Kunstphilosophie und Ästhetik: Band II: Von der Spätantike bis zur Renaissance 9783534745173

Mit Bernhard Brauns Opus Magnum liegt erstmals eine Darstellung der gesamten Geschichte der europäischen Kunstphilosophi

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German Pages 513 [516] Year 2019

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Title
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Inhalt
IV. Die Spätantike
1.0. Kontexte
1.1. Vom Heidentum zum Christentum
1.2. Die neuen Völker
2.0. Von der antiken zur spätantiken Kunst
3.0. Das Christentum
3.1. Kontexte
3.2. Jesus von Nazareth
3.3. Die Theologisierung des historischen Jesus
3.4. Kunstphilosophische Impulse des Christentums
3.5. Inkarnation versus Pneumatologie – ein gegenkulturelles Konzept
4.0. Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter
4.1. Frühe Apologeten
4.2. Der Streit um die Christologie
4.2.1. Die Orientalen
4.2.2. Die Okzidentalen
4.3. Augustinus von Hippo und die Ästhetik der Zahl
4.4. Das Mönchtum des Ostens
5.0. Spätantike und frühchristliche Kunst
5.1. Die christliche Neucodierung antiker Kunst – Zeit und Themender frühchristlichen Kunst
5.1.1. Von der heidnischen zur christlichen Kunst
5.1.2. Themen der frühchristlichen Kunst am Beispiel der Grab-und Sarkophagkunst
5.1.3. Motive der Christusdarstellung
5.1.4. Die Sonnenkonnotation in der Konkurrenz mit demMithras-Kult
5.2. Die Basilika
5.2.1. Frühe Hauskirchen
5.2.2. Die Basilika und das Mosaik
6.0. Byzanz
6.1. Kontexte
6.2. Byzantinische Kunst und Architektur
6.2.1. Zentralbau
6.2.2. Die Bauten Justinians I.
6.2.3. Die kunsttheoretische Bedeutung der Narration in den spätantiken Sakralbauten
7.0. Der Neuplatonismus
7.1. Die Rezeption Platons
7.2. Der neuplatonische Dynamismus und seine Autoren
7.3. Der Neuplatonismus als Paradigma für Anagogie unddie Darstellung des Undarstellbaren
8.0. Das Kultbild
8.1. Das christliche Bild
8.2. Das Acheiropoieton und die Ikone
8.3. Der Streit um das Bild
8.4. Die Philosophie des Bildes
V. Das Mittelalter
1.0. Kontexte
2.0. Zwischen Konstantin und Karl dem Großen
2.1. Boëthius
2.2. Andere Autoren neben Boëthius
3.0. Die Kultur des Islam
3.1. Der arabische Hintergrund
3.2. Kontexte
3.3. Philosophie und Wissenschaft im Islam
3.3.1. Kunstphilosophie und Ästhetik
3.3.2. Das Bilderverbot
3.3.3. Arabeske und Ornament
3.4. Islamische Architektur und Kunst
3.4.1. Grundlage der Architektur der Sakralräume
3.4.2. Zwischen Spätantike und dem Motivschatz Chinas –Die Kunst der islamischen Dynastien
3.4.2.1. Die Umaiyaden
3.4.2.2. Die Abbasiden
3.4.2.3. Die Fatimiden
3.4.2.4. Die Seldschuken
3.4.2.5. Die Osmanen
4.0. Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik
4.1. Vorkarolingische Kunst und Architektur
4.2. Die Zeit Karls des Großen
4.2.1. Kontexte
4.2.2. Klöster
4.2.3. Die Intellektuellen zur Zeit Karls und die Stellungnahmedes Westens im Bilderstreit
4.2.4. Johannes Scotus Eriugena
4.2.5. Architektur und bildende Kunst
5.0. Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert
5.1. Kontexte
5.2. Die Reform von Cluny
5.3. Ästhetik und Kunst im lateinischen Mittelalter nachder Jahrtausendwende
5.3.1. Methodische Anmerkungen
5.3.2. Inhaltliche Anmerkungen
5.4. Romanische Architektur und Kunst
5.4.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischenArchitektur
5.4.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischenbildenden Kunst
6.0. Das 12. Jahrhundert
6.1. Kontexte
6.2. Die Domschulen
6.2.1. Die Schule von Chartres
6.2.2. Die Schule von St. Viktor
6.2.3. St. Denis und der Beginn der gotischen Architektur
6.2.4. Cîteaux und die asketische Architektur der Zisterzienser
7.0. Das 13. Jahrhundert
7.1. Kontexte
7.2. Die Scholastik
7.2.1. Die Form der scholastischen Literatur
7.2.2. Die scholastische Philosophie
7.2.2.1 Abaelard
7.2.2.2. Die Franziskaner und Dominikaner
7.2.2.3. Robert Grosseteste und die Lichtmetaphysik
7.2.2.4. Bonaventura
7.2.2.5. Albert der Große und seine Schule
7.2.2.6. Thomas von Aquin
7.2.2.6.1. Ontologie und Theologie
7.2.2.6.2. Ästhetik
7.2.2.6.3. Kunst
7.3. Die Gotik in Architektur und bildender Kunst
7.3.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischenArchitektur
7.3.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischenSkulptur und Malerei
7.4. Gibt es eine Philosophie der gotischen Kathedrale?
8.0. Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters
8.1. Kontexte
8.2. Architektur und Kunst im Übergang
8.3. Philosophie und Ästhetik der Spätscholastik
9.0. Das Ende des Mittelalters
VI. Die Renaissance
1.0. Der Begriff der Renaissance
2.0. Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte
3.0. Die Kultur der Renaissance
3.1. Die Entdeckung der Welt
3.2. Magie und Wissenschaft
3.3. Das neue Sozialgefüge
3.4. Der Brennpunkt Florenz
4.0. Philosophie und Humanismus
4.1. Der Humanismus
4.1.1. Begriff und Bedeutung
4.1.2. Humanistische Positionen und die Spannung zwischenNaturnachahmung und Genie
4.1.3. Der Paragone zwischen Literatur und Kunst
4.2. Die Philosophie der Renaissance und ihre kunstphilosophischenGehalte
4.2.1. Nikolaus von Kues
4.2.2. Marsilio Ficino
4.2.3. Giordano Bruno
4.2.4. Weitere Philosophen der Renaissance
4.2.5. Philosophische Mystik
4.2.6. Die Staatsutopien
5.0. Die Perspektive
5.1. Voraussetzungen der Perspektive
5.2. Kontexte
5.3. Theorie der Perspektive
6.0. Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance
6.1. Dichtung und bildende Kunst
6.2. Die Wende in der bildenden Kunst
6.3. Die Bestimmungsmodi der Renaissancekunst
6.4. Die Künstler und ihre Traktate
6.4.1. Kunst als Wissenschaft: Cennini, Ghiberti, della Francesca,Dürer
6.4.2. Albertis Traktate zur bildenden Kunst
6.4.3. Kunst zwischen Theorie und Praxis: Leonardo, Michelangelo,Cellini
7.0. Die Architektur der Renaissance
7.1. Traktate zur Architektur
7.2. Der Sakralbau
7.3. Die großen Renaissance-Architekten und ihrekunstphilosophischen Fundamente
7.3.1. Filippo Brunelleschi
7.3.2. Leon Battista Alberti
7.3.2.1. Leben und Werk
7.3.2.2. Albertis Architekturtraktat
7.3.3. Donato Bramante
7.3.4. Andrea Palladio
8.0. Der Ausklang der Renaissance im Manierismus
8.1. Manierismus in der bildenden Kunst und der Streit um dieNachahmung
8.2. Manierismus in der Architektur
8.3. Vasari, Lomazzo, Zuccaro und die Theorie des Manierismus
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Kunstphilosophie und Ästhetik: Band II: Von der Spätantike bis zur Renaissance
 9783534745173

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Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik

Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik Band 2

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5



Inhalt

IV. Die Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1. Vom Heidentum zum Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2. Die neuen Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.0. Von der antiken zur spätantiken Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.0. Das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.2. Jesus von Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.3. Die Theologisierung des historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.4. Kunstphilosophische Impulse des Christentums . . . . . . . . . . . . . 42 3.5. Inkarnation versus Pneumatologie – ein gegenkulturelles Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.0. Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter . . . . . . . . . . 45 4.1. Frühe Apologeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.2. Der Streit um die Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.2.1. Die Orientalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.2.2. Die Okzidentalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.3. Augustinus von Hippo und die Ästhetik der Zahl . . . . . . . . . . . . 56 4.4. Das Mönchtum des Ostens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.0. Spätantike und frühchristliche Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.1. Die christliche Neucodierung antiker Kunst – Zeit und Themen der frühchristlichen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.1.1. Von der heidnischen zur christlichen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1.2. Themen der frühchristlichen Kunst am Beispiel der Grab und Sarkophagkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.1.3. Motive der Christusdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5.1.4. Die Sonnenkonnotation in der Konkurrenz mit dem Mithras-Kult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.2. Die Basilika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2.1. Frühe Hauskirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2.2. Die Basilika und das Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.0. Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 6.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6.2. Byzantinische Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6.2.1. Zentralbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.2.2. Die Bauten Justinians I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.2.3. Die kunsttheoretische Bedeutung der Narration in den spätantiken ­Sakralbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Band 2

6

Inhalt

7.0. Der Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7.1. Die Rezeption Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7.2. Der neuplatonische Dynamismus und seine Autoren . . . . . . . . . . 115 7.3. Der Neuplatonismus als Paradigma für Anagogie und die Darstellung des Undarstellbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 8.0. Das Kultbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 8.1. Das christliche Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 8.2. Das Acheiropoieton und die Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 8.3. Der Streit um das Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 8.4. Die Philosophie des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

V. Das Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.0. Zwischen Konstantin und Karl dem Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2.1. Boëthius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.2. Andere Autoren neben Boëthius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.0. Die Kultur des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.1. Der arabische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.2. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.3. Philosophie und Wissenschaft im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.3.1. Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.3.2. Das Bilderverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.3.3. Arabeske und Ornament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3.4. Islamische Architektur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.4.1. Grundlage der Architektur der Sakralräume . . . . . . . . . . . . . . 190 3.4.2. Zwischen Spätantike und dem Motivschatz Chinas – Die Kunst der islamischen Dynastien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.4.2.1. Die Umaiyaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.4.2.2. Die Abbasiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3.4.2.3. Die Fatimiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.2.4. Die Seldschuken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3.4.2.5. Die Osmanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4.0. Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.1. Vorkarolingische Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4.2. Die Zeit Karls des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.2.2. Klöster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.2.3. Die Intellektuellen zur Zeit Karls und die Stellungnahme des Westens im Bilderstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.2.4. Johannes Scotus Eriugena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.2.5. Architektur und bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5.0. Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 240 5.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Inhalt









5.2. Die Reform von Cluny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5.3. Ästhetik und Kunst im lateinischen Mittelalter nach der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.3.1. Methodische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.3.2. Inhaltliche Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.4. Romanische Architektur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.4.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5.4.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.0. Das 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.2. Die Domschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.2.1. Die Schule von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 6.2.2. Die Schule von St. Viktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.2.3. St. Denis und der Beginn der gotischen Architektur . . . . . . . . . 281 6.2.4. Cîteaux und die asketische Architektur der Zisterzienser . . . . . . 286 7.0. Das 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.2. Die Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 7.2.1. Die Form der scholastischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 7.2.2. Die scholastische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.2.2.1 Abaelard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.2.2.2. Die Franziskaner und Dominikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 7.2.2.3. Robert Grosseteste und die Lichtmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . 306 7.2.2.4. Bonaventura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 7.2.2.5. Albert der Große und seine Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 7.2.2.6. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.2.2.6.1. Ontologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.2.2.6.2. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 7.2.2.6.3. Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7.3. Die Gotik in Architektur und bildender Kunst . . . . . . . . . . . . . . 320 7.3.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 7.3.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Skulptur und Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.4. Gibt es eine Philosophie der gotischen Kathedrale? . . . . . . . . . . . 332 8.0. Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.2. Architektur und Kunst im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 8.3. Philosophie und Ästhetik der Spätscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . 347 9.0. Das Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

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Inhalt

VI. Die Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1.0. Der Begriff der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2.0. Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3.0. Die Kultur der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 3.1. Die Entdeckung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 3.2. Magie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3.3. Das neue Sozialgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3.4. Der Brennpunkt Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 4.0. Philosophie und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 4.1. Der Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4.1.1. Begriff und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4.1.2. Humanistische Positionen und die Spannung zwischen Naturnachahmung und Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 4.1.3. Der Paragone zwischen Literatur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 397 4.2. Die Philosophie der Renaissance und ihre kunstphilosophischen Gehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4.2.1. Nikolaus von Kues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 4.2.2. Marsilio Ficino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4.2.3. Giordano Bruno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 4.2.4. Weitere Philosophen der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 4.2.5. Philosophische Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 4.2.6. Die Staatsutopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 5.0. Die Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 5.1. Voraussetzungen der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 5.2. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 5.3. Theorie der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 6.0. Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 6.1. Dichtung und bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 6.2. Die Wende in der bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 6.3. Die Bestimmungsmodi der Renaissancekunst . . . . . . . . . . . . . . . 444 6.4. Die Künstler und ihre Traktate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 6.4.1. Kunst als Wissenschaft: Cennini, Ghiberti, della Francesca, Dürer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 6.4.2. Albertis Traktate zur bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 6.4.3. Kunst zwischen Theorie und Praxis: Leonardo, Michelangelo, Cellini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 7.0. Die Architektur der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 7.1. Traktate zur Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 7.2. Der Sakralbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 7.3. Die großen Renaissance-Architekten und ihre kunstphilosophischen ­Fundamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 7.3.1. Filippo Brunelleschi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

Inhalt

7.3.2. Leon Battista Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.3.2.1. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.3.2.2. Albertis Architekturtraktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 7.3.3. Donato Bramante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 7.3.4. Andrea Palladio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 8.0. Der Ausklang der Renaissance im Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 8.1. Manierismus in der bildenden Kunst und der Streit um die Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 8.2. Manierismus in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 8.3. Vasari, Lomazzo, Zuccaro und die Theorie des Manierismus . . . . . 507

9

Die Spätantike

IV

12

Die Spätantike

◀ 196 Markuskirche, ­Westfassaden-Mosaik (13. Jh.); Venedig

Für die Zeit zwischen der klassischen Antike und dem Mittelalter hat sich die Bezeichnung »Spätantike« eingebürgert. Geprägt hat den Begriff der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl Ende des 19. Jh.s. Bezieht sich der Ausdruck Hellenismus eher auf den Inhalt einer Kultur, die klassische Antike und Spätantike verklammert, ist der Begriff Spätantike eine Epochenbezeichnung, die freilich unscharf bleibt. Sie umspannt die griechisch-römische Kultur, das Judentum und das sich konsolidierende frühe Christentum, kulturelle Strömungen, die sich nicht ablösen, sondern parallel existieren und ineinander greifen.

1.0. Kontexte

Papaioannou 1972, 213

Colpe 2008 III.2.5.

Mazal Otto in Mazal 1995, 36

Jones 1998, 354, 362

In der Tat muss man bei der Kultur der Spätantike von einer »internationalen, griechisch-römisch-orientalischen Koine sprechen. […] Alexander hatte den Anstoß zu diesem einzigartigen Experiment gegeben. Die hellenistische Kultur verlieh diesem Form und Sinn, doch erst Rom hat das Werk vollendet.« Dass die Spätantike hier in einem eigenen Kapitel gewürdigt wird, könnte man ausführlich und theoriegeladen begründen. Ich verweise dazu auf Carsten Colpe, der dies in einer eigenen Monographie dargelegt hat. Im Sinne der weiter unten erwähnten Ähnlichkeit zwischen der Spätantike und der globalisierten Gegenwartskultur verlässt Colpe die einfache alte und handliche Formel Athen-Rom-Jerusalem oder Akropolis-Kapitol-Zion zugunsten eines komplexeren Geflechts, das jedenfalls auch Ägypten, Byzanz, den Fernen Osten und sogar den Islam (der zeitlich nach der Spätantike begann) mit umfasst. Bei Colpe wird Spätantike prägnant als Übergang ins Mittelalter verstanden. Er verficht einen gegenüber dem von Reinhold Bichler bereits aus der Droysen-Enge befreiten, nochmals großzügig erweiterten Hellenismusbegriff. Von da aus interessiert ihn die Frage der Enthellenisierung. Lange Zeit wurde die späte Kaiserzeit ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Verfalls des Römischen Reichs und der klassischen Tradition angesehen: »Daß die Bedeutung von Byzanz für den Westen in der Neuzeit weitgehend übersehen wurde […] ist die Konsequenz einer negativen abendländischen Betrachtung der Geschichte, die in der byzantinischen Epoche nur den jahrhundertelangen Verfallsprozeß nach der glanzvollen Epoche des griechisch-römischen Altertums sehen wollte.« Am schärfsten formulierte diese Dekadenztheorie der britische Historiker Edward Gibbon, der die Schuld am Untergang des Römischen Reichs in seinem epochalen Werk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1788) auf die eigene Dekadenz, das Christentum und den Barbareneinbruch verteilte. Das Byzantinische Reich war für ihn nichts weiter als ein despotisches Zerfallsprodukt. Dagegen gab es energischen Widerspruch. Man verwies unter anderem auf den hermeneutischen Kontext dieses Urteils, das dem westlichen Blick und dem antikirchlichen Reflex der Aufklärung des 18. Jh.s entsprang. Demgegenüber würdigt die neuere Kulturphilosophie den Osten aber in vielerlei Hinsicht als außerordentliche und eigenständige Kultur.

13

Kontexte

In der klassischen Philologie hielt sich die Dekadenztheorie am längsten. Die Nachwirkungen reichten bis zu den kulturpessimistischen Entwürfen der Intellektuellen im späten 19. Jh. Für Oswald Spengler und Arnold Toynbee diente der Untergang des Römischen Reichs als universelles, der Biologie entnommenes Modell für die Alterung von Kulturen. Es gab aber auch fortschrittsoptimistische Sichtweisen. Die Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, Franz Wickhoff und Alois Riegl, rekonstruierten die Spätantike schließlich als eigenständige kreative Kulturleistung. Für Riegl begann die spätantike Kunst mit dem Konstantinsbogen 315, dessen heiter-anekdotischer Reliefschmuck in eng an der Klassik orientierten Augen als Verfall galt. Riegl sah darin indes ein neues Stilprinzip heranwachsen. Da heute die Wende zur Spätantike bei Diokletian angesetzt wird, verweist man auch in der Kunst auf diesen Zusammenhang: »[…] so fußt auch die konstantinische Kunst auf der diocletianischen Zeit.« Auch in der Kunstgeschichte ist eine Zäsur zwischen der antiken und der spätantiken Kunst üblich geworden, aber auch dort ist die Grenze dafür in diskursivem Fluss. Nicht nur kulturphilosophisch und ideengeschichtlich, sondern auch kunstphilosophisch ist die Spätantike eine ergiebige Zeit. Die antike Bildung bestand weiter und reifte im aufblühenden Christentum und im tausendjährigen Byzantinischen Reich zu einer großen Kultur heran. Ob man die Spätantike als Abschluss der Antike sieht oder – wie dies die Mediävisten gerne tun – als Vorstufe einer sich zumindest dreifach aufgliedernden mittelalterlichen Kultur (Frankenreich, Byzanz, Islam), hängt wohl davon ab, ob man eher der Antike oder dem Mittelalter mit Sympathie verbunden ist. Zur positiven Wahrnehmung der Spätantike gehört, dass manche Autorinnen die Rede vom Untergang des Römischen Reichs angesichts der berechtigten Frage, was dabei eigentlich untergegangen sei, durch den Terminus einer Transformation ersetzen – wahlweise einer Transformation ins byzantinische oder in das lateinische Mittelalter. Wenn man den seit zwei Jahrhunderten praktizierten Vergleich zwischen Spätantike und Moderne von seiner kulturpessimistischen Pose befreit, lässt sich als neue aktuelle Folie die Ähnlichkeit insbesondere der hellenistischen Leitkultur mit der zeitgenössischen Globalisierung und einer postmodernen Diskurskultur entdecken. Der intellektuelle Diskurs lief in der Weltsprache Griechisch. Cicero stellte fest, dass lateinische Bücher nur in den römischen Gebieten, griechische hingegen »in fast allen Ländern« gelesen werden. Neben einheitlicher Sprache und Wäh­ rung, der »Deregulierung« des Handels, sind es die hochstehenden, nahezu überall verfügbaren Konsum- und Zivilisations­ güter des im gesamten Reich fortgeschrittenen, zum Spektakel neigenden Unter­ haltungssektors. Ein fälschlicherweise Kaiser Hadrian zugeschriebener Brief aus dem 4. Jh. illustriert das Gesagte, wenn es dort über die blühende Handelsmetropole Alexandrien heißt: »Ihr einziger Gott

Riegl 1901, 90, 132 Kraus 1967, 115

Angenendt 1990, 34

Erler/Graeser 2000 Riedweg 1999a, 55–60 Cicero, Pro Archia, 23

197 Orte des ­Vergnügens, ­Hippodrom von Gerasa (1. Jh.p); Jordanien

14

Die Spätantike

198 Säulenstraße mit Hadrianstor in Palmyra; im Hintergrund der Baal-Tempel (32p)

Hist. Aug. 29, 8, 6

III.2.5.4.

Papaioannou 1972, 213

Kolb 1984, 178

Hasenfratz 2004, 11ff

Bleckmann 2009

ist das Geld; diese Gottheit verehren die Christen, die Juden und auch alle Heiden.« Durch den verbreiteten Eklektizismus gab es ein pluralistisches Sinnangebot, eingebettet in einen relativ einförmigen Intellektuellendiskurs. Ich erinnere an die wenig enthusiastische Beschreibung der hellenistischen Stadt durch Lewis Mumford. Das treffende Zitat von Kostas Papaioannou dazu sei hier wiederholt: »Ein Reisender zur Zeit des Kaisers Marcus Aurelius fand, ob in Trier (Augusta Treverorum), Nîmes (Nemausus), Timgad, Palmyra oder den zahlreichen Antiocheia, Seleukeia oder Laodikeia […] überall die gleichen Säulenhallen, Plätze und Tempel wie in seiner Heimat.« An der Perfektionierung der im Gegensatz zu Mumford von Frank Kolb hoch geschätzten hellenistischen Stadt hatte seiner Meinung nach Rom einen bedeutenden Anteil: »Insgesamt bedeutete die römische Herrschaft für die Städte des griechischen Ostens Expansion ihrer Bevölkerung und ihres Siedlungsareals, Hebung des Lebensstandards durch öffentliche Nutz- und Großbauten, welche der Hygiene, der Unterhaltung, dem geselligen Leben und Bildungszwecken dienten.« Dazu kam schließlich die machtvolle Ausbreitung des Christentums. Inwieweit ein Grund für diesen erstaunlichen Erfolg inmitten der bunten Vielfalt hellenistischer Erlösungsreligionen die »Unbehaustheit« des antiken Menschen in dieser »Unübersichtlichkeit« gewesen ist oder ob eine solche Vermutung eher einer heutigen Projektion entspricht, bleibe dahingestellt. Sicherlich kann man jedoch davon ausgehen, dass die Stabilität der Stadt ein beachtenswerter Faktor war, denn die Spätantike war eine Periode der Umbrüche. Die großen Völkerbewegungen schufen ständig Zerstörung und Neuordnung. Es etablierten sich die Germanenreiche der Ost- und Westgoten, Burgunder, Langobarden und Vandalen. Bruno Bleckmann hat dieses Thema in wünschenswerter Breite übersichtlich bearbeitet. Summa summarum wird die Spätantike heute – auch nach literaturwissenschaftlichen Klarstellungen (z.B. Engels/Hofmann 1997) – als eigenständige und innovative Epoche kaum mehr in Frage gestellt. Diskutiert werden allenfalls ihre Begrenzun-

15

Kontexte

gen. Alexander Demandts Vorschlag, die Spätantike im Westen mit dem Reformator Diokletian, der 284 römischer Kaiser wurde, beginnen zu lassen, hat verbreitete Akzeptanz gefunden. 529, das Jahr des Endes der Platonischen Akademie und der angeblich im gleichen Jahr erfolgten Gründung von Montecassino, wäre ein passender Termin für das Ende. Mit diesem Vorschlag lässt sich die Tatsache berücksichtigen, dass das bei den früheren Historikern beliebte Datum 476, der Untergang des West-Reiches, heute nicht mehr als Standard gilt. Ein späterer Termin wäre der Einfall der Langobarden in Italien 568. Noch etwas später ist der Bezug auf Gregor I. Anfang des 7. Jh.s, unter dem Rom aus einer (aus der Sicht von Konstantinopel) Provinzstadt zu dem christlichen und kirchlichen Zentrum wurde. Für den Osten ist die Zeit Justinians als Grenze beliebt. Justinian I. verstand sein Lebenswerk in der Tradition der verklärten Zeit des römischen Prinzipats (also der Verbindung von republikanischer Tradition und einem Princeps zwischen Augustus und Diokletian). Alexander Demandt wählte deshalb das Todesjahr Justinians 565. Manchmal wird für den Osten das Datum des ersten Einfalls der Araber um 630 vorgeschlagen. Dieses Datum markiert jedenfalls die deutlichste Grenze. Für unseren Zweck geht es weniger um historische Grenzziehungen, sondern darum, größere kulturelle Bewegungen, wie das frühe Christentum und die byzantinische Kultur, geschlossen darstellen zu können. Waren die ersten beiden Jahrhunderte der Kaiserzeit durch eine gute Verwaltung und eine prosperierende Wirtschaft bei insgesamt romfreundlicher Gesinnung der Völker im Reich gekennzeichnet, kam es vor allem im westlichen Mittelmeerraum ab dem 3. Jh. zu gewaltsamen Umbrüchen und Bedrohungen an allen Ecken des Reichs. Der von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufene Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus (eigentlich Diocles) beendete die instabile Zeit der Soldatenkaiser durch die Einrichtung der Tetrarchie 293. Zwei Kaiser (Augusti) und zwei Unterkaiser (Caesares), die zugleich als Nachfolger ausersehen waren, übernahmen die Verantwortung für den westlichen (Maximianus/Constantius Chlorus in Sirmium, Mailand, Aquileia und Trier) und östlichen (Diokletian/Galerius in Nikomedia, Antiochia und Salonica/Thessaloniki) Reichsteil. Über die Frage nach dem Warum dieser Einrichtung wird viel gerätselt. Klar ist, dass sie, abgesehen von einer auf Qualität und Kontinuität bauenden Nachfolgeregelung, militärisch vorteilhaft war. Dort lagen auch die größten Erfolge der Tetrarchie. Auch wenn sich daneben andere Kaiserresidenzen etabliert hatten, war das Zentrum des Reichs immer noch Rom. Diokletian, der nur ein einziges Mal als Kaiser Rom aufsuchte, Maximianus und Konstantin bauten nochmals große Thermenanlagen in der Stadt.

199 Tetrarchengruppe aus Porphyr (um 300); Venedig

1.1. Vom Heidentum zum Christentum Zugleich begann nach ersten entsprechenden Vorstößen (Aurelian, Elagabal) mit Dio­kletian endgültig die Sakralisierung des Kaisertums. Die Kaiser trugen den Namen Jupiters (Iovier), die Caesares jenen des Herkules (Herculier). Marie Theres Fögen hat in einer schlüssigen Studie darauf hingewiesen, wie innerhalb weniger Jahrzehnte die alten Interaktionstechniken zwischen Menschen und Göttern, Wahr-

Sakralisierung des Kaisertums

16

Die Spätantike

Fögen 1997

Pfeilschifter 2014, 34

Christenverfolgung

Sloterdijk 1993, 183

Diefenbach 2007, 26

III.3.3.2.2.

sagerei und Magie, zugunsten des Primats der Kaiser in die Illegalität abgedrängt wurden. Zukunftswissen wurde zu einem exklusiven Geschäft des Kaisers. Das Hofzeremoniell wurde differenziert und verschärft. Purpur war die Farbe der kaiserlichen Kleidung. »Der Thronsaal war durch Vorhänge verhüllt, um den Kaiser herrschte erhabene Stille, alles, was er anfaßte, durften die Diener nur mit verhüllten Händen berühren.« Die lange Bindung der römischen Kaiser an die alten Kulte war eine der Ursachen für die Christenverfolgungen. Eine heftige hatte unter Kaiser Decius stattgefunden, der dafür als restituor sacrorum (Wiederhersteller des Heiligen) gefeiert wurde. Sie erschütterte sowohl die junge Kirche als auch das Reich. Kaiser Gallienus schien resigniert zu haben. Er stellte die Verfolgungen ein und gab den Christen die Kirchen zurück. Ein letztes energisches Bemühen um Herstellung der alten Ordnung begann 303, zum 20. Regierungsjubiläum Diokletians. Man zieh die Christen der Leugnung der Staatsgötter (crimen sacrilegi), was gleichbedeutend mit einem Angriff auf den Staat war. Die Christen wandten sich entschieden gegen jeden Kaiser- und Götterkult und lehnten damit die von den Kaisern zur Stabilisierung und Sinnstiftung ihres Regimes geförderten Kulte ab. Zu drastischen Verfolgungen, inklusive Todesstrafe, kam es freilich nur an wenigen Orten, besonders schlimm wüteten Diokletians Schergen an seinem Regierungssitz Nikomedia. Diese Strategie harter Unterdrückung scheiterte bald an der neuen Martyriums­ ideologie, die ein wichtiges identitätsstiftendes Unternehmen der Christen wurde. »Um die frühen Christen schwebt eine schon ihren Zeitgenossen verdächtige, ja unheimliche Stimmung, in der sich Bekenntnismut von Todeslaszivität nicht immer klar unterscheiden läßt.« Eines der wichtigsten Elemente dabei war die Gewalt. »Durch die Thematisierung von Gewalt – eines Phänomens, das jenseits aller kulturanthropologischen Differenzierungen als eine der radikalsten Ausdrucksformen von Abgrenzung einzustufen ist – gewann auch die Identität des Christlichen in der Person des Märtyrers eine scharfe Ausprägung.« Auf der anderen Seite bemühten sich christliche Schriftsteller wie Tertullian unter Bezugnahme auf ein Pauluswort (Röm 13,1,7) um Klarstellung der Loyalität der Christen gegenüber den Kaisern. Einzig die kultische Verehrung der Kaiser sei ihnen wegen ihres exklusiven Monotheismus nicht möglich. Schließlich setzte sich auch gegenüber dieser neuen Religion die Toleranz der spätantiken Gesellschaft durch. Ein Toleranzedikt des harten Christenverfolgers Galerius, der damit eine späte Kehrtwende vollzogen hatte, 311 in Serdica (Sofia) ausgestellt, das von den Kaisern Licinius und Konstantin 313 in Mailand in einem Zirkularschreiben bestätigt wurde, beendete die Verfolgung der Christen. Es sicherte die Freiheit jedweden Glaubens (»welche Gottheit auch immer im Himmel wohnen mag«). 305 dankten Maximian und Diokletian (dieser offenbar aus freien Stücken) zugunsten von Constantius und Galerius (die Caesaren rückten also nach) und den neuen Cäsaren Severus und Maximinus Daia ab und zogen sich ins Privatleben zurück. Vom Alterssitz Diokletians, seinem sich an einem römischen Militärlager orientierenden Palast in Split, war bereits die Rede.

17

Kontexte

Die Idee, die der Tetrarchie zugrunde lag, die Ablöse durch bestens vorbereitete Caesaren, überlebte allerdings seinen Erfinder nicht. Constantius starb 306. Freunde des Vaters und seine Truppen riefen (entgegen den Spielregeln, nach denen die Tetrarchie funktionieren sollte) seinen Sohn Konstantin als Augustus des Westens aus (Galerius erkannte ihn aber nur als Caesar an). Als dann auch noch der Sohn des Maximian, Maxentius, als Usurpator des Kaiserthrons auftrat, war das Experiment Tetrarchie zu Ende. Es begann ein Hauen und Stechen, aus dem ausgerechnet der Auslöser des Debakels, Konstantin, als Sieger hervorging. 312 besiegte er seinen Rivalen Maxentius, Kaiser in Rom, an der Milvischen Brücke. Maxentius hatte gewaltige Mittel flüssig gemacht, um Rom durch die Errichtung zahlreicher Bauwerke wieder zum Zentrum zu machen und es vor der drohenden Provinzialisierung zu bewahren. Von äußeren Ressourcen abgeschnitten, quetschte er die Bürger Roms aus. Dazu kam eine schwierige Versorgungslage. Üble Gerüchte berichteten von einem Schreckensregime (25 Jahre danach schlachtete der christliche Biograph Eusebius die Sache weiter aus), es wurde erstmals der Ausdruck Tyrann gebraucht. Das alles kam Konstantin sehr entgegen, denn der Sieg über Maxentius war nicht einfach ein klassischer Triumph, sondern konnte als Befreiung legitimiert werden. Konstantin, der als Augustus zuerst in Trier, einer der vier Hauptstädte des Reichs, residierte, nahm anscheinend um dieses Ereignis herum den neuen christlichen Glauben an. Der christliche römische Dichter Laktanz berichtet, dass Konstantin die Schilde seiner Soldaten nach einem entsprechenden Traum mit dem (griechischen!) Staurogramm (Chi-Rho/XP) bezeichnet habe. Solche Visionen waren in der Antike nichts Außergewöhnliches. Sie gehörten sowohl im paganen wie auch im christlichen Umfeld zur Idee der Gottesnähe: »Das Übernatürliche lauerte in der Antike überall, man suchte es geradezu.« Von Konstantin werden mehrere Offenbarungen berichtet, für die Sol, Apollo und eben auch Christus verantwortlich gemacht wurden. Vielleicht haben christliche Würdenträger (möglicherweise war Laktanz im Heer des Konstantin) die vor jeder Schlacht unvermeidlichen Omina und Zeichen in eine christliche Richtung gedeutet. Der Sieg Konstantins über Maxentius geriet somit zu einer Bestätigung des Christentums. »Vermutlich konnten die christlichen Priester ihr unglaubliches Glück zuerst gar nicht fassen. Jemand war geneigt, sich zu bekehren – und sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Konstantin führte zwar in Rom die Bauprojekte des Maxentius in einer damnatio memoriae unter seinem eigenen Namen zu Ende, richtete dann aber sein Augenmerk auf den Bau christlicher Basiliken. Dies tat er an der Peripherie der Stadt (extra muros) – vermutlich eine Rücksichtnahme auf die pagane Aristokratie. Konstantin war Kaiser eines Reiches, das seinen Höhepunkt lange hinter sich hatte und die konservative Aristokratie erinnerte daran, dass Rom unter dem Schutz der alten Götter zur Weltmacht geworden sei, weshalb mitten in der Stadt, gegenüber der (alten) Peterskirche, die Elite Roms Grabmäler und Altäre für die alten Götter, darunter auch einen Tempel für die Magna Mater, errichtete. »Dieser Ort […] wurde so bedeutend, dass ein Kybele-Tempel in Lyon ›Vaticanum‹ und ein weiterer in Mainz-Kastel ›Mons Vaticanus‹ genannt wurden.«

Konstantin

Diefenbach 2007, 128 Baker 2006, 329f

Pfeilschifter 2014, 53

Baker 2006, 336

Diefenbach 2007, 82f, 95ff

Erbelding Susanne in Kat. 2013a, 114f Spinola Giandomenico in Ebd., 119

18

Die Spätantike

Giebel 2002; Riedweg 1999 b

5.0. Jensen 2000, 64–93 Milburn 1988 Finney 1994 Suzawa 2008

Im Jahr 324 siegte Konstantin über den Augustus des Ostens, Licinius, den er zuerst durch eine arrangierte Ehe mit seiner Schwester Constantia auf seine Seite gezogen hatte, und wurde Kaiser des gesamten Reichs. Das war ein entscheidender Impuls nicht nur für den Sieg des Christentums, sondern auch für die Ausbildung einer christlichen Kunst. 321 führte Konstantin den christlichen Wochenrhythmus ein, beließ jedoch als Kompromiss gegenüber den Heiden die pagane Benennung der Tage. Insbesondere nach dem 1. Ökumenischen Konzil in Nizäa 325, das Konstantin selbst leitete, waren die Weichen für das Christentum endgültig gestellt. Unverzüglich begann der Kaiser in Italien und Nordafrika mit der Stiftung von Kirchen. Dazu wandte er enorme finanzielle Mittel auf. Diese Entwicklung ging auch nach dem Tod Konstantins und in den nach Theodosius (der de facto auch Herrscher über den Westen war) in West und Ost wieder getrennten Kaisersukzessionen unvermindert weiter. Auch der letzte »Heide« auf dem Kaiserthron, Julian II., dem die Christen den Spottnamen Apostata (der Abtrünnige) gaben, konnte diesen Gang nicht mehr stoppen. Julian, der in seiner Jugend vom Christentum wieder abgefallen war und sich der Begeisterung für die alten Götter hingab, ging es zunächst um eine Wiederbelebung der Religionsfreiheit, die in den Jahren der christlichen Kaiser zugunsten des Christentums mehr und mehr beschränkt worden war. Zuletzt versuchte er eine pagane Gegenkirche zu gründen. Er ging mit seinen Briefen, Reden und philosophischen Traktaten als wertvoller antichristlicher Polemiker in die Geschichte ein. Aus seiner Zeit sind einige Relikte alter Kulte erhalten wie ein bei Pausanias beschriebener Altar für Demeter und Kybele aus Phyla (Attika) oder ein Dionysos-Altar mit Satyrdarstellung aus Melos (beide um 360). Allenfalls auf dem Land hielten sich heidnische Kulte noch einige Jahrhunderte. Der Siegeszug der neuen Religion sollte die Kulturgeschichte Europas und darüber hinaus der gesamten Welt prägen. Die Ursache für diesen Erfolg ist komplex und soll im Kapitel 3.0 ausführlicher zur Sprache kommen. Inwieweit das Christentum eine eigene Kunst und Ästhetik brachte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Am zutreffendsten erscheint die These, die in der christlichen Kunst eine Umcodierung antiker Vorlagen sieht. Ob dies nun eine geordnete »selektive Adaptation« oder ein eher unorganisierter Synkretismus war, darüber lässt sich ausgiebig diskutieren. Zwar scheint eine gesteuerte (zumindest im Sinne einer negativen Auswahl) Übernahme überzeugender zu sein, zumal ein ausgiebiger literarischer Reflexionsvorgang in der Literatur der Väter dazwischengeschaltet wurde. Allerdings versteht Yukako Suzawa unter Synkretismus eine Vermischung von Ideen, Praktiken und Bildern von Religionen und Traditionen in ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext. Das klingt insofern plausibel, weil damit auch die Entstehung der Theologie als ein solcher Prozess verstanden wird. Kunst ist demnach nicht mehr ein Unternehmen, das sekundär eine Übereinstimmung mit einer definierten Doktrin suchen muss, sondern ist Teil der Theologiewerdung der neuen Religion selbst. Das kommt dem Umfang, den ich mit dem Umcodierungsvorgang verbinde, sehr nahe: »[…] the image of Jonah represents a juxtaposition of the Jewish traditional image and a Christian symbol of death and rebirth in a biblical context. I consider this ›compos-

19

Kontexte

ite‹ meaning of the image of Jonah to represent syncretism of the Judaic tradition and the Christian symbol.« Das bald entstehende – aus griechischem Hintergrund gespeiste – Bedürfnis, das Mysterium des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu als eine universelle Idee zu festigen, sie also philosophisch zu formulieren, öffnete dem Christentum die philosophisch-kulturellen Paradigmen der Antike. Zum anderen lag im Gedanken von der Menschwerdung Gottes ein starker Impuls, nicht nur das Göttliche, sondern auch die Kirche und ihre Symbole bildlich darzustellen.

