zu denken, dass er für den „leichten Scherz“ (plaisanterie légère, 185/303; Ü. rev.) eine so entsetzliche Rache genommen haben sollte. Der vorgeführte Spanier reagiert auf alle Fragen ruhig und gefasst, verteidigt sich mit Kaltblütigkeit und
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Geistesgegenwart und stellt seine Drohung keineswegs in Abrede. Sein Argument lautet: Ein beleidigter Aragonese warte mit seiner Rache nicht bis zum nächsten Tag. Wenn er sich von Monsieur Alphonse beleidigt gefühlt hätte, so hätte er ihm auf der Stelle sein Messer in den Bauch gerammt. Dieses Argument und sein Alibi führen dazu, dass er wieder freigelassen wird und man sich bei ihm entschuldigt. Kritischer Prüfung halten aber alle diese Begründungen nicht stand. Alphonses herablassende Zusage, er werde dem Gegner beim nächsten Spiel ein paar Punkte vorgeben, war für den stolzen Aragonesen keine plaisanterie légère, und der Gedemütigte hatte darauf mit erstickter Stimme auf Spanisch die Drohung ausgestoßen Me lo pagarás (177) („Das wirst du mir büßen“). Der Erzähler, den die Demütigung des Gegners „geradezu peinlich berührt“ hatte („je fus presque peiné de l’humiliation de son rival“, 177), weckt mit seiner nun verharmlosenden Darstellung Zweifel an seiner Zuverlässigkeit und scheint die Entscheidung zugunsten der übernatürlichen Erklärung fördern zu wollen. Dass der Bräutigam den Diamantring von der Hand der Statue nicht mehr ablösen kann, da sie nun, wie ihm scheint, gekrümmt ist, ließe sich mit seiner vom Alkohol getrübten Wahrnehmung erklären. Die geschlossene Hand der Statue hat niemand außer Alphonse gesehen. Der Bitte des Bräutigams, sich selbst von der geschlossenen Hand zu überzeugen, verweigert sich der Erzähler: „Ich wäre schon ein rechter Schafskopf, sagte ich mir, wenn ich hinginge und die Aussage eines betrunkenen Narren auf ihre Richtigkeit prüfen wollte!“ (300) („Je serais un bien grand sot, me dis-je, d’aller vérifier ce que m’a dit un homme ivre!“, 182). Aber der tote Bräutigam und der auf dem Boden des Hochzeitgemachs gefundene Diamantring lassen sich schwerlich mit trunkener Wahrnehmung erklären. Auffällig und irritierend wirkt die Ähnlichkeit, die der Erzähler zwischen dem Antlitz der Braut und dem Gesichtsausdruck der Statue entdeckt. Der Braut hat der Erzähler zunächst Lieblichkeit der Erscheinung, Natürlichkeit im Umgang und einen gütigen Ausdruck ihres Gesichts attestiert. Dann bringt ihn aber der „leichte Anflug von Spottlust“ (291) („légère teinte de malice“, 173) im Gesichtsausdruck von Mademoiselle de Puygarrig dazu, „unwillkürlich“ („malgré moi“) – er weiß nicht wieso – an die Venus seines Gastgebers zu denken. Deren Züge verrieten „eine Spottlust, die sogar bis zur Bosheit ging“. Diese Ähnlichkeit wirft einen Schatten auf die Unschuld der Braut. Könnte sie nicht mit der ehernen Venus im Bunde gegen den unwürdigen Bräutigam sein? Als Täterin kommt sie nicht in Betracht. Das schließt ihre zarte Gestalt aus. Aber sie kann jemanden gedungen haben. Die Beschreibung der zum Hochzeitslager schreitenden und den Bräutigam umschlingenden Statue geht allein auf sie zurück. Sie wird zwar nach der Mordtat im hellen Wahnsinn vorgefunden, ist aber nach kurzer Zeit wieder
98 | Romantik und Postromantik bei Bewusstsein und ist sogar imstande, dem anwesenden Staatsanwalt detaillierten Bericht über das – angeblich – Geschehene zu geben. Die ontologische Ambiguität der Novelle beruht auf ihrer doppelten perspektivischen Brechung. Wir sind auf die Wahrnehmung und Wertung des Erzählers angewiesen. Und er erlebt und bezeugt das Entscheidende nicht selbst, sondern ist seinerseits angewiesen auf Berichterstatter. Was er selbst bezeugen kann, wertet er nachher um, wie zum Beispiel die Drohung des Aragonesen. Die Präferenz des Autors scheint auf der übernatürlichen Motivierung zu liegen. Nur sie vollzieht mit aller archaisch-mythischer Grausamkeit die poetische Gerechtigkeit, die darin besteht, dass die bezaubernde Braut nicht dem rohen und dummen Bräutigam anheimfällt, der ihre Schönheit und Feinheit nicht würdigen kann und sie nur wegen der Mitgift heiratet. Und diese Gerechtigkeit wird mit Hilfe der Göttin der Liebe ins Werk gesetzt. Die ontologische Ambiguität der Novelle findet ihren symbolischen Ausdruck in der Doppelsinnigkeit der lateinischen Inschrift auf dem Sockel der Statue. Cave amantem kann, wie der erzählende Archäologe ausführt, auf zwei Weisen übersetzt werden. Es kann heißen: „Nimm dich in Acht vor dem, der dich liebt“. Der Erzähler zweifelt jedoch, ob diese Bedeutung im einwandfreien klassischen Latein so ausgedrückt worden wäre, und er zieht angesichts des – wie er nun beschreibt – „teuflischen Gesichtsausdrucks der Dame“ (167; „l’expression diabolique de la dame“, 284) eine zweite Bedeutungsmöglichkeit vor: „Hüte dich, nimm dich in Acht, wenn sie dich liebt“.
7.4 Die korrigierte kausale Motivierung in Gogol’s Erzählung Das Porträt In Nikolaj Gogol’s frühen Novellensammlungen Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka (Večera na chutore bliz Dikan’ki, 1831/32) und Mirgorod (1835) erwuchsen das Übernatürliche und seine Gestalten, die Hexen und Dämonen, aus der ukrainischen Folklore und bedurften keiner besonderen Motivierung. Problematischer wurde es bei den Petersburger Erzählungen, die Gogol’ ab 1835 verfasste. Hier widmete der Erzähler dem Phänomen des Übernatürlichen metanarrative Überlegungen, die in ihrer komischen Alogik das in Frage Stehende rechtfertigten. Nachdem er vom Tod seines Helden Akakij Akakievič Bašmačkin berichtet hat, muss der Erzähler des Mantels (Šinel’, 1842) einräumen, dass seine „armse-
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lige Geschichte unerwartet ein phantastisches Ende erhält“ (8542; „бедная история наша неожиданно принимает фантастическое окончание“, 164)43, wobei, wie der Erzähler einräumt, die bedeutende Person, an die sich Bašmačkin vergeblich um Hilfe gewandt hat, „schwerlich nicht die Ursache war für die phantastische Wendung dieser übrigens völlig wahren Geschichte“ (89; „едва ли не был причиною фантастического направления, впрочем, совершенно истинной истории“, 165). Das Phantastische besteht hier darin, dass der tote Bašmačkin, so sagt zumindest das in Petersburg verbreitete Gerücht, nächstens Passanten bedroht und ihnen die Mäntel abnimmt. Als Tatsache berichtet der Erzähler, dass die bedeutende Person selbst zum Opfer des Mantelraubs wurde, worauf der tote Beamte sein gespenstisches Erscheinen einstellte. Den Schluss der Novelle Die Nase (Nos, 1836) bildet ein absurdes Räsonnement des Erzählers über die Unwahrscheinlichkeiten in seiner Geschichte. Unwahrscheinlich ist bereits, dass sich eine Nase verselbständigt und sich an verschiedenen Orten als Staatsrat zeigt. Aber für den Erzähler noch unbegreiflicher ist, dass Kovalëv, dem die Nase gehört, mit Hilfe einer Zeitungsanzeige nach der verschwundenen Nase Nachforschungen anstellt. Nicht dass dem Erzähler die Zeitungsanzeige zu teuer erschiene – er gehört doch nicht zu den Knausrigen –, nein, er findet Kovalëvs Handlungsweise einfach unschicklich: Но что страннее, что непонятнее всего, — это то, как авторы могут брать подобные сюжеты. Признаюсь, это уж совсем непостижимо, это точно… нет, нет, совсем не понимаю. Во-первых, пользы отечеству решительно никакой; во-вторых… но и во-вторых тоже нет пользы. Просто я не знаю, что это… А, однако же, при всем том, хотя, конечно, можно допустить и то и другое, и третье, может даже… ну да и где же не бывает несообразностей?.. А все, однако, же, как поразмыслишь, во всем этом, право, есть что-то. Кто что ни говори. А подобные происшествия бывают на свете, — редко, но бывают. (73) Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muss gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste... in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll... Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar... wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch
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42 Zitate aus der deutschen Übersetzung des Mantels nach: Nikolai Gogol, Der Mantel. Russisch und deutsch. Herausgegeben von Witold Kośny. Stuttgart 1973. 43 Zitate aus dem russischen Original der Erzählungen Gogol’s nach Bd. III des Sobranie sočinenij v semi tomach, Moskau 1966.
100 | Romantik und Postromantik daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. (Gogol, Die Nase, 37–38)
Der ironische Autor inszeniert im gebrochenen Medium der komisch-defekten Skaz-Rede mit ihren Alogismen letztlich eine Rechtfertigung der Existenz des Übernatürlichen. Gogol’s Erzählung Das Porträt (Portret) ist für das Thema dieses Buchs von besonderer Bedeutung, da der Autor sieben Jahre nach ihrem Erscheinen (in seinen Arabesken [Arabeski], 1835; Version A), als er in Rom weilte, eine zweite Version (im Zeitgenossen [Sovremennik], 1842; Version B) verfasste, die sich insbesondere im Status des Übernatürlichen und damit in der Motivierung von der ersten Version stark unterscheidet. Um mögliche Verwirrung zu vermeiden, sei klargestellt: die Erzählung Das Porträt existiert in zwei Versionen (A und B), und beide Versionen bestehen aus zwei Teilen. Im ersten Teil der Novelle (wir folgen der Version B) geht es um ein Porträt, das der arme, talentierte Petersburger Maler Čartkov bei einem Trödler billig erwirbt.44 Das Bild hat seine Aufmerksamkeit durch die Darstellung der Augen eines ihm unbekannten Alten in asiatischen Gewändern auf sich gezogen. Die Augen sehen aus wie lebendig. Nach Hause gekommen, kann sich Čartkov nicht dem Eindruck entziehen, dass der Alte auf dem Porträt ihn anschaut. Nachts hat der Künstler Albträume, die mit dem Porträt verbunden sind. In einem von ihnen tritt der Alte mit einem Sack Geld aus dem Bild heraus, und Čartkov gelingt es, eine Rolle mit dem Aufdruck „1000 Goldmünzen“ zu ergreifen. Er drückt die Rolle in seiner Hand ganz fest und – erwacht. Im Wachen ist Čartkov nicht ganz von der onirischen Natur des Erlebten überzeugt. Ihm scheint, als hätte der Traum ein Stück Wirklichkeit enthalten. Seine Hand spürt noch den schweren Gegenstand, der in ihr gelegen hat. Und ihm scheint, dass er die Rolle nur ein wenig fester hätte halten müssen, dann wäre sie auch noch nach dem Erwachen in seiner Hand geblieben. Es erscheint der Hauswirt zusammen mit dem Quartalspolizisten und fordert die geschuldete Miete, die Čartkov nicht zahlen konnte. Als der Polizist sich dem Porträt zuwendet und es mit seinem festen Griff am Rahmen fasst, bricht dieser auf und es fällt eine Rolle mit der Aufschrift „1000 Goldmünzen“ heraus. Der auf diese wunderbare Weise durch das Wahrwerden des Traums reich gewordene Maler bezieht ein Atelier auf dem Nevskij Prospekt, lässt einen gekauften Journalisten sein Talent anpreisen und wird in kurzer Zeit zu ||
44 Den ursprünglichen Namen des Malers Čertkov, der allzu deutlich auf das russische čert (‚Teufel‘) anspielte, änderte der Autor in Fassung B zum leicht verfremdeten Čartkov.
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einem vielgefragten Modemaler. Sein Erfolg beruht darauf, dass seine Darstellung den Porträtierten schmeichelt. Mit seiner Orientierung am Geschmack der Masse schwindet seine Begabung. Er setzt seine Kollegen herab und wird zum Misanthropen. Beim Anblick des meisterhaften Bildes eines seiner Schüler versteht er jedoch, wie sehr er sein eigenes Talent verraten hat. Er schließt sich in seiner Werkstatt ein und versucht, etwas ähnlich Vollkommenes zu schaffen. Als das nicht gelingt, beginnt er, Meisterwerke aufzukaufen und zu zerstören. Verfolgt von den lebendigen Augen des dämonischen Asiaten, verfällt er dem Wahnsinn und stirbt. Der zweite Teil der Version B präsentiert die Vorgeschichte. Auf einer Kunstauktion wird unter anderem auch das Porträt mit den lebendigen Augen angeboten. Nachdem der Preis erheblich gestiegen ist, meldet sich der Künstler B. und erklärt seinen Anspruch auf das Bild. Er erzählt den Anwesenden die Geschichte des Bildes. B.s Vater, ebenfalls ein Künstler, erhält einen Auftrag für ein Porträt. Der Auftraggeber ist ein dämonischer Wucherer, der seinen Kunden Unglück bringt. Im Laufe der Arbeit überkommt den Maler eine unbegreifliche Furcht, und er verlässt seine Arbeit. Am folgenden Tag stirbt der Wucherer, und seine Bedienstete bringt dem Maler das unvollendete Porträt. In seinem Besitz spürt der Künstler in sich negative mentale Veränderungen. Er gibt das Bild weiter, und jeder Besitzer erleidet schreckliche Verluste. Der Künstler begreift, dass er mit seiner Kunst die böse Seele des Wucherers in das Bild gebannt hat, und er geht zu seiner inneren Reinigung in ein Kloster. Nach langen Jahren eines entsagungsvollen Lebens ist er imstande, ein von frommem Geist erfülltes Bild von Christi Geburt zu malen. Vor seinem Tode trägt er dem Sohn auf, das Porträt mit den lebendigen Augen zu suchen und es zu vernichten. Nach diesen Worten des Erzählenden richten sich die Augen der auf der Auktion Anwesenden auf das Porträt, das an der Wand hing. Aber es ist verschwunden. In der hier wiedergegebenen Version B sind die Erscheinungen des eindeutig Wunderbaren, an denen die Version A reich war, durchgehend getilgt. 45 Das Übernatürliche ist entweder ganz eliminiert oder so reduziert, dass es natürlich erklärt werden kann. Für die Eliminierung des Übernatürlichen ist ein Beispiel, wie das Porträt in die Wohnung des Künstlers gelangt. In Version B kauft Čartkov das Bild „unversehens“46 („совершенно неожиданно“, 78), da es ihm peinlich ist, nach langem ||
45 Für einen ausführlichen Vergleich der beiden Versionen unter dem Aspekt der Phantastik vgl. Basom 1994. 46 Zitate aus der deutschen Übersetzung nach Nikolai W. Gogol, Petersburger Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Korfiz Holm. Berlin 1962; unpaginierte Veröffentlichung im
102 | Romantik und Postromantik Stöbern im Laden nichts zu kaufen. Er handelt den Verkäufer, der 25 Kopeken fordert, auf 20 Kopeken herunter und nimmt das Bild mit nach Hause. In Version A fordert der Händler, da er das Interesse des Kunden bemerkt hat, zehn Rubel. Ein anderer Kunde im Laden bietet spontan elf Rubel, und so geraten die beiden Interessenten in einen von den Umstehenden mit Spannung verfolgten Wettbewerb, der damit endet, dass Čertkov das Bild für 50 Rubel zufällt. Er gibt für das Bild sein ganzes Geld. Als er aber das Bild nehmen will, prallt er von Furcht erfüllt zurück. Die Augen des auf dem Porträt dargestellten Greises blicken „so lebendig und zugleich so leblos“ („так живо и вместе мертвенно“, 255), dass man sich einfach fürchten muss. Der Künstler erblickt in diesen Augen „eine Unordnung der Natur oder, besser gesagt, einen Wahnsinn der Natur“ („беспорядок природы, или, лучше сказать, какое-то сумасшествие природы“, 255). Die Zeugen des Wettbietens entfernen sich mit Entsetzen von dem Laden. Čertkov verlässt den Laden, ohne daran zu denken, das entsetzliche Bild mitzunehmen. Auf dem Weg nach Hause fragt er sich, ob er es mit Kunst zu tun gehabt hat oder mit einer gegen die Gesetze der Natur gerichteten Zauberei. Zu Hause angekommen, wird er von seinem Bediensteten davon unterrichtet, dass der Hauswirt die Miete fordere und ihn, wenn er nicht zahle, auf die Straße setzen werde. Čertkov will sein Geld hervorholen, erinnert sich, dass er 50 Rubel, sein ganzes Geld, für das Bild gegeben und dieses selbst im Laden zurückgelassen hat. Am nächsten Tag will er von dem Tändler sein Geld zurückfordern. Wie groß ist aber sein Erstaunen, als in der Nacht der durch die Fenster seines Zimmers hereinscheinende Mond das erworbene und zurückgelassene Porträt beleuchtet. Er spürt, wie seine Haare zu Berge stehen und kann trotz aller Bemühung keine natürliche Erklärung für die Gegenwart des Porträts finden. In der Version B wird das Übernatürliche als Phantasma relativiert, mit der subjektiven Wahrnehmung des Helden erklärt. Bezeichnend ist die Fülle relativierender verba videndi wie: es schien; es kam ihm vor, als ob und dergleichen, die wir in der Version A nicht finden. Ein Beispiel für das in Version B relativierte Übernatürliche ist die Stelle, die der soeben beschriebenen Situation der Version A entspricht. Čartkov hat das Porträt selbst nach Hause gebracht und es gedankenlos zwischen Leinwände gesteckt. Er legt sich auf den Divan und gibt sich Überlegungen über seine Begabung und Berufung hin. Während er sich fragt, warum er sich wie ein Schuljunge
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Internet: http://gutenberg.spiegel.de/buch/petersburger-erzahlungen-7029/3. Es handelt sich dabei um die Version B. Zu der Version A wurde keine deutsche Übersetzung gefunden. Deutsche Zitate aus der Version A in meiner Übersetzung, W. Sch.
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quäle, während er in der Gesellschaft glänzen und Geld haben könnte wie viele andere, überkommt ihn ein Zittern, und er wird totenbleich: […] на него глядело, высунувшись из-за поставленного холста, чье-то судорожно искаженное лицо. Два страшные глаза прямо вперлись в него, как бы готовясь сожрать его; на устах написано было грoзное повеление молчaть. Испуганный, он хотел вскрикнуть и позвать Никиту, который уже успел запустить в своей передней богатырское храпенье; но вдруг остановился и засмеялся. Чувство страха отлетело вмиг. Это был им купленный портрет, о котором он позабыл вовсе. Сияние месяца, озаривши комнату, упало и на него и сообщило ему странную живость. (82) […] zwischen den Leinwanden hervor, die drüben lehnten, sah ihn ein krampfverzerrtes Antlitz an; zwei fürchterliche Augen bohrten ihren Blick in seine Stirn, als wenn sie ihn verschlingen wollten; zwei stumme Lippen riefen ihm dräuend zu, er solle schweigen. Schon war der Maler im Begriff, laut aufzuschreien, um Nikita, der draußen schon ein fürchterliches Schnarchen angehoben hatte, zu sich in das Atelier zu rufen. Doch er besann sich auf einmal und musste lachen: das war bloß das Porträt, das er gekauft und mittlerweile wieder ganz vergessen hatte. Der Mondschein, der durchs Zimmer wallte, fiel auf das Bild und lieh ihm diese gespenstische Lebendigkeit. (Gogol, Petersburger Erzählungen)
Bezeichnenderweise kommt die Versuchung, sich die Mühen der Kunst zu ersparen und ein Modemaler zu werden, in Version A von außen. Der Alte auf dem Porträt fragt Čertkov, ob er Lust habe, ewig über dem Alphabet zu schwitzen. In Version B kommen Čartkov diese Gedanken selbst. Damit wird das Übernatürliche, der aus dem Bild sprechende Alte, durch eine innere Stimme des Helden ersetzt. Die Ersetzung des Übernatürlichen durch Psychologisches ist freilich nicht das letzte Wort der Erzählung. Die Eliminierung des eindeutig Übernatürlichen hat zur Folge, dass es sich paradoxerweise durch alle natürlichen Erklärungen hindurch als die wahrscheinlichere Alternative anbietet. Die natürliche Erklärung ist mit soviel Zufälligkeiten und Implausibilitäten erkauft, dass sowohl dem Helden als auch dem Leser ihre Akzeptanz fraglich erscheinen muss. So erreicht Gogol’ durch die scheinbare Rücknahme des Übernatürlichen seine Stärkung. Das entspricht seiner Poetik, die die Welt als von unreinen, dämonischen Kräften regiert darstellt, die in der alltäglichen Wahrnehmung als natürlich hingenommen werden. Basom (1994) betrachtet die Umarbeitung der Novelle als Annäherung an die Phantastik im Todorovschen Sinne. Das Schwanken von Held und Leser zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Erklärung der Geschehnisse zielt in Gogol’s Konzeption indes wohl nicht so sehr auf ein abstraktes „questioning the nature of reality“ (Basom 1994, 433) als vielmehr auf die Erkenntnis der
104 | Romantik und Postromantik unordentlichen Verfasstheit der vom Teufel beherrschten Welt, einer Verdorbenheit, die durch scheinbare Natürlichkeit kaschiert wird.
7.5 Die psychologische Auflösung der ambigen kausalen Motivierung in Dostoevskijs Doppelgänger Für die kausale Motivierung hat Fëdor Dostoevskij in der romantischen Welt Gogol’s eine ähnliche „kopernikanische Wende“ vollzogen, wie sie Michail Bachtin ([1929] 2000, 45) für die Erzählperspektive konstatiert: Wie Dostoevskij den bislang dominierenden Blickpunkt vom Erzähler (Bachtin spricht vom „Autor“) in die erzählte Figur verlegt, so verlegt er die dämonischen Schrecknisse der romantischen Außenwelt in die Innenwelt der Figuren. Damit gibt er die in der Romantik gepflegte hybride Motivierung zugunsten einer psychologischen Begründung der Handlung auf. Das bedeutet: für den Status und die Qualität der narrativen Welt fällt der erzählten Figur eine größere Rolle zu. In keinem Werk wird die psychologische Auflösung der ambigen Motivierung und die Stärkung des figuralen Pols sinnenfälliger als in der Erzählung Der Doppelgänger (Dvojnik), die als Dostoevskijs zweites Werk 1846 erschien. Nach dem rauschenden Erfolg des Briefromans Arme Leute (Bednye ljudi, 1846) erntete Dostoevskij bei seinem Publikum mit dem Doppelgänger Unverständnis und zum Teil scharfe Kritik. Diese richtete sich vor allem gegen die Verunklarung des erzählten Geschehens, die aus der konsequent durchgeführten figuralen Perspektive und der fast unentwirrbaren Interferenz von Erzählertext und Personentext resultiert (vgl. Schmid 1973, 93–100). Der Erzähler bietet das von seinem geisteskranken Helden Wahrgenommene als objektives Geschehen dar, ohne zu erkennen zu geben, wo er die erzählte Welt entsprechend der verzerrten Wahrnehmung des Helden und in seiner Sprache präsentiert. Dass das Auftreten von „Herrn Goljadkin junior“, des dreisten Doppelgängers von ,,Goljadkin senior“, nicht einer autonomen phantastischen Welt Eigenrecht gibt, wie die Zeitgenossen in der Inertia der romantischen Tradition annehmen mussten47, sondern lediglich das Produkt des subjektiven Wahns eines kranken Gehirns ist, wird nirgendwo im Text ausgesprochen, kann vielmehr nur aus einzelnen Anzei-
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47 Zu Dostoevskijs Überwindung romantischer Doppelgängerei insbesondere bei E. T. A. Hoffmann vgl. Reber 1964. Zum Doppelgängermotiv in der russischen Literatur vor Dostoevskij: Wöll 1999, 119–145.
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chen (Logik der Situation, Sprache, Denkweise und psycho-physische Reaktionen des Helden) geschlossen werden.48 Welche Schwierigkeiten das zeitgenössische Publikum mit der adäquaten Rekonstruktion des dargestellten Geschehens hatte, erhellt aus den Kritiken des Literaturpapstes der Zeit Vissarion Belinskij, der anders als die Slavophilen nicht durch ideologische Vorurteile gegenüber dem debütierenden Autor befangen war und sogar in freundschaftlicher Beziehung zu ihm stand: Der Autor erzählt die Abenteuer seines Helden im eigenen Namen [от себя], aber ganz in dessen Sprache und Begriffen. Dies zeigt auf der einen Seite den Überfluss an Humor in seiner Begabung, die gewaltige Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtung der Erscheinungen des Lebens, die Fähigkeit, sich sozusagen in die Haut eines anderen, ihm völlig fremden Wesens zu versetzen. Aber auf der anderen Seite hat eben dies viele Umstände im Roman unklar gemacht. So ist zum Beispiel jeder Leser völlig im Recht, der nicht versteht und nicht errät, dass die Briefe Vachrameevs und Herrn Goljadkins junior Goljadkin senior selbst an sich schreibt, in seiner verwirrten Phantasie, ja sogar, dass die äußere Ähnlichkeit des jüngeren Herrn Goljadkin mit ihm gar nicht so groß und verblüffend ist, wie sie ihm in seiner verwirrten Phantasie vorgekommen ist. Und überhaupt wird nicht jeder Leser sogleich den Wahnsinn Goljadkins selbst erraten. (Belinskij 1846, 565)
Seine Besprechung schließt Belinskij mit der Forderung, ein Schriftsteller solle so schreiben, dass er für alle, nicht nur für die Kenner der Literatur, verständlich und lesbar sei. Gegen diese Erwartung hatte Dostoevskij offensichtlich verstoßen. Ein Jahr später verschärfte Belinskij (1847, 40–41) im Geiste des literarischen Fortschritts seine Kritik, die sich nun gegen einen „wesentlichen“ Mangel der Erzählung richtet, nämlich das „phantastische Kolorit“: „Das Phantastische kann in unserer Zeit seinen Ort nur in den Irrenhäusern haben, und nicht in der Literatur, und darf in die Zuständigkeit nur der Ärzte und nicht der Dichter fallen.“ In der Thematisierung des Wahnsinns erblickte Belinskij nun den Grund dafür, dass das Werk, das von einzelnen „Liebhabern der Kunst“ hochgeschätzt werde, den Interessen des breiten Publikums fremd geblieben sei.
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48 Zu Wahnsinnsdarstellungen in der russischen Literatur vor Dostoevskij vgl. Viktor Vinogradov ([1922] 1929, 212), der zu dem Schluss kommt, in der „naturalen“ Schule vor Dostoevskij sei der Wahnsinn entweder nur ein „Mittel der kompositionellen Lösung“ gewesen, so bei Jakov Butkov und in Gogol’s Der Vladimirorden dritter Klasse (Vladimir tret’ej stepeni, 1833), oder habe, wie in Gogol’s Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen (Zapiski sumasšedšego, 1835), der „Motivierung neuer Stilverfahren“ gedient. Erst im Doppelgänger sei der Wahnsinn ein „naturalistisches“ Thema geworden und sei um seiner selbst willen dargestellt.
106 | Romantik und Postromantik Die Darstellung der Geisteskrankheit stieß in der slavophilen Kritik auf noch schärfere Ablehnung. Der profilierteste Vertreter dieser Richtung, Apollon Grigor’ev, lehnte aus der Position des romantischen Idealismus Dostoevskijs „naturale“ Darstellung des Bewusstseins rundum ab: Der Doppelgänger ist nach unserem sündigen Verständnis ein Werk der Pathologie, der Therapeutik, aber in keinem Fall ein Werk der Literatur. Das ist die Geschichte eines Wahnsinns, der zwar bis zum Extrem zerlegt wird, aber gleichwohl nicht weniger abstoßend ist als ein Leichnam. (Zit. nach Dostoevskij, PSS, I, 491)
Dostoevskij selbst hatte zum Wert seiner Erzählung eine schwankende Haltung. Noch während er den Doppelgänger verfasst, schreibt er an den Bruder Michail: „Goljadkin macht sich prächtig. Das wird mein chef-d’œuvre“ (Dostoevskij, Pis’ma, I, 85). Und noch am Erscheinungstag (1.2.1846) rühmt er sein Werk: Goljadkin steht zehnmal höher als die Armen Leute. Unsere Leute sagen, dass es nach den Toten Seelen in Russland nichts Ähnliches gegeben habe, dass das Werk genial sei und was sie nicht alles sagen! Mit welchen Hoffnungen sie alle auf mich schauen! Goljadkin ist mir wirklich bestens gelungen! (Dostoevskij, Pis’ma, I, 87)
Die feindselige Aufnahme des Doppelgängers sowohl durch das progressive wie das konservative Lager kühlte Dostoevskijs Zufriedenheit mit seinem Werk erheblich ab, und er trug sich mit Plänen einer gründlichen Überarbeitung, die weit in das Thematische hineinreichten. So sollte Goljadkin zum Fourieristen und Petraševcen werden. Zur Verwirklichung dieser Pläne kam es jedoch nicht. Für die vom Verleger Fëdor Stellovskij veranstaltete Werkausgabe in drei Bänden (1856– 1866) überarbeitete Dostoevskij die Erzählung nur leicht.49 Wie ist Herrn Goljadkins Geschichte motiviert? Die Bewussteinsspaltung ist keine Krankheit, die den Helden wie ein unverdientes Unglück trifft, sondern erwächst aus einem charakterlichen Defekt. Das erklärt auch die gnadenlose Ironie in der Darbietung der äußeren und inneren Rede des Helden durch den Erzähler, die höhnischen Akzente, die die Imitation seines Stils und die Reproduktion sei-
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49 Die weitreichendsten Veränderungen sind ein neuer Untertitel (statt Die Abenteuer des Herrn Goljadkin [Priklučenija gospodina Goljadkina] lautet er nun: Ein Petersburger Poem [Peterburgskaja poėma]), die Streichung der in der Manier E. T. A. Hoffmanns gehaltenen ironischen Kapitelüberschriften, die Auslassung zweier Briefe, Streichung einiger Motive. Der Generalnenner der Überarbeitung ist die Dissoziierung von Gogol’s Werk, vor allem von den Toten Seelen, in deren Tradition die Kritik Dostoevskijs Erzählung wahrnahm (ausführlicher Vergleich der beiden Versionen bei Avanesov 1927; zur Tendenz der Überarbeitung vgl. auch Frank 1976, 309– 310).
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ner Phrasen begleiten. Goljadkins Persönlichkeitsspaltung erwächst aus dem Zwiespalt zwischen Sein-Wollen und Sein-Können. Der ehrgeizige und hierarchiebewusste Beamte möchte mehr sein, als er zu sein vermag. Der Doppelgänger verkörpert jene Eigenschaften, die Goljadkin gerne besäße: Durchsetzungskraft, schmeichelndes Wesen und die Fähigkeit zu erfolgreichem, verdrängendem Handeln. Zum Wahn des Helden, der kein Menschenfreund ist, gehört, dass er sich einerseits von Feinden umzingelt sieht, dass ihn aber andererseits die schöne Tochter des Vorgesetzten in einem Brief anfleht, sie zu entführen, ein angesichts der unscheinbaren Erscheinung des Helden und seiner wenig anziehenden Charakterzüge wirklichkeitsferner Wunschtraum. Die Persönlichkeitsdefizite sind in der Erzählung nicht als individuelle Mängel des Helden dargestellt, sondern werden auf die Mentalität des rücksichtslosen Karrierismus der Petersburger Beamtenwelt zurückgeführt. Der Doppelgänger ist eine Verkörperung der Werte und Verhaltensweisen der von Goljadkin bewunderten Umwelt (Király 1969; 1970). Aufschlussreich sind die Umstände, unter denen die ersten Anzeichen von Goljadkins Spaltung auftreten. Der Held ist, begleitet von seinem in eine Livree gesteckten Diener, in einer gemieteten Equipage unterwegs zu einem Fest des Staatsrats Berendeev, zu dem er nicht eingeladen ist. Neben seiner bescheidenen Kutsche taucht ein eleganter Wagen auf, dessen feurige Kazaner Pferde Goljadkin wohlbekannt sind. In der Equipage sitzt Staatsrat Andrej Filippovič, der Leiter der Abteilung, der Goljadkin als Assistent seines Tischvorstehers angehört. Der Staatsrat ist über die Begegnung höchst erstaunt und blickt mit größtem Interesse in jenen Winkel der Equipage, in dem sich Goljadkin zu verbergen sucht. Obwohl der Held erkennt, dass ihn sein Vorgesetzter erkannt hat und dass ein Verstecken nicht mehr möglich ist, wägt er für sich ab: Поклониться иль нет? Отозваться иль нет? Признаться иль нет? — думал в неописанной тоске наш герой, — или прикинуться, что не я, а что кто-то другой, разительно схожий со мною, и смотреть как ни в чем не бывало? Именно не я, не я, да и только! — говорил господин Голядкин, снимая шляпу пред Андреем Филипповичем и не сводя с него глаз. — Я, я ничего, — шептал он через силу, — я совсем ничего, это вовсе не я, Андрей Филиппович, это вовсе не я, не я, да и только. (113) 50 Soll ich grüßen oder nicht? Soll ich reagieren oder nicht? Soll ich zu erkennen geben, dass ich ihn erkannt habe, oder nicht“, fragte sich unser Held in unbeschreiblicher Beklemmung des Herzens, „oder soll ich so tun, als wäre ich nicht ich, sondern jemand anderer, der mir verblüffend ähnlich ist, und soll ich so schauen, als ob nichts wäre? Ich bin eben nicht ich,
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50 Alle Zitate aus der ersten und zweiten Fassung des Doppelgängers nach Dostoevskij, PSS, I, mit meiner eigenen Übersetzung.
108 | Romantik und Postromantik und das ist alles!“ sagte Herr Goljadkin und lüftete den Hut vor Andrej Filippovič, ohne den Blick von ihm zu wenden. „Ich, ich bin keiner“, flüsterte er mit großer Mühe, „ich bin überhaupt gar keiner, das bin überhaupt nicht ich, Andrej Filippovič, das bin überhaupt nicht ich, nicht ich, das ist alles.
Es ist für die Genese der Bewusstseinsspaltung bezeichnend, dass die Absage an die eigene Identität angesichts des Vorgesetzten geschieht, der Goljadkin die Beamtenhierarchie zu Bewusstsein bringt. Man beachte dazu auch den vorhergehenden Kontext. Aus seiner Equipage erblickt Goljadkin auf der Straße zu seinem Schreck zwei junge Kollegen seines Amtes. Die jungen Männer sind, wie es Goljadkin vorkommt, höchst erstaunt, ihren Kollegen in einer solch aufwändigen Aufmachung, in einer gemieteten Equipage mit livriertem Diener, zu sehen. Einer zeigt sogar mit dem Finger auf Herrn Goljadkin, und der andere ruft auf der Straße laut seinen Namen, was Goljadkin für ungezogen hält: „Что за мальчишки! — начал он рассуждать сам с собою. — Ну, что же такого тут странного? Человек в экипаже; человеку нужно быть в экипаже, вот он и взял экипаж. Просто дрянь! Я их знаю, — просто мальчишки, которых нужно посечь!“ (112) „Was für Jüngelchen!“, begann er für sich zu argumentieren, „Was ist denn hier Seltsames? Ein Mensch in einer Equipage! Der Mensch braucht eben einmal eine Equipage, und da hat er sich eine gemietet. Das ist doch nichts! Aber ich kenne sie. Das sind einfach Jüngelchen, die man mal versohlen müsste.“
Der Absage an das eigene Ich folgt die Verselbständigung des alter ego, das Erscheinen des Doppelgängers. Goljadkin ist in das Fest eingedrungen und macht Anstalten, Klara, die Tochter des Gastgebers, zum Tanz aufzufordern. Die Gesellschaft ist ob des seltsamen Verhaltens des ungeladenen Gastes, soweit man aus der verzerrten Wahrnehmung des Helden schließen kann, empört, und die Diener des Hauses befördern ihn auf die Straße. Erfüllt von Scham und Schande findet sich Goljadkin im stürmischen Schneeregen an der Fontanka. Er möchte nicht nur vor sich selbst davonlaufen, sondern sich sogar in Nichts verwandeln, aufhören zu sein: Вдруг… вдруг он вздрогнул всем телом и невольно отскочил шага на два в сторону. С неизъяснимым беспокойством начал он озираться кругом; но никого не было, ничего не случилось особенного — а между тем… между тем ему показалось, что кто-то сейчас, сию минуту, стоял здесь, около него, рядом с ним, тоже облокотясь на перила набережной, и чудное дело! — даже что-то сказал ему, что-то скоро сказал, отрывисто, не совсем понятно, но о чем-то весьма к нему близком, до него относящемся. (139) Plötzlich… plötzlich erzitterte er am ganzen Körper und sprang unwillkürlich ein paar Schritte zur Seite. Mit einer unerklärlichen Unruhe begann er sich umzuschauen; es war
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aber niemand da, es geschah nichts Besonderes, und dennoch… dennoch schien ihm, dass jetzt, in diesem Augenblick jemand hier gestanden hätte, neben ihm, auch auf das Ufergeländer gestützt und – wie seltsam! – ihm sogar etwas gesagt hätte, etwas sehr hastig gesagt hätte, in Wortfetzen, nicht ganz verständlich, aber etwas, das ihn sehr berührte, das sich auf ihn bezog.
Bald wird Goljadkin ein Passant entgegenkommen, dessen Erscheinen ihm unbegreifliche Furcht einflößt. Der Unbekannte entfernt sich schnell im Schneetreiben, kommt jedoch nach wenigen Minuten Goljadkin wieder entgegen. Goljadkin erleidet einen Schwächeanfall. In einem erlebten inneren Monolog wird der Prozess des schmerzhaften Erkennens und der verharmlosenden Schlussfolgerungen dargestellt: Впрочем, действительно, было от чего прийти в такое смущение. Дело в том, что незнакомец этот показался ему теперь как-то знакомым. Это было бы еще всё ничего. Но он узнал, почти совсем узнал теперь этого человека. Он его часто видывал, этого человека, когда-то видывал, даже недавно весьма: где же бы это? Уж не вчера ли? Впрочем, и опять не в том было главное дело, что господин Голядкин его видывал часто; да и особенного-то в этом человеке почти не было ничего, — особенного внимания решительно ничьего не возбуждал с первого взгляда этот человек. Так, человек был, как и все, порядочный, рaзумеется, как и все люди порядочные, и, может быть, имел там кое-какие и даже довольно значительные достоинства, — одним словом: был сам по себе человек. Господин Голядкин не питал даже ни ненависти, ни вражды, ни даже никакой легкой неприязни к этому человеку, даже напротив, казалось бы, — а между тем (и в этом-то обстоятельстве была главная сила), а между тем ни за какие сокровища мира не желал бы встретиться с ним и особенно встретится так, как теперь, например. (141–142) Aber er hatte ja wirklich allen Grund, in seine solche Verwirrung zu geraten. Die Sache war die, dass dieser Unbekannte ihm jetzt irgendwie bekannt vorkam. Das hatte alles noch nichts zu sagen. Aber er hatte diesen Menschen erkannt, er hatte ihn fast völlig erkannt. Er hatte ihn schon oft gesehen, diesen Menschen, irgendwann einmal gesehen, vor sehr kurzer Zeit sogar. Aber wo? War es nicht erst gestern gewesen? Übrigens, auch das war nicht die Hauptsache, dass Herr Goljadkin ihn schon oft gesehen hatte; Besonderes gab es ja an diesem Menschen fast nichts, besondere Aufmerksamkeit hätte dieser Mensch auf den ersten Blick entschieden bei niemandem erregt. Er war eben ein Mensch wie alle andern, selbstverständlich anständig, wie alle anständigen Menschen, und hatte vielleicht irgendwelche und sogar ziemlich große Qualitäten, – mit einem Wort, er war ein Mensch für sich. Herr Goljadkin empfand nicht einmal Hass oder Feindseligkeit, nicht einmal die geringste Abneigung gegen diesen Menschen, sogar im Gegenteil, so schien es, – dennoch (und in diesem Umstand lag das Wesentliche), dennoch hätte er für keinen Schatz auf der Welt gewünscht, mit ihm zusammenzutreffen und gar noch so zusammenzutreffen wie jetzt zum Beispiel.
Wie die Reaktionen der Zeitgenossen und auch noch mancher Interpreten der jüngeren Vergangenheit zeigen, erfüllt der Doppelgänger durchaus Todorovs De-
110 | Romantik und Postromantik finition der phantastischen Literatur. Geschult am Beispiel romantischer Darstellungen, mag man zunächst noch schwanken, ob der Doppelgänger seinsautonom oder eine Chimäre Goljadkins ist, aber es wird zunehmend deutlicher, dass hier eine eindeutig psychologische Motivierung am Werk ist. Und es ist bemerkenswert, dass Dostoevskij der Unsicherheit über den Status dieser Figur in seiner Überarbeitung zunächst weiteren Vorschub leistet und den Leser erst zum Schluss des Romans zur Sicherheit über die Perspektive und die bewusstseinsabhängige Existenz des scheinbar Übernatürlichen gelangen lässt. So streicht er bei der Überarbeitung Sätze des ersten Kapitels, in denen der Erzähler Goljadkins Hang zu narzisstischen Phantasiegebäuden hervorgehoben hat: Заметим здесь, кстати, одну маленькую особенность господина Голядкина. Дело в том, что он очень любил иногда делать некоторые романические предположения относительно самого себя; любил пожаловать себя подчас в герои самого затейливого романа, мысленно запутать себя в разные интриги и затруднения и, наконец, вывести себя из всех неприятностей с честию, уничтожая все препятствия, побеждая затруднения и великодушно прощая врагам своим. (335) Wir wollen bei der Gelegenheit eine kleine Besonderheit des Herrn Goljadkin vermerken. Es handelt sich darum, dass er es sehr liebte, manchmal gewisse romanhafte Vorstellungen bezüglich seiner selbst zu entwickeln, dass er es liebte, sich zuweilen zum Helden eines höchst verwickelten Romans zu ernennen, sich in Gedanken in verschiedene Intrigen und Schwierigkeiten zu verstricken und sich schließlich – alle Hindernisse beseitigend, die Schwierigkeiten meisternd und seinen Feinden großmütig verzeihend – aller Unannehmlichkeiten mit Ehre zu entledigen.
Hat sich der Leser – solchermaßen gewarnt – auf Goljadkins Neigung zu paranoiden Vorstellungen und narzisstischen Lösungsphantasien eingestellt, muss es ihm leichter fallen, das Irreale des Erzählten auf das Bewusstsein des Helden zurückzuführen. Eine solche frühe Verdeutlichung lag aber offensichtlich gar nicht in Dostoevskijs Interesse. Deshalb strich er diese – in der Benennungsweise Goljadkins gehaltene – Warnung des Erzählers. Andererseits hat der Autor in der zweiten Fassung Goljadkins Geisteskrankheit am Schluss des Romans verdeutlicht. Der Erkenntnisprozess des Lesers wird mit dem des Helden synchronisiert. Im ursprünglichen Text verrät nur die Beteiligung des deutschen „Doktors der Medizin und Chirurgie“ Krest’jan Ivanovič Rutenšpic an der ‚Entführung‘ Goljadkins, dass es mit dem Zustand des Helden eine klinische Bewandtnis haben könnte. Das Auftreten des Arztes gibt dem Text der ersten Fassung eine Stimmung im Geiste der gotischen Romantik: Тут случилось совсем неожиданное обстоятельство… Двери в залу растворились с шумом, и на пороге показался человек, которого один вид оледенил господина
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Голядкина. Ноги его приросли к земле. Крик замер в его стесненной груди. Впрочем, господин Голядкин знал всё заране и давно уже предчувствовал что-то подобное. (430) Hier trat ein völlig unerwarteter Umstand ein… Die Türen zum Saal öffneten sich geräuschvoll, und auf der Schwelle erschien ein Mensch, dessen Anblick allein Herrn Goljadkin zu Eis erstarren ließ. Seine Füße wuchsen am Boden fest. Ein Schrei erstarb in seiner beengten Brust. Übrigens hatte Herr Goljadkin alles im Voraus gewusst und etwas Ähnliches schon lange geahnt.
Ein Vergleich der letzten Worte der Erzählung in den beiden Fassungen zeigt, dass es Dostoevskij darauf ankam, bei der Überarbeitung den Inhalt von Goljadkins Vorahnung zu verdeutlichen. Begleitet von seinem deutschen Arzt Krest’jan Ivanovič, wird Goljadkin in einer vierspännigen Equipage aus dem Fest des Vorgesetzten abtransportiert. Der Doppelgänger begleitet den Wagen, bald links, bald rechts neben ihm laufend und seinem Zwilling Kusshändchen zuwerfend. Herr Goljadkin hat Mühe, in dem Gegenüber, das ihn in der Equipage mit feurigen, in teuflischer Freude funkelnden Augen anblickt, seinen Arzt zu erkennen.
Die erste Fassung (1846) schließt mit folgenden Worten:
„Нужно бутылки врагом не бывать“, — пронеслось в голове господина Голядкина… Впрочем, он ничего уж не думал. Медленно, трепетно закрыл он глаза свои. Омертвев, он ждал чего-то ужасного — ждал… он уже слышал, чувствовал и — наконец… Но здесь, господа, кончается история приключений господина Голядкина. (431) „Man darf der Flasche nicht feind sein“, zuckte es durch Herrn Goljadkins Kopf… Übrigens dachte er schon nichts mehr. Langsam, bebend schloss er seine Augen. Erstarrt wartete er auf etwas Entsetzliches – wartete… hörte schon, fühlte, und – schließlich… Aber hier, meine Herrschaften, endet die Geschichte der Abenteuer des Herrn Goljadkin.
Schluss der zweiten Fassung (1866): „Ви получаит казенный квартир, с дровами, с лихт и с прислугой, чего ви недостоин“, — строго и ужасно, как приговор, прозвучал ответ Крестьяна Ивановича. Герой на вскрикнул и схватил себя за голову. Увы! Он это давно уже предчувствовал! (229) „Sie bekommen vom Staat freie Wohnung, mit Brennholz, mit Licht und Bedienung, wessen Sie gar nicht wert sind [im Russischen mit starker deutscher Einfärbung]“, ertönte streng und entsetzlich wie ein Urteil die Antwort Krest’jan Ivanovičs. Unser Held schrie auf und griff sich an den Kopf. Das war es! Das hatte er ja schon lange geahnt!