Ebd., 11

1.2. Die neuen Völker Im 4. Jh. begann die sogenannte Völkerwanderung, die zu epochalen Umwälzungen im europäischen und mediterranen Raum führte, bis hin zur Besiegelung des Endes des mächtigen Weltreichs der Römer. Der Ausdruck stammt offenbar vom Wiener Humanisten, Mediziner und Geografen des 16. Jh.s Wolfgang Lazius. Er sprach von einer migratio gentium. Es ging freilich weniger um homogene Völker, sondern um lose germanische Clans, die größere, nicht selten auch ethnisch gemischte Verbände schufen. An der oberen Donau die Alemannen (alle Männer), am Niederrhein die Franken (die Kühnen). Es bildete sich ein dynastisches oder ein wechselndes Heerkönigtum heraus. In ihrer Ethnie legitimierten sich die einzelnen Kleinstämme durch einen Stammvater göttlicher Herkunft. Der Antagonismus Römisches Reich gegen Germanen ist nicht zuletzt wegen der Tatsache so kompliziert, dass Teile der Germanen schließlich in römischen Dienst traten und das Reich gegen andere Germanen mit blutigem Einsatz verteidigten. In der Silvesternacht 406 überrannten Vandalen, Sweben und Alanen über den zugefrorenen Rhein die kaum besetzten römischen Grenzbefestigungen und brachen in Gallien ein – auch sie bedrängt von den nachstoßenden Hunnen. Die Vandalen unter ihrem König Geiserich setzten 429 mit 80 000 Menschen nach Afrika über und übernahmen die ressourcenreichste Provinz Roms. Sie gründeten dort das erste von Rom (zwangsläufig) anerkannte germanische Reich auf römischem Boden mit der Hauptstadt Hippo Regius, der Bischofsstadt des Augustinus. 439 zogen die Vandalen ohne Gewaltanwendung in Karthago ein, das im 4. Jh. einen von mehreren städtischen Höhepunkten erlebte. Dass dabei ein Großteil der römischen Flotte in ihre Hände fiel, trug erheblich zum Ende der römischen Weltherrschaft bei. Das Echo war so nachdrücklich, dass man sogar in Konstantinopel das Abwehrdispositiv zur Seeseite verstärkte. Die Vandalen verfolgten eine selbstbewusste Politik und auch religionspolitisch eine klare Linie, indem sie als Arianer hart gegen die Nizäaner vorgingen. Im Übrigen schätzten sie das Leben in der eroberten intakt gebliebenen Metropole, weshalb sie archäologisch nur schwer fassbar sind. Der in Ravenna residierende mächtige Heermeister Flavius Aëtius (unter Kaiser Valentinian III.) musste ansehen, wie große Teile der Bürger des Römischen Reiches sich mit den neuen Siegern arrangierten, weil sie sich vom schwachen Rom alleingelassen fühlten. Ein Dilemma, das die Verteidigungsfähigkeit des Reichs erst recht schwächte. Schließlich vermochten nur mehr Barbaren »dem Reich noch gegen

Roeck 2017, 100

Angenendt 1990, 114f

Vandalen

20

Die Spätantike

Pfeilschifter 2014, 170 Hunnen

Roth 1979, 31

Goten

Angenendt 1990, 112f Roth 1979, 28

Barbaren zu helfen«, bis es – auf jene Halbinsel geschrumpft, mit der alles begonnen hatte – endgültig kollabierte. Vom Osten drängten die Hunnen, ein nomadisches zentralasiatisches Reitervolk ungeklärter ethnischer Zusammensetzung, aus ebenso ungeklärten Gründen gegen Westen. Die oströmische Bevölkerung nannte sie »Tartaren« (die aus dem Tartaros, der Unterwelt). Um sie rankten sich viele Legenden. Ihr König mit dem germanischen Namen Attila ging als König Etzel in die deutsche Heldendichtung (Nibelungenlied) ein. Zeitgenössische Berichte schildern ihn als bescheiden – er hatte ein kleineres Zelt als die Gesandten, die ihn aus Konstantinopel aufsuchten, weshalb diese ihre Zelte nicht aufbauen durften –, seine Umgebung jedoch lebte nach diesen Berichten in antikem Prunk. Die Hunnen waren ein auf Plünderungszüge spezialisiertes Volk ohne jede Ambition auf Territorialherrschaft, weshalb sie sich auch nicht – wie die Goten – durch Landzuteilungen beruhigen ließen. Attila machte sowohl Ost- als auch Westrom das Leben schwer. In der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 verteidigten Römer und Westgoten gemeinsam erfolgreich das Reich. Diese erste Niederlage der Hunnen brach den Mythos ihrer Unbesiegbarkeit und leitete ihr Ende ein. Allerdings markierte die Schlacht auch das Ende der römischen Herrschaft am Rhein. Die kunsthandwerkliche Hinterlassenschaft der einer schamanistischen Naturreligion zuneigenden Hunnen umfasst vor allem Kleinkunst, Schmuck (aus Frauengräbern), Bronzegefäße und Bronzespiegel neben Kriegsgerät und kostbarer Pferdeausstattung. Bedeutsam sind die Hunnen in der Geschichte vor allem deswegen, weil sie die nördlich des Schwarzen Meeres siedelnden germanischen Stämme, in erster Linie die Goten, in Bewegung brachten. Auch über deren Herkunft und Ethnie ist wenig bekannt. Ihre Ursprünge dürften auf der Insel Jütland liegen, von der aus sie an das Schwarze Meer gezogen waren. Bei ihrem Zug nach Westen spalteten sie sich in West(vesigoti, von uesu/gute Goten; es gibt keinen Zusammenhang mit dem Westen) und Ostgoten (Ostrogothi/östliche Goten). 378 schlugen sie in der Schlacht von Adrianopel (Edirne) das römische Heer vernichtend, ein Großteil der Generäle und selbst der Kaiser (Valens) fielen. Der Gotensturm führte zusammen mit anderen Problemen zur größten Krise des Römischen Reichs. Allerdings sieht die neuere Forschung in Adrianopel trotz der gewaltigen psychologischen Wirkung dieser größten Niederlage seit Cannae nicht mehr zwingend den Anfang vom Ende Roms, sondern zunächst bloß eine Änderung der Barbarenpolitik. Jetzt waren die Römer Getriebene in der Aufnahme der Immigranten geworden. Das Reich war trotz der wuchtigen Niederlage nicht unmittelbar in Gefahr, weil die Goten die gut befestigten Städte nicht erobern konnten. Und mit langen Belagerungsprozeduren waren sie nicht vertraut. Nicht zuletzt angesichts der prekären finanziellen und militärischen Lage versuchte man, die Germanen durch Föderierung an sich zu binden, was im Unterschied zu den Hunnen bei den Goten auch gelang und seit 238 belegt ist. Sie wurden zu treuen Fortsetzern des Römischen. Die zwischenzeitliche Aufkündigung des foederati-Status, den Theodosius I. 382 den Goten eingeräumt hatte, durch seinen Sohn Honorius führte zur denkwürdigen Eroberung und Plünderung Roms am 24. August

21

Kontexte

410 unter dem westgotischen Heerführer Alarich, der ersten Eroberung Roms seit dem Einfall der Gallier 387a. Als Kaiserstadt war Rom freilich längst auf dem absteigenden Ast. Bereits 401 hatte Honorius die Residenz von Mailand (seit Mitte des 4. Jh.s) fluchtartig verlassen, als Alarich auftauchte, und verlegte sie nach Ravenna (402–476), den alten Stützpunkt der römischen Adriaflotte. Es war durch die Lagunenlage besser zu verteidigen. Unter Galla Placidia, der in Konstantinopel geborenen Tochter des oströmischen Kaisers Theodosius I. und Halbschwester von Honorius, begann in Ravenna eine kulturelle und architektonische Blüte. Galla Placidia führte für ihren minderjährigen Sohn Valentinian III. die Herrschaft im Westen. Die Eroberung Roms durch die Barbaren wurde als ein furchtbarer Einbruch der Geschichte wahrgenommen und brachte sogar das Christentum kurz ins Wanken: Wie konnte Rom mit seinen Apostel- und Märtyrergräbern und den Heiligenreliquien so getroffen werden? Die Heiden gaben dem neuen Christengott die Schuld. In höchster Not waren in der Stadt sogar (längst verbotene) heidnische Opfer durchgeführt worden – mit Einverständnis des Bischofs. Bei den Christen löste es eine Art früher Theodizee-Überlegung aus. Gott bestrafte mit dieser Katastrophe die Römer für ihren schändlichen Lebenswandel, verkündete der sozialkritische Salvian von Marseille, und Augustinus entwarf unter dem Eindruck dieser Erschütterung seine Vision eines Gottesstaates. Dabei ging es Alarich nur um den Status seiner Männer im römischen Heer, der die Versorgung der Veteranen sichern sollte. Denn auch »die Barbaren wurden von der Rom-Idee infiziert […] Deshalb waren die meisten von ihnen bereit, sich in das Imperium zu integrieren. […] sie waren willig, von den Römern zu lernen und ihre Gemeinwesen im Rahmen der jahrhundertealten griechisch-römischen Zivilisation auszugestalten. […] Die Barbaren hatten dem schlicht nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.« Rom erholte sich zunächst rasch, man versuchte, durch verzweifelte Restaurierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen – vor allem das Forum Romanum betreffend – den Schein des alten Glanzes zu bewahren. Honorius konnte durch glückliche Umstände die vielen Usurpatoren ausschalten. Doch die Kontrolle über Gallien war geschwächt. Vor allem aber gab es keine Ressourcen mehr, um Britannien wieder zu besetzen. Es war verloren. Derweil wurde den Westgoten 418 im Südwesten Galliens Land zugeteilt, wo sie das nach der Hauptstadt Tolosa (Toulouse) genannte Tolosanische Reich verwalteten, das um 480 das größte Nachfolgereich des Weströmischen Reichs war. Nach der Niederlage gegen die Franken 507 zogen die Westgoten auf die Iberische Halbinsel, wo sie bis zur Niederlage gegen die Muslime 711 um die neue Hauptstadt Toledo siedelten (Toledanisches Reich). Es gab viele Kontakte zu Byzanz und in den Orient, von wo Impulse für die Mönchsbewegung, aber auch für Kunst und Architektur nach Spanien kamen. Das Hof-Zeremoniell wurde nach den byzantinischen Vorbildern ausgerichtet. Trotz dieser Politik und einer weitgehenden Inkulturation gab es immer wieder Kämpfe mit den Römern, vor allem, um die Föderationsverträge zu verbessern.

III.3.1.3.

200 Hafen von Ravenna; Mosaik S. Apollinare Nuovo; Ravenna

Pfeilschifter 2014, 134

Badewien 1980

Pfeilschifter 2014, 138

Muth 2006

22

Die Spätantike

Barrucand/Bednorz o.J., 26

de Palol/Ripoll 1999, 133

V.3.2.

Fried 2008a, 21

Die westgotischen Herrscher betätigten sich als Bauherren. Ihre Kirchen bauten sie mit Hausteinen in römischer Steinsetzung, was Isidor von Sevilla zur Charakterisierung more gothico veranlasste, zum Unterschied von der Bauweise mit Ziegelverband und Holz, more gallicano. Kunsthistorikerinnen versuchen, frühchristliche und hispanisch-westgotische Kirchenbauten zu unterscheiden, ein Unterfangen, das allerdings sehr schwierig ist. Als typische Bauform wurde der später von den islamischen Architekten übernommene Hufeisenbogen entwickelt. Er stammt vermutlich aus der armenischen und syrischen Baukunst des Orients. In der bildlichen Ausschmückung gab es eine ausgeprägte, wenngleich nicht flächendeckende Bilderfeindschaft. Insbesondere beim Kunsthandwerk sind angesichts der Dominanz byzantinischer und spätrömischer Formen die germanischen Einflüsse schwer feststellbar. Es gab herausragende Goldschmiedearbeiten liturgischer Gefäße. Zu den berühmtesten künstlerischen Hinterlassenschaften gehören die »Schätze« von Guarrazar bei Guadamur (Toledo), 1858 gefunden, und jener von Torredonjimeno (Jaén), der 1926 entdeckt wurde. Weihekronen, Hängekreuze, ein Passionskreuz (als Zeichen der corona iustitiae der Märtyrer oder des Gottesgnadentums des Königs), Zierbuchstaben, alles Arbeiten mit byzantinischem Einschlag aus dem 6. und 7. Jh., die heute als Beweis einer höfischen Kunst mit königlichen Werkstätten gelten. 711 beendeten die Muslime das mit spätantiken römischen Elementen überzogene blühende Gotenreich von Toledo. Innere Spaltungen zwischen Königshof, Adel, Kirche, Schwäche und Korruption im Heer, wozu noch eine Wirtschaftskrise, Hunger und die Pest kamen, hatten den Erfolg für das arabische Heer erleichtert. Das dezimierte Gotenheer floh nach Norden und sammelte sich in Orviedo zur Reconquista, wodurch die Stadt zum blühenden Beginn des Mittelalters wurde. Wenn wir nochmals zurückblenden, ist wichtig festzuhalten, dass die Goten bereits früh in römischen Dienst getreten sind. 418 hatte sie Constantius III. als Verbündete in Süditalien angesiedelt. Sie nahmen den christlichen Glauben an – zunächst in arianischer Spielart. Das hatte auch Folgen für die Architektur, namentlich für den westgotischen Kirchenbau. 587 trat König Rekkared I. zum Katholizismus über. Der Arianismus war Geschichte. Barbaren sicherten die Kontinuität des Reichs, weil sich die eigenen Bürger von Rom verraten fühlten und Rom nun die Ressourcen fehlten, die Einschnürung durch die fremden Völker noch einmal aufzubrechen. Das Reich veränderte sich schließlich im 5. Jh. durch Gentilisierung und Provinzialisierung bis zur Unkenntlichkeit. Es waren Germanen, die nun weitgehend zu Trägern der lateinischen Bildung wurden. Eine frühe, noch als Sonderfall zu qualifizierende Leistung war die Übersetzung der Heiligen Schrift in die (germanische) Volkssprache durch den aus einer griechischen Familie stammenden gotischen Bischof Wulfila. Der dem Arianismus anhängende Wulfila entwickelte dazu eine Schrift für das Gotische und schuf eine Voraussetzung für die schleppende, aber nie ganz abreißende Transformation antiken Wissensgutes in das Mittelalter. Dies verlangte »Schriftlichkeit für eine bislang schriftunkundige Gesellschaft.« Die im Codex argenteus überlieferten (mit Gold- und Silbertinte auf purpurrotem Pergament geschriebenen) Fragmente der Wulfila-Bibel stellen den ältesten germanischen Text dar.

23

Kontexte

476 endete das Weströmische Kaisertum mit der Entthronung des Romulus, der den auf seine Jugend anspielenden Spottnamen Augustulus (kleiner Augustus) trug, durch Odoaker. Bittere Ironie: Das Reich endete mit zwei großen Namen, die jetzt ein machtloses Kind trug. Der noch unmündige Romulus war – wie es üblich geworden war – durch seinen Vater, den römischen Heermeister Flavius Orestes, 475 eingesetzt worden, nachdem dieser den letzten legitimen Kaiser, Julius Nepos, ins Exil nach Dalmatien gezwungen hatte, wo er noch bis zu seinem Tod zu regieren versucht hatte. Odoaker, am Hof Attilas aufgewachsen, war ein weströmischer Offizier und ziemlich sicher selbst Germane. Er besetzte am 4. September 476 als König eines römisch-germanischen Heeres Ravenna und stellte Romulus in einer Villa in Kampanien unter Hausarrest. Odoaker ließ keinen Kaiser mehr ausrufen (auch nicht sich selbst), sondern bot dem oströmischen Kaiser Zenon die Kaiserwürde auch für den Westen an. Theatralisch ließ er die Insignien der römischen Kaiser, Diadem und Purpurmantel, nach Konstantinopel bringen. Sie würden im Westen nicht mehr gebraucht. Der ganze Vorgang bedeutet aber auch, dass die Zeitgenossen kaum einen Untergang des Reichs empfunden haben dürften, sondern schlicht eine Verschiebung der Macht an den Kaiser in der neuen römischen Hauptstadt im Osten. Odoaker herrschte mit Duldung Zenos (aber ohne offizielle Anerkennung) als (germanischer) selbsternannter König von Italien (Rex Italiae) in Ravenna. Auf Kaiserwürden verzichtete er genauso wie Theoderich und später Chlodwig. Doch diese Abmachung hielt nicht lange. Vielleicht war Odoaker dem Kaiser zu mächtig geworden. Jedenfalls vertrieb ihn im Auftrag Zenos der Ostgote Theoderich nach blutigen Kämpfen und ermordete ihn eigenhändig beim »Versöhnungsmahl« 493. Theoderich regierte als princeps Romanus – ließ sich von den Goten zum König ausrufen, ein Titel, den ihm der Kaiser verweigert hatte – mit Respekt vor dem römischen Erbe, aber faktisch unabhängig von Konstantinopel bis zu seinem Tod. Während seiner Regierungszeit kam es zu einer Nachblüte der Spätantike in Kunst, Architektur mit prachtvollen Repräsentations- und Nutzbauten im byzantinischen Stil, und in der Philosophie. Ein reichhaltiges Œuvre an Gold- und Silberschmiedekunst gibt davon Zeugnis (»Schätze« von Desena und Reggio Emilia), wobei die Zuordnung im einzelnen schwierig bleibt. Theoderich, der zehn Jahre am byzantinischen Hof gelebt hatte, brachte den byzantinischen Geist mit, holte seine Künstler jedoch aus dem weströmischen Raum. Unter anderem entstand um 500 die arianische Palastkirche Theoderichs Sant’ Apollinare Nuovo (Theoderich hatte sie dem Christus Salvator geweiht) mit den Mosaiken, die Susanne Ebeling als »antike snapshots« tituliert. Darauf war auch der Hofstaat Theoderichs abgebildet, eine Szene, die um 540 in einer damnatio memoriae entfernt und an die Stelle der Figuren Vorhänge gemalt wurden. Der Arianer Theoderich stand in spannungsgeladener Loyalität zum orthodoxen Kaiser, hatte eine römische Verwaltung, eine gotische Armee und versuchte, sein italisch-gotisches Reich zum Ebenbild des östlichen Kaiserreichs zu machen. Das

Ende des ­Weströmischen Reiches

201 Palast ­Theoderichs, Mosaik S. Apollinare Nuovo; Ravenna

Ebeling 2009, 101

24

Die Spätantike

de Palol/Ripoll 1999, 31

Ebd., 56 202 Mausoleum des Theoderich; Ravenna

Coche de la Ferté 1982, 60

Langobarden

203–205 RatchisAltar (um 740) und Details; MCC

Ostgotenreich in Italien war »wenngleich glanzvoll und gewaltig, nur von kurzer Dauer und hatte nie die Kontinuität, wie sie dem Westreich in Hispanien beschieden war.« Theoderich starb 526 wie Arius an der Ruhr, was die Katholiken als Höllenfahrt interpretierten. Sein monumentales Mausoleum in Ravenna, das er selbst von Grund auf (a fundamentis) geplant haben soll, erweckt den Eindruck der imitatio Konstantins und zeigt die Faszination des römischen Grabkults auch für Nicht-Römer. Das aus weißem istrischem Kalkstein errichtete Bauwerk mit dem eindrucksvollen Kuppel-Monolithen (ca. 230 Tonnen) symbolisierte die »Kontinuität der antiken Welt.« Theoderich lebte in der Sagengestalt des Dietrich von Bern (mittelhochdeutsch: Berne/Verona), mit dem ihn einiges verbindet, aber vieles unterscheidet, weiter. Nach seinem Tod brach durch Thronstreitigkeiten und das Bemühen Konstantinopels, Italien endgültig an sich zu binden, Chaos aus. Justinians Feldherren Belisar gelang es in diesen Wirren, nochmals (bis zur Eroberung Ravennas durch die Langobarden 741) den Großteil Italiens zu gewinnen. Justinians Ambitionen in Architektur und Kunst bescherten Ravenna außerordentliche Bauwerke. Es handelt sich nicht um eine feingliedrige griechische Kunst, vielmehr spiegelt »die Kunst von Ravenna in ihren wesentlichen Zügen die byzantinische Kunst« wider. 546 gelang den Ostgoten unter Totila die Einnahme Roms, in dem angeblich nur mehr 500 Menschen lebten. Der Krieg mit den Ostgoten köchelte lange (535– 554) vor sich hin. Erst als man den General Justinians, Narses, beherzt mit ausreichenden Mitteln ausstattete, gelang der Sieg in einem Gemetzel bei Gualdo Tadino in Umbrien. Die italische Halbinsel und damit die antike Kultur waren verwüstet, Rom entvölkert und zerstört. Den byzantinischen Kaiser interessierte das nicht. Nichts wurde wieder aufgebaut. Er blickte einzig auf sein Reich im Osten. Im Westen begann das Mittelalter mit dem letzten Kapitel der Völkerwanderung: der Eroberung Italiens durch die Langobarden 568. Die Langobarden kamen aus der Gegend der mittleren Elbe und nützten das Vakuum nach Justinians Rückzug und seine Konzentration auf den Osten. Haupt-

stadt des arianischen, Nord-, Mittel- und Teile Süditaliens umfassenden Langobardenreichs war Pavia. Kulturell waren die Eroberer dem eroberten Land zwar unterlegen, förderten jedoch die Baumeister und Künstler der Region. Mit Hilfe von aus dem Orient stammenden Mönchen bauten die bald schon katholisch gewordenen Langobarden ein hochstehendes Kulturzentrum auf. Kunsthandwerklich verbreiteten sie das germanische Flechtbandornament. Am berühmtesten ist die in Cividale im Friaul erhaltene Ratchis-Ara, ein Kastenaltar mit figuralen Darstellungen und

25

Von der antiken zur spätantiken Kunst

Flechtbandornamentik, den Ratchis bei seiner Wahl zum Langobardenkönig 744 gestiftet hatte. Byzantinische Ursprünge sind ebenso unübersehbar und nachgewiesen wie Bezüge zur westgotischen Kunst. Ähnliches gilt für das achteckige Taufbecken, das Patriarch Callixtus errichten ließ (Callixtus-Baptisterium). Neben den naiven künstlerischen Spuren der Kunst der Völkerwanderungszeit sind auch sasanidische und orientalische Motive erkennbar. Das aus dem Felsufer des Natisone gehauene Oratorium, der sogenannte Tempietto Langobardo, in Cividale gilt als eines der wenigen erhaltenen Bauwerke der Langobarden. Er zeigt einen starken orientalischen Einschlag. Die Langobarden fanden in den eroberten Gebieten den byzantinischen Baustil vor, den sie als Kaiserstil (in dessen Sukzession sie sich verstanden) hoch schätzten. Aus der Verschmelzung mit dem eigenen Stilwillen bildete sich der lombardische Stil heraus, der sich durch Verzierung der Außenwände mit Blendarkaden, Pilastern und Lisenen auszeichnete. Durch die Wanderbewegungen der Mönche aus der Lombardei verbreitete sich der Stil bis nach Frankreich und ins Rheinland und fand als Relief an Außenwänden Eingang in die romanische Architektur. Die Frage nach den inneren und äußeren Gründen für den Untergang des Imperiums, das rundum zu bröckeln begann, beschäftigt die Historiker seit Jahrhunderten. Peter Heather knüpfte mit klarer Kritik an einer bloßen (vor allem von angelsächsischen Forscherinnen vertretenen) Transformationstheorie an die naheliegendste und populärste These an, die in den Germaneneinfällen die Hauptursache sieht. Er vermutet im langwierigen Abnützungskrieg eine irreversible Auszehrung militärischer, wirtschaftlicher und politischer Ressourcen. Dies war eine Reaktion auf eine (wiederum der alten Dekadenzthese entgegengesetzte) Sichtweise, die dazu neigt, über die faszinierende Kulturleistung der Spätantike die zerstörerischen Aspekte zu übersehen. Eine ausgewogene Würdigung des gegenständlichen Zeitraums ist nicht einfach und wird noch viele Historikergenerationen beschäftigen, auch wenn die Ursachenforschung ausgeschöpft erscheint. Das Dramatische an 476 ist, dass sich mit dem Ende Roms im Westen der Untergang einer zivilisierten Welt verband und ein mühsamer Neustart notwendig wurde. In diesem Neustart kann man sowohl die Goten und die germanischen Königreiche als legitime Erben der römischen Welt sehen als auch das Christentum, das mit der jüdischen Erfahrung stets wechselnder Reiche im Hintergrund über ein den Römern überlegenes Geschichtsdenken verfügte.

2.0. Von der antiken zur spätantiken Kunst Der historischen Abgrenzung der Spätantike von der klassischen Antike haftet etwas Willkürliches an. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Übergang von der antiken zur spätantiken Kunst. Zwar verbindet man mit spätantiker Kunst Anonymität, Stilisierung und Statuarik der Figuren auf den Mosaiken, aber wie genau und vor allem warum dieser Umbruch erfolgte, ist Gegenstand reger kunstgeschichtlicher Diskussion.

Fillitz 1969, 16

lombardischer Stil

Heather 2007

Fried 2008a Seibt 2008

26

Die Spätantike

V.4.1. 6.2.

Pelikán 1982, 47

VI.8.0.ff.

Veyne 2009a, 13, 68 Ebd., 87 L’Orange/Gerkan 1939

In älteren Untersuchungen wurde häufig ziemlich ansatzlos gleich das Christentum ins Spiel gebracht und die Transformation antiker bzw. hellenistischer Kunst in frühchristliche Kunst thematisiert, sowie deren Abgrenzung zur byzantinischen Kunst. Es gibt jedoch auch Brüche in der römischen Kunst der späteren Kaiserzeit, in denen man ein Spezifikum spätantiker Kunst sehen könnte. Da dies primär eine Frage der Kunstgeschichte ist, sei an dieser Stelle der Zusammenhang nur kursorisch und allgemein skizziert. Spezifischere Bemerkungen zur bildenden Kunst und Architektur folgen in 5.1. und 5.2., wenn von den Bauten Konstantins die Rede sein wird. Die alte These, der Umbruch der antiken Kunst sei in erster Linie auf die Spiritualisierung durch das Christentum zurückzuführen, ist kunstphilosophisch naturgemäß reizvoll, zumal sie nicht unplausibel erscheint und insbesondere im byzantinischen Kontext, wo sich das Christentum philosophisch mit dem Platonismus traf, einige Berechtigung haben dürfte. Für die frühere Zeit ist allerdings jenen Einwänden zuzustimmen, die auf die lange Dauer der Ununterscheidbarkeit von heidnischer und christlicher Kunst verweisen. Zudem gab es andere »Wenden«: Solche innerhalb der römischen Kunst selbst, die den Übergang von der antiken Idealität zur spätantiken Form markierten. Dieser Übergang unterschied sich zudem zwischen West und Ost nicht unerheblich. Während im Westen die sogenannte Kunst der Völkerwanderung ins frühe Mittelalter führte, wurde die Kunst im Osten byzantinisch. Der Ausdruck Spätantike wird dabei in der Regel durch die in die Antike reichende Klammer des Hellenismus nur für die östliche Entwicklung angewandt, obwohl es auch in der Kunst der neuen Völker antike und byzantinische Einflüsse gab. Um 200 zeichnet sich ein erster Stilwandel ab. Das antike Ideal der Klarheit und Ruhe wurde abgelöst durch einen Manierismus der Fülle, Dynamik und des Pathos. Der Terminus Manierismus in diesem Zusammenhang wurde zwar unter Hinweis darauf, dass im Unterschied zu Griechenland »die Kunst des römischen Imperiums in allen ihren Phasen ständig von Manierismus begleitet [wird], selbstverständlich in jeweils verschiedener Häufigkeit und Intensität, […]«, kritisiert. Oldrich Pelikán spricht lieber von einem Anwachsen des Irrationalismus. Unter diesem Vorbehalt sei der Ausdruck für unseren Gebrauch als Kennzeichnung beibehalten. Auch hier ging es um Subjektivierung, Expressivität, Emotionalität, Dynamisierung. Es liegt nahe, auch hier in der Absicht, sich aus dem engen Korsett antiker Idealität zu befreien, eine leitende Motivation für die Künstler zu sehen, ähnlich wie dies auch im Manierismus der Renaissance der Fall war. Paul Veyne macht diese erste Wende am 203 errichteten Triumphbogen des Septimius Severus fest. Die offizielle Kunst bediente sich seiner Meinung nach erstmals bewusst primitiver, grobschlächtiger Verfahren, Veyne spricht von »Populismus«. Allgemein, auch die private Kunst umfassend, kam dieser Stil um 300 zum Durchbruch, dem zweiten sich abzeichnenden Stilwandel. Mit diesem lässt Veyne die Kunstperiode der Spätantike beginnen. Als Schlüsselwerk dazu galt schon Alois Riegl der Konstantinsbogen (315). Er war weniger ein Triumphbogen als mehr ein Monument der Befreiung Roms vom »Tyrannen« Maxentius. Für den Hauptschmuck wurden Platten im neoklassischen Stil aus dem 2. Jh. verwandt. Darunter

27

Von der antiken zur spätantiken Kunst

zieht sich der thematisch auf Konstantin bezogene Fries mit heiteren, anekdotischen Szenen in naiver, volkstümlicher Ausführung. Veyne vergleicht die Darstellung mit modernen Comics. Allgemein wurde die Kunst narrativ mit silhouettenartig schematisierten Menschendarstellungen, die an die Stelle ausgearbeiteter naturalistischer Abbildungen traten. Bernard Andreae sah die »eigentümliche Leistung der römischen Kunst« im Stilwandel »von der natürlichen zur symbolischen Form. Diese Wandlung markiert den Übergang von der Antike zum Mittelalter.« Andere Kunsthistoriker bemühen einen »konstantinischen Klassizismus« und sehen ein spätantikes Menschenbild, »das die individuellen Gesichtszüge hinter einer neuen Transzendenz zurücktreten läßt, […].« Dennoch erscheinen die Darstellungen frei und überraschen mit ungewöhnlichen Lösungen. Vieles davon, insbesondere die »großäugigen Masken«, ­wurde schließlich zur Konvention. Man fand sie im gesamten Reich und sie wurden schließ­ lich in die Ikonenkunst übernommen. Dort passten sie nahtlos zur kulturellen Erzählung von Sehern und Mysten, die den Körper abstreifen, um zur reinen Schau zu gelangen. Die Analogie zwischen philosophischer Erzählung und Kunst ist hier offensichtlich: »The concentration of spiritual expression in the portraits of late antique figural art is in close agreement with these descriptions.« Der neue Stil trat mehr und mehr neben einen beharrenden Klassizismus, der am alten Ideal festhielt. Als einen der Gründe für diesen Wandel machte man die Krise des Reichs aus. Nun ist ein verbreiteter Pessimismus in der spätantiken Welt zwar gut belegt, aber es ist kaum anzunehmen, dass Künstler die Herrscher und Kaiser mit angsterfüllter Miene darstellen wollten. Abgesehen von der großen Schwierigkeit, Physiognomien von Porträts aus so weit entfernter Zeit exakt zu deuten, spricht Veyne von Nachdenklichkeit und einer darin sich ausdrückenden Willensstärke, Verantwortung und Entschlossenheit. Andere Autoren verweisen auf den Einfluss des Neuplatonismus und der hellenistischen Philosophenschulen mit ihrem Ideal der Seelenruhe. Die spätantike Porträtkunst gilt als eine außerordentlich reife Leistung dieser Epoche. Sie stammte von gelehrten Künstlern, die den Porträtierten als Menschen mit Bildung und Weitblick darstellten. Ob man darin auch eine Offenheit für den Ernst einer neuen Religiosität sehen soll, mag dahingestellt bleiben. Ein barock anmutender Manierismus hingegen trat vor allem in der Sarkophagkunst auf. Teils verdichten sich Menschen zu undurchdringlichen Massen mit expressiven Gesten, hässlicher Mimik, schematisiertem Faltenwurf der Kleider. (Jagdsarkophag Mattei I; Sarkophag des Achill und der Penthesilea) »Rohe Expressivität« trat neben »einfachen graphischen Stil«. Teils verherrlichten die Grabmäler die Leistungen der Verstorbenen, indem sie auf expressionistische Emotionen verzichteten. Inhaltlich trat an die Stelle mythologischer Darstellungen die Biographie. Die Ablösung vom klassischen Kanon führte zu einem »neuen physischen wie psychologischen Individualismus«. Neben der Pessimismusthese sah man in diesen neuen Paradigmen einen Reflex auf den staatlichen Totalitarismus des 4. Jh.s. Für Paul Veyne hingegen, der Zusam-

Veyne 2009a, 84

Andreae 2012, 299 Kraus 1967, 127/134 Andreae 2012, 229 Veyne 2009a, 14

L’Orange 1973, 96

Veyne 2009a, 51–57 Schweitzer 1949, 275f 2.6.2.

Barral i Altet Xavier in Bruneau u.a. 1996, 210

Ebd., 205 L’Orange 1965, 96

28

Die Spätantike

0.2.2.

X.2.5.

menhänge zwischen Kunst und umgebender Kultur ablehnt, ist es ein Spiel intelligenter Künstler mit den Formen, also ein nahezu autonomer künstlerischer Prozess, der sich aus der eigenen Formdynamik ergab. Das ist freilich – jedenfalls für diese Zeit – eine schwer zu belegende These. Veyne hat hier möglicherweise einen Theorieansatz verwandt, der eher in der Kunst des 20. Jh.s eine gewisse Plausibilität besitzt.

206–210 Mosaike in der Lot-und-ProkopKirche (6. Jh.?) auf dem Berg Nebo; Jordanien

L’Orange 1973, 96

Thümmel 2008, 451

Veyne 2009a, 103

Bianchi-Bandinelli 1953

Die Befreiung von den strengen Vorgaben der Klassik umfasste demnach auch die Befreiung von der Mimesis. Für Hans Peter L’Orange liegt die Ursache dafür eindeutig in der Ambition von Spiritualität und Mystik beim spätantiken Menschen. Daher sei es kein Zufall, dass dieser Portätstil aufkam, »precisely in the century of Plotinus, […].« Diese fehlende Naturtreue fand sich sowohl in Mosaiken der römischen Villen der Spätantike (Piazza Armerina auf Sizilien mit Anklängen an die Mosaiken in Karthago, Apameia, Antiochien, Rom, Paphos auf Zypern) als auch in der frühchristlichen Mosaikkunst (Ravenna). »Das Individuelle wird durch den Typus ersetzt.« Die Frontalität bei den Kaiserdarstellungen dürfte einhergehen mit dem höfischen Protokoll und war eine ideale Vorgabe für die christliche Kunst, die für die Christus- und Heiligendarstellungen das kaiserliche Zeremoniell zum Vorbild nahm. In der Bildgestaltung kam die Bedeutungsperspektive zum Einsatz. Der im Hintergrund stehende Kaiser auf dem Basisfries des Obelisken auf dem Hippodrom von Konstantinopel ist größer dargestellt als die Tänzerinnen im Vordergrund. Wenn schon nicht das Christentum mit seiner Spiritualisierung Ursache für diesen Verlust an Naturtreue und anatomischer Genauigkeit ist, so konnte die christliche Kunst jedenfalls bei einem solchen Paradigma anschließen und der Weg in die bereits abstrakt zu nennende Ikonenkunst scheint in der Tat vorgezeichnet: »Manchmal wird die Struktur so stark akzentuiert, dass man fast von abstrakter Kunst sprechen könnte.« Der Vergleich der Spätantike mit der postmodernen Globalisierung hat jedenfalls in der Stilvielfalt, die sich nunmehr etablierte, ein weiteres Argument. Denn neben den geschilderten Brüchen hält sich die hellenistische Kontinuität über das 10. Jh. bis in die makedonische Renaissance. Schöne Beispiele dafür sind die klassi-

29

Das Christentum

schen Mosaiken des byzantinischen Kaiserpalastes in Konstantinopel, die aus diesem Grund so schwer datierbar sind. Resümierend kann man festhalten, dass die neu sich etablierende christliche Kunst vor einem spätantiken Stilpluralismus stand, wobei die einzelnen Stile vermutlich jeweils philosophisch konnotiert waren. Die klassische Tradition hatte die Bedeutung der Wertschätzung des Vergangenen und war Ausdruck eines Bildungswissens, während die diversen Brüche mit Populärkultur, mit Inszenierung von Herrschergestalten und künstlerischer Kreativität verbunden worden sein mögen. Bei all diesen Optionen hat das Christentum angeknüpft. Es gibt christliche Sarkophage in einem naiven und heiteren Stil, ebenso wie solche in schönem hellenisierenden Stil. Auch bei den Christen gab es gebildete Geistesaristokraten, die das auch zeigten. Und es gibt Mosaike, wo die Christusfigur in einem strahlenden Licht räumlich wird, aber auch solche, wo die Körper zweidimensional und schematisch erscheinen. Nach 500 wird diese Vorgabe zur Konvention. Die freie Monumentalplastik der Antike war verschwunden, das skulpturale Werk war Teil eines Ensembles und selbst das Relief trat zurück. Dass dies in einer Zeit passiert, in der das Christentum philosophisch vom Platonismus durchdrungen wurde, wird dabei kaum ein Zufall sein.

6.2.2.

3.0. Das Christentum Ganz ohne Zweifel hat die europäische Kultur, namentlich die europäische Architektur- und Kunstgeschichte, ihre nachhaltigste Prägung durch das Christentum erhalten. Gemeinhin wird das Christentum so eng mit Europa korreliert, dass manchmal der orientalische Ursprung und Charakter dieser Religion in Vergessenheit gerät. Ausdrücklich gehören auch ägyptisch-iranische Einflüsse zum Kultursubstrat, von dem jetzt die Rede ist. Die Entstehung des Christentums reicht in die Antike, seine Gestalt und Dominanz in der Vielfalt der Erlösungsreligionen erhielt es jedoch in der Spätantike, sodass man es ein Produkt der Spätantike nennen möchte. Es war sogar der wesentlichste neue Impuls dieser Epoche. Die vielen Kirchen, die sich in den Ausgrabungsarealen auf den großen Tempelbezirken der antiken Kultur finden, sind ein augenscheinlicher Niederschlag dieser Kulturwende.

3.1. Kontexte Das Christentum wurzelt im Judentum und in der griechisch-römischen Antike. Jesus, seine Jünger und die Autoren der Evangelien waren Juden, die Jesusgeschichte ist eine jüdische Geschichte. Die Herausbildung des Christentums aus dem Judentum geschah nicht an einem einzelnen Wendeereignis, sondern war ein längerer Vorgang im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Grob gesprochen konvergierte diese Herausbildung mit der Übernahme des Hellenismus ins Judentum. Der Hellenismus bot den kulturellen Rahmen für die Konstruktion theologischer Konzepte und beförderte die Verbreitung der neuen Religion.

Speyer 2007a Reitzenstein-Schaeder 1926

30

Die Spätantike

Ferguson 2003, 574 II.3.2.6.2. Milburn 1988, 83ff Swift 1951, 20f II.3.2.4. Theißen/Merz 1996, 127

II.3.2.5.

von Gruen 1998

Theißen/Merz 1996, 139

Lüdemann 2001

Das Judentum zur Zeit Jesu war eine Tempelreligion. Gott ließ sich bilderlos im Tempel verehren, sein Name wohnte dort (Dtn 12,5). Das erinnert an die später »Inlibration« (Buchwerdung) genannte Darstellung des ähnlich unsichtbaren Gottes des Islam im Wort – ohne freilich einen ähnlich kunstphilosophischen Impuls für eine geometrische Dekorationskunst ausgelöst zu haben. Neben den Priestern im Tempel gab es eine Laienreligiosität in den Synagogen. Die Synagogen waren Zentren des religiösen und sozialen Lebens und jene Orte, wo die frühen Christen rekrutiert wurden. Sie spielten auch eher eine Rolle für den frühchristlichen Kirchenbau, was für den Tempel nicht gilt. Neben einem blutigen Opferkult stand als Innovation die Lesung und Auslegung der Schrift im Mittelpunkt. Vom Judentum als Buchreligion war bereits die Rede. Das Leben war mit ethischen und rituellen Geboten durchdrungen, was Gerd Theißen und Annette Merz treffend als »Schutzzaun um die Thora« bezeichnen. Seit etwa 200a kam es durch die Konfrontation des Judentums mit dem liberalen Hellenismus zu einem Abwehrreflex, der sich in vielen Protest- und Erneuerungsbewegungen niederschlug. Der Druck der Hellenisierung war durch die Eroberung Palästinas durch Alexander 333a entstanden und erreichte einen Höhepunkt durch die von den Seleukiden unterstützte Bemühung, Jerusalem zu einer hellenistischen Polis zu machen (1 Makk 1,11–15). Eine besonders aggressive Hellenisierung betrieb der Seleukidenkönig Antiochus IV. Epiphanes. Massiver Widerstand dagegen wuchs vor allem unter den Makkabäern. Der Druck blieb aufrecht nach der römischen Eroberung (Pompeius 63a). Herodes I. errichtete in Jerusalem unter anderem ein Theater und ein Amphitheater und unterstützte die Spiele von Olympia finanziell. Die überlegene Kultur übte einen großen Reiz auf die führenden Schichten aus, die sich einen hellenistischen Lebensstil zulegten. Die Konfrontation war ein Auslöser für drei jüdisch-römischen Kriege (66–74, 115–117, 132–135), in denen das Judentum eine Reihe von Katastrophen, darunter die Zerstörung des Tempels im Jahr 70p durch Titus, erlitt. Dieser Widerstand wurde von zahlreichen messianischen und prophetischen Protestbewegungen mit apokalyptisch-eschatologischen Bußpredigern kommentierend begleitet, zu denen auch Johannes der Täufer und Jesus aus Nazareth gehörten. Das angestrebte Ideal solcher jüdischer Erneuerer war ein mosaischer Kult mit einer geistigen und bilderlosen monotheistischen Gottesauffassung, aber ohne die exklusiv-separatistischen und nationalistischen Ritualvorschriften (Beschneidung, Sabbatgebot, Speisevorschriften). Es ist eine besondere Pointe der Geschichte, dass Jesus in einer Umgebung mit antihellenistischer Stimmung zwar die verbreitete Sehnsucht nach einem einheimischen Befreier mit charismatischer Ausstrahlung befriedigen konnte, dass aber die von ihm ausgelöste Bewegung als Christentum später gerade auch durch die hellenistische Globalisierung eine so nachhaltige Wirkung entfalten konnte. Dies zeigt auch, dass die viel diskutierte Frage berechtigt ist, ob das Christentum durch einen Religionsstifter, sei es Jesus oder Paulus, entstand oder einer multifunktionalen kulturellen Entwicklung entsprang. Im Sinne des katholischen Modernisten Alfred Loisy könnte es sich um einen historischen Betriebsunfall gehandelt haben,

31

Das Christentum

dass nicht das verkündete Reich des Friedens, sondern die Kirche als Institution angebrochen ist. Den Komplex dieser Transformation der Botschaft eines Wandercharismatikers zu einer institutionellen Struktur hat neuerdings der evangelische Theologe Jörg Lauster glänzend beschrieben. Gänzlich unüberschaubar ist die Diskussion um die Ursachen für den Erfolg des Christentums. Viele Gründe werden dafür genannt: Das Christentum bot einen Monotheismus, wie ihn Intellektuelle seit Jahrhunderten forderten, aber dennoch mit dem Charme eines »monistischen Polytheismus«, hohe und einfache ethische Standards bis zum Rigorismus einer Zeugenschaft bis in den Tod (Märtyrer), eine soziale Kommunität als stabilisierenden Anker in unübersichtlicher Zeit. Besonders für die städtische Mittelschicht schien solche Sinngebung attraktiv zu sein, während die Landbevölkerung sich bei den traditionellen heidnischen Kulten besser aufgehoben empfand. Im Vordergrund stand jedenfalls das ausdrückliche Bekenntnis zu einem Gott. »Ein Heide bekannte nichts, er sprach nicht vom Glauben an seine Götter […]. Man verehrte nur die Götter, die man wollte […].« Das heißt, man konnte »heute den Mithras, morgen die Isis verehren und sich übermorgen an den hermetischen Hymnen erbauen.« Das Christentum füllte erfolgreich die Lücke der zerfallenden alten Polis mit ihrer einstigen religiösen Bergekraft. Weitere Attraktivität gewann das Christentum durch ein starkes Engagement der jungen Gemeinden im sozialen Bereich. Dieses Engagement trug vice versa zur Bildung einer Struktur der Gemeinden bei, wobei Kleriker zu Priestern und der Esstisch zu Opfertisch und Altar wurde. »Auch an solchen Details erkennt man, dass eine innerjüdische, endzeitlich orientierte Bewegung sich in eine reichsweite, auf Dauer angelegte Religion umgebildet hatte.« Zupass kam den jungen Gemeinden die Wortbedeutung der Ekklesia, die in der griechisch geprägten Kulturwelt »mit der Versammlung der freien und gleichen Bürger einer Polis verbunden« war. In der Gemeinde war jeder willkommen. »Es zählte nicht, was er konnte und wer er in der Welt war, sondern allein, ob er glaubte.« In der Tat erstreckte sich diese Gleichheit auf alle Schichten der Bevölkerung, Frauen, Sklaven und Fremde. Der Gedanke, dass jede Gemeinde-Ekklesia Teil der gesamten Kirche als umfassender Ekklesia war, »hielt das große, unter antiken Kommunikationsbedingungen kaum beherrschbare Gebilde zusammen und verlieh ihm eine dynamische Einheit.« Auch die Missionierung ist eine christliche Spezialität. Die Juden kannten sie nicht und für die Heiden, die immer auch an »anderen« Göttern Interesse hatten und nicht einen einzigen wahren Gott vertraten, war eine Mission schon strukturell nicht denkbar. Eine weitere These, warum alte Götter ihre Attraktivität verloren, ist für unseren Kontext besonders reizvoll. Thomas F. Mathews sieht das Problem (ähnlich wie bei Politikern, wie er maliziös anführt) in der Bildlichkeit. Wenn ein Image verloren geht, kann der Gott nicht mehr überleben. Darin vermutet er die Stabilität des jüdischen Gottes, der sich jede Bildlichkeit verbat. Das 4. Jh. sei ein »war of images« gewesen, welchen das Christentum gewann. In der Tat hat sich das Bild des christ-

Lauster 2014 Erfolg des ­Christentums

Veyne 2008, 29

Piepenbrink Karen in Kat. 2013a, 326

Veyne 2008, 43 Dörrie 1962, 38 Speyer 2007a, 241 Fuhrmann 1994, 135

Markschies Christoph in Kat. 2013a, 378

Eich 2014, 180 Pfeilschifter 2014, 97

Eich 2014, 181

Mathews 1993, 10

32

Die Spätantike

Ebd., 11

Baumeister 2012, 125

Markschies 2004, 44f

Speyer 1989, 402–430

Speyer 2007a, 255f Ferguson 2003, 617ff Morey 1953, 3–16 Pfeilschifter 2014, 61

Bruns 2008, 215–219

Veyne 2008, 112

Ebd., 89

lichen Gottes in der Folge als außerordentlich flexibel erwiesen. Es passte sich dem philosophischen Zeitgeist an. »But once they ›imaged‹ Christ, he became what people pictured him to be.« Dass die Rückkehr zur Bildersprache des römischen Imperiums auch im Interesse jener lag, die das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatten, ist durchaus plausibel: »Wollte sich das Christentum in einer Welt, die so stark durch das Bild geprägt war, behaupten, dann musste es sich selbst der Mittel der Bildpropaganda bedienen und den freigekommenen Bildraum in Besitz nehmen.« Weitere Gründe für den Erfolg des Christentums waren, dass es neben der Autorität eines alten heiligen Textes einen historischen Stifter gab, eine Verheißung der Befreiung von Dämonen, vom (unpersönlichen) Geschick (moira), und die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod. Es gab einen Gott, der sich den Sorgen eines jeden Einzelnen, vor allem dem einfachen Menschen, zuwandte. Und es gab viele eindrucksvolle Persönlichkeiten, Bischöfe und Mönche, Missionare und Märtyrer, die hohe Wertschätzung genossen. Zum Unterschied vom Judentum war das Christentum universell und nicht nationalistisch und es verzichtete auf scheinbar sinnlose Vorschriften. Die stabile Regierung des Augustus (mit sicher gewordenen Reisewegen), der sich zum universellen Friedensfürsten stilisierte, begünstigte die Ausbreitung zusätzlich. Insbesondere das Lukas-Evangelium übertrug in seiner Weihnachtsgeschichte den Topos der Friedenszeit auf den neuen Messias, nachdem diese Erwartung vorher durch Kaiser Nero nach gutem Anfang schließlich enttäuscht worden war. Dazu kamen die griechische Sprache und die vertrauten hellenistischen Kul­turtechniken. Und endlich erfolgte die energische Unterstützung des erwachenden Christentums durch Konstantin: »Der Aufstieg des Christentums zur dominierenden Religion der Mehrheit gelang erst durch die massive Unterstützung des christlich gewordenen Staates.« Konstantin verhalf der christlichen Religion zum Durchbruch und Theodosius dem nizäanischen und chalzedonensischen Christentum. Konstantin stellte mit dem Sieg über Licinius 324 die Reichseinheit wieder her. Das Toleranzedikt galt nun umgekehrt für die Heiden. Christentum und Heidentum bestanden lange Zeit nebeneinander mit ähnlichen Ritualen, etwa auch in der Bilder- und Märtyrerverehrung, bei Bittprozessionen oder der Reliquienberührung. »Ein wahrer Christ betet zu Gott, um ihn zu lieben, zu verherrlichen […] Doch nach dem 4. Jh. fingen auch die Christen an, von ihrem Gott zu erbitten, was bereits die Heiden von ihren Göttern erbeten hatten: Glück, Wohlstand, Heilung von Krankheit und Gebrechen, Reiseschutz und anderes.« Theodosius und Justinian gingen deshalb schärfer gegen das Heidentum vor und beendeten endgültig die religiöse Vielfalt im Reich. Unter Herakleios war die heidnische Kultur praktisch ausgerottet. Das »bipolare Reich« kann erst Anfang des 5. Jh.s als christlich bezeichnet werden, nachdem Theodosius 394 den Aufstand gegen sein Verbot heidnischer Kulte (392) niedergeschlagen hatte. Die Zahl der Bistümer stieg vor allem im stark christianisierten Nordafrika rasant an. »Die Religionspolitik des Theodosius I., deren Ausrichtung von allen christlichen Nachfolgern des Kaisers beibehalten wurde, bedeutete für die Zeit der Antike das Ende des Ge-

33

Das Christentum

dankens der allgemeinen libertas religionis. Jetzt begann das Zeitalter der religiösen Uniformierung und des Glaubenszwangs. Es hat mehr als 1300 Jahre gedauert.«

Girardet Klaus Martin in Kat. 2013a, 337

3.2. Jesus von Nazareth Zu Ende der Regierungszeit des mit Augustus befreundeten römischen Vasallenkönigs Herodes des Großen dürfte in Nazareth Jesus als Sohn des Bauhandwerkers (tekton) Joseph und dessen Frau Maria zur Welt gekommen sein. Er hatte mehrere Brüder und Schwestern. Der legendäre Geburtsort Bethlehem kam später als »Ergebnis religiöser Phantasie und Vorstellungskraft« wegen der prophezeiten Davidsohnschaft Jesu ins Spiel. Das unschuldige göttliche Kind als Träger religiös-magischer Kraft war ein verbreiteter Topos im Alten Orient und im Hellenismus. Dass Hirten in der Geburtsgeschichte eine Rolle spielten und eine der Jesus-Darstellungen jene des guten Hirten war, thematisierte ein Motiv, das sich wohl vom antiken Schafträger (kriophoros) ableitete. Es war aufgeladen mit ethischem und soteriologischem Gehalt, denn der Kriophoros fungierte als Opferträger und Geleiter der Seelen auf der Jenseitsreise. Die Familie war in der Tradition Israels verankert, die Lebensgeschichte Jesu ist durchgehend jüdisch. Historisch ist die Existenz Jesu auch dank zahlreicher außerbiblischer Bezeugungen nicht ernsthaft zu bestreiten, greifbare Fakten zu seinem Leben gibt es jedoch so gut wie nicht. Auch die Funde der über 190 Schriftrollen (aus dem 2. und 1. Jh.a) in den Höhlen des am Toten Meer gelegenen Qumran in den Fünfzigerjahren des 20. Jh.s trugen zur Klärung der Lebensgeschichte Jesu nichts bei. Zum Unterschied von den meisten griechischen und römischen Philosophen gibt es von Jesus weder ein bildliches noch ein literarisches Porträt. Jesus wuchs vielleicht im Strahlungsfeld der nahe gelegenen hellenistischen Stadt Sepphoris auf, das zwei Mal (20p und ab 61p) Hauptstadt Galiläas war. Das im Wiederaufbau befindliche »Ornament Galiläas«, wie Josephus Flavius die Stadt nannte, bot Bauhandwerkern sicherlich ein gutes Auskommen. Man sprach in Nazareth einen aramäischen Dialekt, mit Sicherheit Griechisch und vermutlich auch das selten gewordene Hebräisch. Mit etwa dreißig Jahren soll Jesus von Johannes getauft worden sein. Von Josephus wird dieser als griechischer Philosoph dargestellt, der Tugend, Gerechtigkeit und Frömmigkeit lehrte. Auch wenn Johannes und Jesus, der fortan als selbständiger Wandercharismatiker auftrat, als integrativ geschildert wurden, scheinen sie – ähnlich wie andere Propheten – verbreitete antihellenistische eschatologische Hoffnungen erfüllt zu haben. Sie traten als asketische Charismatiker, als »göttliche Männer« auf, die sich durch wundersame Geburt, Askese, Predigt und Wunderwirken auszeichneten. »An die Kindheit großer Männer hat die Antike vielfach Legenden geknüpft, denken wir nur an Kyros bei Herodot, an Augustus bei Sueton oder an Jesus bei Matthäus und Lukas. So auch bei Alexander.« Anscheinend erfüllten

211 Christus als Guter Hirt, Mausoleum der Galla Placidia (5. Jh.); Ravenna

Pesch 1980, 322–325

Theißen/Merz 1996, 158 Speyer 2007a, 248 Lit.

Klauser 1982 Kerényi 1944

Ferguson 2003, 583–620; Bruce 1991 Bultmann 1926, 10

Speyer 2008, 10

Theißen/Merz 1996, 187

Speyer 2008, 12f; Speyer 1989, 176–192; Schottroff 1983; Betz 1983; Barnett 1980/81; Bieler 1935/36 Demandt 2009, 63

34

Die Spätantike

Blumenthal 1999, 50

Hasenfratz 2004, 69–73 Stegemann 1995, 307–346

Cebulj 2008, 19 Dassmann 1986, 877ff Merklein 1995

Theißen/Merz 1996, 154

diese göttlichen Männer die religiösen Bedürfnisse der damaligen Zeit ideal: »Waren sie Könige, so brachten sie Frieden und Gerechtigkeit, waren sie nichtköniglicher Herkunft, so strebten sie nach Wissen und göttlicher Wahrheit und suchten die Welt zu bessern, indem sie ihre Lehren an Schüler und Zeitgenossen weitergaben. Auch besaßen sie übernatürliche Fähigkeiten, trieben Krankheiten und Dämonen aus, erweckten Tote und geboten den Naturgewalten; hatten sie einen gewaltsamen Tod erlitten, vermochten sie aufzuerstehen. Sie alle konnten mit dem Geburtsmythos legitimiert werden, wobei die elementaren Akte der Zeugung, Geburt und Aufzucht am besten dazu taugten, den Einbruch des Göttlichen in den menschlichen Alltag zu veranschaulichen.« Zeit und Dauer des öffentlichen Auftretens von Jesus sind nicht mehr zu bestimmen. Der Fischerort Kapernaum am Nordufer des Sees Genezareth gilt als wichtiges Zentrum seines Wirkens. Im Vordergrund seiner ethisch hochstehenden Predigten stand das Liebesgebot gegenüber Gott, dem Nächsten und sogar dem Feind. Der soteriologische Gehalt seiner Lehre war stets umstritten. Das Reich Gottes, von dem er sprach, ließ sich apokalyptisch-jenseitig, geistig-innerlich oder utopisch-diesseitig verstehen. Er wirkte mit nicht geringen magischen Praktiken Wunder und sammelte Jünger, darunter viele Frauen, um sich. Eine angeregte Diskussion unter Theologen dreht sich um eine mögliche Gefährtin von Jesus. Mit Berufung auf mehrere Schriften, darunter das (nicht kanonisierte) koptische Philippus-Evangelium (ein kürzlich entdecktes einschlägiges Papyrusfragment ebenfalls in koptischer Sprache wurde inzwischen als moderne Fälschung identifiziert) wird häufig die legendenhafte Maria Magdalena dafür namhaft gemacht. Starke Hinweise deuten auf eine im Römerbrief (Röm 16,7) erwähnte Apostolin namens Junia, die von den Kirchenvätern noch akzeptiert, von der Kirche des 13. Jh.s hingegen kurzerhand in einen Mann verwandelt wurde. Die Zwölfzahl der namentlich Berufenen ergab sich aus der Repräsentation der zwölf Stämme Israels und konnte als politische Geste interpretiert werden, als Zeichen für ein neues Israel. Jesus sprach von der ihm zuteil gewordenen Offenbarung Gottes und autorisierte seine Nachfolger, das familienfeindliche Ethos der Wandercharismatiker, »Heimatlosigkeit, Familiendistanz, Besitzkritik und Gewaltlosigkeit«, zu lehren. Die Radikalität in der Nachfolgefrage ergab sich aus der Naherwartung eines Endes der Welt. Jesu Auftreten gipfelte im Gang nach Jerusalem. Ob dies tatsächlich ein Triumphzug war, gilt als unwahrscheinlich. Eher war es entsprechend dem beim Passahfest memorierten Gedenken an den Auszug aus Ägypten eine übliche Demonstration gegen die römische Besatzung. Bei der Bestimmung des Todesjahres lässt sich keine der vielen versuchten Datierungen mit anderen Fixpunkten harmonisieren. Jesus dürfte zwischen 27 und 34 die grausame Kreuzigung, eine römische Hinrichtungsart, erlitten haben. Was die Gründe dafür waren und welche Gruppe wie viel Verantwortung dafür trug (Römer, jüdische Lokalaristokratie, Volk) ist Gegenstand von Spekulationen und insbesondere nach der Shoa auch zu einer heiklen Frage politischer Korrektheit geworden. Mit einiger philosophischer

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Das Christentum

Spekulation könnte man in der Kreuzigung eine Bestrafung am Vergehen gegen die römische Ordnung, die sich im System von Cardo und Decumanus darstellt, sehen. Gemeinhin gilt als möglich, dass Jesus in der Regierungszeit des Kaisers Tiberius von den Organen des Hohepriesters Kaiphas verhaftet und nach einem Asebievorwurf (es gab keinen Prozess, sondern, wenn überhaupt, bloß ein Verhör) vom kaiserlichen Statthalter (praefectus Iudaeae) Pontius Pilatus, der im Gegensatz zu den Juden eine Todesstrafe verhängen durfte, wohl wegen der Tempelkritik in seiner symbolischen-revolutionären Tempelreinigung zum Tode verurteilt worden war. Der Tempel war nicht nur Kultort, sondern auch der Sitz des Hohen Rats (Sanhedrin), der obersten politischen und religiösen Instanz. Jesu Botschaft war demnach sowohl ein Affront gegen das traditionelle jüdische Establishment als auch Teil der jüdischen Widerstandsgeschichte gegen Rom im 1. Jh. »Im Rahmen der zeitgenössischen apokalyptischen Bewegungen im östlichen Teil des Imperium Romanum ist Messianismus grundsätzlich ein Politikum.« Vor allem war die Hinrichtung politisch motiviert, Pilatus war das Wohlwollen des Hohepriesters wichtig. Möglich, dass Jesus ein Opfer einer guten Zusammenarbeit von römischer Provinzverwaltung und der jüdischen Eliten war, auch wenn einige Theologen Kaiphas gerne von der Verantwortung entlasten würden. Anders als Paulus hatte Jesus kein römisches Bürgerrecht, sonst wäre ihm ein Prozess in Rom zugestanden. Die Deutung des Todes als Sühne- und Opfertod zitiert ein in augusteischer Zeit wieder auflebendes altes Motiv aus griechischen Heroensagen. Jesu Grab in der Nähe des damals außerhalb der Stadt gelegenen Steinbruchs Golgatha, der als Hinrichtungsstätte diente, ist plausibel. Das leere Grab kam aufgrund des auf Jesus-Erscheinungen basierenden Osterglaubens ins Spiel. Durch diesen Osterglauben entstand ein Mehrwert in der Jesusgeschichte, Gerd Theißen und Annette Merz nennen ihn »Ostergraben«. Aus dem historischen wurde durch Übernahme des antiken Motivs des Gott-Menschen der kerygmatische Jesus, eine verkündigte Heils- und Erlösergestalt. Die Auferstehung hatte in der Auseinandersetzung mit den Juden auch die Funktion, die definitive Tötung Jesu zu widerlegen. Als kultische Erinnerung erfuhr das letzte Mahl, das zwar ein Abschieds-, aber kein Passahmahl gewesen sein dürfte (dieses gab allenfalls die Form vor), eine Institutionalisierung. In der Urkirche wurde es sehr verschieden erinnert, der »Wiederholungsbefehl« Jesu ist umstritten. Jedenfalls zitierte es die antike Tradition des Symposiums, das »nie rein stofflich und formell [blieb], sondern […] immer auf eine göttliche Gegenwart, einen – oder mehrere – geistigen Teilnehmer als Mitgenießenden bezogen und eben dadurch ein voll verwirklichtes Fest« wurde. Als genormtes Abendmahl löste es schließlich die blutigen Tempelopfer ab und stand am Beginn der Entwicklung neuer Riten (Taufe, Abendmahl). Man kann in der Tat staunen, »welch enorme geistige Anstrengung es gekostet haben muß […], um das bei den Römern blutig geschlachtete Opfertier, genannt hostia, zum unblutigen Leib des Herrn zu erklären, der in der Eucharistie ausgeteilt wurde; […].« Das ist zweifellos nicht unrichtig, zu bedenken ist aber auch, dass bereits in den meisten antiken Kulten die Opfergaben Brot und Wein sowie das gemeinsame Mahl

Riedo-Emmenegger 2005; Stegemann 1995, 278–284 Berger 1994, 57

Speyer 2007a, 249

Theißen/Merz 1996, 447 Geerlings in Binder u.a. 2003, 121–131 Berger 1994, 186 Theißen/Merz 1996, 375

Kerényi 1971, 220

Colpe 2008, 121f

36

Die Spätantike

Diefenbach 2007, 6

eine große Rolle spielten. Wie wir von Justin und Tertullian wissen, gab es dieses Mahl auch im Mithraskult. Es dürften sogar die Opfertexte ähnlich gewesen sein. Auch unter Konstantin wurden die heidnischen Opfer zurückgedrängt. Die Riten waren von der liturgischen Ästhetik her ein wichtiges Kapitel des jungen Christentums. Darüber hinaus wirkten sie gleichsam durch den Ausstieg aus der Geschichtsdynamik als Ritual identitätsbildend: »Während das Gedächtnis historischen Wandel ausblendet und Kontinuitäten wahrnimmt, richtet die Geschichte umgekehrt ihr Augenmerk auf Veränderungen und Differenzen.«

3.3. Die Theologisierung des historischen Jesus Messias

Stemberger 1979, 199 Ferguson 2003, 552ff, 463 Balsdon 1950, 257 Theißen 2003, 265–281

Antiochien

Berger 1994, 140ff, 150, 351f Markschies Christoph in Kat. 2013a, 376 Saulus-Paulus

Im Allgemeinen werden der Messiasglaube und die Geschichte von Jesus als Got­ tessohn als Trennungsgrund des Christentums vom Judentum angesehen. Die Forschung relativiert den ersten Gedanken inzwischen (nicht zuletzt durch die Funde am Toten Meer) mit dem Hinweis auf das mehrmalige Auftreten von Messiasfiguren im Judentum, insbesondere in nachexilischer Zeit. Der Ausdruck Messias wurde für Könige, Priester und Propheten benützt. Der Brauch, einen Befreier als soter oder theios aner anzureden, war in der griechischen Antike seit dem 5. und 4. Jh.a geläufig. Man kann die Ablösung des Christentums vom Judentum, zusammen mit der Kritik an Tempel und Tora, an den messianischen Sohn-Gottes-Vorstellungen festmachen. Dies hat im Umkreis von Stephanus und Paulus zur Profilierung des neuen Selbstverständnisses geführt, was schließlich die Bezeichnung »Christen« zur Folge hatte. Anfangs war die Sache keineswegs so eindeutig, weil in Jerusalem verschiedene Gruppen das Erbe Jesu beanspruchten. Dabei kam es bald zu Widersprüchen zwischen den aramäisch und griechisch Sprechenden (Apg 6). Zunächst wurden nur die Hellenisten wegen ihrem ausgeprägten Messiaskult, der den Tempel als Sühneort überflüssig machte, verfolgt (Apg 7,44–60). Zudem sprachen die Griechen aus ihrem kulturellen Hintergrund von einem neuen Tempel, der nicht von Menschenhand gemacht sein würde (Apg 7,48). Die Heftigkeit der Auseinandersetzung führte zu einem ersten Martyrium, jenem des Stephanus. Die bedrängten Hellenisten gingen nach Antiochien, das zum wichtigsten Geburtszentrum des Christentums wurde. Erstmals wurde dort, eine Generation nach Jesus, eine Gruppe als Christen (Apg 11,26) identifiziert und von den Juden unterschieden. Vermutlich entstand zwischen 70 (Matthäus, Markus) und 100 (Johannes) sämtliche Brief- und Evangelienliteratur im Strahlungsfeld Antiochiens (das lukanische Doppelwerk, Lukasevangelium und Apostelgeschichte, möglicherweise in Ephesos). »Von daher erklärt sich auch der nun entstehende, ausgesprochen antijüdische und städtische Charakter des antiken Christentums.« Auf der Seite der Hellenisten wirkte der römische Diasporajude griechischer Zunge aus Tharsos, Saulus-Paulus, der als Pharisäer erzogen worden war. Saulus-Paulus, der die Hellenistengruppe um Stephanus anfänglich noch verfolgte, wurde durch ein legendenhaftes Bekehrungserlebnis vor den Toren von Damaskus zum erfolgreichsten Missionar des Christentums. Er war in verschiedenen Kulturen zu-

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Das Christentum

hause und insbesondere auch mit der spätantiken Bilderwelt vertraut. Der universalistisch und auf rationaler Ebene argumentierende Paulus – Durs Grünbein nannte ihn einmal, dabei über seine mystische Seite hinwegsehend, den »ersten christlichen Intellektuellen« – wollte keine neue Religion gründen, sondern eine neue Menschheit in einer neuen Zeit. Hintergrund dieser Ambition ist seine pessimistische Anthropologie. Das »Fleisch« sei durch die Sünde anfällig und nur eine göttliche Intervention, wie sie die Evangelien verkündeten, könne den Menschen retten. Dabei werde das Fleisch nicht verdammt, sondern in der Auferstehung verwandelt. Die Lehre knüpfte am jüdischen Geschichtsdenken an und gab dem Christentum eine lineare Geschichtsdimension. Die frühchristliche Theologie war eschatologisch und apokalyptisch und sah die Welt auf einen Wendepunkt zulaufen, aus dem eine neue (göttliche) Ordnung entstehen sollte. Eine einheitliche Lehre über das Leben nach dem Tod gab es weder in den neutestamentlichen Schriften noch in der jüdisch-christlichen Praxis. In der gesamten Konzeption könnte man einen aufregenden Wechsel der Sichtweise sehen. Gespeist wurde dies alles von mythischen Resten aus dem Alten Orient. In der Tat ist der Prozess der Entmythisierung »bis in die jüngsten Bücher des NT hinein nicht zum Abschluß gekommen.« In der Apokalypse des Johannes schaut der Seher einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der es das Meer, das in Mesopotamien Ausdruck einer Chaosmacht war, nicht mehr geben wird. Doch diese mythische Erzählung von der Überwindung der Chaosmächte entpuppte sich spätestens jetzt als ein revolutionäres Konzept mit einer die abendländische kulturelle Erzählung prägenden Rezeption. Die Idee einer finalen Geschichte wurde zu einer christlichen und brachte eine Dynamik, die »in immer neuen eschatologischen Konjunkturen geradezu rasante Schübe mentaler und praktischer Aktivität auslöste.« Die Theologie des Paulus, die er in 13 Briefen (zwischen 50 und 60 verfasst) – für sieben von ihnen wird die Autorschaft anerkannt – niederlegte, war gottzentriert. Jesus Christus erscheint als Umsetzer der Herrschaft Gottes in der Welt. Zur Nachfolge gelangt man durch einen reinigenden Initiationsritus, die Taufe, und ein sakramentales Erinnerungsmahl, das im hellenistischen Bereich als die Seele veränderndes Mahlgespräch (Symposion) als religiöse Handlung vorgegeben war. Die Offenbarung Gottes erfolgte nicht durch gnostischen Weltausstieg, sondern durch eine geschichtliche Fleischwerdung des Logos, Fleisch, das in dem Erinnerungsmahl, das sowohl als Gedenken als auch als Gegenwärtigsetzung interpretiert wurde, real gegessen werden konnte. Mit dem Mahl – »sie aßen zusammen« (Gal 2,12) – sind viele Erzählstoffe verbunden: Speise- und Weinwunder, Mahlgleichnisse, Brotmetaphorik, Wohlgeruch. In der uferlosen Literatur zu dieser kargen jesuanischen Gastronomie bietet sich kulturtheoretisch an, das Abendmahl als Entschädigung gegenüber der »katastrophalen Wirkung des ersten Essensaktes«, des synästhetischen Erlebnisses des Essens des Apfels im Paradies, zu sehen. So gesehen ergäbe sich eine stupende Deutung der Darstellung des Abendmahls von Leonardo da Vinci im Refektorium der Dominikanerabtei Santa Maria della Grazia in Mailand. Vielleicht hat der gemalte Aufruhr weniger mit Judas zu tun, als vielmehr mit der Zumutung, dass Jesus den Jüngern seinen Leib und sein Blut zum Essen anbot.

Grünbein 2009

Ferguson 2003, 554 Davies 1999, 111f

Keel 1972, 47

Fried 2000, 43

Cebulj 2008, 21 sakramentales Erinnerungsmahl Speyer 2007a, 121–136

Colpe 2008, 200–225 Müller 2003, 68ff Hörisch 1992 Hülk 1999, 7

Ebd., 8f

38

Die Spätantike

Burkert 1972, 343

Staal 1979; Colpe 2004

Assmann 1997 Wenzel 1995, 228–240 V.5.3.

Bynum 1995, 175ff Colpe 2004 III.2.1.2. Klauck 1982, 31–40

Speyer 1989, 7–13 Hasenfratz 2004, 33

Markschies 2004, 15–22 Auferstehung

Theißen 1999; Kloft 1999, 98; Zeller 1991, 42–46

Im Essen des Leibes Christi als sublimierter Form des Opfers zeigt sich die archaische Verbindung von Zerstören und neuem Leben. »Die direkteste Verbindung von Zerstörung und Aufbau des Lebens ist im Vorgang des Essens gegeben.« Wie beim Essen und Trinken gab es für nahezu alle Lebenshandlungen und -umstände (Waschen, Sich-Kleiden, Stinken und Wohlriechen) eine Tendenz zu ethisch-ästhetischer Konzentration auf das Theatralisch-Symbolische (1 Kor 11,33). Darauf gründen sich Akte des Rituals und der Liturgie. Auf die zugehörigen komplexen Ritual- und Liturgietheorien kann hier nicht eingegangen werden. Einzig auf die Zusammensetzung der christlichen Messfeier aus dem auf der Schriftkultur beruhenden (jüdischen) Wortgottesdienst und der den alten Opferriten entstammenden Eucharistiefeier sei verwiesen. Aufsehen erregte die These von Frits Staal, der dem ursprünglichen Ritual Bedeutungslosigkeit attestierte, was die späteren vielfachen Deutungen erst ermöglichte. Diese These böte eine Voraussetzung dafür, alle diese Erzählstoffe unter dem Paradigma einer Memorialkultur zu interpretieren. Ritualisierung hat immer mit Immunisierung und kultureller Festschreibung gegen das Vergessen zu tun. Und die körperlich-gestische, rituelle und möglichst reale Wiederholung solcher Lebensbezüge sind ein Nachvollzug der Fleischwerdung des Gotteswortes. Sie spielten besonders im Mittelalter eine wichtige, auch kunstphilosophisch originäre Rolle. Dass daraus eine konkrete Institution Kirche entstehen sollte, lag mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in der Absicht des Jesus von Nazareth. Kunstphilosophisch wichtig ist auch die in der Auferstehungsmetaphorik ausgedrückte Restitution des Leibes. Eine besondere Institution der Sichtbarmachung des Leibes war die Reliquie, die sich durch ihren immerwährenden Bestand jeder Verwesung des Körpers entzog. Theologisch bildete dies die Grundlage für die sakramentale Bedeutung solcher gespendeter Handlungen mit ihrer Nähe zu Kulten der Mysterienreligion. Es waren aber vor allem starke ästhetische Impulse. Zumindest ein Typus der Mahltheologie von Fleisch und Wein von mehreren erinnerte an den Dionysoskult, wo Frauen mit gelöstem Haar (crinibus sparsis) ekstatisch auftraten. Möglicherweise verbot deshalb Paulus den Frauen, unverhüllt am Gottesdienst teilzunehmen. Und vermutlich war diese Kultpraxis ein Grund für Repressalien gegenüber den jungen Gemeinden und die Diffamierung mit diversen absurden Vorwürfen, darunter jenem sexueller Exzesse und jenem »Wandermotiv[s]« vom Ritualmord, das später von den Christen gegen gnostische Sekten und im Mittelalter gegen die Juden angewandt wurde. Ohnehin erhoben viele antike Kommentatoren gegen das Christentum den Vorwurf des Aberglaubens, der Unfrömmigkeit und der Primitivität. Von der Auferstehungsfigur, die als körperliche Entrückung ausgezeichneter Personen ebenso im hellenistischen Umfeld Parallelen hat, war bereits die Rede. In diesem »Ostergraben« fokussieren sich die Theologisierung und der soteriologische Gehalt des Christusglaubens. Der Hintergrund sterbender und wiederkommender Vegetationsgottheiten lässt sich für die Spezifik der Auferstehung nur sehr bedingt fruchtbar machen, auch wenn schon bei Plutarch (frag. 178) das Mysterium in eine gnostische individuelle Eschatologie umgedeutet wurde. Die Einmaligkeit der indi-

39

Das Christentum

viduellen Auferstehung verträgt sich schlecht mit dem kontinuierlichen Zyklus der Wiedergeburt. Tod und Auferstehung waren begleitet von einer ausgeprägten Leidensgeschichte. David Balch vertritt die These, dass die verbreiteten tragischen Leidensdarstellungen in den römischen Häusern einen kulturellen Kontext für diejenigen bereiteten, die von der paulinischen Leidensgeschichte Jesu hörten. Balch schätzt den Einfluss der Bildergeschichten in den römischen Häusern, in denen auch Paulus predigte und Christen ihr Abendmahl feierten, auf die Theologisierung des Jesus sehr hoch ein. Sie stellen einen nachhaltigen Kulturtransfer orientalischer Mythen in die Spätantike dar. In der Tat trat das junge paulinische Christentum »aus der Hörkultur des alten Israel in den Bildersaal von Hellas.« Damit hätten narrative Bilder zur Dogma­ tisierung beigetragen. Den umgekehrten Vorgang, dass Dogmatik in Form von ausschweifenden Bilderzählungen dargestellt wird, gibt es auch. Paulus trug die Botschaft in alle Zentren des Hellenismus. Auf dem langen Weg von Antiochien nach Ephesos gründete er jahrzehntelang eine christliche Gemeinde nach der anderen, wurde schließlich angeklagt, möglicherweise um 61 nach Rom gebracht und unter Nero hingerichtet. In Rom gab es bereits vor Paulus eine christliche Gemeinde, über deren Gründung wir nicht unterrichtet sind. Kleinasien war ein ideales Gebiet für die Ausbreitung des Christentums: »Wie kaum irgendwo sonst bot das Netzwerk der Städte dieses Landes – in denen das Judentum längst heimisch, Synkretismus uralter und neuer Kulte und Lehren gegenwärtig und eine tief verwurzelte Religiosität neu entfacht waren, wo eine Sprache herrschte, Schriftlichkeit und Bildung die Dörfer erreichte, Wirtschaft und Handel blühten – sowohl den idealen geistigen Nährboden wie die beste Infrastruktur.« Zwischen Simon Petrus und Paulus gab es tiefgreifende Differenzen. Die Historizität des Simon Petrus, eines der ersten Jünger Jesu, der vielleicht aus Kapernaum stammte, wo er mit seiner Familie als Fischer lebte, gilt als wahrscheinlich, obwohl wir wenig von ihm wissen. Besonders sein Aufenthalt und Tod in Rom sind nicht belegbar. Auch die sogenannten Petrusbriefe stammen nicht von ihm. Paulus’ Anliegen war, das Christentum auf die Heiden hin zu öffnen. Man einigte sich auf diese gesetzesfreie Heidenmission (Heiden mussten nicht zuerst Juden werden) bei einem Apostelkonvent 48/49. Auf Druck der Jakobus-Anhänger rückte Simon Petrus von dieser Linie wieder ab und beharrte auf dem Judentum als Vorstufe zum Christentum (Gal 2,14). Der Vorfall ging in die Forschung als »antiochenischer Zwischenfall« ein. Die Geschichte hat anders entschieden, denn die beschneidungsfreie Heidenmission wurde zum »gravierendsten Ereignis in der Theologiegeschichte des 1. Jh. n. Chr.« Erst durch diesen Schritt konnte das Christentum sich aus dem Geruch einer jüdischen Sekte befreien und die Basis für eine Karriere als Weltreligion legen. Die Heidenmission entsprang einer durch die Erhöhung Jesu zum Kyrios ausgedrückten Universalisierung, damit griechischem Gedankengut. Inwieweit Paulus mit seiner Ablehnung des jüdischen Separatismus ein Vorkämpfer einer (hellenistischen) Universalisierung war und damit Athen (= die Philosophie) gegen Jerusalem (= Religion) in Stellung bringen wollte, ist in der Forschung freilich umstritten. Gegen eine solche

Leidensgeschichte

5.2.1.

Speyer 2007a, 286 6.2.3.

Winkelmann 1996, 104

Marek 2010, 654 Simon Petrus

Berger 1994, 254

40

Die Spätantike

Stegemann 2005

Wess 2008, 131

Evangelien

Berger 1994, 625

II.1.2.3./III.3.3.1.

Speyer 2007a, 57

Schäfer 2017, 104

Berger 1994, 572

These wird eingemahnt, dass auch bei Paulus, namentlich in seinen apokalyptischen Teilen, eine starke Präsenz des Jüdischen zu finden ist. Zudem würde – als ein Argument innerhalb der Theologie – in einer solchen Sicht die Identität Jesu von Nazareth mit dem Gott des Alten Testaments zu einer Äußerlichkeit. Dass in der christlichen Geschichte das griechische Element dennoch so dominant wurde, bringt Paul Wess prägnant auf den Punkt: Während Paulus erreichte, »dass die Heiden nicht Juden werden mussten, bevor sie Christen werden konnten, legte die griechisch geprägte ›Heidenkirche‹ fest, dass nun alle ›Griechen‹ werden müssen, wenn sie Christen sein wollten.« Klar ist dabei aber auch, dass in dieser hellenistischen Universalisierung ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil des jungen Christentums gegenüber dem nationalen Selbstverständnis des Judentums und der lokalen Gebundenheit vieler spätantiker Mysterien lag. Wie schon gesagt, vermutet man die Entstehung der paulinischen Briefe und der Evangelien in einem längeren Prozess im Strahlungsfeld Antiochiens. Keiner der Autoren (außer Paulus) war Zeitgenosse Jesu. Der Thessalonicher-Brief des Paulus – vermutlich in Ephesos geschrieben – wird für das erste beglaubigte Dokument des Christentums gehalten. Das älteste Evangelium – entstanden nach 70 – war vielleicht jenes von Markus. Das Matthäus- und das Lukasevangelium nahmen die Stoffe von Markus auf sowie aus einer von der Wissenschaft postulierten Quelle von Worten Jesu (Logien, daher: Logienquelle Q). Unabhängig von diesen drei (synoptischen) Evangelien entstand das Johannesevangelium um 100, aus dem nicht mehr der irdische Jesus, sondern der Erhöhte sprach. Die Vierzahl der Evangelien könnte man auf die alte Vierzahl der Himmelsrichtungen beziehen, die wir als Auszeichnung des Allgottes und als Königstitulatur der altorientalischen Könige kennen gelernt haben. »Aus der pathosgeladenen ursprünglichen Einheit in der Vierheit wurden nun vier einzelne, konkrete Assistenzfiguren der Evangelisten, die im Rahmen der christlichen Kunst bis in die Gegenwart begegnen, seit dem Ende des Barock aber mehr und mehr ein Schattendasein führen.« Eine gegenteilige Ambition verfolgt die Johannesapokalypse. Über ihre Datierung gehen die Meinungen weit auseinander. Die Vorschläge reichen von der Zeit Neros bis Ende der 90ger Jahre. Extreme Positionen gehen bis zum Jahr 135. Die Grün­de für eine Frühdatierung vor das Jahr 70 heben darauf ab, dass die Schrift enger an das Judentum angelehnt ist als die meisten anderen und vehement eine Rückkehr zu apokalyptischer Radikalität im Geiste des jüdischen Separatismus vertritt. Die Johannesapokalypse ist nicht nur ein restaurativer Versuch, die Entwicklung einer freieren Theologie hintanzuhalten, sondern auch eine Aktivierung eines »seit Dan 7 lebendigen Protestpotentials gegen die jeweils herrschende Weltmacht.« Es handelt sich dabei um eine jüdisch inspirierte antiliberale Stadtkritik. Sie zeigt gegenüber den relativ unpolitischen, ja teilweise romfreundlichen Evangelien einen kosmostheologischen Gottessohn als zornigen Rächer, dem ein Schwert aus dem Mund fährt (Offb 1,12–16). Es ist hier der alte Topos der Wiederherstellung der göttlichen Sinngebung der Stadt aufgenommen. Die Apokalypse mit ihren eindringlichen literarischen Bildern ist eine reiche Fundgrube für Analogien zur visu-

41

Das Christentum

ellen Repräsentation in der Erzählkunst des Ostens, etwa im Bild der kosmischen Unordnung von Himmel und Erde oder im Typus der Schwangeren, die von Monstern bedroht wird (Offb 12). Zusammenfassend sei versucht, die Theologisierung des historischen Jesus als Ergebnis einer bestimmten Rezeptionsoption zu verstehen. Dass in das sich bildende Christentum und seine Theologie jüdische, griechische und ägyptisch-orientalische Bausteine eingeflossen sind, ist unbestritten. Ebenso ist die These von der Hellenisierung des Christentums alt. Jedoch gab es seit der bemühten Messiasliteratur der ersten Tage über die wichtigen, die Definitionsmacht beanspruchenden spätantiken und mittelalterlichen Konzilien im Umkreis von Konstantinopel bis in die Gegenwart einen Streit um die Rangordnung dieser Bausteine, damit auch um das Wesen des Christentums. Der Zweifel an der Gültigkeit der Hellenisierung des Christentums wird pointiert in die Frage gekleidet, ob nicht in dieser frühen Theologie eine »metaphorische, kategorial nicht faßbare Offenbarungsaussage von Joh 1,14 in eine ontologische, kategoriale Aussage über ein physisches Geschehen […]« verwandelt wurde. Demgegenüber sinniert man in der gegenwärtigen Theologie über Wege der Auslegung des Christentums, »die nicht über Nikaia und Chalkedon führten.« Freilich kann es auf dieses Problem keine eindeutige Antwort geben, schon weil sich die Frage stets auf das Neue verschiebt. Man nimmt beispielsweise an, dass die Autoren des Johannes-Evangeliums Judenchristen waren, die durch ihre Sohn-Gottes-Verehrung eine Trennung von der Synagoge erlebten und um 90 das Evangelium im Trauma dieses innerjüdischen Konflikts geschrieben und tatsächlich noch jüdisch gedacht haben. Die Debatte um eine Alternative zur hellenistischen Inkulturation des Christentums, in die sich auch Karl Rahner und der junge Joseph Ratzinger eingebracht haben, kann nie bei einem vermeintlichen Ursprung anheben, sondern setzt immer nur eine Rezeptionsgeschichte an die Stelle einer anderen. Manchmal wird die weitgehend antiphilosophische und antigriechische Linie der syrischen Theologie gegen die hellenistische Inkulturation in Stellung gebracht. Kritiker dagegen verweisen auf die Notwendigkeit einer metaphysischen Grundlage, weil eine Religion nicht dem Irrationalismus verfallen darf – und diese Grundlage habe die griechische Rationalität gesichert. Diese »Instabilität« des Konzepts Christentum relativiert andere Beobachtungen. Leszek Kolakowski hat in seinem Essay Der Priester und der Narr darüber geklagt, dass sich die Philosophie »niemals vom Erbe der Theologie freigemacht« habe. Die Beobachtung ist aus der Sicht des eine utopiefreie politische Philosophie einfordernden Totalitarismuskritikers nur allzu verständlich. Allerdings muss Kolakowskis Wahrnehmung ergänzt werden durch die gegenläufige Beobachtung, dass das utopische und eschatologische Erbe der Theologie ja seinerseits Resultat eines philosophischen, besser: mythologischen Kontextes ist.

Balch 2008, 139, 166 u.a. 5.2.

Lutz-Bachmann 1992

Hübner 2003, 167 Brox 1984, 1f

Wess 2008

4.1./4.4.

42

Die Spätantike

3.4. Kunstphilosophische Impulse des Christentums

II.3.2.6.

Kemp 1994, 87

Zeller 2000

Stock 2001

6.2.3. Weitzmann/Kessler 1990, 156f II.3.2.6.1.

Grabar 1973, 209 V.3.3.3. Gleichnisse

Theißen/Merz 1996, 289f

Königsideologie

Zeller 2000, 61–81

Eine ins bilderskeptische Judentum gehörende Jesusgeschichte und das aus diesem Judentum entstandene junge Christentum auf kunstphilosophische Impulse zu befragen, ist alles andere als trivial. Anders als das Judentum, dessen künstlerische Ambition Grenzen hatte, bediente sich das Christentum aus dem unabsehbaren Motivschatz diverser Erzählungen, die damit zur umfangreichsten Themenpalette der europäischen Kunstgeschichte wurden. »Die beiden Testamente sind zunächst einmal Erzählungen, die permanent neue Erzählungen auslösen.« Die große Zahl von Narrativen in den Schriften des Neuen Testaments für die Kunst macht es aussichtslos, sie an dieser Stelle auch nur einigermaßen erschöpfend zu behandeln. Überhaupt ist die Frage nach religionswissenschaftlicher Motivforschung äußerst heikel und in der einschlägigen Literatur stark umstritten, weil dabei viele Interessen im Spiel sind, wie die Originalität der alt- und neutestamentarischen Schriften oder die Verklammerung von Christentum und Judentum. Darauf kann hier selbstredend nicht eingegangen werden, vielmehr sollen, grob schematisierend, einige ausgewählte Hinweise auf, nennen wir es Traditionslinien oder Motiv­ forschung, erfolgen. Eine eindrucksvolle Systematisierung von Motiven wie Lehrer, Erlöser, Hirt, König, Lamm, Licht etc. hat Alex Stock unternommen. Die Szenen des Alten und Neuen Testaments in der frühchristlichen Kunst verschafften dem Christentum einen kompetitiven Vorteil gegenüber den konkurrierenden spätantiken Religionen. Herbert Kessler vermutet in den ungewöhnlichen, weil dem jüdischen Bilderverbot widersprechenden Fresken der Synagoge von Dura Europos sogar eine bewusste Antwort der Juden auf den Bilderreigen um das Alte Testament der Christen. Ähnlich verhielt es sich später gegenüber dem Islam. Der frühe Islam hatte praktisch keine bildlichen Erkennungsmerkmale, weshalb man auf den ersten Blick auch eine Moschee kaum von einer Karawanserei unterscheiden konnte. »The contrast with the medieval Christian development is quite striking.« Dieser Wettbewerbsnachteil wurde schließlich durch die Ornamentik, die das Charakteristikum der islamischen Kunst war, gemildert. Zu den Motiven gehören auch die Gleichnisse in den Evangelien, die ein Sonderfall in der Motivgeschichte bleiben. Abseits von verschiedenen exegetischen Zugängen sind sie literarische Bilderreden und haben damit eine ästhetische Qualität. Zumindest eine Schule der Gleichnisforschung rückt diese in den Vordergrund und nimmt die Gleichnisse als autonome ästhetische Objekte, die durch ihre der etablierten Erwartungshaltung widersprechende Botschaft eine Kraft entwickeln, im Rezipienten eine Veränderung seiner Lebensweise zu erzeugen. Eine solche Gleichnistheorie fußt auf der mythisch-magischen Funktion ästhetischer Erfahrungen, wie wir sie seit der Orphik und den Pythagoreern kennen. Besondere Motive ranken sich um die Theologisierung des historischen Jesus. Sie waren für die bildliche Darstellung von großer Bedeutung. Im Mittelpunkt dabei stand das antike Muster der Gottwerdung des Menschen und die vom Orient nach Rom gewanderte Königsideologie. In vielen Kulturen wurde die Geburt eines Königs durch übernatürliche Vorzeichen angekündigt. Er stammt – häufig verbunden mit

43

Das Christentum

einem Zeugungswunder – von Gott ab, führt ein ungewöhnliches Leben und kehrt mit einer Himmelfahrt in die göttliche Welt zurück. Bei der Geburt Alexanders des Großen ging der Artemis-Tempel von Ephesos in Flammen auf und es stürzte der Koloss von Rhodos, die 32 Meter hohe Helios-Statue, ein. Jesus wurde unter dem römischen Kaiser Augustus geboren, der nicht nur ein Erneuerer der altrömischen Religionspraktiken war, sondern die weit verbreitete Sehnsucht nach Frieden zu befriedigen suchte. In Vergils Äneis wird Augustus als »göttliches Kind« und »Sohn Gottes« gefeiert, mit dem ein Goldenes Zeitalter anbricht. »Überblicken wir Jesu Biographie im Lichte biblischer Königsprädikationen (Röm 1,3f.; Mk 15,2.26; Mt 2,2), so fügen sich die Berichte über seine übernatürliche Zeugung, seine Wundertätigkeit, Auferstehung und Erhöhung zur Rechten Gottes gut in dieses ›Königsparadigma‹ ein.« Die Zuschreibungen an Christus leiten sich von jenen göttlicher Herrscher ab: Wohltäter (euergetes), der Erscheinende (epiphanes), Retter (soter). Das Gottessohnmotiv und das Motiv des Sitzens zur Rechten Gottes lassen für den Christus die Kaiseranrede (und den alttestamentarischen Gottestitel) Kyrios zu. Die frühchristlichen Darstellungen in den Basiliken nehmen nach der Ablösung der reinen Bildsymbolik dieses Motiv auf und zeigen Jesus als Kaiser in einer Kaiserhalle. Konsequent erhält dieser erhöhte Christus die Attribute Gottes selbst. Weil der König (wie der altägyptische Pharao) Garant der kosmischen Ordnung ist, steht Christus an der Spitze des Alls, das durch ihn Bestand hat. »Aus ihm ist das All« (1 Kor 8,6), heißt es bei Paulus in der Manier der alten Hen-kai-Pan-Theologie. Der Pantokrator in den Apsiden der Basiliken ist das Abbild dieser Konstellation. Im Pantokrator versammeln sich die durch die Auferstehung »vergöttlichte« Natur und die Wiedergeburt des Kosmos, den der Gott-Christus wie ein Kaiser lenkt. Er ist zumindest das Ebenbild (eikon) des unsichtbaren Gottes (Kol 1,13–17). Die Entrücktheit und Erhabenheit dieses Gott-Christus-Typus scheint ein Gegenentwurf zur reinen Bilderzählung zu sein. Was für die Theologie und – vor allem – die Philosophie ein nur schwer zu lösendes Problem ist, nämlich die Spannung zwischen der Unerreichbarkeit Gottes und seinem Handeln in der Welt, wird für die Kunst eine kreative Herausforderung. Der im Augustus-Zeitalter sich ausdrückende Wunsch nach Frieden fördert nicht nur ein Herrscherbild, sondern ambivalent dazu eine Sehnsucht nach bukolischem Ambiente, welches das verbreitete Hirtenmotiv unterstützte. Der Hirt hat, indem er die Tiere zur Tränke führt, auch einen Bezug zum Leben spendenden Wasser. Ein anderer weit reichender Impuls ist die frühchristliche Theologie des Lichts und der Erleuchtung. Auch dieses Motiv ist tief im Orient und im Griechischen verwurzelt. Eine breite Palette von Lichtmetaphorik bedient ästhetische, mystische, visionäre und philosophische Aspekte (2 Kor 3,7). Gott wohnt in »unzugänglichem Licht«. Darunter fallen auch die Überwindungsszenarien des Todes durch das neue

III.3.1.4.