Auch nach der Überarbeitung war Dostoevskij mit dem Doppelgänger nicht zufrieden. Im November 1877 bekannte er im Tagebuch eines Schriftstellers (Dnevnik
112 | Romantik und Postromantik pisatelja, PSS, XXVI, 65), dass ihm das Werk auch in der Umarbeitung nicht gelungen sei, dass aber die Idee „hell“ gewesen sei und dass er „etwas Ernsteres“ als diese Idee in der Literatur nicht behandelt habe. Im Jahr 1846 habe er für diese Idee nicht die richtige Form gefunden. Die Idee, von der der Autor spricht, dürfte die Polarisierung des Bewusstseins sein, die sich in Goljadkins inneren Dialogen zeigt und durch die sich die Helden in den nachsibirischen Werken auszeichnen, vom Mann aus dem Untergrund über Raskol’nikov, Stavrogin und den liebenswürdigen Erzähler des Jünglings (Podrostok) bis hin zu Ivan Karamazov. Das Bewusstsein der Helden Dostoevskijs ist ein Ort mit zwei Polen, spaltet sich in zwei miteinander streitende Stimmen. Diese das Gesamtwerk prägende Struktur hat Bachtin (1929) mit den Begriffen der „Dialogizität“ (dialogičnost’), der Vielstimmigkeit (mnogologosnost’) und seiner Metapher der „Polyphonie“ zu beschreiben gesucht. Die subtilste Gestaltung findet die Polarisierung des Bewusstseins in den Gesprächen, die Ivan Karamazov mit Smerdjakov und dann, schon halb wahnsinnig, mit dem Teufel führt. In den ersteren drückt Ivan mit einer seiner beiden Stimmen seine Lizenz zum Vatermord aus, mit der andern gibt er paradoxal zu verstehen, dass der Vatermord gegen seinen Willen geschehen möge. Im Teufelsgespräch erfährt Ivan, der durchaus versteht, dass er mit seiner Halluzination diskutiert, von seinem alter ego gleichwohl neue Gedanken. Nicht unberechtigt darf sich der Teufel brüsten: Я хоть и твоя галлюцинация, но, как в кошмаре, я говорю вещи оригинальные, какие тебе до сих пор в голову не приходили, так что уже вовсе не повторяю твоих мыслей, а между тем я только твой кошмар, и больше ничего. (Dostoevskij, PSS, XV, 74) Ich bin zwar deine Halluzination, aber wie es auch in Albträumen geschieht, sage ich originelle Dinge, die dir bis jetzt noch nicht in den Kopf gekommen sind, sodass ich keineswegs deine Gedanken wiederhole, während ich doch nur dein Albtraum bin und nichts weiter.
Die inneren Dialoge bleiben bei Dostoevskij grundsätzlich in den Grenzen eines Bewusstseins und werden nicht von Außen gespeist. Sie enthalten freilich ein Paradox: die fehlende Alterität des Gesprächspartners wird durch die Alterität des Ich ersetzt. Das Paradox besteht in der Alterität der Identität, in der Fremdheit des Ich sich selbst gegenüber. Der Doppelgänger war das Initialwerk dieser Dialogizitätspoetik. In seiner neuen Gestaltung eines alten Themas erteilt Dostoevskij der hybriden Motivierung eine Absage und begründet die Handlung eindeutig psychologisch.
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7.6 Perspektivische Motivierung der Ambiguität in Henry James’ The Turn of the Screw 7.6.1 Ambiguität Ähnlich wie Puškins Pique Dame ist Henry James’ Erzählung The Turn of the Screw (1898) Gegenstand zahlloser Interpretationen geworden, die in ihrer Mehrheit die unaufhebbare Ambiguität des Erzählten zugunsten der Entscheidung Geisterscheinung oder Halluzination, Übernatürliches oder Psychologie aufzulösen suchen.51 James war selbst höchst überrascht über die Nachwirkung seiner Erzählung: Indeed if the artistic value of such an experiment be measured by the intellectual echoes it may again, long after, set in motion, the case would make in favor of this little firm fantasy – which I seem to see draw behind it today a train of associations. I ought doubtless to blush for thus confessing them so numerous that I can but pick among them for reference. (li)52
Die in ihren Geschichten sehr unterschiedlichen Erzählungen Puškins und James’ verbindet ein Zug, der in der Kontroverse der Deutungen wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Das ist die metaliterarische Dimension. Pique Dame ist eine in hohem Maße metatextuelle Novelle. Der Autor präsentiert seine Geschichte nicht nur in unterschiedlichen Diskursen der Epoche wie der Sprache des Kartenspiels, der Zahlenmystik und Kabbalistik, der Volksmantik, dem Diskurs der Metamorphose, der Sprache der Liebe und der Religion, des ||
51 Vgl. den ausführlichen, kritischen Überblick über die eine der beiden kausalen Motivierungen favorisierenden Deutungen bei Christine Brooke-Rose (1976a) und Timothy Lustig (1994, 111–115; 259, Fn. 8 und 9). Neben den eigenen Interpretationen von Brooke-Rose (1976b und 1977) ist für die Analyse der Ambiguität der Erzählung von besonderer Relevanz das Buch von Shlomith Rimmon (1977), die ausführlich darlegt, mit welchen Verfahren der Autor die Balance zwischen den beiden einander ausschließenden Deutungen herstellt und bis zum Schluss aufrechterhält. Vgl. auch die Rezension dieses Buchs durch Brooke-Rose (1979), die die verbindenden und trennenden Züge von Rimmons und der eigenen Analyse herausarbeitet. Zur Interpretationsgeschichte der Erzählung vgl. Beidler 1995. Es muss angemerkt werden, dass die akzeptierenden Darstellungen der Ambiguität in der Fachliteratur nicht ohne Widerspruch geblieben sind (vgl. Lustig 1994, 113). Die Ambiguität von The Turn of the Screw hat natürlich die Adepten des Dekonstruktivismus angelockt. Mit der ihnen eigenen Geste der Überlegenheit amüsieren sie sich über die für sie naiven Bemühungen der Interpreten beider Seiten, die in die von den Texten aufgestellten Fallen gehen und sich als die Düpierten erweisen (so Felman 1977). 52 Alle Zitate aus The Turn of the Screw und der Einleitung zur Erzählung nach der Ausgabe: Henry James, The Turn of the Screw and Other Stories. Ed. with an Introduction and Notes by T. J. Lustig. Oxford UP 2008.
114 | Romantik und Postromantik „gotischen“ Schauerromans und der sentimentalen Erzählung, er lässt seine Helden auch selbst mit unterschiedlichen Gattungen und Diskursen umgehen. Puškins Novelle verführt dazu, sie im Rahmen unterschiedlicher literarischer Systeme zu deuten, aber die Handlung nimmt einen von allen Prätexten abweichenden Verlauf. Am Ende wird der Held, der der Gattungen und ihrer Logik uneingedenk ist und der als sozialer Aufsteiger den discours des beau monde nie gelernt hat, für seinen falschen Umgang mit den Texten und seine Verkennung ihrer Pragmatik schicksalhaft bestraft. The Turn of the Screw ruft in den Assoziationen der Protagonistin explizit zwei prominente Werke der britischen Literatur auf, Anne Radcliffes „gothic novel“ The Mysteries of Udolpho (1794) und Charlotte Brontës viktorianischen Gouvernantenroman Jane Eyre (1847). Von beiden Werken weicht James’ Erzählung in bezeichnender Weise ab.53 Der metaliterarische Charakter von James’ Erzählung beruht jedoch nicht in erster Linie auf dem Spiel mit Ähnlichkeiten mit den Prätexten und Differenzen zu ihnen, sondern auf der Weise, wie das Erzähltwerden der Geschichte in mehreren Rahmen und Texten inszeniert wird. Das Werk scheint eine Rahmenerzählung zu sein, erweist sich dann aber als eine Erzählung mit nur einem halben Rahmen, als Erzählung mit einem Prolog. Es fehlt der vom Leser erwartete schließende Teil des Rahmens, in dem die Hörer wie in Boccaccios Decameron sich über das Gehörte austauschen könnten. Der Leser wird das deshalb vermissen, da die um das Kaminfeuer versammelte Gesellschaft im Prolog als durchaus reaktionsund meinungsfreudig vorgestellt worden ist. Die Binnengeschichte wird von der sekundären Erzählerin, der Gouvernante, in einem schriftlichen Bericht niedergelegt, der zwanzig Jahre nach ihrem Tod von Douglas vorgelesen wird, einem Mitglied der versammelten Kamingesellschaft. Im Grunde fungiert dieser Douglas, der, zehn Jahre jünger als die Gouvernante, vom Verhältnis wechselseitiger Zuneigung zu ihr geprägt ist, als ein zwischengeschalteter sekundärer Erzähler. Er hat nicht nur den Bericht der Gouvernante, die diesen niemandem sonst zugänglich gemacht hat, von ihr auf ihrem Totenbett erhalten, zwanzig Jahre lang aufbewahrt und liest ihn nun zum ersten Mal jemandem vor. Durch seine nachdrückliche Charakterisierung der Gouvernante als einer überaus liebenswerten und vertrauenswürdigen Person, ||
53 Vgl. Timothy Lustig (1992, XVIII–XX); zu den „Deviations“ von anderen Werken, die Interpreten für Quellen der – in Wirklichkeit sparsam allusiven – James’schen Erzählung halten: Lustig (1994, 136–146). Zur Intertextualität der Erzählung gehört die offensichtliche Äquivalenz mit früheren Werken des Autors. Lustig (1994, 109–111) bespricht Ähnlichkeiten mit und Kontraste zu einer der frühesten Jamesschen Erzählungen: Gabrielle de Bergerac (1869).
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die nach den berichteten Vorfällen Erzieherin seiner Schwester wurde, steht die Bewertung der berichteten Binnengeschichte und ihrer Protagonistin unter dem Vorzeichen seiner hohen Wertschätzung. Im Gefüge der halben Rahmenerzählung fungiert der Bewunderer, Aufbewahrer und Vorleser Douglas als ein Medium, das das in der Binnengeschichte Berichtete vertrauensvoll annehmen lässt. Mit der Gouvernante und Douglas ist die Reihe der Erzählinstanzen noch nicht erschöpft. Der namentlich nicht genannte primäre diegetische Rahmenerzähler (oder die primäre Erzählerin), dem (oder der) Douglas das Manuskript der Gouvernante vor seinem eigenen Tode anvertraut, hat dieses Manuskript in großem zeitlichem Abstand eigenhändig abgeschrieben, und der Inhalt seiner (oder ihrer) Abschrift bildet, wie er (oder sie) nachdrücklich versichert, die Erzählung, die er (oder sie) sich anschickt zu erzählen: „Let me say here distinctly, to have done with it, that this narrative, from an exact transcript of my own made much later, is what I shall presently give“ (119). Es kann nicht ohne Bedeutung sein, dass der primäre Erzähler (im Weiteren wird auf die Bezeichnung der femininen Alternative verzichtet) den Bericht der Gouvernante zweimal rezipiert: das erste Mal als Mitglied des Kaminkreises, vor dem Douglas das Manuskript der Gouvernante vorliest, sich dabei offenkundig hauptsächlich an den primären Erzähler wendend; das zweite Mal als Schreiber des „transcript“. Nach der nachdrücklichen Vorwarnung des primären Erzählers (Let me say here distinctly, to have done with it) ist sein narrative nicht die Wiedergabe von Douglas’ Lesung, sondern folgt dem transcript, das er viel später vom Manuskript der Gouvernante angefertigt hat. Dass der primäre Erzähler nicht Douglas’ Lesung wiedergibt, erklärt auch, warum der zu erwartende zweite Teil des Rahmens mit den Reaktionen der Hörer fehlt. Der Rahmenerzähler erzählt die Geschichte der Gouvernante nach seiner eigenen Abschrift. Douglas aber hat der Kamingesellschaft die Geschichte unmittelbar aus dem Manuskript der Gouvernante vorgelesen: Poor Douglas, before his death – when it was in sight – committed to me the manuscript that reached him on the third of these days and that, on the same spot, with immense effect, he began to read to our hushed little circle on the night of the fourth. (119)
Zwischen Douglas’ Vorlesen der Geschichte der Gouvernante vor der Kamingesellschaft und der Präsentation der vom Erzähler angefertigten Abschrift erstreckt sich ein unbekannter, nicht rekonstruierbarer Zeitraum.54 Es besteht nach ||
54 Vgl. Lustig (1994, 117–118), der auch auf die im Prolog enthaltenen Inkonsistenzen in der Datierung des Vorlesens aufmerksam macht, in denen er ein Modell für die kalendarischen Unklarheiten im Manuskript der Gouvernante erblickt.
116 | Romantik und Postromantik den Informationen, die der primäre Erzähler gibt, die Möglichkeit, dass der Bericht der Gouvernante, so wie er ihn nach seiner Abschrift präsentiert, nicht völlig deckungsgleich ist mit dem, was Douglas der Kamingesellschaft vorgelesen hat. Zwischen dem Manuskript der Gouvernante, das Douglas vorliest, und der Abschrift des Erzählers muss eine nicht rekonstruierbare Differenz bestehen. Wenn es überhaupt keine Differenz zwischen dem Manuskript der Gouvernante, in deren Besitz der Rahmenerzähler ist, und seiner „genauen Abschrift“ gäbe, warum hat der Autor die Doppelung von Manuskript und Abschrift eingeführt? Das Rätsel der Differenz der beiden Quellen wird nur aufgegeben, aber nicht gelöst. Der Autor hat damit aber einen Akzent gesetzt, der einen Aspekt des Erzählens aktualisiert, der für seine narrative Poetik sehr wichtig war, die Abhängigkeit einer erzählten Geschichte von der auf das betreffende Geschehen angewandten subjektiven Perspektive. Es ist bekannt, welche Rolle das Phänomen der Perspektive in James’ Denken und Schreiben spielte. Er selbst hat unter dem Titel The Point of View (1882) einen Band herausgegeben, der aus fiktiven Briefen von Menschen besteht, die ihre sehr unterschiedlichen Eindrücke von Amerika mitteilen. In den Vorwörtern zu seinen Romanen hat James die Rolle des point of view herausgekehrt, und seine Vorliebe für die figurale Perspektive, die auf einen reflector bezogen ist, hat Percy Lubbock, der Prophet seiner impliziten Erzähllehre, in The Craft of Fiction (1921) wirkungsvoll verbreitet. Die Stufung und Verkettung der Narratoren, von denen zwei die aufgezeichnete Geschichte auf dem Totenbett überliefern, sollte jedoch nicht zur Konklusion verleiten, dass die Verantwortung für den Wahrheitsgehalt auf mehrere Instanzen aufgeteilt wäre, wie manche Interpreten (so Felman 1977) postulieren. In The Turn of the Screw ist der Leser ganz auf den Bericht der Gouvernante angewiesen. Vom primären Erzähler und von Douglas erhält er keine Information, auf die er eine Entscheidung über die Zuverlässigkeit der Gouvernante stützen könnte. Douglas’ Wertschätzung der Gouvernante kann nicht hinreichen, ihrer Perspektive Zuverlässigkeit zu sichern. Die Gouvernante aber ist „the pivot of ambiguity“ (Rimmon 1977, 129). Alles, was wir über die Geister hören, kommt von ihr, es gibt keine andere Quelle. Somit besteht nach Rimmon ein „informational gap at the core of the narrative“. Die Informationslücken sind voll motiviert und garantieren die Balance zwischen den beiden einander ausschließenden Deutungsmöglichkeiten (Rimmon 1977, 127–128). Wer dreht an der Schraube, die der Titel nennt? Was bedeutet das Bild? Auch auf diese Fragen sind höchst unterschiedliche und einander widersprechende Antworten gegeben worden. Die Redewendung erscheint im Text zweimal (in den folgenden Zitaten von mir durch Versalien hervorgehoben). Douglas gebraucht
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die Wendung bei der ersten Erwähnung der von ihm vorzulesenden Geschichte, und zwar im Sinne einer Überbietung des Schauerlichen der soeben von allen atemlos angehörten Geschichte, in der ein Kind betroffen war55: “But it’s not the first occurrence of its charming kind that I know to have involved a child. If the child gives the effect another TURN OF THE SCREW, what do you say to two children?” “We say, of course,” somebody exclaimed, “that they give two turns! Also that we want to hear about them.” (115)
Gegen Ende ihrer Geschichte überlegt die Gouvernante, dass sie, um die ganze „furchtbare Prüfung“ zu einem guten Ende zu bringen, eine zusätzliche Anstrengung erbringen müsse, die eine „weitere Umdrehung der Schraube des normalen menschlichen Vermögens“ bedeute: Here at present I felt afresh – for I had felt it again and again – how my equilibrium depended on the success of my rigid will, the will to shut my eyes as tight as possible to the truth that what I had to deal with was, revoltingly, against nature. I could only get on at all by taking “nature” into my confidence and my account, by treating my monstrous ordeal as a push in a direction unusual, of course, and unpleasant, but demanding, after all, for a fair front, only another TURN OF THE SCREW of ordinary human virtue. No attempt, nonetheless, could well require more tact than just this attempt to supply, one’s self, all the nature. (225)
In dieser Formulierung bedeutet die Redewendung etwas anderes als bei Douglas, bezieht sich aber auch auf eine Überschreitung der Grenze des Aushaltbaren. Viele Interpreten beziehen die Redewendung deshalb auf die Gouvernante, deren Bericht in ihren Augen eine Steigerung des in der britischen Literatur beheimateten Schauerlichen bedeutet. Nach Timothy Lustig (1994, 177), der die Lücken und die „gefährliche Logik“ im Bericht der Gouvernante aufspürt, dreht sie die Schraube so stark, „that the distinctions and oppositions on which she relies lose their integrity“. Andererseits sieht Lustig (1994, 179) den Autor als Dreher an der Schraube, und er deutet die Figur nicht als Ausdruck des gesteigerten Schaurigen, sondern als Akt der künstlerischen Ökonomie und Verdichtung, die das dreadful des Dargestellten (von der im Prolog Douglas spricht [116]), in ein delicious (116) für den Hörer und Leser verwandelt. Das wäre indes die alte Konversion, die in der gothic
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55 Überbietung einer soeben gehörten Geschichte ist eine häufige Motivation für Erzähler in Rahmengeschichten. In Puškins Pique Dame erzählt Tomskij die Hermann in Versuchung führende Geschichte seiner Großmutter, um die von zwei Mitspielern zum Besten gegebenen paradoxalen Fälle zu überbieten.
118 | Romantik und Postromantik novel stattfindet. Lustig (1994, 179–180) bringt jedoch noch eine andere auktoriale Bedeutung der Redewendung ins Spiel: die Drehung bedeute im Gegensatz zur ‚zentripetalen‘ Bewegung der Ökonomisierung und Verdichtung das ‚zentrifugale‘ Erreichen des artistischen Gipfels und der künstlerischen Ekstase. In ihrer lacanischen Lektüre der Erzählung gelangt Shoshana Felman (1977, 172) leichtfüßig zu einer Kette von metaphorischen Schrauben: Miles in den Armen der Gouvernante; das fest umgriffene Steuerruder im driftenden Schiff; der kleine Mast, den Flora in ihr Spielzeugbötchen zu drehen versucht, sie alle verweisen für Felman in einer signifying chain auf den Phallus und auf den Master (den Felman im englischen Wort mast vergegenwärtigt sieht) und erfüllen somit das poststrukturalistische Postulat des incessant sliding of signification. Bei all den möglichen Assoziationen, die der Titelfigur des Drehens der Schraube zugeschrieben werden, darf eine nicht übersehen werden. Das ist die Ambiguisierung. Ähnlich wie Puškin in Pique Dame jedes Motiv ambig macht, sowohl natürlich als auch übernatürlich erklären lässt, hat James eine konsequente Ambiguisierung der von der Gouvernante erzählten Geschichte bewerkstelligt. Es gibt nur ein einziges Motiv, das sich der doppelten Motivierung entzieht. Das ist das Wissen der Gouvernante vom Aussehen Peter Quints, dessen Erscheinung sie beschreiben kann, bevor sie von Mrs Brose Informationen über ihn erhalten hat. Und das ist ein Motiv, das die psychologische Relativierung des Übernatürlichen erheblich erschwert. Der Autor hat dieses beunruhigende Motiv offensichtlich als ein Hindernis für die Erklärung des gesunden Menschenverstands (und dann der psychologischen Partei) eingeführt, die besagt, die Gouvernante sei schlicht geisteskrank und habe Halluzinationen.
7.6.2 Die erzählte und die erzählende Gouvernante Die Ambiguisierung macht sich die Perspektivierung zunutze. Obwohl die Erzählung drei Urheber hat, deren Erzählakte zeitlich weit voneinander entfernt sind – die Gouvernante, Douglas und den primären Erzähler –, ist für die erzählte Geschichte ausschließlich die Perspektive der Gouvernante maßgeblich. Eine Differenz zwischen dem transcript des primären Erzählers und dem Manuskript der Gouvernante ist – wie bereits angedeutet – anzunehmen, lässt sich aber nicht rekonstruieren. Das Drehen der Schraube ist die Aktion des Autors, der die Wahrnehmung des Geschehens und die Präsentation der Geschichte durch die Erzählerin so gestaltet, dass Verifikation oder Falsifikation des Erzählten dem Leser nicht möglich ist und die Hauptfragen, die wir an den Text stellen möchten, unentscheid-
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bar bleiben. Die Ambiguität der Erzählung wird künstlerisch motiviert durch die fragliche Zuverlässigkeit der Erzählerin. Und diese Zuverlässigkeit ist ein Problem der Perspektive, und zwar jener Facette, die „ideologische Perspektive“ genannt werden kann. Sie umfasst verschiedene Faktoren, die das Verhältnis eines Beobachters zu einer Erscheinung bestimmen: Wissen, Denkweise, Wertungshaltung, geistigen Horizont (Schmid 2014a, 123). Diese Perspektive ist hier, wie bei vielen diegetischen Erzählern, gespalten, bezogen einerseits auf das erzählte Ich der jungen Gouvernante, andererseits auf das erzählende Ich, das einen gewissen zeitlichen und wertungsmäßigen Abstand gewonnen hat. Die zeitliche Distanz zwischen Erleben und Erzählen ist hier weder mitgeteilt noch rekonstruierbar. Wir erfahren auch nicht, wie die Gouvernante im Nachhinein ihren Verdacht und ihr Verhalten bewertet. Es ist freilich anzunehmen, dass sie ihren Bericht tendenziell apologetisch anlegt. Ein Geständnis eigener Schuld an der Katastrophe, Miles’ Tod und Floras schwerer Erkrankung, finden wir nur in zaghaften Ansätzen. Die erzählende Gouvernante nimmt auch den Verdacht eines Kontakts der Kinder mit den Geistern der Verstorbenen bis zum katastrophalen Ende nicht zurück. Sie gibt mit nichts zu erkennen, dass sie als berichtende die Vorgänge grundsätzlich anders bewertete denn als erzählte; sie tritt als Anwältin der erzählten Gouvernante auf. Lediglich einige zunächst unscheinbare Akzente zeigen eine Distanz des erzählenden vom erzählten Ich an. Die Perspektive der erzählenden Gouvernante ist grundsätzlich figural; das heißt, die Erzählerin bietet das Geschehen mit ihrer ‚damaligen‘ Wahrnehmung dar. Sie bemüht sich, die damaligen Eindrücke genau zu rekonstruieren: „To me at least, making my statement here with a deliberation with which I have never made it, the whole feeling of the moment returns“ (136). Die figurale Perspektive drückt sich auch in gelegentlicher erlebter Rede aus (im folgenden Zitat kursiv). Mrs Brose hat dem Verdacht der Gouvernante, wie es scheint, zugestimmt: Yes, it was a joy, and we were still shoulder to shoulder: if I might continue sure of that I should care but little what else happened. My support in the presence of disaster would be the same as it had been in my early need of confidence, and if my friend would answer for my honesty, I would answer for all the rest. (221)
Als Erzählerin wird sich die Gouvernante gelegentlich der Gefahr der retrospektiven Projektion bewusst: „I suppose I now read into our situation a clearness it couldn’t have had at the time“ (230). Von der figuralen Perspektive gibt es einige Ausnahmen. Das sind die immer wieder auftauchenden Vorausdeutungen auf ein desaströses Ende, die auf narratorialem Wissen beruhen.
120 | Romantik und Postromantik Mit der erzählten Gouvernante kontrastiert die nüchterne und gelassene Mrs Brose, die beharrlich nach natürlichen Erklärungen sucht und, wenn sie dem Verdacht der drängenden Gouvernante nachzugeben scheint, sich nur um deren seelischen Zustand sorgt, den sie nicht durch ihre Skepsis destabilisieren will. Der Leser wird in dem – von der Erzählerin angestrebten – Glauben an die Existenz der Geister durch eine Reihe von Umständen verunsichert: 1. Die Gouvernante als erzählte Figur will zunächst selbst nicht an die Übernatürlichkeit der Erscheinungen glauben: „There was but one sane inference: someone had taken a liberty rather gross“ (139). 2. Immer wieder distanziert sich die Gouvernante von einer Selbsteinschätzung, einem Glauben oder Anschein, denen sie als erzähltes Ich verfallen ist oder zu verfallen drohte: „I dare say I fancied myself, in short, a remarkable young woman and took comfort in the faith that this would more publicly appear“ (135). – „I seemed to myself, for the instant, to have mastered it, to see it all“ (223). 3. Das erzählende Ich rückt auch häufig von den Eindrücken und Wertungen des erzählten Ich ab. Die Korrekturen weisen auf eine Selbstüberschätzung des erzählten Ich: What I look back at with amazement is the situation I accepted. I had undertaken, with my companion, to see it out, and I was under a charm, apparently, that could smooth away the extent and the far and difficult connections of such an effort. I was lifted aloft on a great wave of infatuation and pity. I found it simple, in my ignorance, my confusion, and perhaps my conceit, to assume that I could deal with a boy whose education for the world was all on the point of beginning. (133) Oh, it was a trap – not designed, but deep – to my imagination, to my delicacy, perhaps to my vanity; to whatever, in me, was most excitable. The best way to picture it all is to say that I was off my guard. (134)
4. Die erzählte Gouvernante zeigt in vielen Phasen Unentschiedenheit oder Unsicherheit bezüglich der Existenz der Geister: „I had then expressed what was vividly in my mind: the truth that, whether the children really saw or not – since, that is, it was no yet definitely proved – I greatly preferred, as a safeguard, the fullness of my own exposure“ (186). 5. Die Gouvernante beteuert und bedauert ihre „Anfälligkeit“ für bestimmte Eindrücke: It took of course more than that particular passage to place us together in presence of what we had now to live with as we could – my dreadful liability to impressions of the order so vividly exemplified, and my companion’s knowledge, henceforth – a knowledge half consternation and half compassion – of that liability. (148)
6. Wiederholt klagt die Gouvernante über ihre angegriffenen Nerven: „It was not so much yet that I was more nervous than I could bear to be as that I was
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remarkably afraid of becoming so; for the truth I had now to turn over was, simply and clearly, the truth that I could arrive at no account whatever of the visitor with whom I had been so inexplicably and yet, as it seemed to me, so intimately concerned“ (139). – „At that moment, in the state of my nerves, I absolutely believed she lied“ (172). 7. Das erzählte Ich leidet darunter, dass es die Kinder unter Verdacht stellen muss: „To gaze into the depths of blue of the child’s eyes and pronounce their loveliness a trick of premature cunning was to be guilty of a cynicism in preference to which I naturally preferred to abjure my judgment and, so far as might be, my agitation“ (161). 8. In ihrem gesamten Bericht hinterlässt die Gouvernante Zeichen ihres Zweifels und der Scham über die inexorability in ihrer obsession: „Lord, how I pressed her [Mrs Brose] now!“ (164) – „How can I retrace today the strange steps of my obsession?“ (186) – „Why did they never resent my inexorable, my perpetual society?“ (189) – „[…] I went on inexorably […]“ (199) – „ […] under my endless obsession […]“ (200). 9. Die Erzählerin betont ihre Hellhörigkeit und deckt ihre Neigung auf, in bestimmte Fakten Bedeutungen hineinzulesen, die zu der gegebenen Zeit unbegründet waren: „It seems to me indeed, in retrospect, that by the time the morrow’s sun was high I had restlessly read into the fact before us almost all the meaning they were to receive from subsequent and more cruel occurrences“ (152). 10. Die erzählende Gouvernante deutet die Gefahr ihrer Paranoia an und sieht sich durch das vermeintlich tatsächliche Erscheinen des Geistes von Miss Jessel dankbar widerlegt: I began to watch them in a stifled suspense, a disguised excitement that might well, had it continued too long, have turned to something like madness. What saved me, as I now see, was that it turned to something else altogether. It didn't last as suspense – it was superseded by horrible proofs. Proofs, I say, yes – from the moment I really took hold. (153) She [Miss Jessel] was there, and I was justified; she was there, and I was neither cruel nor mad. She was there for poor scared Mrs. Grose, but she was there most for Flora; and no moment of my monstrous time was perhaps so extraordinary as that in which I consciously threw out to her – with the sense that, pale and ravenous demon as she was, she would catch and understand it – an inarticulate message of gratitude. (212)
11. Die Erzählerin berichtet von ihrer Freude über ihre Detektionsaufgabe und ihrem Stolz vor dem angebeteten „Master“: I scarce know how to put my story into words that shall be a credible picture of my state of mind; but I was in these days literally able to find a joy in the extraordinary flight of heroism the occasion demanded of me. I now saw that I had been asked for a service admirable and
122 | Romantik und Postromantik difficult; and there would be a greatness in letting it be seen – oh, in the right quarter! – that I could succeed where many another girl might have failed. (152)
12. Die Zeichen des Zweifels und der Einsicht in die eigene obsession verdichten sich im Bericht von Miles’ finalem Verhör, das mit seinem Tod endet: „He almost smiled at me in the desolation of his surrender, which was indeed practically, by this time, so complete that I ought to have left it there. But I was infatuated – I was blind with victory […]“ (234). – „[…] within a minute there had come to me out of my very pity the appalling alarm of his being perhaps innocent. It was for the instant confounding and bottomless, for if he were innocent, what then on earth was I?“ (234) – „I let the impulse flame up to convert the climax of his dismay into the very proof of his liberation“ (235). 13. Die Gouvernante hebt an ihrem früheren Ich die Züge des Kampfes um die Kinder hervor und betont ihr Streben nach Herrschaft, vor allem über Miles: „It would tax his invention, certainly, and I felt, this time, over his real embarrassment, a curious thrill of triumph“ (178). – „[…] it made me drop on my knees beside the bed and seize once more the chance of possessing him“ (204). 14. Bis zur Katastrophe mehren sich die Anzeichen, dass die sich nach einem Mann sehnende Gouvernante den kleinen Miles nicht als das ihr zur Erziehung anvertraute Kind, sondern als Partner einer Beziehung, ja sogar als Heiratskandidaten betrachtet. Die Vorbereitung dazu besteht darin, dass sie in ihm einen Erwachsenen sieht. „It was extraordinary how my absolute conviction of his secret precocity […] made him, in spite of the faint breath of his inward trouble, appear as accessible as an older person – imposed him almost as an intellectual equal“ (202). – „We [i. e. the governess and Miles] continued silent while the maid was with us – as silent, it whimsically occurred to me, as some young couple who, on their wedding journey, at the inn, feel shy in the presence of the waiter“ (227). Bei allen Anzeichen und Symptomen, die den Glauben an die übernatürliche Bewandtnis des Erzählten verunsichern, bleibt seine Ontologie unentscheidbar, zumindest für Leser in der Zeit der Entstehung der Erzählung, als man noch weithin an die Existenz von Geistern glaubte. Wie wäre der metaliterarische Sinn der Erzählung zu formulieren? Ähnlich wie bei Puškins Pique Dame könnte man von einer Parabel auf die Paranoia dessen sprechen, der mit einem festen Sinnwunsch an die Interpretation eines Textes geht.
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Allen Deutern seien James’ Äußerungen im Vorwort zur New Yorker Ausgabe der Erzählung (1908) zu denken gegeben: [The Turn of the Screw] is a piece of ingenuity pure and simple, of cold artistic calculation, an amusette to catch those not easily caught (the “fun” of the capture of the merely witless being ever but small), the jaded, the disillusioned, the fastidious. (James, Preface, 182)
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Künstlerische Motivierung der Verfahren in Realismus und Neorealismus
Viktor Šklovskij war an der Motivierung ausschließlich in der Richtung Material → Verfahren interessiert. Das heißt: die Handlung in Laurence Sternes Tristram Shandy dient für ihn nur dazu, die verletzte Form zu motivieren, um deren Wahrnehmung willen der Roman (für ihn in seiner provokativen Geste der „typischste Roman der Weltliteratur“, Šklovskij [1921] 1969c, 298/299) geschrieben worden sei. Michail Bachtin machte gegen die Provokationen des von ihm kritisch beurteilten frühen Formalismus geltend, dass es im Werk keine Kriterien dafür gebe, was in ihm Motivierendes und was Motiviertes ist; jedes beliebige Elemente könne man als Selbstzweck und das heißt als Ziel der Motivierung ansehen, und überhaupt sei der Begriff der Motivierung der Natur der künstlerischen Konstruktion, in der alles eine innere Bedeutung habe, organisch fremd. Bachtin ist in seiner Kritik insofern zuzustimmen, als dass er nicht die kausale, sondern die künstlerische Motivierung im Auge hat. Den Formalisten, die nur an der künstlerischen Motivierung interessiert waren, unterstellt er jedoch, sie reklamierten für die künstlerische Motivierung die Logik der kausalen Motivierung, in der es eine klare Hierarchie zwischen Motivierendem und Motiviertem gibt. Der festen uni-direktionalen Beziehung zwischen motivierendem Material und motivierten Verfahren, die Šklovskij favorisierte, setzte Tynjanov eine dynamische Konzeption entgegen, die die Festlegung der Motivierungskategorien auf Formales und Inhaltliches ablehnte und konzedierte, dass das Motivierte sowohl in Formalem als auch in Inhaltlichem manifestiert sein könne, wobei die motivierenden und die motivierten Komponenten in der Evolution einer Gattung ihre Rollen tauschen könnten. Unter dem Aspekt von Tynjanovs strukturalistischem Evolutionsmodell, das die Motivierungsrichtung vom historischen Ort des Betrachtenden abhängig macht, scheint es müßig zu sein, bestimmten Poetiken eine feste Motivierungsrichtung zuzuweisen. Die Zuweisung ist ja, folgt man Tynjanov, nicht im Werk fundiert, sondern folgt der evolutionsgeschichtlichen Position des Betrachtenden. Gleichwohl sei hier davon ausgegangen, dass Werke bestimmte Dispositionen für die ihnen zuzuweisende Motivierungsrichtung enthalten, so dass es, um ein extremes Beispiel zu wählen, kaum eine mentalitätsgeschichtliche Epoche geben könnte, in der die chaotische Erzählstrategie in Tristram Shandy, die Sprünge zwischen den Geschehnissen, die fortwährenden Metalepsen, die grotesken Abschweifungen über Nasen und Festungen, die Erstickung der Diegesis
https://doi.org/10.1515/9783110691030-008
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durch die Exegesis (so dass der Erzähler erst im dritten Band geboren werden kann) als Rechtfertigung für das Thema Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman aufgefasst werden könnten. Wir wollen im Folgenden eine Reihe von Werken betrachten, in der die narrativen Verfahren zu mehr dienen, als nur ein darzubietendes Thema zu rechtfertigen oder zu profilieren. So exzentrisch manche von Šklovskijs Aperçus auch sein mögen, sie enthalten in ihrer Übertreibung tiefe Einsichten in die fiktionale, ästhetisch fungierende Narration.
8.1 Die Motivierung der Introspektion in Dostoevskijs später Erzählung Die Sanfte Die Motivierungsrichtung Material → Verfahren zeigt Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte (Krotkaja), die 1976 im Tagebuch eines Schriftstellers (Dnevnik pisatelja) erschienen ist. Der Autor schickt seinem Werk eine Erklärung voraus, warum er die Erzählung „phantastisch“ nennt, obwohl er sie als im höchsten Maße realistisch betrachtet. Dieses Autorvorwort (Ot avtora) ist nicht zum fiktionalen Text der Sanften zu rechnen, sondern gehört zum publizistischen Kontext des Tagebuchs eines Schriftstellers. Die Phantastik bezieht Dostoevskij auf die Erzählsituation. Ein Ehemann, früher Militär, jetzt Pfandleiher, dessen Frau sich kurz zuvor aus dem Fenster auf die Straße gestürzt hat, geht in dem Zimmer, in dem die Tote auf einem Tisch aufgebahrt liegt, auf und ab und versucht sich das Geschehene zu erklären, „seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren“: Притом он закоренелый ипохондрик, из тех, что говорят сами с собой. Вот он и говорит сам с собой, рассказывает дело, уясняет себе его. […] Мало-помалу он действительно уясняет себе дело и собирает „мысли в точку“. Ряд вызванных им воспоминаний неотразимо приводит его к правде […] (5)1 Zudem ist er ein eingefleischter Hypochonder, einer von denen, die mit sich selbst sprechen. Und so spricht er mit sich selbst, erzählt das Ganze, erklärt es sich. […] Nach und nach gelingt es ihm tatsächlich, das Ganze zu erklären und seine Gedanken „auf einen Punkt zu konzentrieren“. Die Reihe der von ihm heraufbeschworenen Erinnerungen führt ihn unabwendbar zur Wahrheit […]
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1 Alle Zitate aus der Sanften nach Band XXIV der Ausgabe: Fëdor M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v 30 tomach. Leningrad 1972–1990. Die Übersetzungen stammen von mir – W. Sch.
126 | Motivierung der Verfahren Die vom Autor skizzierte Erzählsituation ist die des dialogischen oder – genauer – quasi-dialogischen inneren Erzählmonologs, die Dostoevskij bereits in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podpol’ja, 1864) verwendet hat (vgl. Schmid 1973, 255–270).2 Der Sprecher wendet sich an einen imaginären Hörer, seinen Richter, vor dem er sich verteidigt. Wir finden hier die reinste Ausprägung der für Dostoevskij charakteristischen „forensischen Situation“ (Holthusen 1969). Der Sprecher stellt sich seinen Richter sogar als körperlich anwesend und aktiv mit Worten und Gesten reagierend vor: И что ж, повторяю, что вы мне указываете там на столе? Да разве это оригинально, что там на столе? О—о! (16) Was soll das denn, wiederhole ich, was zeigen Sie mir da auf dem Tisch? Ist das etwa originell, was dort auf dem Tisch liegt? O-oh!
Der Dialog ist nur inszeniert und geht nicht über die Grenzen des Erzählerbewusstseins hinaus. Das imaginierte kritische Gegenüber ist ein alter ego. Ihm fehlen echte Alterität und Autonomie. Obwohl der Sprecher alle möglichen Argumente zu seiner Verteidigung vorbringt, weit hergeholte Erklärungen des Selbstmords anführt und immer wieder die Frau beschuldigt, dass sie seine hehren Ziele nicht erkennen wollte, findet er unter dem Eindruck der antizipierten Repliken seines imaginären Gegenübers zwangsläufig zur schrecklichen Wahrheit: „Ich habe sie zu Tode gequält, das ist es!“ („Измучил я ее — вот что!“, 35). Die Phantastik bezieht der Autor auf sein nicht begründetes Wissen um den Inhalt der in einer der beiden Rollen des Erzählers – Angeklagter oder Ankläger – an sich selbst gerichteten Reden, auf die fehlende Motivierung der Introspektion in ein fremdes Bewusstsein: Если б мог подслушать его и всё записать за ним стенограф, то вышло бы несколько шершавее, необделаннее, чем представлено у меня, но, сколько мне кажется, психологический порядок, может быть, и остался бы тот же самый. Вот это предположение о записавшем всё стенографе (после которого я обделал бы записанное) и есть то, что я называю в этом рассказе фантастическим. (XXIV, 6)
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2 Die Psychologie des Pfandleihers wurde von Dostoevskij bereits in einem Entwurf des Jahres 1869 skizziert. Der Entwurf ist nach den Einleitungsworten Nach der Bibel erstochen (Posle Biblii zarezal) benannt. Aus ihm sind dann einzelne Motive in die Sanfte eingegangen: „Kellerlochtyp, hat die Eifersucht nicht ausgehalten. […] Die Frau muss bemerken, dass er gebildet ist, dann sieht sie, dass er es nicht sehr ist. Er selbst ein richtiger Kellerlochmensch, hat im Leben Knüffe abbekommen. Voller Wut. Grenzenlose Eitelkeit. […] NB: Eine Zeit kam bei ihm sogar eine echte Liebe zu seiner Frau auf. Aber er zerriss ihr Herz“ (PSS, IX, 119; vgl. den Kommentar in Dostoevskij, PSS, XXIV, 382).
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Wenn ihm ein Stenograph hätte zuhören und alles aufzeichnen können, so wäre es etwas unebener, unfertiger ausgefallen, als es bei mir dargeboten ist, indes wäre – wie mir scheint – die psychologische Ordnung möglicherweise dieselbe geblieben. Gerade diese Annahme, dass ein Stenograph alles mitgeschrieben haben könnte (worauf ich das Aufgezeichnete überarbeitet hätte), ist nun das, was ich in dieser Erzählung phantastisch nenne.
Es geht hier also um nichts weniger als die Motivierung der Introspektion, genauer um die hypothetische Annahme, die die im Grunde unmotivierte Introspektion akzeptabel machen soll. Ein Stenograph hätte den Monolog, der nicht durchweg als gesprochen gedacht werden kann, sondern zum Teil auch innere Rede bleibt, keineswegs vollständig wahrnehmen und aufzeichnen können. Um die Akzeptanz des Unmotivierten zu erhöhen, beruft sich Dostoevskij auf einen prominenten Präzedenzfall, Victor Hugos Erzählung Le Dernier jour d’un condamné (1829): […] отчасти подобное уже не раз допускалось в искусстве: Виктор Гюго, например, в своем шедевре „Последний день приговоренного к смертной казни“ употребил почти такой же прием и хоть не вывел стенографа, но допустил еще бóльшую неправдоподобность, предположив, что приговоренный к казни может (и имеет время) вести записки не только в последний день свой, но даже в последний час и буквально в последнюю минуту. Но не допусти он этой фантазии, не существовало бы и самого произведения — самого реальнейшего и самого правдивейшего произведения из всех им написанных. (6) […] etwas teilweise Ähnliches hat man in der Kunst schon öfter zugelassen: So hat zum Beispiel Victor Hugo in seinem Meisterwerk Der letzte Tag eines zum Tode Verurteilten fast das gleiche Verfahren angewandt, und wenn er auch keinen Stenographen vorschiebt, so hat er sich doch eine noch größere Unwahrscheinlichkeit erlaubt, indem er nämlich voraussetzt, dass ein zum Tode Verurteilter in der Lage ist (und auch Zeit dazu hat), nicht nur an seinem letzten Tag, sondern sogar in seiner letzten Stunde und buchstäblich in seiner letzten Minute Aufzeichnungen zu führen. Hätte er aber dieser Phantasie nicht stattgegeben, existierte das Werk selber nicht, das allerrealistischste und wahrheitsgetreueste Werk von allen, die er geschrieben hat.
In dem von V. A. Tunimanov erstellten Kommentar zur Sanften in der 30-bändigen Dostoevskij-Ausgabe wird darauf verwiesen, dass der innere Monolog des Helden Jean Valjean in Victor Hugos Roman Les Misérables (1862) Dostoevskijs Erzählkonstruktion beeinflusst hat. Hugos Held führt Aufzeichnungen, und er fragt sich, warum er sich in seiner Einsamkeit nicht selbst all das Grausame und Unbekannte erzählen soll, das ihn quält. Das einzige Mittel, weniger zu leiden, zu diesem Schluss gelangt er, besteht darin, die eigenen Qualen zu beobachten und sich von ihnen abzulenken, indem man sie beschreibt (Dostoevskij, PSS, XXIV, 388)
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8.2 Die Motivierung der Erzählperspektive in den Notizbüchern zu Dostoevskijs Jüngling Das Vorwort zur Sanften zeigt, dass Dostoevskij, der im Doppelgänger den Erzähler ohne jede Bemühung um eine Begründung in direkten und erlebten inneren Monologen die geheimsten Gedanken des geistig gestörten Helden darlegen lassen konnte, gegenüber der Plausibilität von Erzählverfahren sensibel geworden ist. Ein wichtiges Zeugnis seiner Reflexion narrativer Verfahren sind die Notizbücher zum Roman Der Jüngling (Podrostok, 1875). Der zwanzigjährige Gymnasiast Arkadij Dolgorukij berichtet im Mai eines nicht genannten Jahres von den Abenteuern, die er zwischen dem 19. September und Mitte Dezember des Vorjahrs erlebt hat. Die Ereignisse, von denen erzählt wird, entfalten sich im Spannungsfeld zwischen dem neunzehnjährigen Arkadij, der ohne Eltern in der Obhut fremder Menschen aufgewachsen ist, und seinem natürlichen Vater Andrej Versilov, den der Junge erst jetzt kennenlernt, um dessen Anerkennung er buhlt und um dessen Bild er kämpft. Ursprünglich hatte Dostoevskij den Roman mit einem nichtdiegetischen Erzähler und mit „IHM“ (d. i. Versilov) als Haupthelden konzipiert. Am 11.7.1874 notiert der Autor jedoch: ГЕРОЙ не ОН, а МАЛЬЧИК. История мальчика: как он приехал, на кого наткнулся, куда его определили. Повадился к профессору ходить; бредит об университете, и идея нажиться. (24)3 Der HELD ist nicht ER, sondern der JUNGE. Die Geschichte des Jungen: wie er angekommen ist, auf wen er gestoßen ist, für welche Tätigkeit man ihn bestimmt hat. Er hat sich angewöhnt, zum Professor zu gehen, phantasiert von der Universität; die Idee schwerreich zu werden.
In der Aufzeichnung vom 12.8. findet Dostoevskij eine „WICHTIGE LÖSUNG DER AUFGABE“ („ВАЖНОЕ РЕШЕНИЕ ЗАДАЧИ“): Писать от себя. Начать словом. Я. (47). In der ersten Person schreiben. Mit dem Wort „Ich“ beginnen.