Hasenfratz 2004, 39 212 Pantokrator, Chora-Kirche (14. Jh.); Istanbul Foerster 1967, Wengst 1999

6.1.

II.2.3.2. Pantokrator

6.2.3.

Kettemann 1977, 70 Lichtmetaphorik

Speyer 2007b, 117 Berger 1994, 149, 267–273 1 Tim 6,16

44

Die Spätantike

2 Tim 1,10; Mk 9, 2–8

Hebr 1,3

213 Hagia Sophia als Ausdruck einer Lichtarchitektur 2 Kor 3,18

5.2.2./7.3.

Leben als das Licht, das die Finsternis beseitigt. Denn Christus selbst ist das Licht der Welt, heißt es an vielen Stellen, und Christen werden als »Kinder des Lichts« angesprochen. In der eben erwähnten Verklärung erscheint Christus als strahlendes Licht. Für Paulus ist Christus der Glanz/Abglanz der Herrlichkeit Gottes als »Abbild seines Wesens«. Licht ist auch das Agens beim Motiv der Metamorphose. In Mt 17,1– 13 wird geschildert, wie Jesus sich vor den Augen der Jünger in überirdischem Licht verklärt. Von diesem Abglanz mit Bezug auf die Schrift ist später bei der Beschreibung ikonenhafter Bilder Christi immer wieder die Rede. Dem Licht kommt zentral auch eine anagogische Funktion zu: »Wir alle aber schauen mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn und werden so von Herrlichkeit zu Herrlichkeit zu dem gleichen Bild umgestaltet.« Die Lichtmetaphorik kann in ihrer kunstphilosophischen Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Zusammen mit den neuplatonischen Emanationssystemen bildet sie den Hintergrund der Lichtarchitektur von der Spätantike bis zur Gotik und der Lichtmotivik in der Bild- und Mosaikkunst. Sie verleiht einem gesamten Kirchengebäude eine magisch-anagogische Funktion, mit deren Hilfe die Seele des Menschen erhoben werden kann.

3.5. Inkarnation versus Pneumatologie – ein gegenkulturelles Konzept

Kermani 2015

214 Hagia Sophia, Allah-Kalligrafie, im Hintergrund Mosaik Muttergottes mit Kind

Die Reihe der Motive ließe sich beliebig verlängern, auf einige davon wird bei Gelegenheit zurückzukommen sein. Das Entscheidende dabei ist jedoch, dass man sich dem Christentum eben nicht nur über die Analyse der Dogmatik, der Kultpraxis oder auf soziologischen Pfaden nähern kann, sondern auch über die in der Kunst vorgegebenen Gottesbilder. Eine solche Annäherung vollzieht seit längerem in eindrucksvoller Weise Navid Kermani, der seine Ergebnisse unlängst in einem Buch zusammengefasst hat. In gewisser Weise konzentrieren sich die Werke der frühchristlichen Kunst auf zwei Aspekte: die Hochschätzung des geistigen Moments und die unterschiedliche Einschätzung des Materiellen. Daher muss man den vielfältigen kunstphilosophischen Impuls des Christentums aus der produktiven Spannung von Inkarnation und Pneuma verstehen. Ganz zum Unterschied vom Judentum und vom späteren Islam hat die Menschwerdung Gottes nicht nur eine abstrakt christologische Funktion, sondern einen soteriologischen Sinn. Der Hauptstrom griechischer Vorstellung des Gott-Menschen hat eine körperfeindliche Konsequenz, geht es doch um die Erhöhung des Menschen, seiner Seele, seines Geistes aus dem Gefängnis des Körpers. Das Christentum denkt in der Menschwerdung dieses Verhältnis jedoch von oben nach unten, setzt also einen körperfreundlichen Impuls, der sich – als hellenisierte Religion – gegen die erwähnte körperfeindliche Ambition freilich stets nur schwer be-



45

Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

haupten konnte. Trotzdem ist das Christentum, verbunden mit der Geschichtsdimension, bis zu einem gewissen Grad eine Religion des Leibes. Damit eröffnet sich der bildnerischen Kunst eine enorme Möglichkeit der Darstellung handelnder Figuren bis hin zu den göttlichen Gestalten selbst – das wurde auch von den Verteidigern des Bildes im Bilderstreit stets ins Treffen geführt. Demgegenüber kennt das Christentum auch eine ausgefeilte Pneumatologie, eine Lehre vom Geist. »In unumkehrbarer Abfolge hat Gott in einem ersten Schritt eine sarkische Schöpfung erstellt, um sie in einem zweiten Schritt als pneumatische zu vollenden.« Immer wieder wird das Menschliche und Menschengemachte abgewertet, immer wieder wird auf die Geistgestalt des ungreifbaren Gottes verwiesen. Christentum ist also ebenso wie eine Religion des Leibes eine Religion des Geistes. Dabei traf es sich mit der griechischen, genauer: platonischen Vorstellung von der Überlegenheit des Geistigen. Der theologische Niederschlag ist vielfältig, man denke etwa an den »filioque-Streit«. Der lateinische Westen setzte im nizäischen Glaubensbekenntnis den Zusatz filioque (lat. dem Sohn gleich) was den Hervorgang des Heiligen Geistes aus Vater und Sohn benannte und den Heiligen Geist gegenüber Vater und Sohn zurückstufte. Während der Westen eine starke Erlösungslehre mit Jesus pflegte, entfaltete der griechische Osten eine ausdifferenzierte Lehre des Heiligen Geistes und lehnte das filioque vehement ab, um eine Gleichheit der drei göttlichen Entitäten zu sichern. Diese Spannung, die teilweise in den oben genannten Motiven von Lichtmystik, Bild und Abbild Gottes buchstabiert wird, hat auch in der Kunst ihren prägenden Niederschlag gefunden. Dies insbesondere in der frühen christlichen Kunst, die von einer reinen Gleichnishaftigkeit über ausschweifende Bilderzählungen bis zu großartigen Typisierungen und avancierter Ikonenspiritualität reicht. Auffallend ist die Differenz in den Christusdarstellungen zwischen Byzanz und dem Westen. Beide beriefen sich beim Bild auf Inkarnation und Homoousios-Lehre, aber die neuplatonische Metatheorie führte in Byzanz zur Stärkung des Geistelements und einem abstrakten Bildkonzept, während im Westen, insbesondere nach der philosophischen Wende zu Aristoteles im Hochmittelalter, dem materiellen Bild gefrönt wurde.

8.3.

Berger 1994, 470

215 Mutter mit Kind, Apsis der EuphrasiusBasilika (6. Jh.); Poreç 5.0.

Braun 2017 V.5.3.2.

4.0. Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter Vor einer genaueren Besprechung der frühchristlichen Kunst und Ästhetik sei ein Blick auf die philosophischen Ansätze der »Väter« dazwischen geschoben. Sie sind ein grundlegendes Interpretationsunternehmen, das für die Umcodierung der antiken Kunst in christliche Motivik eine wichtige Voraussetzung bildet. Man nennt dieses Unternehmen Patristik. Der Ausdruck meint weniger einen Zeitabschnitt (bis etwa 600) als vielmehr ein systematisches Ringen von Theologen des Ostens und des

5.1.

46

Die Spätantike

Jensen 2000, 30f, 79 Ekphrasis

Harnack 1900, 132

Iwersen o.J., 93ff

Bardenhewer 1902, I, 64

V.7.2. Schmidinger 2000 Schmidinger 1992

Gombocz 1997, 234f

Westens, die christliche Lehre theologisch zu festigen, was eine philosophische Fassung zur Voraussetzung hat. An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwieweit Kunst und Text parallel laufen und nicht vielleicht verschiedene Glaubensüberzeugungen und unterschiedliche theologische Systeme spiegeln oder Ausdruck verschiedener sozialer Gruppen sind. Robin M. Jensen hat dieses Problem ausdrücklich im Blick, wenn sie davon ausgeht, dass die jeweiligen Diskurse für das Verständnis des jeweils anderen erhellend sind. In unserem Fall sollte das Textcorpus der Theologen ein besseres (philosophisches) Verständnis für die Kunst ermöglichen. Dazu kommen Metapherndichte und Technik der Ekphrasis, welche die theologischen und philosophischen Texte anbieten. Mit der alten Tradition der Philosophie im Hintergrund entstand in der Spätantike und im Mittelalter der Anspruch, das Christentum zu einer – wie es Adolf von Harnack nannte – »Gott-Welt-Philosophie« auszubauen. Daneben musste in den ersten Dokumenten die Frage beantwortet werden, warum ein Teil der Juden die Gebote nicht mehr hielt und einen Messias als Gottessohn anbetete. Und dies sollte für gebildete Schichten auch argumentativ nachvollziehbar sein, daher durfte das Wissen nicht dem Glauben im Wege stehen. Die frühchristliche Literatur und Theologie beginnt mit den missionarischen apostolischen Schriften, also den Paulinischen Briefen und den Evangelien. Paulus legte das Christuswort bereits theologisch aus, doch die nähere Herausbildung einer Theologie geschah in der Väterzeit parallel zur Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften, die sich in vielen parallelen Anläufen bis ins 4. Jh. hinzog. Wie oben bereits beschrieben, wuchs mit dem dafür gut geeigneten Instrumentarium der hellenistischen Philosophie dem Christentum eine seiner Stärken zu, die Universalität. Es konnte die Beschränkung auf das historisch begrenzte Wirken eines charismatischen Wundertäters überwinden. Zunächst galt die Auseinandersetzung dem heidnischen Umfeld. Die Literatur bestand anfangs aus pastoralen, exegetischen und kommentierenden Schriften. Dies entsprach den urkirchlichen Aktivitäten, die sich aus der Praxis der Missionierung (Katechumenenunterricht) ergaben. Die Reflexionen des nachapostolischen Schriftguts machten das Christentum mehr und mehr auch für gebildete Kreise interessant. Denn aus frühen apologetischen Schriften, aus dem dogmatischen und antihäretischen Traktat mit ersten Erprobungen des philosophischen Instruments, wuchs eine wissenschaftliche und philosophische Ambition im Dienste der christlichen Weltanschauung. Bewusst ist hier die Rede von »Wissenschaft«, weil die entstehende Theologie nicht auf den späteren Wissenschaftsbegriff der Scholastik ab dem 11. Jh. eingeschränkt werden soll. In der zeitgenössischen Debatte wird der Beginn einer vernunftorientierten Theologie gerne mit der Scholastik und dem Hochmittelalter verbunden. Diese scholastische Theologie erhielt jedoch ein weitgehend fertiges theologisches Korpus überreicht. Die Prägungen und Definitionen der Glaubensfragen geschahen bereits in der römischen Kaiserzeit. Ob man den inhaltlich und historisch eng definierten Begriff der Scholastik auch auf die Kommentartätigkeit der Patristik ausdehnen soll,



47

Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

sei dahingestellt, aber unstrittig ist, dass auch die Väterliteratur eine wissenschaftliche Würdigung verdient. Faszinierend an der Patristik ist die gegenseitige Herausforderung von Offenbarung und Philosophie, von »Jerusalem« und »Athen«. Aus vielen Zeugnissen der Väter spricht die Abscheu vor der heidnischen Mythologie, aber in der polemischen Auseinandersetzung ließ man sich durchaus auf die dort gebräuchlichen Argumentationsformen ein. Es ging offenbar darum, die antike Literatur mit christlichem Geist zu füllen. Kunstphilosophisch ist die Patristik ein wertvolles geistesgeschichtliches Zwischenglied zwischen dem Text der Bibel und der Umsetzung in die Kunst. Wichtig dabei war die Allegorese. Damit konnte man nicht nur die Liebesdichtung des Hohelieds spiritualisieren, auch die zahlreichen Schriftstellen, die von reichen Schätzen und üppiger Ausstattung von Tempeln und Synagogen handeln, ließen sich anagogisch überhöhen. Bis zum 4. Jh. waren die Väter, insbesondere in der apologetischen Literatur, strikte Gegner des Bildes, gemeint war dabei das heidnische Bild. Erst dann – Eusebius von Cäsarea war einer der Ersten – polemisierte man auch gegen das Christusbild, das in dieser Zeit in wenigen Exemplaren kursierte. Daher ist diese Polemik auch nicht allzu verbreitet, weil die meisten Schriftsteller von einem Christusbild noch nichts wussten. Daneben gab es allerdings – je später, desto eher – womöglich auch direkte Anregungen zur Kunst. Sollte z.B. Ambrosius tatsächlich ein Ideengeber für die Bildertür zu seiner Basilika in Mailand gewesen sein, würde das »einen der großen Exegeten der Bibel in eine enge Beziehung zu einem Monument der biblischen Kunst bringen […].« Darüber hinaus spiegelt die Patristik die verhängnisvolle Spaltung zwischen lateinischem Westen und griechischem Osten. Es ist eine Spaltung zwischen der in der mittelalterlichen Scholastik einsetzenden Pflege der Rationalität und einer spekulativen, aber in der religiösen Praxis auch empirischen, Theologie des Ostens. Im Osten blieb die alte antike Unterordnung des Subjekts unter das Offenbarungsgeschehen deutlicher sichtbar. In diesem Verständnis denkt der Theologe kaum begrifflich über Gott nach, sondern erkennt die Worte Gottes selbst, »die Gott ihm in einer übergeistigen Erleuchtung gibt.« Die mystische Erfahrung Gottes angesichts seiner prinzipiellen Unaussprechbarkeit und nicht ein diskursives Verfahren ist der Gipfel der Theologie. Darin liegt der markanteste Unterschied zur mittelalterlichen Scholastik.

Offenbarung und Philosophie

Fuhrmann 1994, 54

Allegorese

5.2.2.

Kemp 1994, 263

Kapriev 2005, 15 Haas 1979

4.1. Frühe Apologeten Die Schriften der Apostolischen Väter – exakter müsste man von den Vätern des apostolischen Zeitalters sprechen – bildeten ein Corpus, das mit den jüngeren Schriften des Neuen Testaments zeitgleich entstand. Es umfasst fünf Namen: Barnabas, Clemens von Rom, Pastor Hermae, Ignatius von Antiochien und Polykarp von Smyrna. Anfangs »nicht gerade von hohem literarischen Wert«, schrieben die Autoren im frühen apokalyptisch-eschatologischen Kontext. Es ging um Gemeinde- und Kirchenordnungen, ethisch-theologische Predigten.

Hausammann 2001, 1f

Treu 2004, 126f

48

Die Spätantike

Justin, Apol. I, 46 Jensen 2000, 44ff

Weish 11,21 Binding 1996, 407f

Mit dem um 100 vielleicht im heutigen Palästina geborenen Justin dem Märtyrer begann die Zeit der Kirchenväter im engeren Sinn. In seinem umfangreichen Schrifttum der platonischen Philosophie verbunden, sah er im Christentum eine Art Urphilosophie. Die griechische Philosophie sei geradezu ein Unterscheidungsmerkmal der Christen: »Die, welche mit Vernunft lebten, sind Christen, wenn sie auch für gottlos gehalten wurden, wie bei den Griechen Sokrates, Heraklit und andere […].« Die starke Betonung der Philosophie samt der Gründung einer eigenen Philosophenschule mag mitgeholfen haben, das frühe Bild Jesu als (lehrenden) Philosophen zu kreieren. Ganz anders die syrische Tradition. Justins Schüler, Tatian der Assyrer, lebte aus der Schmähung der griechischen Philosophie. Seine Rede an die Griechen ist ein Pamphlet gegen die griechisch-römische Kultur, ihre Kunst und Dichtung. Ihre Ausführlichkeit macht sie so wichtig, weil sie eine detaillierte Auflistung der von ihm verachteten Kunstwerke in Rom enthält. Tatian schloss sich später den Gnostikern an, trat aus der Kirche aus und gründete eine Sekte. Die Polemik gegen die Kunst zeigt die Stimmung, in der an figurale Darstellungen einer christlichen Kunst kaum zu denken war. Irenäus aus Smyrna, der spätere Bischof von Lyon, verfasste eine Widerlegung der Gnostiker (Adversus Haereses) und unterstrich die Einheit Gottes mit seiner aus freiem Willen erzeugten Schöpfung. Seine Gotteslehre wurzelt in einem platonisierenden ästhetischen Gottesbeweis. Aus der Schönheit und Harmonie des Kosmos ließe sich die Existenz Gottes ableiten. Bei ihm vermutet man den frühesten Bezug auf den später kunstphilosophisch so wichtigen alttestamentlichen Spruch: »Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.« Bildnisse Gottes hat auch er wie alle Apologeten abgelehnt.

4.2. Der Streit um die Christologie

Gnosis

von Braun 2001, 144f Iwersen o.J.; Rudolph R. 1990; Rudolph 1975

In den Diskussionen um Wesen und Motive der christlichen Kunst und im Streit um das Bild spiegelt sich zuvörderst der Streit um die Christologie wider. Daher seien die wichtigsten Konzepte, die ihr Spannungsmoment vor dem Hintergrund der Inkarnationsvorstellung gewinnen, angeführt. Zur Begleitmusik der unter den frühen Theologen ausgetragenen christologischen Debatten gehörten die gnostischen und manichäischen Lehren. Der Ursprung der Gnosis verläuft im Nebel verschiedener jüdischer, apokryphchristlicher und antik-heidnischer Lehren und reicht als synkretistische Weltanschauung bis in die Zeit Alexanders des Großen zurück. Bis heute gestaltet sich die Aufarbeitung schwierig. Einen großen Sprung nach vorne machte die Gnosis-Forschung, als Bauern 1945 in der Nähe von Nag Hammadi (Ägypten) frühchristliche Papyrus-Codices aus dem frühen 4. Jh. mit gnostischen Lehren fanden, vielleicht aus einer Klosterbibliothek stammend. Die Gnostiker organisierten sich in sektiererischen Gruppen. Ihre Lehre basierte auf einem strengen Dualismus. Gott als Urquelle allen Seins emaniert in Äonen, die in ihrer Gesamtheit das Lichtreich bilden. Ihm steht von Ewigkeit her die dunkle, chaotische Materie als Prinzip alles Bösen gegenüber. In diesem Reich der Finsternis



49

Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

regiert der Demiurg. Die Pathologisierung des Demiurgen gegenüber seiner neutralen Stellung bei Platon begann bereits bei Xenokrates aus Chalcedon, im Weiteren ist sie schwierig zu verfolgen. Jedenfalls ist die später sich verbreitende Vorstellung eigenständiger böser Demiurgen und Dämonen unplatonisch und »vermutlich ein Zugeständnis an den Volksglauben, oder aber durch Plutarch vermittelte Vorstellung dualistischer persischer Religion.« Der platonische Hintergrund ist zwar evident, aber differenziert zu sehen. Die Materie trägt Lichtfunken in sich. Man könnte dies als fernen Vorläufer des Begriffs »scheinen« bei Hegel ansehen. Durch Erkenntnis und wahres Wissen (griech. gnosis) ist die erlösende Rückkehr aus dieser dunklen Macht zum Licht, damit – anthropologisch gewendet – zu sich selbst möglich. In der Gnosis »stehen die kosmologischen Betrachtungen im Dienste der Erlösungsidee.« Es geht nicht um eine Befreiung aus der Sünde, sondern um eine Befreiung der Seele aus der Materie. Dass vor solchem Vorzeichen Christus niemals Mensch sein und einen Körper mit sich herumtragen konnte, ist nicht überraschend. Dieses allgemeine Strickmuster, das Platonisches, Orientalisches und Persisches in sich vereint, konkretisierte sich in einer Sektengründung durch Markion. Der Sohn des Bischofs von Sinope wurde von seinem eigenen Vater seines angeblich ausschweifenden Lebensstils wegen exkommuniziert und gründete eine eigene gnostische Kirche. Die paulinische Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium verschärfend, formulierte er einen Gegensatz zwischen einem gnadenlosen, rachsüchtigen alttestamentlichen Schöpfer (Demiurg) und dem liebenden Gott des Neuen Testaments. Der Demiurg schuf die böse Welt, während der gute Gott seinen Sohn mit einem Scheinleib ausstattete und ihn in die Welt sandte, um die Menschen aus ihr zu erretten. Der Erfolg der Gnosis lag nicht zuletzt in der Möglichkeit, mit der Bedrohung durch ein anonymes Geschick besser umgehen zu können. Der Stoff, auf den der gnostische Dualismus aufbaute, ist theologisch komplex. Es hat kunstphilosophisch wenig, theologisch jedoch eine erhebliche Sprengkraft und ist in jüngster Zeit heftig diskutiert worden. Die Diskussion geht bis zur Frage, ob man nicht das Alte Testament aus dem Kanon der heiligen Schriften auslagern und zu einer apokryphen Schrift herunterstufen soll. Theologen mit solchem Ansinnen (im Gefolge Markions) wurden handkehrum unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt. Die Diskussion ist nicht neu. Im 19. Jh. regte Adolf von Harnack eine Trennung der alten Gesetzesfrömmigkeit von einem durch Jesus neu gestifteten Gottesverhältnis an. Die theologische Diskussion kreist um das Verhältnis von Judentum und Christentum, um eine in der gegenwärtigen Exegese vorgenommene Abschleifung des Gegensatzes von Gesetz und Gnade und auch um die Tatsache, dass das Neue Testament selbst den Anschluss an das Alte betrieben hat. Dennoch zeigt die Diskussion, wie aktuell solche im 2. Jh. traktierte Fragen noch heute sind. Auch der Manichäismus – gegründet durch den in einer gnostisch-judenchristlichen Gemeinde groß gewordenen Mani nach einer Engelsvision – gehört in das Fahrwasser der Gnosis, er wird von Kennern als ihr Höhepunkt erachtet. Mani ver-

Gombocz 1997, 21 Moore Edward, Turner John in Gerson 2010, 174–196 VIII.5.3.1.f. Bardenhewer 1902, I, 316 Rudolph R. 1990, 43

Frend 1984, 201f

Manichäismus

Arnold-Döben 1978, 5 Widengren 1977

50

Die Spätantike

Arianismus

Béjaoui 2010; Warland 2010; Gerke 1967, 149

trat einen strengen Dualismus, in dem zwei gleichrangige höchste Prinzipien, Licht (Leben, Ruhe) und Finsternis (Chaos), um die Vorherrschaft ringen. Das wahre Selbst des Menschen, seine Seele bzw. sein Geist, ist ein Funke des Lichtes, das in der Materiewelt leidet und sich davon befreien muss. Der Manichäismus breitete sich von Nordafrika bis nach China aus. Zum Unterschied zu anderen gnostischen Sekten war der Manichäismus eine weltweit verbreitete Religion. Im 4. Jh. war die Gnosis als selbständige Bewegung weitgehend zu Ende. Sie infiltrierte das offizielle Christentum – vor allem streng asketische Gruppen –, das Judentum und später den Islam und lebt als mystisch-esoterische Strömung in diesen Religionen bis zur Gegenwart weiter. In der Katharer-Bewegung hatte der Manichäismus im Mittelalter noch ein gesondertes Nachleben. Eine wichtige christologische Strömung war der Arianismus, lange Zeit das Bekenntnis der Goten und – besonders verbissen antikatholisch – der Vandalen. Arius, ein Presbyter aus Alexandrien, stellte sich gegen die übliche Lehre in den Theologenschulen und knüpfte an die subordinatianische Theologie seines Lehrers Lukian von Antiochien an. Der Subordinatianismus lehrte die Anfangslosigkeit und Göttlichkeit des höchsten Seienden, des göttlichen Vaters. Demgegenüber sei der Sohn Christus gezeugt und entstanden. Weil er nicht dem Wesen des Vaters entsprungen war, blieb er eine vom Vater unterschiedene göttliche Person, ihm also nur wesensähnlich (homoiousios) und nicht, wie die Orthodoxie mit Nizäa und Chalcedon lehrte, wesensgleich (homousios). Der Sohn wurde als privilegiertes Geschöpf oder eine tätige Eigenschaft (dynamis) des Vaters interpretiert. Außerhalb Ägyptens gewann der Arianismus zahlreiche Anhänger. Die Goten hatten mit dem arianischen Glauben gegenüber den orthodoxen Römern ein Alleinstellungsmerkmal. 325 verurteilte das von Konstantin einberufene Konzil in Nizäa die arianische Lehre, nach der in der Konsequenz die Erlösung durch Christus unvollkommen wäre, weil er sozusagen kein vollwertiger Gott war. Der Stifter dieser Lehre wurde exkommuniziert und hatte zudem das Pech, um 336 ausgerechnet in einer öffentlichen Latrine in Konstantinopel zu sterben. 381 wurde auf dem 2. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel der Arianismus neuerlich verdammt, doch die Sache war nicht entschieden, sondern die Spaltung nur vertieft. Noch im 5. Jh. entstanden in Ravenna Bauwerke der Arianer, darunter ein Baptisterium. Auch die arianischen Vandalen schufen in ihrem nordafrikanischen Reich beeindruckende Sakralbauten. Allerdings lässt sich weder in der Architektur noch in der Mosaizierung eine arianische von einer katholischen Kirche unterscheiden. Die Besonderheiten der nordafrikanischen Kirchen – viele Schiffe, das besondere Steinfachwerk (opus africanum), Doppelstützen im Mittelschiff, häufig zwei Apsiden (zweite Apsis für einen Märtyrer), reich mosaizierte Taufbecken – haben regionale Ursachen, sie spiegeln keine Eigenheiten in der Glaubenslehre. Der Arianismus endete 587 mit der Konversion des westgotischen Königs Rekkared I. zum Katholizismus. Gregor von Tours und Isidor von Sevilla beschrieben diesen Akt ausführlich. 589 berief Rekkared das Konzil von Toledo ein, bei dem er wie die Kaiser in Konstantinopel persönlich den Vorsitz führte, und setzte den chalcedonensischen Glauben in Spanien durch.



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

Eine Spielart bildete die von Nestorius von Konstantinopel gegründete Position (Nestorianismus), die in Christus zwei Naturen, sogar zwei Personen, die göttliche und die menschliche, trennte. Maria gebar keinen Gott, sondern einen mit Gott vereinten Christus (sie ist daher keine Gottesgebärerin, wie 431 am Konzil von Ephesos festgelegt und von Kaiser Theodosius bestätigt, der damit »seinen« Bischof Nestorius fallen ließ), der auf Grund seines sittlichen Lebens Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Seit dem Konzil von Ephesos galt der Nestorianismus als Häresie. Die extreme Gegenposition (aber mit gleicher monotheistischer Ambition) gegen diese radikale Trennung der Personen stellte der gnostisch beeinflusste Monophysitismus dar. In Jesus Christus gibt es nur eine Natur. Bei der Vereinigung des göttlichen Logos mit dem Menschen Jesus von Nazareth wird die menschliche Natur in die göttliche aufgehoben. Jesus ist nicht Mensch und Gott zugleich, sondern nur Gott. Beide Strömungen, der Nestorianismus und mehr noch der Monophysitismus waren in der vorislamischen Zeit, als viele arabische Stämme dabei waren, christlich zu werden, weit verbreitet: in Syrien, Ägypten, Nubien, Äthiopien, Jemen. Man kann davon ausgehen, dass dieser starke Monotheismus der Verbreitung des Islam alles eher als hinderlich war. Der spätere Bilderstreit in Byzanz, wo es auch Monophysiten gab, war immer auch ein Streit um die Christologie: Ist Jesus (darstellbarer) Mensch oder (nicht darstellbarer) Gott? Front gegen diese Häresien machten neben Nizäa auch die Konzilien von Ephesos 431 und Chalcedon 451 mit der berühmten (und schwer verständlichen) Formel vom unvermischten und ungetrennten Wesen, das in einer Person vereinigt ist. Beide Naturen in Christus, die göttliche und die menschliche, müssen nebeneinander bestehen können. Gerade gegen die dualistischen Lehren war die Stärkung eines solch sehr speziellen Monotheismus auch ein politisches Anliegen. Nicht umsonst war es Kaiser Konstantin selbst, der das erste Ökumenische (weltumspannend) Konzil 325 in Nizäa eröffnete und leitete. Im Anschluss an das Konzil reiste eine Gruppe von Bischöfen nach Jerusalem, um die von Konstantin gebaute Grabes- und Auferstehungskirche einzuweihen. Die Bischöfe setzten damit ein starkes Zeichen der nizäanischen Theologie: Jesus als Gott und Mensch zugleich. Und sie setzten eine rege Kirchenbautätigkeit des konstantinischen Hofes in Gang, darunter war auch die Anlage in Trier, der ehemaligen Residenzstadt, in der Konstantin einige Zeit verbracht hatte.

Nestorianismus

8.1. Monophysitismus

V.3.2.

8.3.

Heldt 2008, 54

4.2.1. Die Orientalen Ab dem 4. Jh., als sich beide Reichshälften kulturell und sprachlich voneinander entfernten, muss man die Literatur nach ihrer westlichen und östlichen Spielart unterscheiden. Auf Seiten der Orientalen entstanden schon früher – sich aus den Katechetenschulen in Alexandrien entwickelnd – hochstehende apologetische Schriften, etwa von dem literarisch ungemein gebildeten Clemens von Alexandrien mit seinem platonisierenden Plädoyer für ein gnostisches, besser: philosophisches Christentum, das hilft, die Seele vom Körper zu befreien. In seinem eher praktischen, detaillierten Werkteil Paidagogus (Protreptikos – Paidagogus – Stromata) findet man eine Schlüs-

Clemens von Alexandrien

52

Die Spätantike

8.1.

Clemens, Prot. X, 98 Thümmel 1992, 31

Clemens, Paidag. 3,59,2 Origenes

Thümmel 1992, 32ff

Eusebius von Cäsarea

selstelle für die frühchristliche Kunst: Ziel sei die Anschauung Gottes, die aber nur metaphorisch und in Bildern beschrieben werden könne. Das ist im Sinn literarischer Bilder zu verstehen. Ein Porträtbild Christi lehnte er ab. Das einzige wahre Bild Gottes sei sein Logos und das Bild des Logos sei der Mensch: »Niemand als der […] ›kunstreiche Werkmeister und Vater‹, hat ein solches beseeltes Gebilde, uns, den Menschen, geschaffen. Euer Olympischer Zeus aber, Abbild eines Abbildes, gar weit entfernt von der Wahrheit, ist ein stummes Werk Attischer Hände.« Allerdings relativiert Clemens die Menschengestalt, die er als Knechtsgestalt abwertet und die deshalb ebenfalls nicht dargestellt werden sollte. Dazu kommt, dass der verklärte Leib Christi ohnehin nicht darstellbar sei. In einer Erörterung darüber, wie sich die Siegelringe der Christen von jenen der Heiden unterscheiden sollten, listet Clemens um 210 die Symbole der frühchristlichen Kunst auf. Nicht Götterfiguren, Trinkbecher oder geliebte Mädchen und Knaben sollten die Ringe zieren, sondern Taube, Fisch (der Träger wird, wenn er Fischer ist, »an den Apostel denken und an die aus dem Wasser der Taufe emporgezogenen Kinder«), Leier, Schiff und Schiffsanker. Der bedeutendste alexandrinische Lehrer und Theologe war Origenes. Sein Name soll sich vom ägyptischen Horus ableiten lassen. Origenes gründete um 330 in Cäsarea eine wissenschaftliche Akademie, in der ein paganes Ausbildungsprogramm mit einer christlichen Theologie vermittelt wurde. Im Mittelpunkt stand die Kommentierung der Bibel. Er, der möglicherweise denselben Lehrer hatte wie Plotin und Ammonios Sakkas, stand für eine klare Christozentrik und – mit Anleihen aus der Gnosis – für das Verlangen nach Selbsterkenntnis und den Kampf gegen die Gefährdungen durch die Welt und die weltlichen Leidenschaften. Selbst in der Sprache könne eine zu große Anmut der Poesie uns ablenken und uns an der Erfahrung des Göttlichen hindern. Origenes – berühmt wegen seiner brillanten Apologie gegen den antiken, das Christentum polemisch kritisierenden Platoniker des späten 2. Jh.s Celsus (Contra Celsum) – entwickelte einen mystischen Weg der Gotteserkenntnis. Eine besondere Nachwirkung hatte seine gnostisierende Apokatastasislehre (Wiederherstellung) mit Berufung auf Apg 3,21. Nach Origenes’ Deutung kehren alle Wesen, sogar der Teufel, zu ihrem Ursprung im Guten und Göttlichen zurück. Es ist die Vision der Wiederherstellung des makellosen Zustandes der Schöpfung. Weil damit das Böse der Hölle in Frage gestellt wurde, verurteilte das 5. Ökumenische Konzil 553 in Konstantinopel diese Lehre. Sie lebte aber über Jahrhunderte in vielen Köpfen weiter. In der Bilderfrage war Origenes streng. Die Vorwürfe des Celsus, der den Christen die Ablehnung von Bildern, Tempeln und Altären vorhielt, spornte Origenes in seiner Polemik gegen das Bild noch an. Dies hing vor allem mit der Abneigung gegenüber dem Materiellen zusammen. Inkarnation wurde hier wie generell im Osten als Erniedrigung verstanden und eine solche durfte man nicht darstellen. Er lobte die Juden, weil keine Künstler unter ihnen gelebt hatten, und bekräftigte das jüdische Bilderverbot. Eusebius von Cäsarea Maritima war einige Zeit ein Verteidiger des Arius, unterzeichnete dann aber in Nizäa vorbehaltlos die antiarianischen Dokumente. Der



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

oft als »Vater der Kirchengeschichte« bezeichnete Eusebius verfasste eine große Biographie zu Konstantin und entwarf eine philosophische Kaiserideologie, die den Kaiser als Abbild (eikon) des Universums und Gottes verstand. Inwieweit dies auch kunstphilosophische Bedeutung erlangte, ist unklar. Eusebius lehnte jedenfalls ein Bild Christi strikt ab. Constantia, die Schwester Konstantins, war angeblich bei ihm mit dem Wunsch nach einem Bildnis Christi vorstellig geworden. Unwirsch soll der Hoftheologe dieses Ansinnen zurückgewiesen haben (Teile des Antwortbriefes sind erhalten): Das göttliche Wesen Christi sei nicht darstellbar und eine Darstellung der menschlichen Erscheinung gliche einem heidnischen Götzenbild. Einzig die eucharistischen Gaben seien Abbilder (eikones) Christi. Für die Nachwelt ist Eusebius zusammen mit Irenäus von Lyon einer der ersten, der die Existenz von Christusbildern zu seiner Zeit bestätigte. In seiner Vita Constantini berichtet er von zahlreichen symbolischen Darstellungen in Konstantinopel, die sich auf Christus bezogen. Der Ton ist hier wesentlich versöhnlicher als im Brief an Constantia. Athanasios von Alexandrien sprach in antiarianischer Ambition viele Themen der Christologie an, darunter war auch eine Trinitätslehre. Zur Schönheit äußerte sich der Bischof von Alexandrien in platonischer Üblichkeit. Man könne »durch die Erscheinungswelt zur Erkenntnis Gottes gelangen, da die Schöpfung Schriftzügen gleich durch ihre Ordnung und Harmonie ihren Herrn und Schöpfer anzeigt und laut verkündet.« Kyrillos von Alexandrien, ein Kämpfer gegen den Nestorianismus, war eine treibende Kraft für die Verurteilung dieser Lehre auf dem Konzil von Chalcedon 451 und damit ein Fürsprecher für die Gottheit Christi. Neben Alexandrien war im oströmischen Reich Kappadokien mit seinem wichtigsten Bischofssitz Cäsarea in Zentralanatolien ein erstklassiges Zentrum christlicher Theologie. Drei bedeutende orthodoxe Kirchenlehrer stammen von dort: Basilius der Große von Cäsarea (Kaisareia), sein von den Idealen des östlichen Mönchtums beeindruckter Bruder Gregor von Nyssa, der in der Trinitätslehre origenistische Einflüsse verarbeitete, und ihr gemeinsamer Freund Gregor von Nazianz. Sie griffen Anregungen ostsyrischer Autoren auf, die – anders als im westsyrischen Antiochien – traditionell jüdisch und persisch argumentierten und das Griechische ablehnten. Ephräm der Syrer etwa lehnte jede Theologie, vor allem aber die (griechische) Philosophie ab. Christus sei in die Welt gekommen, um »zu erleuchten, nicht um von der Welt erforscht zu werden.« Für die göttliche Erkenntnis griffen die »Kappadokier« auf die Licht- und Erosmetapher zurück. Gregor von Nazianz liefert uns eine literarische Quelle für die Gleichsetzung der Kuppel mit dem Himmel als Heimat des ewigen Lichts und Gregor von Nyssa setzte Gott mit dem Licht gleich. In der Gotteslehre bedeutete Gotteserkenntnis für sie Einswerdung mit Gott. Gregor von Nyssa schildert zustimmend eine Martyriumsszene in einer Gedächtniskirche. Hans Georg Thümmel hält diese Schilderung aus dem Jahr 381 für die »älteste anerkennende Erwähnung einer wirklich vorhandenen christlichen Darstellung.« Offenbar tat man sich bei solch erzählenden Bildern leichter als mit dem Christusbild. Auch von Gregor von Nazianz gibt es einige Äußerungen zu kunstphilosophischen Fragen. Dem Bild stand auch er grundsätzlich kritisch gegenüber, berichtet

Beck 1994, 96 Frend 1984, 523

Thümmel 1992, 53 Athanasios von Alexandrien

Athanasios, Contra gent. 34

Kappadokien

Ephräm, zit. nach Heldt 2008, 50 Janes 1998, 72

Thümmel 1992, 57

54

Die Spätantike

Gregor v. Nazianz, De pacis 14

Gregor v. Nazianz, De paup. 45

Thümmel 1992, 54f 8.3.

Basilius, Ad adol. 29

Dehnhard 1964 Baur 1917 V.7.2.2.3.

Basilius, Hex. 2, 7 7.2.