An diesem Tag skizziert er auch den Titel des Romans: ПОДРОСТОК. ИСПОВЕДЬ ВЕЛИКОГО ГРЕШНИКА, ПИСАННАЯ ДЛЯ СЕБЯ (48) DER JÜNGLING. BEICHTE EINES GROSSEN SÜNDERS, GESCHRIEBEN FÜR SICH SELBST
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3 Alle Zitate aus den Entwürfen zum Jüngling nach Dostoevskij, PSS, XVI.
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Für die uns hier beschäftigende Frage nach der Motivierung der Erzählverfahren ist aufschlussreich, dass der Autor eine Bemerkung zur notwendigerweise begrenzten Kompetenz des jugendlichen Erzählers macht: Подростку, в его качестве молокососа, и не открыты (не открываются и ему не открывают) происшествия, факты, [составляющие] фабулу романа. Так это он догадываeтся об них и усиливает их сам. Что и обозначается во всей манере его рассказа (для неожиданности для читателя). (48–49) Dem Jüngling sind als Grünschnabel die Ereignisse, die Fakten, die die Fabel des Romans bilden, nicht zugänglich (sie eröffnen sich ihm nicht und werden ihm nicht eröffnet). So dass er über sie seine Mutmaßungen anstellt und sie selbst erschließt. Was sich in seiner ganzen Erzählweise äußert (zur Überraschung des Lesers).
Nach einer Woche bekräftigt Dostoevskij: ГЛАВНОЕ NB. ПОДРОСТОК ВЕДЕТ РАССКАЗ ОТ СЕБЯ. Я, Я (56) DIE HAUPTSACHE. NB. DER JÜNGLING ERZÄHLT IN DER ERSTEN PERSON. ICH. ICH.
Die Frage ist jedoch noch nicht endgültig entschieden. An diesem selben Tag (15.8.) erwägt der Autor noch einmal die Möglichkeit, trotzdem „in der dritten Person“ zu schreiben: Если писать не от лица подростка (Я), то — сделать такую манеру, что[б] уцепиться за подростка как за героя… так что… все [персонажи] описываются лишь ровно настолько… насколько постепенно касаются подростка. Прекрасно может выйти. (60) Wenn ich nicht in der ersten Person des Jünglings schreibe (Ich), so muss ich eine solche Erzählweise schaffen, dass ich mich ganz eng an den Jüngling als den Helden halte… so dass… alle Personen nur in dem Maße beschrieben werden, wie sie allmählich den Jüngling betreffen. Schön kann das ausfallen.
Dostoevskij zielt hier auf die figurale Perspektive ab, die er offensichtlich als Äquivalent für das Erzählen eines diegetischen Erzählers betrachtet.4 Erneut zur Idee eines Romans „in der ersten Person“ zurückkehrend, zählt Dostoevskij am 26.8. die Vorteile dieser Technik auf: Обдумывать рассказ от Я. Много выгоды; много свежести, типичнее выдается лицо подростка. Милее. Лучше справлюсь с лицом, с личностью, с сущностью личности.
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4 Auch ein diegetischer Erzähler hat die Wahl zwischen zwei Perspektiven, der figuralen, also der Sichtweise des erzählten Ich, und der narratorialen, dem Standpunkt des erzählenden Ich. Im Jüngling fluktuiert die Perspektive des diegetischen Erzählers zwischen diesen beiden Möglichkeiten (zu Einzelheiten Schmid 2015).
130 | Motivierung der Verfahren […] Наконец, скорее и сжатее можно описать. Наивности. Заставить читателя полюбить подростка. Полюбят, и роман тогда прочтут. Не удастся подросток как лицо — не удастся и роман. Задача: обдумать все pro и contra. ЗАДАЧА. (86) Die Erzählweise in der ersten Person überdenken. Viele Vorteile; viel Frische. Die Person des Jünglings tritt typischer hervor. Netter. Ich komme besser mit der Person, mit der Persönlichkeit, mit dem Wesen der Persönlichkeit zurecht. […] Und man kann schneller und gedrängter erzählen. Naivitäten. Den Leser dazu bringen, den Jüngling lieb zu gewinnen. Man wird ihn liebgewinnen und den Roman dann lesen. Gelingt der Jüngling nicht als Person, gelingt der ganze Roman nicht. Aufgabe: alle Pros und Contras abwägen. AUFGABE.
Diese Notizen belegen, welche Bedeutung der Autor der zentralen Persönlichkeit als dem den ganzen Roman organisierenden Prinzip beimaß. In diesem Zusammenhang spricht Johannes Holthusen (1969, 13) von der „personalistischen Konzeption“ der Komposition bei Dostoevskij. Am 2.9. resümiert Dostoevskij die Pros und Contras. Wie um sich selbst zu überzeugen, zählt er alle Vorteile der ersten Person auf, macht sich aber auch die Risiken dieser Technik bewusst: От Я — оригинальнее и больше любви, и художественности более требуется, и ужасно смело, и короче, и легче расположение, и яснее характер подростка как главного лица, и смысл идеи как причины, с которого начат роман, очевиднее. Но не надоест ли эта оригинальность читателю? Выдержит ли это Я читатель на 35 листах? И главное, основные мысли романа — могут ли быть натурально и в полноте выражены 20-летним писателем? (98) In der ersten Person ist es origineller, und es ist mehr Liebe, mehr Kunst erforderlich, und es ist schrecklich kühn, und es ist kürzer, und die Komposition ist leichter, und der Charakter des Jünglings als Hauptperson wird klarer, und der Sinn der Idee, die dem Roman zugrunde liegt, ist offensichtlicher. Aber wird diese Originalität dem Leser nicht lästig werden? Wird der Leser dieses Ich 35 Druckbögen hindurch aushalten? Und das Wichtigste, die Hauptideen des Romans, können sie natürlich und vollständig durch einen zwanzigjährigen Schriftsteller zum Ausdruck gebracht werden?
Die zuletzt genannten Zweifel implizieren aber auch, dass der diegetische Erzähler eine gewisse Entlastung in der Präsentation der vorgebrachten Idee bedeutete: Если от Я, то придется меньше пускаться в развитие идей, которых Подросток, естественно, не может передать так, как они были высказаны, а передает только суть дела. От Я именно тем оригинальнее, что Подросток может пренаивно перескакивать в такие анекдоты и подробности, по мере своего развития и неспелости, какие невозможны правильно ведущему свой рассказ автору. (98)
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Wenn in der Ich-Form, muss man sich weniger auf die Entwicklung der Ideen einlassen, die der Jüngling natürlich nicht so wiedergeben kann, wie sie geäußert wurden. Er gibt vielmehr nur den Kern der Sache wieder. In der ersten Person ist es gerade dadurch origineller, dass der Jüngling entsprechen seiner Entwicklung und Unreife übernaiv zu solchen Anekdoten und Einzelheiten springen kann, die einem seine Erzählung richtig führenden Autor nicht möglich sind.
Die Entscheidung Dostoevskijs zugunsten des diegetischen Erzählers war also das Ergebnis langer Überlegungen. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie die beiden Darbietungsweisen, die zur Wahl standen, sowohl die Lebendigkeit des Erzählens förderten als auch die Vermittlung von Ideen ermöglichten. Über allem stand aber der Leitgedanke einer plausiblen Motivierung, einem überzeugenden Nexus zwischen Personengestaltung und Erzählweise. Die Entwürfe vom September 1874 (PSS, XVI, 98) belegen, dass der Autor zeitweilig einen Abstand von vier Jahren zwischen den Ereignissen und ihrer Aufzeichnung in Erwägung zog, um ein besseres Verständnis der Person und der Ideen des Vaters durch den Jüngling zu motivieren. Dass diese Pläne wieder fallengelassen wurden, weist auf eine Verschiebung im Romangenre. Der ursprünglich konzipierte Ideenroman wandelte sich zum Adoleszenzroman. Wir haben hier ein Beispiel dafür, wie thematische Verschiebungen unter dem Vorzeichen konsequenter Motivierung eine Veränderung der narrativen Situation und der Perspektive nach sich ziehen. Ein besonderes Motivierungsproblem ergab sich bei der Wiedergabe der stilistischen Eigenart fremder Rede. Die von Arkadij wiedergegebenen Reden dritter Personen bewahren vollständig ihr sprachliches Eigenleben und sind in allen stilistischen Merkmalen auf ihre Urheber abgestimmt. Deren Sprachwelten sind in den verschiedensten Hinsichten (sozialer Schichtung, lokaler Färbung, historischer Charakteristik, funktionaler Bestimmung und persönlichem Ausdruck) stark individualisiert. Obwohl sich Dostoevskij dessen bewusst war, dass eine konsequente Motivierung die fremden Reden nicht in ihrem Eigenleben belassen konnte, sondern sie zumindest partiell an den Sprachhorizont des vermittelnden Erzählers anpassen musste, wie einzelne Bemerkungen in den Entwürfen belegen, wird die Illusion des diegetischen Erzählens durch unglaubwürdig genaue Reproduktion längerer Dialoge und Berichte sekundärer Erzähler sowie durch das Fehlen einer stilistischen Assimilation der berichteten Reden an das Sprachvermögen des vermittelnden primären Erzählers immer wieder bedroht. Die Grenzen dessen, was man Arkadij an Erinnerung an fremde Erzählungen mit ihrer eigenen stilistischen Physiognomie zutrauen kann, sind am deutlichsten in der Wiedergabe der mehr als elf Seiten umfassenden Erzählung seines gesetzlichen Vaters Makar vom Kaufmann Skotobojnikov überschritten. Die Erzählung
132 | Motivierung der Verfahren ist in einem stark stilisierten archaisch-volkstümlichen Skaz gehalten, der die religiöse Welt Makars widerspiegelt. Die Motivierung wird auch nicht dadurch gerettet, dass Arkadij Makars Erzählung mit den Worten einleitet: Помещаю один из рассказов [Макара Ивановича], без выбору, единственно потому, что он мне полнее запомнился. […] Желающие могут обойти рассказ, тем более что я рассказываю его слогом. (313) Ich platziere hier eine der Erzählungen [Makars], eine beliebige, einzig deshalb, weil ich mich genauer an sie erinnere. […] Wer will, kann die Erzählung überspringen, um so mehr, als ich sie in seinem Stil erzähle.
Dostoevskijs Jüngling zeigt, in welch enger Wechselwirkung Thematik und Perspektive stehen. In diesem Fall ist allerdings zu konstatieren, dass erstens, die Wahl der diegetischen Erzählsituation, und zweitens, die Festlegung eines bestimmten Alters des Erzählers mit der damit verbundenen Frische und Naivität, durch die Wendung vom Ideenroman zum Adoleszenzroman motiviert ist. Den Reiz seines Romans erblickte Dostoevskij offensichtlich in der Erarbeitung einer Erzählperspektive, die die geistigen Veränderungen des jungen Mannes wiedergibt. Die Konzentration auf erzählstrukturelle Aspekte, die in den Notizbüchern dokumentiert ist, wurde naturgemäß mit einer geringeren Profilierung der weltanschaulichen Thematik erkauft. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass dieser erzählerisch hochkomplexe Roman in der Gunst der Leser deutlich hinter den vier andern großen Romanen zurücksteht. Der typische Dostoevskij-Leser goutiert mehr Seele, Religion und Philosophie als perspektivische Artistik. Das ist auch der Grund für das weitverbreitete, sogar von Marcel Reich-Ranicki geäußerte tiefe Missverständnis, Dostoevskij sei im Formalen etwas unsorgfältig gewesen.
8.3 Die Komposition in Ivan Bunins Erzählung Leichter Atem 8.3.1 Die „Überwindung der Fabel durch das Sujet“ Die Erzählung Leichter Atem (Lёgkoe dychanie, 1916) des ersten russischen Trägers des Nobelpreises für Literatur, Ivan Bunin, hat das Interesse der Analytiker durch ihre merkwürdige Komposition auf sich gelenkt. In der Forschung wurde diese Eigentümlichkeit in der „Überwindung der Fabel durch das Sujet“ gesehen. Der von den russischen Formalisten beeinflusste Psychologe Lev Vygotskij führt in seiner Psychologie der Kunst die ästhetische Wirkung von Bunins Novelle auf den „dialektischen Widerspruch“, den „Kampf“ zwischen „Inhalt“ und
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„Form“, auf die (Schillersche) „Vernichtung des Inhalts durch die Form“ zurück. Als „Inhalt“ oder „Material“ betrachtet er die „Fabel“, d. i. das vorliterarische Geschehen, „alles das, was der Dichter fertig übernommen hat: die Alltagsverhältnisse, die Geschichten, die konkreten Fälle, die Lebensumstände, die Charaktere, also alles, was vor der Erzählung existierte“. „Form“ ist für Vygotskij – im Sinne Šklovskijs – das „Sujet“, d. i. die „Überarbeitung“ und „Überwindung“ des Materials durch seine „Anordnung nach den Gesetzen einer künstlerischen Konstruktion (Vygotskij [1925] 1965, 187; dt. 1976, 168). Die Umstellung der Teile des „Materials“ ändert – das ist Vygotskijs entscheidendes Argument – den „Sinn“ und die „emotionale Bedeutung“, die dem Material an sich zukommen. In Bunins Novelle ruft das erzählte Geschehen nach Vygotskijs Auffassung an sich einen düsteren, äußerst abstoßenden Eindruck hervor; das „Material“ verkörpert für sich genommen den Sinn „Bodensatz des Lebens“. Als ganze aber vermittelt die Erzählung in Vygotskijs Deutung den genau entgegengesetzten Eindruck: „das Gefühl der Befreiung, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit und völligen Durchsichtigkeit des Lebens, das man unmöglich aus den Ereignissen ableiten kann, die ihr zugrunde liegen“ ([1925] 1965, 199; dt. 1976, 180). Seine radikale Umtönung verdankt das Material, das substantiell dasselbe bleibt, in der Interpretation Vygotskijs ausschließlich der Permutation seiner Teile: „Die Ereignisse sind so verbunden und verkettet, dass sie ihre Lebensschwere und undurchsichtige Trübe verlieren“ ([1925] 1968, 200; dt. 1976, 201; vgl. Schmid 2009, 16–19; 2014a, 211–215). Aleksandr Žolkovskij (1992) pflichtet dem Befund der „Überwindung der Fabel durch die Komposition“ grundsätzlich bei, zweifelt allerdings, ob man dieser Struktur eine so weitreichende Wirkung zuerkennen kann, wie das Vygotskij getan hat. „Can purely disruptive strategies be responsible for the effect of ‚lightness and clarity‘?“ (Zholkovsky 1994, 94). Vygotskijs „‚destructive‘ hypothesis“ setzt Žolkovskij ein „more constructive reading“ (1994, 98) entgegen.
8.3.2 Geschichte und Erzählung Anstelle der formalistischen Dichotomie von „Fabel“ und „Sujet“ wollen wir für die ideale Genesis des Erzählwerks ein vierstufiges Modell verwenden, das die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung umfasst (Schmid 2014a, 223–250). Mit Vygotskijs formalistischem Begriff der „Fabel“ korrespondiert unser Terminus Geschichte, der das Resultat einer Auswahl von Momenten (Situationen, Figuren und Handlungen) und ihren Eigenschaften aus dem Geschehen bezeichnet. Die Erzählung ist das Resultat der Komposition, die
134 Motivierung der Verfahren die Geschehensmomente, die in der Geschichte im ordo naturalis enthalten sind, in einen ordo artificialis bringt. Die wesentlichen Verfahren der Komposition sind (1) die (obligatorische) Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden, (2) die (fakultative) Permutation der Episoden der Geschichte. Leichter Atem erzählt die Geschichte der Gymnasiastin Olja Meščerskaja, die auf dem Bahnhof inmitten einer Menschenmenge von einem Kosakenoffizier erschossen wird. Das von Vygotskij fokussierte Verfahren ist die Permutation. Um dieses Verfahren zu rekonstruieren, skizzieren wir in folgendem Schema die divergierenden Sequenzen der acht unterscheidbaren Episoden der Geschichte (vertikal) und der Erzählung (horizontal). Die Zahlen bezeichnen den ordo artificialis (die Reihenfolge in der Erzählung), die Buchstaben den ordo naturalis (die Reihenfolge in der Geschichte). (Es wird darauf verzichtet, die Dauer der Episoden und die Iterativität mancher Vorgänge zu markieren.) Tab. 1: Die Episoden der Geschichte und der Erzählung in Ivan Bunins Novelle Leichter Atem
1a
6a
8a
4b 3c
5e
2f
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1a
Friedhof, ein neues Kreuz aus Eichenholz, stark, schwer, glatt. Der kalte Aprilwind lässt den Porzellankranz am Fuß des Kreuzes klirren. In das Kreuz ist ein großes Porzellanmedaillon eingelassen, das eine Photographie der Gymnasiastin Olja Meščerskaja mit fröhlichen, überaus lebendigen Augen enthält.5
2f
Olja Meščerskaja, ihre Entwicklung vom hübschen, mutwilligen und sorglosen kleinen Mädchen zur schönen Gymnasiastin, die von den jüngeren Klassen geliebt wird und sich nicht um die Belehrungen der Klassenlehrerin kümmert. Ihre Anmut in allen Dingen. Das Aufkommen von Gerüchten ihrer „Windigkeit“, dass in sie der Gymnasiast Šenšin so verliebt war, dass er angesichts ihrer kapriziösen Koketterie einen Selbstmordversuch unternahm.
3c
Im letzten Winter, als Olja vor Fröhlichkeit „ganz verrückt“ wird, ruft man sie zur Schulleiterin, die ihr – nicht zum ersten Mal – wegen ihres ungezwungenen Verhaltens Vorhaltungen macht. Sie trage die Frisur einer Frau, was ihr als Gymnasiastin nicht zustehe. Olja unterbricht sie: sie sei Frau, und die Schuld daran trage der Freund und Nachbar des Vaters und ihr, der Schulleiterin, Bruder Maljutin. Das sei im vergangenen Sommer auf dem Lande passiert.
4b
Einen Monat später wird Olja von einem unschönen, plebeisch aussehenden Kosakenoffizier, der nichts mit dem Kreis gemeinsam hatte, zu dem Olja gehört, auf dem Bahnhof inmitten der Menschenmenge erschossen. Dem Untersuchungsrichter erklärt der Offizier, dass Olja mit ihm intim geworden sei und geschworen habe, seine Frau zu werden. Auf dem Bahnhof habe sie ihm aber erklärt, dass alle Gespräche über die Ehe reine Verspottung gewesen seien, und sie habe ihm die Seite ihres Tagebuchs zu lesen gegeben, auf der sie über die Geschichte mit Maljutin schreibe.
5e
In der Tagebucheintragung berichtet Olja, wie sie in der Abwesenheit der Eltern ihre Freiheit genossen hat. Der Freund des Vaters Maljutin ist vorbeigekommen. Sie verführt ihn und empfindet danach starke Abscheu.
6a
Der allsonntägliche Gang der Klassenlehrerein durch die Stadt zum Friedhof, zu Oljas Grab. Sie lebt immer von einer Fiktion, die ihr das wirkliche Leben ersetzt. Früher war das ihr Bruder, für den sie eine glänzende Zukunft erwartete. Nach seinem Tod wurde Olja Gegenstand ihrer „unablässigen Gedanken und Gefühle“. Ihre Erinnerungen.
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5 Von diesem Medaillon nahm die reale Entstehungsgeschichte der Novelle ihren Ursprung. Bunin war von der Zeitung Das russischen Wort (Russkoe slovo) gebeten worden, für die Osternummer 1916 eine Erzählung beizutragen. Auf der Suche nach einem Sujet erinnerte er sich an den kleinen Friedhof auf Capri, wo ihm ein Grabkreuz mit einem Medaillon aufgefallen war, das ein „junges Mädchen mit ungewöhnlich lebendigen, fröhlichen Augen“ zeigte. Dieses Mädchen machte er in Gedanken zur Russin Olja Meščerskaja und erfand eine Geschichte „mit jener begeisternden Geschwindigkeit, die er in einigen glücklichsten Minuten [seiner] Schriftstellerei hatte“ (Saakjanc 1988, 669).
136 | Motivierung der Verfahren 7d
[In der Erinnerung der Klassenlehrerin] Olja erzählt ihrer Freundin, was sie in einem von Papas „alten, lustigen“ Büchern über die Schönheit der Frau gelesen hat. Das Wichtigste ist der „leichte Atem“. Und ihn hat sie: „hör mal wie ich atme“.
8a
„Jetzt hat sich dieser leichte Atem erneut in der Welt verstreut, in diesem bewölkten Himmel, in diesem kalten Frühlingswind“.
Das Schema zeigt verschiedene Strukturen: 1. Die Erzählung folgt nicht linear der Geschichte, sondern springt zwischen verschiedenen Zeitebenen. 2. Der Friedhof als erster Handlungsort der Erzählung enthält eine Vorausdeutung auf das Ende der Geschichte; er ist ein „preannouncement of the dénouement“ (Woodward 1980, 150). 3. Diese Vorausdeutung hebt freilich nicht die Spannung auf. Sie wird durch weitere Permutationen der Episoden eher erhöht (Zholkovsky 1994, 100). 4. Der Wechsel der Zeitebenen folgt der Logik des Kontrastes zwischen Motiven des Todes und Motiven des „leichten Atems“. Auf diese Weise geraten die Motive des Sterbens und des Lebens wiederholt in enge Nachbarschaft. Die mehrfach realisierte kompositionelle Kontiguität der Motive des Lebens und des Todes macht die Erzählung für ganz unterschiedliche interpretierende Zugriffe zugänglich, wie die Deutungsgeschichte der Erzählung zeigt. Man kann vielleicht nicht James Woodwards (1980, 151) Konklusion zustimmen: „the closer [Olja] is to death, the greater becomes her joie de vivre“, aber die enge Beziehung zwischen der spontanen, durch nichts eingeschränkten Lebendigkeit des jungen Mädchens und seinem frühen Tod scheint unabweisbar. Die Kausalität ist allerdings eher umgekehrt: nicht der Tod bedingt die zunehmende Lebensfreude, wie Woodward insinuiert, sondern die überschäumende, ungezügelte Lebendigkeit führt zum Tod. Auf jeden Fall macht der Erzähler des Werks seine auktoriale Macht geltend (Drozda 1987, 19), um durch die Permutation der Situationen, Episoden und Phasen der Geschichte komplexe Wechselbeziehungen von Lebendigsein und Totsein nahezulegen.
8.3.3 Äquivalenzen Die Permutation kann allerdings nur zum Teil für die von Vygotskij konstatierte kathartische Befreiung von der niederdrückenden Wirkung der erzählten existentiellen Momente verantwortlich gemacht werden. Der Eindruck der Leichtigkeit resultiert in Bunins Novelle weniger aus der Umstellung der Teile in der
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Erzählung (bei Vygotskij „Sujet“) als aus der künstlerischen Organisation der Geschichte („Fabel“). Bereits die Geschichte weist eine Organisation auf, die die direkte Lebensrelevanz der Existentialia gleichsam einklammert und dem traurigen Geschehen eine leichtere Tönung gibt, freilich ohne dass der tragische Grundton aufgehoben würde. Zu den Verfahren der „Fabel“-Organisation, die einen solchen Effekt bewirken, gehören in diesem Werk die komisch-zufällige Konstellation der Situationen, Figuren und Handlungen, vor allem die überraschenden Äquivalenzen zwischen den Protagonisten. In der Geschichte figurieren zwei Erzieherinnen, die Olja erfolglos ermahnen, die Klassenlehrerein und die Schulleiterin. Während die Letztere nach Oljas Offenbarung in ihrer Verblüffung zurückbleibt, ohne dass die Geschichte von ihr noch etwas berichtete, macht die Erstere, die ihr Leben durch Fiktionen ersetzt, die im Grab liegende Olja zum Gegenstand ihres Seelenlebens. In der Geschichte figurieren zwei Brüder, Oljas erster Mann Maljutin, und der namenlose Bruder der Klassenlehrererin, der zum Vorläufer Oljas im Bewusstsein der Klassenlehrererin wird. Die besondere Pointe ist dabei, dass Maljutin der Bruder der Schulleiterin ist. So ergeben bereits in der Geschichte Äquivalenz und Kontiguität ein enges Netz von zufälligen und den Figuren nicht bewussten personalen Relationen. Zwei Menschen beschäftigen das Seelenleben der Klassenlehrerin: Zunächst der lebende Bruder, ein armer und durch nichts bemerkenswerter Fähnrich, für den sie eine glänzende Zukunft erwartet. Nachdem der Bruder in der Schlacht bei Mukden gefallen ist, nimmt seine Stelle im Bewusstsein der Klassenlehrerin, die sich als „Ideenarbeiterin“ („идейная труженица“, 98) 6 sieht, die tote Olja Meščerskaja ein. Die Gemütslage der Klassenlehrerin ist gespalten. Einerseits gäbe sie das halbe Leben, wenn nur nicht der tote Kranz, der Hügel, das Eichenkreuz wären. Sie kann nicht begreifen, dass im Grab die liegt, deren Augen „unsterblich“ („бессмертно“, 98) auf dem Porzellanmedaillon strahlen, und wie mit diesem klaren Blick das Entsetzliche zu vereinbaren ist, das sich mit dem Namen Olja Meščerskaja verbindet. Andererseits ist sie „in der Tiefe ihrer Seele glücklich, wie alle einem leidenschaftlichen Traum hingegebenen Menschen“ („в глубине души […] счастлива, как все преданные какой-нибудь страстной мечте люди“, 98). Maljutin erfüllt zwei Funktionen. Er ist einerseits Oljas erster Mann, das erste Opfer ihrer Verführungskunst, andererseits aber Bruder der Schulleiterin und ||
6 Alle Zitate aus Leichter Atem nach Ivan A. Bunin, Sobranie sočinenij v šesti tomach, Moskau 1988. Bd. 4. Die Übersetzung stammt von mir – W. Sch.
138 | Motivierung der Verfahren damit mit der Macht verbunden, die im Amtszimmer seiner Schwester im Zarenporträt gegenwärtig ist. Olja fühlt sich in dem Amtszimmer, in dem sie zur Ordnung gerufen werden soll, durchaus wohl: Мещерской очень нравился этот необыкновенный чистый и большой кабинет, так хорошо дышавшей в морозные дни теплом блестящей голландки и свежестью ландышей на письменном столе. (95) Der Meščerskaja gefiel dieses ungewöhnlich reinliche und große Amtszimmer sehr, das an frostigen Tagen so angenehm die Wärme des Hollandofens und die Frische der Maiglöckchen auf dem Schreibtisch atmete.
Olja hat einen besonderen Blick einerseits für den jungen Zaren, der in einem glänzenden Saal in voller Größe gemalt ist, und andererseits für den glatten Scheitel der akkurat gewellten Haare der Schulleiterin, die vor ihr sitzt. Die eigenwillige, ob ihres normwidrigen Verhaltens ermahnte Schöne hat also einen ausgeprägten Sinn für Ordnung. Eine große Kette semantischer Äquivalenzen bilden Lexeme mit der Wurzel doch/dych/duch: dychanie (‚Atem‘, Atmen‘), dyšat’ (‚atmen‘), vzdoch (‚Seufzer‘), vozduch (‚Luft‘) (Žolkovskij 1992, 304). Thematisch ist damit die Kette der Motive des ‚Windes‘ (veter) verbunden, der als kalter Frühlingswind die Erzählung eröffnet und sie beschließt. Und in diesem Zusammenhang ist nicht zufällig, dass mit dem Lexem des Windes auch das Verhalten des jungen Mädchens bezeichnet wird: „schon liefen Gerüchte, dass sie windig sei“ („уже пошли толки, что она ветрена“, 95). In der Faktur der Geschichte spielen auch weitere semantische Figuren eine strukturierende Rolle. Die für die Erzählung konstitutive Figur ist das Oxymoron. Es erscheint in Teilmotiven wie der Klassenlehrerin als glücklich Trauernder. Entscheidend ist aber die in keinem Einzelmotiv ausgedrückte Makrofigur des lebendigen Todes, der zum Tode führenden Lebendigkeit oder der unsterblichen Toten, als die Olja Meščerskaja in der Wahrnehmung der Klassenlehrerin erscheint. Die Leichtigkeit der Erzählung, die Vygotskij auf die Permutation zurückführt, stellt sich erst in der ästhetischen Einstellung her, und diese beruht auf der Wahrnehmung des dichten Geflechts der Äquivalenzen und Oxymora, das bereits die Geschichte enthält.
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8.3.4 Die Richtung der Motivierung In den Ausgangsdefinitionen wurde festgestellt, dass es in der künstlerischen Motivierung keine Hierarchie von Motivierendem und Motiviertem gebe, jedenfalls nicht die eindeutige Richtung, die die kausale Motivierung beherrsche. In der künstlerischen Motivierung bestehe vielmehr eine wechselseitige Adäquatheit der heterogenen Ebenen. Trotz der nicht zu bestreitenden Gleichwertigkeit der beteiligten Werkkomponenten beobachtet man bei Rezipienten gewisse Präferenzen für die eine oder andere Wahrnehmungsweise. In der Frage danach, ob in Bunins Erzählung die Verfahren der Komposition die Geschichte motivieren oder ob das thematische Material die Anwendung der Permutation begründet, können wir hier zwei idealtypisch vereinfachte Positionen unterscheiden. Der Gehaltsästhetiker wird in allem Kompositionellen nur ein Mittel zum Erzielen von semantischen und ideellen Effekten erblicken. Als Motivierung wird er die umgestellte Handlung und ihre affektive Wirkung betrachten. Der Formästhetiker wird die ungewöhnliche Komposition nicht nur als ein an sich durchsichtiges Mittel betrachten, sondern ihr selbst seine Aufmerksamkeit zuwenden. Für ihn dient die erzählte Geschichte der Motivierung der Verfahren. In der Wahrnehmung des Formästhetikers existiert auch nicht nur das erzählerische Endergebnis, die Erzählung, in ihr bleibt auch die transformierte Geschichte gegenwärtig. In der ästhetischen Einstellung bleibt die natürliche Folge der Episoden in der Geschichte noch in ihrer Überwindung durch die Erzählung präsent. In Leichter Atem nehmen wir in ästhetischer Einstellung nicht nur die Erzählung wahr, sondern vermittels ihrer auch die von ihr transformierte Geschichte, und wir wenden unsere Aufmerksamkeit dem Verfahren der Permutation zu, einem besonderen Privileg der Narration.
8.4 Motivierung der Verfremdung in Andrej Bitovs Erzählung Leben im windigen Wetter 8.4.1 Die extrafiktionale, auktoriale Motivation In den 1950er Jahren begann sich in der russischen Literatur eine innovatorische Poetik durchzusetzen, die die Befreiung vom kunstwidrigen, sozialpädagogischen Konzept des sogenannten „sozialistischen Realismus“ bedeutete. Die Innovation zeigte sich zunächst in der „jungen Prosa“ (molodaja proza) oder „Jugendprosa“ (molodëžnaja proza) der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, die maßgeblich von westlichen Vorbildern, insbesondere Jerome D. Salingers
140 | Motivierung der Verfahren Catcher in the Rye, geprägt war. Um die Mitte der sechziger Jahre war die innovatorische Kraft der „jungen Prosa“ erschöpft. Ihr ironischer Erzählton war zur Manier geworden und hatte bereits – deutliches Zeichen seiner Automatisierung – Eingang in die Genres des Zeitungsfeuilletons, der Reiseskizze, der Reportage, der Rezension gefunden (vgl. Čudakova und Čudakov 1967; Čudakova 1972b). Die führende Position in der literarischen Hierarchie nahmen die sogenannte „Dorfprosa“ (derevenskaja proza) (Vasilij Šukšin, Vasilij Belov, Viktor Astaf’ev, Fëdor Abramov, Valentin Rasputin u. a.), die Prosa aus dem Milieu der städtischen Intelligenz (Jurij Trifonov, Vladimir Makanin) sowie die Werke Andrej Bitovs ein, der bereits in seinen ersten Erzählungen und Skizzen den ideologischen und stilistischen Rahmen der „jungen Prosa“ gesprengt hatte. Die neuen Strömungen eigneten sich die Weltbereiche an, die die junge Prosa erschlossen oder – nach zwanzig Jahren reglementierter Gesellschaftsthematik – wiederentdeckt hatte und radikalisierte – nunmehr zumeist ohne versöhnlichen Humor – die ethische Intention. Die Thematisierung des Privaten, des Inoffiziellen, der gesellschaftlichen Peripherie löste sich von der ironischen Darbietung und verband sich mit schärferer Analyse. Der ursprünglich pubertäre Zweifel, die Skepsis gegen autoritäre Wahrheiten und die Respektlosigkeit gegenüber der offiziellen Welt wurden, ihrer psycho-physiologischen Motivation entkleidet, in abstrakterer und dadurch grundsätzlicherer Darbietung zum Merkmal der innovatorischen Poetik (vgl. Schmid 1979a). Einen Höhepunkt der innovatorischen Prosa der 1960er Jahre bildet Andrej Bitovs (1937–1918) programmatische Erzählung Leben im windigen Wetter (Žizn’ v vetrenuju pogodu, 1963–1964).7 Der Held Sergej ist ein Schriftsteller, der aus der Stadt in die sommerliche Datscha umgezogen ist und seine Schreibtätigkeit aufzunehmen versucht. Die Geschichte erzählt von seinen vergeblichen Ansätzen, die geplante Arbeit zu beginnen, den widersprüchlichen Empfindungen im Zustand der Inertia und von den seelischen Strategien, die den Beginn des Arbeitens hinauszögern und die Verzögerung begründen sollen. Zugleich beschreibt die Erzählung eine sentimentale und reflektorische Reise Sergejs durch die Wunder des Lebens auf der Datscha, seine Entdeckungsfahrt durch die Welt der ihn umgebenden Personen und letztlich eine kritische Inspektion der Verhaltensmechanismen, der stereotypen Konzepte und Wertungen, die sein Verhältnis zur Welt, zu den Menschen und zu sich selbst zu automatisieren drohen. Die Erzäh||
7 Ursprünglich trug die Erzählung den Untertitel Auf der Datscha (Dačnaja mestnost’) und wurde zum ersten Mal 1967 in Bitovs gleichnamigem Erzählungsband gedruckt (vgl. Schmid 1979b). Für das vorliegende Kapitel greife ich auf Ergebnisse meines Aufsatzes Schmid 1980 zurück.
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lung kreist damit um ein seit den 1930er Jahren von der sowjetischen Kulturpolitik geächtetes Konzept, das vom russischen Formalismus entwickelte Konzept der „Verfremdung“, welche Bezeichnung im Text selbst nicht erscheint. Sergej stößt in der Zeitung auf das Wort Formalismus und überlegt, wieviel unterschiedliche Bedeutungen in dieses Wort schon gelegt wurden. Eine von ihnen ist das strikte Befolgen bestimmter Prinzipien, Regeln und Formen gegen den gesunden Menschenverstand. Eine andere Bedeutung von Formalismus ist die „unbegründete Form“ („неоправданность формы“, 107) 8 oder der Umstand, „dass die Form der Wirklichkeit nicht entspricht“ („несоответствие действительности“, 107). Im nächsten Schritt denkt Sergej über eine adäquate Definition von „Formalismus“ nach: Само по себе настоящее искусство никогда не только не стремилось к условности, но вечно болело попыткой избежать ее. Освободиться от пут условности, окостенений, как раз того, что можно назвать формализмом, освободиться и приблизиться к живой правде — вот механизм рождения новых форм. Это просто освобождение от прошлых, тесных или неспособных выразить новое форм, раскрепощение, выход на простор, приближение к живому. Назвать это формализмом — все равно что назвать черное белым. (107–108) Echte Kunst hat von sich aus niemals nach der Konvention gestrebt, sondern ewig darum gerungen, ihr zu entfliehen. Sich von den Fesseln der Konventionalität, der Erstarrung zu befreien, von jenem also, was man Formalismus nennen könnte, sich zu befreien und sich der lebendigen Wahrheit zu nähern – das ist der Mechanismus des Entstehens neuer Formen. Das ist einfach die Befreiung von überholten, engen oder zum Ausdruck des Neuen nicht mehr geeigneten Formen, eine Emanzipation, ein Gang in den freien Raum, eine Annäherung an das Lebendige. Das Formalismus zu nennen, ist dasselbe wie das Schwarze weiß zu nennen. (378)
Mit dieser Überlegung, die die Position der von der offiziellen Kulturpolitik unterdrückten formalistischen „Gesellschaft zur Untersuchung der poetischen Sprache“ (Opojaz) rehabilitiert, drückt der fiktive Held, der autobiographische Züge trägt, offensichtlich Gedanken seines Autors aus. Andrej Bitov gibt hier seine Motivation zu erkennen, eine Erzählung zu schreiben, die die vom russischen Formalismus zum Grundverfahren der Kunst erhobene Verfremdung an alltäglichen Beispielen vorführen soll. Insofern kann man Leben im windigen ||
8 Zitate aus dem russischen Original nach der Ausgabe: Andrej Bitov, „Žizn’ v vetrenuju pogodu“. In: A. B., Imperija v četyrex izmerenijach. I. Petrogradskaja storona. Char’kov und Moskau 1996. 99–128; aus der deutschen Übersetzung von Aggy Jais nach der Ausgabe: Andrej Bitow, „Leben im windigen Wetter.“ In: Helen von Ssachno (Hg.), Russische Prosa Heute. München 1972. 361–413.
142 | Motivierung der Verfahren Wetter eine Fibel des Verfremdens nennen, die ein Paradigma möglicher Objekte und Effekte jenes für Bitov charakteristischen Verfahrens vorführt, das der Romancier Jurij Trifonov (1964) in seiner Besprechung des ersten Bitov’schen Sammelbands Die große Kugel (Bol’šoj šar, 1963) „Scharfsehen“ (ostrovidenie) nannte.
8.4.2 Die intrafiktionalen Motivierungen Intrafiktional ist die besondere Weltwahrnehmung, die zum ‚Scharfsehen‘ und zur Verfremdung führt, durch die freie, von den gewohnten Tätigkeiten und Verpflichtungen des Stadtlebens entbundene Situation ‚auf der Datscha‘ motiviert. An die Stelle der üblichen Alltagsverrichtungen treten neue, ungewohnte Tätigkeiten: so einfache wie seltene Aufgaben wie die Fenster zu entriegeln, Holz zu hacken, das Haus durchzuheizen. Mit der Übersiedlung in die Datscha haben sich für Sergej alle Parameter seiner Existenz verändert, in erster Linie die Zeit. Auf der Ordinate der realen Zeit ist die Uhrzeit der Datscha nicht eingezeichnet. Sergej rudert in einem Meer von Zeit. Das Übermaß an Zeit irritiert ihn. Das erste Objekt, auf das sich seine reflektierende Wahrnehmung richtet, ist die Relativität der Zeit. Die Genauigkeit der Radioansage der Moskauer Zeit ruft bei ihm ein Lächeln hervor. Seine Uhr ist gleichsam stehengeblieben. Am helllichten Tag ist für ihn in den Begriffen der Moskauer Zeit null Uhr, null Minuten, null Sekunden. Durch leere Geschäftigkeit versucht Sergej der Zeit die gewohnte Schnelligkeit zurückzugeben. Doch nach wie vor erscheint ihm die Zeit als windstilles Meer, das er durchschwimmen muss, wobei er das Schwimmen verlernt hat. Auch die Dimension des Raums wird von Sergej auf neue Weise erlebt. Von den Verkehrsmitteln unabhängig, erhält er eine bislang nicht gekannte Verfügungsgewalt über seine Bewegung im Raum. Während der Untertitel der Erzählung die Basismotivierung für die verfremdende Weltwahrnehmung angibt, das ungewohnte Leben auf der Datscha, nennt der Haupttitel eine zweite hier als wirksam suggerierte Motivierung: den Wind. Am ersten Tag des Datscha-Lebens schlägt das Wetter um, es erhebt sich ein starker Wind, der, hörbar und sichtbar, bis zum Ende der Geschichte anhält. Die Veränderung des Zeit-Raum-Bewusstseins beeinflusst die Wahrnehmungseinstellung, der Wind hat dagegen äußere, physische Wirkungen: er säubert die Luft von allen Verunreinigungen, die die Sicht mindern. In der ungewöhnlich klaren Luft erscheinen die Naturphänomene optisch verfremdet, in ungewöhnlichen Ansichten: Хоть и далеко, все было очень хорошо видно, как и вообще в последние ветреные дни […] (121)
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Obgleich entfernt, war doch alles gut sichtbar, wie allgemein alles in den letzten windigen Tagen (401) Был ветер, и от этого небо казалось высоким, а солнце необычно маленьким и далеким. (104) Es war windig, weshalb der Himmel hoch, die Sonne aber ungewöhnlich klein und fern schien. (372) Ветер расчистил горизонт, и странно четко глядел вдали синий лес, высотой с траву. (113) Der Wind hatte den Horizont reingefegt, und seltsam klar schaute in der Ferne der blaue Wald, kaum höher als das Gras. (387; Ü. rev.) Так они ехали пo ветреному ясному пустырю, и лес синей низенькой щеточкой оставался на самом горизонте […] (114) So fuhren sie durch die windige, klare Ödnis, und der Wald stand als blaue, niedrige Bürste am Horizont […] (389; Ü. rev.)
Das windige Wetter, das die atmosphärische Durchsichtigkeit bewirkt, fungiert in der Erzählung zugleich als metonymische Metapher für die psychische Situation des geistigen Klar-Sehens, des neuen Erkennens, und in dieser Funktion steigert es die ungewohnte Datscha-Befindlichkeit des Helden. Die müßige Lebensweise und das „Leben im windigen Wetter“ sensibilisieren gleichermaßen, sich gegenseitig verstärkend, die Wahrnehmung und die Einbildungskraft. Sergej richtet seine Aufmerksamkeit auf Dinge, über die sein Blick sonst achtlos hinweggeglitten ist. Er beobachtet und imaginiert nun, wie nach dem Regen ein Blatt am Baum in der regungslosen und dichten Luft, gleichsam lebendig werdend, in Bewegung gerät, den Rücken krümmt und wieder geradebiegt und dann einen großen diamantenen Tropfen wie eine schwere Last herabrollen lässt, aufseufzend vor Freude und Erleichterung, und sich einem gerade erst durchgedrungenen, ebenfalls gleichsam erfrischten Sonnenstrahl darbietet. Beim Aufkommen des Windes gibt sich Sergej voller Wohlbehagen der phantastischen Vorstellung hin, dass seine Etage, auf der er zu schreiben versucht, davonfliegt und mit solcher Geschwindigkeit die Luft durchschneidet, dass sie selbst Wind erzeugt. Nachdem die bereits baufällige Datscha durchgeschüttelt ist, sieht Sergej wie zum ersten Mal, dass seine Etage keine Decke hat. Der blanke Dachstuhl stellt sich ihm dar als Bogengewölbe, das ganze Häuschen als Kathedrale – ein anderes Mal als Orgel und als Segelschiff. In der Situation des scharfen Beobachtens und phantasiereichen Vorstellens macht sich Sergej bewusst, dass er einen Sohn hat, und staunt sogleich „naiv“ über dessen wunderbare Erscheinung. Das Kind gibt ihm die verlorengegangene
144 | Motivierung der Verfahren „Sinnlichkeit“ wieder, „das Gefühl, den Geschmack und die Empfindung“ für so einfache Dinge wie Genuss, Freude und Liebe. Es vertreibt das „Unlebendige“ („неживое“), das Sergejs Existenz bedroht. Zu diesem ‚Unlebendigen‘ gehört für Sergej jetzt auch das rein verstandesmäßige Erfassen der Welt, paradoxerweise sogar die Reflexion auf die eigene Wahrnehmung dieses ‚Unlebendigen‘: Барахтаясь в море времени [Сергей] постоянно видел рядом сына, существо столь совершенно живое, что становилось стыдно всего неживого в себе, а тем более такой неживой вещи, как фиксация и переживание в себе этого неживого. (103) Sich im Meer der Zeit aalend, saß [Sergej] immer häufiger zu Hause und sah unentwegt seinen Sohn neben sich, ein Wesen, das so vollkommen lebendig war, dass er sich all des Unlebendigen in sich schämte, vor allem des Fixierens und des Erlebens dieses Unlebendigen in sich. (370; Ü. rev.)
Der Sohn ist nicht lediglich Objekt der neuen Wahrnehmung, sondern vermittelt als Verkörperung der lebendigen, sinnlichen Existenz seinerseits einen verfremdenden Blick auf die Welt. Somit wird die Wahrnehmung mit den Augen des Kindes die dritte Motivierung für das Scharfsehen und Verfremden. Sergej spaziert mit dem Sohn, der seine ersten Gehversuche macht und dabei die unsicheren Beinchen „unverständlich hoch“ anhebt, langsam durch den Garten: И может, оттого, что так медленно, Сергей внимал и впитывал все вокруг гораздо сильнее, подробнее, материальнее, чем обычно, словно бы жизнь вокруг него или в нем во много раз увеличивала свою концентрацию на каждый метр пути, каждый вдох, каждый скворечник, или куст, или щепку в дорожной пыли… (104) Und vielleicht nahm Sergej, eben weil [sein Sohn] so langsam ging, alles ringsum ungemein stärker, detaillierter, materieller auf als gewöhnlich, als hätte das Leben um ihn oder in ihm um vieles seine Konzentration gesteigert – bei jedem Meter seines Weges, bei jedem Einatmen, bei jedem Starenkasten, Strauch, Kienspan im Staub des Weges empfand er das… (372)
Beim zweiten Spaziergang hat Sergej bereits völlig die Perspektive des Sohnes übernommen: „Er sah mit den Augen des Sohnes. Seit gestern sah er alles schärfer, aber mit dem Sohn, mit seinen Augen hatte sich alles gleichsam noch verschärft“ («он видел глазами сына. Со вчерашнего все виделось ему острее, но с сыном, с его глазами, вроде и еще обострялось», 120). Die Ansteckung an der Sichtweise des Kindes manifestiert sich freilich nicht in einem fingierten Verlernt-Haben, in der Simulation des Nicht-mehr-Erkennens der Dinge, das für die pseudo-naive Verfremdung etwa bei Tolstoj charakteristisch ist. Sergej zeigt sich durchweg dessen bewusst, dass die in seinem AndersSehen konstituierten Ansichten auf einem Schein, dem optischen Anschein
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beruhen. Die fremdartige Ansicht wird von ihm lediglich als eine von der räumlichen Konstellation der Dinge zugelassene oder suggerierte Möglichkeit akzeptiert. In der verfremdenden Deskription einer Wiese, die Sergej – wie er später konstatiert – bereits „tausend Mal gesehen hat“ (97), verweisen relativierende Bestimmungen wie dem Aussehen nach, gleichsam, es schien auf die rationale Distanz des Betrachtenden zum Betrachteten und auf den fakultativen Charakter der ungеwöhnlichen Wahrnehmungen: На лугу еще росли странненькие цветы в виде белых ваток, словно всплывших на зеленую, густую и воздушную одновременно, поверхность. Луг был пуст, и только гдето в центре его маленький мальчик, уменьшенный расстоянием, стоял нагнувшись, по-видимому, рвал эти белые цветки, а издали казалось, что и не рвал — гладил неощутимую, как небо, поверхность луга. (120–121; Hervorhebung von mir, W. Sch.) Auf der Wiese wuchsen seltsame Blumen in Gestalt weißer Wattebäusche, die auf der grünen, dichten und gleichzeitig luftigen Oberfläche schwammen. Die Wiese war leer, nur irgendwo in ihrer Mitte stand, durch die Entfernung verkleinert, ein Junge, gebückt, der offensichtlich diese weißen Blüten pflückte, aber aus der Ferne schien es, dass er nicht pflückte, sondern die wie der Himmel unberührbare Oberfläche der Wiese streichelte. (400; Ü. rev.)
Verfremdung kommt in Sergejs Wahrnehmung auch durch das Neukontextieren von Gegenständen zustande, die der isolierende Blick aus ihren gewohnten Zusammenhängen gerissen hat. Das Auge vereinigt heterogene Gegenstände in räumlichen Konfigurationen und entdeckt in ihnen geometrische Ordnungen. Die Aufmerksamkeit für die offenliegende oder nur der spezifischen Einstellung zugängliche Geometrie der Dinge ist in dieser Erzählung ein Charakteristikum des verfremdenden Blicks. Sergej konzentriert sich auf die geometrischen Muster, die das Licht den Dingen aufprägt, und auf zufällige Figuren, die allein im ‚Scharfsehen‘ sichtbar werden: Двери отворялись плохо, и в доме было полутемно, как вечером. Окна были забиты снаружи щитами, и солнечный свет, пробиваясь в щели, четко отделял одну доску щита от другой и так же аккуратно разлиновал пол. (99) Die Türen ließen sich schlecht öffnen, im Haus war es dämmrig, als wäre es Abend. Die Fenster waren von außen mit Brettern zugenagelt, und das Sonnenlicht, das durch die Ritzen einfiel, trennte deutlich ein Brett vom andern und warf genau so präzise ein Linienmuster auf den Fußboden. (363) Низкое солнце осветило их сбоку. Длинные косые тени балясин устраивали свою геометрию на полу. (124) Die niedrige Sonne beleuchtete sie von der Seite. Die langen schrägen Schatten des Geländers warfen ihre Geometrie auf den Fußboden. (406)
146 | Motivierung der Verfahren То ли все, как Сергей, увидели пушинку глазами детства, то ли сын передал свой взгляд на вещи, но все увлеклись необычайно. Пушинка резко взлетала и медленно падала, то сливаясь и исчезая, то становясь зримой, чем обозначала какую-то невидимую в воздухе чересполосицу света и тени. (126) Ob nun alle, wie Sergej, dies Fläumchen mit Kinderaugen verfolgten, oder der Sohn seinen Blick auf sie übertrug, alle waren jedenfalls ungewöhnlich fasziniert. Das Fläumchen stieg scharf in die Höhe und fiel langsam, einmal unsichtbar, dann wieder sichtbar, womit es eine dem Auge nicht erkennbare Streuung von Licht und Schatten in der Luft andeutete. (409) Сергей […] вдруг увидел все со стороны. Сын при этом видении остался в том же значении. Остальные, взрослые, казалось бы, люди, сидели с полураскрытыми ртами и расплывчатыми улыбками; их взгляды пересекались, соединяясь где-то в центре комнаты в почти невидимой и подвижной точке […] (126) Sergej […] sah nun alles von außen. Der Sohn behielt in dieser Sichtweise seine Bedeutung. Die übrigen, erwachsene Menschen, sollte man meinen, saßen mit halbgeöffneten Mündern und mit unsicherem Lächeln; ihre Blicke überschnitten sich, trafen sich in der Mitte des Zimmers an einem fast unsichtbaren und beweglichen Punkt […] (410; Ü. rev.)
Die Beispiele zeigen, wie das Leben in der physischen und psychischen Ausnahmesituation die Sensibilität auch für die Wahrnehmung flüchtiger, nur Bruchteile einer Sekunde währender Konstellationen steigert. Ein Beispiel für die Neukontextierung ganz heterogener Objekte in ephemeren geometrischen Figuren finden wir auf dem Höhepunkt der von den Bewusstseinshandlungen des Helden gebildeten Geschichte. Sergej vereinigt hier so unterschiedlichen Gegenstände wie die Wiese, den Jungen, der Blumen pflückt, eine weidende Kuh mit ihrem Kalb, einen im Hintergrund vorbeifahrenden Zug, den Sohn und schließlich sich selbst in der nur für einen Augenblick bestehenden Figur der Achse: […] все это на какое-то длящееся мгновение, совпав на одной прямой, образовало как бы ось, и в этом была словно бы самая большая правда из всех, что он с упорством искал или находил. Симметрия, казалось бы, случайная, при которой сын тянул руку в направлении поезда, и корова жевала, стоя головой в противоположную сторону, чем шел поезд, и луг, и мальчик, гладивший луг, и поезд в конце концов, и все это как бы на одной оси, совпавшей с взглядом и ветром, объединенное куполом неба, как легатой, и замкнувшееся в нем, Сергее, и как будто бесконечное продолжение оси за видимые пределы — ощущение этой симметрии было из чувств самых счастливых. (121) […] all dies bildete für einen kurzen Augenblick, der mit einer einzigen Geraden zusammenfiеl, gleichsam eine Achse, und darin lag eigentlich die höchste Wahrheit all dessen, was er mit solcher Beharrlichkeit gesucht oder gefunden hatte. Die Symmetrie war, wie es schien, eine zufällige: der Sohn streckte das Händchen in Richtung des Zuges aus, die Kuh
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kaute, mit dem Kopf in entgegengesetzter Richtung zum Zug stehend, und die Wiese und der Junge, der die Wiese streichelte, und der Zug ganz hinten, all dies befand sich gleichsam auf einer Achse, die mit dem Blick und dem Wind zusammenfiel, war vereinigt durch die Himmelskuppel und schloss ihn, Sergej, in sich ein und war wie eine endlose Fortsetzung der Achse über die sichtbaren Grenzen hinaus – die Empfindung dieser Symmetrie war eine der glücklichsten. (401; Ü. rev.)
Die Symmetrie, die nicht als bewusstseinsunabhängige Ordnung der Dinge vorgefunden wird, die vielmehr allererst durch Blick und Bewusstsein auf die Dinge projiziert wird, verschafft dem Betrachter nie gekannte Glücksgefühle. Er entdeckt sich selbst und seine seelische Harmonie in der Objektwelt manifestiert: Жизнь его, взорвавшаяся, разбрызганная, как бы разлилась и наполнила все содержанием и жизнями. Он чувствовал себя богом, нигде и во всем, обнимавшим и пронизывающим мир. (121) Sein Leben, zerstreut und zerstückelt, war gleichsam über die Ufer getreten und füllte alles mit Inhalt und Existenzen. Er fühlte sich als Gott, nirgendwo und in allem, die Welt umarmend und die Welt durchdringend. (401–402; Ü. rev.)
Achse und Symmetrie symbolisieren auch ikonisch das Prinzip, das die Auswahl der auf neue Weise zu sehenden Gegenstände leitet. So wird von den Personen nicht etwa die Ehefrau verfremdet betrachtet (sie bleibt ganz an der Peripherie, unkonkret, fast unsichtbar), sondern Sergejs Vater. Es bildet sich somit die symmetrisch geordnete Achse der Generationen: Vater – Sergej – Sohn. Während der Autofahrt in die Stadt betrachtet Sergej seinen Vater zum ersten Mal ohne den Schleier der Gewohnheit, und ihn überkommt das sonst nicht gekannte Gefühl der Ähnlichkeit mit dem alt gewordenen Mann. Auf die ihn sonst entnervenden Worte des Vaters reagiert er, ganz gegen seine Gewohnheit, mit Nachsicht, Geduld und Verständnis. Er hilft dem Vater über Peinlichkeiten hinweg und begreift mit einem Mal seine psychischen Motive, die er bislang verkannt hat. Hinter der unpassenden Äußerungsweise des Vaters entdeckt er verschämte Liebe. Die Einsicht in den Mechanismus des Gesprächs führt Sergej zu Reflexionen, Generalisierungen und moralischen Entschlüssen, so zu der Bereitschaft, dem Vater zu verzeihen. In seiner Fibel des Verfremdens lehrt Bitov hier die ethische Wirkung des ‚Scharfsehens‘. Das neue Sehen und Bewerten befähigt zur Revision des alltäglichen Verkennens, zur Desautomatisierung gewohnheitsmäßiger Verhaltensmuster, zum Durchbrechen des circulus vitiosus der Kommunikation, der über falsch verstandene Aktion und missverständliche Reaktion in latenter oder offener Feindseligkeit endet.
148 | Motivierung der Verfahren Auch sich selbst sieht Sergej in einem neuen Licht. Das ‚Scharfsehen‘ mündet ein in ein neues Selbstverständnis, das die Bedeutung der eigenen Person und des Schreibens relativiert. Schließlich werden auch die ästhetischen Normen Gegenstand einer Re-Vision. Bei der Autofahrt in die Stadt – der Wind hat den Horizont leergefegt, die Natur erscheint in nie gesehener Klarheit – empfindet Sergej eine merkwürdig zärtliche Vertrautheit mit der kahlen, öden Landschaft, die dem Blick keinen Punkt bietet, an dem stehenzubleiben sich lohnte. Zwischen Sergej und der Ödnis stellt sich – in der Form eines Fadens, an dem zwei Waagschalen hängen – die unsichtbare Verbindung der Aisthesis her. Das vom Wind zerzauste Gras, die rostbraune Pfütze darin, die einsame knorrige Kiefer, der langsame, kaum merkliche Übergang der Farbschattierungen von Grün, Blau, Grau, die blasse Ödnis rufen in Sergej unbekannte Schönheitsempfindungen hervor: Именно эта прохладная красота казалась ему теперь самой подлинной. И еще недавно так не было, подумал он, еще недавно я мог сказать: какое скучное место! (113) Gerade diese kühle Schönheit schien ihm nun die echteste. Noch vor kurzem war dem nicht so gewesen, dachte er, noch vor kurzem hatte ich sagen können: was für ein langweiliger Ort! (387; Ü. rev.)
Das neue Konzept der Schönheit, das sie der Authentizität gleichsetzt und für ihre Rezeption Erfahrung voraussetzt, verdrängt die konventionellen ästhetischen Ideale: На яркую красоту, подумал Сергей, на то как раз, что обычно подразумевают под красотой, нужно мало опыта и много сил, чтобы воспринимать ее. Он вспомнил резкие цвета юга, так восхищавшие его в свое время — они показались ему неживыми, неподлинными, как бумажные цветы. (113) Für die auffallende Schönheit, überlegte Sergej, gerade für das, was man gewöhnlich unter Schönheit versteht, bedarf es wenig Erfahrung, aber viel Kraft, um sie aufzunehmen. Er erinnerte sich an die grellen Farben des Südens, die ihn seinerzeit so begeistert hatten – sie schienen ihm jetzt leblos, unecht, wie Papierblumen. (387–388; Ü. rev.)
Datscha-Leben, Wind und Blick des Kindes zeichnen sich als die drei ausschlaggebenden Motivierungen für die verfremdende Beschreibung ab. Die drei Faktoren kann man aber auch als Bedingungen oder Begründungen für die Wahrnehmungsweise des Helden betrachten und somit als Teile seiner Motivation, die Welt auf neue Weise wahrzunehmen. In diesen drei genannten Faktoren berührt sich die figurale Begründung (Motivation) eng mit der auktorialen (Motivierung). Ähnlich wie Dostoevskij im Fall von Schuld und Sühne benutzt der Autor die Motivation des Helden, um seinem Werk eine überzeugende Motivierung zu geben.
9 Realistische und mythische Motivierung in der Moderne 9.1 Re-mythisierender Postrealismus Die Begründung der erzählten Handlung wird problematisch, wenn in der narrativen Welt unterschiedliche ontologische Modelle miteinander konkurrieren. Wir haben an E. T. A. Hoffmanns Sandmann die für romantische Zwei-Welten-Narrationen charakteristische Oszillation zwischen natürlicher und übernatürlicher Motivierung beobachtet. In Puškins Pique Dame war zu sehen, wie das Schwanken zwischen den Ontologien den aleatorischen Binarismus des Pharo-Spiels abbildete. Auf etwas andere Weise stellt sich der Dualismus der Ontologien in den Erzählwerken der postrealistischen Moderne dar, in denen die Geschehnisse und das Handeln der Figuren sowohl realistisch als auch mythisch begründet sind. Besonders reich ist die Partizipation des Mythischen an der Erzählliteratur der russischen Moderne und Avantgarde, die sich generell durch Tendenzen der Remythisierung auszeichnet. 1 Die Dominanz dieser Tendenzen in Russland mag durch das Erleben der Revolution bedingt sind, die in der russischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre als elementar-mythischer Regress erfahren wurde. Das Regressive der modernistischen russischen Prosa findet seinen textuellen Ausdruck in der sogenannten „Ornamentalisierung“ (Schmid 2014b). Der problematische, aber nun allgemein akzeptierte Terminus ornamentale Prosa suggeriert, dass es sich um ein Phänomen rein stilistischer Natur handelt. Der Ornamentalismus der Moderne ist indes kein Stil-, sondern ein Strukturprinzip, das sich gleichermaßen im Erzähldiskurs wie in der erzählten Geschichte manifestiert. Und seine Wurzeln hat dieses Phänomen, das sich nicht in rein textuellen Arrangements erschöpft, tief in der Mentalität der Epoche, in jener eigentümlichen Weltwahrnehmungsweise der Moderne, die man mit dem Begriff des „mythischen Denkens“ (Cassirer 1925) umschreibt. Cassirers Konzept des mythischen Denkens ist, wie Jensen (1987, 293) konstatiert, „ein philosophisches Analogon zur ästhetischen Archaik der Moderne“.2 Der Zusammenhang zwischen der ornamentalen Prosa, der poetischen Struktur, dem mythischen Denken und der Logik ||
1 Zur Mentalität des russischen Postrealismus und seinen neoprimitivistischen Tendenzen vgl. grundlegend Hansen-Löve 2016. 2 Zu den Phänomenen des neo-mythischen Denkens in der Moderne vgl. den Sammelband Mythos in der slawischen Moderne (Schmid Hg. 1987).
https://doi.org/10.1515/9783110691030-009
150 | Hybride Motivierung in der Moderne des Unbewussten, ein Zusammenhang, der dem Selbstverständnis der Epoche entspricht und in verschiedenen Kulturbereichen (Poesie, Poetik, Philosophie, Psychologie) mannigfach artikuliert wurde, sei in den folgenden Punkten dargelegt.3 1. Die Werte des Realismus waren mimetische Repräsentativität der dargestellten Welt, psychologische Wahrscheinlichkeit der Handlungen und Ereignishaftigkeit der Fiktion, d. h. Handlungsfähigkeit des Menschen und Veränderbarkeit der Welt. Die Moderne verwirft das Wirklichkeitsmodell des Realismus als rationalistische Reduktion. Im Laufe ihrer Entwicklung richtet sich ihre Kritik auf zwei unterschiedliche Aspekte dieser Reduktion. In ihrer frühen Phase, im Symbolismus, kritisiert sie die Leugnung des Überrationalen, die Beschränkung auf das dem rationalen Subjekt zur Verfügung stehende empirische Wissen und Verstehen. In der Avantgarde dagegen ist es die Unterschätzung des Vorrationalen, des Intuitiven und Leiblichen, des elementar Triebhaften, die der Kritik anheimfällt. Sowohl die frühe als auch die späte Moderne destruieren das realistische Wirklichkeitsmodell im Rückgriff auf den Mythos. An diesem aber aktualisieren sie – der Richtung ihrer Kritik entsprechend – unterschiedliche Seiten. Während sich der idealistische Symbolismus vor allem für die Transzendenz des Mythos interessiert, für die Partizipation des Irdischen am Göttlichen, rezipiert die sich ganz mit dem Diesseits begnügende Avantgarde am Mythos vor allem die archaische Existenz des primitiven Menschen, der vom Körper, seinen elementaren Empfindungen und Trieben bestimmt wird und sich noch nicht als ein seiner selbst bewusstes Subjekt von der Welt der Objekte abzugrenzen gelernt hat (vgl. Al’tergot 2018). Für beide Phasen realismuskritischer Kultur gilt, dass sich die Remythisierung weniger in der Wahl mythologischer Stoffe und Figuren zeigt als in einer strukturellen Realisierung des mythischen Denkens. 2. Dank seiner poetischen Faktur ist der ornamentale Text ein künstlerisches Ikon des Mythos. Grundlegendes Merkmal, das die ornamentale Prosa mit dem mythischen Denken homolog macht, ist die Tendenz zum Abbau der für den Realismus gültigen Nicht-Motiviertheit des Zeichens. Das Wort, das in der realistischen Sprachauffassung ein nur durch Konvention festgelegtes, grundsätzlich arbiträres Symbol war, wird tendenziell zum Ikon, zum Abbild seiner Bedeutung. Die Ikonizität, die die Poesie der von ihr transformierten Prosa vermittelt, korrespon||
3 Ausführlicher zum Zusammenhang von Ornamentalismus, poetischer Struktur und mythischem Denken vgl. die „einleitenden Thesen“ in: Schmid 1992b, 15–28. In Folgendem wird in verkürzter Form der für unseren Zusammenhang relevante Teil der dort vorgetragenen 18 Thesen wiedergegeben.
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diert mit dem Gesetz des magischen Sprechens im Mythos. Dort tritt zwischen Namen und Ding keinerlei vermittelnde Konvention, im Grunde nicht einmal ein Verweisungs- oder Repräsentationsverhältnis. Der Name bedeutet das Ding nicht, er ist das Ding. Die „Trennung des Ideellen vom Reellen“, die „Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung“, der „Gegensatz von ‚Bild‘ und ‚Sache‘“ ist dem mythischen Denken – wie Ernst Cassirer (1925, 51) ausführt – zutiefst fremd: „Wo wir ein Verhältnis der bloßen ‚Repräsentation‘ sehen, da besteht für den Mythos […] vielmehr ein Verhältnis realer Identität“. 3. Der Iterativität des mythischen Weltbildes entspricht in der ornamentalen Prosa die Wiederholung sowohl klanglicher als auch thematischer Motive. Als Wiederholung ganzer Motive zeitigt sie die Leitmotivik, als Wiederholung einzelner Merkmale die Äquivalenz. Leitmotivik und Äquivalenz überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Diskurses, wo sie zu Rhythmisierung und Klangwiederholung führen, als auch die thematische Sukzession der Geschichte, auf deren temporal-kausale Folge sie ein Netz unzeitlicher Verklammerungen legen (Schmid 2014c). 4. Leitmotivik und Äquivalenz begegnen durchaus schon in der Prosa des Realismus und können auch in klassisch sujetbildender Narration wesentlich zum Bedeutungsaufbau beitragen. Von der realistischen Prosa unterscheidet sich die ornamentale nicht in erster Linie durch höhere Frequenz der Iterationsverfahren und auch nicht nur durch eine höhere Stelle dieser Verfahren in der Hierarchie der Konstruktion, sondern hauptsächlich durch ihre tiefere Durchdringung der Struktur, durch die simultane Partizipation von Geschichte und Diskurs. Im realistischen Erzählen erschienen Leitmotivik und Äquivalenz in der Regel nur an thematischen Motiven der Geschichte, die ornamentale Prosa tendiert dagegen dazu, die Ordnungen der Geschichte auch im Diskurs abzubilden, in seinen semantischen, lexikalischen und formalen (positionellen, grammatischen usw.) Ordnungen. 5. Die ornamentale Prosa ist nicht nur in der Weise ihrer Welterfassung dem mythischen Denken vergleichbar, sie hat auch eine natürliche Affinität zur Darstellung einer Welt, in der, mögen aus neuzeitlicher Perspektive auch nur elementare, chaotische Kräfte walten, die zyklisch-paradigmatische Ordnung des Archaisch-Mythischen herrscht. Das mythische Denken setzt sich also auch im mentalitätsgeschichtlichen Charakter der dargestellten Welt durch. Mythische Iteration schwächt oder annulliert natürlich den Sujetcharakter des Erzählten. Und so erweist sich in moderner Prosa manche Handlungsfolge, die zunächst als ereignishafte, d. h. eine wesentliche, resultative Veränderung herbeiführende Geschich-
152 | Hybride Motivierung in der Moderne te erscheint, bei näherem Hinsehen als Ausschnitt einer zyklischen Wiederholung. Auch die Figuren werden von der Remythisierung erfasst. Wo wir in realistischer Einstellung das Handeln autonomer Subjekte zu erblicken glauben, das Veränderung und Entwicklung zeitigt, haben wir es oft mit mythischen Imitationen, Identifikationen und Iterationen zu tun. Die Moderne tendiert ja in ihrer postrealistischen Skepsis überhaupt dazu, die Autarkie und Resultativität menschlichen Handelns durch den Bezug auf mythische Archetypen und Ordnungen zu relativieren. 6. Die Re-Mythisierung kann auch als latente Psychologisierung verstanden werden. Der reaktualisierte Mythos mit seiner a-rationalen, assoziativen, paradigmatischen Logik deckt isomorphe Strukturen der Psyche auf. Dies scheint einer der wesentlichen mentalitätsgeschichtlichen Gründe für die modernistische Re-Mythisierung zu sein. Dem rationalen Realismus, der seine Helden in der Helligkeit des Ich- und Tagesbewusstseins ereignisbildend agieren ließ, stellt die Moderne als gültigere Modellierung jenes iterative, zyklusbildende Handeln entgegen, das vom Es, vom dunklen, archaischen Nachtbewusstsein gelenkt ist. Poesie, Mythos und Unbewusstes, die drei paradigmatisierenden, die Welt als Netz von Assoziationen erfassenden Anschauungsformen, werden der Moderne zu urverwandten Medien der Weltgestaltung, mit denen sie die von ihr beobachteten Illusionen des Realismus zu überwinden trachtet.
9.2 Evgenij Zamjatins Erzählung Die Überschwemmung 9.2.1 Zwei-Welten-Narrationen und „integrale Bilder“ Eine herausragende, wirkungsmächtige Gestalt der russischen Avantgarde war Evgenij Zamjatin (1884–1937). Seine tiefgreifende Ornamentalisierung der Narration wirkte stark auf die jüngere Generation, insbesondere auf die stilorientierten Mitglieder der literarischen Gruppe der Serapionsbrüder (vgl. Holthusen 1978, 108–116). In den kurz nach der Revolution verfassten Erzählungen befinden sich die Protagonisten in archaischen oder künftigen Welten, die mit dem Schauplatz St. Petersburg verbunden sind. Es herrscht hier eine Zwei-Welten-Ontologie. Wo vor Jahrhunderten Petersburg war, leben die Menschen zwischen Felsen und Gletschern in ihren Höhlen. Jede Nacht müssen sie auf der Flucht vor dem Mammut ihre Feuer von Höhle zu Höhle tragen, immer tiefer, und immer mehr müssen sie sich zum Schutz gegen die eisige Kälte mit zottigen Tierfellen umhüllen: Die Höhle (Peščera, 1920). Eine andere Metamorphose Petersburgs präsentiert die Er-
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zählung Mamaj (1920), deren Titel auf die Zeit der Tatarenherrschaft anspielt: Es gibt in Petersburg keine Häuser mehr, nur noch sechsstöckige Schiffe aus Stein, die auf steinernen Wellen zwischen anderen einsamen sechsstöckigen Weiten schwimmen. Der Drache, der in der gleichnamigen Erzählung (Drakon, 1928) aus dem nebelig-eisigen Petersburg mit seinen roten Pfoten ein Spatzenjunges rettet, erweist sich als ein Rotgardist in einer Straßenbahn, die mit den Zähnen knirschend aus der menschlichen Welt ins Unbekannte fährt. Nicht weniger charakteristisch für den Neomythologismus der Avantgarde ist die späte, 1929 geschriebene und 1930 als letztes Werk Zamjatins in der Sowjetunion erschienene Erzählung Die Überschwemmung (Navodnenie). Der Autor hat ihr einerseits einen komplexeren Gebrauch eines „integralen“ Bildes als in Mamaj und Die Höhle attestiert, andererseits aber höchste „Einfachheit“, die Überwindung aller „Kompliziertheiten“, durch die er in fünfzehn Jahren gegangen sei (Zamjatin, Zakulisy, 470, 472). Nur scheinbar tut sich hier ein Widerspruch auf. Ein „integrales“ Bild, wie es Zamjatin versteht, „gebiert ein ganzes System abgeleiteter Bilder, wächst mit seinen Wurzeln durch Absätze und Seiten hindurch“ und „breitet sich auf das ganze Werk von Anfang bis Ende aus“ (Zakulisy, 470). Mit dieser mythopoetisch-organologischen Metapher ist jenes Verfahren der Ausfaltung eines klanglichen oder thematischen Motivs beschrieben, das für das neomythische Denken ornamentaler Prosa charakteristisch ist. Das integrale Bild der Überschwemmung, das nach Zamjatins Worten „die Erzählung auf zwei Ebenen durchzieht“, als „reale Petersburger Überschwemmung“ und als die sie widerspiegelnde „Überschwemmung der Seele“, verleiht mit seinen zahlreichen Ablegern dem Werk tatsächlich eine höhere Prägnanz, als sie Zamjatin je vorher erreicht hat. Mit dem organischen Wachsen eines integralen Bildes korrespondiert in der Wahrnehmung die organische Verwurzelung des Eindrucks: „Das [vom Leser zu Ende Gesagte, zu Ende Gezeichnete wird ihm unvergleichlich fester eingeprägt, wächst organisch in ihn ein“ (Zakulisy, 470).
9.2.2 Mythische Korrespondenz von Innen und Außen Die ornamentale Organisation ist in der Überschwemmung insgesamt so gemäßigt, dass mancher Zamjatin-Spezialist, der das Autorwort von der „Einfachheit“ zu wörtlich nimmt, die Erzählung als eine realistische Narration betrachtet (so etwa Leech-Anspach 1976, 96–98; Scheffler 1984, 247–275, 251). Das Werk scheint ja auch tatsächlich zum Typus traditioneller Sujet-Texte zu gehören. Erzählt es nicht von Ereignissen, die man auf die Formel eines bekannten Prätextes, auf den
154 | Hybride Motivierung in der Moderne es in vielen Details unverkennbar anspielt, nämlich auf die Formel von Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie) gebracht hat (Collins 1973, 91–94)? […] the punishment is the mental anguish that follows the crime“ (Shane 1968, 196) Mit dem Eingeständnis ihrer Schuld […] nimmt [Sof’´ja] die Verantwortung für ihre Tat und die Sühne auf sich“ (Leech-Anspach 1976, 101; Hervorhebung in beiden Fällen von mir – W. Sch.)
Rekonstruieren wir also das Erzählte als sujethafte Geschichte, die das neuzeitliche Ereignis par excellence gestaltet, das Überschreiten einer Grenze (Lotman 1970, 282; dt. 1972, 332; dt. 1973, 350), das pre-stuplenie (‚Verbrechen‘, wörtlich: ‚Überschreiten‘, ‚Übertreten‘). Die Erzählung setzt ein mit der äußeren und inneren Befindlichkeit der Figuren: Кругом Васильевского острова далеком морем лежал мир: там была война, потом революция. А в котельной у Трофима Иваныча котел гудел все так же, манометр показывал все те же девять атмосфер. (479)4 Rings um die Vasilij-Insel lag wie ein weites Meer die Welt: dort war Krieg, dann Revolution. Aber im Kesselraum bei Trofim Ivanyč dröhnte der Kessel wie immer, das Manometer zeigte wie immer neun Atmosphären.
Trofim Ivanovičs und Sof’jas Ehe ist kinderlos geblieben. Sof’ja fürchtet von ihrem Mann, der ihr ihre Unfruchtbarkeit vorhält, verlassen zu werden. Als der Nachbar stirbt, schlägt Sof’ja vor, seine dreizehnjährige Tochter Gan’ka an Kindes Statt zu sich aufzunehmen. Trofim willigt freudig ein. Doch bald nimmt Gan’ka die Stelle der Ehefrau ein, zuerst am Tag, als Gesprächspartnerin Trofims, und dann auch in der Nacht. Trofim wendet sich ganz von Sof’ja ab und schläft bei Gan’ka in der Küche. Nach langem Dulden der immer unerträglicher werdenden Demütigung erschlägt Sof’ja die verhasste Rivalin mit dem Beil, zerhackt die Leiche und vergräbt die Teile in einer Grube auf dem Smolensker Feld. Da die anderen glauben, dass Gan’ka, die schon häufiger herumgestreunt ist, das Haus endgültig verlassen hat, bleibt die Mordtat unentdeckt. Trofim wendet sich wieder Sof’ja zu. Sie kann sich endlich ganz für ihn öffnen und empfängt das lang ersehnte Kind. Mit dem Wachsen des Kindes im Leib wächst auch die Erkenntnis der schrecklichen Tat. Nachdem sie eine Tochter zur Welt gebracht hat, erlebt
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4 Alle Zitate aus der Überschwemmung nach Zamjatin, Izbrannye proizvedenija, Moskau 1989. Die Übersetzung stammt von mir – W. Sch.
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Sof’ja im Kindbett ihre Mordtat in allen Einzelheiten noch einmal, wie zum ersten Mal. Jetzt ist sie fähig, sich als Mörderin zu bekennen. Wer die Handlung von Zamjatins Erzählung so wiedergibt, steht freilich noch ganz im Bann des realistischen Romans. Gerade aber vor dem Hintergrund von Dostoevskijs Schuld und Sühne, einer Apotheose des seine Schuld erkennenden und bekennenden Sünders, sind Sof’jas Motivation zum Töten und die Motivierung der Erzählung, die wir realistisch rekonstruiert haben, kategorial in Frage zu stellen. In Folgendem sei deshalb ausgeführt, wie das lineare realistische Sujet-Substrat von Schuld und Sühne durch mythische Überformung destruiert wird.5 Sof’ja handelt zielstrebig und umsichtig, aber unbewusst. Ihre Beweggründe kommen nicht aus dem Kopf, sondern steigen buchstäblich aus dem Bauch auf. Die Mordtat wird ausgelöst vom heißen, süßlichen Schweißgeruch Gan’kas, den die Nebenbuhlerin – wie sich Sof’ja vorstellt – auch in der Nacht abgibt: И как только Софья вдохнула в себя этот запах, снизу, от живота, поднялось в ней, перехлестнуло через сердце, затопило всю. (489) Und sobald Sof’ja diesen Geruch in sich einzog, stieg es von unten, aus dem Bauch, in ihr auf, floss es über den Rand des Herzens und überschwemmte sie ganz.
Sof’ja handelt im Einklang mit den Zyklen der Natur, der Tages- und Jahreszeiten. Wenn in der herbstlichen Neva das Wasser steigt, dann steigt in Sof’ja das Blut auf, das – wie sie wahrnimmt – mit dem Fluss wie durch unterirdische Adern verbunden ist. Wie hat man dieses Bild kommunizierender Röhren zu verstehen? Der Erzähler benutzt nicht einfach ein narratoriales Bild, das ihm die Außenwelt liefert, um die psychophysische Befindlichkeit seiner Heldin symbolisch auszudrücken. Es handelt sich auch nicht um eine figural konstituierte Metapher, die einen inneren Zustand nach außen projiziert. Der Parallelismus von Innen und Außen, der in vielen Details wiederkehrt, zeigt vielmehr einen mentalitätsgeschichtlichen Zustand, in dem die Scheidung von Subjekt und Objekt noch gar nicht vollzogen ist. Mensch und Natur, Innen und Außen reagieren hier in gleicher Weise nicht aufgrund von Kausalität, von wechselseitigem Einfluss, sondern aufgrund von simultaner Partizipation an übergreifenden Ordnungen. Im mythischen Denken werden Teile eines Ganzen dank gemeinsamer Partizipation miteinander identifizierbar. Erscheinungen, die für das neuzeitliche, „mentale“ Denken unterschiedlichen Bereichen angehören und auch nicht in kausalen Zusammenhängen stehen, bilden in der mythischen Vorstellung kraft ihrer bloßen ||
5 Hier nehme ich Teile des Aufsatzes Schmid 1987 auf.
156 | Hybride Motivierung in der Moderne Ähnlichkeit oder ihres gleichzeitigen Vorkommens eine wesensmäßige Einheit. In Überschwemmung wird die mythische Einheit von Mensch und Natur immer wieder dadurch beschworen, dass die Grenze zwischen Innen und Außen für die Transition von Gegenständen und Vorgängen durchlässig wird. Solche Überschreitung der Grenze zwischen Innen und Außen, d. h. die simultane Partizipation von Erscheinungen an der inneren wie an der äußeren Welt – eine Doppelexistenz, die die neuzeitliche Scheidung von Subjekt und Objekt rückgängig macht – wird in der Erzählung an unterschiedlichen Themen durchgespielt. Vor der Entdeckung des Ehebruchs hört die argwöhnisch lauschende Ehefrau: die Uhr tickt an der Wand und innen in Sof’ja selbst und überall. Sof’jas Lage wird immer unerträglicher. Sie spürt, dass die grauen, städtischen, niedrigen, steinernen Wolken die sie an die schwülen Gewitterwolken erinnern, die sich während des ganzen Sommers kein einziges Mal entladen haben, dass diese Wolken „nicht hinter dem Fenster waren, sondern in ihr selbst, in ihrem Innern, dass sie sich schon ganze Monate steinern aufeinandergetürmt haben“ („эти тучи не за окном, а в ней самой, внутри, они каменно наваливались одна на другую уже целые месяцы“, 488–489). Mit den Schüssen der Kanone, die vor dem Hochwasser warnen, korrespondiert das Schlagen des Herzens: „Das Fenster zitterte, als ob von außen ein Herz gegen es schlüge“ („Окно вздрогнуло, будто снаружи в него тукнуло сердце“, 489). Zu der Tat wird Sof’ja „getragen“ („ее несло“), wie während der Überschwemmung vom Wasser das Holz getragen wird, und, erfasst von einer Welle, hebt Sof’ja, ohne nachzudenken, das Beil vom Boden auf, „sie weiß selbst nicht wozu“ („она сама не знала зачем“). Noch einmal schlägt das „gewaltige Kanonenherz“ („огромное пушечное сердце“) gegen das Fenster. Die mythische Korrespondenz zwischen Innen und Außen vereinigt sogar Mörderin und Opfer, die durch ein System von Blutgefäßen miteinander verbunden sind: Das Blut der erschlagenen Rivalin ergießt sich in den Raum. Und als käme dieses Blut – aus ihr, aus Sof’ja, als wäre in ihr endlich ein Geschwür aufgebrochen, floss es von dort, tropfte es, und mit jedem Tropfen wurde ihr leichter. Man klopft an die Tür, von den Schlägen erzittert der Haken. Sof’ja spürt: der Haken ist jetzt ein Teil ihrer selbst. Sof’ja verbrennt den Unrat, der Spuren der Tat trägt: „alles verbrannte, jetzt war es im Raum völlig rein. Und ebenso verbrannte der ganze Unrat in Sof’ja, auch in ihr wurde es rein und ruhig“ („все сгорело, теперь в комнате было совсем чисто. И так же сгорел весь мусор в Софье, в ней тоже стало чисто и тихо“, 491).
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Im Kindbettfieber sieht Sof’ja, wie Trofim Ivanyč in der Ferne, wie an einem anderen Ufer, in der Dunkelheit des dichten Regens eine Lampe anzündet, winzig klein, wie eine Stecknadel. Im Schlaf spürt Sof’ja die ganze Zeit die Lampe: winzig klein, wie eine Stecknadel, sie brennt jetzt schon irgendwo im Innern, im Bauch. Wichtigstes Motiv – neben der Überschwemmung –, an dem sich die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Innen und Außen erweist, ist die Grube. Zunächst „leere, wer weiß wofür ausgehobene Grube“ („пустая, неизвестно для чего вырытая яма“, 479), die Trofim in der verlassenen Werkstatt mit den leer schlagenden Treibriemen und dann in der nächtlichen Begegnung mit Sof’ja vorfindet, wo es wieder nicht das Wahre ist, wird sie zur ungefüllten Höhlung in Sof’jas Leib, um sich schließlich in jene Grube auf dem Smolensker Feld zu verwandeln, die Sof’ja aushebt, um in ihr die zerstückelte Leiche Gan’kas zu vergraben.
9.2.3 Der fruchtbare Mord Die Mordtat ist nicht oder nicht nur Verbrechen, pre-stuplenie, Überschreiten einer ethischen Grenze, als welche sie dem Realisten erschien. Sie ist zumindest auch der Vollzug einer geforderten Handlung, die die Weltordnung bestätigt: sie bringt Sof’ja ihren Ehemann zurück und macht ihren Schoß fruchtbar. Indem die Mörderin ihr zerstückeltes Opfer in der Grube auf dem Smolensker Feld vergräbt, füllt sie die leere Grube ihres eigenen Leibes: „ihr ganzer Körper lächelte, er war bis zum Rand gefüllt“ („все тело у нее улыбалось, оно было полно до краев“, 495). Zwischen der Vernichtung von Leben und der Entstehung neuen Lebens besteht also ein unmittelbarer mythischer Zusammenhang. Er wird im Text ganz explizit ausgedrückt: Живот был круглый, это была земля. В земле, глубоко, никому не видная лежала Ганька, и в земле, никому не видные, рылись белыми корешками зерна. (495) Der Bauch war rund, er war die Erde. In der Erde, tief, niemandem sichtbar, lag Gan’ka, und in der Erde, niemandem sichtbar, drängten mit ihren kleinen weißen Wurzeln die Samenkörner empor.
Sof’jas Leibesfrucht ist die wiedergeborene Gan’ka. Deshalb weiß Sof’ja zur Verwunderung der Nachbarin, die ihr Hebammendienste leistet, dass sie ein Mädchen geboren hat, bevor sie des Kindes überhaupt ansichtig geworden ist. Für den mythischen Zusammenhang der Handlungen ist auch folgendes bezeichnend: Die Geburt wird ausgelöst durch Trofims Erzählung vom tödlichen
158 | Hybride Motivierung in der Moderne Unfall des Schmierers am Schwungrad, und sie wird von Sof’ja als Sterben durch Ausbluten erlebt, als Sterben, das den Tod des Schmierers wiederholt: […] Трофим Иваныч рассказал, что вера у них маховником зацепило смазчика и долго вертело […] Софья протирала тряпкой стекла и думала про смазчика, про смерть, и показалось, что это будет совсем просто — вот как заходит солнце, и темно, а потом опять день. Она встала на лавку […] и тут ее подхватил маховик […] все вертелось, все неслось мимо […] Потом все с размаху остановилось, тишина стояла, как пруд, Софья чувствовала – из нее льется, льется кровь. Должно быть, тал же было со смазчиком, когда его сняли с маховика. (496–497) […] Trofim Ivanyč erzählte, dass gestern bei ihnen im Betrieb das Schwungrad einen Schmierer erfasst und lange mit sich gedreht habe […] Sof’ja wischte mit einem Lappen die Fensterscheiben und dachte an den Schmierer, an den Tod, und es schien ihr, als werde das ganz einfach sein – genauso wie die Sonne untergeht, und dann ist es dunkel und danach wieder Tag. Sie stellte sich auf die Fensterbank […] und da ergriff sie das Schwungrad […] alles drehte sich, alles flog vorbei […] Dann blieb alles mit einem Ruck stehen, die Stille stand wie ein Teich, Sof’ja spürte: aus ihr floss es, floss Blut. Genauso musste es mit dem Schmierer gewesen sein, als sie ihn vom Schwungrad herabnahmen.
Tod und Geburt, deren zweifache Koinzidenz der Realist nur als Zufall auffassen kann, sind hier durch unbewusste mythische Logik verknüpft. Und so wird der Mord an Gan’ka geradezu die Bedingung für Sof’jas Mutterglück, um dessentwillen „sie ihr ganzes Leben gelebt hat“, um dessentwillen „alles war“ („ради этой одной минуты она жила всю жизнь, ради этого было все“, 497).
9.2.4 Mythische Prädetermination Sof’jas Handeln, das nicht nur – auf der realistischen Ebene – Übertreten, sondern auch – auf der Ebene des mythischen Denkens – Erfüllung des Lebensgesetzes bedeutet, ist von Anfang an determiniert. Lange bevor Gan’ka in die Erzählung eintritt, hat Sof’jas Traum die Mordtat in wichtigen Motiven vorweggenommen: Ночью — должно быть, уже под утро, — дверь раскрылась, с размаху грохнула в бочку, и Софья выбежала на улицу. Она знала, что конец, что назад уже нельзя. Громко, навзрыд плача, она побежала к Смоленскому полю, там в темноте кто-то зажигал спички. Она споткнулась, упала — руками прямо в мокрое. Стало светло, она увидела, что руки у нее в крови. (480) Nachts, es musste schon gegen Morgen sein, öffnete sich die Tür und krachte mit Wucht gegen das Fass, Sof’ja lief auf die Straße. Sie wusste, dass das das Ende war, dass sie nicht mehr zurückkonnte. Laut schluchzend lief sie zum Smolensker Feld, dort zündete in der
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Dunkelheit jemand Streichhölzer an. Sie stolperte und fiel mit den Händen direkt in etwas Feuchtes. Es wurde hell, sie sah, dass ihre Hände voller Blut waren.
Das ist zwar, wie Sof’ja nach dem Erwachen feststellt, ihr gewöhnliches, weibliches Blut. Aber unbewusst versteht sie sofort die mythische Logik: damit es dieses Blut nicht mehr gibt, muss sie fremdes Blut vergießen. So wird verständlich, dass die reale Szene auf dem Smolensker Feld, in der Sof’ja die zerstückelte Leiche vergräbt, mit nahezu wörtlicher Wiederholung zentrale Motive des Traums aufnimmt : Софья спотыкалась. Она упала, ткнулась рукой во что-то мокрое и так шла потом с мокрой рукой, боялась ее вытереть. Далеко, должно быть на взморье, загорался и потухал огонек, а может быть, это было совсем близко — кто-нибудь закуривал папиросу на ветру. (490) Sof’ja ging stolpernd. Sie fiel und stieß mit der Hand in etwas Feuchtes, und so ging sie dann mit der feuchten Hand, sie fürchtete sich, sie abzuwischen. In der Ferne, wahrscheinlich am Meeresufer, leuchtete immer wieder ein kleines Licht auf und erlosch, vielleicht war das aber auch ganz in der Nähe – vielleicht versuchte sich jemand im Wind eine Zigarette anzuzünden.
Eines der hier wiederholten Motive des Traums, das zunächst rätselhaft erscheinen muss, zeigt sein ganzes Bedeutungspotential, wenn wir es im Netz seiner thematischen Verkettungen aufsuchen: Das im Traum erblickte Licht des Streichholzes, das in der Dunkelheit aufleuchtet, weist einerseits voraus auf den „einsamen Stern am leeren Himmel“ („одинокая звезда в пустом небе“, 481), den „Frühlingsstern, scharf wie eine Nadelspitze“ („острая, как кончик иглы, весенняя звезда“) und anderseits auf die „wie eine Stecknadel winzig kleine Lampe“ („лампа была крошечная, как булавка“, 497), die, in Sof’jas Fiebervision nach der Geburt von Trofim Ivanovič entzündet, zugleich in ihr selbst, im Bauch, ganz unten brennt. Über die „Nadel“ und die „Stecknadel“ ist mit diesen kleinen Lichtquellen das Motiv des Schmerzes verbunden. Expliziert wird diese Verbindung, als Sof’ja, den Schmerz der Scham und des Mitleids mit Gan’ka empfindend, den sterbenden Vater des Mädchens besucht: „Mit einem irgendwo, wie das Ende einer abgebrochenen Nadel, sitzenden Schmerz trat Sof’ja bei dem Tischler ein“ („С засевшей где-то, как конец сломанной иглы, болью — Софья вошла к столяру“). Der Schmerz, das ist zu Beginn der Erzählung der stechende Schmerz der Leere, der Schmerz, den die Nadel im Bauch hervorruft, im Bauch, der leer ist wie der von dem einsamen, wehmütigen Stern durchbohrte Himmel. Dieser Schmerz ist hervorgerufen von dem, wie es Sof’ja zunächst scheint, vergeblichen Wunsch ihres Mannes, dass sich ihr Bauch fülle. Am Ende
160 | Hybride Motivierung in der Moderne der Erzählung ist der Schmerz der brennende Schmerz, der nach der Geburt des Kindes die Geburt des Geständnisses ankündigt. Die im Traum enthaltenen Vorausdeutungen zeigen an: Sof’jas Handeln ist bereits festgelegt, bevor es überhaupt durch die Eifersucht realistisch-psychologisch motiviert wird und sogar bevor das Opfer der Tat in das Blickfeld der Erzählung tritt. Nicht also bringt – den psychologischen Motivierungsregeln des Realismus entsprechend – erst die Eifersucht auf das junge Mädchen den Mordgedanken hervor. Die Mordtat, vom Leben zu seiner Erhaltung gefordert, steht vielmehr von vorneherein fest und sucht sich lediglich ihr Objekt und ihre Begründung. Mit dem Töten und Gebären – dem Töten des Kindes und dem zweifachen Gebären: des Kindes und des Geständnisses – ist Sof’ja eine mythische Aufgabe gestellt, die sie zu erfüllen sich beeilt bevor die immer kürzer werdenden Tage ein letztes Mal wie ein Lichtstummel aufflammen und es dunkel wird und das Ende von allem eintritt.