Ebd. 3,10

aber von einem wundertätigen Heiligenbild, was mehr und mehr die Bilderskepsis unterminierte. Die Ablehnung leiblich-sinnlicher Schönheit entsprach der (platonischen) Abwertung des Sinnlichen und jeder Art von Mimesis. Schmucklosigkeit, ja (äußerliche) materiell-leibliche Hässlichkeit wurde geradezu zu einem Abbild (innerlich) seelischer Schönheit stilisiert. Zur Verherrlichung Gottes gehören die »folgenden schönen Anzeichen und Äußerungen eines Lebens in Gott: Die schweigenden Führer, das struppige, ungepflegte Haar, die bloßen Füße, welche es den Aposteln nachmachen wollen und nichts Irdisches tragen, […].« Nur selten treten gesellschaftliche Begründungen auf wie etwa in der Rede Gregors über die Armut, wo er jeden Schmuck als zynisch gegenüber den sozialen Randgruppen ablehnt: »Sollen wir, während diese unter freiem Himmel dahinsiechen, in glänzendsten, mit verschiedenen Steinen geschmückten Häusern wohnen, welche in Gold und Silber, in Mosaik und bunten Gemälden leuchten und die Augen durch den Reiz täuschen?« Die kunstskeptische Einstellung schlug sich auch in Bilderskepsis nieder. Inwieweit insbesondere Basilius bilderfreundlich war, ist nicht ganz klar. Einerseits griff er öfters auf die Metaphorik des Bildermalens zurück, meinte damit aber das Nachahmen eines heiligmäßigen Lebens, das die Abwendung von der materiellen Welt bedeutet. Andererseits akzeptierte er die pastorale Funktion des Bildes. Die seelenverändernde Kraft der Musik zitierte Basilius in einem eindrucksvollen Beispiel: »Auch soll Pythagoras, als er unter betrunkene Zecher geriet, dem Flötenspieler, der den Zug führte, befohlen haben, die Melodie zu ändern und ihnen die Dorische Weise vorzuspielen; und diese Melodie soll bei jenen eine solche Ernüchterung bewirkt haben, daß sie die Kränze wegwarfen und beschämt nach Hause gingen.« Das Anliegen des Basilius war die Verbindung des griechischen Geistes mit den Inhalten der Offenbarung. In seiner Ansicht über das Schöne mischen sich Elemente aus der neuplatonischen und frühmittelalterlichen Diskussion. Insbesondere seine Lichtspekulation im Hexaëmeron lässt sich auf Einflüsse durch Plotin zurückführen. Das Werk diente noch Robert Grosseteste als Vorlage für dessen Lichtphilosophie. Ist Schönheit eine bestimmte Anordnung und Proportion oder kommt Schönheit dem Einfachen zu? Basilius vertritt beides: Körperliche Schönheit beruht auf dem »Ebenmaß seiner Teile und in einer gesunden Farbe im Äußeren […].« Andererseits sind einfache Dinge auch wegen ihres Glanzes und Lichtes schön: »In dieser Weise ist ja auch das Gold schön, das nicht durch Übereinstimmung seiner Teile, sondern allein durch seine schöne Farbe Reiz und Entzücken für das Auge hat.« Ein ähnliches Argument taucht bei Plotin auf. Wenn Einzeldinge in eine harmonische Proportion eingeordnet sind, haben sie die Würde der Einheit. In Erinnerung an den Weltenordner Demiurg gibt es auch das Argument der Zweckmäßigkeit. So bedeute das Urteil Gottes über die gelungene Schöpfung in der Genesis, dass sie künstlerisch vollendet und auf »einen vernünftigen Endzweck eingestellt ist.« Die Zweckbestimmung des Schönen wird in der Ästhetikkonzeption des philosophischen Realismus etwa eines Thomas von Aquin aufgenommen. Bei der Zweckmäßigkeit des Geschaffenen wird Gott zum Künstler und wir wandern durch sei-



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

ne Welt wie durch ein Atelier. Wir also, »die der Herr, der große Wundertäter und Künstler, zur Betrachtung seiner Werke zusammenberufen hat, ermüden, sie anzuschauen […]?« Das Schöne weist uns hin auf die Vollkommenheit des Schöpfers. Das Motiv, das vom platonischen Demiurgen, damit von der ontologischen Stellung des Schönen, in dem sich das Gute darstellt, her bekannt ist, findet demnach breite Rezeption im frühen Christentum.

Ebd. 4,1

4.2.2. Die Okzidentalen Der Osten blieb konservativ und sowohl in Inhalten als auch in den Formen beharrend. Aufklärerische Phasen wie im instabilen Westen, der sich angesichts der Konfrontation mit den neuen Völkern geistig ständig neu orientieren musste, fehlten weitgehend. Die Lateiner waren Praktiker. Sie neigten zu einer nüchternen, wenig spekulativen Lehre, in der der Mensch mit seinen Pflichten und seinem Handeln im Vordergrund stand. Breiten Raum nahm die Polemik gegen die paganen Opferkulte ein, etwa das Stieropfer im Kybele-Kult (Taurobolium), eine Polemik, die angesichts verbreiteter Nostalgie zu den alten Kulten angeraten erschien und die Differenz zum christlichen Opferkult herausarbeiten sollte. Lieferten die griechischen Väter für die Entwicklung des byzantinischen Geistes wichtige Impulse, standen die Väter lateinischer Sprache an der Schwelle zum Mittelalter im Westen. Sie stammten aus Rom (Ambrosius, Gregor der Große), Spanien (der christliche Dichter und Allegoriker Prudentius), Dalmatien (Hieronymus), Ägypten oder Nordafrika (Tertullian, Minucius Felix, Augustinus). Im Westen war die Tradition der römischen Philologie, Rhetorik und Wissenschaft noch sehr präsent. Der römische Rhetor Laktanz bedauerte (ganz im Gegensatz zu Origenes), dass gebildete christliche Autoren wegen der Schönheit der verwendeten heidnischen Literatur gescholten wurden. Die Schönheit der Sprache sei demgegenüber aber ein Mittel, um Gott zu gefallen. Septimus Tertullian war neben Minucius Felix (Dialog Octavius) der älteste Schriftsteller der lateinischen christlichen Tradition und ein Beispiel für die frühe Bilder- und Philosophiefeindlichkeit der Christen. Er lehnte die griechische Philosophie ab, weil sie als heidnische die Wurzel aller Häresien, vor allem der Gnosis, sei. Inhaltlich bewegte er sich in seinen glänzenden Schriften jedoch durchaus in den Bahnen des Platonismus. Dies auch in der Behauptung von der Ableitbarkeit der Existenz Gottes aus seiner Schöpfung. Tertullian, in dessen Œuvre sich Schriften gegen die Schminksucht der Frauen (De cultu feminarum) und gegen das antike Unterhaltungswesen (De spectaculis) finden, bezeichnete die Leistung der Künstler als Teufelswerk: »Gott hat an nichts Wohlgefallen, was er nicht selbst hervorgebracht hat. Konnte er nicht auch purpurrote oder stahlblaue Schafe erschaffen? Wenn er es vermochte, so hat er es nicht gewollt; was Gott aber nicht machen wollte, das darf man auch nicht machen […]. Was nicht von Gott kommt, muß notwendig von dessen Widersacher kommen.« Das Argument ist ähnlich der späteren Kritik im Koran, Künstler würden das Schöpfungswerk Gottes plagiieren. In seinem Werk De

Tertullian

Tertullian, De cultu I,8

56

Die Spätantike

Ambrosius/ Hieronymus

V.6.2.3.

Hieronymus, Eust. 31 Hieronymus, Hel. 25

II.3.2.5.

216–219 Fresko der vier Kirchenväter (Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Gregor) im Domkreuzgang von Brixen (Anf. 15. Jh.)

idolatria gibt er Anweisungen, was ein christlicher Künstler überhaupt schaffen darf. Seine Christusbeschreibungen (De carne Christi) sind Beschreibungen eines bedürfnislosen Kynikers. Zu diesem Stück Umcodierung eines antiken Motivs gesellte sich die Anwendung des heidnischen Sol Invictus-Motivs auf Christus. Gegen Ende des 4. Jh.s führte Tertullian das Juristenlatein als Sprache der Kirche ein (darunter den Begriff des Eides, der den Schwörer den Göttern weiht: sacramentum). Zentrale Figur für diese Wiederbelebung der klassischen Antike war der Literat und Rhetor Quintus Aurelius Symmachus. Er bekleidete das Amt eines Senators und Stadtpräfekten, setzte sich für die altrömischen Kultgebräuche ein und veranlasste Neuausgaben antiker Klassiker. Von Hieronymus wurde er dafür als Götzenverehrer beschimpft. Auf der anderen Seite förderte Ambrosius von Mailand, der dem Drängen des Symmachus nach Toleranz gegenüber den Heiden ebenfalls Widerstand entgegensetzte, die christliche Kunst, was Mailand zu einem Zentrum der frühchristlichen Kunst machte. Wie viele andere Kirchenväter entwickelte auch Ambrosius eine auf Schriftstellerei basierende Architekturallegorese, die im Mittelalter große Bedeutung erlangte. Eines der Themen dabei war, dass die in Armut geborene Kirche Reichtum und Schmuck in der Ewigkeit erwarten durfte. Auch Hieronymus, der in Rom Rhetorik und Philosophie studiert hatte, machte gegenüber den antiken Schätzen Vorbehalte geltend und strich ihre Differenz zum christlichen Ideal heraus. Wie im Osten üblich, stellte er sich gegen jede leiblich-sinnliche Schönheit und füllte den Psalmvers 44,12: »Der Herr wird nach deiner Schönheit verlangen« in folgender Weise mit Inhalt: »Erfaßt Dich Grausen ob des ungepflegten Haares und des schmutzigen Hauptes? Dein Haupt ist ja Christus.« Hieronymus hatte – nach Auftrag von Papst Damasus I. – nach einigen bruchstückhaften Vorläufern gegen 400 die erste (zwar auch nicht vollständige) maßgebliche lateinische Bibelübersetzung (Vulgata) erstellt. Sie setzte sich im 9. Jh. gegenüber der Septuaginta durch und wurde vom Konzil von Trient zum grundlegenden Text erklärt. Er gehört neben Augustinus, Ambrosius und Gregor dem Großen zu den vier bedeutendsten Kirchenvätern. Unzählige Male wurden sie in der westlichen Kunst abgebildet.

4.3. Augustinus von Hippo und die Ästhetik der Zahl Mit der Autorität des Augustinus verschob sich das Gewicht der patristischen Literatur in den Westen und erreichte an der Wende ins Mittelalter ihren Abschluss. In Augustinus spiegeln sich die zahlreichen Bezüge wider, welche die spätantike Zeit prägten.



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

Geboren 354 als Sohn eines Heiden (der sich kurz vor seinem Tod noch taufen ließ) und der frommen Christin Monnica im nordafrikanischen Thagaste (heute Souq Ahras in Algerien), das unter römischer Verwaltung stand, war er hervorragend klassisch gebildet. In Karthago unterrichtete er Rhetorik und wurde durch Ciceros Werbeschrift für die Philosophie Hortensius sive de philosophia (45a) für die Philosophie entflammt. Man kann davon ausgehen, dass Augustinus auch mit der Kunst der Antike vertraut war. In seinem Œuvre taucht der antike Begriffsvorrat für das Bild verbreitet auf. Augustinus stand lange im Bann des Manichäismus, dessen Reiz einer klaren Weltordnung jedoch mit seiner Annäherung an den Neuplatonismus und nachfolgend an den Skeptizismus verblasste. 384 ging er nach Mailand und lernte in diversen Zirkeln den christlichen Platonismus in der Prägung des Neuplatonikers Plotin kennen. Der brillante Redner und Bischof Ambrosius, der dem Denken des Origenes nahe stand, beeindruckte ihn tief. 387 nahm der kaiserliche Hof in Konstantinopel das Toleranzedikt über die Arianer zurück, der Zeitgeist entschied sich für die christliche Orthodoxie. Im gleichen Jahr ließ sich Augustinus von Ambrosius taufen. 391 folgte die Priesterweihe und 396 war er Bischof in Hippo Regius unweit seiner Geburtsstadt, wo er 430 während der Belagerung der Stadt durch die Vandalen starb. Schon die Biographie packt dramatisch die damalige Zeit in ein Menschenleben, wie man es hätte nicht spannender erfinden können. Es mag diesen unruhigen Zeitläufen mit dem Höhepunkt des Goteneinfalls in Rom 410 und vielleicht auch seiner manichäischen Vergangenheit geschuldet sein, dass Augustinus die Utopie eines idealen Gottesstaates (Civitas Dei) entwarf. Es war ein demiurgisches Projekt der Neuerschaffung des Lebens nach den Gesetzen der Harmonie durch den höchsten Künstler Gott. Die Philosophie des Augustinus spiegelt die verschiedenen Lehren der Zeit wider. In De musica, De vera religione, den Confessiones und in seinem verlorenen Werk De pulchro et apto entwickelte er auch Ansätze einer Ästhetik. Dies im Rahmen einer – vermutlich wohl eine Fortentwicklung seiner frühen Einstellung zur sinnenfreudigen antiken Kunst – Reformulierung der Ontologie von Platon und Plotin in christlicher Terminologie. Wladyslaw Tatarkiewicz sah darin einen Gang von der heidnischen Kunst über die neuplatonische Schönheitskonzeption zur christlichen Theozentrik. Religiösen Bildern begegnete Augustinus allerdings mit Zurückhaltung. Denn jede Sinnlichkeit war für ihn das unvollkommene Erscheinen von Geistigem. Das Materielle sei ein Seinsmangel, das Hässliche ein Mangel an Schönem. Die primäre Schau des Schönen und Wahren gelinge nur durch den Geist. Jede Schönheit ist durch die höchste Schönheit – jene Gottes – gegeben. Schönheit ist demnach nicht eine Idee unter vielen, sondern »Prädikation eben dieses göttlichen Wesens selbst.« Nachahmung darf ausschließlich als das Zum-Erscheinen-Bringen der Spuren des (geistig) Schönen im Sinnlichen verstanden werden. Ein platonisch-neuplatonischer Teilhabegedanke legitimiert den schönen Gegenstand. Künstler schüfen diese Werke, indem sie die göttlichen Ideen in ihrer Seele nachahmten. Diese Ideen zeigten sich in einer Schönheit, wie sie sich im harmonischen Maß, in der Proportion, der Ähnlichkeit, der Einheit und Zahl ausdrückt.

Holl 1963, 35ff

Chapman 1939, 230

Tatarkiewicz 1980, 60f

Augustinus, De vera relig. 31,57; 32,60 Augustinus, Conf. 10,34 Beierwaltes 1975, 143 Augustinus, De vera relig. 32,60

58

Die Spätantike

Flasch 1980, 91 Beierwaltes 1975, 145 Augustinus, De lib. II,54 Tscholl 1967, 132ff

Augustinus, De mus. 6,13,38

Augustinus, De lib. II,44

Augustinus, Civ. 11,18

Beierwaltes 1975, 145

Flasch 1994, 357

Chadwick 1987, 40ff

Waibl 2009, 106

»Wenn Augustin von der Schönheit der sichtbaren Welt sprach, so meinte er nicht etwas, das alle ohnehin sehen können. Gemeint war – pythagoreisch, platonisch, plotinisch – die geistige Harmonie, die Zahlenhaftigkeit der Welt oder – stoisch – ihre teleologische Organisation.« Das ist nichts anderes als eine Adaption des platonischen Demiurgen. Es ging um eine innere Harmonie als Bedingung der äußeren Schönheit. Überall, wo Form, Maß und Ordnung vorhanden sind, ist Gott als Künstler am Werk. Der menschliche Künstler ist immer Analogie und Differenz zugleich zum artifex divinus. Aus diesen Gründen war Augustinus der Bezug zur Zahl wichtig. An mehreren Stellen in exegetischen Werken nahm er Gott als die höchste Zahl und bezog sich gerne auf Weis 11,21. Kunstwerke sind dann mittelbar Ausdruck dieser göttlichen Schönheit in Gewicht (pondus), Zahl (numerus) und Maß (mensura): »Das Schöne gefällt durch die Zahl […].« und die Zahl garantiere die Beständigkeit des Geschaffenen: »Alles Sichtbare, das der Veränderung unterliegt, kann nur deshalb mit dem Körpersinn oder durch geistige Betrachtung erfaßt werden, weil es durch die Zahlenform gehalten wird; […].« Das Schöne realisiert sich im Harmonischen. In der Manier heraklitscher Dialektik wird der Ausgleich in der sich aufhebenden Oszillation der Gegensätze gefunden. Die Schönheit der Welt (pulchritudo saeculi) erwachse aus Gegensätzen. Werner Beierwaltes sprach – die spätplatonische und neuplatonische Bildphilosophie aufgreifend – im Hinblick auf die Symmetrie von einem inneren Gestaltungsprinzip und einer dynamischen Einheit eines Ganzen. Dekoratives Beiwerk (aptum, decorum) sei dann legitim, wenn es angemessen ist und sich dem Ganzen einfügt wie ein Organ dem gesamten Organismus. Diese ontologische Funktion des Schönen drängt eine Ästhetik des Angenehmen (etwas, was durch unmittelbare positive Affektion gefällt) oder gar des Illusionismus weit auf die Seite. Die Sichtbarkeit wird nicht vom rezipierenden Subjekt her verstanden, sondern vom sich verströmenden Sichtbaren. Die Adaptation der platonisch-neuplatonischen Schönheitsphilosophie auf das Christliche war für das Mittelalter folgenreich. Besonders geht Augustinus auf die Musik mit ihren mathematischen Konnotationen ein. Manche vermuten die Ursache dafür in der Hochschätzung der sieben freien Künste aus den frühen Jahren seiner Zuneigung zur antiken Bildung. Seine Traktate De ordine (386) und De musica (387–389), die den (guten) Rhythmus (eurythmos) zum zentralen Prinzip der gesamten Ästhetik machen, bestimmten die ästhetische Diskussion bis weit in die Renaissance. Es läge nahe, in der asketischen Entsinnlichung einen philosophischen Hintergrund des von Papst Gregor eingeführten einstimmigen Choralgesangs für die Messfeier, in erster Linie deren fixe Teile des Ordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei, Ite missa est) zu sehen. Noch nach vielen Jahrhunderten, beim Konzil von Trient (1545–1563), wurde diese »in ihrer Kargheit und Sperrigkeit beinahe schon Nicht-Musik« immer noch für verbindlich erklärt. Eine praktische Ursache für die lange Dominanz der Einstimmigkeit sieht die Musikforschung im schlechten Notationssystem. Ein entwickelteres System



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

setzte sich erst um die Jahrtausendwende durch und ermöglichte die Aufzeichnung mehrerer Melodielinien: »Seit jedoch die Notation das Gedächtnis entlastete, konnte sich die Mehrstimmigkeit zu voller Blüte entfalten.« Die lange Verbindlichkeit verweist aber auf ein ebenso vorhandenes weltanschauliches Interesse. Die Musik mit ihren mathematischen Ordnungsregeln normierte wie schon in der Antike auch die Dichtung, den Tanz und natürlich die Architektur. Von den anderen künstlerischen Äußerungen blieb das Theater wegen seines fiktiven und trügerischen Charakters negativ bewertet. In den Büchern X und XI der Confessiones lässt sich nicht nur Schönheit als Lehre des Erkennens Gottes rekonstruieren, sondern sie wird auch als Lichtmetaphorik buchstabiert. Das Licht selbst bleibt unsichtbar und wird vermittelt durch das Erleuchtete. Augustinus kleidet dies in die rhetorische Frage, was er denn eigentlich liebe, wenn er die Schönheit liebt. Die Antwort ist: Gott! »Spät habe ich dich geliebt, Du immer alte, immer neue Schönheit! […] Und siehe: Du warst innen […], und ich außen […].« Dass Gott im Sinne der platonischen Totalität immanent gesehen wird, also innen ist, begründet, dass Schönheit keine äußere Wahrnehmung sein kann, sondern ein Erinnern Gottes in der eigenen Seele. Die philosophierende Schau ist letztlich eine Begegnung mit der inneren Seele. Denn diese Seele ist eine »vernünftige Seele, die sich eines sterblichen und irdischen Körpers bedient.« Die höchste Glückseligkeit, die gleichsam auch ein ästhetisches Moment ist, lässt ihn jubeln: »Gott und die Seele erkennen, das ist mein Wunsch«. Es ist das Transzendieren des Selbst, das eine Verschmelzung mit der göttlichen Wahrheit (die in Harmonie und Symmetrie erscheint) ermöglicht. Denn dort, im Inneren, existieren die ewigen Ideen und Regeln, die alles Wahre ausmachen und als göttliche den menschlichen Geist bewegen. Selbstredend ist das ein Leitfaden der anagogischen »Mechanik«. Einheit und Vielheit sind für Augustinus keine Gegensätze, ganz so wie er es im Neuplatonismus gelernt hatte. »Der ›Aufstieg‹ des Menschen ›in te supra me‹ erweist sich als Rückgang in diesen Grund der Erinnerung.« Worauf man dann trifft, ist kein Ort, den eine Zeit relativieren könnte: »[…] was dort erklingt, vergeht nicht mit der Zeit […].«Und Gott selbst wird zu einem »Glanz der stets verharrenden Ewigkeit […].« Die Visio Dei wird zu einer Visio rei: »Wir sehen also das, was du geschaffen hast, weil es ist: allein es ist, weil du es siehst.« Die Schönheit dient letztlich dazu, durch Erinnerung Vielheit und Zeit zum Ursprünglichen hin zu übersteigen. Dies ist die Grundfigur eines anagogischen Vorgangs, der durchaus auch als Er-innerung ins Eine/Ganze interpretiert werden kann. 396 verfasste er eine Schrift an den Mailänder Bischof Simplician, der 397 Nachfolger des Ambrosius wurde, (Quaestiones ad Simplicianum), die eine neue Gnadenlehre enthielt. Demnach sei es dem Menschen unmöglich, sich durch Nachdenken, Philosophieren oder sittliches Handeln auf die Gnade vorzubereiten oder sie gar herbei zu zwingen. Gott schenkt die Gnade und verweigert sie, wem er will. Kurt Flasch verweist auf die zeitliche Übereinstimmung dieses »Angriffs auf die Menschenwür-

Seay/Stevens 1993, 10

Augustinus, Conf. 10,27

Augustinus, De mor. 27,52 Augustinus, Sol. I,2,7

Augustinus, Conf. 4,15 Kreuzer 1995, 84

Augustinus, Conf. 10,6/11,11/13,38 Kreuzer 1995, 233

60

Die Spätantike

Flasch 1980, 80

de« mit Augustinus’ Bischofsweihe. Mit ihr kam notgedrungen die Verwicklung in Politik und Institution. Flasch weiter folgend könnte man genau an dieser Wende des Denkens von Augustinus den Übergang einer philosophischen Streitkultur in eine Kultur der Institutionalisierung und Sakramentalisierung (zunächst der Kirche) sehen, also eine Kultur, die auf Autorität und Tradition aufbaut. Das aber machte über weite Strecken das Mittelalter aus. 396 löste ein System ohne jede Nachvollziehbarkeit ein durch den Menschen gestaltbares Weltgeschehen ab. Zudem trat mit dieser Wende an die Stelle einer von neuplatonischer Anagogie ausgezeichneten Ästhetik Ratlosigkeit gegenüber dem Schönen und der Kunst. Zwar gab es heftige Kritik an dieser Sicht. Der britische Mönch Pelagius sah in der neuen Gnadenlehre einen heidnischen Fatalismus und einen Angriff auf die Willensfreiheit des Menschen und focht für eine asketische Kirchenreform. Heil für das Befolgen der göttlichen Gebote, hieß sein Angebot. Augustinus, der wiederum bei Pelagius’ Deutung die Kräfte der Menschen zu hoch veranschlagt und das göttliche Wirken beeinträchtigt sah, siegte in diesem Streit und setzte die Verurteilung des Pelagius durch. In der Tat veränderte sich vor solch neuer Rechtfertigungsprozedur die Stellung des Menschen im Kosmos grundlegend – und dies war keine gute Grundlage für das aufkommende Mittelalter. Kunstphilosophische Entwürfe, die sich auf Augustinus beriefen, knüpften freilich bei dessen neuplatonischer Vorlage an.

4.4. Das Mönchtum des Ostens 220 Soldatenheiliger in der Kirche Theodori; Mistra Speyer 1995b, 209

Hahn Johannes in Kat. 2013a, 366

Krause 1998b, 149

Noch während der Christenverfolgungen im 3. und 4. Jh. begann im Osten das Mönchtum (monachos/einsam). Die Mönche traten »faktisch, aber auch phänomenologisch betrachtet das geistige Erbe des Martyrers an.« Ihr Ziel war ein Leben in Gottesliebe, Vollkommenheit und Nachfolge Christi. Dazu mischte sich ein »Kriegsdienst« für Christus (militia Christi) im Kampf gegen böse Geister, den Teufel und sein Reich, ein Topos, der in zahlreichen Darstellungen byzantinischer Mosaik- und Freskenkunst einen Niederschlag fand. Dieser Kriegsdienst bedeutete im frühen Mönchtum nicht selten den Aufruf zur Gewalt gegen heidnische Einrichtungen. »Asketen suchten sakrale Bezirke auf, um die Konfrontation mit den dämonischen Kräften des Ortes zu suchen. Das radikale Vorgehen gegen Tempel und Kultbilder wurde zum Leistungsnachweis göttlicher Berufung […].« Der Kriegsdienst, dem die Kirche in den ersten Jahrhunderten gemäß der Friedensbotschaft der Schrift ablehnend gegenüberstand, wurde mit dem Status einer Staatsreligion aktuell und durchaus nicht von allen Mönchen mitgetragen. Ebenso verstanden sich die Mönche als Gegenbewegung gegen das vom Staat reichlich entlohnte Führungspersonal der Kirche. Die Wurzeln des Mönchtums sind nach wie vor umstritten. Genannt werden dazu Einsiedler des Gottes Sarapis bei Memphis. Andere sehen im Mönchtum das Ergebnis der Fluchtbewegung vor der Decischen Verfolgung. Wurzeln lagen aber auch im Frühjudentum und im alten Israel. Auch Jesus zeigte Züge eines Lebens in



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Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter

Abgeschiedenheit, wenngleich Jesus und seine Jünger kein asketisches Leben führten. Die Anachoreten (zurückgezogen lebend) wanderten (Eremiten) oder hausten als Einsiedler (Hermeten) oder in Gemeinschaft (Koinobiten) in Gräben, Höhlen oder einfach gebauten zellenförmigen Unterständen. Ob die Bewegung in Syrien oder in Ägypten ihren Ausgang nahm, ist unklar. In der ägyptischen Wüste rund um das Nildelta lebten bald Tausende von Mönchen. Antonius, der – nicht zuletzt durch die im Mittelalter weit verbreitete Biographie des kämpferischen antiarianischen Bischofs von Alexandrien Athanasios – zum Urtypus des Mönchs wurde, zog sich in das Wadi Natrun nordwestlich des heutigen Kairo zurück und sammelte Einsiedeleien zu einem losen Verband. Die erste Klostergründung mit der Urform einer Klosterregel, die das mönchische Leben strukturierte, wird gemeinhin Pachomios zugeschrieben. Durch eine Biographie seines Schülers Theodoros (Vita Pachomii) sind wir über sein Leben unterrichtet. Um 320 soll der in Oberägypten geborene Sohn heidnischer Eltern das erste Kloster (koinobion) in Tabennissi bei Dendera gegründet haben. Die Klosterregel, die auf strenger Zucht und Unterordnung basierte, soll er in Visionen von Engeln erhalten haben. Sie ist nicht im Original erhalten, sondern in einer Fassung des Hieronymus.

Speyer 1995b

221 Antonius, Fresko in der Grottenkirche Santi Stefani (11. Jh.); Vaste, Apulien

222 Qalaat Seman bei Aleppo, Reste des zentralen Oktogons der kreuzförmigen Anlage (um 480)

Zahllose skurrile Figuren gediehen unter dem Schirm des Mönchwesens. Zumeist waren Mönche, dies galt auch für den gebildeten Antonius, bildungsfeindlich, die meisten von ihnen hatten keine Priesterweihe. Selbstverständlich wirkte auch die Bewegung der bedürfnislos lebenden Kyniker inspirierend. Anachoreten standen meditierend wochenlang auf Berggipfeln. Simeon Stylites lebte angeblich 30 (oder 40) Jahre lang auf einer 18 Meter hohen Säule in der Nähe von Aleppo. Die Säule symbolisierte in der Schrift (1 Tim 3,15) den Apostel und den ausgezeichneten

III.2.5.2.

62

Die Spätantike

Sloterdijk 1993, 100

8.1.

Onasch 1993, 203–208 Pilgerwesen

Mann. »Die Schau-Askese auf einer Säule, die schwindelerregend in den Himmel ragt, ist die klarste und monströseste Geste, die für die Redefigur ›sich Gott nähern‹ gefunden werden konnte.« Er wurde damit populär und löste einen Pilgerstrom aus – selbst Kaiser Theodosius II. soll sich Rat bei ihm geholt haben. Er drückte sein Antlitz in Ton. Die Scherben galten als wundertätig und konnten von den Pilgern erworben werden. Ein früher Typus auratischer Massenware. An vielen Orten entstanden Pilgerkirchen. Die berühmteste wurde als erste Kreuzkuppelkirche die von Handwerkern aus Antiochien um ein Oktogon errichtete Simeonskirche in Qalaat Seman (Simeonsburg) bei Aleppo in Erinnerung an den Mönch. Generell erlebte das Pilgerwesen, das sich eigentlich gegen viele Aussagen in den Evangelien richtete und von vielen Kirchenvätern auch kritisch gesehen wurde, ab dem 4. Jh. einen regen Aufschwung. Ziele waren die Stätten, an denen Christus wirkte, Märtyrer- und Heiligengräber und eben auch Stätten, an denen sich Mönche in Szene setzten.

223–225 Qalaat Seman, Details

3.3. Winkler 2003, 42–78

Speyer 1995b V.4.2.2.

Unter den Mönchen gab es auch theologische Ambitionen. Evagrius Ponticus, ein wegen einer Liebesaffäre aus Konstantinopel geflohener, der kappadokischen Theologie nahe stehender Lehrer, tauchte in Ägypten unter und lebte dort als Mönch. Seine Lehre war von Origenes beeinflusst. Die Befreiung vom Körper, Voraussetzung zur Einswerdung mit Gott, gelinge in der mönchischen Einsamkeit. Die Schau Gottes beschrieb er als Schau eines bildlosen Lichtes. Arsenius war angeblich am Hof in Konstantinopel Lehrer der Söhne des Theodosius I. Er verließ den Hof jedoch und verbrachte sein restliches Leben als Einsiedler in verschiedenen Wüsten. Der Syrer Afrahat war ein Anreger für die schon beschriebene antihellenistische Linie innerhalb der frühen Theologie. Der Gottheit Christi sei nicht begrifflich, sondern nur symbolisch-figurativ nachzuspüren. Besonders die Gemeinschaften lebten teilweise mit extremen Vorstellungen geschlechtlicher Askese, verbunden mit einer scharfen Ablehnung von Ehe und Familie. Dafür umfasste ihr Selbstverständnis Gnosis, Gehorsam und den Gottes- und Menschendienst. Die östliche Mönchsbewegung war Vorbild für den Westen. Johannes Cassianus lernte nicht nur die Lehre des Evagrius Ponticus, sondern vor allem die Regel des

63

Spätantike und frühchristliche Kunst

Pachomios in Ägypten kennen und brachte sie in den Westen, wo sie von Hieronymus ins Lateinische übertragen wurde. Sie bildete eine Anregung für die Benediktinerregel. Man schreibt Cassian die deutlichste Formulierung eines in der Väterzeit entstandenen vierfachen Schriftsinns zu, der Grundlage der Schriftexegese war und den man in folgenden Merkvers bündelte: »Littera gesta docet, qui credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.« (»Der Buchstabe lehrt das Geschehene, was du glauben sollst, die Allegorie, der moralische Sinn, was du tun sollst, wohin du streben sollst der nach oben weisende Sinn.«) Im mittelalterlichen Byzantinischen Reich entwickelte sich das Mönchtum rasant. Ab dem 6. Jh. war Byzanz »vermöncht«. Die Klöster entwarfen sich jeweils ihre eigene Regel oder bezogen sich auf Regeln anderer, angesehener Klöster. Orden im westlichen Sinn gab es nicht, wohl aber konturierte Bewegungen. Eine ferne Resonanz des Antonius und des Arsenius fand sich im Hesychasmus im 13. Jh.s (griech. hesychia/Ruhe des Herzens). Es war eine Bewegung, die mit Meditations- und Atemtechniken der alten mönchischen Bemühung, zur inneren Ruhe zu gelangen, einen Namen gab. Gregorios Palamas wurde zusammen mit Gregorios Sinaites ihr streitbarer Wortführer. Palamas war ein Feind der Philosophie und des Humanismus. Der Hesychasmus vertiefte die Kluft zwischen dem orthodoxen Osten und dem inzwischen in die aufgeklärte Kultur der Renaissance gleitenden Westen. Er verhinderte auch, dass die nun in den Osten sickernden, ins Griechische übersetzten scholastischen Schriften der rationalen Theologie des Westens dort Fuß fassen konnten. Manchmal wird die Starrheit der byzantinischen Kunst auf den Einfluss des Hesychasmus zurückgeführt. Man kann jedenfalls davon ausgehen, dass dieser alternative Weg gegenüber der westlichen Aufklärung tiefer wurzelte als in einer eher kurzzeitigen religiösen Strömung, eben in der ganz anderen philosophischen Tradition. In der Tat zeigte der byzantinische Künstler »keine Neigung, sich im abendländischen Sinne weiterzuentwickeln, denn er verstand seine Aufgabe immer darin, eine Ergänzung zur Liturgie zu schaffen. […] Er behandelte ewige Wahrheiten, die sich niemals verändern.« Es reichte aber immerhin aus, dass es deswegen auch im Osten zu Kritik am Hesychasmus kam. Barlaam von Kalabrien verspottete die psychosomatische Praxis der Athosmönche und beschwor eine schwere theologische Kontroverse im Osten herauf. Demetrios Kydones aus Thessaloniki trat für die lateinische Philosophie ein, übersetzte Thomas von Aquin. Trotzdem blieb der Hesychasmus der bevorzugte Lebensstil des östlichen Mönchtums.

Beck 1994, 207

Hesychasmus

Soustal 2009, v.a. 71–76 Beck 1994, 203

Runciman 1978, 233f

Kapriev 2005, 252 Reid 1997, 19f

5.0. Spätantike und frühchristliche Kunst Die Epochenbezeichnung »Spätantike« lässt sich, wie schon gesagt, mit einer eindrücklichen Kunstproduktion assoziieren. Abgesehen von der Veränderung der antiken zur spätantiken Kunst, geht es um das Verhältnis von spätantiker und frühchristlicher Kunst. Entsprechend der konstitutiven Bedeutung der antiken phi-

2.0.

64

Die Spätantike

3.5.

Neumaier 1856, 6 Ruskin 1846, III

Deichmann 1983, 167

Veyne 2009a, 103f

Sybel 1906a; Sybel 1906b

Rice 1993, 9 Grabar 1964, 29 Koch 1995, 7

Kemp 1994, 17

6.2.3.

losophischen Konzepte bei der Entstehung des Christentums liegt es nahe, auch das Selbstverständnis einer ausdrücklich christlichen Kunst und ihre Unterscheidbarkeit von den griechisch-römischen Vorbildern zu befragen. Die Frage, was christliche Kunst ganz generell sei, bewegte vor allem das 19. Jh. Die Debatte gipfelte unter dem Einfluss des Deutschen Idealismus darin, das Geistige (also die »Pneuma-Seite«) einer christlichen Kunst gegenüber dem Sinnlich-Schönen des Heidentums auszuspielen. Christliche Kunst habe sich von sinnlicher Schönheit in die Sphäre geistig-himmlischer Schönheit erhoben. Sie sei ein einzigartiges sursum corda gewesen. Ähnlich argumentierte John Ruskin, der nirgendwo in der heidnischen Antike »irgendeine gehobene Verfassung der Seele« zu entdecken vermochte. Dieser Ansatz wurde bis ins 20. Jh. fortgeführt. Christliche Kunst sei mit einer Abstraktion ins Zeichenhafte verbunden. »Die Darstellungen wurden zum Zeichen« und der »Ideismus« der neuen Kunstform sei an die Stelle des »Similismus« getreten. Eine christliche Kunst sei – so wird unterstellt – aufgrund ihrer geistigen Qualität gegenüber einer mimetisch abbildenden Kunst der späten Antike eine Kunst ab­strakter Symbolik. Hier wird die kaum bestrittene Tatsache der fehlenden Naturtreue spätantiker Kunst, die in die christliche Kunst übernommen wird, mit dem Pneuma-Sarx-Schema ideologisch überformt. Eine genau gegenteilige These marginalisierte im 20. Jh. das Christliche der spätantiken Kunst. Die christliche Kunst habe sich – so hieß es jetzt – keiner anderen als der vorgegebenen Kunst bedient und das sei die antike gewesen. Altchristliche Kunst gehöre in die Altertumswissenschaft und nicht in die Theologie. Darin spiegelt sich einerseits der Positivismus des 19. und 20. Jh.s, andererseits wiederholt sich in dieser Debatte nur, was auch schon für die Entwicklung der frühen Theologie galt, die tief in der antiken Gedankenwelt wurzelte. Die Mehrheit der Autoren geht heute davon aus, dass sich mit Konstantin zwar die Religion, damit aber nicht notwendig auch die Kunst geändert habe. Die christliche Kunst bewegte sich weiterhin in der antiken Terminologie bei durchaus erfolgter Erweiterung des Vokabulars. Man machte diese Terminologie »für die neuen Bedürfnisse nutzbar« und »christianisierte« sie. Ging die alte Theorie immer von einem autochthonen christlichen Corpus aus und versuchte dann, die Eigenart einer christlichen Kunst zu definieren, versteht man heute das theologische Corpus weitgehend als Umcodierung griechischer Motive und die Kunst als deren Spiegelbild. Wolfgang Kemp schärft diesen Gedanken weiter und sieht in der christlichen Kunst einen »Kontext über dem Text«, also eine neue Bedeutung über dem alten Text der antiken Kunst. Demnach vermag sie selbst die Elemente einer Aussage und die Regeln der Kombination dieser Elemente (Syntax) festzulegen sowie das Verhalten der Elemente in Kombination mit anderen (Grammatik). Der Betrachter wird zu einem strukturellen und synthetisierenden Betrachter, der nicht mehr in einem geschlossenen, einheitlichen Mythos steht (wie in der Antike), sondern in einem Kontext, mit dessen Syntax und Grammatik eine Entschlüsselung einzelner Elemente zu einem ganzheitlichen Sinnentwurf möglich ist. Von diesem Ansatz her entschlüsselt Kemp auch die Erzählstruktur der Bildergeschichten in den spätantiken Basiliken.

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Spätantike und frühchristliche Kunst

Diese Bildergeschichten sind für Kemp ein Beispiel dafür, dass die Kunst der Religion nicht nachgeordnet ist, nicht die Theologie nur illustriert und die Heilige Schrift reproduziert, sondern dass sie selbst Organon einer religiösen Kultur ist. Neben der Frage nach dem Wesen der christlichen Kunst fand eine Debatte über deren Geographie statt und rückte Zentren wie Alexandrien, Antiochien, Karthago, das Augustus nach der Zerstörung im 3. Punischen Krieg glanzvoll erneuern ließ, und Konstantinopel neben Rom wieder in das Bewusstsein. Teilweise waren es jene Zentren, die bei der Entstehung des Christentums eine Rolle spielten. Man kann angesichts der divergierenden Meinungen zu diesem Thema folgenden Pfad der Argumentation vorschlagen. Es ist offensichtlich, dass das Christentum keine neue Kunst erfunden, sondern die antike umcodiert hat. Dazu bedurfte es allerdings eines (kunst-)philosophischen Hintergrundes, der die neuen Codes ermöglicht hat. Die Schwierigkeit einer Antwort auf die Frage nach diesem Code entspricht dem Schwanken in der Theologiegeschichte zwischen der Betonung des Leiblichen oder des Geistigen als dem Proprium der christlichen Lehre. Ganz anders als der das Geistige betonende Idealismus meinte etwa der Romanist Erich Auerbach, die christliche Kunst habe einen »Realismusschub« ausgelöst, im Sinne der Betonung der leiblichen Einmaligkeit des Weltseins, das durch die christliche Botschaft gegenüber der Antike so geadelt worden sei. Hans Robert Jauß aktualisierte diese Position und machte sie über die Stufen der Katharsis und des Mit-Leids im Sinne der imitatio Christi anschlussfähig für Kennzeichnungen der modernen Kunst als Ästhetik des Kontingenten, Individuellen, ja Hässlichen. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich eine Frontstellung zwischen antiker Lebensbejahung und Sinnesfreude auf der einen und christlicher Lebensverneinung zugunsten einer erhobenen Seele auf der anderen Seite weder an den Kunstwerken selbst noch an den philosophischen Konzepten festmachen lässt. Zutreffender wäre als Kriterium die Dichotomie zwischen einer antik-platonisch-neuplatonischen (die aristotelische Ästhetik geht hier andere Wege) Verneinung des Sinnlichen samt einer Spiritualisierung auf der einen und dem entscheidenden Gehalt des Christentums: Inkarnation und Kreuzesgeschehen auf der anderen Seite. Namentlich für die frühchristliche Kunst kann man mit dieser Dialektik einiges an Klärungen erreichen. Die platonisierende Vermeidung des Sinnlichen hat durch mannigfache Strategien der Spiritualisierung, etwa Ablösung des Realen durch Zeichen oder symbolische Abstraktion, einen Impuls für eine frühe Abstraktion ausgelöst. Die christliche Tradition wiederum wurde dort bilderfreundlich und figurativ, wo sie den inkarnatorischen Impuls in den Vordergrund stellte. Darauf wird zurückzukommen sein.

5.1. Die christliche Neucodierung antiker Kunst – Zeit und Themen der ­ frühchristlichen Kunst Heute besteht (gegenüber älteren Ansichten, die den Anfang bereits am Ende des 1. Jh.s ansetzten) ein Konsens darüber, die christliche Kunst nicht vor dem 3. Jh. beginnen zu lassen. Die frühen Christen sahen in ihrer Erwartung des unmittelbar

3.5.

Auerbach 1929, 22

Jauß 1991, 165–243

66

Die Spätantike

Sauser 1966, 44 1 Kor 3,16

bevorstehenden Wiederkommens Christi keine Notwendigkeit für ein festes Kulthaus mit künstlerischer Gestaltung – getreu der Worte des Apostels Paulus im Korintherbrief: »Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« Schwieriger ist das Ende der frühchristlichen Kunst anzugeben. Die Vorschläge kreisen um das 6. und 7. Jh. Mehrere historische Daten stehen dabei zur Auswahl: die Eroberung der einschlägigen Gebiete durch die Araber, die neue Formensprache Justinians in Konstantinopel oder der Einfall der Langobarden in Italien und damit auch das (späteste) Ende der Spätantike. Geographisch reicht die frühchristliche Kunst entsprechend dem Ausbreitungsgebiet des Römischen Reichs über jene Grenzen hinaus, die sich diese Abhandlung gesetzt hat. Man findet ihren (kulturell abgewandelten) Niederschlag im Sudan, in Äthiopien, Mesopotamien, am Persischen Golf, in Armenien und Georgien.