9.2.5 Das Geständnis: Vom Es zum Ich Das Geständnis, das Sof’ja vor ihrem Ende, dem Ende von allem, ablegt, ist nicht im christlich-neuzeitlichen Sinne als Ausdruck moralischer Läuterung und innerer Entwicklung zu verstehen. Sie erlebt ihr Geständnis ganz körperlich, als Gebären, physiologische Notwendigkeit, als Akt mythischer Katharsis, den weder Reue noch Buße begleiten. Zwar bekennt sich Sof’ja zu ihrer Tat, aber weder lässt sich daraus ein „Jasagen zu sich selbst“ noch das „Eingeständnis ihrer Schuld“ (Leech-Anspach 1976, 101), einer Schuld im religiösen oder rechtlichen Sinne ableiten. Schuldig – vor dem Ehemann und der Welt – hat sich Sof’ja lediglich als nicht Empfangende, Unfruchtbare, Leere gefühlt: „Jetzt war es so, als säße man jeden Monat Gericht über sie und sie erwartete das Urteil“ („Теперь как будто ее каждый месяц судили, и она ждала приговора“, 480). Nach dem Mord dagegen empfindet sie weder Furcht noch Scham – nichts, nur ein neues Gefühl im ganzen Körper, eine Leichtigkeit, wie nach langem Fieber. Und nachdem sie die Tat vollbracht und alle Spuren beseitigt hat, fällt Sof’ja erschöpft in den Schlaf: „voll, glücklich, ganz“ („полно, счастливо, вся“, 491). Die mentale Leistung der ihre Tat gestehenden Sof’ja besteht darin, dass sie sich mit der Mörderin identifiziert, sich zu Bewusstsein bringt, was sie bewusstlos getan hat, was ihre Hände, einer unbewusst erkannten Notwendigkeit folgend, wie völlig losgelöst von ihr gedacht und getan haben, während sie selbst „beiseite stehend, sich glückselig ausruhte“ („в стороне, блаженно отдыхала“,
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489) und „alles mit Verwunderung betrachtete“ („она смотрела на все с удивлением“, 489). Im Geständnis spricht Sof’ja das aus, was sie unter Aufbietung aller Bewusstseinskräfte soeben erst begriffen hat: „Wer hat das denn, wer hat das getan? Sie – niemand anders als sie selbst – ich…“ („Кто же, кто это сделал? Она — вот эта самая она — я…“, 496). Die dritte Person wird hier zur ersten, das Es zum Ich, das dunkle mythische, unbewusste Handeln tritt in die Helligkeit des IchBewusstseins. Aber auch diesen Prozess hat schon der Traum vorausgesagt: „Es wurde hell, und sie sah, dass ihre Hände voller Blut waren“. Die Mordtat als mythische Aufgabe rückt auch die Adoption in ein neues Licht. Betrachten wir die Kette der Assoziationen, die die Entstehung der Idee zur Adoption begleiten. Gan’ka tritt in die Erzählung als Gegenstand von Sof’jas Wahrnehmung ein: die Zwölf- oder Dreizehnjährige ist auf dem Hof mit den Jungen, die sie verfolgen, herumgetobt; sie atmet schnell und ist erhitzt. Sof’ja stellt sich vor, dass Gan’ka ihre Tochter sein könnte, dass man sie ihr gestohlen habe. In Sof’jas Bauch zieht sich etwas zusammen und steigt zum Herzen empor. Ihr ist der Geruch von Gan’kas warmem Körper verhasst und auch der Anblick ihrer Oberlippe mit dem kleinen schwarzen Muttermal. Die Tränen verschluckend, sagt ihr Gan’ka, dass der Vater im Sterben liege, und Sof’ja, von Scham und Mitleid überwältigt, nimmt den Kopf des armen Mädchens und drückt ihn an sich. Nach dem Tode des Vaters sitzt Gan’ka, wie Sof’ja wahrnimmt, auf dem Bett. Auf ihren Knien liegt ein Stück unberührtes Stück schwarzen Brotes. Wieder unten in der Küche, vergegenwärtigt sich Sof’ja, wie oben Gan’ka mit dem Stück Brot auf den Knien sitzt. (Brot ist in der Welt dieser Erzählung Imago des menschlichen Leibes, Inbegriff der Fruchtbarkeit und verdinglichtes Symbol der Sexualität. Bevor Sof’ja, früher als geplant nach Hause zurückkehrend, Gan’ka und Trofim beim Ehebruch ertappt, riecht sie: Von irgendwoher duftete es nach heißem schwarzem Brot.) Der nach Hause zurückgekehrte Trofim holt aus einem Sack einen Laib Brot heraus und schneidet die Kostbarkeit, die ungewöhnlicher, seltener als der Tod ist, vorsichtig in Scheiben. Wie zum ersten Mal sieht Sof’ja dabei sein vom Feuer verbranntes Gesicht, seinen Zigeunerkopf, der dicht mit grauen Haaren, wie mit Salz, bestreut ist. In Sof’jas Herz schreit es verzweifelt: Es wird keine Kinder geben. Und als Trofim ein Stück Brot in die Hände nimmt, befindet sich Sof’ja in ihrer Vorstellung augenblicklich bei Gan’ka: sie sitzt allein auf dem Bett, auf ihren Knien liegt das Brot, durch das Fenster schaut ein Frühlingsstern herein, scharf wie eine Nadelspitze: И седины, Ганька, хлеб, одинокая звезда в пустом небе — все это слилось во одно целое, непонятно связанное между собой, и неожиданно для самой себя Софья ска-
162 | Hybride Motivierung in der Moderne зала: „Трофим Иваныч, возьмем к себе столярову Ганьку, пусть будет нам вместо…“; (481) Die grauen Haare, Gan’ka, das Brot, der einsame Stern am leeren Himmel – alles das floss, auf unbegreifliche Weise miteinander verbunden, zu einem Ganzen zusammen, und für sich selbst unerwartet sagte Sof’ja: „Trofim Ivanyč, lass uns die Gan’ka vom Tischler zu uns nehmen, soll sie uns statt…“
Trofim blickt Sof’ja verwundert an. Dann, allmählich begreifend, beginnt er zu lächeln: […] медленно, так же медленно, как развязывал мешок с хлебом. Когда развязал улыбку до конца, зубы у него заблестели, лицо стало новое, он сказал: «Молодец ты, Софья! Веди ее сюда, хлеба та трoих хватит». (481–482) […] langsam, genau so langsam wie er den Sack mit dem Brot aufgebunden hatte. Als er das Lächeln vollständig aufgebunden hatte, blitzten seine Zähne, sein Gesicht wurde zu einem ganz neuen, er sagte: „Du Prachtkerl, Sof’ja! Bring sie her, das Brot reicht für drei“.
Genauso langsam, nur mit den Zähnen beginnt dann Trofim zu lächeln, als Gan’ka, nach Einsetzen des Hochwassers vermisst, in nassem, an Brust und Knien klebendem Kleid und mit glänzenden Augen in der Tür steht. Das weitgespannte, viele Motive der Erzählung einbeziehende Netz der Assoziationen, das hier sichtbar geworden ist, suggeriert für die Adoption folgende mytho-psycho-logische Erklärung: In Sof’jas Mitleid mit dem Waisenmädchen mischen sich von Anfang an Hass und Eifersucht auf die werdende Frau, die sie bereits als Rivalin erkannt hat. Wenn Sof’ja dem Ehemann gleichwohl die Adoption vorschlägt, folgt sie einer unbewusst-mythischen Logik. Sie weiß nämlich oder – besser – es weiß in ihr: Um die ihr gestellte mythische Aufgabe zu lösen, muss sie für eine gewisse Zeit die Frau in sich kränken lassen. Zu ihrer tellurischweiblichen Erfüllung führt nur die zeitweilige Zurücksetzung hinter Gan’ka, die Stellvertreterin zum einen für das Kind, ohne das die Ehe zu scheitern droht, zum anderen für die Frau, die Trofims Trieb befriedigt. Bevor sie die Stellvertreterin opfern kann, muss sich Sof’ja für eine gewisse Zeit selbst opfern. Das eine Opfer ist die unumgehbare Bedingung für das andere. Sof’jas Selbstopfer, das der Opferung der Mediatorin vorausgeht, ermöglicht allererst das Lösen der mythischen Aufgabe. Sof’ja schließt den Kreis, indem sie das zerstückelte Mädchen in eben jenem Sack zur Grube trägt, in dem zu Beginn der Erzählung Trofim den Laib Brot nach Haus gebracht hat. In mythischer Transition geht die geschlechtliche Anziehungskraft vom geopferten Mädchen auf seine Mörderin über und ersteht Gan’ka als Frucht der wieder möglich gewordenen Vereinigung der Eheleute zu neuem Leben auf, wie das in den Boden versenkte Samenkorn.
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9.2.6 Leitmotive, Äquivalenzen und Identifikationen An der mythischen Überformung des ereignishaften Sujets hat auch die Paradigmatisierung der Diegesis teil, die Einführung prägnanter Rekurrenzen in die dargestellte Welt. Die Wiederkehr thematischer Einheiten, die als strukturelles Ikon des mythischen Denkens betrachtet werden kann, zeigt sich in Überschwemmung unter anderem als ostinate Wiederholung von Motiven, als Leitmotivik. Eines der auffälligen Leitmotive, die die Erzählung mit einem dichten Netz überziehen, sind die Lippen, zum einen Gan’kas zitternde Lippen (480 dreimal, 485), zum anderen aber Sof’jas zunächst fest „aufeinandergepresste“ („сжатые“, 479, 480, 481, 485, 488, 494) und dann – nach dem Mord – „weit geöffnete“ Lippen („широко раскрытые“, 493, 494, 495), mit deren Erwähnung die Erzählung nicht zufällig schließt: „Sie schlief, atmete regelmäßig, ruhig, glückselig, ihre Lippen waren weit geöffnet“ („Она спала, дышала ровно, тихо, блаженно, губы у нее были широко раскрыты“, 500). Eine andere Kette bilden die von Sof’ja wahrgenommenen körperlichen Attribute Trofims: seine kurzen Beine, die ihn aussehen lassen, als wäre er bis zu den Knien in der Erde vergraben, und sein dunkler Zigeunerkopf mit den weißen, wie die Tasten einer Ziehharmonika blitzenden Zähnen. Ein Leitmotiv, das metonymisch auf die Sexualität verweist und die drei Personen miteinander verbindet, sind die Knie: in der Nacht sucht Trofim Sof’jas Knie; Sof’jas Blick fällt immer wieder auf Gan’kas runde Knie (481 dreimal, 485 zweimal, 487, 489), die „weit gespreizt“ sind („широко раздвинуты“, 485, 489) oder das Brot halten (481 dreimal). Die Kontiguität von Knien und Brot begegnet auch einmal in Verbindung mit Trofim. Nach der Entdeckung des Ehebruchs beobachtet Sof’ja: Когда [Ганька] принесла хлеб, Трофим Иваныч обернулся, задел головой, хлеб упал ему на колени. Ганька захохотала. (485) Als [Gan’ka] das Brot brachte, drehte sich Trofim um und streifte sie mit dem Kopf. Das Brot fiel ihm auf die Knie. Gan’ka lachte laut auf.
Nachdem Sof’ja die zerstückelte Gan’ka im Brotsack zur Grube gebracht hat, unterliegt das Brot einer merkwürdigen Metamorphose: es verwandelt sich in Kohl, die karge Alltagsspeise, Symbol der noch leeren Beziehung zwischen den Eheleuten: [Трофим] хлебнул щей и остановился, крепко зажав ложку в кулаке. Вдруг громко задышал и стукнул кулаком в стол, из ложки выкинуло капусту к нему на колени. Он подобрал ее и не знал, куда девать, скатерть была чистая, он смешно, растерянно держал капусту в руке, был как мaленький — как тот цыганенок, которого Софья
164 | Hybride Motivierung in der Moderne видела тогда в пустом доме. Ей стало тепло от жaлости, она подставила Трофиму Иванычу свою, уже пустую тарелку. Он, не глядя, сбросил туда капусту и встал. (491) [Trofim] löffelte Kohlsuppe und hielt inne, wobei er den Löffel fest in der Faust zusammenpresste. Plötzlich holte er laut Luft und schlug mit der Faust auf den Tisch, aus dem Löffel fiel ihm der Kohl auf die Knie. Er sammelte ihn auf und wusste nicht, wohin er ihn tun sollte, das Tischtuch war sauber, mit komischer, hilfloser Gebärde hielt er den Kohl in der Hand, war wie der kleine Zigeunerjunge, den Sof’ja damals in dem leeren Haus gesehen hatte. Ihr wurde vor Mitleid warm ums Herz, sie schob ihm ihren schon leeren Teller zu. Er warf den Kohl, ohne zu schauen, hinein und stand auf.
An dieser Stelle lässt sich auch gut die thematische Ausnutzung phonischer Ornamente, die Kookkurrenz klanglicher und semantischer Ordnungen beobachten. Das Wort kapusta, das den Kohl bezeichnet, das Symbol ehelicher Alltäglichkeit, ist zum einen Element in der Reihe der Wörter auf k (im Zitat doppelt unterstrichen [k]). Diese Klangreihe drückt mit der Lautsymbolik des guttural explosiven k und der gemeinsamen semantischen Assoziation der Wörter kulak (‚Faust‘), krepko (‚fest‘), gromko (‚laut‘), stuknul (‚schlug‘) Trofims Empörung gegen den Verlust der jungen Geliebten aus. Dieser sowohl klang-ikonisch als auch semantisch fundierte Bedeutungswert überträgt sich auf das dreimal vorkommende und thematisch im Mittelpunkt stehende kapusta. Zum anderen aber hat kapusta teil an der st-Reihe (im Zitat einfach unterstrichen [st]), die die k-Reihe allmählich ablöst. Darüber hinaus bildet kapusta eine Paronomasie mit [v] pustom [dome] (‚in dem leeren Haus‘) und pustuju [tarelku] (‚den leeren Teller‘) und assoziiert über die lautähnlichen Adjektive das ganze Paradigma der Motive der Leere: die leere Grube (in der Werkstatt, im Ehebett), den leeren Bauch, den leeren Himmel, das leere Haus und den leeren Teller. Das Wort kapusta (‚Kohl‘) drückt die Leere, zu deren Inbegriff es wird, also nicht nur symbolisch aus, sondern enthält in seinem Lautkörper (ka-pust-a) sogar jene lexikalische Einheit pust (‚leer‘), die diese Befindlichkeit explizit bezeichnet. Und schließlich ist in chleb-nul (‚löffelte‘) die Bezeichnung jenes Nahrungsmittels mit seiner sexuellen Konnotation verborgen (chleb, ‚Brot‘), das durch Kohl ersetzt wird. In diesem Zusammenhang scheint es nicht mehr zufällig, dass sich Sof’ja wenig später, nach der ersten erfüllten Nacht mit Trofim, daran erinnert, dass man in dem Dorf, aus dem sie Trofim genommen hat, jetzt wahrscheinlich den Kohl hackt und dass sie das erst gestern erlebt hat. Wir erhalten somit die makabre Assoziation des gestern zerhackten Kohls, d. h. der beseitigten, ausgefüllten Leere, mit der gestern von Sof’ja zerhackten Gan’ka. Mythisches Denken kommt natürlich auch in den überaus zahlreichen thematischen Äquivalenzen zum Ausdruck, die in der Überschwemmung komplex miteinander verflochtene Ketten bilden. Meistens als explizite Vergleiche eingeführt, die in Sof’jas Bewusstsein, dem perspektivischen Prisma der Erzählung,
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aufscheinen, gehen die Äquivalenzen des realistischen Vorbehalts, den das kak (‚wie‘) oder budto (‚gleichsam‘, ‚als ob‘) anzeigen, verlustig und verwandeln sich in mythische Identifikationen. Es seien hier nur die wichtigsten der zu Identifikationen verdinglichten Vergleiche erwähnt. Sof’ja ist das im Hausflur stehende rissig gewordene Fass, aus dem Trofim, wenn es kein Kind gibt, tröpfchenweise auszufließen droht. Wir erinnern uns: der alles vorwegnehmende Traum begann damit, dass die aufspringende Tür mit Wucht gegen das Fass krachte. Sof’ja, der „winterlich, leer“ („зимне, пусто“) zumute ist, ist das „leere Haus mit den ausgehöhlten Fenstern“ („пустой с выеденными окнами дом“, 482), in dem niemals mehr Leben sein wird, in dem niemals mehr fröhliche Kinderstimmen zu hören sein werden. Einmal nähert sie sich diesem Haus und bemerkt: im Innern sitzen um ein Feuer vier Jungen, und unter ihnen ist ein Zigeunerkind, mit glänzenden Zähnen, wie sie Trofim Ivanyč hat. Das leere Haus ist lebendig geworden, und jetzt fühlt Sof’ja, dass auch sie noch lebendig ist und dass sich noch alles verändern kann. Trofim ist dagegen der Dampfkessel, dessen Messröhrchen unter dem Überdruck platzt: „ein Lachen presste sich aus seiner Nase, seinem Mund, wie der Dampf aus den Sicherheitsventilen des unter Druck stehenden Kessels“ („смех вырывался у него из носа, изо рта, как пар из предохранительных клапанов распираемого давлением котла“, 482). In den ehebrecherischen Nächten atmen Trofim und Gan’ka „durch die zusammengebissenen Zähne, gierig, heiß, wie die Kesseldüse“ („сквоузь стиснутые зубы, жадно, жарко, как котельная форсунка“, 485). Sof’ja ist die Erde. Ihre Tränen fließen wie die Tauwetterbäche über die Erde. Die leere Grube in Sof’jas Bauch verwandelt sich in die Grube auf dem Smolensker Feld, in die Sof’ja die zerstückelte Gan’ka legt, auf dass die Geopferte, wie das in den Boden versenkte Samenkorn, zu neuem Leben erwachse. Nach der Geburt oder – genauer – der Wiedergeburt des Kindes liegt Sof’ja „warm, selig, feucht, ruhend, wie die Erde“ („теплая, блаженная, влажная, отдыхающая, как земля“, 497), eine wahre terra mater. Die tief gedemütigte Sof’ja vergleicht sich mit der unter einem umgestürzten Glas gefangenen Fliege. Diese Identifikation, die übrigens ein ähnliches Fliegenbild aus Dostoevskijs Schuld und Sühne aufnimmt (Collins 1973, 91–94), teilt ihre semantische Energie den Konstituenten mit, die, wann immer sie in anderen Zusammenhängen auftauchen, die innere Situation der Heldin vergegenwärtigen. Semantisch besonders aufgeladen wird das Motiv des Glases. Der mit schweren Gewitterwolken bedeckte Petersburger Himmel ist grünes Glas. Aber es gibt keinen Regen, die Wolken zerreißen, und zur Nacht wird das Glas immer dicker,
166 | Hybride Motivierung in der Moderne schwüler, dumpfer. Gläsern vergeht auch der tränenlos trockene Sommer. Im Herbst klirrt das vom Wind geschlagene Fensterglas so lange, bis es – kurz vor der befreienden Mordtat – aus dem Fensterrahmen herausgedrückt ist. Nach dem Mord, der die Identifikation Sof’jas mit der Fliege metonymisch umkehrt, kriecht die Fliege, ohne sich zu beeilen, selbstsicher, über Gan’kas Leiche und wird von Sof’ja verscheucht. Dann aber setzt sich dieselbe Fliege ihr auf die Hand, klebt an ihr. Sof’ja verscheucht sie, aber sie setzt sich erneut. Schon in den ersten Zeilen der Erzählung wird Sof’ja mit einem Vogel verglichen. Sie ist leicht und im ganzen Körper streng. Sie blickt wie ein Vogel. Bei Gan’kas Anblick überschlägt sich ihr Herz und fällt wie ein Vogel. Als Sof’ja nach dem Mord wieder Trofims nächtliche Stimme bei sich vernimmt, reißt sich ihr Herz vom Zweig los und fällt, sich unregelmäßig drehend, wie ein Vogel nach unten. Gan’ka ist dagegen die Katze mit unergründlichen, grünen Augen, von denen dem Betrachter unheimlich wird. Während Sof’ja vor dem Mord durch ihre geschlossenen, zusammengepressten Lippen charakterisiert wird, ist an Gan’ka alles weit geöffnet. Sie tritt leicht bekleidet auf, hockt, die Knie weit gespreizt, und hat die Augen weit geöffnet. Beim Ehebruch mit Trofim von Sof’ja ertappt, tritt sie ihr nur mit einem Hemd bekleidet entgegen, öffnet rund den Mund und die Augen gegen Sof’ja und krümmt sich dann wie eine Katze, die Schläge erwartet. Für einen Augenblick übernimmt sie von der gedemütigten Ehefrau das Merkmal der Geschlossenheit. Mit dem Vogel verglichen, wird Sof’ja zugleich mit dem Uhrpendel identifiziert, das, auf sich den unverwandten Blick der Katze spürend, an der Wand wie ein Vogel im Käfig unruhig hin- und herhüpft. Nach der Tat zitternd im Bett liegend, hört Sof’ja, wie die Uhr über ihr laut mit dem Schnabel gegen die Wand hackt. Das Ticken der Uhr an der Wand und das Schwingen des Pendels symbolisieren – ebenso wie die lästige, nicht zu verscheuchende Fliege – dem realistisch Lesenden nicht abzuschüttelnde Schuldgefühle, das Schlagen des Gewissens. Diese Symbolik scheint um so offensichtlicher, als Sof’ja das Ticken der Uhr und das Schwingen des Pendels nach geschehener Mordtat häufiger als zuvor wahrnimmt. Die mythische Überformung modifiziert indes auch diese Symbolik, gibt ihr neue, konkurrierende Bedeutungen. So wird das Ticken der Uhr auch zum Pochen des Herzens, das die Entdeckung fürchtet, zuerst die Entdeckung des Ehebruchs, dann die Entdeckung des Mordes. Von der Entdeckung als Mörderin bedroht, fürchtet Sof’ja weniger die Strafe als die Möglichkeit, dass die Aufgabe nicht vollendet werden könnte. Und so misst das schwingende Uhrpendel die beängstigend abnehmende Zeit, die Sof’ja noch bis zum Ende, zur Erfüllung ihrer Aufgabe bleibt.
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Die Identifikationen Sof’ja = der kleine zitternde Vogel und Gan’ka = die Katze stehen in einer dynamischen Opposition. Anfangs belauert die Katze den kleinen Vogel mit ihrem heimlichen grünen Blick. Mit der Überschwemmung kehrt sich die Hierarchie der Totemtiere um. Am Himmel treibt der starke Wind einen großen Vogel vorbei, der in schnellem, steilem Flug mit weit geöffneten Flügeln die Küken bedroht. Unbewusst begreift Sof’ja: der Raubvogel ist sie selbst. Ihr wird mit einem Mal leichter ums Herz; genau diesen Wind braucht sie, damit alles überspült, weggefegt, ertränkt werde. Sie wendet sich dem Wind entgegen, ihre Lippen öffnen sich, der Wind bläst in sie hinein und singt in ihrem Mund, den Zähnen ist es kalt, angenehm. Durch das Fenster erblickt sie auf einem im grünen Wasser vorbeitreibenden Tisch eine Katze mit geöffnetem Maul. Sof’ja denkt sogleich an Gan’ka, ihr Herz beginnt zu klopfen. Den Raubvogel und die Katze verbindet das Merkmal des Offen-Seins, das Selbstbewusstsein und Angriffslust assoziiert. Der Vogel hat die Flügel geöffnet, die Katze das Maul. Das System der Äquivalenzen suggeriert, dass Sof’ja jetzt folgendes versteht: Indem sie das Mädchen tötet, dessen geöffnete Knie den Mann angelockt haben, wird sie selbst fähig, die Lippen, den Schoß zu öffnen. Bis zum Mord bleibt Sof’ja der Raubvogel. Die Wohnung, in die sie nach der Überschwemmung zurückkehrt, überfliegt sie mit ihren Augen wie ein großer Vogel. Danach aber verwandelt sie sich zurück in den kleinen Vogel, der mit dem die Zeit bis zum Ende ausmessenden Uhrpendel verglichen wird. Vermittels der Äquivalenz der Identifikationen Sof’ja ist der große am Himmel kreisende Vogel und die Sonne kreist wie ein Vogel über der nackten Erde wird Sof’ja, die terra mater ist, zugleich auch zur Sonne. Und Gan’ka wird zum Mond, der ähnlich wie sie nur mit einem Hemdchen bekleidet ist. Die so ins Spiel gebrachten Himmelskörper vergegenwärtigen den kosmischen Zyklus von Tag und Nacht, mit dem die Kreisbewegung von Geburt, Tod und Wiedergeburt korrespondiert. Beim Gedanken an den Tod des vom Schwungrad (!) erfassten Arbeiters versteht Sof’ja den Zyklus von Sterben und Wiedergeboren-Werden: „es schien ihr, als werde das ganz einfach sein – genauso wie die Sonne untergeht, und dann ist es dunkel und danach wieder Tag“.
9.2.7 Figurale Motivation und narratoriale Motivierung An Zamjatins Überschwemmung war zu zeigen, dass die Geschichte von Schuld und Sühne, die das Werk noch einmal zu erzählen scheint, durch das mythische Denken als narratives, ereignishaftes Sujet destruiert und zu einer Beschreibung des Zyklus von Tod und Wiedergeburt umgestaltet wird.
168 | Hybride Motivierung in der Moderne Es stellt sich nun die Frage, wie das mythische Denken, das die Erzählung durchdringt, motiviert ist. Zum einen zeigt sich die mythische Mentalität im Empfinden und Handeln der Hauptperson, aus deren Perspektive die erzählte Welt – ohne jede narratoriale Korrektur – dargeboten wird. Scheinbar rein vegetativ, instinkt- und triebhaft handelnd, folgt Sof’ja gleichwohl einem Sinnentwurf, der Logik magisch-mythischer Weltvorstellung, die sich etwa in den zu totemistischen Identifikationen verdinglichten Vergleichen niederschlägt. Die mythische Logik aber korrespondiert – wie wir gesehen haben – durchaus mit der Logik jenes Unbewussten, in dem das mythologische Modell der Aufgabe, der Opferung und Wiedergeburt aufscheint. Insofern das mythische Denken von der Figur ausgeht, handelt es sich hier um eine figurale Motivation. Der Begriff der Motivation wurde in der Einleitung der psychischen und emotionalen Aktivität der Figur, ihren Beweggründen und Intentionen zugeordnet. In Überschwemmung lässt sich der Erzähler, der als eigene Instanz kaum greifbar wird und nicht aus dem Horizont der Figur heraustritt, in seiner figuralen Perspektivierung vom mythischen Denken anstecken. Insofern ist sowohl die erzählte Welt als auch der Erzähldiskurs von mythischem Denken affiziert. Dieses manifestiert sich in der ornamentalen Faktur sowohl des Erzähldiskurses als auch der erzählten Welt. Auf beiden Ebenen findet die für das mythische Denken charakteristische Iterativität in formalen bzw. thematischen Wiederholungen markanter Merkmale oder Motive modellhaften Ausdruck. Es gibt darüber hinaus nicht nur eine Entsprechung zwischen formalen und thematischen Rekurrenzen, wir beobachten sogar, dass die für den Realismus gültige Nicht-Motiviertheit, Arbitrarität des sprachlichen Zeichens durch die Ikonisierung des verbalen Ausdrucks, durch Paronomasien und andere Figuren des archaischen, primitiven Sprachdenkens aufgehoben wird. Das archaische Sprachdenken unterscheidet sich vom neuzeitlichen Sachdenken durch die fehlende Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Erzähler und Figur. Deshalb kann das mythische Denken den Erzählertext wie den Figurentext beherrschen. Unter diesem Aspekt ist die mythische Sicht nicht nur durch die Figurenperspektive im Sinne der Motivation begründet, sondern auch narratorial im Sinne der Motivierung. Zamjatins Erzählung nähert nicht nur die narratoriale Motivierung der figuralen Motivation an, sondern verknüpft in der Motivierung den kausalen Aspekt eng mit dem künstlerischen. Der Impuls zum Mord geht zwar aus von der gedemütigten Sof’ja, aber die Mörderin wird getragen, wie während der Überschwemmung vom Wasser das Holz getragen wird, und sie vollbringt die Tat unbewusst, von einer Welle erfasst. Im mythischen Denken des ornamentalen Textes wird
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der Vergleich realisiert, in eine Realität verwandelt. Die Ähnlichkeit von Innen und Außen wird zur gleichzeitigen Teilhabe. Nicht Sof’ja mordet, sondern es mordet in ihr, dem Ich nicht bewusst. Ein Dekonstruktivist würde sagen: Der Text mordet, der ornamentale Text, der die Korrespondenzen und Äquivalenzen der Geschichte in seiner Faktur realisiert.
10 Neue Regeln künstlerischer Motivierung in der Avantgarde 10.1 „Littérature du regard“: Jurij Oleša und Alain Robbe-Grillet In der realistischen Poetik, die die Erfahrungen der Lebenspraxis modelliert, bestehen feste, geradezu als unumstößlich geltende Koppelungen von Charakter und Sprechweise, Bewusstsein und Weltwahrnehmung, Stimmung und Handeln oder – im größeren Maßstab der künstlerischen Motivierung – von Thema und Komposition. Das jeweils zweite Element erscheint als Ableitung und Funktion des ersten, das als motivierend betrachtet wird. Besondere Sorgfalt verwendet der realistische Roman auf die Motivierung der Objektwelt. Die Auswahl der dargestellten Gegenstände ist durchweg auf die handelnden oder wahrnehmenden Personen bezogen: die Außenwelt charakterisiert den Helden, Naturbeschreibungen symbolisieren Stimmungen, in denen sich eine Person befindet, oder Schicksalswendungen, die ihr beschieden sind, die Isolierung von Details aus ihrer gegenständlichen Umgebung ist durch den Bewusstseinszustand des wahrnehmenden Subjektprismas motiviert. Solche altvertrauten, als natürlich empfundenen Verknüpfungen werden in der Avantgarde in Frage gestellt und als konventionell bloßgelegt. Im Bereich der europäischen Erzählkunst ging der wohl radikalste Angriff auf die realistische Motivierung vom französischen Nouveau Roman der 1950er und 1960er Jahre aus. Die führende Rolle spielten dabei die Romane und programmatischen Schriften Alain Robbe-Grillets. In Praxis und Theorie polemisierte Robbe-Grillet leidenschaftlich gegen die traditionellen Regeln, nach denen im Erzählwerk die Gegenstände der äußeren Welt ausgewählt und beschrieben werden. Vor allem richtete sich seine Kritik gegen die für den Realismus charakteristische Bedeutungsbeladung der Dinge und den generellen Anthropomorphismus, der die Selektion und Deskription der Objektwelt leitete. In den ausgedehnten, minuziösen Beschreibungen der Robbe-Grillet’schen Romane sollten die Objekte nichts anderes bedeuten als sie selbst. Der Gegenstand fungiert nicht mehr – um mit Roland Barthes ([1954] 1964, 29) zu sprechen – als „Brennpunkt von Bedeutungslinien oder Kristallisationskern für Gefühle und Symbole“, er existiert nur als „optischer Widerstand“, ohne Tiefe, ohne Inneres, als reine Oberfläche:
https://doi.org/10.1515/9783110691030-010
Littérature du regard | 171 L'écriture de Robbe-Grillet est sans alibi, sans épaisseur et sans profondeur : elle reste à la surface de l’objet et la parcourt également, sans privilégier telle ou telle de ses qualités : c'est donc le contraire même d’une écriture poétique. Robbe-Grillets Schreibweise ist ohne Alibi, ohne Dicke und ohne Tiefe: Sie bleibt auf der Oberfläche des Objekts und wandert auch durch es hindurch, ohne eine seiner Eigenschaften zu begünstigen: Sie ist daher das genaue Gegenteil einer poetischen Schreibweise. 1
Offensichtlich unter dem Einfluss von Barthes’ Interpretation konstatiert RobbeGrillet in seinem Manifest Une voie pour le roman futur (Ein Weg für den zukünftigen Roman, 1956): […] la surface des choses a cessé d’être pour nous le masque de leur cœur, sentiment qui préludait à tous les « au-delà » de la métaphysique. (Pour un nouveau roman, 37) […] die Oberfläche der Dinge hat aufgehört, für uns die Maske ihres Herzens zu sein, ein Gefühl, das den Auftakt für jegliches „Jenseits“ der Metaphysik bildet.
Entschieden wendet sich Robbe-Grillet vor allem gegen die traditionelle Ableitung der Objektwelt aus der Innerlichkeit des Helden: [les chosesJ ne seront plus le vague reflet de l’âme vague du héros, l’image de ses tourments, l’ombre de ses désirs. Ou plutôt, s’il arrive encore aux choses de servir un instant de support aux passions humaines, ce ne sera que temporairement, et elles n'accepteront la tyrannie des significations qu’en apparence – comme par dérision – pour mieux montrer à quel point elles restent étrangères à l’homme. (Pour un nouveau roman, 20) [Die Dinge] werden kein vager Reflex der vagen Seele des Helden mehr sein, das Bild seiner Qualen, der Schatten seines Begehrens. Oder besser gesagt, wenn es den Dingen immer noch gelingt, als sofortige Unterstützung für menschliche Leidenschaften zu dienen, wird es nur vorübergehend sein, und sie werden die Tyrannei der Bedeutungen nur zum Schein akzeptieren – wie zum Spott –, um besser zu zeigen, wieweit sie dem Menschen fremd bleiben.
Damit werden zwei traditionelle Motivierungsfunktionen abgelehnt: erstens das Objekt als symbolischer Sinnträger in der Handlung und zweitens das Objekt als Reflex der Innenwelt der Person. Einen ganz ähnlichen Kampf gegen die Motivierungsnormen des Realismus führte bereits die avantgardistische Prosa der frühen Sowjetliteratur. Für die Frage Wie ist die Objektwelt motiviert? verdient unter den russischen Schriftstellern der 1920er und 1930er Jahre der Odessiter Prosaschriftsteller Jurij Oleša besondere Beachtung. Sein Roman Neid (Zavist’, 1927) und eine Reihe kurzer Erzäh||
1 Übersetzung der Zitate aus den Essays Barthes’ und Robbe-Grillets von mir – W. Sch.
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lungen enthalten eine Objektdarbietung, die überraschende Gemeinsamkeiten mit der Robbe-Grillets aufweist.2 Der Roman Neid, der bei seinem Erscheinen eine literarische Sensation war und noch heute von vielen Kritikern zum Besten der gesamten Sowjetliteratur gerechnet wird, stellt überdies eine erstaunliche Parallele zu Robbe-Grillets Eifersucht (La Jalousie, 1957) dar, jenem Roman, in dem die Poetik des Nouveau Roman am radikalsten Gestalt gewann. Man betrachte nur die gleiche Grundkonstellation: auf der einen Seite ein Erzähler, der von einem starken Affekt verzehrt wird – bei Robbe-Grillet ist es die Eifersucht, bei Oleša der Neid. Auf der andern Seite eine fremdartige Dingwelt, die einmal Spuren des vom Affekt verzerrten Blicks enthält, ein anderes Mal aber von jeglicher Subjektivität völlig autonom erscheint. Wie bei Robbe-Grillet so wird auch bei Oleša die Motivierung der Objektwelt durch die Subjektivität des Darbietenden auf provozierende Weise überansprucht. Ein direkter Einfluss Olešas auf Robbe-Grillet kann kaum angenommen werden. Wahrscheinlich ist aber eine indirekte genetische Beziehung, nämlich die Inspirierung beider Autoren durch die Prosa des französischen „Impressionismus“.3 Dort wird die Außenwelt konsequent als Projektion und Funktion eines subjektiv wahrnehmenden Ich gestaltet. Oleša war mit dieser Literatur gut vertraut. Es spricht für sich, dass er von einem zeitgenössischen Kritiker (Berkovskij 1929, 151) als „bester Franzose unter den Russen“ apostrophiert wird. Vor allem Jean Giraudouxs früher Roman Die Schule der Gleichgültigen (L’Ecole des indifferents) aus dem Jahre 1911 scheint Oleša angeregt zu haben. Oleša selbst (1936, 81) leugnete zwar jeden Einfluss des Franzosen, doch weisen seine Kritiker unwiderlegbare Parallelen nach4: die Innovation der Weltwahrnehmung durch den unfunktionalen Blick und die Tendenz, die Dinge nur in ihrer Oberfläche, als rein optische Gegenstände zu erfassen. Giraudoux (Die Schule, 69) lässt seinen Helden, der wie Kavalerov, der Erzähler in Olešas Neid, ein willenloser, passiver Beobachter, ein tatenloser flâneur durch eine Welt von Bildern ist, mit folgenden Worten seine Wirklichkeitsapperzeption beschreiben: Je trouve assez d’épaisseur à la surface du monde. Pour moi, chaque être, chaque chose s’appuie plus fortement sur sa couleur que sur son squelette. De grands ressemblances
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2 Im vorliegenden Kapitel greife ich auf zwei eigene Arbeiten zurück: Schmid 1978 und 2007. 3 Zum Einfluss der französischen Literatur auf Oleša vgl. Beaujour 1970, 133–134. 4 Neben Berkovskij (1936) auch Levin (1937, 113–114).
Oleša und Robbe-Grillet | 173 balafrent le monde et marquent ici et là leur lumière. Elles approchent, elles assortissent ce qui est petit et ce qui est immense.5 Ich finde genug Tiefe an der Oberfläche der Welt. Für mich gründet jedes Wesen, jedes Ding mehr auf seiner Farbe als auf seinem Skelett. Große Ähnlichkeiten erschüttern die Welt und markieren hier und da ihr Licht. Sie nähern einander an, sie stellen zusammen, was klein und was riesig ist.
Ein solches Verhältnis zur Welt der Dinge charakterisiert gleichermaßen Olešas wie Robbe-Grillets Beobachterfiguren.
10.2 Die thematische Einbettung der re-motivierten Objektdarstellung Im Folgenden soll dargelegt werden, wie die realistische Motivierung der Objektwelt bei den beiden Autoren destruiert und durch eine neue, nicht-realistische ersetzt wird. Der Vergleich dient nicht dem Nachweis genetischer Beziehungen oder literaturgeschichtlicher Filiationen. Er soll überhaupt keine kontaktologischen Probleme aufwerfen. Es geht vielmehr darum, die strukturelle Äquivalenz unterschiedlicher Situationen in der literarischen Evolution zu beleuchten: in ganz heterogenen lokalen und chronologischen Kontexten wird der Kampf gegen den realistischen Kanon offensichtlich mit der Entblößung und Destruktion der als natürlich geltenden Regeln der künstlerischen Motivierung geführt. Skizzieren wir, bevor wir uns der Motivierung als solcher zuwenden, in knappen Umrissen, wie die Objektdarstellung bei Oleša und Robbe-Grillet thematisch eingebettet ist. Organisierende Instanz ist jeweils eine vom Affekt besessene Figur. Sie tritt entweder als diegetischer Erzähler auf, wie in Eifersucht und in fast allen Werken Olešas, oder als dritte Person, die als figurales Medium der Weltwahrnehmung fungiert. Es ist oft bezweifelt worden, dass man bei Eifersucht überhaupt von einem Erzähler und gar einem diegetischen Erzähler sprechen dürfe. Wenn man unter „Erzähler“ nicht nur eine notwendig explizit dargestellte Figur versteht, sondern ihn auffasst als das durch die Organisation der erzählten Geschichte kundgegebene fiktive Subjekt, die indizial angezeigte Urheberinstanz des Erzählens, dann verliert dieser Zweifel seine Berechtigung. In Eifersucht sind die Symptome des ||
5 Jean Giraudoux, L’École des indifférents. Paris 1922. (Übersetzung von mir – W. Sch.)– Beaujour führt weitere Stellen an, die einen Einfluss der Giraudoux’schen Beschreibungstechnik auf Oleša belegen.
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Erzählers freilich auf den vom Affekt verzerrten Blick reduziert. Ungeachtet seiner minimalen Konkretisierung tritt dieser Erzähler als diegetischer Erzähler auf. Ein solcher ist ja dadurch definiert, dass er sowohl in der Handlungsgegenwart als auch in der Erzählgegenwart als zentrales Subjekt (erzähltes bzw. erzählendes Ich) erscheint. Gerade weil der eifersüchtig blickende Ehemann sein eigenes Ich so ostentativ ausspart, wird es als stets mitdargestellt rezipiert, und zwar als präsent in der Zeitebene des Erlebens wie in der Ebene des Vergegenwärtigens. Neben dem Neid und der Eifersucht, die auch in Olešas Erzählungen Der Kirschkern (Višnëvaja kostočka, 1929) und Aldebaran (Al’debaran, 1931) die dominierende Emotion ist, kommen als weitere Affekte vor: die sexuelle Obsession, so in Robbe-Grillets Der Voyeur (Le Voyeur, 1955), sowie die Furcht und die Liebe in Olešas Erzählungen Die Kette (Cep’, 1929) bzw. Liebe (Ljubov’, 1929). Entscheidend ist, dass die emotionsgeladenen Subjekte nicht mehr sind als Träger ihres Affekts. Weitere Eigenschaften werden nicht namhaft gemacht und lassen sich auch nicht extrapolieren. Der unsichtbare Ehemann in Eifersucht ist greifbar nur als der Eifersüchtige. Kavalerovs Rolle in Neid erschöpft sich in der Verkörperung des im Titel genannten Affekts. Es werden also nicht vielseitig bestimmte Persönlichkeiten gestaltet, die Emotionen haben, vielmehr wird der Mechanismus des Affekts als solcher dargestellt. Dem Träger des Affekts stehen als weitere Instanzen die vom Affekt betroffenen Objekte gegenüber. Es konstituiert sich somit eine ganz einfache, abstrakte, schematisierte Personenwelt, die sich auf die Figuren der Achse oder des Dreiecks reduzieren lässt. Weite Teile von Olešas Neid entfalten ausschließlich die Relation zwischen dem neidischen Kavalerov und dem Objekt seines Ressentiments, Andrej Babičev. Weitere Personen, von denen in einzelnen Passagen berichtet wird, gruppieren sich um die beiden Enden dieser Achse und ordnen sich dem binären Schema unter. Die Dreiecksbeziehung in Eifersucht wird durch die Zahl und Konfiguration von Gegenständen (der drei Sessel, der drei Gedecke, der drei Gläser usw.) sinnfällig gemacht. In sehr schematischer Form gestaltet die Dreiecksfigur Olešas Kirschkern. Die Exposition legt die konfliktträchtige Personenkonstellation dar: В воскресенье я побывал на даче в гостях у Наташи. Кроме меня, было еще трое гостей; две девушки и Борис Михайлович. Девушки с Наташиным братом Эрастом от-
Oleša und Robbe-Grillet | 175 правились на реку кататься в лодке. Мы, то есть Наташа, Борис Михайлович и я, пошли в лес. (214) 6 Am Sonntag war ich bei Nataša in ihrer Datscha zu Gast. Außer mir waren noch drei Gäste da: zwei Mädchen und Boris Michajlovič. Die Mädchen gingen mit Natašas Bruder Erast an den Fluss, zum Bootfahren. Wir, das heißt Nataša, Boris Michajlovič und ich, gingen in den Wald.
Wenig später ergibt sich aus dieser Konstellation die typische Situation der Eifersucht: Я повернулся к ним спинoй. Мой жадный взгляд не следит за ними, онi наслаждаются одиночеством. Я смотрю на птицу. Оглянувшись, я вижу: Борис Михайлович гладит Наташу по щеке. Его рука думает: пусть он смотрит на птицу, обиженный молодой человек! (215) Ich habe ihnen den Rücken zugewandt. Mein gieriger Blick folgt ihnen nicht, sie genießen die Einsamkeit. Ich schaue auf einen Vogel. Als ich mich umblicke, sehe ich: Boris Michajlovič streichelt Nataša die Wange. Seine Hand denkt: soll er doch auf den Vogel schauen, der beleidigte junge Mann!
Mit der abstrakten Dreiecksfigur setzen zwei weitere Werke Olešas ein. Die Erzählung Gespräch im Park (Razgovor v parke, 1933) beginnt mit den Worten: Мы сидим на скамье в парке культур и отдыха: профессор Колумбийского университета, переводчик и я. (253) Wir sitzen auf einer Bank im Kultur- und Erholungspark: der Professor der Columbia-Universität, der Übersetzer und ich.
Einе eifersuchtsträchtige Konstellation eröffnet die Erzählung Aldebaran: На скамье сидела компания: девушка, молодой человек и некий учёный старик. [Старик] влюбился в девушку. Она сидела рядом. Она положила руку на колено молодого. Тогда старый спросил: „Быть может, я лишний?“ (240–241) Auf einer Bank saß eine Gesellschaft: ein Mädchen, ein junger Mann und ein gelehrter Alter. [Der Alte] hatte sich in das Mädchen verliebt. Sie saß daneben. Sie legte die Hand auf das Knie des Jungen. Da fragte der Alte. „Bin ich vielleicht überflüssig?“
Überhaupt neigt Oleša dazu, den Schematismus der vom Affekt konstruierten Welt bloßzulegen. In der Kette beneidet das erzählende Ich den Studenten Orlov ||
6 Alle Zitate aus Olešas Werken nach der Ausgabe: Jurij Oleša, Izbrannoe. Moskau 1974. Die Übersetzungen stammen von mir – W. Sch.
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um dessen Fahrrad. Die sich aus dieser Emotion ergebende Konstellation bringt der Erzähler auf die lakonische geometrische Formel: „Hier ist ein Dreieck: das Fahrrad, der Student, ich.“ („Тут треугольник: велосипед, студент, я“, 203) Nach kurzer Fahrt auf dem geliehenen Rad verliert der Held die Kette. Darauf stellt sich eine von Furcht erfüllte Vision ein: Мы сидим напротив друг друга: я и студент Орлов. Ситуация такая: у студента был велосипед, и я этот велосипед испортил. Можно усилить: у студента была жена, и я выбил ей глаз. (205) Wir sitzen einander gegenüber: ich und der Student Orlov. Die Situation ist folgende: der Student hatte ein Fahrrad, und ich habe dieses Fahrrad beschädigt. Man kann verschärfen: der Student hatte eine Frau, und ich habe ihr ein Auge ausgeschlagen.
Sowohl bei Robbe-Grillet als auch bei Oleša wird die Beziehung zwischen dem Träger des Affekts und der Welt um ihn durch den Blick hergestellt. Für RobbeGrillet und seine Nachfolger hat sich das Etikett littérature du regard eingebürgert. Man könnte es mit vollem Recht bereits auf Oleša anwenden.
10.2.1
Der zwanghafte Blick in Robbe-Grillets Eifersucht
Was kommt im Blick zur Erscheinung? Und welche Beziehung besteht zwischen den Gegenständen, die der Blick erfasst, und dem Affekt, der den Blick beherrscht? Bei beiden Autoren müssen wir zwei Reihen von Objekten unterscheiden. Zum einen fixiert der Beobachter die personalen Objekte seines Affekts und heftet seinen Blick auf jene körperlichen Details, die die Gefühlsregung auslösen oder symbolisieren. Der Ehemann in Eifersucht verfolgt zwanghaft jede Bewegung seiner mutmaßlich untreuen Frau. Die minuziöse Beschreibung konkretisiert sie freilich keineswegs zu einer lebendigen Person und vermittelt kein anschauliches Bild von ihr. A, wie die Ehefrau ausschließlich genannt wird, ist nicht mehr als ein abstraktes Schema, das aus einzelnen erogenen Körperteilen, wie Haaren, Schultern und Armen, zusammengesetzt ist. Folgendes Zitat illustriert sehr anschaulich die Reduktion der Persönlichkeit auf die affektauslösenden Details:
Oleša und Robbe-Grillet | 177 Seul le carré de la fenêtre fait une tache d’un violet plus clair, sur laquelle se découpe la silhouette noire de A…: la ligne des épaules et des bras, le contour de la chevelure. Il est impossible, sous cet éclairage, de savoir si sa tête se présente de face ou de dos. (137)7 Nur das Fensterquadrat ist ein Fleck aus hellerem Violett, von dem sich die schwarze Silhouette von A… abhebt: die Linie der Schultern und Arme und die Konturen des Haars. Es ist bei dieser Beleuchtung unmöglich, zu erkennen, ob der Kopf sich von vorn oder von hinten darbietet. (76)
Der Hinweis auf die schlechte Beleuchtung hat natürlich apologetischen Charakter. Mit dieser Erklärung seines Erzählers, die innerfiktional durchaus begründet ist, legt der Autor dessen isolierende und schematisierende Welterfassung bloß. Auch unter günstigeren Lichtverhältnissen fügt sich dem Eifersüchtigen das Bild seiner Frau lediglich in einer mechanischen Addition einzelner, isoliert wahrgenommener Körperteile und ihrer geometrischen Relationen zusammen: A… est allongée sur le lit, tout habillée. Une de ses jambes repose sur la couverture de satin; l’autre, fléchie au genou, pend á demi sur le bord. Le bras, de ce côté, se replie vers la tête, qui creuse le traversin. Étendu en travers du lit très large, l’autre bras s’écarte du corps d’environ quarante-cinq degrés. (120) A… liegt vollständig angezogen auf dem Bett. Eines ihrer Beine ruht auf der Seidendecke, das andere hängt, im Knie gebeugt, halb auf der Kante. Der Arm auf dieser Seite biegt sich zum Kopf hin, der eine Delle ins Kissen drückt. Der andere Arm ist schräg über das sehr breite Bett gestreckt und bildet mit dem Körper einen Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad. (66)
Solange Robbe-Grillets und Olešas Beobachter auf die Gegenstände ihres Affekts fixiert sind, wirkt die Deskription auch im Sinne realistischer Forderungen durch den Bewusstseinszustand motiviert. Für den Affekt ist ja geradezu charakteristisch, dass man die Welt selektiv, isolierend und mit einem die realen Maßstäbe verzerrenden Blick wahrnimmt. Der Neidische und der Eifersüchtige beschäftigt sich ausschließlich mit dem Gegenstand seines Affekts und reduziert ihn auf die das Ressentiment auslösenden Eigenschaften. Bei beiden Autoren ufert das Erzählen jedoch immer wieder in ausgedehnten Beschreibungen von Objekten aus, die zu dem Affekt in keinerlei Beziehung stehen. Sie sind weder Auslöser, noch Ziel, noch Gegenstand des Gefühls. Ja, sie symbolisieren dieses nicht einmal. Vielmehr erscheinen sie als ganz willkürlich gewählte Gegenstände, an denen der Blick zufällig haften bleibt. ||
7 Alle Zitate aus dem französischen Original nach: Alain Robbe-Grillet, La Jalousie. Paris 1957; aus der deutschen Übersetzung nach: Alain Robbe-Grillet, Die Jalousie oder die Eifersucht. Aus dem Französischen von Elmar Tophoven. München 1959.
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Aus Robbe-Grillets Roman sind die weitschweifigen und mit der ermüdenden Akribie des Naturwissenschaftlers ausgeführten Deskriptionen der Dingwelt bekannt. Zur Illustration sei ein kurzer Ausschnitt aus der seitenlangen Beschreibung der Bananenplantage angeführt: Sur ce versant-ci de la vallée, une seule parcelle s’étend depuis la rivière jusqu’au jardin. En dépit de l'angle assez faible sous lequel apparaît la pente, les bananiers y sont encore faciles à compter, du haut de la terrasse. Ils sont en effet très jeunes dans cette zone, récemment replantée à neuf. Non seulement la régularité y est parfaite, mais les troncs n’ont pas plus de cinquante centimètres de haut, et les bouquets de feuilles qui les terminent demeurent bien isolés les uns des autres. Enfin l'inclinaison des lignes par rapport à l’axe de la vallée (quarante-cinq degrés environ) favorise aussi le dénombrement. Une rangée oblique prend naissance au pont de rondins, à droite, pour atteindre le coin gauche du jardin. Elle compte trente-six plants dans sa longueur. L'arrangement en quinconce permet de voir ces plants comme alignés suivant trois autres directions: d’abord la perpendiculaire à la première direction citée, puis deux autres, perpendiculaires entre elle également, et formant avec les deux premières des angles de quarante-cinq degrés. Ces deux dernières sont donc respectivement parallèle et perpendiculaire à l’axe de la vallée – et au bord inférieur du jardin. (37–38) Auf dieser Seite des Tals erstreckt sich nur eine Parzelle vom Fluss bis zum Garten. Trotz des ziemlich kleinen Winkels, unter dem der Abhang erscheint, sind die Bananenbäume darauf von der Höhe der Terrasse noch leicht zu zählen. In dieser unlängst wieder neu bepflanzten Zone sind sie nämlich sehr jung. Ihre regelmäßige Anordnung ist dort mustergültig, ihre Stiele sind nicht höher als fünfzig Zentimeter, und die Blätterbüschel an ihren Enden berühren einander noch gar nicht. Schließlich wird die Zählung auch durch die Abweichung der Reihen von der Achse des Tals (ungefähr fünfundvierzig Grad) erleichtert. Eine schräg verlaufende Reihe beginnt an der Knüppelholzbrücke rechts und reicht bis zur linken Ecke des Gartens. Sie enthält sechsunddreißig Pflanzen. Aufgrund der Kreuzpflanzung kann man diese Stiele betrachten, als ob bei der Aneinanderreihung noch drei andere Richtungen maßgebend gewesen wären: zumindest die Senkrechte der anfangs erwähnten Richtung, dann zwei andere Richtungen, die ebenfalls senkrecht zueinander verlaufen und mit den beiden ersten jeweils Winkel von fünfundvierzig Grad bilden. Von diesen beiden letzten Richtungen verläuft also die eine parallel und die andere senkrecht zur Achse des Tals – und zum unteren Rand des Gartens. (19–20)
Die provozierende Selbstgenügsamkeit solcher Deskriptionen, in denen das Winkelmaß von fünfundvierzig Grad eine merkwürdig prominente Rolle spielt und die einen Großteil des Romans ausmachen, hat in der Forschung eine Kontroverse um die Motivierung entfacht (vgl. die Zusammenfassung bei Goebel 1968). In seinem Essai Littérature objective stellte Roland Barthes die These von der absoluten Beziehungslosigkeit der Dingwelt zur Innerlichkeit des Beobachtenden auf. Robbe-Grillet selbst schloss sich in dem bereits erwähnten Manifest Une voie pour le roman futur dieser Auffassung zunächst an. Späterhin, im Essai Nou-
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veau Roman, homme nouveau (1961), rückte er jedoch von dem Schlagwort der objectivité, das mittlerweile zum Vorwurf geworden war, entschieden ab und unterstrich gerade die subjektive Prägung seiner Gegenstandsbeschreibungen. Unter der Losung Le Nouveau Roman ne vise qu’à une subjectivité totale wehrt er sich gegen das Verdikt der kalten, unparteiischen, inhumanen Dingfetischisierung: Non seulement c’est un homme qui, dans mes romans par exemple, décrit toute chose, mais c’est le moins neutre, le moins impartial des hommes: engagé au contraire toujours dans une aventure passionnelle des plus obsédantes, au point de déformer souvent sa vision et de produire chez lui des imaginations proches du délire. (Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, 117–118) Es ist nicht nur ein Mensch, der in meinen Romanen zum Beispiel alles beschreibt, sondern es ist auch der am wenigsten neutrale, der am wenigsten unparteiische der Menschen: er ist im Gegenteil immer in ein leidenschaftliches und sinnliches Abenteuer verwickelt, bis hin zu dem Punkt, an dem sich seine Vision oft verzerrt und in ihm Vorstellungen hervorbringt, die dem Delirium nahe kommen.
In einem Zeitungsinterview aus demselben Jahr erhebt Robbe-Grillet die Subjektivität der Dingbeschreibung gar zum generellen Merkmal seiner écriture und der gesamten Schule: Il s’agit donc d’une description parfaitement subjective, dont la subjectivité est même plus grande que celle du roman traditionnel, où le narrateur semble le plus souvent extérieur à l’histoire qu’il raconte, extérieur au monde lui-même […] Cette subjectivité est […] la caractéristique essentielle de ce qu’on a appelé le nouveau roman8. Es handelt sich also um eine vollkommen subjektive Beschreibung, deren Subjektivität sogar noch größer ist als die des traditionellen Romans, wo der Erzähler am häufigsten außerhalb der Geschichte bleibt, die er erzählt, außerhalb der Welt selbst […] Diese Subjektivität ist das wesentliche Merkmal dessen, was man als neuen Roman bezeichnet hat.
Durch diese Wendung Robbe-Grillets sah sich eine Interpretationsrichtung bestätigt, die seit dem Erscheinen der ersten Werke – im Gegensatz zu Barthes und den früheren Äußerungen des Autors – die Objektwelt als Korrelat der Innerlichkeit des Helden deutete. Es erschienen zahlreiche Studien, die sich auf weitreichende psychologische Spekulationen einließen und in der Dingwelt die psychischen Muster des Blickenden nachzuweisen suchten. Hauptvertreter dieser Richtung ist Bruce Morrissette. In seinem Buch Les romans de Robbe-Grillet (1963) unternimmt er den Versuch, aus der Auswahl, Folge und Konfiguration der dargestellten Gegenstände ein differenziertes Psychogramm des Helden zu ||
8 Le Monde (Sélection hebdomaire), 11.–17.5.1961.
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rekonstruieren. Abgesehen davon, dass die Psychologisierung mitunter etwas gewaltsam anmutet und andererseits die Eigentümlichkeiten der Deskription nur partiell erfasst9, muss sich Morrissette vorwerfen lassen, dass er der neuen, gegen die traditionelle Wahrscheinlichkeitsnorm zielenden Beschreibungstechnik im Grunde lediglich die Motivierungen des realistischen Bewusstseinsromans unterschiebt.10 Ungeachtet der Popularität der subjektivistisch-psychologisierenden Auslegung ist der Zweifel an der Motivierung nie verstummt. Auch späterhin hielt Barthes seine Objektivitätsthese aufrecht.11 Und Gérard Genette (1964, 293) leugnete gar jegliche psychologische Wahrscheinlichkeit der Deskription. Die vermeintliche Subjektivität ist für ihn ein Vorwand, der sich selbst ad absurdum führt. Mag die Intention des Autors auch realistisch und subjektiv sein, so ist das Produkt selbst „un spectacle rigoureusement objectif […] et totalement irréel“. Man wird sich kaum einseitig für eine der beiden Auslegungen entscheiden können. Die Irritation über die Motiviertheit ist vom Text ja geradezu vorprogrammiert. In einigen Passagen, bei der Darstellung der personalen Objekte, werden unbezweifelbar realistische Motivierungsbeziehungen zwischen Affekt und Deskription suggeriert. In andern aber wird diese Motivierung so überbeansprucht, dass immer wieder fraglich erscheint, ob überhaupt eine Motivierung vorliegt. Es sei hier an die oben zitierte Aussage des Autors erinnert, wonach eine zeitweilige Unterwerfung der Dinge unter die menschlichen Leidenschaften letztlich nur besser demonstriere, wie fremd sie dem Menschen eigentlich geblieben sind. Merkmal der Robbe-Grillet’schen Objektbeschreibung ist ein Oszillieren zwischen totaler Motiviertheit und totaler Nicht-Motiviertheit. Die écriture vereitelt die Fixierung eines homogenen Dechiffrierungskodes und inszeniert somit ein ||
9 Morrissette (1963, 131–132) kann selbst die befremdliche Minuziosität in der Beschreibung der Bananenplantage mühelos unter seinen psychologischen Nenner bringen: „[…] ist es nicht logisch, dass dieser unter einem großen Druck stehende Mensch über sein Gebiet mit der gleichen übertriebenen Aufmerksamkeit berichtet, die er anderswo zeigt? – Wir sehen ihn als eine Art Monster und nicht als Charakter […]“. 10 Damit verbunden ist die Unterstellung einer konventionell-realistischen Personenkonstitution. Völlig zu Recht erhebt Gerda Zeltner-Neukomm (1960, 80) gegen Morrissette den Vorwurf einer die Werkintention verfehlenden, weil an der traditionellen Poetik orientierten Rezeption der Erzählerfigur: „Morrissette entstellt die Meinung des Buches, indem er die Eifersucht, die hier erzählt, im Sinne des geläufigen Romans durch einen eifersüchtigen Menschen mit seinem persönlichen Verhalten ersetzt. Dann sind wir wieder beim Alten, wir haben es – obzwar in neuer Form – mit einer Romangestalt zu tun, die ihrer Wesenstiefe gemäß reagiert und ihre psychologische Rolle spielt, wie der Père Grandet seinen Geiz.“ 11 Vgl. Barthes’ Einleitung zu Morrissette 1963.
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überaus bewegliches Leserverhalten. Stellenweise wird die realistische Wahrscheinlichkeitsnorm erfüllt, aber – wie Robbe-Grillet sagt – „qu’en apparence – comme par dérision“ („nur zum Schein – wie zum Spott“). Der Leser, der sich auf die traditionelle psychologische Motivierung eingestellt hat und die Beschreibung nach den Regeln des realistischen Bewusstseinsromans zu dekodieren beginnt, wird sogleich wieder aus der Inertia seiner Einstellung herausgerissen. Er muss einen neuen Kode rekonstruieren, um diesen von der écriture wiederum in Frage stellen zu lassen.
10.2.2 Der verfremdende Blick in Olešas Neid Auch bei Oleša manifestiert sich der Affekt in einer angespannten, obsessiven Beobachtung der Umwelt. Die Beobachtung ist die einzige Aktivität der Neider, der Eifersüchtigen und der Liebenden. Dabei beobachtet der Held ständig auch sein eigenes Sehen und schützt seinen Blick vor der Entdeckung durch andere. Ein Beispiel aus der Kette: Я смотрю на велосипед. Каждую минуту студент может поймать мой взгляд. Тогда я чуть-чуть, незаметно, на одну линию подниму взгляд и буду смотреть на лозу. (203– 204) Ich schaue auf das Fahrrad. Jede Minute kann der Student meinen Blick auffangen. Dann werde ich den Blick ganz wenig, unmerklich um eine Linie anheben und werde auf den Weidenzweig schauen.
Beobachtet wird meistens aus dem Verborgenen: „Der Student sah mich nicht. Ich sah alles“ („Студент не видел меня. Я видел всё“, 203) Bevorzugte Standpunkte sind Brücken, Tribünen, Balkons, Orte also, von denen die fixierten Objekte verkleinert und perspektivisch verflacht erscheinen. Andererseits ist der Blick auch der mikroskopischen Vergrößerung fähig. Die Visionen sind dann vermittelt durch optische Instrumente, Glasscheiben, Spiegel und reflektierende Gegenstände. 12 Die ständigen Verweise auf den Blick, seine Perspektiven und Schwenks, Maßstäbe und Brechungen entwerfen das geradezu naturwissenschaftliche Bild einer mechanischen Optik, der das Ich nur als Gehäuse dient. Ein ähnliches Verhältnis zum Objekt ihres Affekts wie der Erzähler in Eifersucht haben die Helden Olešas. Solange der Blick des Beobachters auf das Objekt
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12 Zu den zahlreichen physikalischen Motivierungen der indirekten Weltbeschreibung bei Oleša vgl. Nilsson 1965.
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des Affekts gerichtet ist, erscheint die Beschreibung durchaus realistisch motiviert. Dieser Empfindung liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch den Gegenstand seines Affekts selektiv wahrnimmt, mit einer idiosynkratischen Perspektive, die die realen Verhältnisse verzerrt. So wird in Neid der sowjetische Funktionär und Direktor des Lebensmittelkonzerns Babičev, der Kavalerov aus der Gosse gezogen hat, von seinem neiderfüllten heruntergekommen Schützling bei seinem Toilettengang in allen visuellen und akustischen Details als vor Gesundheit strotzend dargestellt. Im neidisch-bewundernden Blick Kavalerovs konstituiert sich die Gestalt Babičevs aus Körperteilen und äußeren Eigenschaften, die Vitalität, sexuelle Potenz und Kolossalität signalisieren. Anderseits versucht Kavalerov seinen Gegner in den Augen des angesprochenen Adressaten herabzusetzen.13 Seine tendenziös-impressiven Deskriptionen gestalten Babičev in hyperbolischen Bildern des gierigen Essens und der gesunden Verdauung. An den Attributen der physischen Überlegenheit kehrt Kavalerov also die Merkmale der ungeistigen Animalität hervor. Im verächtlichen Blick Kavalerovs, in dem die Furcht vor dem Wohltäter mit Begeisterung gemischt ist, wird Babičevs Körper in einzelne geometrische Figuren und physikalisch-technische Gegenstände zerlegt: Вечер. Он работает. Я сижу на диване. Между нами лампа. Абажур (так видно мне) уничтожает верхнюю часть его лица, ее нет. Висит под абажуром нижнее полушарие головы. В целом она похожа на глиняную крашеную копилку. (23) Abend. Er arbeitet. Ich sitze auf dem Divan. Zwischen uns ist die Lampe. Der Lampenschirm – so sieht es für mich aus – vernichtet den oberen Teil seines Gesichts. Er existiert nicht. Unter dem Lampenschirm hängt die untere Halbkugel des Kopfes. Insgesamt ähnelt der Kopf einer tönernen angemalten Spardose.
An anderer Stelle wird Babičev als technischer Mechanismus beschrieben. Hier ist die Zerlegung ganzheitlicher Bewegungen in einzelne Aufnahmen charakteristisch. Die Motivierung einer solchen Verfremdung ist die Furcht Kavalerovs vor seinem Beschützer. Kavalerov hat auf dem Flughafen in Gegenwart aller Offizieller Babičev als „Wurstmacher“ („Колбасник“, 35) beschimpft: Лицо Бабичева обратилось ко мне. Одну десятую долю секунды оно пребывало ко мне обращенным. Глаз не было. Были две тупо, ртутно сверкающие бляшки пенсне. Страх какого-то немедленного наказания вверг меня в состояние, подобное сну. Я видел сон. Так мне показалось, что я сплю. И самым страшным в том сне было то,
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13 Zu Kavalerovs fluktuierender (vergrößernder und verkleinernder) Sicht auf Babičev vgl. Wilson 1974.
Oleša und Robbe-Grillet | 183 что голова Бабичева повернулась ко мне на неподвижном туловище, на собственной оси, как на винте. Спина его оставалась неповернутой. (35) Babičevs Gesicht wandte sich zu mir. Den zehnten Teil einer Sekunde verharrte es mir zugewandt. Augen gab es keine. Es gab zwei stumpf, quecksilbrig glänzende Plättchen des Kneifers. Die Furcht vor einer unverzüglichen Bestrafung versetzte mich in einen schlafähnlichen Zustand. Ich hatte einen Traum. Mir schien, dass ich schlief. Und das Schrecklichste in diesem Traum war, dass sich der Kopf Babičevs auf dem unbeweglichen Rumpf zu mir drehte, auf der eigenen Achse, wie auf einer Schraube. Sein Rücken blieb unverdreht.
Die dem Neid eigene Dialektik von unwillkürlicher Bewunderung und willentlicher Verachtung prägt alle Ansichten, in denen Babičev erscheint. Bei Aussagen über den sowjetischen Funktionär und Leistungsträger ist deshalb größte Behutsamkeit geboten. In der Sekundärliteratur hat man das Bild Babičevs oft zu direkt rezipiert. Man hat dabei übersehen, dass die Figur ausschließlich, auch in jenen Passagen, die in der Er-Form erzählt sind, über die neidische, deformierende Wahrnehmung Kavalerovs dargeboten wird. Auch bei Oleša breitet sich die verfremdende Beschreibung auf Objekte aus, die zu dem Affekt des Beobachters in keiner Beziehung stehen. Diese Gegenstände rufen kein Gefühl hervor und sind auch nicht symbolischer Ausdruck, und gleichwohl bleibt der Blick an ihnen haften. Die Beschreibung wirkt bei ihnen unmotiviert. Betrachten wir eine Stelle aus Neid, die unmittelbar auf die soeben angeführte Beschreibung Babičevs als eines ausdrucks- und seelenlosen Mechanismus folgt. In die Narration der Beleidigung („Wurstmacher“), die den Höhe- und Wendepunkt der Handlung darstellt, ist eine Deskription eingebettet. Kavalerov steht am Rande des Flugfelds, wo die Katastrophe, die Beleidigung, stattgefunden hat, und beobachtet. Er ist von seinem beleidigenden Anruf noch stark erregt: С аэродрома вылетела машина. Со страшным мурлыканьем она покатилась надо мной, желтея на солнце, косо, как вывеска, почти раздирая листву моего дерева. Выше, выше, — я следил за нею, топчась на валу: она уносилась, то вспыхивала она, то чернела. Менялось расстояние, и менялась она, принимая формы разных предметов: ружейного затвора, перочинного ножа, растоптанного цветка сирени… (35) Vom Flugplatz flog eine Maschine ab. Mit schrecklichem Schnurren zog sie über mich hinweg, gelb in der Sonne glänzend, schräg, wie ein Ladenschild, fast das Laub meines Baumes zerreißend. Höher und höher, – ich folgte ihr mit dem Blick, trat auf der Stelle: sie raste davon, mal blitzte sie auf, mal schimmerte sie schwarz. Es veränderte sich der Abstand, und sie veränderte sich, indem sie Formen verschiedener Gegenstände annahm: eines Gewehrschlosses, eines Taschenmessers, einer zertretenen Fliederblüte.
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Weder das Flugzeug noch seine Bewegung noch gar die Vergleichsgegenstände lassen sich in eine psychologisch plausible Beziehung zu jenem Affekt bringen, der Kavalerov im Moment der Beobachtung beherrscht. Die Irritation, die solche Dingbeschreibungen hervorrufen, finden in der Sekundärliteratur ihren Ausdruck darin, dass man die für Oleša typischen Visionen, Bilder und Metaphern ohne Rücksicht auf ihre Integration in die Narration analysiert. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Deskription und dem Bewusstseinszustand des beobachtenden Ich wird in der Regel nicht gestellt. Nur gelegentlich begegnet man einem Hinweis auf die ostentative Unfunktionalität und die fehlende Sujeteinbettung von Olešas Bildern und Metaphern. So stellt Elizabeth Beaujour (1970, 36) fest: […] Olesha almost always uses a metaphor or simile which is nonfunctional if not antifunctional. If there is a system in his images at all, the systematic element is the transformation of the object by the destruction of the reader’s consciousness of its function.
Vladimir Solov’ev (1974, 164) konstatiert bei Oleša eine ungewöhnliche Autonomie der Metapher, ihre Verlagerung von der Peripherie ins Zentrum, ihre Verwandlung vom sekundären Material zum primären Ziel: Der Leser erhält den Eindruck – und behält diesen auch –, dass Oleša um der Metapher willen alles liegen lässt: das Thema, das Sujet, die Konstruktion, sogar das Wort, das – wie auch die übrigen Werkkomponenten – von ihm zu einem Mittel für die Wiedergabe der Metapher gemacht wird.
Aber erst Mariėtta Čudakova (1972a, 22–23) macht in ihrer glänzenden Studie zu Olešas Poetik das Problem der Motivierung bewusst: Bei Oleša ist die Beschreibung nicht an ein bestimmtes Gefühl, einen ungewöhnlichen Seelenzustand gebunden. Bei ihm werden [die DingeJ in einen solchen Kontext gebracht, dass sie sich nur in ihrer eigenen und zufälligen Bedeutung zeigen, die dabei nirgends erläutert, nirgends motiviert wird. Das Bild ist so, wie es erinnert wurde. Die Gründe dafür, dass das Gedächtnis so und nicht anders gearbeitet hat, werden nicht angegeben. Die Fäden zwischen der Stimmung des Beobachters und seiner Wahrnehmung des Gegenstands werden durchgeschnitten oder – besser – hören auf sichtbar zu sein. […] Die gewohnte Verbindung zwischen der Stimmung des Helden und dem, was er sieht, fehlt hier.
Als Beispiel für die – wie sie formuliert – „Störung der Proportion zwischen Psychologie und Beschreibung“ zitiert Čudakova eine Stelle aus der Kette. Der Erzähler hat sich vom Studenten Orlov das Fahrrad geliehen und beim Fahren die Kette verloren:
Oleša und Robbe-Grillet | 185 Она лежит на дороге. Нужно вернуться и подобрать. Ничего тут страшного нет. Страшного тут ничего нет. Я иду и веду машину за фибровую ручку. Педаль толкает меня под колено. Три мальчика, три неизвестных мне мальчика бегут по краю оврага. Они убегают, позлащенные солнцем. […] Я понимаю: мальчики нашли цепь. Это неизвестные мальчики, бродяги. Вот они уже бегут в глубине ландшафта. (205) Sie liegt auf der Straße. Ich muss umkehren und sie aufheben. Hier ist nicht Schlimmes dabei. Etwas Schlimmes ist hier nicht dabei. Ich gehe und führe das Rad am Lenker aus Fibermaterial. Die Pedale stößt mich am Knie. Drei Jungen, drei mir unbekannte Jungen laufen am Rande der Schlucht. Sie laufen weg, von der Sonne vergoldet. […] Das sind unbekannte Jungen, Vagabunden. Da laufen sie schon in der Tiefe der Landschaft.
Čudakova (1972a, 23–24) fragt: Warum bemerkt [der Erzähler], dass die Jungen „von der Sonne vergoldet“ sind? Die Leseerfahrung sagt uns, dass [er] das in seinem angespannten Zustand nicht bemerken kann, ja gar nicht darf. Die Motivierungen der Beschreibung durch die Stimmung des Helden scheinen uns selbstverständlich, notwendig, gewissen Lebensregeln entsprechend. In Wahrheit ist uns das Gefühl dieser Notwendigkeit durch die Literatur anerzogen worden. Oleša befreit uns von dieser vermeintlichen Notwendigkeit, indem er ihren zeitgebundenen, konventionellen Charakter bloßlegt.
Bei der Destruktion und Bloßlegung der Motivierung bleibt Oleša freilich nicht stehen. Und die Schlussfolgerungen Čudakovas bedürfen der Modifizierung. Unbestreitbar ist, dass die beschriebenen Objekte und ihre Eigenschaften selbst völlig indifferent gegenüber der Emotion sind und dass hier eine realistische Norm durchbrochen wird. Aber dafür wird ein neuer Motivierungszusammenhang etabliert. An die Stelle der Relation Bewusstsein versus Objekt tritt nun die Beziehung Bewusstsein versus Deskriptionstechnik. Als Symptom für den Affekt fungiert nicht mehr die Auswahl der Objekte, sondern die Methode ihrer Beschreibung. Diese neue Motivierungsfunktion müssen wir in zwei Phasen betrachten. Zunächst einmal wird eine Wechselbeziehung konstruiert zwischen dem Affekt und der Verschärfung der Wahrnehmung. Die minuziöse Beschreibung erscheint bei Oleša wie auch bei Robbe-Grillet als Korrelat einer verstärkten Gefühlstätigkeit. Man wird einwenden, dass ein Affekt nach aller Erfahrung die Weltwahrnehmung nicht unbedingt bereichere, sondern eher einenge, wie ja schon die Darbietung der personalen Objekte des Affekts von einem charakteristischen Reduktionismus begleitet war. Bei der Dingwelt geht es indes nicht mehr um eine realistische Motivierung, die sich dem Gesetz der psychologischen Wahrscheinlichkeit unterwirft. Der in der Lebenspraxis gar nicht bestehende Zusammenhang zwischen Affekt und Wahrnehmungssensibilisierung wird hier rein werkimmanent suggeriert, und zwar durch die Mittel der Komposition. In Olešas Werken geht der descriptio der Dinge stets die narratio von Ereignissen
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voraus, die einen Affekt auslösen oder verstärken. Wir konnten diesen Zusammenhang bereits an der Flugfeldszene und beim Verlust der Kette beobachten: das Aufwallen von Emotionen machte den Blick empfindlich für die fremdartigen Visionen, die die Welt der Dinge anbietet. Diesen Wechsel von der narratio des Affekts zur descriptio der Dinge sehen wir im kleinen Maßstab an folgender Stelle der Flugplatzszene: Взбешенный, я отошел от них. Я сидел в буфете и, ласкаемый полевым ветерком, пил пиво. Я тянул пиво, наблюдая, как ветерок лепит нежные орнаменты из концов скатерти моего столика. (33) Wütend ging ich von ihnen weg. Ich saß im Büffet und trank – vom Lüftchen des Feldes umschmeichelt – ein Bier. Ich sog das Bier ein und beobachtete, wie das Lüftchen zarte Ornamente aus den Enden des Tuches auf meinem Tisch formte.
Die Kausalverbindung der fremdartigen Vision mit dem Affekt wird durch kompositionelle Kontiguität suggeriert. Dasselbe gilt auch für die ausführliche Darstellung des Fußballspiels im zweiten, von einem nicht-diegetischen Narrator erzählten Teil von Neid. Die übergenaue Registrierung irrelevanter Details und die phantastischen Ansichten alltäglicher Vorgänge erhalten in diesen Deskriptionen ihre Motivierung ausschließlich dadurch, dass in kurzen Einschüben immer wieder Kavalerovs angespannter Blick auf die Objekte seiner Emotionen thematisiert wird. Folgendermaßen ist die Situation: Die Helden sehen das Fußballspiel zwischen den Mannschaften Moskaus und Deutschlands. Auf der Tribüne verfolgen das Spiel Andrej Babičev, den Kavalerov beneidet, und Babičevs Nichte Valja, der Kavalerov eine unerwiderte Liebe entgegenbringt. Im Tor der Moskauer Mannschaft steht Volodja Makarov, der väterlich umsorgte Schützling Babičevs und Verlobte Valjas, für Kavalerov erfolgreicher Nebenbuhler sowohl bei Babičev als auch bei Valja. Immer wenn Kavalerov seinen Blick von diesen drei Personen abwendet, nimmt das Erzählen die Form einer objektiven, minuziösen Gegenstandsbeschreibung an.14 Гэцке, еще не окончив движения, сделанного для удара, изящно переменял это движение на другое, нужное для того, чтобы повернуться и бежать, поворачивался и бежал, нагнув спину, плотно обтянутую пропотевшей до черноты фуфайкой. (84)
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14 So sind auch die langen Beschreibungen im Kirschkern, die auf den ersten Blick von der Handlung losgelöst, wie Fremdkörper erscheinen, nur dadurch gerechtfertigt und in die Sujetlinie integriert, dass sie jeweils an Motive angrenzen, die die aussichtslose Liebe und die Eifersucht des erzählten Ich gestalten.
Oleša und Robbe-Grillet | 187 Gätzke, der die für den Schuss unternommene Bewegung noch nicht abgeschlossen hatte, änderte diese Bewegung elegant in eine andere um, die nötig war, um sich zu drehen und loszulaufen, drehte sich und lief los, mit gebogenem Rücken, der von dem bis zur Schwärze durchgeschwitzten Trikot eng umspannt war.
In der Zerlegung in einzelne Phasen verwandeln sich alltägliche Bewegungen zu fremdartigen Schauspielen: Володя схватывал мяч в таком полете, когда это казалось математически невозможным. […] Володя не схватывал мяча — он срывал его с линии полета и, как нарушивший физику, подвергался ошеломительному действию возмущенных сил. Он взлетал вместе с мячом, завертевшись, точь-в-точь навинчиваясь на него: он обхватывал мяч всем телом — коленями, животом и подбородком, набрасывая свой вес на скорость мяча, как набрасывают тряпку, чтобы потушить вспышку. Перехваченная скорость мяча выбрасывала Володю на два метра вбок, он падал в виде цветной бумажной бомбы. (84–85) Volodja reckte sich nach dem Ball in einem solchen Flug, als es mathematisch unmöglich schien. […] Volodja fing den Ball nicht, er riss ihn aus der Linie des Fluges und unterwarf sich, die Physik gleichsam aufhebend, einer verblüffenden Aktion empörter Kräfte. Er flog zusammen mit dem Ball empor und drehte sich, buchstäblich auf ihn festgeschraubt: er umschlang den Ball mit dem ganzen Körper, mit den Knien, dem Bauch und dem Kinn, warf sein ganzes Gewicht auf die Geschwindigkeit des Balles, wie man einen Lappen wirft, um ein aufloderndes Feuer zu ersticken. Die umschlungene Geschwindigkeit des Balles warf Volodja zwei Meter zur Seite, er fiel wie eine bunte Papierbombe.
Als Objekt der zerlegenden Beschreibung dient schließlich auch der Flug des Balles selbst: Вдруг мяч, выброшенный чьим-то мощным и нерассчитанным ударом, взлетел высоко и вбок за поле, из игры, в сторону Кавалерова, просвистел над пригнувшимися головами нижних рядов, остановился на мгновенье и, завертевшись всеми своими пластинками, рухнул на доски, к ногам Кавалерова. (86) Plötzlich flog der Ball, von irgendwessen mächtigem und nicht berechnetem Schuss getroffen, in die Höhe und über das Spielfeld hinaus, aus dem Spiel, zur Seite Kavalerovs, pfiff über die eingezogenen Köpfe der unteren Reihen hinweg, blieb für einen Augenblick in der Luft stehen und schlug – sich mit allen seinen Streifen drehend – auf die Bretter, vor die Füße Kavalerovs.
In allen Werken Olešas können wir diese sekundäre, künstliche, die realistische Wahrscheinlichkeit desavouierende Motivierung durch kompositionelle Kontiguität beobachten. In dem steten Wechsel von der narratio des Affekts zur descriptio der Welt hat die bei Oleša oft beklagte Inkohärenz des Sujets, der scheinbar willkürliche Übergang von einer Motivsequenz zu einer andern, ihren Ursprung. Es handelt sich hier nicht um die Konstruktionsschwäche eines Au-
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tors, der – wie zuweilen behauptet wird – ein Meister nur in der Gestaltung isolierter Motive und Metaphern ist, sondern um ein neues Kompositionsgesetz, das die destruierte psychologische Wahrscheinlichkeit durch eine Motivierung nach dem Prinzip der Kontiguität ersetzen soll. Da diese künstliche Motivierung nicht unserer Lebens- und Leseerfahrung entspricht, muss sie stets von neuem etabliert werden. Oleša hebt also einerseits den vom Realismus als selbstverständlich angenommenen Zusammenhang von Bewusstsein und Welterfahrung auf, indem er ihn durch Überdehnung ad absurdum führt, und setzt anderseits eine Motivierung der Wahrnehmungsverschärfung durch den Affekt in Kraft, die einzig von der kompositionellen Nachbarschaft getragen wird.
10.2.3 Die neue, artistische Motivierung Bei Oleša motiviert der Affekt, wie wir gesehen haben, nicht lediglich die Verschärfung der Wahrnehmung als solche, sondern darüber hinaus auch die Methoden der Gegenstandserfassung. Durch die Komposition wird ein Motivierungszusammenhang zwischen dem Affekt und der Annäherung an die Dinge, d. h. den Verfahren der Deskription, hergestellt. Auch in Eifersucht gibt den herrschenden Affekt eher die Annäherung an den Gegenstand als seine Auswahl kund. Man denke an Robbe-Grillets outriert analytischen procedés, das übertrieben genaue Erfassen aller möglichen Gegenstände nach Maß und Zahl, das obsessive Aufdecken geometrischer Figuren, alles Verfahren, die das Objekt, anstatt es anschaulich zu präsentieren, mit einer Überfülle exakter Angaben verdecken. Einige dieser Verfahren finden wir schon bei Oleša, freilich mit anderer Wirkung. Trotz der Divergenzen in der Teleologie der Deskription verbindet beide Autoren eine unverkennbare Inertia bei der Anwendung der Beschreibungsverfahren auf die beiden Objektreihen: Verfahren, die bei den personalen Objekten des Affekts durchaus noch psychologisch plausibel erscheinen, werden unverändert auf die Gegenstände der äußeren Welt übertragen und somit ihrer primären Motiviertheit beraubt. Olešas Deskriptionsverfahren haben eine generelle Tendenz: Sie bieten die Gegenstände in ihren flüchtigen, unbeständigen, ja zufälligen Eigenschaften dar. Jene Eigenschaften, die das Wesen, die Bestimmung, den Gebrauchswert der Objekte determinieren, werden nie genannt. Der affektbeherrschte Blick – so suggeriert der Text – erfasst die Welt nur in ihrer Oberflächenwirkung. Und diese ist allein durch die Lage der Dinge im Raum und durch ihre Beleuchtung bestimmt. Erinnern wir uns an die Beschreibung des startenden Flugzeugs. Dort wurde
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gesagt: „Es veränderte sich der Abstand, und sie [die Maschine] veränderte sich“. Damit wird eine der Beschreibungsregeln Olešas expliziert: Die Eigenschaft der Dinge ist eine Funktion ihrer räumlichen Lage zum Betrachter. Dann impliziert die Beschreibung, dass sich die Eigenschaften der Dinge in Abhängigkeit von der Beleuchtung ändern: „Mit schrecklichem Schnurren zog sie über mich hinweg, gelb in der Sonne glänzend, schräg, wie ein Ladenschild [ ... J sie raste davon, mal blitzte sie auf, mal schimmerte sie schwarz“. Das Zusammenspiel der beiden Faktoren räumliche Entfernung und Beleuchtung bedingt die seltsamen Metamorphosen des Flugzeugs: „[es] nahm Formen verschiedener Gegenstände an: eines Gewehrschlosses, eines Taschenmessers, einer zertretenen Fliederblüte“. Auf diese Weise entstehen alle Vergleiche und Metaphern, an denen Olešas Prosa so überreich ist. Es gibt keine funktionalen Beziehungen, weder zwischen Objekt (Flugzeug) und Bild (zertretener Fliederblüte) noch zwischen den Bildern. Generierendes Prinzip ist allein die flüchtige, zufällige und dabei überraschende Ähnlichkeit der Oberflächen. Da jegliche Bindung der Bilder an die Handlung und das Innenleben des Helden fehlt, kann Oleša seine Vergleiche und Metaphern mehrfach verwenden, ja von einem Werk ins andere verpflanzen.15 Auch strahlen die Bildspender keinerlei semantische Energie aus. In der Kette heißt es: Вспыхивает на переднем стволе рамы зеленая марка фирмы. Движение — и марка исчезает, как ящерица. (203) Am vorderen Rohr des Rahmens blitzt die grüne Marke der Firma auf. Eine Bewegung – und die Marke verschwindet, wie eine Eidechse.
Der Vergleich bleibt ganz punktuell. Es geht kein Einfluss von ihm aus auf frühere oder spätere Bilder. Seine Wirkung erschöpft sich im Augenblick. Die Beschreibung des startenden Flugzeugs und der davoneilenden, von der Sonne vergoldeten Jungen zeigt zwei für Olešas Welt charakteristische Merkmale. Erstens: die Bewegung der Objekte vom Beobachter weg öffnet den Raum in die Tiefe. Und zweitens: dieser perspektivisch vertiefte Raum ist von einem strahlenden Licht erfüllt, das sich an den Gegenständen bricht, reflektiert und konzentriert. Räumliche Tiefe und schattenlose Lichtfülle evozieren den Eindruck einer traumhaft-surrealistischen, künstlichen Welt. Die Gegenstände, die diesen strahlenden Raum füllen, erfasst der Beobachter in scharfen, isolierenden Einzelwahrnehmungen, gleichsam in stehenden ||
15 So taucht z. B. der Flieder als Bildspender auch in der Kette auf, und zwar gleich zweimal: „Zum Tee gibt es Kuchen mit Sahne. Das ist eine flache, fliederfarbene Scheibe“ (205). – „Der Kuchen zerkrümelt sich an den Handschuhen wie Flieder“ (206).
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Bildern. Dabei entspricht jedem Bild, jedem Eindruck auf der Ebene des Textes eine selbstständige parataktische Einheit: Деревянный стол был морщинист, на столе стоял горшок с цветами, студент дул в цветы, цветы отворачивались. Студент смотрел вдаль и видел синий околыш моря. (203) Der Holztisch war von Furchen durchzogen, auf dem Tisch stand ein Topf mit Blumen, der Student blies in die Blumen, die Blumen wandten sich ab. Der Student blickte in die Ferne und sah den blauen Saum des Meeres.
Diese Sequenz aus der Kette macht deutlich, wie sich der Blick über die Ordnungen der Realität hinwegsetzt und der Dingwelt seine eigene Gesetzlichkeit aufprägt. Der räumliche, kausale und funktionale Zusammenhang der Dinge geht verloren. Was weit entfernt ist, rückt zusammen, und was zusammengehört, wird getrennt. Dieses generelle Wahrnehmungsgesetz bedingt zwei spezifische Deskriptionsverfahren, die es näher zu betrachten gilt. Das erste ist die Zusammenfassung von Dingen unterschiedlicher Ordnung und Größe in einem Bild. Aus dem Büffet beobachtet Kavalerov das Flugfeld. Folgende heterogene Objekte bringt sein Blick in einer Ansicht zusammen: Kamillenblüten, runde Wolken, hölzerne Richtungspfeile, den seidenen Windsack und über das Gras kriechende Flugzeuge. Der vereinigende Blick desavouiert die Maßstäbe der Realität: Kamillenblüten und Wolken erscheinen als Gegenstände gleicher Ordnung und Größe. Wesentlich weiter verbreitet ist bei Oleša allerdings das entgegengesetzte Verfahren, die Zerlegung von Ganzheiten in ihre Teile. Als solche Teile können Eigenschaften, physische Körper und zeitliche Phasen auftreten. Sie werden additiv aneinandergereiht, ohne Hinweis auf funktionale Zuordnungen oder Hierarchien und ohne dass das vereinigende Ganze als solches in den Blick geriete. Die ursprüngliche Ganzheit mit ihrer übersummativen Gestaltqualität wird in eine rein summative Ansammlung heterogener, unzusammenhängender Teile transformiert. So wird in der Kette eine Blumenknospe in ihre Eigenschaften zerlegt: Бутон туг, блестящ, цилиндричен, похож на пулю. (203) Die Knospe ist steif, glänzend, zylindrisch, einer Gewehrkugel ähnlich.
Der Held der Erzählung In der Welt (V mire, 1930) betrachtet eine Blume durch ein imaginäres Mikroskop. Er fühlt sich wie Gulliver im Land der Riesen: Жалкий — достоинства соломинки — цветок потрясает меня своим видом. Он ужасен. Он возвышается как сооружение неведомой грандиозной техники. Я вижу могу-
Oleša und Robbe-Grillet | 191 чие шары, сочленения, колена, рычаги. И тусклоe отражение солнца на стебле исчезнувшего цветка я воспринимаю теперь как ослепительный металлический блеск. (238) Eine armselige Blume, vom Wert eines Strohhalms, erschüttert mich durch ihren Anblick. Sie ist entsetzlich. Sie erhebt sich wie der Bau einer unbekannten, grandiosen Technik. Ich sehe gewaltige Kugeln, Rohre, Gelenke, Knie, Hebel. Und den matten Widerschein der Sonne am Stil der verschwundenen Blume nehme ich jetzt als blendenden metallischen Glanz wahr.
Beide Beispiele demonstrieren eine ganz charakteristische Eigenart des analytischen Blicks. Die Teile, die die Analyse bloßlegt, werden als selbständige geometrische Figuren und physikalisch-technische Körper erfasst. In Olešas Beschreibungen mit der Zerlegung von organischen Ganzheiten in Flächen und geometrische Körper können wir ein literarisches Pendant zur Malerei des Kubismus sehen. Den Einfluss einer anderеn Stilrichtung der Malerei, nämlich des Futurismus, verraten Olešas Analysen von Bewegungsvorgängen. Ganzheitliche Bewegungsabläufe werden in ihre Teilphasen zerlegt und in einer Sequenz von Momentaufnahmen festgehalten. Der Träger des analytisch dargestellten Prozesses ist ganz sekundär, was in der folgenden Szene bereits die sprachliche Ablösung der Handlung von der ausführenden Person unterstreicht. Šapiro probiert eine Scheibe von der neuen Wurst, die Babičev hat produzieren lassen: В полной тишине ломтик был жеван, прижимаем к нёбу, посасываем и медленно глотаем. Рука с перочинным ножом была отведена в сторону, подрагивала: обладатель руки прислушивался к ощущениям. (30) In tiefer Stille wurde das Scheibchen gekaut, gegen den Gaumen gepresst, ausgesaugt und langsam verschluckt. Die Hand mit dem Taschenmesser war zur Seite geführt, sie zitterte ein wenig: der Besitzer der Hand lauschte auf seine Empfindungen.
Besondere Vorliebe hat Oleša für Bilder des Sports. Hier bot sich ihm reiches Material für die Analyse von motorischen Vorgängen, die wir gewöhnlich nur als ganze wahrnehmen. In Neid zerlegt Kavalerovs Blick einen Hochsprung: Они увидели упражнения в прыжках. Между двух столбиков была протянута веревка. Юноша, взлетев, пронес свое тело над веревкой боком, почти скользя, вытянувшись параллельно препятствию, — точно он не перепрыгивал, а перекатывался через препятствие, как через вал. И, перекатываясь, он подкинул ноги и задвигал ими подобно пловцу, отталкивающему воду. В следующую долю секунды мелькнуло его опрокинутое искаженное лицо, летящее вниз, и тут же Кавалеров увидел его стоящим на земле, причем, столкнувшись с землей, он издал звук, похожий на «афф», — не то усеченный выдох, не то удар пятки по траве. (81)
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| Künstlerische Motivierung in der Avantgarde Sie sahen Übungen im Springen. Zwischen zwei Pfählen war ein Seil gespannt. Ein junger Mann flog hoch, drehte seinen Körper über dem Seil mit der Schulter nach vorne, fast gleitend, parallel zum Hindernis ausgestreckt, als ob er über das Hindernis nicht spränge, sondern rollte, wie über einen Erdwall. Und im Hinüberrollen warf er die Beine empor und bewegte sie ähnlich wie ein Schwimmer, der das Wasser zurückstößt. Im nächsten Teil der Sekunde tauchte sein umgedrehtes, verzerrtes Gesicht auf, das nach unten flog, und jetzt sah Kavalerov ihn auf der Erde stehen, wobei er, mit der Erde zusammengestoßen, einen Laut von sich gab, der einem „aff“ ähnelte, – entweder ein abgerissenes Ausatmen oder das Aufschlagen der Ferse auf dem Gras.
Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass bei Oleša neben der Relation von Weltwahrnehmung und Affekt, die, wie dargelegt wurde, durch kompositionelle Kontiguität suggeriert wird, eine andere traditionelle Motivierungsrelation, nämlich die Kundgabebeziehung zwischen dem erzählenden Subjekt und seinem Sprachstil aufgehoben ist. Diese Neutralisierung gilt auch für diegetische Erzähler. Olešas Erzähler sprechen allesamt die gleiche Sprache. Und das ist nicht die Sprache des Affekts. Ja, sie scheint überhaupt nicht perspektivisch auf ihr Subjekt zugeschnitten zu sein. Symptome für den Bewusstseinszustand ihres Urhebers suchen wir in Lexik und Syntax vergebens. Es wird nicht einmal Mündlichkeit oder Umgangssprachlichkeit fingiert. Es handelt sich vielmehr um eine betont neutrale Schriftsprache, in der alle Spuren eines persönlichen Temperaments getilgt sind. Ebenso aperspektivisch ist übrigens auch die Erzählsprache bei Robbe-Grillet. Die outriert-unpersönliche, wissenschaftlich anmutende Beschreibung in Eifersucht gibt von der Emotion ihres Subjekts nicht das Geringste kund. Bei Oleša ist die Aperspektivität der Erzählsprache insbesondere im Kontext seiner Zeit signifikant. Die russische Prosa der 1920еr Jahre pflegte den Skaz, das subjektive, mündliche, umgangssprachliche, dialogische, kolorithaltige Erzählen, das ein plastisches Bild seines Urhebers und des sozialen Milieus entwirft. Oleša verweigert sich nicht nur diesem Trend seiner Zeit, sondern geht sogar in die entgegengesetzte Richtung. Seine Erzählsprache ist geprägt von poetischen Klanggestalten, die für die Poesie charakteristisch sind, und er tendiert damit zur sogenannten poetischen oder ornamentalen Prosa.16
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16 Zur ornamentalen Prosa vgl. Schmid 2014b. Zu den „figurative, phonic, syntactic and rhythmic devices“ in Olešas Prosa, die über der Bildlichkeit gewöhnlich vernachlässigt werden, vgl. Berczynski 1971.
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10.2.4 Das Ziel der Verfremdung bei Oleša Was ist das poetische Telos der Deskriptionstechnik Olešas, die auf Grund der kompositionellen Kontiguität durch den Affekt motiviert erscheint? Wir können seine Beschreibungsverfahren auf den von Viktor Šklovskij aktualisierten Begriff der Verfremdung (ostranenie) bringen. Bei Šklovskij bedeutet dieser Begriff unter anderеm: Darbietung der Welt in ungewohnten Ansichten, die der automatisierten Sehweise des Alltags entgegenstehen. Ziel der Verfremdung ist es, den Rezipienten altvertraute Wirklichkeitsausschnitte nicht einfach nur „wiedererkennen“ (uznavat’), sondern in ihrer Eigenart bewusst „empfinden“ (oščuščat’) zu lassen. Oleša war mit Šklovskijs Konzept offensichtlich gut vertraut. Seine Erzählung Der Kirschkern illustriert geradezu Šklovskijs Dichotomie Automatisierung versus Verfremdung. In der automatisierten, unbewussten Wahrnehmung kommt nach Šklovskij das Leben abhanden. Durch das Verfahren der Verfremdung gibt uns die Kunst das oščuščenie žizni, die Empfindung des Lebens, zurück. Dem Helden der Erzählung, der von den Gefühlen der unerwiderten Liebe und der Eifersucht gequält wird, zeigt sich die alltägliche Welt in geheimnisvollen Anblicken. Tausendmal erblickte Dinge werden wie zum ersten Mal gesehen und verwundern durch ihre Fremdheit: Я увидел в стене нишу и захотел бросить в нишу камушек. Я нагнулся, камень лежал у ног… Тут я увидел муравейник. Лет двадцать тому назад я видел муравейник в последний раз. О, конечно, не раз в течение двадцати этих лет случалось мне шагать по муравейникам, — мало ли раз? И наверное, я видел их, но, увидев, не думал: «Иду по муравейникам», а просто в сознании выделялось лишь слово «муравейник» — и все. Живой образ мгновенно выталкивался услужливо подвернувшимся термином. (219) Ich sah in der Wand eine Nische und wollte in die Nische einen Stein werfen. Ich bückte mich, der Stein lag vor meinen Füßen… Da sah ich einen Ameisenhaufen. Zwanzig Jahre ist es her, dass ich zum letzten Mal einen Ameisenhaufen gesehen habe. Oh, natürlich bin ich im Laufe dieser zwanzig Jahre öfter über Ameisenhaufen gestiegen – wie oft schon. Und wahrscheinlich habe ich sie auch gesehen, aber nach dem Sehen nicht gedacht: „Ich gehe über einen Ameisenhaufen“ – sondern in meinem Bewusstsein wurde einfach das Wort „Ameisenhaufen“ ausgelöst und nichts weiter. Das lebendige Bild wurde sogleich von dem dienstfertig auftauchenden Terminus verdrängt.
Der Held wandert, wie er sich ausdrückt, durch ein „unsichtbares Land“, das Land der „Aufmerksamkeit“ (vnimanie) und der „Einbildungskraft“ (voobraženie):
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| Künstlerische Motivierung in der Avantgarde Страна внимания начинается у изголовья, на стуле, который, раздеваясь перед отходом ко сну, вы придвинули к своей кровати. Вы просыпаетесь ранним утром, дом еще спит, комната наполнена солнцем. Тишина. Не шевелитесь, чтобы не нарушать неподвижности освещения. На стуле лежат носки. Они коричневые. Но — в неподвижности и яркости освещения — вдруг замечаете вы в коричневой ткани отдельные, вьющиеся по воздуху разноцветные шерстинки: пунцовую, голубую, оранжевую. (219) Das Land der Aufmerksamkeit beginnt am Kopfende, auf dem Stuhl, den Sie beim Auskleiden vor dem Schlafengehen ans Bett gerückt haben. Sie wachen am frühen Morgen auf, das Haus liegt noch im Schlaf, das Zimmer ist von Sonne erfüllt. Stille. Bewegen Sie sich nicht, um die Regungslosigkeit der Beleuchtung nicht zu unterbrechen. Auf dem Stuhl liegen die Socken. Sie sind braun. Aber in der Regungslosigkeit und Grelle der Beleuchtung bemerken Sie plötzlich im braunen Gewebe einzelne in die Luft ragende Härchen verschiedener Farbe: ein hochrotes; ein hellblaues, ein orangefarbenes.
Wir stoßen in dieser Erzählung sogar auf eine Realisierung der bekannten Šklovskijschen Metapher aus dem programmatischen Essay Kunst als Verfahren (Šklovskij [1917] 1969), nach der die Verfremdung „den Stein steinern“ macht. In automatischer Handlung hat der Held einen Stein geworfen. Nun stutzt er. Er hat einen Ausruf des Steins vernommen: — Подожди! — крикнул камень. — Посмотри на меня! И действительно, я поспешил. Нужно было подвергнуть камень осмотру. Ведь, без сомнения же, он представлял собой замечательную вещь. И вот он в кустах, в зарослях — исчез! И я, державший в руке вещь, не знаю даже, какого она была цвета. А камень, возможно, был лиловат; возможно, не монoлитен, а состоял из нескольких тел: какая-нибудь окаменелость, возможно, была заключена в нем — останки жука или вишневая косточка; возможно, был камень порист, и наконец, может, вовсе не камень поднял я с земли, а позеленевшую кость! (219) „Halt ein!“ hatte der Stein gerufen. „Sieh mich doch an!“, und in der Tat, ich erinnerte mich. Man hätte den Stein einer Betrachtung unterziehen müssen. Denn er war doch zweifellos eine merkwürdige Sache. Und nun war er in den Büschen, im Gestrüpp – verschwunden. Und ich, der das Ding in der Hand gehalten hatte, weiß nicht einmal, von welcher Farbe es war. Der Stein war möglicherweise lila; möglicherweise kein Monolith, sondern bestand aus mehreren Körpern: möglich, dass irgendeine Versteinerung in ihm eingeschlossen war – die Überreste eines Käfers oder ein Kirschkern, möglich, dass der Stein porös war, und schließlich konnte es auch sein, dass ich gar keinen Stein von der Erde aufgehoben hatte, sondern einen grün gewordenen Knochen! (219)
Fragen wir nun, auf welche Wirkung Oleša mit seinen verfremdenden Beschreibungsverfahren abzielt, die durch den Affekt des Betrachters motiviert erscheinen, so legt sich ein Vergleich mit jenem Autor nahe, auf den sich Šklovskij stets Gewährsmann bezieht, Lev Tolstoj.
Oleša und Robbe-Grillet | 195
Tolstojs Verfremdung verweigert den gewohnten Dingen und Handlungen ihren eigenen Namen. Statt dessen wird der Gegenstand als fremder, noch nie gesehener dargestellt und mit Eigenschaften anderer Gegenstände umschrieben. So erscheint bei Tolstoj das militärische Banner als ein Stock mit einem Fetzen Stoff daran. Das künstliche Fremdmachen des vermeintlich Vertrauten soll das bisher unerkannte oder durch die Konvention verdeckte wahre Wesen des Gegenstands aufdecken und den habitualisierten Umgang mit diesem Gegenstand als inhuman bewusstmachen. Die Verfremdung hat bei Tolstoj letztlich also erkenntniskritische und ethische Aufgaben. Die selbstverständlich gewordenen Schablonen, Riten und Normen der Gesellschaft werden einer radikalen Kritik unterzogen. Ganz anderen Zielen dient die Verfremdung bei Oleša. Eine Verrätselung findet kaum statt. Zu den Metaphern und unfunktionalen Umschreibungen wird der Schlüssel gleich mitgeliefert. So ging in der oben zitierten verfremdenden Zerlegung des Hochsprungs das Nennen des Begriffs voraus. Es geht folglich nicht darum, die Identifizierung der Dinge zu verzögern, wie es bei Tolstoj der Fall ist. Die verfremdeten Dinge fungieren auch nicht als Objekte oder Symbole gesellschaftlicher Konventionen. Ihre thematische Funktion ist eine grundsätzlich andere. An ihnen kommt jene Schönheit und Phantastik der Alltagswelt zur Erscheinung, die dem normalen Blick entgeht. Statt ethischer Reflexion wird die Sensibilisierung der Wahrnehmung intendiert. Letztes Ziel ist die Verwunderung und die Freude über die phantastischen Schauspiele, die die alltägliche Welt für uns inszeniert. In Neid gibt es eine Stelle, die den intendierten Effekt von Olešas Verfremdung programmatisch benennt. Der neidische Kavalerov sagt: Я нахожу, что ландшафт, наблюдаемый сквозь удаляющие стекла бинокля, выигрывает в блеске, яркости и стереоскопичности. Краски и контуры как будто уточняются. Вещь, оставаясь знакомой вещью, вдруг делается до смешного малой, непривычной. Это вызывает в наблюдателе детские представления. Точно видишь сон. Заметьте, человек, повернувший бинокль на удаление, начинает просветленно улыбаться. (47–48) Ich finde, dass eine Landschaft, die durch ein umgedrehtes Fernrohr betrachtet wird, an Glanz, Helligkeit und Plastizität gewinnt. Die Farben und Konturen werden gleichsam genauer. Ein Ding bleibt ein bekanntes Ding und wird doch plötzlich lächerlich klein und fremd. Das ruft im Betrachter kindliche Vorstellungen hervor. Als ob man träumte. Passen Sie auf, ein Mensch, der durch ein umgedrehtes Fernglas blickt, beginnt heiter zu lächeln.
Die Narrationen Jurij Olešas und Alain Robbe-Grillets dienten dem Aufweis, wie die traditionellen Motivierungsrelationen umgekehrt werden können. Wir haben hier in der Praxis den von Tynjanov theoretisch beschriebenen Fall, dass das Motivierte etwas Formales (der „Stil“) und das Motivierende etwas Thematisches
196
| Künstlerische Motivierung in der Avantgarde
(die „Fabel“) sein kann (vgl. oben, 3.5). Niemand käme auf die Idee, die beiden Autoren als die großen Bewusstseinsdarsteller der Avantgarde zu bezeichnen. Das Gewicht ihrer Werke liegt gewiss nicht auf der Darstellung des Affekts, sondern auf den von der Last realistischer Psychologie befreiten Deskriptionsverfahren, die im Tynjanov’schen Sinne den „konstruktiven Faktor“ ihrer Werke bilden.
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Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne
11.1 Ein Sonderfall der künstlerischen Motivierung In diesem letzten Kapitel soll die Motivierung der in einer narrativen Welt herrschenden Ontologie durch eine einleitende Rahmenhandlung betrachtet werden. Dieser Modus ist ein Sonderfall der künstlerischen Motivierung, den man kompositionelle Motivierung nennen kann. Der Begriff wurde bereits von Boris Tomaševskij (1925) verwendet: russ. kompozicionnaja motivirovka. Ins Deutsche wurde Tomaševskijs Begriff meistens mit kompositorischer Motivierung übersetzt (so in Tomaševskij 1985 und bei den sich auf die deutsche Übersetzung beziehenden Theoretikern), ins Englische dagegen mit compositional motivation (so in Tomashevsky 1965b, 78). Tomaševskijs kompositorische oder kompositionelle Motivierung bezeichnet allerdings ein anderes Phänomen als das hier gemeinte. Es beruht auf den Prinzipien der „Ökonomie und Zweckmäßigkeit“ und besteht in seinem ersten Typus in der weiteren Verwendung einmal eingeführter Motive und in der Vermeidung blinder Motive. In einem davon unterschiedenen zweiten Verwendungsfall spricht Tomaševskij von kompositorischer Motivierung, wenn charakteristische Details mit der Handlung „harmonieren“, entweder 1) nach dem Prinzip der psychologischen Analogie, wie eine Mondnacht mit einer Liebesszene harmoniert, oder 2) nach dem Prinzip des Kontrastes, wenn z. B. in eine berührende Handlung das Motiv der gleichgültigen Natur eingeführt wird. Für beide Typen und alle darin vorgesehenen Fälle scheint der Terminus kompositorisch oder kompositionell inadäquat zu sein, handelt es sich doch nicht um Verfahren der Komposition. Wir wollen dagegen als kompositionell jene Formen der Motivierung betrachten, in denen ein Segment des gegebenen Werks ein anderes Segment desselben Werks begründet. Das motivierte Segment kann sich durchaus auf andere Aspekte als das motivierende Segment beziehen oder in einer andern narrativen Teilwelt lokalisiert sein. Entscheidend ist, dass motivierende und motivierte Segmente bei aller Unterschiedlichkeit durch gewisse thematische Ähnlichkeiten und durch kompositionelle Nachbarschaft verbunden sind. Auf solche Fälle sind wir im Laufe unserer Untersuchungen schon zwei Mal gestoßen. An Boccaccios Decameron fällt der starke Kontrast auf zwischen der einleitenden grauenerregenden Beschreibung der Pest, in der die Menschen jegliche religiöse und ethische Orientierung verlieren, und der Schilderung der bei allem erotischen Anspielungsreichtum vernunftgeleiteten Kommunikation der
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198 | Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne jungen Gesellschaft, die dem sorgenfreien Geschichtenerzählen in der amönen Natur hingegeben ist. Als Begründung der Pestschilderung wurde die Kontrastierung der Disziplin der Geschichten erzählenden Gemeinschaft mit dem vollständigen Ordnungsverlust der Stadt erkennbar. Erst der Kontrast mit dem chaotischen Pestgeschehen machte die nicht von Sitte, sondern von ragione geleitete Ordnung der literarischen Gemeinschaft recht sichtbar. Einem anderen Fall kompositioneller Motivierung sind wir in Jurij Olešas Roman Neid begegnet. Hier wird durch die Komposition ein Motivierungszusammenhang zwischen dem Affekt und den Verfahren verfremdender Deskription hergestellt. Segmente mit verfremdender Deskription werden also durch kompositionelle Kontiguität mit affektbeschreibenden Segmenten motiviert.
11.2 Andrej Bitovs Dystopie Ein Photo von Puschkin Kompositionelle Motivierung soll nun an Andrej Bitovs utopischer oder – besser – dystopischer Erzählung Ein Photo von Puschkin (Fotografija Puškina, 1985) betrachtet werden. Das Werk wird in einschlägigen Publikationen der Postmoderne zugeordnet (Leitner 1988; Ritz 1990; Spieker 1996; Kary 1999; Meyer-Fraatz 2016). Diese Zuweisung, zu der sich der Autor kritisch verhielt (vgl. Pesonen 1993, 337)1, soll hier nicht erörtert werden. In unserer Kapitelüberschrift figuriert der Begriff der Postmoderne unter Vorbehalt, eher als globaler Epochenbegriff denn als Bezeichnung einer literarischen Formation. Ein Photo von Puschkin ist eine Rahmenerzählung. Die Binnengeschichte erzählt von der Zeitreise, die der Philologe Igor’ Odoevcev aus dem Jahr 2099 in das Jahr 1836 unternimmt, um von Aleksandr Puškin eine Photographie anzufertigen, die der russische Jubiläumssowjet für die Dreihundertjahrfeier des Geburtstags des russischen Nationaldichters in Auftrag gegeben hat. Er soll auch Puškins Stimme aufzeichnen, und um die letale Bauchfellentzündung des an den Folgen des Duells Verstorbenen zu heilen, nimmt Igor’ Penicillin auf die Zeitreise mit. Den Rahmen bilden Leben und Reflexionen des stark autobiographisch ausgestatteten Erzählers (der seine Geschichte immer wieder mit Kommentaren unterbricht und auf literarische Autoren und Werke anspielt) auf der Datscha im Jahr 1985. Die Erzählung umfasst somit drei Zeitebenen. Es wird zu zeigen sein, dass die auf den ersten Blick heterogenen Teile Rahmen und Binnengeschichte durch bestimmte Verfahren der Welterfahrung so miteinander verbunden sind, ||
1 Auch in persönlichen Äußerungen gegenüber dem Autor dieses Buches rückte Bitov vom Etikett der Postmoderne entschieden ab.
Bitovs Photo von Puschkin | 199
dass die Reflexionen des Schriftstellers als Motivierung der phantastischen Binnengeschichte aufgefasst werden können. Die kompositionelle Kontiguität stellt zwischen den disparaten Teilen einen Zusammenhang und für das ganze Werk Einheit und Schlüssigkeit her.
11.2.1 Reflexionen in der Rahmengeschichte Die Rahmengeschichte knüpft in mancherlei Hinsicht an die Erzählung Leben im windigen Wetter an. Diegetischer Erzähler ist hier wieder ein Schriftsteller, der auf dem Dachboden seiner Datscha inmitten nicht zu Ende gebrachter Manuskripte um die Vollendung eines Textes kämpft, sich, wie er es metonymisch ausdrückt, ins Geschirr des Dachbodens legt, um ihn durch den unwegsamen Text zu schleppen. Von dieser mühevollen Tätigkeit werden die Gedanken des Schriftstellers immer wieder abgelenkt: […] позавчера, в сумерки спустился я с чердака […] и вышел на крыльцо, присел покурить. Там я сидел, на крыльце, будто поглядывая на себя сверху, все еще с чердака, что-то там на чердаке недодуманное додумывая, поглядывая перед собой на эту утрату четкости, будто все, что рисовала нам жизнь за день, из облаков, теней, трав и заборов, все теперь напрочь стерла, размазав своей резинкой: не получилось. (399)2 […] vorgestern stieg ich in der Dämmerung vom Dachboden […] und setzte mich auf die Treppe, um zu rauchen. Ich sitze also auf der Treppe, und als ob ich, immer noch auf dem Dachboden, auf mich herabsähe, denke ich zu Ende, was ich auf dem Dachboden oben nicht zu Ende gedacht habe, dabei sehe ich zu, wie vor mir die Deutlichkeit schwindet, als ob das Leben alles, was es uns im Lauf des Tages an Wolken, Schatten, Gras und Zäunen gezeichnet hat, jetzt auswischte, verwischte mit seinem Radiergummi – nichts geworden. (151)
Es liegen hier drei für Bitov typische Figuren vor, erstens die perspektivische Brechung durch die Selbstbeobachtung aus einem hypothetischen Blickwinkel; zweitens der Vergleich des Lebens mit der Tätigkeit des schöpferischen Menschen, der zeichnet, auswischt, verwischt; drittens die Idee des Schwindens und Verschwindens der Realität. ||
2 Zitate aus dem russischen Original nach der Ausgabe: Andrej Bitov, Imperija v četyrech izmerenijach. II. Puškinskij dom, Char’kov und Moskau 1996, 399–437; aus der deutschen Übersetzung nach: Andrej Bitow, Das Licht der Toten. Erinnerungen an die Realität. Ausgewählt und übersetzt von Rosemarie Tietze, Frankfurt a. M. 1990, 151–228.
200 | Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne Diese letzte Idee scheint bald wieder auf. Der Schriftsteller beobachtet durch das Fenster das Heuwenden auf dem Feld. Er selbst muss kein Heu wenden, er muss kreativ sein, weiß aber nicht, mit welchem Motiv. Etwa damit, dass er zum soundsovielten Mal den Blick aus dem Fenster nicht beschreiben kann? По стеклу на самом переднем плане муха ползет, и так же мысль моя уползает за мухой… Вот ведь, думаю, ни живопись и ни фото — никак этого не отобразить, то в эту рамку для меня вставлено кем-то, задолго до меня эту избу ставившим, никак планировку к виду из моего окошка, естественно, не учитывавшим, но меня, однако, к этому пейзажу приговорившим. Не сфотографируешь так, чтобы и рама окошка, как рама картины, и муха ползает на картине, а на переднем плане столб, проводами, как нотными линейками, пейзаж для начала разлиновавший так, что на нижней линейке еще забор, на средней как раз сено ворошат, а на верхних двух — уже дальний лес и само небо… (401) Über die Fensterscheibe ganz im Vordergrund gleitet eine Fliege, und der Fliege folgend gleiten meine Gedanken ab… Eigentlich, denke ich, kann weder Malerei noch Photographie – nichts kann wiedergeben, was derjenige für mich in diesen Rahmen stellte, der lange vor mir dieses Haus hingestellt, seine Anlage natürlich nicht im mindesten auf den Blick aus dem Fenster abgestellt, mich aber zu dieser Landschaft verurteilt hat. Photographieren lässt sich das nicht, dass der Fensterrahmen aussieht wie ein Bilderrahmen und über das Bild die Fliege gleitet und im Vordergrund ein Leitungsmast mit seinen Drähten die Landschaft wie mit Notenlinien fürs erste so unterteilt, dass auf der untersten Linie noch der Zaun liegt, auf der mittleren gerade Heu gewendet wird und auf den beiden oberen schon der ferne Wald und der Himmel… (155–156)
Der Erzähler reflektiert die Nicht-Darstellbarkeit des Augenblicks und der für diesen Augenblick gegebenen Konstellation der Dinge. Im nächsten Augenblick ist die Konstellation aufgehoben: Стоило отвернуться это записать, как ушла баба, улетела муха, мужик на глазах скрылся за стог, осталась одна собачка, которой до того, надо сказать, не было. (401) Ich brauche mich nur abzuwenden, um dies aufzuschreiben, da ist die Frau fortgegangen, die Fliege fortgeflogen, verschwindet der Mann hinter einer Heumiete, und zurück bleibt allein der Hund, der im Übrigen vorher gar nicht dagewesen ist. (156)
Der flüchtigen Konstellation der Gegenstände galt die Aufmerksamkeit des Erzählers bereits in Leben im windigen Wetter. Dort vereinigte Sergejs Blick die Wiese, den Blumen pflückenden Jungen, die weidende Kuh mit ihrem Kalb, den im Hintergrund vorbeifahrenden Zug, den Sohn in der nur für einen Augenblick bestehenden Figur der Achse. Die Empfindung der Symmetrie rief im Beobachter Glücksgefühle hervor. Er fühlte sich geradezu als Gott.
Bitovs Photo von Puschkin | 201
Im neuen Kontext folgt auf das unwiederbringliche Verschwinden der Dinge eine andere Reaktion: Wehmut und schmerzliches Empfinden der in ihrem Wüten die Dinge auslöschenden Zeit: Мирный пейзаж, столь утешающий своей вечностью! Где ты? Kакое бешеное время свистит в нем! Тахикардия какая-то. Мчание. Не говоря уже о ветерке и облаках… а там, под спудом, тихой сапой, там гриб растет, да вошь ползет, да мышь шуршит. Дымок оторвался от земли, как душа, уже сам, без мужика — от порыва, от ветра, — и нет его. (401–402) O friedliche Landschaft, so tröstlich in deiner Ewigkeit – wohin bist du entschwunden? Wie die Zeit durch dich saust, dass es pfeift! Die reinste Tachykardie. Rasant. Ganz zu schweigen von Wind und Wolken… und im Verborgenen, klammheimlich wächst der Pilz, kriecht die Laus, raschelt die Maus. Wie eine Seele hat der Rauch sich von der Erde gelöst, schon ohne Zutun des Mannes, von einer Aufwallung oder einem Windstoß – und weg ist er. (156)
Der Schriftsteller ruft sich zur Arbeit auf. Aber womit soll er angesichts der herumliegenden Entwürfe weitermachen? Ihm kommt ein Text in die Finger, den er vor siebzehneinhalb Jahren geschrieben hat, als er dreißig war. Der Dachboden war damals ein anderer, der Ausblick auch. Wir können schließen, dass es sich um die Erzählung Leben im windigen Wetter handelt, die 1967, als Bitov dreißig Jahre alt war, im Band Auf der Datscha (Dačnaja mestnost’) veröffentlicht wurde. Kaum hat der Schriftsteller entschieden, dass er den Text nicht weiterschrieben will, wechselt seine Erzählung buchstäblich mitten im Wort zur Binnengeschichte, in die Rede des Vorsitzenden des Jubiläumssowjets in dem von einer silbernen Kuppel überdachten Petersburg des Jahres 2099, wohin die Sitzung vom Satelliten der Vereinten Nationen verlegt wurde, um den Planeten zu ehren, den der Jubilar Puškin bewohnte.
11.2.2 Der nicht reproduzierbare Puškin Die Unternehmung, zu der Igor’ Odoevcev, ein entfernter Nachfahre von Ljova Odoevcev und Faina, Figuren aus Bitovs Roman Das Puschkinhaus (Puškinskij dom), aufbricht, erweist sich als völliger Fehlschlag. Die Zeitrakete landet zwar durchaus im Jahre 1836, aber schon der Flug ist für Igor’ enttäuschend verlaufen. Er hatte gehofft, unterwegs wenigstens einen kurzen Blick auf die Zeit des Jugendstils zu werfen, auf den zeichnenden Michail Wrubel’ oder den schreibenden Aleksandr Blok, aber was er wusste, war im Überflug nicht zu sehen. Schmerzlich wird ihm der Unterschied zwischen Wissen und Sehen bewusst:
202 | Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne А ведь он, Игорь Одоевцев, по сравнению с теми, кто варился под ним в этом котле, то всплывая на поверхность, то окончательно погружаясь, он по сравнению с ними УЖЕ ЗНАЛ, что НА САМОМ ДЕЛЕ с ними происходит, они — нет, но именно им, незнающим, дано было видеть (хоть бы и не узнавать) то ЖИВОЕ, что так хотелось повидать ему на правах очевидца: им было дано, ему нет. Им было дано жить, ему знать. (412) Dabei wusste er, Igor Odojewzew, im Gegensatz zu denen, die unter ihm in dem Kessel kochten, bald an die Oberfläche stiegen, bald in die Tiefe sanken, im Gegensatz zu ihnen WUSSTE ER BEREITS, was mit ihnen TATSÄCHLICH geschah, und sie wussten es nicht, gerade ihnen aber, den Nichtwissenden, war es vergönnt, jenes LEBENDIGE zu sehen (wenn auch nicht zu erkennen), das er so gerne als Augenzeuge erblickt hätte – ihnen war es vergönnt, ihm nicht. Ihnen war zu leben vergönnt, ihm – zu wissen. (176)
Die Barriere zwischen Sehen und Wissen erweist sich als unüberwindlich. Igor’ kann nur das sehen, was seine Zeit weiß. Will er mehr ansehen, kommt es in der Wahrnehmung zu Schlieren und Störungen. Igor’ kann aber, so stellt sich der Schriftsteller vor, im Vorüberflug ihn, den Schriftsteller, hören, wie er auf seinem windschiefen Dachboden auf der Schreibmaschine hämmert, und er sieht die Kuh, die der Schriftsteller durch sein Fenster beobachtet. Das Dörfchen existiert indes nicht mehr oder – genauer – noch nicht. An seiner Stelle stehen stattliche Bauernhäuser. Im Petersburg des Jahres 1836 gelandet, versucht Igor’ hartnäckig, aber vergeblich, sich Puškin zu nähern. Er wird jedes Mal abgewiesen, und Puškin weist seinen Diener an, „diesen“ nicht vorzulassen. Er begegnet Puškin zwar einige Male, kann aber nicht das Misstrauen des Dichters überwinden, der ihn offensichtlich für einen Spitzel hält, was Igor’ in einem gewissen Sinn ja auch tatsächlich ist. In dem einzigen Gespräch, dessen ihn der mit langen Fingernägeln Weintrauben essende Dichter würdigt, kann Igor’ sein Anliegen nicht vorbringen und beim heiklen von Puškin selbst angeschnittenen Thema „Hörner“ weicht er auf Naturkundliches aus. Vergeblich versucht er, Puškins Tête-à-tête mit Natal’ja Gončarova, seiner künftigen Frau, zuvorzukommen, und an der Rettung des Duellanten hindert ihn eine hochfiebrige Erkrankung. Igor’ ist perfekt vorbereitet worden, hat sogar Lektionen in der Phonetik des Russischen der Puškinzeit genommen, aber je sorgfältiger seine Mentoren gearbeitet haben, desto mehr Verdacht weckt der ‚Provinzler‘ bei den Einheimischen der Zeit. Auflaufen lassen ihn, wie er später verwundert begreift, nicht die Schnitzer, sondern die Treffer, die Genauigkeit. Und er versteht allmählich: „Nein, nicht er schaute, sondern er wurde dem 19. Jahrhundert vorgeführt“ (188; „Нет, это не он смотрел, а его показывали ХІХ веку“, 418). Igor’ hat einen Schock von der Begegnung mit der Vergangenheit erwartet, aber er sieht nur Zitate von dem, was er weiß. Die Vergangenheit erweist sich als vollkommen andere, unzugängliche, lückenlos geschlossene Realität, als ob er
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auf einem anderen Planeten, in einer anderen Zivilisation gelandet wäre. Der Schriftsteller, der von Igor’s Begegnungen berichtet, versteht: Человечество тоже живет своей ч а с т н о й жизнью, скрытой от глаз посторонних, — это и есть история. Она недоступна. Поглядывать в эпоху — опоздали-с. (420). Die Menschheit hat auch ihr P r i v a t l e b e n , das sie vor den Augen Außenstehender verbirgt, und das ist die Geschichte. Sie ist unzugänglich. Eine Epoche wollen Sie heimlich belauern? da sind Sie, mit Verlaub, zu spät dran. (191)
Nach Puškins Tod reist Igor’ in der Zeit weiter zurück, ins Jahr 1833 und jagt dem Poeten in die Tiefen seines Lebens nach, wo jener ihm noch nicht begegnet war. Aber je größer seine Erfahrung, je jünger Puškin und je älter er selbst wird, desto geschickter lässt Aleksandr Sergeevič ihn abblitzen. Als Igor’ im Jahr 1824 angelangt ist und sich schon weitgehend integriert hat, sogar zum gedruckten Prosaschriftsteller, Beschreiber der 1820er Jahre geworden ist, wobei ihm nur noch selten Anachronismen unterlaufen, und als er beschlossen hat, für immer in dieser Zeit zu bleiben, wird er zum Opfer des Hochwassers von 1824, das Puškin im Versepos Der Eherne Reiter (Mednyj vsadnik, 1833) beschrieben hat. Eine Expedition aus dem Jahr 2099 rettet den Wahnsinnigen, in dessen Kopf sich die Zeiten verwirrt haben. Auch in der Erzählung haben sich die Zeiten verwirrt. Einerseits heißt es, dass außerplanmäßige Milliarden und Abermilliarden für die Rettungsexpedition aufgewandt wurden (offensichtlich von der aussendenden Zeit), andererseits wird die Rettung lokalisiert in „unserer Zeit, Ihrer und meiner“ (220–221; „в наше с вами время“, 435). Dann springt die Erzählung wieder in das Jahr 2099, denn „vor dem Fenster draußen, im schwarzen Kosmos, rauscht das Fest der Drеihundertjahrfeier“ (221; „За окном, в черном космосе, шелестит великое трехсотлетие“, 435). Eine Auswertung der Dias und Tonbänder, die Igor’ mitgebracht hat, ergibt überaus Enttäuschendes: […] только тень, как крыло птицы, вспархивающей перед объективом, и получилась. Поражала, однако, необыкновенная, бессмысленная красота отдельных снимков, особенно в соотнесении с записями безумного времелетчика […] И пленки: шорохи. трески, мольбы самого времелетчика, чье-то бормотанье, будто голос на другой частоте или магнитофон не на той скорости, и вдруг — отчетливо, визгливо и высоко: „Никифор! Сколько раз тебе говорил: ЭТОГО не пускать!“ (436–437) […] was herauskam, war nur ein Schatten, wie die Schwinge eines Vogels, der vor dem Objektiv aufflattert. Verblüffend war allerdings die außergewöhnliche, sinn- und zwecklose Schönheit einzelner Aufnahmen, besonders, wenn man sie zu den Aufzeichnungen des wahnsinnigen Chrononauten in Bezug setzte […] Und die Bänder: ein Rauschen, ein Kna-
204 | Kompositionelle Motivierung in der Postmoderne cken, die flehentlichen Bitten des Chrononauten, jemandes Gemurmel, als hätte die Stimme eine andere Frequenz oder das Tonband nicht die rechte Geschwindigkeit, und plötzlich klar, schrill und hoch: „Nikifor! Wie oft soll ich dir noch sagen: DEN lass nicht ein!“ (222–223)
11.2.3 Die Motivierung im Rahmen Inwiefern ist die Binnengeschichte durch den Rahmen motiviert? Ein Photo von Puschkin ist eine zeit- und wahrnehmungsphilosophische Parabel. Zeit und Wahrnehmung, das Schwinden und Verschwinden der Realität, die Nicht-Reproduzierbarkeit des Eindrucks, die Nicht-Darstellbarkeit des Augenblicks und der für diesen Augenblick gegebenen Konstellation der Dinge sind die Grundthemen des Rahmens, die an so unscheinbaren Protagonisten wie der Fliege und der Kuh durchgespielt werden. Der postmoderne Topos der Nicht-Abbildbarkeit, der Non-Re-Präsentabilität, den die gescheiterte Zeitreise illustriert, wird im Erzähl-Rahmen an den dort verfügbaren Agenten erprobt und dann vom Kleinen ins Große projiziert. Insofern begründet, motiviert der Rahmen die Binnengeschichte. Die „Tachykardie“ der Zeit ist ein anderes Thema, das die beiden Teile verbindet. Im Rahmen wird es realisiert im Auftreten Čistjakovs. Der unbekannte Bauer erscheint unversehens im Garten der Datscha und bittet um etwas zu trinken. Er hat den Schriftsteller hier, in diesem Haus, das er das seine nennt, noch nie gesehen. Er redet von einem Krieg, der ausgebrochen ist. Offensichtlich stammt er aus einer anderen Zeit (Meyer-Fraatz 2016, 108). Mit einem metaleptischen Kunstgriff wird er zum Verschwinden gebracht: […] вода в [чашке], под острым углом, подчиняясь физике, обозначает горизонт и неправдоподобный угол, и Чистякова, и чашки. Оставим его до утра в этой позе. (401) […] in [der Tasse] markiert das Wasser, den Gesetzen der Physik gehorchend, den Horizont und einen unglaublichen Winkel, sowohl von Tschistjakow als auch von der Tasse. Lassen wir ihn bis zum Morgen in dieser Pose sitzen. (155)
Am nächsten Morgen gibt es von Čistjakov und dem Krieg keine Spur mehr. Der Schriftsteller widmet sich erneut seiner kreativen Tätigkeit und gibt sich den oben zitierten Reflexionen über die Nicht-Abbildbarkeit des im Fensterrahmen für ihn Hingestellten hin. Die dann erzählte dystopische Binnengeschichte von Igor’s Zeitreise wird erkennbar als eine Phantasie, die im Erleben des um die Inspiration kämpfenden und durch Reflexionen zu Zeit und Wahrnehmung abgelenkten Erzählers ihren Ursprung hat.
Bitovs Photo von Puschkin | 205
Die Rückkehr aus den imaginierten Zeiten zur realen Ursprungszeit wird vom Schriftsteller eindeutig markiert: И здесь мы ставим точку […] И обнаруживаем себя, слава Богу, в своем, в собственном времени. НАШЕ время (мое и ваше): под утро 25 августа 1985 года. (437) Hier nun setzen wir einen Punkt […] Und finden uns, Gott sei Dank, in der eigenen Zeit wieder. UNSERE Zeit (meine und Ihre): gegen Morgen des 25. August 1985. (223)
12 Fazit und Ausblick 12.1 Ergebnisse 1.
Es erweist sich als sinnvoll, zwischen der Motivation realer Menschen und fiktiver Figuren einerseits und der Motivierung der Komponenten eines Erzählwerks durch den Autor zu unterscheiden. Die Motivation bezeichnet die Beweggründe eines realen oder fiktiven Subjekts, bestimmte (Denk-, Sprechund Tat-) Handlungen zu vollziehen oder nicht zu vollziehen, die Motivierung bezeichnet das Bestreben des Autors, seinem Werk Schlüssigkeit, Plausibilität und Wirkung zu geben. Die Motivierung der Handlung eines Werks kann durchaus auf der Motivation einer Figur gründen. 2. Angesichts der zahlreichen, in der Systematik oft problematischen Typologien der Motivierung zeichnet sich die einfache Unterscheidung von kausaler und künstlerischer Motivierung als hinreichend für eine funktionale Werkbeschreibung ab. Während die künstlerische Motivierung das gesamte Werk umfasst, bezieht sich die kausale Motivierung auf die im Werk dargestellte Welt und in dieser hauptsächlich auf die vom fiktiven Erzähler explizit oder implizit entworfene erzählte Welt. Kausale und künstlerische Motivierung befinden sich nicht auf der gleichen systematischen Ebene. Zwischen ihnen besteht das Verhältnis der Inklusion. Gleichwohl kann es zu Konflikten zwischen den beiden Motivierungen kommen, etwa wenn künstlerisch, unter dem Aspekt der Komposition motivierte Elemente der Handlung nicht hinreichend unter dem Aspekt der Kausalität begründet sind. 3. Die Motivierungsrelation ist in den beiden Typen unterschiedlich. In der kausalen Motivierung sind motivierende und motivierte Elemente zu unterscheiden, insofern sie in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen. In der künstlerischen Motivierung geht es dagegen nicht um kausale Beziehungen, sondern um Relationen des Zueinander-Passens, der Adäquatheit. 4. Die Dichotomie von kausaler und künstlerischer Motivierung scheint bereits in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman auf, wo zwischen der „Nothwendigkeit der handelnden Personen“ und der „Nothwendigkeit des Dichters“ unterschieden wird. Die Dichotomie von „tatsächlicher“ und „künstlerischer“ Motivierung, die in Friedrich Theodor Vischers Ästhetik erscheint, entspricht dagegen nicht unserer Unterscheidung, sondern zielt eher auf das Vorkommen der einzigen Motivierung, die Vischer vorsieht, einerseits im „Naturschönen“ und andererseits im „Kunstschönen“.
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Ergebnisse |
5.
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Bereits Aristoteles, der Urvater der Narratologie, der auch die russischen Formalisten stark beeinflusste, kannte die Kategorie der Motivierung, die in seiner Poetik sowohl explizit als auch implizit erscheint. Bei Aristoteles zeichnet sich auch bereits die Dichotomie von kausaler und künstlerischer Motivierung ab. Explizit wird die kausale Motivierung überall dort, wo von Begründen oder Rechtfertigen von Handlungszügen die Rede ist. Implizit ist die kausale Motivierung dort gemeint, wo „Wahrscheinlichkeit“ und „Notwendigkeit“ als leitende Kriterien für das „Zusammenfügen von Geschehnissen zu Geschichten“ figurieren. Die künstlerische Motivierung manifestiert sich im „Passenden“ und „Angemessenen“ bei der Wahl der Ausdrucksmittel. Der Begriff des „Wahrscheinlichen“ hat bei Aristoteles zwei Facetten. Einerseits bezeichnet er das lebensweltlich Wahrscheinliche, anderseits das vom künstlerischen Ganzen Geforderte. So ist die in der Poetik mehrfach formulierte Forderung zu verstehen, dass das künstlerisch Wahrscheinliche dem lebensweltlich Wahrscheinlichen vorzuziehen sei. Aristoteles entwirft ein rationalistisches Bild des Dichtens als des bewussten „Machens“ von Modellen des Möglichen, deren innere Stimmigkeit ein höherer Wert ist als ihre lebensweltliche Wahrscheinlichkeit. 6. Die russischen Formalisten entwickelten durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die Zielrichtung der Motivierung. Viktor Šklovskij, der radikalste und kreativste unter ihnen, formulierte in seinen Essays über Cervantes und Sterne die provozierende These, dass die künstlerischen Verfahren eigentlicher Gegenstand der Wahrnehmung seien, dass folglich die Handlung nicht Endzweck sei, sondern nur dazu diene, bestimmte Verfahren des Sujetbaus zu motivieren. Boris Ėjchenbaum pflichtete solchen rigiden Thesen grundsätzlich bei, erklärte aber relativierend, dass die Formalisten in den Jahren des Kampfes ihre Anstrengungen darauf gerichtet hätten, die Bedeutung der „konstruktiven Verfahren“ zu zeigen und alles andere als „Material“ beiseite zu schieben. Die paradoxale Zuspitzung ihrer Befunde habe es ihnen allerdings ermöglicht, das in der traditionell gehaltsästhetisch orientierten Literaturwissenschaft vernachlässigte Interesse für die Konstruktion, das Gemachtsein der Werke wiederzuerwecken. 7. Der in der internationalen Literaturwissenschaft als maßgeblicher Repräsentant der formalistischen Motivierungstheorie betrachtete Boris Tomaševskij hat in seiner Theorie der Literatur weder einen genuin formalistischen Beitrag geliefert (was er nach eigenem Bekunden auch gar nicht anstrebte) noch das Phänomen der Motivierung überzeugend in Typen aufgeteilt. Gegen seine Triade der Motivierungen sind zu Recht zahlreiche systematische Einwände erhoben worden. Tomaševskijs Konzeption der Motivierung ist eher
208 | Fazit und Ausblick konventionell und geht davon aus, dass die Verfahren das thematische Material motivieren, das als motiviertes der wichtigste Teil des Werks ist, und nicht umgekehrt, dass – wie Šklovskij es in seinen Provokationen vorsah – das Material die wahrzunehmenden Verfahren begründe. 8. Eine grundsätzliche Kritik des formalistischen Motivierungskonzepts sowohl in der rigiden Gestalt bei Šklovskij als auch in der konventionelleren Version Tomaševskijs hat Michail Bachtin in dem unter dem Namen Pavel Medvedevs erschienenen Buch Die formale Methode in der Literaturwissenschaft formuliert. Gegen das formalistische Konzept der Motivierung werden zwei Einwände erhoben: 1) es gebe im Werk keine Kriterien dafür, was in ihm Motivierendes und was Motiviertes ist; jedes beliebige Elemente könne man als Selbstzweck und das heißt als Ziel der Motivierung ansehen, 2) einer Motivierung bedürfe nur ein Element, das an sich keine innere Bedeutung habe; der Begriff der Motivierung sei der Natur der künstlerischen Konstruktion organisch fremd. 9. Die Einseitigkeiten und Übertreibungen des frühformalistischen Konzepts werden im dynamischen, funktionsbezogenen Modell Jurij Tynjanovs überwunden. Der systematischste Denker der formalistischen Bewegung definiert unter Berufung auf Šklovskij und Ėjchenbaum die Motivierung als „Rechtfertigung irgendeines Faktors von Seiten aller übrigen, seine Abstimmung mit allen anderen“. Der uni-direktionalen Beziehung zwischen Verfahren und Material, die die Definitionen seiner Vorgänger Šklovskij und Ėjchenbaum vorgesehen haben, setzt Tynjanov eine dynamische Konzeption entgegen, die die Festlegung auf Formales und Inhaltliches ablehnt und statt dessen mit den Kategorien „konstruktiver Faktor“ und „Material“ arbeitet, die sowohl in Formalem als auch in Inhaltlichem manifestiert sein können. Die motivierenden und die motivierten Komponenten können in der Evolution einer Gattung ihre Rollen tauschen. Dieser Rollenwechsel ist einer der Faktoren der literarischen Evolution. Die Zuschreibung der Rollen hängt vom literarischen System ab, aus dem die Zuschreibung erfolgt. 10. Die Forderung der narrativen Motivierung geht vom Ideal des kohärenten, schlüssigen, in sich plausiblen Erzählwerks aus. Ein konsequent motiviertes Werk erfüllt angesichts der Inkohärenz und Nicht-Schlüssigkeit des Weltgeschehens und des individuellen Lebens den menschlichen Wunsch nach Sinn. Die den Sinn garantierende Schlüssigkeit erfordert eine entsprechende Auswahl von thematischen Einheiten. Damit ist die Dichotomie von „Geschehen“ und „Geschichte“ aufgerufen, die Georg Simmel für die Historio-
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graphie formuliert hat, die aber auch eine Grundspannung im fiktionalen Erzählwerk beschreibt, obwohl hier das Geschehen lediglich als Implikat der fiktiven Geschichte figuriert. Der Eindruck der Schlüssigkeit des Werkganzen, den die überzeugende Motivierung suggeriert, beruht auf der Korrelierung heterogener (formaler und inhaltlicher) Komponenten. Insofern sich die ästhetische Wahrnehmung darin bekundet, dass alle Schichten des Werks ganzheitlich, kognitiv wie sinnlich, erfasst und auf eine gemeinsame „semantische Geste“ (Mukařovský) hin vereinheitlicht werden, erfordert die künstlerische Organisation, die eine ästhetische Einstellung auslösen soll, dass sämtliche Werkkomponenten in schichtenübergreifende Motivierungen integriert sind. In oralen und vorneuzeitlichen Erzählungen manifestiert sich die kausale Motivierung in mentalitätsgeschichtlich bedingten Sonderformen, in der „Motivation von hinten“ (Lugowski) und der „finalen Motivierung“ (Martínez). Zwischen diesen Sonderformen und der Grundform der kausalen Motivierung besteht allerdings nicht der kategoriale Unterschied wie zwischen kausaler und künstlerischer Motivierung. In den Sonderformen, die in einem nicht-säkularen, vor-anthropozentrischen Weltmodell gründen, ist gegenüber der kausalen Motivierung die Richtung der Begründung umgekehrt. Neben den beiden dynamischen Varianten der kausalen Motivierung sind vormoderne Texte oft von einer statischen Motivierung geprägt, die hier als Determination bezeichnet wird. Es geht dabei um eine in der narrativen Welt feststehende Determination des Helden für ein bestimmtes Schicksal. Jede Determination bedeutet eine Minderung der Offenheit der Handlung für unterschiedliche Ausgänge und eine Relativierung der Ereignishaftigkeit des Handelns. Die beiden großen mittelalterlichen Epen der deutschen Literatur, Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan, enthalten je eine spezifische Form der Determination. An die Motivierung werden in unterschiedlichen Zeiten und kulturellen Kontexten unterschiedliche Anforderungen gestellt. Die Alterität mittelalterlicher Texte äußert sich unter anderem auch darin, dass der Zusammenhang zwischen der psychologischen Konstitution einer Figur und ihrer Handlungsweise vom neuzeitlichen Leser als defizitär empfunden wird. Auch die Gattungen erfüllen Motivierungsansprüche in unterschiedlicher Weise. So ist im Mittelalter der Artusroman durchweg sorgfältiger im Sinne neuzeitlicher Anforderungen motiviert als das Heldenepos. Das mag damit zusammenhängen, dass das Heldenepos archaischere Quellen hat als der Artusroman, in dem sich christlich-teleologisches Denken durchsetzt.