5.1.1. Von der heidnischen zur christlichen Kunst

Jensen 2000, 22 Umcodierung

Ebd., 74, auch 16f

Barral i Altet Xavier in Bruneau u.a. 1996, 230 Koch 2000, 15–28 Kraus 1967, 126

Alföldi 1999, 197

Kreuz

Unabhängig von vielen Mutmaßungen über die Kunstfeindlichkeit der frühen Christen, war ab dem 3. Jh. Kunst sowohl von der Gemeinde als auch von der klerikalen Leitung toleriert. Es wurde auch schon festgestellt, dass eine scharfe Grenzziehung zur griechisch-römischen Kunst kaum möglich ist, weil christliche Motive nicht aus dem Nichts auftauchten, sondern es zu einem Umcodierungsvorgang kam, wo manchmal pagane von christlicher Kunst nur durch den Kontext – nach Kemp durch die je eigene Syntax und Grammatik – zu unterscheiden war. »Christian art has always made use of available symbols but imbued them with new significance.« Es kann gerade als Besonderheit angesehen werden, dass die christliche Kunst aus der antiken Kunst kontinuierlich herauswuchs. »Bis zur Etablierung einer eigenen christlichen Ikonographie übernahmen die Christen für ihre Sarkophage Motive wie den Hirten, die Betende oder bukolische Szenen, die sich problemlos in die neue Religion integrieren ließen. Die Sarkophage spiegeln die Themenwahl der städtischen Eliten, die trotz ihres christlichen Jenseitsglaubens und ihres neuen Gottes eine klassische Bildung erhalten hatten. Die Christianisierung der Darstellung hat sich schrittweise vollzogen […].« Es gab eben ein langes Nebeneinander von christlicher und heidnischer Kunst. »So wächst die christliche Kunst aus der heidnischen heraus, die nicht plötzlich stirbt, sondern sich in ihren Bildmotiven neben der neuen Staatsreligion noch lange hält.« In konstantinischer Zeit begann die »Übersetzungsarbeit« der alten römischen Symbole. Die römische Victoria, deren Altar in Rom mehrmals entfernt und wieder aufgestellt wurde und für dessen Erhalt (als paganes Heiligtum) der römische Senator und Rhetor Quintus Aurelius Symmachus kämpfte, wurde von Ambrosius christianisiert und ab dem 5. Jh. zur Engelsfigur. Sie war ursprünglich von Octavian von Tarent nach Rom gebracht worden als Siegeszeichen und als Symbol für die Beständigkeit des Römischen Reiches. In der Capella Graeca der Priscilla-Katakombe steht das Motiv des verbrennenden Phönix, das als Motiv der Auferstehung gedeutet wurde. Das Kreuz, römisches Ordnungssystem und Hinrichtungsinstrument, wurde endgültig vom Marterholz

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Spätantike und frühchristliche Kunst

zum Symbol des Sieges über den Tod. Das ist nichts weniger als die Aneignung der alten römischen Ordnung durch das Christentum. Allerdings bleibt erstaunlich, dass dieses zentrale Motiv des Christentums, das das gesamte Mittelalter durchzieht, im frühen Christentum (vor allem in Form des Kruzifixes) erst so spät und sehr zaghaft Eingang in die Kunst fand. Ob dies einer Abneigung entsprach, das Folterwerkzeug zu zeigen und das Missverständnis fürchtete, Christus sei eines natürlichen Todes gestorben, ob es der spätantiken Abneigung gegenüber der Emotion und dem Leiden geschuldet war oder ob es als Ausdruck des christologischen Streits verstanden werden muss, wird in der Fachliteratur angeregt diskutiert. Als älteste Kreuzesdarstellung wird meist das Spottkreuz vom Palatin aus dem 3. Jh. genommen, wobei dessen christliche Bedeutung fraglich ist. Um 430 entstand die Kreuzigungsdarstellung an der Türe der Kirche Santa Sabina auf dem Aventin in Rom. Aus 586 datiert die Kreuzigungsszene im syrischen Rabula-Evangeliar. Bis ins 7. Jh. gibt es zwar öfters das Kreuz, aber das Kruzifix bleibt selten. Das Staurogramm (in vorchristlicher Zeit wird es als Monogramm verwendet) hingegen, also tau und rho (stauros/Pfahl, Kreuz) oder das Christusmonogramm, chi und rho (christos), das nach der Schilderung von Laktanz Konstantin erschienen sein soll, taucht in den ältesten christlichen Artefakten, den christlichen Papyri, auf Silbermedaillons und Münzen auf und war ab dem 4. Jh. weit herum bekannt. Tertullian empfahl, alle Alltagstätigkeiten von diesem Logo begleiten zu lassen. In der Tat sind viele gewöhnliche Wein- oder Ölkännchen und andere Gebrauchsgegenstände mit dem Monogramm erhalten. Mit Blick auf die Anwendungsgebiete begann die frühchristliche Kunst beim Kult des Abendmahls und beim Ereignis des Todes, also in der Anonymität geschmückter (römischer) Privathäuser sowie in der Grab- und Sarkophagkunst, wo Bild und Plastik verschmolzen. Um 200 erhielt der Diakon (und spätere Bischof von Rom) Callixtus vom römischen Bischof Zephyrinus den Auftrag, ein coemeterium (Grabanlage, eigentlich: Schlaf- oder Ruhestätte) für die christliche Gemeinde zu organisieren. Nach dem Vorbild der antiken (auch jüdischen) Hypogäen entstand die erste Katakombe (coemeterium ad catacumbas/Ruhestätte zur Senke: für eine Gegend an der Via Appia) im weichen Tuffgestein unter der Stadt. Ihr schlossen sich die Priscilla-, Praetextatusund Domitilla-Katakombe an. In Rom entstanden etwa 60 solche unterirdische Bestattungshöhlen mit knapp 200 Kilometer Gängen und 750 000 Gräbern, wobei an die 25 000 Inschriften gesichert werden konnten. Wohlhabende Familien ließen sich private Grabkammern errichten und selten – namentlich für Mitglieder der Kaiserfamilie – entstanden oberirdische Grabbauten (Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna, Santa Costanza und Sant’ Agnese in Rom). Anfangs blieb man aus Gründen der Vermeidung von Luxus der Malerei gegenüber zurückhaltend, schon bald aber entwickelte sich eine künstlerische Ausgestaltung gemäß der sozialen Hierarchie.

Norberg-Schulz 1979, 74

Maser 1972; Kaufmann 1917, 301ff

Black 1970, 327 Alföldi 1999, 194 Tertullian, Adv. Marc. 3, 22 226 Sarkophag, Magier mit phrygischer Mütze, San Vitale; Ravenna

Katakombe

Koch 1995, 80 Milburn 1988, 19–57

68

Die Spätantike

Zimmermann Norbert in Kat. 2013a, 353

Klauser 1927, 123–127

Buchmalerei

Partsch 2004, 63

In der Callixtus-Katakombe mit den alten, reich ausgeschmückten Lucina-Krypten (der Name Lucina ist historisch unklar) vermengen sich antike Mysteriendarstellungen, dekorative Allegorien, Genien- und Maskendarstellungen mit den typisch frühchristlichen Motiven, die sich auch auf den Sarkophagen finden. Es gab hier wie in vielen frühen Kirchen im Orient eine zwanglose Vermischung von heidnischen und christlichen Sujets, ohne dass man Spuren eines Bilderstreits gefunden hätte. Jonas im Weinlaub in der Callixtus-Katakombe entspricht dem schlafenden Endymion, dem Zeus einen ewigen Schlaf versprach. An anderer Stelle wird Daniel als antiker nackter Heros dargestellt. Die sitzende Isis mit dem Horusknaben lieferte zusammen mit den antiken Mustern der Gottesgebärerin und Göttermutter das Modell für die Darstellung Marias mit dem Kind. 2010 entdeckte man in einer Katakombe Bilder der Apostel Petrus und Paulus, Erstdarstellungen von Andreas und Johannes und der als erster Märtyrerin verehrten Thekla. Eine der spätesten Katakomben ist die anonyme Neue Katakombe an der Via Latina (vermutlich wohlhabender Auftraggeber) mit außergewöhnlichen Wandmalereien, die 1955 entdeckt wurde. In den Domitilla-Katakomben, die Gräber aus dem 1. und 2. Jh. enthalten, gibt es spätkonstantinische Grüfte und Kapellen mit profanem und christlichem Bildprogramm. Die Malerei der Katakomben hatte keine genormte Ikonographie, vielmehr handelte es sich um »Unikate, die auf die konkrete Bestellung eines Grabherrn hin angefertigt wurden.« Die späten Katakomben ahmen architektonisch die oberirdischen Kulträume nach, haben gewölbte Kapellen mit bemalten Apsiden. Anfang des 5. Jh.s wurde in der Katakombe Santi Pietro e Marcellino ein bärtiger Christus mit Nimbus thronend zwischen Aposteln dargestellt. Darunter bringen Märtyrer die Anliegen der Verstorbenen vor. In der Mitte erhebt sich ein Berg mit dem Lamm und den vier entspringenden Paradiesflüssen. Dies dürfte eines der ältesten Katakombenbilder sein, das bereits formal in das Mittelalter reicht. Lange Zeit hielt sich die These, dass die Katakomben auch für Liturgiefeiern in Zeiten der Verfolgung gedient haben sollen. Das wird aus vielen Gründen schon lange nicht mehr aufrecht erhalten, allenfalls sepulkrale Feiern sind denkbar. Im 4. Jh. war die Bildung einer einheitlichen christlichen Formensprache abgeschlossen. Neben den üblichen Motiven, den zahlreichen Christustypen, pflegte die frühchristliche Kunst einen (heidnischen) Dekorationsschatz (Vegetabiles, Girlanden, Genien) und an die Antike angelehnte narrative Darstellungen. Bezaubernde Beispiele dazu finden sich in der Umgebung von Alexandrien, in Syrien oder in Ravenna. Insbesondere die spätere mittelalterliche Buchmalerei wurde ein Hort solcher Kunst. Die Buchmalerei begann erst nach dem Übergang von der Buchrolle (Volumen) zu dem leichter zu handhabenden Buch, den von zwei Holzdeckeln eingeschlossenen Pergamentblättern (Codex/gespaltenes Holz), kurz nach der Zeitenwende. Die Anfänge der Buchmalerei sind nicht mehr zu eruieren. Der älteste erhaltene Codex mit dem Neuen Testament in griechischer Sprache ist der Codex Sinaiticus aus Ägypten oder Palästina aus dem 4. Jh. Als früheste Beispiele illustrierter Codices aus Konstantinopel gelten die Quedlinburger Itala (frühes 5. Jh.), eine altlateinische Bibelübersetzung, von der einige

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Spätantike und frühchristliche Kunst

Seiten erhalten sind, und der Wiener Dioskurides (Anicia-Juliana-Kodex, um 512), 485 Pergamentblätter einer Sammelhandschrift antiker medizinischer Texte (Materia Medica) des Pedanios Dioskurides aus dem 1. Jh. Die mit komplexen hellenistisch beeinflussten Bildgeschichten ausgestattete, vielleicht aus Syrien stammende Wiener Genesis (6. Jh.) gehört wie das Evangelium von Rossano (6. Jh.) – in Konstantinopel oder Antiochien entstanden – zur justinianischen Blüte der reich bebilderten Prachthandschriften. Der hellenistisch geprägte Pariser Psalter aus dem 10. Jh. wird bisweilen als Kopie eines Vorbildes aus Alexandrien angesehen. Er enthält viele klassische Motive. Das vielleicht schönste aus Konstantinopel auf uns gekommene Manuskript sind die Homilien des Hl. Gregor von Nazianz (um 880). In diesen Zeugnissen wird der Unterschied zur gleichzeitig sich entwickelnden byzantinischen Statuarik und Erhabenheit besonders augenscheinlich. Die Darstellungen sind duftig, verspielt, spontan, sie zeigen Raum und Landschaft und haben geradezu expressiven Charakter.

227 Jakobsgeschichte in der Wiener Genesis

Rice 1993, 78ff

5.1.2. Themen der frühchristlichen Kunst am Beispiel der Grab- und ­ Sarkophagkunst Ende des 4. Jh.s wurden die Katakomben durch oberirdische Grabbauten, Friedhofsbasiliken mit Sarkophagen, abgelöst. Es ist nicht ganz klar, weshalb die im 1. und 2. Jh. im lateinischen Westen übliche Verbrennung der Toten und die Urnenbestattung aufhörten. Fand man in dem im Jahr 79p verschütteten Pompeji neben Hunderten von Urnen nur einen Sarkophag, begann man im 2. Jh. die Toten in Sarkophagen beizusetzen. Der Name (griech. lithos sarkophagos/Stein, der Fleisch verzehrt) leitet sich von einer von Plinius verbreiteten Legende ab, wonach ein bestimmter Kalkstein aus Assos Leichen in 40 Tagen verwesen lässt. Seit Juvenal ist der Ausdruck Sarkophag belegt. Als erster Sarkophag mit eindeutig christlichen Motiven innerhalb römischer Genreszenen (allgemein: das Chi-Rho-Motiv oder eindeutige biblische Szenen) gilt jener in der Kirche Santa Maria Antiqua in Rom und stammt aus der Zeit zwischen 245 und 260. Der wichtigste Sarkophag aus dem 4. Jh. ist der zweizonige Bassus-Sarkophag (des kurz vor seinem Tod getauften Stadtpräfekten Junius Bassus) aus Rom. Ihn schmücken Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Er ist ein erlesenes Beispiel für den Übergang der Motive der Katakombenmalerei in die Sarkophaggestaltung. »Bei der Übersetzung in die Bildkunst eines Sarkophages erhalten die Szenen nun einen klassisch-römischen Zug – sie werden aus den Traditionen der römischen Bildkunst heraus neu gebildet.« Aus der Zeit zwischen dem 3. und 6. Jh. sind bislang etwa 15 000 pagane und 2500 christliche Sarkophage bekannt, überwiegend aus den Zentren Rom (bis gegen 400), Ravenna, Athen, Konstantinopel und Mailand. Die Kunsthistorikerinnen unterscheiden verschiedene Typen, den Fries-, Säulen-, (Lebens-)Baum-, Relief- oder Truhensarkophag. Sie hatten flache, dachförmige oder tonnenförmige Deckel (Koch 1993 ohne A ­ mbition einer p ­ hilosophischen Deutung ). Die ursprünglich in satten Farben bemalten Kalkstein- oder Marmorsarkophage wurden in Werkstätten als Massenware hergestellt.

Sarkophag

Engemann 2014, 75

Partsch 2004, 122ff

Wohlmayr 2011, 363

70

Die Spätantike

Klauser 1927, 145

Die antiken Grabanlagen und Sarkophage boten ein reiches, paradigmatisches Bildmaterial zur Spende von Trost und Hoffnung auf ein Weiterleben, Mahl- oder Abschiedsszenen. Von da her berührten sich »christliche Totenpflege und heidnischer Totenkult in ihren Bräuchen« außerordentlich eng. Vielfach waren diese Szenen grundiert durch neuplatonische Deutungsmuster. Der Neuplatonismus bewahrte eine Geschlossenheit in seinem System, weil wie die Differenz von Gut und Böse auch jene von Leben und Tod durch die zyklisch-spiralförmige Abstiegs- und Aufstiegsdynamik aufgefangen wurde.

228 Christus als Lehrer, früchchristl. Sarkophag; MAA 229 Trinitäts­ sarkophag; MAA

Rice 1993, 16ff Deckers 2007, 20ff Ferguson 2003, 248 Janes 1998, 101 Malerei und Mosaik

II.3.2.6.1. Partsch 2004, 160ff Engemann 2014, 115ff

Dieser Kreislauf von Leben und Tod passte gut für Sarkophage. Der Tod wird eingebettet in den Zyklus des Lebens. Auch dionysische Themen auf den Sarkophagen verbinden das Mysterium der Unsterblichkeit mit Tanz und Musik. Wir stoßen auf die alten Quellen der Mysterienreligionen ebenso wie auf Motive der Seelenreise. Thematisch verlief der Übergang von der Antike zum frühen Christentum, wie schon angemerkt, fließend, mit neutralen Themen. Zeichenhafte und symbolische Darstellungen, Fischer-, Hirten- oder Philosophenszenen sind weder klar heidnisch noch eindeutig christlich einzuordnen. Die Verschiebung zu einer christlichen Bedeutung ist bisweilen nur aus dem Kontext zu erkennen. In den östlichen Zentren Alexandrien oder in Syrien bestanden pagane und christliche Kunst lange Zeit nebeneinander. Auf den Darstellungen wurde das alte heidnische mehr und mehr durch biblisches Personal ersetzt. Was für die Sarkophagkunst gilt, gilt in ähnlicher Weise für Malerei und Mosaik. Im 4. Jh. wurde die Bemalung von Gräbern und Kirchen üblich sowie die Mosaizierung der Böden und Apsiden. Eine der frühesten Wandmalereien mit Szenen aus dem Neuen Testament stammt aus der Hauskirche von Dura Europos (um 233). Das Fußbodenmosaik der frühchristlichen Kirche in Aquileia (das älteste eines christlichen Kultbaus, vielleicht um 310) hat möglicherweise profane Wurzeln. Man vermutete lange, dass christliche Szenen erst später sukzessive eingebaut wurden. Erhärten ließ sich dies bislang allerdings nicht. Ähnliches könnte sich bei den Mo-

71

Spätantike und frühchristliche Kunst

saiken in Madaba nahe dem Toten Meer ereignet haben, Beispiele, die besonders eindrucksvoll zeigen, wie sehr heidnische neben christlichen Motiven existierten. Die Umcodierung begleiten Romanisierung, Entjudaisierung und Christianisierung. Als Beispiel sei die Umwandlung der Nomadenzelte der Israeliten auf den Mosaiken in tabernacula (Giebelhäuschen), wie sie als römische Soldatenbaracken üblich waren, erwähnt. Die ausdrückliche christliche Kunst begann als allegorische Symbolkunst (was die eingangs erwähnte Theorie der Vergeistigung der Kunst durch das Christentum ausgelöst hat). Im Banne des jüdischen Bilderverbots wurden zunächst Symbole dargestellt: prominent der Fisch (in der Antike in Mahldarstellungen, jetzt für das eucharistische Mahl; zudem bedeutete Fisch auf Griechisch (Ichthys) das Akronym für Jesus, Sohn Gottes und Erlöser). Als weitere Symbole gab es die Taube (sie stand schon im Hellenismus für die erlöste Seele, jetzt kommt die Symbolik des Heiligen Geistes dazu), der Pfau (für die Unsterblichkeit), vor allem aber das in der Schrift gut begründete Lamm – vielleicht eine Antwort auf den im Vorderen Orient sowie im Mithras-Kult verbreiteten Stier. Die Symbolik von Tieren war vermintes Gelände, denn der heidnische Götzendienst bediente sich ja auch der Tiersymbolik, die sich aber uminterpretieren ließ. Am Beginn der christlichen Kunst steht demnach der von Clemens von Alexandrien definierte Motivschatz. Andere berühmte Motive waren das vor allem in Nordafrika (neben Daniel in der Löwengrube) beliebte Jonasmotiv, das als Initiation in den biblischen Motivschatz schlechthin gilt und die Idee der christlichen Rettung zum Ausdruck bringt, »nicht mehr im Sinne eines figuralen Zeichens, sondern als Drama im geistigen Sinn«. Eine Steigerung dieser Rettungsidee findet sich in der Darstellung Noahs. Die Arche symbolisiert die Kirche als einen Hort der Rettung vor dem Untergang. Sie wird zur bildlichen Umsetzung des von Cyprian von Karthago zuerst formulierten Mottos: salus extra ecclesiam non est (außerhalb der Kirche gibt es kein Heil). Es bieten sich mit dem Holz der Arche, das auf jenes des Kreuzes bezogen wird (Justin der Märtyrer), mit dem Wasser, das als das Wasser der Taufe interpretiert werden kann, eine Fülle biblischer Metaphorik. Beliebt waren die geplante Opferung Isaaks durch Abraham (Vorwegnahme des Opfers Jesu am Kreuz), Moses, der Wasser aus dem Felsen schlägt (was vielleicht auf die Taufe anspielt). Es fällt auf, dass es etwa vier Mal so viele Darstellungen aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament gibt, was zu verschiedenen Erklärungsversuchen geführt hat. Trotzdem war die Zusammengehörigkeit des Alten und Neuen Testaments (Concordia Veteris et Novi Testa-

230 Heidnische Motive in der Hippolytkirche in Madaba; Jordanien 231 Heidnische ­Königinnen, Mosaik; APM

Kemp 1994, 167 allegorische ­Symbolkunst

Schmidt 1981 Lowrie 1947

4.2.1.

Gerke 1967, 45

Jensen 2000, 68f

72

Die Spätantike

Sauser 1966, 104

Ebd., 17

Ebd., 12ff

menti) ein Grundzug der altchristlichen Grabeskunst. Reizvoll sind Mischungen von Motiven: Die Seenotszenerie auf der einen und die friedliche Idylle mit dem Hirtenmotiv, wo Schafe auf festem Grund stehen, auf der anderen Seite, der Hirte, der zugleich ein Philosoph ist (Hypogäum der Aurelier am Viale Manzoni, Rom). Oder die Verbindung von Moses, der Wasser aus dem Felsen schlägt, mit der Szene der Umwandlung von Wasser in Wein in Kanaa. Weite Verbreitung fand die Mahlszene, häufig in bukolischem Ambiente. Die Agape-Darstellung mit Brot, Fischen und Wein wird – in Umdeutung der antiken Symposiums-Darstellungen – stets zum Sinnbild des letzten Kultmahls Christi. Die weite Verbreitung der Motive lässt es plausibel erscheinen, die frühchristliche Kunst als Agens sowohl der Ausbreitung der christlichen Lehre als auch ihrer Definition zu sehen und nicht bloß als Bebilderung eines bereits fertigen Kanons. Kunstphilosophisch war diese Zeichenhaftigkeit der Kunst nicht nur Ausdruck der frühen Allegorese (Prudentius), sondern auch Ausdruck dafür, dass dem menschlichen Auge der Zutritt zur unverhüllten Wahrheit des Göttlichen verwehrt bleibt. Nach Macrobius muss das Mysterium von einer schützenden Decke von Symbolen gleichsam wie mit Windeln verhüllt werden. Inwieweit die Symbolik den Zugang zur Wahrheit erleichterte oder erschwerte, wurde noch im 20. Jh. diskutiert. Durch die reiche Symbolik ersparte man sich jedenfalls die unangenehme Diskussion um das Aussehen des Heilandes.

5.1.3. Motive der Christusdarstellung 232 Christus als ­antiker Schafträger (3./4. Jh.); AMS

Ducellier 1990, 145 Jensen 2000, 35ff Stock 2001, 137–163 Jensen 2000, 37–41 Legner 1959

III.2.5.2. Eddy 1996

Die Angelegenheit um das Bild Christi war heikel und die Geschichte begann mit einer großen Palette von Motiven. Die Symbolik beschränkte sich aber nicht nur auf abstrakte Zeichen, sondern auf figurale Entwürfe, Personifikationen oder repräsentative Figuren, die aus antiken Vorbildern übernommen wurden und sich in konstantinischer Zeit verstärkten. Die Oransfigur, besonders auf Grabdenkmälern, ließ sich direkt übernehmen, nicht einmal die Symbolik musste geändert werden. Der antike Schafträger bildete das verbreitete Motiv für den Guten Hirten. Der Hirt (als idealisierende Projektion des Städters) war in den Bucolica Vergils das Symbol für das anbrechende Friedensreich. Meist auf der Decke von Sakralhäusern und in Katakomben abgebildet, verschmolz der Schafträger manchmal mit Orpheus, der jetzt als göttlicher Sänger mit seiner Musik wilde Tiere zähmte und sie zur friedlichen Gemeinde formte. Clemens von Alexandrien setzte Christus als wahren Orpheus, der Löwen in Schafe verwandelte, vom heidnischen Orpheus ab. Auch der Hirte – in den Evangelien immerhin Zeuge bei der Geburt Christi – hat, indem er die Menschen auf den rechten Weg bringt, Anteil an Christus, dem Lehrer. Bärtige hellenistische Philosophen oder Heilheroen wie Asklepios waren Vorbild für Christus als Philosoph. Die Zeitgenossen erlebten die Philosophen zumeist als kynische Wanderprediger. Das Motiv des Kynikers passte gut zu Christus, der sich für die Randgruppen, für Arme und Kranke einsetzte und auch für radikale Gleichheit stand – vielleicht ist er

73

Spätantike und frühchristliche Kunst

ja tatsächlich dem Christus des Evangeliums am nächsten. Friedrich Gerke sah im Bild des kynischen Philosophen den »schärfsten bildlichen Protest gegen die Götterbilder der Griechen und Römer«. Tertullian beschrieb ihn so: »Er hatte weder einen Leib menschlicher Wohlgestalt, noch einen solchen himmlischen Glanzes […] Es hungerte ihn unter den Augen des Teufels; es dürstete ihn in Gegenwart der Samariterin; er weinte über Lazarus; er hatte Angst im Angesicht des Todes, denn das Fleisch ist schwach, ruft er aus, und zuletzt vergoß er sein Blut.« Der Philosoph nimmt bisweilen Züge des Lehrers der göttlichen Weisheit und Gehorsam fordernden Gesetzgebers an, »die erste Vorstufe zum Bild von Christus-Imperator und Christus-Basileus«. Auf den Kontext der zeitgenössischen Philosophenschulen, etwa jener des Justin des Märtyrers, habe ich schon hingewiesen. Interessant ist, dass frühe Christen die Bekleidung der griechischen Philosophen, den tribon, übernahmen, weil sie damit eine besondere moralische Auszeichnung verbanden. »The garment […] was a symbol of moral virtue, self-sufficiency and wisdom.« Dies ging einher mit der Intellektualisierung des Christentums. Schließlich kam es zur Verbindung des Lehrertypus mit der neuen christlichen Bedeutung der Taufe. Sukzessive wird hier ein paganes Motiv in ein neues Weltbild gestellt und mit neuer soteriologischer Bedeutung aufgeladen. Jesus erschien auch als Apollon oder als Dionysos, dabei kam es sogar zu Darstellungen mit ausdrücklich weiblichen Attributen, langen Haaren (gegen die Clemens von Alexandrien mit Berufung auf Paulus protestierte) und Brüsten. Die Deutungsversuche reichen von spezieller Darstellung für Frauen bis zur Funktion Christi als lebenspendend. Paulinus von Nola nannte Christus den wahren Apoll und meinte damit dessen Licht- und Sonnenkonnotation. Um die Mitte des 4. Jh.s entstanden die Passionsszenen – allerdings ohne den leidenden, vielmehr mit dem schönen, jugendlichen Christus, der immer »einem Sieger ähnlicher sieht als einem Leidenden«. Hintergrund war die Sakralisierung des Kaisers, die noch auf dem Boden der antiken Kulte, bevorzugt des Sol Invictus-Kultes, einsetzte. Dies reflektierte jetzt zurück auf die Christusdarstellung und es begann im 4. Jh. das Christusporträt. Christus erschien als christlicher Kaiser, als irdischer Stellvertreter des göttlichen Pantokrators. Zu den im Typus des Lehrers bereits vorhandenen Attributen kamen Nimbus, Gold und Purpur dazu. Die Bildidee des christlichen Kaisers trat auf vielerlei Arten auf. Er selbst wird – nach Eusebius – zum neuen Moses, der sein Volk in eine neue Zeit führt. Ein echter adventus also, der, auf der Ostseite des Konstantinsbogens in Form des Triumphzuges dargestellt, nicht nur die Heimkehr der Soldaten aus dem Krieg meint, sondern eben den Anbruch einer neuen Friedensepoche. Die triumphierende und himmlische Kirche war in konstantinischer Zeit verbreitetes Thema in den Apsiden – in Form von Tribunalszenen, kaiserlichen Empfangs- oder Gesetzgebungsszenen. Christus ist gleichsam aus der Privatsphäre der

Lang 2010, 121ff Gerke 1967, 47

Tertullian, De carne 9

Sauser 1966, 379 4.1.

Urbano 2013, 213

Jensen 2000, 124–128 Onasch 1993, 40

Gerke 1948, 32

8.1.

233 Christus auf dem Thron, S. Apollinare Nuovo; Ravenna

74

Die Spätantike

Deckers 2007, 24f

Bœspflug 2008, 158 Deckers 2007, 49

Schweinfurth 1954, 10

Christengemeinde getreten und zum Machtfaktor im Kaiserreich geworden. War Christus in aller Regel in den frühen Darstellungen noch in eine Gruppe eingebunden und nicht eine überzeitliche Figur der Verehrung, begann dies im 4. Jh. Ab dem 5. Jh. wird Christus auf dem Thron (oder auf dem Globus) mit den Insignien eines römischen Kaisers ausgestattet und posiert in kaiserlicher Aktion (In San Vitale um 547). Eine der ersten monumentalen Majestas Domini-Darstellungen dürfte das Mosaik in Hosios David in Thessaloniki aus dem 6. Jh. sein. Unter Justinian II. prägte man den Christustypus auf Münzen. Das Christusbild im Osten hatte mit der Übernahme der byzantinischen Königs- und Kaisersymbolik für Christus eine kanonische Form gefunden, die über Jahrhunderte unverändert blieb und sich so von den unzähligen unterschiedlichen Christusdarstellungen während der gleichen Zeit im Westen grundsätzlich abhob. »In seinen wesentlichen Zügen bleibt das Bild des thronenden Christus dasselbe in dem um 900 entstandenen Mosaik über der Königstüre im Narthex der Hagia Sophia in Konstantinopel und auf den Christusikonen des Semion Uschakov, der zur Zeit des Vaters Peters des Großen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts tätig war […].«

5.1.4. Die Sonnenkonnotation in der Konkurrenz mit dem Mithras-Kult

III.2.5.3. Mithras

Sol Invictus



234 Christus auf der ­Himmelskugel, San Vitale; Ravenna

Die frühchristliche Kunst stand nicht nur wegen ihrer spezifischen Lehre, sondern auch wegen ihrer Nähe zur paganen Kunst in einem Wettbewerb mit den in der Spätantike verbreiteten heidnischen Kulten: Isiskult, persische Gnosis, Asklepios, Vesta-Kult. Ein besonderer Konkurrent war der Mithraskult, der zahlreiche Parallelen zum Christentum aufwies. Für den alten, aus dem 2. Jt. stammenden indoiranischen Gott des Lichts, Mithras, entstand im 1. Jh.p in Rom ein neu anmutender Kult. Den Veränderungen der Gottheit in dieser langen Zeit nachzuspüren, ist ein schwieriges Thema der Mithras-Forschung, in der es sogar Theorien einer originären Entstehung des Kults erst in Rom gibt. Dass sich zumindest Versatzstücke auf eine lange Vergangenheit beziehen können, ist freilich unbestritten. Schon aus früher Zeit ist eine solare Konnotation bezeugt und, von ihr abgeleitet, galt der Gott als Ordnungsstifter (auch Lebensspender) und Wächter über geschlossene Verträge. Im Hellenismus wurde der Kult weiter gepflegt und Mithras rückte mehr und mehr in die Bedeutung eines Sonnengottes. Verschiedentlich war er bereits in alten Darstellungen mit Strahlenkranz aufgetaucht. Der römische Mithras-Kult verband ihn mit dem Sol Invictus, der unbesiegten Sonne, was auch einer Verehrungsform des Baal, Gott der syrischen Stadt Emesa, entsprach. In Darstellungen wurde ihm gerne durch eine phrygische Mütze ein orientalisches Ambiente verliehen. In der Mithras-Erzählung gibt es eine Reihe von Parallelen zur christlichen Erzählung. Mithras wurde in einer Höhle geboren und von Hirten angebetet. Es gab Initiationsriten, Wasser- und Bluttaufe, Mutproben, Einkleidung und einen initia-

75

Spätantike und frühchristliche Kunst

torischen Gang vom Dunkel zum Licht. Dazu kam ein Kultmahl mit Brot, Wein, Milch, Honig und Fleisch. Dem Mythos nach tötete Mithras im Rahmen seines Kampfes gegen das Böse einen Stier in der Höhle. Danach fuhr er in einer Quadriga in den Himmel. Er erschien als Kosmokrator – die Höhle als Zeichen des Kosmos –, der in der Tötung des Stiers neues Leben hervorbringt. Nicht ganz zu Unrecht wurde er vom französischen Historiker Ernest Renan im 19. Jh. zum großen Gegenspieler zu Christus aufgebaut. In der Tat war der MithrasKult schon durch seine weite Verbreitung, zu der seine Verwurzelung im Militär beitrug, ein ernster Konkurrent des jungen Christentums. Neuerdings hat man die Theorie der »Sodatenreligion« relativiert und sieht auch andere Netzwerke, freigelassene Sklaven, Zollbeamte, als mitverantwortlich für die rasche Verbreitung. Franz Cumont hatte in einem seinerzeit wirkmächtigen Werk Les religions orientales dans le paganisme romain (1906) die These vertreten, dass der Erfolg der orientalischen Religionen im römischen Kaiserreich den Weg für das Christentum frei machte. Es ging den Menschen dieser Zeit um Heil und Erlösung, wie sie es in den hellenistischen Kulten vorgespurt und im Christentum eingelöst erlebten. Auch wenn sich Cumont durch differenziertere Argumentation von einer im 19. Jh. verschiedentlich vertretenen einfachen Formel der Erschöpfung der römischen Religion durch den Einbruch orientalischer Kulte und dem folgenden Sieg des Christentums (etwa Georg Wissowa) abhob, bleiben manche Sichtweisen heute korrekturbedürftig. Trotzdem berührte Cumont einen bedenkenswerten Aspekt. Denn das religiöse Koordinatensystem hatte sich in der Spätantike verändert. Die zahlreichen seit dem späten 2. Jh. entstandenen Heiligtümer waren »ausnahmslos Verehrungsstätten für Gottheiten wie Isis et Serapis, Iuppiter Dolichenus, Kybele et Attis sowie Mithras oder den neuen Christengott […].« Es waren Kulte, die eine Erlösungshoffnung bedienten. Cumont hatte diese neuen Kulte vor allem dem Orient zugeschrieben, was man in der Fachliteratur als orientalismusverdächtig kritisiert hat, aber noch heute werden die künstlerischen Reste der spätantiken Anlagen in den Sale dei culti orientali in den Kapitolinischen Museen gezeigt. Es versteht sich von selbst, dass vor solchem Hintergrund die Ikonographie große Ähnlichkeiten mit der frühchristlichen Kunst aufwies: Sol Invictus-Darstellungen, die Mahlszenen, Himmelfahrt. Mithras erschien wie Christus als Kosmokrator und als Personifikation kosmischer Kräfte. Das Aufkommen einer solaren Theologie war ein äußerst markantes Signal in der Spätantike, sowohl im heidnischen Mithraskult wie in der christlichen Lichttheologie. Die Severinische Dynastie brachte den Sonnengott nach Rom. Unter Kaiser Elagabal war Mithras Reichsgott und Aurelian machte den Sol Invictus-Kult zur Staatsreligion. Tertullian (Apologeticum) entriss das Sol Invictus-Motiv der Mithrasfigur und dem römischen Sonnenkaiser zugunsten von Christus, der nun zur wahren unbesiegten Sonne wurde. Vor solchem Hintergrund und einer reichen Sol-Ikonographie ab Konstantin erhält die Theorie reiche Nahrung, die Verlegung des Weihnachtsfests auf den Tag der Wintersonnenwende,

235 Mithras-Relief (2. Jh.p); MNR III.2.5.3.

Schollmeyer 2008, 134

Clauss 2000 Ulansey 1989

Berrens 2004, 103ff Merkelbach 1984, 24f, 201

76

Die Spätantike

Ferguson 2003, 290ff Merkelbach 1984, 134ff

Gordon Richard in Kat. 2013a, 216

die erstmals 335/37 Erwähnung findet, von da her zu erklären. Es war unter Aurelian der Geburtstag des Sol Invictus und des Mithras. Auch dieses Motiv gehört zu den Neucodierungen heidnischer Vorlagen. Im Deckenmosaik des Julier-Mausoleums wurde Christus als Sonnengott auf einem Wagen dargestellt. Der wichtige Anteil der Höhle an der Mithras-Erzählung prägte den Bau der Mithräen als unterirdische Kulträume, manchmal aus dem Felsen gehauen. Die Mithräen waren privat finanzierte Einrichtungen (der Mithraskult war kein Teil des offiziellen Kultkalenders). Auf dem Land verwandte man in erster Linie Höhlen, die daran erinnerten, dass Mithras den Stier in einer Höhle getötet hatte. In den Städten, besonders in Hafenstädten (in Ostia hat man bislang 15 Kulträume gefunden), waren die Heiligtümer langgestreckte basilikale Bauwerke, meist gewölbt, mit Apsiden versehen und links und rechts (teilweise in Schiffen) mit Sitzbänken ausgestattet. San Clemente in Rom ist auf einem Mithräum, das bis Anfang des 5. Jh.s verwandt wurde, errichtet. Ebenso Santo Stefano Rotondo, das zudem auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne gebaut wurde. Auch bei den Mithräumsbauten beriefen sich manche Bauherren auf die Eingabe durch den Gott selbst.

5.2. Die Basilika Beides, Basilika als Sakralraum und das Ausstattungsgenre Mosaik, sind ebenso herausragende Erfindungen der Spätantike wie Weiterentwicklungen der klassischen Antike. Die Verschmelzung der beiden Gattungen hat eine neue Kunstform geschaffen, die zu einem Charakteristikum des Christentums geworden ist. Schwierig zu rekonstruieren ist in der Forschung wegen fehlender Belege nach wie vor der Übergang von den frühen Hauskirchen zu den Basiliken.

5.2.1. Frühe Hauskirchen

Sauser 1966, 465

Die ersten Christen feierten das Abendmahl als agape oder cena dominica schlicht in ihren Häusern. Wie schon gesagt, gab es kaum ein Interesse an einem aufwendigen Kultraum und es herrschte eine Abneigung gegenüber dem materiell-irdischen Werk eines Kultgebäudes. Selbst als ab dem Beginn des 4. Jh.s der Kirchenbau einsetzte, waren viele Kirchenväter, allen voran Augustinus, damit nicht glücklich und wiesen in Kirchweihpredigten nach den Vorgaben aus Apg 7,48 (»indes wohnt der Allerhöchste nicht in Gebäuden von Menschenhänden«) und 2 Kor 5,1 (»ein ewiges Haus im Himmel, das nicht von Menschenhänden erbaut ist«) auf den nur schwachen Abbildcharakter des steinernen Gebäudes gegenüber der aus lebendigen Steinen zusammengesetzten Kirche mit dem wahren Eckstein Christus hin. Im Unterschied zu den antiken Religionen versammelten sich im Christentum alle Gläubigen in einem abgeschlossenen Raum. Ab dem 3. Jh. dürften wohlhabende Römer, Männer und Frauen der Gemeinde, ihre Häuser für den Kult zur Verfügung gestellt haben. Nach der staatlichen Anerkennung hatte sich das Christentum rasch verändert und zog mehr und mehr auch wohlhabende Bürger an. Nicht nur Geld floss nun in größeren Mengen in die Kassen der Kirchen, sondern es wuchsen auch die Ansprüche nach einem ästhetischen Rahmen für den Kult.

77

Spätantike und frühchristliche Kunst

Das römische Haus war stets auch ein öffentlicher Ort der sozialen Repräsentation und Kommunikation. Aus den privaten Zusammenkünften entwickelten sich die Hauskirchen, wie sie bei Paulus beschrieben werden, darunter auch größere Anlagen. Die Namen der Besitzer und Gönner standen auf Tafeln am Eingang (tituli). Im 5. Jh. gingen viele zu Kirchen ausgebaute Häuser in den Besitz der Kirche über, die Namensträger wurden als Heilige verehrt. Die römischen Häuser waren zum Unterschied von den jüdischen (unter Herodes kam auch Kunstausstattung in jüdischen Häusern auf) in der Regel mit reichen Bildgalerien versehen und man kann, wie unter 3.3. bereits geschildert, davon ausgehen, dass die Besucher mit den Geschichten aus dem antiken Orient vertraut waren. Darunter fanden sich auch spirituelle Themen wie Pythagoreisches, Dionysisches, Gnostisches mitsamt dem spätantiken Synkretismus einschließlich ägyptischer Legenden. Die Verbindung von Rom mit dem orientalischen Kulturgut war über diese Kunstpraxis sehr eng. Paulus predigte in solchen Räumlichkeiten. Über das Verständnis der orientalischen Erzählungen in den römischen Häusern durch die Christen wird kontrovers diskutiert. Dennoch ist die Berücksichtigung dieser visuellen Kommunikation für das Entstehen nicht nur der Kunst, sondern auch theologischer Konzeptionen ein wichtiger ergänzender Faktor in einer sehr textorientierten neutestamentlichen Forschung. Diese Kunstprogramme bildeten ein Vorbild für die Übertragung der Sujets von den Häusern auf Grabsteine und in Katakomben. Die ersten eigenständigen christlichen Hauskirchen hatten bereits christliche Bildererzählungen mit Themen aus dem Alten und Neuen Testament und wurden speziell für die Bedürfnisse der Gemeinde geplant. Die Verbreitung der Hauskirchen ist gut untersucht. Zahlreiche frühchristliche Titelkirchen (in Rom etwa San Clemente, Santa Sabina, Santi Giovanni e Paolo) gingen aus solchen Hauskirchen hervor. Die berühmteste wurde jene von Dura Europos in Syrien – die bislang einzig erhaltene aus dem 3. Jh. Das vermutlich um 233 als Kirche gestaltete Haus hatte einen Versammlungsraum, ein üppig mit ungewöhnlichen Szenen aus dem Neuen Testament geschmücktes Baptisterium und einen Unterrichtsraum für die Katachumenen. Reste weiterer vorkonstantinischer Kirchen finden sich in der Türkei, in Italien und Spanien. Zu den ersten gehört auch eine vermutlich schon basilikale Anlage in Aquileia (um 312).

römisches Haus

Diefenbach 2007, 32 Balch 2008 Diefenbach 2007, 330 Koch 1995, 20

De Caro 2006; Schefold 1998; Janes 1998, 42f Weissenrieder/Wendt 2005 Balch 2008, 110 Fiocchi 2001, 18f

Balch 2008, 26 Lit.

Wharton 1995 Milburn 1988, 9–13 Kähler 1972, 26–33 Koch 1995, 19–24 Kähler 1972, 40–45

5.2.2. Die Basilika und das Mosaik Es wurde bereits auf die Ursprünge der basilikalen Form in Ägypten sowie auf die Gestaltung der Basilika als Bautyp der römischen Republik und Kaiserzeit, von wo sie für das Christentum übernommen wurde, hingewiesen. Die Diskussion um die Entstehung der Basilika in Rom oder im Nahen Osten scheint zugunsten des Orients entschieden. Die Säulenhalle im Karnak-Tempel ist bereits als basilikale Anlage zu begreifen. Sie hatte ein erhöhtes Mittelschiff mit Gitterfenstern, die das Licht in das Hauptschiff ließen, während die zahlreichen Seitenschiffe dunkel blieben. Ähnliches gilt für den Chons-Tempel und den Festtempel für Erneuerungsriten Thutmosis’ III. (Achmenu) in Karnak. Der Basilika liegt offenbar die Idee einer von Säulen gesäum-

II.2.5.f./II.3.2.6.2. Basilika III.3.3.2.3. Partsch 2004, 44 Swift 1951, 22ff Wurz 1906, 18ff

II.2.6.1.