210 | Fazit und Ausblick 15. Boccaccios Decameron parodiert die stereotype und wirklichkeitsferne Motivierung im griechischen Abenteuer- und Liebesroman. Die grauenerregende Schilderung der Pest, die die Einleitung zu dem Zyklus bildet, scheint zunächst nur der kausalen Motivierung des Auszugs der jungen Adeligen aus der Stadt zu dienen, wobei dem „unehrbaren“ Verhalten in der Stadt der „ehrbare“ Rückzug entgegengesetzt wird. Bei näherer Betrachtung erweist sich der „harte und traurige“ Anfang des Zyklus, der ausführlich, mit vielen Einzelheiten den mit der Epidemie einhergehenden radikalen Verfall der Sitten, die Vertierung des Menschen beschreibt, jedoch auch und vor allem als künstlerisch motiviert. Der Autor verweist selbst auf den Kontrast, den die kultivierte, disziplinierte Kommunikation der jungen Leute zu den vom Rahmen dargestellten Bildern des zivilisatorischen Verfalls bildet, und auf die Komposition der Emotionen, die sein Text wecken soll. 16. Im Eingangswerk von Cervantes’ Novelas ejemplares, der Novela de la Gitanilla, die das Trennungs- und Wiederfindungssujet des griechischen Romans variiert, finden sich Motivierungslücken, die den neuzeitlichen Leser stärker irritieren als vermutlich den Leser der Entstehungszeit. Die für die Neuzeit am meisten störenden Lücken betreffen den Zusammenhang von Psychologie und Handlungsweise. Die Psychologie bleibt in Renaissance-Novellen gering entwickelt, eher „holzschnitttartig“ (Spitzer). Eine differenzierte Darstellung des Innenlebens der Figuren findet man in den europäischen Literaturen erst mit der Entwicklung des Romans im englischen 17. und 18. Jahrhundert. 17. Probleme der Motivierung werden virulent in Zwei-Welten-Modellen, d. h. in Erzählungen, deren Handlung auf zwei unterschiedliche Ontologien zurückgeführt werden kann, eine realistische und eine wunderbare. Solche oszillierenden Werke wurden von Vladimir Solov’ev (1841) und dann von Tzvetan Todorov (1970) als „echt phantastisch“ bzw. als „phantastisch“ bezeichnet. Solcherart phantastische Werke zeichnen sich in der Regel durch eine ambige Motivierung aus. Das Schwanken des Lesers wird in ihnen durch bewusst angelegte Verfahren bis zum Ende im Gang gehalten. 18. E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann ist für das Schwanken zwischen gegensätzlichen Erklärungen eines der bekanntesten Beispiele. Eine entscheidende Rolle in der Oszillation zwischen natürlicher und übernatürlicher Motivierung spielt die Perspektive, genauer: spielen die verschiedenen Perspektiven, die in drei Briefen fixiert sind und zwischen denen der Leser auswählen muss. Bezeichnenderweise hat der Autor diese Entscheidung erschwert, indem er für den Druck einige Züge der Handschriftenversion strich, die die Unbezweifelbarkeit des Dämonischen verstärkten. Und dass
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Klara, die Anwältin des Realen und Psychologischen, mit überaus sympathischen und liebenswürdigen Zügen ausgestattet ist, erleichtert es dem Leser nicht, sich gegen ihre nüchterne Sicht der Dinge zu entscheiden. So legt der Autor seinem an Eindeutigkeit interessierten Leser schwer zu überwindende Hindernisse in den Weg zur richtigen Erkenntnis der oszillierenden Motivierung. 19. Aleksandr Puškins Novelle Pique Dame ist, ähnlich wie Hoffmanns Sandmann, eine Herausforderung für die Interpretation und Katalysator der literaturwissenschaftlichen Ideologien. Ihr hermeneutischer Reiz beruht auf der Verschränkung zweier einander ausschließender Motivierungssysteme. Die Handlung ist zum einen realistisch-psychologisch motiviert, zum andern aber greift eine übernatürliche Macht in das Geschehen ein. Das Schwanken zwischen den Motivierungen entspricht dem aleatorischen Binarismus, der das Pharospiel beherrscht. Der Autor als Bankhalter lädt seinen Leser sozusagen zu einem semantischen Pharospiel ein, und er bestraft den realismusgierigen Pointeur mit dem Wahrwerden der magischen Verheißung der drei gewinnbringenden Karten. 20. Die ontologische Ambiguität von Prosper Mérimées Novelle La Vénus d’Ille beruht auf der doppelten perspektivischen Brechung. Der Leser ist ganz auf die Wahrnehmung und Wertung des diegetischen Erzählers angewiesen. Und dieser hat das Entscheidende nicht selbst erlebt, sondern ist seinerseits auf Berichterstatter angewiesen. Was er selbst bezeugen kann, wertet er unter dem Einfluss seiner Zeugen im Nachhinein um. Die poetische Gerechtigkeit wird nur in der übernatürlichen Motivierung hergestellt. Sie besteht darin, dass die bezaubernde Braut nicht dem rohen und dummen Bräutigam anheimfällt, der ihre Schönheit und Feinheit nicht würdigen kann und sie nur wegen der Mitgift heiratet. Und diese Gerechtigkeit wird mit Hilfe der Göttin der Liebe ins Werk gesetzt, die von ihrem Sockel steigt und den unwürdigen Bräutigam mit ihrer eisernen Umarmung tötet. 21. Nikolaj Gogol’ hat seine Erzählung Das Porträt sieben Jahre nach ihrem Erscheinen grundlegend überarbeitet. Die Korrekturen betreffen im Wesentlichen den Status des Übernatürlichen und verändern stark die Motivierung. In der neuen Version wird das Übernatürliche als Phantasma relativiert, mit der subjektiven Wahrnehmung des Helden erklärt. Die Ersetzung des Übernatürlichen ist freilich nicht das letzte Wort der Erzählung. Die Eliminierung des eindeutig Übernatürlichen hat zur Folge, dass es sich paradoxerweise durch alle natürlichen Erklärungen hindurch als die wahrscheinlichere Alternative anbietet. Die natürliche Erklärung ist mit soviel Zufälligkeiten und Implausibilitäten erkauft, dass sowohl dem Helden als auch dem Leser ihre
212 | Fazit und Ausblick Akzeptanz fraglich erscheinen muss. So erreicht Gogol’ durch die scheinbare Rücknahme des Übernatürlichen seine Stärkung. 22. Für die narrative Motivierung hat Fëdor Dostoevskij in der romantischen Welt Gogol’s eine ähnliche „kopernikanische Wende“ vollzogen, wie sie Michail Bachtin für die Erzählperspektive konstatiert: Wie Dostoevskij den bislang dominierenden Blickpunkt vom Erzähler in die erzählte Figur verlegt, so verlegt er die dämonischen Schrecknisse der romantischen Außenwelt in die Innenwelt der Figuren. Damit gibt er die in der Romantik gepflegte hybride Motivierung zugunsten einer ausschließlich psychologischen Begründung der Handlung auf. In keinem Werk wird die psychologische Auflösung der ambigen Motivierung und die Stärkung des figuralen Pols sinnenfälliger als in der Erzählung Der Doppelgänger. Die inneren Dialoge, an denen dieses Werk reich ist, enthalten ein Paradox: Die fehlende Alterität des Dialogpartners wird durch die Alterität des Ich ersetzt. Das Ich ist sich selbst so fremd, dass es vor den eigenen Abgründen tiefer erschrecken kann, als es je vor Fremdem erschrecken würde. Der Doppelgänger war das Initialwerk dieser Poetik der solipsistischen Dialogizität. In einer neuen Gestaltung eines alten Sujets erteilt Dostoevskij der hybriden, ambigen Motivierung eine Absage und begründet die Handlung eindeutig psychologisch. 23. Der klassische moderne Text der Ambiguität ist Henry James’ The Turn of the Screw. Auch hier macht sich die Ambiguisierung die Perspektive zunutze. Obwohl die Erzählung drei Urheber hat, ist für die erzählte Geschichte ausschließlich die Perspektive der Gouvernante maßgeblich, die sich in die unmittelbare Sicht der erlebenden Figur und die abgeklärte Sicht der erzählenden Instanz aufspaltet. Das im Titel genannte ‚Drehen der Schraube‘ ist die Aktion des Autors, der die Wahrnehmung des Geschehens und die Präsentation der Geschichte durch die Erzählerin so gestaltet, dass dem Leser Verifikation oder Falsifikation des Erzählten nicht möglich ist. James’ Erzählung hat einen hochmetaliterarischen Charakter, weniger aufgrund des Spiels mit einigen Prätexten als vielmehr infolge der Weise, wie das Erzähltwerden der Geschichte in mehreren Rahmen und Texten inszeniert wird. 24. Ging es bislang um die Motivierung von Thematischem durch Verfahren, wird im 8. Kapitel die umgekehrte Richtung der Motivierung betrachtet, die Rechtfertigung von Verfahren durch die Thematik. Die untersuchten Texte stammen alle aus der Stilformation des Realismus bzw. Neorealismus. Die Untersuchung beginnt mit Dostoevskijs später Erzählung Die Sanfte, in deren Vorwort der Autor die „phantastische“ Erzählsituation des quasi-dialogischen inneren Erzählmonologs rechtfertigt. Die Phantastik bezieht der Au-
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tor auf sein nicht begründetes Wissen um den Inhalt der an sich selbst gerichteten Reden des Helden, auf die fehlende Motivierung der Introspektion in ein fremdes Bewusstsein. In den Notizbüchern zum Roman Der Jüngling erwägt Dostoevskij die Wahl der Erzählsituation und schwankt lange zwischen einem diegetischen und einem nicht-diegetischen Erzähler. Die Entscheidung für ersteren und die Festlegung eines jungen Alters des Erzählers mit der damit verbundenen Frische und Naivität begründet die Wendung vom ursprünglich konzipierten Ideenroman zu dem dann entstehenden Adoleszenzroman. In Ivan Bunins Erzählung Leichter Atem hat man in mehreren Analysen die „Überwindung der Fabel durch das Sujet“ (Vygotskij) beobachtet, und für die Dominanz der Erzählung über die Geschichte die Permutation der Episoden verantwortlich gemacht. In Wirklichkeit beruht die beschriebene finale Wirkung der Leichtigkeit weniger auf der Permutation als auf den überraschenden Äquivalenzen, die bereits die Geschichte („Fabel“) aufweist. Die Richtung der Motivierung wird umstritten bleiben. Der Gehaltsästhetiker wird in der aktivierten Komposition nur ein Vermitteln von ideellen Effekten erblicken. Als das Motivierende wird er die umgestellte Handlung und ihre affektive Wirkung betrachten. Der Formästhetiker wird der ungewöhnlichen Komposition selbst seine Aufmerksamkeit zuwenden, in der Erzählung die von ihr deformierte Geschichte und die Verfahren dieser Deformation wahrnehmen. Andrej Bitovs Erzählung Leben im windigen Wetter verdankt sich der extrafiktionalen, auktorialen Motivation, gegen das sozialpädagogische Konzept des sogenannten „sozialistischen Realismus“ das von den verfemten russischen Formalisten zum Grundverfahren der Kunst erhobene Verfahren der Verfremdung wieder in sein verlorenes Recht einzusetzen. Intrafiktional wird dieses Verfahren durch die drei thematischen Faktoren Datscha-Leben, Wind und Blick des Kindes motiviert. Mit Hilfe der intrafiktionalen Motivierung realisiert der Autor seine extrafiktionale Motivation. Die Moderne tendiert dazu, die realistische Motivierung mit mythischer Weltwahrnehmung zu verflechten. In der russischen Literatur ist eines der Werke, an denen man die Interferenz von realistischer und mythischer Motivierung beobachten kann, Evgenij Zamjatins Erzählung Die Überschwemmung. In realistischer Perspektive, die von der am Ende die Täterin vernehmenden Polizei repräsentiert wird, geht es hier um den Mord an einem jungen Mädchen. In mythischer Perspektive hat die Täterin mit dem im Feld vergrabenen zerstückelten Mädchen ihren leeren Schoß gefüllt. Somit erzählt das Werk nicht nur von einem schrecklichen Verbrechen, sondern auch von
214 | Fazit und Ausblick einer mythischen Aufgabe, deren Erfüllung den Schoß der Unfruchtbaren fruchtbar macht. Mythisches Denken kommt auch im ornamentalen Erzähldiskurs zum Ausdruck, in den überaus zahlreichen thematischen Äquivalenzen, die komplex miteinander verflochtene Ketten bilden. Meistens als explizite Vergleiche eingeführt, die im Bewusstsein der Heldin aufscheinen, gehen die Äquivalenzen des realistischen Vorbehalts des „Wie“ und „Gleichsam“ verlustig und verwandeln sich in mythische Identifikationen. Zamjatins Erzählung nähert im „ornamentalen“ Text nicht nur die narratoriale Motivierung der figuralen Motivation an, sondern verknüpft in der Motivierung den kausalen Aspekt eng mit dem künstlerischen. 29. Die Literaturen der europäischen Avantgarden etablieren eigene Motivierungsregeln, die die realistische Poetik mit ihren als unumstößlich geltenden Koppelungen von Bewusstsein und Weltwahrnehmung, Stimmung und Handlung, Thema und Komposition desavouieren. Im Bereich der europäischen Erzählkunst ging der wohl radikalste Angriff auf die realistische Motivierung vom französischen Nouveau Roman der 1950er und 1960er Jahre aus, wobei die führende Rolle die Romane und programmatischen Schriften Alain Robbe-Grillets spielten. In Russland führte Jurij Oleša bereits in den 1920er Jahren einen vergleichbaren Kampf gegen die Motivierungsnormen des Realismus. Die Ähnlichkeit der Innovationen beider Autoren wird besonders deutlich bei einem Vergleich der Romane Eifersucht (1957) und Neid (1927): In beiden Romanen figuriert ein Erzähler, der von einem starken Affekt verzehrt wird. In beiden Romanen entwirft dieser Erzähler eine fremdartige Welt, die einmal – bei der Darstellung der affektauslösenden Figuren – Spuren des vom Affekt verzerrten Blicks enthält, ein anderes Mal aber – bei der Darstellung der Dingwelt – von jeglicher Subjektivität völlig autonom erscheint. Wie bei Robbe-Grillet so wird auch bei Oleša die Motivierung der Objektwelt durch die Subjektivität des Darbietenden auf provozierende Weise überansprucht. Das Prinzip der Motivierung bleibt unangetastet. Es werden nur neue, im Realismus nicht vorgesehene Regeln für die künstlerische Motivierung etabliert. 30. Eine kompositionelle Motivierung – in einem andern als dem von Tomaševskij vorgesehenen Sinn – enthält Andrej Bitovs dystopische Phantasie Ein Photo von Puschkin. Im Jahr 2099 unternimmt der Philologe Igor’ Odoevcev eine – scheiternde – Zeitreise in das Jahr 1836, um von Aleksandr Puškin kurz vor dessen Tod eine Photographie zu erstellen, die der russische Jubiläumssowjet für die Dreihundertjahrfeier des Geburtstags des Nationaldichters in Auftrag gegeben hat. Den Rahmen der Geschichte bilden Leben und Reflexionen des stark autobiographisch ausgestatteten Erzählers auf der
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Datscha im Jahr 1985. Die heterogenen Teile Rahmen und Binnengeschichte sind durch bestimmte Verfahren der Welterfahrung so miteinander verbunden sind, dass die Reflexionen des Schriftstellers als Motivierung der phantastischen Binnengeschichte aufgefasst werden können. Der post-moderne Topos der Nicht-Abbildbarkeit, der Non-Repräsentabilität, des Schwindens und Verschwindens der Realität, den die gescheiterte Zeitreise illustriert, und das Thema der Tachykardie der Zeit werden im Erzählrahmen an den dort verfügbaren Agenten (Heu wendende Bauern, Kuh und Fliege) erprobt und dann vom kleinen Gegenwärtigen ins große Historische projiziert. Die kompositionelle Kontiguität stellt zwischen den disparaten Teilen einen Zusammenhang und für das ganze Werk Einheit und Schlüssigkeit her. Und es entsteht der Eindruck, als habe der Autor unversehens einen Beitrag zu dem von ihm abgelehnten Postmodernismus geleistet.
12.2 Probleme und Perspektiven einer diachronen Narratologie Das vorliegende Buch ist ein weiterer Versuch des Verfassers, zu einer diachronen Narratologie beizutragen.1 Eine weitgehend plausible Abgrenzung einer diachronen von einer historischen Narratologie schlägt Eva von Contzen (2018) vor. Danach zielt erstere eher auf die „DNA des Erzählens“, auf relative stabile Elemente, während letztere sich auf eine bestimmte historische Phase konzentriert, also synchron vorgeht. Problematisch ist allerdings die These, dass eine diachrone Narratologie mit ihrem Interesse an Entwicklungen eher histoire-orientiert sei, während sich eine synchron-historische dagegen eher auf die discours-Ebene ausrichte. Schon allein der Umstand, dass die Grundkategorien wie der Erzähler und die grundlegenden Verfahren wie z. B. die Perspektive, die Formen der Rede- und Gedankendarstellung im Zusammenwirken beider Ebenen konstituiert werden, verbietet eine solche Gegenüberstellung. Die angestrebte diachrone Disziplin müsste – genau genommen – auch suprakulturell heißen. Das Attribut suprakulturell könnte das sachlich nicht richtige und oft gedankenlos gebrauchte Adjektiv interkulturell ersetzen. Die leitende Perspektive einer suprakulturellen Narratologie ist nicht „zwischen“ den Nationalkulturen loziert, es geht hier nicht um „Wechsel“-Beziehungen zwischen den ||
1 Den ersten Versuch stellte die Monographie Schmid 2017 dar. Deren Bestrebungen werden fortgesetzt im Handbook of Diachronic Narratology, das mit den Kollegen Peter Hühn und John Pier bei de Gruyter herausgegeben wird.
216 | Fazit und Ausblick Kulturen, wenn es denn solche gibt, sondern es wird eine Betrachtungsweise auf einer Ebene über den einzelnen Kulturen angestrebt, die es erlaubt, einerseits all-gemeine Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen des Erzählens, ande-rerseits kulturspezifische Manifestationen und kulturelle Sonderentwicklungen zu erkennen. Es geht bei der diachronen Narratologie nicht um die Geschichte der Erzähltheorie, sondern um die Entwicklung der Kategorien und Verfahren des Erzählens selbst.2 Dafür ist die Motivierung ein gutes Beispiel. An diesem kultursensitiven Verfahren kann man beobachten, wie es sich, abhängig von der herrschenden Mentalität gestaltet und in bestimmten räumlichen und zeitlichen Kontexten Sonderformen ausbildet. So erscheint das Verfahren in Kontexten mit heilsgeschichtlichen Erwartungen und teleologischem Denken wie dem christlichen Mittelalter in Formen wie der „Motivierung von hinten“ oder der „finalen Motivierung“. In der realismuskritischen Moderne kommt es zu einer Verflechtung der Motivierungen, wird die realistische Begründung von einer mythischen Rechtfertigung unterminiert. Die Avantgarde dagegen bildet in unterschiedlichen Nationalliteraturen eigenwillige Motivierungsregeln heraus, die die Normen der realistischen Poetik in Frage stellen und ersetzen. Die Motivierung ist auch ein Beispiel für die erstaunliche Tatsache, dass die für das Drama verfasste Poetik des Aristoteles Beschreibungen und Empfehlungen entwickelt hat, die von einer modernen Poetik der Narration, gleichgültig in welchem Genre, ob Roman, Drama oder Lyrik, als generell und überzeitlich gültig übernommen werden. Wie ist dann aber zu erklären, dass Narrationen des Mittelalters und der Renaissance nach andern als den von Aristoteles empfohlenen Regeln aufgebaut sind, so dass neuzeitliche Leser ihre Mühe mit dem Erkennen des Zusammenhangs haben? Aristoteles’ Forderung, die dargestellten Geschehnisse müssten nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgen, wird weder im Artusroman noch im Heldenepos, konsequent befolgt. Für das Mittelalter muss natürlich in Rechnung gestellt werden, dass die Epen mündlich vorgetragen wurden und dass der orale Vortrag mit der begleitenden Mimik und Gestik kompensieren konnte, was uns in der schriftlichen Darbietung inkohärent erscheint. Das ist sicher ein wichtiger Faktor der oft beschworenen, aber selten differenziert un-
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2 Am Beispiel des scene shift demonstriert Monika Fludernik (2003) an der britischen Literatur Fragen, die sich einer diachronischen Narratologie stellen.
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tersuchten Alterität mittelalterlicher Narration. Aber damit ist die in neuzeitlicher Perspektive erscheinende Motivierungsschwäche des Mittelalters noch nicht überzeugend erklärt.3 Für die Motivierungslücken in der Renaissancenovelle ist zu konstatieren, dass Epochenmentalität und Gattungsform die Entwicklung einer plausiblen Psychologie und eines schlüssigen Nexus von Charakter und Handlung nicht beförderten. In der Renaissancenovelle ist die psychologische Begründung der Handlung für den neuzeitlichen Leser unbefriedigend.4 Es kam offensichtlich auf die „ereignete unerhörte Begebenheit“ an, mit welchen Worten Goethe später den Gegenstand der Novelle charakterisiert. Die Entwicklung der Psychologie findet in den neuzeitlichen europäischen Literaturen erst mit der Entwicklung des Romans im 17. und 18. Jahrhundert statt. Wie ist dann, wenn diese allgemein akzeptierte Entwicklungshypothese zutrifft, die überzeugende psychologische Motivierung in den dialogisierten inneren Monologen Tristans in Gottfrieds Versroman zu erklären? Und nach allem, was wir wissen, enthielt schon Gottfrieds Vorlage, Tristan et Yseut des Thomas d’Angleterre, solche selbstanalytischen Monologe. Nach dem allgemein akzeptierten Entwicklungsmodell des Erzählens konnte es solche tiefschürfenden und radikalen Selbstanalysen im 12. Jahrhundert noch nicht gegeben haben. Oder lesen wir in diese Monologe etwas hinein, was sie noch nicht enthalten haben oder noch nicht einmal enthalten haben können? Das sind einige der Fragen, die eine diachrone Narratologie zu beantworten hätte. Die Konzeption einer diachronen suprakulturellen Narratologie ist bislang abgestellt auf den abendländischen Kulturkreis. Erzählt wurde und wird aber in der ganzen Welt. Das ist eine nicht geringe Herausforderung an eine Disziplin, die sich Narratologie nennt. Es bedarf also der Erweiterung des Blickfelds auf die asiatischen, afrikanischen Kulturen und die Erzähltraditionen der indigenen Völker Amerikas und Australiens. Hier wäre es vielleicht an der Zeit, den Blick von einer auf Folklore fokussierten Narrativik zu weiten für suprakulturelle Narratologie. Eine besondere Aufgabe für eine suprakulturelle Narratologie bilden die dem europäischen und nordamerikanischen Blick unumstößlich scheinenden Kategorien wie die Opposition von faktualem und fiktionalem Erzählen oder die Scheidung von realem Autor und fiktivem Erzähler, um nur zwei naheliegende ||
3 Hier stoßen wir auf eine der Aufgaben einer diachronen Narratologie, die Armin Schulz ([2012] 2015, 4) am Beispiel des deutschen Mittelalters als das mühsame Erschließen des „Voraussetzungsystems“ einer kultur- und zeitspezifischen Poetik bezeichnet. 4 Zur Geschichtlichkeit der psychologischen Figurenkonstitution vgl. Haferland 2013.
218 | Fazit und Ausblick Beispiele zu nennen. Nach den wenigen Informationen über z. B. die chinesische Erzähltradition, die bislang in europäischen Sprachen zur Verfügung stehen, würden viele Texte, die in China als erzählend gelten, in unserm Kontext gar nicht als solche betrachtet, da sie mit für uns andersartigen Textsorten wie Lob-rede und Herrscherpreis untermischt sind. Eine so skizzierte diachrone, kultursensitive Narratologie hätte Befunde anzubieten, die den sogenannten Kulturwissenschaften nützlich sein könnten, aber die Narratologie hätte sehr darauf zu achten, sich nicht von dieser modischen Disziplin vereinnahmen zu lassen. Der Gegenstand der stark expandierenden neuen Wissenschaft ist mit ihrem ausufernden Kulturbegriff und ihrem mangelnden Augenmerk auf Funktionen nicht sehr distinkt, und ihre methodische Stringenz lässt zu wünschen übrig. Die Narratologie betrachtet zwar das Erzählen in allen seinen Gattungen und Kulturbereichen, bleibt sich aber ihrer literaturwissenschaftlichen Herkunft stets bewusst. Das ist nicht eine Frage der Tradition. Die Literaturwissenschaft ist nach wie vor die Mutter- und Kerndisziplin der Narratologie, da in ihrem Gegenstand, der fiktionalen, ästhetisch fungierenden Literatur, die Phänomene des Erzählens, auch die anderer Medien, auf exemplarische Weise dargestellt und problematisiert werden. Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zeigen, dass die „neuen“, „postklassischen“ Narratologien, die die angeblich geschichts- und kulturlose klassische Narratologie ablösen sollten, mit ihrer Konzentration auf thematische Aspekte und ihrem oft nur ideologiekritischen Interesse diese generierende Leistung nicht erbringen konnten. Es war die Literaturwissenschaft, die für die aktuelle Narratologie die Kategorien und Begriffe lieferte und die Impulse für neue Fragestellungen gab.
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Sekundärtexte | 2 31 Tepe, Peter; Jürgen Rauter; Tanja Semlow (2009). Interpretationskonflikte am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung. Würzburg. Todorov, Tzvetan (1970). Introduction à la littérature fantastique. Paris. Dt.: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Frz. von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Berlin 2018. Todorov, Tzvetan (1971). „Some Approaches to Russian Formalism“. In: Stephen Bann und John E. Bowlt (Hgg.), Russian Formalism. Edinburgh 1973. 6–19. Tomaševskij, Boris (1925). Teorija literatury. Poėtika. Leningrad. Dt.: Tomaševskij 1985. Tomaševskij, Boris (1928). „La nouvelle école d’histoire littéraire en Russie“. In: Revue des Études slaves 8. 226–240. Engl.: The New School of Literary History in Russia. In: Style 37 (2003). 355–366. Tomaševskij, Boris (1965a). „Thématique“. In: Théorie de la littérature. Textes des Formalistes russes, réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov, Paris 2001, 267–312. Tomaševskij (Tomashevsky), Boris (1965b). „Thematics“. In: Russian Formalist Criticism. Four Essays. Translated and with an Introduction by Lee T. Lemon and Marion J. Reis. Lincoln, NE. Tomaševskij, Boris (1985). Theorie der Literatur. Poetik [Übers. von Teorija literatury. Poėtika. 6. Aufl. Moskau und Leningrad 1931]. Hg. v. Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden. Tomaševskij, Boris (1999). Teorija literatury. Poėtika: Učebnoe posobie [Nachdruck der 6. Aufl. 1931]. Eingeleitet von Natan D. Tamarčenko. Kommentiert von Sаmson N. Brojtman unter Mitwirkung von Natan D. Tamarčenko. Moskau. Trifonov, Jurij (1964). Rez.: Andrej Bitov, Bol’šoj šar. In: Junost’ 1964, 4. 74 Tynjanov, Jurij (1924a). Problema stichotvornogo jazyka. Dann in: Ju. N. T., Literaturnyj fakt. Moskau 1993. 23–109. Dt.: Tynjanov 1977b. Tynjanov, Jurij (1924b) „Literaturnyj fakt/Das literarische Faktum“. Russ.-dt. in: Striedter (Hg. 1969). 392—431. Tynjanov, Jurij (1927). „O literaturnoj ėvoljucii/Über die literarische Evolution“. Russ.-dt. in: Striedter (Hg. 1969). 432–461. Tynjanov, Jurij (1977a). Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskau. Tynjanov, Jurij (1977b). Das Problem der Verssprache. Zur Semantik des poetischen Textes. Übers. und eingeleitet von Inge Paulmann. München. Urban, Peter (1999). „Anmerkungen“. In: Aleksandr Puškin, Die Erzählungen einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe. Neu übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Berlin. 381–446. Vinogradov, Viktor (1922). „K morfologii natural’nogo stilja. Opyt lingvističeskogo analiza Peterburgskoj poėmy Dvojnik [Zur Morphologie des naturalen Stils. Versuch einer linguistischen Analyse des Petersburger Poems Der Doppelgänger]“. Dann in: V. V., Evoljucija russkogo naturalizma. Gogol’ i Dostoevskij. Leningrad 1929. 206–290. Vinogradov, Viktor (1936). „Stil’ Pikovoj damy“ [Der Stil der Pique Dame]. Dann in: V. V., O jazyke chudožestvennoj prozy. Moskau 1980. 176–239. Vischer, Friedrich Theodor (1846). Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Reutlingen und Leipzig. 1851. Vološinov, Valentin (1929). Marksizm i filosofija jazyka: Osnovnye problemy sociologičeskogo metoda v nauke o jazyke. Moskau 1993. Dt.: Vološinov 1975. Vološinov, Valentin (1975). Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft [Übers. von Vološinov 1929]. Hg. von Samuel Weber. Frankfurt a. M.
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Index der Namen und Werke Seiten, die unter dem Werk eines Autors aufgeführt sind, erscheinen nicht unter seinem Namen. In russischen Namen und Werktiteln wird die Betonung durch Akzente angezeigt. Abelson, Robert P. 42, 228 Abrámov, Fëdor 140 Alexander, Marc 42, 223 Ál’tergot, Dítrich 150, 221 Aristoteles 2, 8, 12–18, 21, 31, 38, 207, 216, 221 Astáf’ev, Víktor 140 Austen, Jane Pride and Prejudice 61 Sense and Sensibility 61 Avanésov, Rúben 106, 221 Bachtín, Michaíl M. 2–3, 25–27, 33–34, 51, 104, 124, 208, 212, 220 Balzac, Honoré de 88 Barker, Adele 90, 221 Barsch, Karl-Heinrich 94, 221 Barthes, Roland 49, 170–171, 178–180, 221 Basom, Ann Marie 101, 103, 221 Beaujour, Elizabeth 172–173, 184, 221 Behn, Aphra 61 Beidler, Peter 113 Belínskij, Vissarión 105, 221–222 Belóv, Vasílij 140 Berczynski, T. S. 192, 222 Berkóvskij, Naúm 172, 222 Béroul 45 Bítov, Andréj 219, 222 Auf der Datscha (Dáčnaja méstnost’) 140 Die große Kugel (Bol’šój šar) 142 Leben im windigen Wetter (Žizn’ v vétrenuju pogódu) 139–148, 199, 200–201, 213 Ein Photo von Puschkin (Fotográfija Púškina) 4, 198–205, 214–215 Puschkins Hase 77 Das Puschkinhaus (Púškinskij dom) 201 Blanckenburg, Friedrich von 8–9, 206, 222 Bočaróv, Sergéj 25, 222 https://doi.org/10.1515/9783110691030-014
Boccaccio, Giovanni di 219 Il Decameron 3, 51–57, 114, 197, 210 Filocolo 54 Boyd, John D. 12, 222 Brandist, Craig 25, 222 Braun, Manuel 49, 222 Brokgáuz (Brockhaus), F. A. 88, 222 Brontë, Charlotte Jane Eyre 114 Brooke-Rose, Christine 113, 222 Búnin, Iván 219 Leichter Atem (Lëgkoe dychánie) 3, 132–133, 213 Campbell, Karen 49, 222 Cassirer, Ernst 149, 151, 222 Čéchov, Antón 22, 219 Cervantes Saavedra, Miguel de 52, 207, 219 El celoso estremadureño 60 Don Quijote 20 La Novela de la Gitanilla 3, 56–61, 210 Novelas ejemplares 3, 57, 210 Chariton aus Aphrodisias Chaireas und Kallirrhoë (Τὰ περὶ Χαιρέαν καὶ Καλλιρρόην) 51 Chrétien de Troyes 49 Clauren, Heinrich (eigentl. Carl Heun) Der holländische Jude 80 Der holländische Kaufmann (Gollándskij kupéc) 80, 85 Collins, Christopher 154, 165, 222 Contzen, Eva von 48, 215, 222 Čudakov, Aleksandr 140, 222 Čudakova, Mariėtta 140, 184–185, 222 Davýdov, Sergéj 79, 85–87, 222 Dostoevskij, Fëdor 35, 219 Arme Leute (Bédnye ljúdi) 104, 106 Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapíski iz podpól’ja) 112, 126
234 | Index der Namen und Werke Die Brüder Karamazov (Brát’ja Karamázovy) 76, 112 Die Dämonen (Bésy) 112 Der Doppelgänger (Dvojník) 3, 75, 104– 112, 128–129, 212 Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett. Ein ungewöhnliches Begebnis (Čužája žená i muž pod krovát’ju. Proisšestvie neobyknovennoe) 60 Der Jüngling (Podróstok) 3, 112, 128– 129, 213 Die Sanfte (Krótkaja) 3, 125, 128, 212 Schuld und Sühne (Prestuplénie i nakazánie) 6, 112, 148, 154–155, 165 Tagebuch eines Schriftstellers (Dnevnik pisatelja) 111, 125 Drozda, Miroslav 136, 222 Drux, Rudolf 67, 223 Durst, Uwe 62, 222 Éfron, I. A. 88, 223 Eilhart von Oberge 45 Ėjchenbáum, Borís 1, 18–20, 26, 28, 207– 208, 223 Else, Gerald F. 12, 223 Emmott, Catherine 42, 223 Felman, Shoshana 113, 116, 118, 223 Flashar, Hellmut 12, 223 Fleishman, Lazar’ 21, 223 Fludernik, Monika 216, 223 Frank, Joseph 3, 106, 223 Freud, Sigmund 64, 223 Fuhrmann, Manfred 13, 14, 38, 223 Fulda, Daniel 32, 223 Galvani, Luigi 83 Genette, Gérard 180, 223 Geršenzón, Michaíl 77 Giraudoux, Jean 219 L’École des indifférents 172–173
Glínka, Fëdor Tobias’ Hochzeitsgelage (Bráčnyj pir Tóvija) 85 Glück, Helmut 25, 223 Goebel, Gerhard 178, 223 Goethe, Johann Wolfgang 60, 73, 88, 93, 217, 219 Die Wahlverwandtschaften 39 Grübel, Rainer 25, 223 Gógol’, Nikoláj 104, 106, 212, 219–220 Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka (Večerá na chútore bliz Dikán’ki) 98 Arabesken (Arabéski) 100 Der Mantel (Šinel’) 98–99 Mirgorod (Mírgorod) 98 Die Nase (Nos) 99 Das Porträt (Portrét) 3, 98–104, 211– 212 Toten Seelen (Mërtvye dúši) 106 Gottfried von Straßburg Tristan 3, 42–48, 57, 61, 209, 217, 220 Grigór’ev, Apollón 106 Haferland, Harald 8–9, 25, 36–37, 48, 217, 223–224 Halliwell, Stephen 12, 14, 224 Hamburger, Käte 12, 224 Hansen-Löve, Aage A. 3, 5–6, 149, 224 Haug, Walter 49–50, 224 Heliodoros Die Abenteuer der schönen Chariklea (Αἰθιοπικά) 51 Heun, Carl siehe Heinrich Clauren Hirdt 93, 224 Historia Apollonii regis Tyri 51 Hoffmann, E. T. A. 67, 76, 104, 106, 220 Die Automate 65 Der Magnetiseur 82 Nachtstücke 71, 73 Der Sandmann 3, 63–75, 82, 149, 210– 211 Die Serapionsbrüder 65 Spielerglück 78 Der Zusammenhang der Dinge 39
Holthusen, Johannes 126, 130, 152, 224 Huber, Christoph 47, 224 Hühn, Peter 40, 215, 224 Hugo, Victor Le Dernier jour d’un condamné 127 Les Misérables 127 Ingarden, Roman 10, 32, 224 Jakobsón, Román 1–2, 14, 20–21, 224–225 Jakubóvič, Dmítrij 89, 225 James, Henry 220 Gabrielle de Bergerac 114 The Point of View 116 The Turn of the Screw 3, 56, 113–123, 212 Jensen, Peter Alberg 149, 225 Jolles, André 54, 60, 225 Kant, Immanuel Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik 88 Kary, Dunja 198, 225 Kášin, N. P. 85, 225 Keck, Anne 44–45, 225 Király (Kíraj), Gyula 107, 225 Kirnóze, Zója 93–94, 225 Kódjak, Andréj 77, 225 Koller, Hermann 12, 225 Kragl, Florian 48, 225 Krauss, Werner 57, 225 Kremer, Detlef 64–65, 225 Kruse, Hans-Joachim 71, 225 Kytzler, Bernhard 52, 225 Leech-Anspach, Gabriele 153–154, 160, 225 Leitner, Andreas 198, 226 Leskov, Nikoláj 19 Lessing, Gotthold Ephraim 14 Lévin, Lev 172, 226 Lieb, Claudia 70, 226 Löhmann, Otto 54, 226 Lotman, Jurij 21, 40, 226 Lubbock, Percy 116, 226 Lugowski, Clemens 2, 36–38, 49, 209, 226 Lukrez 54
Index der Namen und Werke |
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Lustig, Timothy J. 113–114, 117–118, 226 Luther, Stefanie 8, 226 Makánin, Vladímir 140 Mann, Otto 14, 226 Mann, Тhomas Tod in Venedig 39 Markóvič, Vladímir 226 Martínez, Matías 2, 8–9, 25, 37–39, 209, 226 Medvédev, Pável 25–27, 208, 226 Meincke, Anne Sophie 37–38, 226 Mérimée, Prosper 220 La Dame de Pique 94 La Guzla, ou choix de poésies illyriques recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, La Croatie et l’Herzégovine 93 La Vénus d’Ille 3, 93–98, 211 Mesmer, Franz Anton 82 Meyer, Matthias 48, 224 Meyer-Fraatz, Andrea 198, 204, 227 Morrissette, Bruce 179–180, 227 Müller, Jan-Dirk 48, 227 Mukařovský, Jan 35, 209, 227 Nabokov, Vladimir 80, 85, 227 Nilsson, Nils Åke 181, 227 Nünning, Ansgar 32, 227 Oléša, Júrij 3, 170, 220 Aldebaran (Al’debarán) 174–175 Gespräch im Park (Razgovór v párke) 175 In der Welt (V míre)190 Die Kette (Cep’) 174–176, 181, 184, 189–190 Der Kirschkern (Višnëvaja kóstočka) 174–175, 186, 193 Liebe (Ljubóv’) 174 Neid (Závist’) 4, 171–172, 174, 181–192, 195, 198, 214 Paulmann, Inge 30, 227 Peróvskij siehe Pogorél’skij
236 | Index der Namen und Werke Pesonen, Pekka 198, 227 Peters, Ursula 48, 227 Pier, John 215 Platon 12, 18 Poe, Edgar Allan 76 Pogorél’skij (Peróvskij), Antónij 69 Fatale Folgen einer ungezügelten Phantasie (Págubnye poslédstvija neobúzdannogo voobražénija 6 Der Magnetiseur (Magnetizër) 8, 82 Preisendanz, Wolfgang 63, 71, 227 Propp, Vladímir 5, 227 Púškin, Aleksándr 220 Belkins Erzählungen (Póvesti Bélkina) 23 Der eherne Reiter (Médnyj vsádnik) 203 Die Hauptmannstochter (Kapitánskaja dóčka 77 Lieder der Westslaven (Pésni západnych slavján) 93 Pique Dame (Píkovaja dáma) 3, 56, 75– 94, 113, 114, 117, 118, 122, 149, 211 Der Schuss (Výstrel) 93 Radcliffe, Anne The Mysteries of Udolpho 11 Raspútin, Valentín 140 Rauter, Jürgen 64, 67– 70, 72, 231 Reber, Natalie 104, 227 Richardson, Samuel 61 Rimmon, Shlomith 113, 116 Ritz, German 198 Robbe-Grillet, Alain 170, 185, 220 La Jalousie 3–4, 172–174, 176–181, 188, 19, 214 Nouveau Roman, homme nouveau 179 Pour un nouveau roman 179 Une voie pour le roman futur 178 Le Voyeur 174, 176 Rossbach, Bruno 69, 227 Rosen, Nathan 87, 91–92, 227 Ruh, Kurt 37, 228 Saakjánc, Ánna 135, 228 Salinger, Jerome D. The Catcher in the Rye 140
Šarýpkin, D. M. 88–89, 228 Schank, Roger C. 42, 228 Scheffel, Michael 3, 37, 39, 228 Scheffler, Leonore 153, 228 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 88 Schiller, Friedrich von 88, 133 Schlaffer, Heinz 36–37, 228 Schmid, Wolf 6, 12–13, 23, 31, 39–40, 43, 45, 75, 79, 82, 104, 119, 126, 129, 133, 140, 149–151, 172, 192, 215, 228–229 Schneider, Christian 48, 225 Schulz, Armin 36, 48, 217, 229 Schulze-Witzenrath, Elisabeth 54, 229 Schwartz, Albert 90, 229 Schwartz, Murray M. 90, 229 Schwietering, Julius 47, 229 Scott , Walter 73 Seemann, Klaus-Dieter 21, 229 Seemann, Veronika-Rose 8–9, 229 Semlow, Tanja 64, 67–70, 72, 231 Shane, Alex 154, 229 Sigestedt, C. R. 89, 229 Simmel, Georg 10, 31, 208, 229 Šklóvskij, Víktor 1–2, 12, 18–21, 23, 26–28, 34, 37, 51–53, 57, 124–125, 133, 193, 207–208, 229–230 Slonímskij, Aleksándr 77, 85, 230 Smirnóv, Ígor’ 3, 230 Sobolévskij, A. S. 93 Sörbom, Göran 12, 230 Solov’ëv, Vladímir (Solowjow, Wladimir) 23, 56, 62, 210, 230 Solov’ëv, Vladímir 184, 230 Spieker, Sven 198, 230 Spitzer, Leo 60, 210, 230 Stark, Isolde 51–52, 60, 230 Sternberg, Meir 25, 230 Sterne, Laurence The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 19–20, 26– 28, 34, 124, 207 Šukšin, Vasilij 140 Swift, Jonathan Gullivers Travels 24 Swedenborg, Emanuel 88–89 Tamárčenko, Nátan 25, 230
Index der Namen und Werke | Tepe, Peter 64, 67–70, 72, 231 Thomas d’Angleterre (Tomas von Britanje) Tristan et Ysolt 43, 45–46, 48, 217, 220 Thukydides 54 Tihanov, Galin 25, 222 Todorov, Tzvetan 21, 23–24, 56, 62–64, 103, 109, 210, 231 Tolstoj, Aleksej Der Vampir (Upýr’) 62 Tolstoj, Lev 194–195 Tomašévskij, Borís 1–2, 5, 21–26, 62, 197, 207–208, 214, 231 Trifonov, Jurij 140, 142, 231 Tunimanov, Vladímir 127 Tynjánov, Júrij 2, 21, 27–30, 34, 124, 195– 196, 208, 231 Urban, Peter 78, 231 Velde, Carl Franz van der Arwed Gyllenstierna. Eine Erzählung aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts 89 Der Tod Karls XII (Smert’ Kárla XII) 89 Vinográdov, Víktor 80, 82, 231 Vinokúr, Grigórij 30 Vischer, Friedrich Theodor 9–11, 25, 206, 231
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Volóšinov, Valentín 25, 231 Vygótskij, Lev 132–134, 136–138, 213, 232 White, Hayden 32, 232 Wieland, Christoph Martin Die Geschichte des Agathon 8 Wilson, Wayne 182, 232 Wöll, Alexander 104, 232 Wolfram von Eschenbach 220 Parzival 3, 41–42, 209 Woodward, James 136, 232 Xenophon von Ephesos 51 Die ephesischen Geschichten von Anthia und Habrokomes (Τὰ κατ’ Ἄνθειαν καὶ Ἁβροκόμην ἐφεσιάκα) Zamjátin, Evgénij 220 Der Drache (Drakón) 153 Hinter die Kulissen (Zakulisy) 153 Die Höhle (Peščéra) 152–153 Mamaj (Mamáj ) 153 Die Überschwemmung (Navodnénie) 4, 39, 152–169, 213–214 Zeltner-Neukomm, Gerda 180, 232 Žolkovskij (Zholkovsky), Aleksandr 133, 136, 138, 232 Zuckerkandl, Viktor 12, 232