78

Die Spätantike

236 Entschlafung Marias, Sta. Maria Maggiore; Rom

Langlotz 1950, 1249

Grossmann 1998 Diefenbach 2007, 97

ten Prozessionsstraße zugrunde, die eine gewisse Hierarchie zwischen von der Sonne beleuchtetem Mittelweg, durch den der König schritt oder ein Heiligtum getragen wurde, und den dämmrigen niedrigeren Seitenschiffen aufwies. Interessanterweise griffen überwiegend eschatologische und orientalische Kulte nach der Basilika als Kultraum, nicht die griechischen Kulte. Die Wahl der Basilika (basilike stoa) durch das Christentum legte sich schon durch ihre überwiegend profane Verwendung nahe. Sie war nicht wie der dem heidnischen Kult dienende Tempel belastet. Außerdem war sie zum Unterschied vom Tempel in erster Linie »Innenraum« und für den christlichen Kult daher besonders geeignet. Es scheint Konstantin selbst gewesen zu sein, der (nach dem Sieg an der Milvischen Brücke) an der Stelle der Kaserne von Maxentius’ Elitetruppen mit dem Bau der Lateranskirche den Typus der Basilika zum Vorbild für einen größeren Versammlungsort für die ecclesia (die Versammlung der Getauften) nahm. Er wählte allerdings nicht die Form der römischen Marktbasilika (Maxentius-Basilika), sondern jene der östlichen Langhausbasilika. Eine solche Form (mehrschiffig mit erhöhtem Mittelschiff und Apsis) hatte etwa die severische Basilika in Leptis Magna. Entgegen einer einige Zeit vertretenen Theorie von einer autochthonen christlichen Entwicklung der Basilika oder deren unmittelbarer Ableitung aus den Hauskirchen, dürfte sich der Kultraum auf die Übernahme des paganen Bauwerks zurückführen lassen. Ob einige Teile, wie das Querschiff, als kreative Eigenheit der christlichen Basilika gelten mögen, muss den Forschungen der Kunstwissenschaftlerinnen überlassen bleiben. Dass sich die Christen nun doch zu einem repräsentativen Kultraum, der anfangs zumeist ein Memorialbau des Märtyrers war, entschlossen, mag theologisch mit dem Ausbleiben der Wiederkunft des Messias zu tun haben. Vor allem aber hing diese Entscheidung mit der öffentlichen Anerkennung des Christentums zusammen. Basiliken aus dem 3. Jh. sind schon aus solchen Erwägungen unwahrscheinlich, wenngleich in Einzelfällen kleinere Kultbauten in basilikalem Stil nicht ausgeschlossen werden können. Insbesondere in Ägypten, wo eine breitere Christianisierung bereits vor der Wende durch Konstantin begonnen hatte, gibt es einige wenige, nicht unumstrittene Funde. Damit gehört auch die Entwicklung der Basilika in den Kontext der konstantinischen Wende. »Die Einführung dieses monumentalen Bautyps in seinen unterschiedlichen Formen geht auf ihn zurück.« Der Kaiser errichtete dem neuen Christengott mit großem Engagement und finanziellem Einsatz

79

Spätantike und frühchristliche Kunst

kaiserliche Repräsentativbauten, einen kaiserlichen Thronsaal, einen heiligen Palast. Die Basilika wurde zum Zeichen der neuen Legitimität des Kaisers. »Der als vicarius Christi wissende Monarch gibt durch diese seine Baukunst seinen Willen kund und bringt seine durch Christus begründete Autorität zum Ausdruck.« Mit dieser Entwicklung einher ging die prunkvolle Erneuerung der Liturgie nach dem Vorbild des höfischen Zeremoniells, aber auch die zunehmende Aufwertung des vorher privaten Kults. Er wurde eine Sache des Kaisers und des Staates. Die Kultform der christlichen Religion wurde letztlich im 4. Jh. dadurch geprägt, dass die römischen Kaiser in Konstantinopel die Sache dieser Religion zu ihrer eigenen und damit zu einer des Reichs machten. Unabhängig von dieser politischen Dimension ließ die Liturgie in der Basilika eine antiarianische Pointierung zu (auch wenn arianische Christen ebenfalls Basiliken kannten). Die Arianer deuteten die Gottessohnschaft als Unterordnung des Sohnes unter den Vater. Demgegenüber wurde in orthodoxer Leseart auf die Präsenz des Vaters im Sohn Wert gelegt. »Durch ihn und mit ihm und in ihm« sei der Vater in Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist. An einer solchen theologischen Interpretation wurde die schlichte Feier eines Erinnerungsmahles zu einem Königsempfang: »Die Königshalle, die Basilika, wird zum Schauplatz dieses Hofzeremoniells, und immer wieder wird der liturgische Raum einem Thronsaal angeglichen […].« Der Kyriostitel für Christus verlangte geradezu nach diesem Bau und der Triumph über den alten heidnischen Kaiser konnte nach dieser Neuinterpretation gar nicht größer sein.

Janes 1998, 52 Krautheimer 1967, 129 Gerke 1967, 61

4.2.

Sauser 1966, 416 3.3.

237 / 238 Hagia Sophia, Mosaik Maria zwischen Johannes II. und Irene; Christus zwischen ­Konstantin IV. und Zoe

Das bedeutet, dass eine arme jüdische Sekte, die das Diesseits weitgehend verachtete, nun in Gold und Edelsteinen funkelnde Kirchen errichtete. In der Tat wurde Gold zu einem wichtigen Material in der Kunst, bis in der Romanik weniger wertvolle Materialien wie Kupferlegierungen das Gold wieder ablösten. »Das Gold drang in die christlichen Sanktuarien ein, um dem Kultus einen Glanz zu verleihen, der zumindest dem höfischen gleichkam. Gold wurde daher eng mit Gott verbunden. In der Sicht des Mittelalters gilt es als materialisiertes Licht und damit als direkter Abglanz Gottes. […] Edelsteine und Email waren ihm als farbige Komponenten untergeordnet, um zusammen mit dem Gold – entsprechend den Edelsteinen des himmlischen Jerusalem – der Schöpfung den ›Glanz des Wahren‹ zu verleihen.« Gold repräsen-

Durliat 1983, 305

80

Die Spätantike

Rotman 1987, 22

Janes 1998, 165

Ebd., 146 V.6.2.4.

239 / 240 Basilika A (Hl. Kreuz-Kirche) mit Bema; Rusafa, Syrien

Ignatius v. Antiochien, zit. nach Gerke 1967, 63 241 Die kleine Apsis von S. Maria delle Grazie mit sedes episcopalis (5./6. Jh.); Grado 6.2.3. Brenk 2010; Ihm 1992

Gerke 1967, 85

tierte das Göttliche: »gold as intrinsically beautiful, changeless, precious, immutable serves as the perfect icon of God who is beautiful, changeless and so on.« Diesem Widerspruch hat Dominic Janes eine aufschlussreiche Studie gewidmet, aus der sich zwei Ergebnisse festhalten lassen: Einmal zeigt sich auch in dieser Problematik eine Umcodierung, diesmal die Übernahme der antiken Prachtentfaltung der paganen Götterkulte durch eine zu Selbstbewusstsein erwachte junge Kirche. Zum anderen ließ sich der Reichtum nur rechtfertigen durch symbolische Interpretation, durch Allegorese und durch Anwendung der neuplatonischen Anagogie. Zahlreiche Bibelstellen, die Gold, Silber und Edelsteine preisen, erfuhren eine umfangreiche Exegese durch die Kirchenväter: »Gold, through is brilliance, appeared almost to escape from the dullness of everyday matter.« Trotz alledem blieben einige sehr kritisch gegenüber solcher Schmuckausstattung, wie Gregor von Nazianz oder Bernhard von Clairvaux. Die Basilika ist eine Entwicklung, die von oströmischen Kaisern angestoßen und fortgeführt wurde, aber in der reinen axialen Form hatte sie vor allem im Westen ihre große Karriere. Sie basierte hier auf der römischen Betonung der Achse. Demgegenüber tauchte im Osten bald eine Tendenz zum Zentralbau auf. Die Basilika wurde in vielen Variationen realisiert, aber ihre Grundstruktur blieb über weite Strecken ähnlich. Sie umfasste ein (meist überhöhtes und mit Obergaden ausgestattetes – im byzantinischen Bereich meist noch durch Emporen ergänztes) Hauptschiff mit zwei (oder mehreren) durch Säulenreihen abgetrennten Seitenschiffen. Ob sich die Gläubigen – geteilt in Männer und Frauen – nur in den Seitenschiffen oder auch im Mittelschiff aufhalten durften, ist unklar. Östlich schließt sich die Apsis an, in der ursprünglich Tribunal und Richterstuhl oder das Kaiserbild standen. In der christlichen Basilika war die in der Regel erhöhte (ur­ sprünglich westliche, seit dem 4. Jh. östliche) Apsis Ort des sedes episcopalis, des Throns des Bischofs, der wie »Christus im Kranze seiner Apostel« im Kreis seiner Priester saß. In den nordafrikanischen Basiliken gab es ein erhöhtes Podium für die Priester im Hauptraum (Bema) und es gab eine gegenüberliegende zweite Apsis als Ort der Märtyrerverehrung. Das Bildprogramm der Apsis unterstrich das dogmatische Lehrgebäude und die christologischen Spekulationen. Vor der Apsis stand der Altar mit dem Ziborium (der Baldachin über dem Thron dürfte aus Asien stammen), mit einer Abschrankung (templon) vom Kirchenraum getrennt. Dazu kam zwischen Langhaus und Apsis, anfänglich nur in Ausnahmen, später als Regel, ein Querhaus. Das Querhaus ließ sich als Bereich zwischen Himmel (Apsis) und dem Weg des Gläubigen zum Mysterium oder zur Taufe deuten.

81

Spätantike und frühchristliche Kunst

An der Westseite stand eine Vorhalle (Narthex), davor bei größeren Anlagen ein Hof (Atrium) mit Reinigungsbrunnen und mit diversen, an den römischen Städtebau erinnernden Torkompositionen. Der Westbau wurde in karolingischer Zeit zum Westwerk weiterentwickelt, das im romanischen Kirchenbau eine dominante Stellung einnahm. Gedeckt war die Basilika mit einer flachen Holzdecke oder einem Tonnengewölbe. Ein zwar abgewandeltes, aber immer noch vollständigeres Ensemble als an den meisten anderen Orten hat sich in Poreç in Istrien erhalten. Natürlich gab es Abwandlungen von dieser Grundform. Es gab Basiliken, in denen die Seitenschiffe um die Apsis herumgeführt wurden (Sant’ Agnese, San Lorenzo fuori le mura in Rom). Diese in der Romanik aufgenommene Praxis ließ auch im Langhaus einen Zentralbau zu. »Die längsgerichtete Halle, der Weg- und Wandlungsraum, die Passage verbindet sich mit dem Martyrium und Sanktuarium, dem Zentralort, dem Raum der Stasis und Konzentration.« Die Ausschmückung im 4. und 5. Jh. folgte in der Regel gemäß dem öffentlich gewordenen Christentum einem bestimmten Programm. Auch für die drei Grundthemen der Basilika gab es im heidnischen Bereich Vorbilder. »Hier wie dort nimmt das Thema der Seitenwände die Bewegung des realen Besuchers auf, die Huldigungsszene an der Hauptwand läßt ihn innehalten, und das Bild in der Apsis […] gewährt ihm den Blick auf das göttliche Wesen des Herrschers.« Der Himmel trug Darstellungen der zeitlosen überirdischen Welt, in der Regel den Pantokrator oder die Gottesmutter. In den Tromben, Kreuztonnen oder den oberen Wandfeldern fanden sich Zyklen, die auf der Liturgie basierten, aus dem Leben Christi oder Marias. Nischen, Bögen und Pfeiler wurden mit dem Chor der Heiligen in gewöhnlich strenger Anordnung ausgestaltet, die Langhauswände trugen Szenen des Alten und Neuen Testaments. Sie zeigten Linearität, Sukzession und Welthaltigkeit, während sich im Zentralraum Verdichtung, Musterhaftigkeit und Statik fanden. Die Westwand – ursprünglich manchmal eine zweite Apsis – trug später Szenen des Jüngsten Gerichts. Zum Prototyp der Basilika wurde die bereits erwähnte erste römische Prachtkirche (um 320), die fünfschiffige Salvatorkirche im Lateran (heute: San Giovanni im Lateran), die größer als die Maxentiusbasilika sein musste. Konstantin nahm sie nach seinem Sieg über Maxentius als Danksagung an den »Retter Christus« (Salvator) als Sitz des Bischofs von Rom in Angriff. Er gab der Basilika eine kreuzförmige Querachse, ein Kapitel in der Umcodierung des römischen Ordnungslogos in das christliche Heilszeichen. Die Rekon­ struktion der Uranlage gestaltet sich nach den Veränderungen durch Francesco Borromini um 1650 mühsam. Nach ihrem Vorbild wurden die folgenden Kaiserbasiliken der Apostelfürsten, aber auch andere provinzialrömische Basiliken wie jene von Trier (nach 325) entworfen. Die Hallenbasilika diente als Thronsaal. Er ist mit knapp 70 Metern Länge

V.5.4.1. Milburn 1988, 196f Mazal 1989, 154f

Kemp 1994, 50 242 Mosaik, Sta. ­Prassede (5. Jh.); Rom

Deckers 2007, 67

Kemp 1994, 51

243 »Basilika« in Trier; Audienzhalle der röm. Kaiser (um 310p)

82

Die Spätantike

Bauer 2006 244 »Basilika« in Trier (um 310p)

V.3.4.2.1.

Deichmann 1950, 1255f Deckers 2007, 59 Onasch 1993, 24

Ohly 1977, 212

Pevsner 1943, 20

und 33 Metern Höhe die größte Halle, die aus römischer Zeit tadellos erhalten ist. Sie ist das Zentrum einer einstmals großen Palast- und Thermenanlage mit Amphitheater und Rennbahn für Wagenrennen. Um 319 begann der Bau von Alt Sankt-Peter auf dem vatikanischen Hügel in Rom über dem Grab, das man für jenes des Petrus hielt (eine Verehrung dort lässt sich seit dem 2. Jh. nachweisen). An diesem Bau gab es nach einer Rekonstruktion von Richard Krautheimer vermutlich erstmals ein Querschiff zwischen Längsschiff und Apsis. 328 wurde in Jerusalem eine fünfschiffige Basilika mit Vorhof für die Pilger und einem überkuppelten Rundbau über dem Jesusgrab errichtet. In Bethlehem entstand 333 die Geburtskirche, ebenfalls als fünfschiffige Basilika mit Atrium und achteckigem Zentralbau. An einem ausgezeichneten Ort wurde sie Vorbild für viele weitere christliche Kirchen, aber auch für islamische Märtyrergräber und Moscheen – als Erstes für den Felsendom in Jerusalem. In Salamis auf Zypern gibt es sieben, in Karthago sogar neun Schiffe. Die Schiffe waren durch Säulenreihen getrennt, auf denen im Westen eher ein Architrav lag, im Orient bevorzugt Arkaden. Die Frage nach den Ursachen für mehrere Kirchenschiffe ist kaum nur mit konstruktiven Gründen zu beantworten. Schon in den Mithräen fanden sich mehrschiffige Vorbilder aus liturgischen Gründen. Neben liturgischen Nutzungen liegt der Gedanke, im Mittelschiff gegenüber den dunkleren Seitenschiffen eine »lichtdurchflutete Säulenstraße«, eine »Lichtstraße«, wiederzufinden, nicht fern. Mit dem Bild der Straße ist das Abschreiten von einem Anfang zu einem Ziel verbunden, was sich unschwer mit theologischer Symbolik aufladen ließ. Die Basilika bot gleichsam den Weg, auf dem die Gläubigen der Erneuerung des Bundes mit dem Herrn entgegen schritten. Am Ende eines abzuarbeitenden Weges zeigt sich das Geheimnis der Eucharistie als wiederholbares Erinnerungsgeschehen einer historisch einmaligen Erlösungstat. Erinnerung, die zugleich zuversichtliche Hoffnung auf endgültige Einlösung am Ende der Geschichte bedeutete. Wenn man durch die methodische Brille einer heilsgeschichtlichen Memoria-Forschung auf den Langbau blickt, kann man – hier am Beispiel des Doms von Siena – folgende originelle Deutung anwenden: »Das Langhaus gehört den Heiden der Antike, das Querhaus und der Chor den Juden des Alten Testamentes, die dem christlichen Mysterium des Altarraums näherstehen.« Wer daher vom Eingang bis zum Altar geht, dessen Füße haben »tausend Jahre und mehr durchmessen.« Nikolaus Pevsner verweist auf die großartige Theatralik dieses Raumes, der für den christlichen Kult geradezu wie geschaffen erscheint: »In S. Apollinare Nuovo schreiten, in Mosaik gebildet, die Gestalten von Märtyrern und heiligen Jungfrauen in ihren starren Gewändern neben uns her, unbewegten Antlitzes, schweigend und feierlich. Ein Rhythmus, dessen Monotonie unser Bewußtsein magisch gefangen hält, erfüllt den gesamten Raum, und nirgends erklingt ein zweites Thema, das die strenge Geradlinigkeit des Leitmotives beeinträchtigen könnte.« Eine analoge Anordnung, aber an der Stirnwand über der Apsis (die durch die Darstellung einer Muttergottes mit Christuskind besetzt ist), kennt die Eufrasius-Ba-

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Spätantike und frühchristliche Kunst

silika in Poreč. Bischof Eufrasius ließ sie um 550 errichten und dazu die Kapitelle aus Konstantinopel holen. Die lineare Ausrichtung hatten weder der Tempel, der ein Prachtbau, aber kein Versammlungsraum war, und schon gar nicht der Rundbau. Diesem kam eine in sich ruhende Sakralität zu, die Totalität des antiken, sich selbst genügenden Kosmosdenkens. Dieser Gedanke setzte sich in Byzanz erst unter dem Einfluss des Platonismus durch. Im Osten sollte die Gottesbegegnung (Henosis) weniger in der »Mühe« eines abzuarbeitenden Weges (einer Geschichte) als vielmehr im Sich-Verschließen des Raumes im Kreis und in der Kugel und in der Auflösung des Mysteriums in der (augenblickshaften) Gnade der Schau gelingen. Die sich in der Architektur seit dem 6. Jh. durchsetzende Verbindung von überkuppeltem Zentralbau und längsgerichteter Basilika könnte man als eine Verbindung platonisch-neuplatonischer Philosophie mit der Entdeckung der Geschichte als christlicher Heilsgeschichte interpretieren. Besonders einmalig wurde dies zur Zeit Kaiser Zenos in der kreuzförmig angelegten Kathedralkirche des Styliten Simeon bei Aleppo umgesetzt. So wie auch im Zentralbau das Licht ein wichtiger Faktor war, erschien Christus in der Erzählung einer Basilika als Sol Invictus, als unbesiegte Sonne, deren Aufgang im Osten erwartet wurde. Damit spielte die Lichtmystik bald eine Rolle auch beim Bau der Basilika. In der frühchristlichen Kirche gelang die Begegnung mit dem Absoluten nicht durch eine gegenständliche mimetische Abbildung, sondern im schauenden Mit-Vollzug eines heiligen Geschehens. Die Basilika musste derart jene anagogische Funktion erfüllen. Dazu wurde nicht zuletzt das Mosaik eingesetzt. Böden, Wand- und Deckenflächen waren mit Mosaiken bedeckt. Die Mosaiken sind einer der Höhepunkte spätantiker Kunst, die man auch für Villen, Paläste, Bäder einsetzte. Schließlich fand in ihnen »das triumphierende Christentum das ihm gemäße Ausdrucksmittel.« Sie gehen auf konstantinische Zeit zurück und gelangten in der Zeit des Theodosius, im Umfeld Theoderichs und dann in der justinianischen Reichskunst zu größter Blüte. Als ältestes byzantinisches Mosaik mit noch paganem Formenrepertoire gilt jenes des Mausoleums der Constantia in Rom. Die byzantinischen Mosaizisten waren überall begehrte Fachleute. Erste Mosaiken gab es in Mesopotamien, zur hohen Kunst entwickelt haben es die Römer. Nach diversen Vorläufern bereits in Sumer fand man in der phrygischen Stadt Gordion aus dem 8. und 7. Jh. erste mit Kiesel gelegte Ornamente. Die schönsten Beispiele von aus unterschiedlich gefärbten Kieselsteinen gelegten Kieselmosaiken aus dem 5. Jh. blieben in der Hauptstadt Makedoniens, Pella, und der nordgriechischen Stadt Olynthos erhalten. Die Steinchen, welche die Kieselsteine im Lauf des 3. Jh.s ablösten, hießen tesserae. Sie konnten aus Marmor, Terrakotta oder Glasfluss bestehen. Je kleiner sie waren, desto feinere und differenziertere Mosaike ließen sich legen. In Byzanz war Glas

Stanzl 1979 Verzone 1967, 81 Gerke 1967, 153 6.2.1.

Mosaik

245 Marienkrönung, Mosaik, Sta. Maria Maggiore (5. Jh.); Rom Lafontaine-Dosogne Jacqueline in Volbach/ Lafontaine-Dosogne 1968, 34

II.1.2.2.1.2./III.3.3.3. L’Orange/Nordhagen 1960, 39 Andreae 2003, 16–25

84

Die Spätantike

James 1996, 2, 5

Demus 1947, 10

Andreae 2003, 41 Ghalia Taher in Kat. 2010, 273–278

Partsch 2004, 50 Janes 1998, 109ff Koch 1995, 88 Wenzel 1995, 99 Kraus 1967, 138

Abels 1985, 46

Onasch 1967, 33 L’Orange/Nordhagen 1960, 15f Gerke 1967, 161 Janes 1998, 74

das Material der Wahl. Trotz dieser kleinen »Bauteilchen« hat Liz James Recht, wenn sie beim Mosaik von einer Monumentalkunst spricht und die Mosaikkunst mit einem Malen mit dem Licht vergleicht. Das ist insofern eine zutreffende Bezeichnung, weil der Reiz des Materials dazukam. Anders als die erdigen Farben und das Holz bei der Ikonenmalerei, ist das Glas geradezu ein Anti-Material. »It allowed of pure and radiant colours whose substance had gone through the purifying element of fire and which seemed most apt to represent the unearthly splendour of the divine prototypes.« Die gekrümmten Flächen, die Unebenheiten des Verputzes ermöglichten ein offensives Umgehen mit den Lichtbrechungen, also ein ausdrückliches und ins Dreidimensionale weisende Gestalten einer Lichtkunst. Die Wiege des christlichen Grabmosaiks war Nordafrika. Berühmt für die Tesseramosaiken waren seit dem 3. Jh. Alexandrien und Pergamon. Während Alexandrien ein Anteil an der »Erfindung« des Tesseramosaiks zukommen dürfte, scheint Pergamon Anteil »an der Weiterentwicklung der neuen Technik gehabt haben.« Verwendung fand das Zeichenrepertoire der Kirchenväter, insbesondere jenes des Augustinus. Die Wandmosaike, die erst im 3. Jh. (etwa ein Wandmosaik in einem Mithräum dieser Zeit in Ostia) aufkamen – in aller Regel aus Glassteinen –, lösten mehr und mehr die Fußbodenmosaike ab. Die Steinchen brachten ein erhebliches Gewicht in die Kuppeln und Deckenbereiche. Die Hagia Sophia betreffend geistert die Zahl von etwa 1000 Tonnen durch die Literatur. Eine spätantike Erfindung ist das Einschmelzen von Gold in die Glassteine. Es führte zu den glänzenden, ikonenhaft wirkenden Hintergründen. Gold wird zum »Abglanz der göttlichen Aura.« Der Goldhintergrund ist die große Alternative zur Perspektive in der Florentiner Renaissance. »Wo der Goldhintergrund an die Stelle des farbigen Hintergrundes tritt, wird jede Räumlichkeit vollkommen entwertet und aufgehoben.« Es tritt ein geistiger Raum an die Stelle des weltlichen. »Das Bild der Welt in seiner materiellen Dinglichkeit zerbricht im Glasmosaik. Im Reflexspiel von Licht, Gold und Glas spiegelt sich eine vergeistigte und entrückte Hierarchie der religiösen und politischen Doktrin.« Kunstphilosophisch kam ihnen die Funktion zu, die dunkle Materie durch den Glanz des Lichtes, das durch die Obergadenfenster des überhöhten Mittelschiffs in den Raum fließt, in den Geist aufzulösen, »den realen Raum zu entwirklichen und den transrealen Raum zu verwirklichen.« Tageslicht wie Kerzen und Fackeln »verwandeln sich in den Mosaiken in ein übernatürliches Licht, indem es in Tausenden einzelner Lichtblitze gebrochen und zurückgeworfen wird. Der Goldgrund hinter den Figuren wird […] zu einer lebendigen Gloriole um die heiligen Erscheinungen und Bauten.« Der Goldhintergrund brachte eine sakramentale Wirklichkeit in den Raum. Gold hatte schon in der Antike die Symbolik des Himmlischen und galt nicht einfach als Luxus. Der philosophische Hintergrund der Bedeutung des Glanzes ist an vielen Stellen dokumentiert. Der ravennatische Historiker Andrea Agnello beschrieb in seinem Liber Pontificalis ecclesiae Ravennatis die Lichtwirkung der Mosaiken: »Entweder das Licht ist hier geboren oder, hier eingefangen, herrscht es frei.« Der Pantokrator in der Apsis der Kathedrale von Cefalù hält das Evangelienbuch in seiner Hand, wo griechisch und lateinisch der Satz aus Joh 8,12 steht: »Ich bin das Licht der Welt«.

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Byzanz

246 Apsismosaik in San Paolo fuori le Mura (13. Jh.); Rom

6.0. Byzanz Wenn man in der Geschichtsschreibung mit dem Datum 476 den Untergang einer ganzen Zivilisation verbindet, ist das klar auf den Westen bezogen. Denn zur Eigenart der römischen Geschichte gehört, dass nach der Absetzung des Romulus das Römische Reich keineswegs endete. Auch nach einem Jahrtausend hatte die RomIdee nichts von ihrem Glanz verloren, nicht bei den erobernden Barbaren und eben auch nicht, was den Fortbestand des Reichs betraf: »Es existierte einfach weiter, ohne die Stadt Rom, ohne das Kernland Italien, ohne die allermeisten lateinischen Provinzen.« Dieses Rom entstand im Osten in neuer Gestalt. Man kann auch sagen, dass das Römische Reich im Byzantinischen weiterlebte. Das Byzantinische Reich umfasst von der Gründung Konstantinopels an gerechnet ein ganzes Jahrtausend. Und dieses Reich steht in der europäischen Kulturgeschichte geradezu als Markenzeichen des häufig beschworenen Europa als Erbe von Rom und Athen. Von 330 bis 1453 war Byzanz unangefochtene Kaiserstadt, wenngleich es daneben andere wichtige Provinzstädte gab, deren historische Rekonstruktion sich schwierig gestaltet. Es war als europäisches Staatswesen ein Bindeglied zwischen dem Orient und dem Okzident und zeitlich eine Klammer zwischen Spätantike, Mittelalter und beginnender Neuzeit. Byzanz hat keinen exakten Anfang. Seine Kultur entstand aber nicht durch einen Bruch und niemand würde dieses Reich heute noch ernsthaft mit Dekadenz verbinden, wie dies lange mit Blick auf die vermeintliche römische Größe kolportiert wurde (Edward Gibbon). Zumindest stellt es sich »als nichtkatastrophales Überleben des antiken Kulturuniversums dar, das als seinen Kern die christliche Weltanschauung hat.« Im Vordergrund stand ein Transformationsprozess, der vor der Spannung von (sprichwörtlich byzantinischer) Beharrung und Veränderung verlief. Die Byzanz lange zugeschriebene konservative Statik wird inzwischen relativiert und es werden

Pfeilschifter 2014, 192

Kapriev 2005, 13 Cameron 2006

86

Die Spätantike

Mathew 1963

Mazal Otto in Mazal 1995, 37

Ducellier 1990, 64f

Deckers 2007, 106 Schweinfurth 1954, 26

Tomei Alessandro in Bussagli 2007, 311

Ducellier 1990, 98ff Beck 1994, 12 6.2. Mazal 1989, 153f

eine erkleckliche Zahl von Phasen definiert, die eine Dynamik der Kultur und damit auch der Kunst zeigen sollen. Trotzdem bleiben solche Veränderungen in einem wesentlich engeren Rahmen als in anderen Gebieten, etwa der gleichzeitigen Kultur des lateinischen Westens. »Selbst die rege soziale Entwicklung in Byzanz und die Berührung mit ungezählten Völkerschaften in Ost, Nord und West hat den Grundcharakter der byzantinischen Kultur nicht entscheidend modifiziert.« Seine Identität erhielt das Reich durch die römische Verfassung, die christliche Religion und das beinahe exklusive Erbe der griechischen Kultur. Insbesondere mit seiner Bibliothek besaß Konstantinopel nach dem Untergang anderer großer Bibliotheken (Alexandrien, Antiochien, Pergamon, Ephesos, Athen) im 6. Jh. ein Kulturmonopol. Zudem machte die Eroberung der umliegenden Gebiete im Osten durch die Araber Konstantinopel zur alleinigen und begehrten Metropole von Bildung und Kultur des Mittelalters. Es ist die einzige Stadt der Christenheit, die im Mittelalter »das literarische und wissenschaftliche Erbe der Antike in derart großem Umfang bewahrt[e].« Das ist eine positive Version, die auf die gewaltige kulturelle Leistung, die jetzt anhob, verweist und sie klingt zutreffender, als wenn man nur konstatiert: »Byzanz ist der Ausgang der Antike.« Zwar hatte Gregor der Große Rom gleichsam zur christlichen Metropole gemacht, aber die Stadt blieb zwischen 553, der Vertreibung der Goten aus der Stadt, und 754, der Pippinischen Schenkung, unter byzantinischer Schutzherrschaft mit zahlreichen byzantinischen Beamten und etwa einem Dutzend (von etwa fünfunddreißig) griechischen oder syrischen Päpsten in dem genannten Zeitraum. Viele östliche Ordensgemeinschaften verlegten ihren Sitz in die Ewige Stadt. »Daraus ergab sich das Phänomen, daß die byzantinische Malerei im römischen Malstil fortgeführt wurde.« Rom war demnach eine Quelle byzantinischer und griechischer Kultur mitten in Europa. Die durch ein Erdbeben verschütteten und dadurch konservierten Fresken aus drei Jahrhunderten von Santa Maria Antiqua auf dem Palatin aus eben dieser Zeit sind mit ihren Bildern von Päpsten und hohen Beamten ein Abbild der geschilderten Situation. Darin befindet sich auch die älteste Darstellung des Christus am Kreuz. Byzantinische Riten und der Marienkult wurden in Rom lebhaft weitergeführt. Letzterer schlug sich in mehreren einschlägigen Kirchweihen nieder. 625 wurde in Konstantinopel Latein als Amtsprache durch Griechisch ersetzt. Kaiser Herakleios änderte seine Titulatur vom lateinischen Imperator zum griechischen Basileus. Was wie eine Degradierung aussieht, war in Wahrheit eine Änderung der Tradition. An die Stelle der römischen Augusti traten als Vorbilder die Könige des Alten Testaments, in erster Linie David. Zwar war die Hinwendung zur griechischen Tradition weithin akzeptiert, eine spezielle, besonders von der Oberschicht bereitwillig akzeptierte Hellenisierung hingegen stieß bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Widerstand. Man wollte eine »eigene Kultur« gegenüber dem als elitär und fremd empfundenen Hellenismus. Die Abgrenzung zwischen klassisch, spätantik, oströmisch und byzantinisch ist ein Problem der Nomenklatur, das die Byzantinistik bis heute beschäftigt. In besonderer Weise gilt dies für das Wesen und die Abgrenzung einer byzantinischen Kunst.

87

Byzanz

6.1. Kontexte Erste Spuren einer Siedlung datieren aus dem Neolithikum. Um 700a gab es auf der »asiatischen« Seite ein phönizisches Dorf, gegen 660a auf der anderen Seite des Bosporus eine Handelsniederlassung vermutlich von dorischen Griechen aus Megara, die nach dem legendären Gründer mit dem thrakischen Namen Byzas den Namen Byzantion trug. Dies war bis ins 15. Jh. die Bezeichnung der Stadt. Manchmal diente der Ausdruck »byzantinisch« dazu, das Römische Reich des Mittelalters von der Antike abzugrenzen. Es gab im antiken Byzantion eine Akropolis, mehrere Tempel und Thermen, ansonsten wissen wir über diese Stadt nur wenig. Da das Römische Reich durch den Einfall der Germanen von Rom aus nicht mehr zu regieren war, die alten Metropolen zu weit im Osten lagen, errichtete Konstantin seinen eigenen römischen Regierungssitz in hervorragender strategischer Lage auf den Trümmern dieses mehrfach zerstörten und inzwischen verfallenen Byzantion. Angeblich hat Konstantin damit gespielt, sein neues Rom in Serdica, dem heutigen Sofia, zu gründen. Die Frage nach dem Warum der Neugründung am Goldenen Horn hat denn auch eine größere Diskussion ausgelöst, insbesondere ob die Antwort auch mit Konstantins Zuwendung zum Christentum zu tun hat. Blickt man auf die Vorgangsweise Konstantins, mit Rücksicht auf die heidnische römische Aristokratie auf christliche Kultbauten im Zentrum Roms zu verzichten, könnte man in dieser christlichen Wende in der Tat eine Motivation neben anderen für eine Neugründung sehen. Zweifellos war ihre hervorragende geostrategische Lage ein weiteres zentrales Motiv. Die neue Hauptstadt ließ sich durch die Halbinselposition mit zwei See- und einer Landseite gut absichern, sie lag in der Nähe der Donaugrenze und in Reichweite des Euphrat, während Rom dem Druck der neuen Völker schutzlos ausgeliefert war. Und schließlich errang Konstantin in der Nähe (Adrianopel, heute Edirne) den Sieg in der letzten und entscheidenden Schlacht gegen Licinius, was ihn zum Alleinherrscher machte. Am 11. Mai 330 wurde die neue Stadt, zunächst bloß kaiserliche Neugründung, aus der sich (unter Constantius II.) die Hauptstadt des gesamten Römischen Reichs entwickelte, von Konstantin mit römischem Prunk (nach heidnischem Ritual!) geweiht, nachdem ab 324 mit einer Erneuerung der alten Anlage, an der bereits Septimius Severus Renovationen durchführen ließ, begonnen worden war. Die Bewohner nannten sich selbst Rhomaioi, also Römer. Das ist zumal für die spätere Zeit bemerkenswert, denn Rom lag weit weg. Diejenigen, die sich so bezeichneten, sprachen nur mehr vereinzelt Latein und dennoch entfaltete dieses Rom mit seiner Geschichte eine erstaunliche Magie. Nicht zwangsläufig ist das Jahr 330 mit dem Beginn des Byzantinischen Reichs, das sich nochmals von der oströmischen Identität abheben sollte, verknüpft. Dessen Anfang wird in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert und manchmal mit der Reichsteilung 395 (gegen die die byzantinischen Kaiser freilich die Einheit aufrecht erhalten wollten), dem Untergang Westroms 476, mit der Regierungszeit Justinians oder erst mit der Regierungszeit des Herakleios (610–641) mit den damals

Berger 2006, 436–441

Krautheimer 1983, 28ff

88

Die Spätantike

Beck 1994, 29ff Diefenbach 2007, 133–153 247 Reste des Goldenen Tores; Istanbul

Schneider 2007, 14ff Müller-Wiener 1977

L’Orange 1973, 27 Karayannopulos 1956, 488ff Pfeilschifter 2014, 59

Baker 2006, 338–350 Veyne 2008, 54 ­Christensen 1981, 203ff Burckhardt 1853 Meier Mischa in Kat. 2010, 44

nachhaltigen Wandlungen verknüpft. Der Name Byzanz verschwand mit Konstantins Neugründung, ich werde ihn aber im Folgenden nach der üblichen Gepflogenheit weiterhin verwenden. Die Datierung der einzelnen Geschehnisse ist Sache der Historiker. Die Stadt war an die Via Appia angeschlossen, die von Rom nach Brindisi, von dort ideell über den südlichsten Teil der Adria nach Saloniki und weiter nach Konstantinopel führte. Sie verlief durch die (theodosianische) Porta Aurea, das Drei-Arkaden-Tor, über die teilweise von zweigeschossigen Säulenhallen gesäumte Pracht­ straße (mese) der Stadt in das Zentrum. Die Informationen über Stadttopographie, Lage und Aussehen der Gebäude sind für die Forschung angesichts der heute dicht überbauten Stadt nur mit großen Schwierigkeiten zu gewinnen. Die Stadtforschung setzt daher mehr als auf archäologische Befunde auf die umfangreichen erhaltenen Textbestände. Sicher ist, dass unter Konstantin erst ein kleiner Teil des Masterplans der neuen Metropole umgesetzt werden konnte. Es entstanden an der Stelle der alten Agora das kaiserliche Forum, Verwaltungs- und Repräsentationsgebäude. Bei der Einweihung des Forum Constantini stellte Konstantin eine rund 37 Meter hohe Porphyrsäule auf, die eine Statue trug und in der zugleich zahlreiche christliche Reliquien, darunter ein Splitter des Kreuzes Christi, eingearbeitet waren – gleichsam eine programmatische Aussage des Selbstverständnisses der Stadt und zugleich ein Zeichen eines spätantiken Synkretismus. Solche Kaisersäulen, die sich auch andere Kaiser auf den Hügeln der Stadt errichteten, wurden regelrechte Markierungspunkte. Ob diese Statue Helios darstellte und sich Konstantin als Helios verehren ließ, darüber gehen die Meinungen auseinander. Hans Peter L’Orange beschrieb die Bilder des Konstantinsbogens, die den in Rom einfahrenden Kaiser bei Sonnenaufgang zeigen. »Ein neuer Tag, ein neues aureum saeculum geht über die Menschheit auf.« Dagegen spricht, dass zuerst Konstantins Wandlung zum Christen stand und seit etwa 326 der Sol, den er lange prägen ließ, zugunsten christlicher Motive von den Münzen verschwand. Rene Pfeilschifter hält eine heidnische Konnotation hingegen durchaus für möglich und sieht in Konstantins Umgang mit dem Christentum einen unbekümmerten Einbau des neuen Christengottes in sein polytheistisches Weltbild. Ganz anders Simon Baker, der hinter Konstantins Lavieren eine geschickte und gut überlegte Diplomatie vermutet und davon ausgeht, dass Konstantin jedenfalls seit den Schlachten gegen Licinius Christ war. Die Meinungen, ob Konstantin nach 310 (in diesem Jahr opferte er noch in einem Apollo-Tempel) überzeugter Christ war oder die neue Religion pragmatisch zur Bindung des Reichs verwandte (diese These hatte prominent und prägnant Jacob Burckhardt vertreten), sind geteilt. Vermutlich haben er und seine Nachfolger jedenfalls die Kraft der universalen Religion für den Aufbau des Staates erkannt. Zudem gilt, was schon festgestellt wurde, dass Konstantin sein Christentum nicht an die große Glocke hängte, um die überwiegend heidnische, gebildete Aristokratie vor allem in Rom, der Hochburg des Heidentums, nicht zu verprellen. Auf dem Bildprogramm des 315 anlässlich seines zehnjährigen Thronjubiläums (decennalia) errichteten Kon-

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Byzanz

stantinbogens fehlt die für solche Anlässe übliche Darstellung des kapitolinischen Opfers des Kaisers (wohl aber sind einige andere Opferhandlungen zu heidnischen Göttern abgebildet). Das Opfer für den Jupiter Capitolinus scheint nicht mehr opportun gewesen zu sein. Allerdings gibt es auf ihm auch keine christlichen Symbole. Es war anscheinend immer noch schwierig, sich als christlicher Kaiser zu bekennen. In Konstantinopel hatte Konstantin durchaus keine ausdrücklich christliche Stadt geplant. Das ist übrigens ein Unterschied zu Rom, wo im 4. und 5. Jh. durchaus eine Umcodierung zu einer christlichen Stadt im Gang war. »Denn man hatte sich inzwischen eine neue Vergangenheit im Stadtbild Roms konstruiert: die der christlichen Anfänge der römischen Kirche, festgemacht an den zahlreichen Orten der Märtyrerverehrung.« Neben einigen Kirchen, die in der Fülle profaner Bauten und Kunstwerke im Stadtbild verschwanden, waren weitere Bauten das schon von Vorgängern stammende Hippodrom mit der kaiserlichen Loge (kathisma) – vermutlich bereits mit dem gemauerten Obelisken, ursprünglich mit Bronzeplatten verkleidet – und der bronzenen Schlangensäule aus Delphi. Sie diente als Siegeszeichen für den Triumph der Griechen über die Perser 479 (die Namen von 31 beteiligten Städte waren auf ihr verzeichnet). Kaiser Theodosius ließ einen Obelisken des Thutmosis III. aus Rosengranit (aus dem Karnak-Tempel) aufstellen. Die Zeremonie ist auf einem Relief am Sockel des Obelisken dargestellt, den man benötigte, weil der Obelisk bei der Aufstellung 392 zerbrochen war. Wie weit als Nukleus der gesamten Stadtanlage bereits der Kaiserpalast mit römischen und hellenistischen Zügen entstand, ist unsicher. An diesem rund 100 000 qm umfassenden, terrassenartig angelegten Areal wurde bis ins 10. Jh. gebaut. Vorbild war auch hier wie für alle spätantiken Paläste der Kaiserpalast auf dem Palatin in Rom. Der Palast besaß Gartenanlagen, Theater und Bäder. Ab dem 12. Jh. benutzte man die Anlage nicht mehr, sie verfiel. Aufgrund der Überbauung durch den Sultanspalast aus osmanischer Zeit ist die Rekonstruktion kaum mehr möglich. Es dürfte eine erste Version der Irenenkirche (vermutlich als Basilika) und vielleicht (oder erst unter seinem Nachfolger Constantius II.) eine als Mausoleum gedachte erste Apostelkirche entstanden sein. Konstantins Sohn Constantius II. ließ eine hauptstädtische Kathedrale (die Große Kirche), die spätere Hagia Sophia, neben der Irenenkirche errichten. Es kann auch sein, dass bereits Konstantin damit begonnen hatte, dann eher als »Palastaula im Sinn des Kaiserkultes.« Kaiser Valens war der letzte Arianer, die Nachfolger wandten sich der Orthodoxie zu und unterstützten die Kirche in ihrem Kampf gegen die Häresie. 380 erklärte Theodosius I. in einem Edikt Cunctos Populos (Alle Völker) das nizäanische Christentum (»eine Gottheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, in gleicher Majestät und

Muth 2006, 456 248 Fries auf Obelisken-Sockel mit Theodosios; Istanbul

L’Orange 1973, 206–209

Engemann 2014, 110f Schreiner 2007, 109

Berger 2006, 447 Heidenverfolgung

90

Die Spätantike

Heldt 2008, 55

Meier 2004, 198–223

Firmicus Maternus, zit. nach Hahn Johannes in Kat. 2013a, 364

Hofzeremoniell

Alföldi 1999, 175 Ebd., 184

in frommer Dreieinigkeit«) zur Staatsreligion. Der arianische Patriarch von Konstantinopel wurde durch den katholischen Gregor von Nazianz ersetzt. 394 verbot Theodosius alle heidnischen Kulthandlungen, darunter die Olympischen Spiele zu Ehren des Zeus, die 393 zum letzten Mal stattfanden. Im Zuge der nun anhebenden Heidenverfolgung wurden die großen Tempel in Delphi und Alexandrien geschlossen. Ein Sturm auf die heidnischen Götterbilder, auf die »Götzen in Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht« (Ps 115), setzte ein. Immer wieder befeuert wurden diese Aktivitäten von selbstbewusst gewordenen Christen, deren Intoleranz in gnadenlosen Hass überging. Der ehemalige römische Senator und Konvertit Firmicus Maternus rief um 350 (dreißig Jahre nach der letzten Christenverfolgung) in seiner polemischen Denkschrift De errore profanarum religionum zur Vernichtung der heidnischen Kulte auf: »Von Grund auf müssen die Tempel und die abscheulichen Kultpraktiken der Heiden ausgemerzt und vernichtet werden und jenes Volk durch schärfste Gesetze und Erlasse Eurerseits korrigiert werden: […] Diese Götter soll das Feuer der Münzstätte oder die Flamme des Metallbergwerkes schmelzen: […].« Im Jahr 392 legte ein christlicher Pöbel das zweitwichtigste Heiligtum neben dem Kapitol in Rom, das Serapeum in Alexandrien, nach gewalttätigen Auseinandersetzungen wegen einer provokant angelegten Prozession, bei der pagane Kultobjekte als verdammenswert vorgeführt wurden, in Schutt und Asche. 415 ermordete ein Mob christlicher Fanatiker die am Museion von Alexandrien lehrende Astronomin und Philosophin Hypatia – ob mit Wohlwollen des Patriarchen Kyrill, ist unklar. Im Jahr 376 hatte der überwiegend in Trier residierende Kaiser Gratian im Westen im Gleichklang mit Byzanz ein Edikt gegen die Arianer, 379 eines gegen die heidnischen Kulte erlassen. Diesen Edikten fiel unter anderem der spanische Bischof Priscillian wegen Magie-Vorwurfs zum Opfer. Er wurde in Trier hingerichtet. 382 ging Gratian rigoros gegen die paganen Reste in Rom vor. Aufsehen unter den heidnischen Senatoren erregte vor allem die endgültige Entfernung des 400 Jahre alten Altars der römischen Siegesgöttin Victoria im Jahr 382 (er war schon einmal im Jahr 357 durch Constantius II. entfernt, durch Julian II. aber wiedererrichtet worden). Das Begehren des (paganen) Stadtpräfekten Quintus Aurelius Symmachus 384 um Wiedererrichtung wurde schließlich von Bischof Ambrosius durchkreuzt. Doch die Gewalt eskalierte nicht nur zwischen Christen und Heiden, sondern auch zwischen Christen verschiedener Konfessionen. Orthodoxe gingen auf vermeintliche Häretiker los. In den großen Städten Rom und Konstantinopel gab es blutige Kämpfe mit oft mehreren hundert Toten. Die Aufwertung des Christentums zur Staatsreligion veränderte das Hofzeremoniell nach hellenistischem und persischem Vorbild. Bereits Diokletian und Konstantin hatten mit dieser Sakralisierung begonnen. Auf Münzdarstellungen lassen sich die Veränderungen gut nachvollziehen. In konstantinischer Zeit begann auf Münzen und Schalen eine bislang ungewohnte Frontalität und Erstarrung – manchmal kam der Nimbus dazu –, eine »zeremonielle Starre und Siegerpose«. Es erlosch die lebendig-narrative Art der herrscherlichen Bildersprache zugunsten dogmatischer Typik.

91

Byzanz

Ob bei diesem Selbstverständnis des Kaisers als Abbild des göttlichen Universums die Kaiserideologie des Eusebius einen Einfluss hatte, ist unklar. Der Kaiser erhob sich nicht mehr von seinem Thron, um seine Besucher zu begrüßen, er verharrte vielmehr statuarisch. Man musste ihm mit (der im Alten Orient wurzelnden) Proskynese huldigen und Gesuche und Gaben durften nur mit verhüllten Händen überreicht werden. Von der unbewegten Starrheit des Kaisers bei Prozessionen berichtet uns der wichtigste spätantike Historiker, Ammianus Marcellinus. Dies alles floss sowohl in die christliche Liturgie als auch in die Kunst ein, etwa in die Abstraktheit der Ikone. Allerdings gab es auch Berichte, dass sich die kaiserliche Familie dem einfachen Volk zeigte und bei den zahlreichen Prozessionen teilnahm. Anfang des 6. Jh.s wurde der Kaiser im Hippodrom sogar mit Steinen beworfen.

Beck 1994, 97ff 4.2.1. II.1.2.2.2. Baldson 1950, 274 Verzone 1967, 8

Schreiner 2007, 60f

249 Reste der Stadtmauer von ­Konstantinopel; Istanbul

Während der Herrschaft des theodosischen Kaiserhauses mit dem Spanier Theodosios I., Arkadios und Theodosius II. schritt der Ausbau mit mehreren Kaiserforen zügig voran. 412 wurde mittels einer neuen Mauer mit etwa 100 Wehrtürmen die Fläche der nunmehr größten Stadt der damaligen Welt nahezu verdoppelt und das mächtigste Verteidigungssystem der Spätantike geschaffen. Die Maueranlage wurde ein militärtechnisches Vorbild für zahlreiche spätere Kreuzritterburgen im Nahen Osten. Ganz im Süden der Mauer errichtete Theodosius die bereits erwähnte 66 m hohe Dreitoranlage mit einem goldverkleideten Bronzetor. Das Goldene Tor wurde neben der Hagia Sophia zum zweiten Wahrzeichen der Stadt und zum Ausgangspunkt der Triumphzüge nach römischem Muster. Um 455 ließ der römische Patrizier und Konsul des Oströmischen Reichs Studios ein großes, Johannes dem Täufer geweihtes Kloster errichten. Die Basilika ist die älteste noch im Original (wenn auch in schlechtem Zustand) erhaltene Kirche Konstantinopels. Dem Kloster, das zeitweilig um die tausend Mönche beherbergte, stand 250 Jahre später unter anderem Theodor als Abt vor. Er war neben Johannes von Damaskus und Dionysios Pseudo-Areopagites ein wichtiger Theologe der Ikone und wurde im Bilderstreit mehrmals inhaftiert. 451 wurde im Konzil von Chalcedon gegen den Widerstand mancher Patriarchate (z.B. jenem von Alexandrien, das sich monophysitisch ausrichtete) die Kirche als Reichskirche zur Legitimationsinstanz der Kaiserstadt erklärt. Theologische Entscheidungen waren damit zugleich politische Entscheidungen. Paradoxerweise wurde dadurch eine Grundlage für die später so erfolgreiche Expansion des Islam

8.4.

92

Die Spätantike

V.3.2.

Meier 2009 6.2.2.

Stanzl 1979, 47 250 Blick in die Yerebatan-Zisterne; Istanbul

Çeçen 1990, 20

V.6.1.

8.3.

gelegt, weil viele christliche Gemeinden unter muslimischen Herren mehr Freiheiten genossen als unter dem Regime von Konstantinopel. Die Transformation war demnach ein längerer Prozess. Neuerdings hat Mischa Meier in einer vorzüglichen Biographie auf die wichtige Rolle des im Schatten des großen Justinian stehenden Anastasios I. für diesen Transformationsvorgang aufmerksam gemacht. Einen großen Sprung nach vorne machte Konstantinopel unter Justinian, neben Ramses II. einer der großen Bauherrn der Geschichte. Mit Justinian begann die Ablösung der Basiliken konstantinischen Typs durch Zentralbauten. Unter anderem entstanden nach Bränden an der Stelle der alten Basilika eine neue Hagia Sophia und eine neue Irenenkirche als zentrale Kuppelbauten. Die Apostelkirche – sie war vielleicht die »prächtigste Ausformung« einer kreuzförmigen Kirche – wurde zur Grablege der Kaiserfamilie. Auch in der Provinz, in Ravenna oder Ephesos, entstanden Kirchenbauten. Bis heute erhaltene Zisternen sicherten in der Metropole die Wasserversorgung. Das Wasser musste in das wasserlose Konstantinopel mittels eines großen Aquädukts, gebaut ab 368 unter Kaiser Valens, aufwendig von der 120 km entfernten Region Bizye herangeführt werden. In den offenen und geschlossenen Zisternen vermuten Forscher einen täglichen Wasservorrat um die 5o Liter pro Person und Tag für ein Jahr. Justinian hatte vorübergehend das Römische Reich ein letztes Mal wieder einen können – Byzanz hatte seinen Anspruch auf den Westteil ja nie aufgegeben. Auch das Vandalenreich und das Ostgotenreich konnten Justinians Feldherren Belisar und Narses für Byzanz gewinnen, bevor Italien 568 an die Langobarden verloren ging. Justinian hinterließ bei seinem Tod ein Riesenreich von Gibraltar bis zum Kaukasus, von den Alpen bis nach Ägypten. Es war ein christliches Reich und ein Reich des Kaisers geworden. Es gab keinen Senat mehr, damit auch keine Beziehung mehr zur alten römischen Republik. Kurzzeitig wurde im 7. Jh. Sizilien zum Mittelpunkt des Reichs. Konstans II. residierte sogar einige Jahre in Syrakus. Im 9. Jh. ging die Insel an die Sarazenen (827 landeten sie auch in Kreta) verloren, die dort eine reiche – leider verlorene – Kultur gründeten. Um 1000 übernahmen die Normannen Sizilien, das eine arabische Verwaltung und ein römisch-byzantinisches Rechtssystem hatte. Sizilien erblühte in einem arabisch-normannisch-byzantinischen Mischstil. Die Nachfolger Justinians, die bereits dem Mittelalter zuzurechnen sind, hatten alle Hände voll zu tun, die herandrängenden Perser, Vandalen, Goten, Awaren, Bulgaren, Ungarn und – ab der 2. Hälfte des 7. Jh.s – die Araber in Schach zu halten und die zahlreichen Gebietsverluste (darunter Syrien, Ägypten und Palästina) zu verdauen. Die über zwei Jahrhunderte im Mittelmeerraum wütende Pest schwächte die Herrschaft zusätzlich. Diese Zeit war die dunkelste, die Byzanz erleben musste. Dazu kam eine der schwersten Krisen auf den Gebieten der Religion, Innenpolitik und der Kunst. Es war der im 8. Jh. ausgebrochene Bilderstreit. Dessen endgültige Überwindung 843 führte zu einer neuen Blüte des Reichs mit sei-

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Byzanz

ner größten Ausdehnung, wobei allerdings die neuen Gebiete (Armenien, Bulgarien, Dalmatien, Süditalien) nicht lange gehalten werden konnten. Nach Basileios I., dessen armenische Familie sich in Makedonien niedergelassen hatte, spricht man von der »makedonischen Dynastie«. Sie förderte die Ausdehnung nach Osten und kulturell die Rückbesinnung auf die Antike. In der Kunst sprechen Kunsthistorikerinnen von einer »makedonischen Renaissance«, die sich durch eine an der Antike angelehnten Plastizität und Raumwirkung ausdrückt. Schöne Beispiele dafür haben sich in Hosios Lukas und Nea Moni (Chios) erhalten. In Konstantinopel entstand die erste Universität, an der unter anderem der mehrfach abgesetzte, exkommunizierte und wieder rehabilitierte Patriarch Photios lehrte. Er schuf bedeutende theologische Werke, Bibelkommentare und christologische Klärungen und regte eine Missionstätigkeit der byzantinischen Kirche an (Slawenmission). Im Zuge dieser Mission durch Kyrill und Methodius wurde Russland christianisiert. Damit war das spätere Ausbreitungsgebiet der Ikone vorbereitet. Die Sophienkirche in Kiew (1037–1046) ist ein beeindruckendes Symbol für die byzantinische Prägung Russlands. Zahlreiche Felskirchen in Kappadokien und im Kaukasus wuchsen in dieser Zeit buchstäblich aus dem Boden. Großartige Buchmalerei entstand vor allem in Armenien, darunter der Rabbula-Codex, der Vorbild für weitere Arbeiten gewesen sein dürfte. In diese Blüte Konstantinopels fiel ein Aufschwung im Seehandel, in der Landwirtschaft und im Handwerk, der Metall-, Keramik- und Stoffverarbeitung. Seit dem 6. Jh. war Amalfi eine wichtige Drehscheibe zwischen Süditalien und Byzanz, wo im 10. Jh. ein größeres Volumen umgeschlagen wurde als in Venedig. Die geistige Bewegung, die sich ab dem 10. Jh. in der Stadt abspielte, wird in der Literatur gerne Humanismus genannt, sei es, dass man eine humanistisch-wissenschaftliche Richtung gegen eine monastisch-asketische stellt, oder sei es, dass man zwischen einem theozentrierten und anthropozentrierten Humanismus unterscheidet. Festgemacht wird dies an den Namen des Lichtmystikers und langjährigen Abtes des Mamas-Klosters, Simeon, der mit seinen 58 Hymnen über die Gottesliebe ein auch literarisch großes Werk verfasste, auf der einen und jenem des populären Michael Psellos auf der anderen Seite. Psellos war Polyhistor, politisch aktiv und hinterließ ein gewaltiges Werk aus allen Fachgebieten – in üppigem rhetorischen Stil geschrieben. Philosophie war für ihn eine Wissenschaft, die alle Gebiete umfasste. Psellos war davon überzeugt, die antike Philosophie, vor allem Platon (daneben aber auch ägyptische Quellen und die Chaldäischen Orakel), wiederentdeckt und für Byzanz fruchtbar gemacht zu haben. Er war einer der wichtigsten Anreger dafür, dass im Geistesleben von Byzanz der Platonismus eine »intellektuelle Mode« wurde, und er war ein »Advokat für die Rolle der Philosophie in Byzanz«. Psellos gehörte – ähnlich wie Patriarch Photios – zur geistigen Elite der makedonischen Dynastie, die sich bewusst auf die Antike bezog und eine humanistische Aufklärung verfolgte.

251 Auferstehung Jesu (14. Jh.); Hosios Lukas

Rice 1993, 132–158

Ducellier 1990, 236f Humanismus

Kapriev 2005, 201

Ebd., 215; Kristeller 1974, 54 Barber 2007, 71

94

Die Spätantike

8.4.

7.0.

Tatakis 1949 cf. Ierodiakonon ­Katerina/Zografidis George in Gerson 2010, 843–868

252 Hagia Sophia, Mosaik der Kaiserin Irene Fried 2006, 159

3.5.

Grabar 1964, 59

Psellos hat sich auf eine sehr spirituelle Weise auch mit der Ikone auseinandergesetzt, genauer mit der Frage, was die Ikone zu leisten vermag. Die aufgeklärte Intellektualität des Psellos stieß im Klima des 1. Kreuzzuges und der Eroberung Jerusalems 1099 bald an die Grenzen der Orthodoxie. Die umfangreichen Streitereien über Häresie und wahre Liebe förderten eine polemische Literatur und trugen so zur Qualität der theologischen Debatte bei. Auf den Topos einer »byzantinischen Philosophie«, den vor allem Basil Tatakis geprägt hat, soll hier ausdrücklich verwiesen und in einem späteren Kapitel näher darüber gesprochen werden. Der Platonismus blieb im Osten, wo das gesamte Œuvre Platons vorlag, die Leitphilosophie. Tatakis ging es vor allem um die Sondierung einer dem Westen analogen christlichen Philosophie in Konstantinopel. Demgegenüber hat der Neuplatonismus eine breitere Spannweite. Er umfasst auch, aber eben nicht nur, die christliche Philosophie des Ostens. Fragen nach der Identität einer byzantinischen Philosophie, die ihren Höhepunkt nach dem Bilderstreit bis ins 11. Jh. erlebte, sowie nach dem Ausmaß ihrer Selbständigkeit gegenüber der Theologie sprengten den Rahmen dieser Untersuchung. Mit Basileios II. begann die Wende zum Schlechteren. Seine Nachfolger plünderten die Staatskasse, was nicht zuletzt die Verteidigungsbereitschaft schwächte. Sogar die starke byzantinische Währung geriet unter Abwertungsdruck. Es kam zu Ämterkauf und Korruption. Vom Osten rückten die Seldschuken heran, die nur mehr mit Mühe abgewehrt werden konnten. Als Leo III. Karl den Großen zum Kaiser für das Gesamtreich krönte, weil er eine Frau (Kaiserin Irene) auf dem griechischen Thron nicht anerkannte, wurde dies 812 durch Michael I. noch akzeptiert. Dazu kam die von Leo gefälschte Konstantinische Schenkung, die dazu diente, dem Papsttum eine über den Kaisern stehende Rolle zu sichern. Unter Leo erhielt die schon des Längeren stattfindende Angleichung von römischer Kirche und Papst an das Kaisertum (Imitatio imperii) eine neue Dynamik. Das päpstliche Zeremoniell ahmte »in Kult, Liturgie, Kleidung, Palastordnung und Prozessionswesen das kaiserliche nach; […].« Dazu kam der imperiale Ausbau des Lateran – unter Verwendung von antiken Spolien und antiken Skulpturen (Reiterstatue Marc Aurels als Konstantin) – als sichtbares Zeichen des Anspruchs der römischen Kirche. Ein weiterer Gegenpol erwuchs Byzanz im Frankenreich. Sein Selbstbewusstsein führte zur politischen und religiösen Trennung, die man im 15. Jh. rückblickend als Schisma bezeichnete. Patriarch Michael I. Kerullarios setzte sich mit dem lateinischen Papst (Leo IX.) gleich und ließ 1053 die lateinischen Klöster und Kirchen schließen. Dieser Akt hatte fanatische Reaktionen auf beiden Seiten zur Folge. Eine arrogante römische Gesandtschaft und der alte Zwist um den Hervorgang des Heiligen Geistes aus Gottvater und dem Sohn (filioque) führten schließlich zu heftigem Streit. Die Lateiner hinterlegten am 16. Juli 1054 eine Bannbulle gegen Michael in der Hagia Sophia, was die Wut der Griechen auslöste. Trotzdem blieb 1054 eigentlich nur ein heftiger Streitfall, die Gesprächskanäle blieben erhalten. Auch in der Kunst findet sich kein Niederschlag dieses Ereignisses. Zumindest eine Konsequenz war

95

Byzanz

allerdings, dass Rom die Bevormundung aus Byzanz abschütteln und das Papsttum sich entfalten konnte. Eine weitere Konsequenz mag der strenge Konservativismus gewesen sein, der nun Platz griff. »Im Weihrauchdunst […] erstickte freies Denken und Erfinden.« Knapp nach der Jahrtausendwende baute man unter der Herrschaft der Komnenenkaiser in den Blachernen im Nordwesten der Stadt am Goldenen Horn ein neues Regierungsviertel. Zwar war die Gegend unter militärischem Gesichtspunkt die sicherste Region in der Stadt, trotzdem sind die Gründe für dieses Projekt unklar. Unter dieser Dynastie wurde die Kunst persönlicher und intimer, zugleich zutiefst religiös. Aber es gab auch – vor allem in den Palästen – profane Kunst, Darstellungen des höfischen Lebens und historischer Ereignisse. An der Peripherie ist eines der eindrucksvollsten Ensembles das von Guillaume II. de Villehardouin ­gegründete Mistra bei Sparta, das 1262 an Byzanz fiel. Es weist eine Vielzahl von Kirchen mit qualitätvoller Freskierung auf. Von Sizilien (Cefalù, Monreale), über Norditalien (Torcello) bis Zypern prägte der komnenische Stil die Kunst. Auf Zypern lassen sich in einigen Kirchen aus dem späten 15. Jh. beide Stiloptionen nebeneinander betrachten: In Galáta im Troodos-Gebirge ist die Archangelos Michael-Kirche im traditionellen hieratischen Stil freskiert, die ein paar hundert Meter entfernte Panagia Poditou hingegen mit einem wunderbaren französisch/venezianisch-byzantinischen Mischstil mit perspektivischen und naturalistischen Aspekten. Lothar Knatz beschrieb die Verhältnisse praxisnah: »Ein italienischer Kaufmann vermählt sich mit einer fränkischen Adeligen, erzieht die Kinder im orthodoxen Glauben und stiftet eine Kapelle, die von einem zypriotischen Künstler nach orthodoxem Kanon ausgemalt wurde.« Einen der markantesten Einschnitte brachte die Okkupation Konstantinopels durch die lateinisch-christlichen Kreuzfahrer 1204, die erste geglückte Eroberung der Stadt seit 900 Jahren. Politische Ränke, durch Brände beschädigte Mauern und eine knapp einjährige Drohkulisse der venezianischen Flotte am Goldenen Horn hatten dies möglich gemacht. Der Hass der Lateiner auf die Griechen entlud sich in einem Massaker an Menschen und einer Zerstörungswut samt dem Raub unzähliger Kunstschätze, die im Westen verschachert wurden. Vor allem Venedig wurde zu einem Umschlagplatz byzantinischer Kunst. Noch heute ist deswegen byzantinische Kunst in zahlreichen Museen des Westens verstreut. 1204 wäre ein Jahr, an dem man das Schisma besser festmachen könnte als am Jahr 1054. Aus Geldmangel erlebten in der lateinischen Besatzungszeit Kunst und Kultur einen Niedergang, viele Kirchen und Paläste verfielen. Nur wenige Kirchenbauten entstanden im lateinischen Kaiserreich, zumeist gotische Kirchen, etwa auf Zypern. In abgelegenen Gebieten hielt sich die byzantinische Kunst.

Roeck 2017, 276

253 Fresko in Agios-­ Nikolaos; Mistra 254 Hodegetria-­ Aphendiko, Innen­ ansicht; Mistra

Knatz 1990, 108f

96

Die Spätantike

Schreiner 2007, 36

255 Istanbul, Blick auf das Galata-Viertel

VI.3.4.

Rice 1993, 220ff

In der Bevölkerung Konstantinopels verstärkte sich aus Abneigung gegenüber dem lateinischen Westen die Bildung eines byzantinisch-griechischen Selbstverständnisses mit Sympathien für das Erbe der Antike. Auch wenn 1261 der Spuk bereits wieder vorbei war und der byzantinische Flottenführer Alexios Strategopulos gegen geringen Widerstand die Stadt zurückeroberte, sodass wenig später Michael VIII. Palaiologos feierlich einziehen konnte, erlitt die geistige Führungskraft der Metropole nachhaltigen Schaden. Der Kaiser musste zudem nach alten Handelsverträgen mit Genua den Genuesen ein Niederlassungsrecht einräumen. Sie erhielten das Gebiet Galata, das sie ausbauten, gegen die Abmachungen befestigten und den heute noch existierenden Wehrturm auf die Spitze des Hügels stellten. Über die Genuesen lief der Großteil des internationalen Handels, denn Konstantinopel musste die Flotte einsparen und sich auf einen Beistandspakt mit Genua verlassen. Eine verbreitete Abneigung gegen den lateinischen Westen und die humanistischen Regungen brachten Künstler und Intellektuelle nach dem Ende der lateinischen Okkupation ins neu erblühende Zentrum. Der Kaiser verstand sich als aufgeklärter Herrscher und nicht mehr als Stellvertreter Christi auf Erden. Es kam zu zahlreichen Gründungen von Kirchen und Klöstern im ganzen Reich. In Bulgarien, Rumänien, Serbien gab es Zentren der religiösen Kunst und eine Fülle von Kirchen (Studenica 1314, Gracanica 1321, Decani 1327, Ravanica 1377, Kalenic 15. Jh., Moldovița 1532, Sucevița 1584) mit expressiven Malereien in satten Farben. Viele der Klöster sind bis heute Schmuckstücke und werden auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes geführt. Teilweise waren Künstler aus Konstantinopel selbst am Werk und verbreiteten eine höfische Kunst. Die Scheunenkirche Panagia tou Araka (1192) in Lagoudera auf Zypern ist dafür ein erlesenes Beispiel. Auffällig dabei ist die Abbildung zahlreicher Gebäude auf den Ikonen. Der Hellenismus, den man früher als heidnisch verurteilt hatte, gewann starken Einfluss. In Mistra lebte Georgios Gemistos Plethon, ein wichtiger, in der Renaissance von Florenz wirkender neuplatonischer Philosoph. Seine Gebeine holte Sigismondo Malatesta 1466 nach Rimini. Plethon soll Cosimo Medici die Gründung der ersten platonischen Akademie der Neuzeit empfohlen haben. Die humanistischen Aspekte führten angesichts der platonischen Leitkultur zwar nicht zu einer Renaissance im westlichen Sinn des 14. und 15. Jh.s, aber doch zu einer Aufweichung der strengen Statuarik des alten Stils. Die Eigenart der letzten Kunstepoche in der Zeit der Palaiologen (1259–1453) ging als »Palaiologenstil« in die Forschungsliteratur ein. Er schloss die byzantinische Kunst ab und seine Entdeckung hat zur Behauptung gleich mehrerer »Renaissancen« geführt. Wie auch immer: Die Kunst dieser Zeit zeigt eine humanistische Facette, ist lebendig, detailreich-erzählend und dekorativ. Ein eindrucksvoller Niederschlag palaiologischer Rückwendung zur freieren Kunst der Antike sind die Mosaiken und Fresken der nach einer Zerstörung wieder aufgebauten Chora-Kirche. Sie waren eine Frucht der Stiftung des Politikers und Gelehr-

97

Byzanz

256 /257 Fresken in der Chora-Kirche; Istanbul

ten Theodoros Metochites. In diesen Mosaiken hat die »letzte Renaissance der Konstantinopler Kunst ihren zweifellos schönsten Ausdruck gefunden.« Auch in Mistra hat der aufgelockerte Palaiologenstil seine Spuren hinterlassen und steht dort neben dem alten konservativen. Besonders schön lassen sich die Unterschiede in der Ikonenmalerei in den byzantinischen Kirchen Zyperns studieren. Teilweise ist die Palette von einem streng hieratischen Stil bis zu den Lockerungen der spätbyzantinischen Renaissancen in einer einzigen Kirche versammelt (Agia Paraskevi in Geriskopou bei Paphos; Agios Nikolaos tis Stegis in Kakopetria). Die Entwicklung der Ikonostasis half mit, dass die Ikonenkunst in der Palaiologenzeit eine besondere Blüte erreichte und neue Formen szenischer Ikonen entstanden. Die Freiheit und Materialität in der Gestaltung und die entmaterialisierende Strenge der hesychastisch-mönchischen Doktrin hielten sich geradezu die Waage. Der vorletzte Kaiser, Johannes VIII., reichte nach reichlichem Hin und Her in den vorausgehenden Jahrhunderten dem Konzil von Ferrara-Florenz die Hand zur konfessionellen Wiedervereinigung, die 1439 verkündet wurde. Die gebildeten Schichten im Oströmischen Reich lehnten diese Annäherung an Rom aber vehement ab, zahlreiche Diözesen zogen osmanische Herren dem römischen Papst vor. 1453 schließlich eroberte Mehmed II. mit seiner überlegenen Artillerie Konstantinopel, das bis zur Republikgründung 1923 Konstantiniye hieß, das Volk bevorzugte den Namen Istanbul (von griech.: eis tin polin/in die Stadt). Drei Tage lang plünderten die Truppen die Stadt und vernichteten unschätzbare kulturelle Werte. Andererseits wussten die Eroberer die byzantinische Kultur durchaus auch zu schätzen. 1460/61 fielen Mistra und Trapezunt an die Osmanen. Im Osten wurde Moskau zum neuen Zentrum und zum Neuen Rom. Der Kiewer Großfürst Wladimir I. (»der Apostelgleiche«) nahm 988 anlässlich seiner Vermählung mit der Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II. den byzantinischen orthodoxen Glauben an und führte erzwungene Massentaufen in der Bevölkerung durch. Seit dieser Christianisierung der Kiewer Rus war die orthodoxe russische Kirche bis zur Eroberung Konstantinopels stark griechisch geprägt. Sie empfand sich nicht in erster Linie als Erbin von Byzanz, sondern suchte nach dem Fall Konstantinopels, fern jeder scholastischen oder gar aufklärerischen Relativierung, als letzte christliche Bastion im Osten eine eigene Identität zu entwickeln. Mit solchem Selbstbewusstsein behielt die Kirche eine massive Präsenz im Land, die – nach dem Untergang der Sowjetzeit – noch heute eine erschreckende politische Kraft entfaltet.

Lafontaine-Dosogne Jacqueline in Volbach/ Lafontaine-Dosogne 1968, 146

V.3.4.3.5.

98

Die Spätantike

8.4.

Yerasimos 2007, 214

V.3.4.3.5.

Russland ist seit damals ein Hort der Ikonenmalerei. Es entstanden lokale Schulen, die die genormte Form der Ikonenmalerei immer wieder höchst kreativ durchbrachen. Auch volkstümliche Traditionen flossen ein. Die Ikone kreierte einen Kunsttyp, der einerseits als Höhepunkt religiös-anagogischer Kunst angesehen werden kann, der aber auch mit totalitären Ambitionen und einer regulierten Kunst in Einklang zu bringen war. Der Zug der griechischen Gelehrten nach Florenz verhalf dort der angebrochenen Renaissance zur Blüte und inaugurierte die Neuzeit. Mehmed verlegte nach umfangreichen Aufbauarbeiten (Topkapi Saray, Yedikule Hisar, Basar) den Regierungssitz von Edirne nach Istanbul und machte es zum Mittelpunkt des Osmanischen Reichs. Dazu gehörte auch der Bau einer Sultansmoschee auf dem Gelände der abgebrochenen Apostelkirche (Fatih-Moschee). Man fand keinerlei Bauteile der alten Kirche in der Moschee, sodass von einer radikalen Auslöschung der Erinnerung an das Alte ausgegangen werden kann. Die weitere Bautätigkeit, die wohl wegen der noch nötigen Konsolidierung des Reichs erst unter Süleyman I. dem Prächtigen und seinem berühmten Baumeister Sinan einen Höhepunkt erreichte, hielt sich an die Vorbilder Konstantinopels. Die Geschichte Istanbuls unter den Osmanen gehört in den nächsten Abschnitt.

6.2. Byzantinische Kunst und Architektur

4.2.

V.4.2.3.

Die Frage, ob man eine oströmische, byzantinische und spätantike Kunst voneinander unterscheiden kann, ist vor allem, was die Zeit vor Karl den Großen betrifft, schon kunstgeschichtlich diffizil, philosophisch ist sie gar nicht aufzulösen, weil die Kontinuität platonisch-neuplatonischer Tradition ungebrochen fortwirkte. Die gleiche griechische Tradition der Philosophie, die im Kontext des Christentums zu den schon an anderer Stelle erwähnten heftigen theologischen Kämpfen bei der Formulierung von Glaubenswahrheiten führte, hatte einen Niederschlag in Kunst und Architektur. In der Kunstgeschichte ist die Wahrnehmung byzantinischer Kunst jüngeren Datums. Namhafte Ausstellungen nach dem Ersten Weltkrieg in, Paris (1931), Worcester (1937), Baltimore (1947) regten das Forschungsinteresse und die Sammlungstätigkeit großer Museen (Dumbarton Oaks bei Washington, New York, Baltimore, London, Paris, Leningrad, Athen) an. Dabei reichte das Interesse an Byzanz bis in die Renaissance zurück, wo zahlreiche Gelehrte aus dem byzantinischen Raum (v.a. nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen) in den Westen strömten. Kunst und Architektur kamen bereits seit längerer Zeit durch Künstler, Wissenschaftler, über den diplomatischen Verkehr, aber auch durch die Bedürfnisse kirchlicher Liturgie in den Westen – neben den üblichen liturgischen Geräten auch Gewänder und kostbare Stoffe. Trotz der Konkurrenz mit dem Hof von Karl dem Großen in Aachen und der Hochschätzung der Antike durch die Gelehrten an Karls Hof, blieb über Ravenna und Rom, das neben den antiken Schätzen auch einen reichen Fundus an byzantinischer Kunst besaß, in karolingischer Zeit dieser Kulturkontakt erhalten und prägte die romanische Epoche. Der kulturelle Austausch

99

Byzanz

verstärkte sich in ottonischer Zeit nochmals erheblich durch die guten Kontakte der beiden Kaiserhäuser und jenen zwischen großen Klöstern. In der Geschichte des westlichen Mittelalters stößt man daher immer wieder auf solche Austauschvorgänge mit Byzanz. Die Bedeutung der byzantinischen Kunst und Architektur ergab sich nicht zuletzt daraus, dass sie das kulturelle Vakuum im Westen füllten. Trotzdem hielt sich über die Jahrhunderte ein starker Romzentrismus und bisweilen folgte die Einschätzung der byzantinischen Kunst der negativen Bewertung des Byzantinischen Reiches etwa durch Edward Gibbon im 18. Jh. Die andere Seite vertrat unter anderem Joseph Strzygowski, der sich einer solchen Sicht entgegenstellte, indem er die Gegenüberstellung von Orient und Rom besonders pointierte. Lässt sich ein Ende der byzantinischen Kunst mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ansetzen (auch wenn die byzantinische Kunst in anderen geographischen Gebieten durchaus eine Fortsetzung hatte), ist ein Beginn schwieriger anzugeben. Die Gründung Konstantinopels war ein in die Spätantike eingebetteter Akt. In Byzanz, dieser imposanten Anlage, wo sich zwei Kontinente treffen, zwei Meere begegnen und wichtige Handelswege kreuzen, befanden sich die Sitze von Kaiser und Patriarch, die niemals in ähnliche Gegnerschaft gerieten wie im Westen. Manche verbinden aus dieser Konstellation mit byzantinisch die Tatsache, dass die frühchristliche Kunst vor allem seit Theodosius und Justinian als kaiserliche Machtkunst einen zusätzlichen Aspekt erhielt. In der Kaiserkunst fielen, parallel zur Aneignung christlicher Religion durch den Kaiser, Sakral- und Reichskunst zusammen, galt doch der Kaiser als Statthalter Gottes auf Erden und diese Legitimität gehörte (seit Chalcedon 451 offiziell) zur Identität von Byzanz. »Der Unterschied zur Spätantike drückt sich im 6. Jahrhundert in fast allen Lebensbereichen aus, auch in der Stellung des Kaisers gegenüber der Öffentlichkeit und in seinem Verhältnis zur Kirche. […] Hier wird die menschliche Person in orientalischem Geist zu einer überirdischen Erscheinung gesteigert.« Dies lässt sich kunst- und architekturgeschichtlich durchaus nachvollziehen. Das ab Justinian in strenger Übereinstimmung mit der Orthodoxie entwickelte einheitliche Kunstprogramm in der Architektur der Zentralbaukirche und in der Definition der Ikone, die als Kultbild das Repräsentationsbild ablöste, erwies sich – wie der Bilderstreit bald zeigen sollte – als enorm stabil und eigenständig. Es ging dabei keineswegs nur um ästhetische Fragen, sondern um philosophische Inhalte und um das politische Selbstverständnis des Byzantinischen Reichs. Die byzantinische Kunst erscheint als beständiges, ja – angesichts einer tausendjährigen byzantinischen Periode – als neben Ägypten beständigstes Kunstprogramm der Geschichte. Allerdings sind, wie oben angemerkt, die Unterschiede zwischen den einzelnen Dynastien nicht unerheblich. Die byzantinische Kunst war eine Fortsetzung der spätrömischen Kunst und begann mit einem gigantischen Transfer von Kunstwerken in die neue Kapitale. Neben Skulpturen und Friesen wurden ganze Säulen und Architekturteile nach Byzanz gebracht. So sollen allein in und bei der Hagia Sophia über vierhundert antike Bildnisse gestanden haben. Das Hippodrom und die Fora waren geradezu Freilichtmuseen

V.5.1.

Strzygowski 1901

Volbach W. Fritz in Volbach/Lafontaine-­ Dosogne 1968, 13

Schreiner 2007, 64 Wessel 1999, 1171

100

Die Spätantike

Bredekamp 1975, 79 Hieronymus, zit. nach Pekáry 2007, 123 Deckers 2007, 104

Eusebius, Vita Const., III, 58; III, 54

Hutter/Holländer in BSG III, 86; Grabar 1964, 7f

Worringer 1908, 48 VIII.6.2.2. 8.4.

Hutter/Holländer in BSG III, 94

Coche de la Ferté 1982, 30 Maguire/Maguire 2007

antiker Standbilder. Hieronymus schrieb entrüstet: »Konstantinopel wird eingeweiht, durch die Entblößung fast aller anderer Städte.« Diese wurden von den Christen nicht mehr als (heidnische) Kultbilder klassifiziert, sondern als Kunstwerke wahrgenommen. Erst die Kreuzfahrer zerstörten sie im 13. Jh. Und natürlich waren sie vielen bilderfeindlichen Theologen ein Dorn im Auge. Eusebius feiert in seiner Konstantinsvita die »herrlichen Taten des Kaisers«, überall die alten heidnischen Tempel niederreißen zu lassen und die »Götzenbilder« dem Feuer zu überantworten. Zudem will er uns weismachen, die Standbilder seien dort bewusst aufgestellt worden, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Die neue Dynamik zog zahlreiche Künstler in die neue Metropole, obwohl man sie im Westen durch Steuervergünstigungen zum Bleiben animierte. Gründe für die Abkehr von der antiken Kunst wurden bereits angesprochen. Die in diesem Zusammenhang oft genannten drei Ursachen: ein primär geistiges Verständnis von Christentum (insbesondere im asketischen Mönchtum), die anagogische Funktion des Platonismus und die Ritualisierung der Kaiserliturgie könnten vielleicht für eine zureichende Beschreibung dienen, was man mit »byzantinischer Kunst« verbindet. Die byzantinische Kunst verlor die Leichtigkeit des Narrativen zugunsten einer zunehmend strengen und vergeistigten Komposition. In der Malerei verschwand der hellenistische Illusionismus und machte klarer Ordnung, Harmonie und Statuarik Platz. Ruhige Ausgewogenheit trat an die Stelle von Spannung. Die spezifischen Bildmittel der nachikonoklastischen Ikone, die das Bild transparent auf das Intelligible und zeitlos Transzendente machen, heben an. In diesem teilweise (wie in der Ikonenmalerei) rigorosen Rahmen kann man die Verkörperung einer zeitlosen Wahrheit, die Universalität der zu größter Meisterschaft gediehenen meditativen Spiritualität im Kunstwerk oder aber eine dogmatische und machtpolitische Verknöcherung der ursprünglich lebensfrohen spätantiken Kunst sehen. Letzteres empfand Wilhelm Worringer, der meinte, dass weder bei der Betrachtung der »tote[n] Form« einer ägyptischen Pyramide, noch bei der »Lebensunterdrückung« von byzantinischen Mosaiken eine Einfühlung gelinge. Entgegen diesem Eindruck beansprucht von der kunstphilosophischen Anlage her die Ikone dynamische Transparenz. Gleichzeitig erscheint sie als Kunstwerk besonderer Stabilität und Dauer. Kunst erhält – christlich-neuplatonisch aufgeladen – einen Verweisungsbezug. Rein formal darf nicht übersehen werden, dass sich in der byzantinischen Kunst – bei aller grundsätzlichen Konstanz – etliche »Renaissancen« ausmachen lassen, von denen jede »ein eigenes Bild der Antike erwirbt.« Daher ging die hellenistische Leichtigkeit nie ganz verloren und manch ein Kunsthistoriker sah tendenziell an der Peripherie und in der Provinz eine Begünstigung der Stilisierung, während »die Prägung durch die griechische Kultur die Sensibilität des Künstlers öfter zu einer eher naturalistischen Darstellungsweise anregte.« Zudem ist byzantinische Kunst nicht auf reine Sakralkunst einzuschränken, auch wenn ein erheblicher Teil der Kunst von Mönchen hergestellt worden sein dürfte. Viele Zeugnisse profaner Kunstwerke bezeugen dies eindrucksvoll. Byzanz wurde berühmt durch seinen sagenhaften Reichtum und Luxus. In der Tat wurde die unübersehbare Flut von Luxus­

101

Byzanz

künsten, die Marmor-, Mosaik-, Elfenbein- und Emailkunst, die Seidenweberei und Goldschmiedekunst in das Kunstprogramm, auch in das theologische, nahtlos eingebaut. Auch hier gab es diesen Luxus rechtfertigende spirituelle Metaerzählungen. Gervase Mathew versuchte, eine ausdrückliche byzantinische Ästhetik zu beschreiben. Der Dominikanerpater und Kunsthistoriker kennzeichnete eine solche durch vier Faktoren: Geschmack im Sinne der griechisch-römischen Tradition, ein mathematisch-geometrisches Verständnis von Schönheit, ein hervorstechendes Interesse für Optik und Licht und die Annahme einer geistigen Welt, die in der empirischen ihren Schatten findet. Ich bezweifle, ob man mit einem solchen Paket dem, was in einem ganzen Jahrtausend in Konstantinopel passierte, gerecht wird. Zwar haben alle diese Charakteristika ihre Berechtigung und sie werden im Folgenden Leitlinien abgeben, aber es gibt doch eine große innere Differenzierung, die sich besser mit anderen Verweisen rekonstruieren lässt. Der erste Punkt bei Mathew, die griechisch-römische Tradition, ist ein weites Feld von der klassischen Antike bis zu der spätantiken und hellenistischen Kunst, die weiteren drei Punkte gehören alle in den platonisch-neuplatonischen Kontext und sollen auch von dieser philosophischen Option her besprochen werden. Ähnlich wie in Rom sind wir zum Unterschied von den Auftraggebern und Stiftern über die Stellung der Künstler in Byzanz schlecht unterrichtet. Es gibt kaum Biographien. In der Baukunst unterschied man den mechanikos vom architekton, wobei entgegen dem heutigen Verständnis der mechanikos angesehener war, ein Baumeister mit mathematischen Kenntnissen. Was die Architektur betrifft, verweisen Architekturhistoriker gerne auf die Farbigkeit, die zum Orient gehört, und auf die eigenwillige Auffassung des (gewölbten) Raums, der sich durch die Mosaizierung auflöst. Auf die bisweilen daraus folgende Gegenüberstellung von Orient und Rom, wie sie Joseph Strzygowski vertrat, wurde eben hingewiesen. Inzwischen fand man zu einer ausgewogenen Betrachtung, die freilich orientalische Wurzeln nicht leugnet, diese aber längst in westlichen Vorbildern aufgesogen sieht. Die Motive der Kunst und Architektur von Byzanz verbreiteten sich über ganz Europa, sie legten eine Grundform fest, die sich im Westen im Lauf des Mittelalters kreativ und eigenständig weiterentwickelte. Der größte Meilenstein zu dieser Eigenständigkeit war die Wende des Hochmittelalters zu Aristoteles, und zwar zu einem originären, von platonischer Deutungshoheit befreiten Aristoteles. Dieser Paradigmenwechsel führte von der byzantinischen Tradition weg bis zur völligen »Befreiung« von der maniera greca in der Renaissance. Aber auch dort blieben Enklaven der byzantinischen Kunst wie Venedig oder Pisa noch lange intakt.

Mathew 1963

Partsch 2004, 254f

Swift 1951, 70ff Zaloziecky 1936

V.7.3.6.1.

6.2.1. Zentralbau Die ersten Sakralbauten im Osten waren nach spätantiker Üblichkeit Basiliken. Erst nach dem 6./7. Jh. kann zwischen der Neigung des Westens zur Basilika und der des Ostens zur Kreuzkuppelkirche differenziert werden. Die Anwendung des römischen Zentralbaus auf christliche Kultzwecke ist eine oströmische Besonderheit. Die Ten-

5.2.2. Partsch 2004, 45 Riegl 1901, 51

102

Die Spätantike

Koch 1995, 36 Jones 2009, 71–84

Deichmann 1950, 1256f Yerasimos 2007, 39 Kreuzkuppelkirche

Günther 2009, 116f

Swift 1951, 31 ◀

258 Santa Costanza (um 340); Rom Jones 2014, 141 Gesamtkunstwerk

Haussig 1959, 105

denz, »die Bauten zu zentralisieren«, gab es im Osten vor neuplatonischem Hintergrund jedoch schon früh. Bereits unter Konstantin entstanden, in erster Linie bei Baptisterien und Märtyreroratorien, Zentralbauten (Antiochien, Jerusalem, Rom). Direkte Vorbilder waren das römische Grabmal, Kultbauten (Pantheon), Thermen und die Audienzsäle der Kaiserpaläste in Rom und in der Provinz. Bei den weiter zurückreichenden Quellen dürfen die zahlreichen Tholoi, die Rund-Tempel, nicht übersehen werden, die in der antiken Tempellandschaft pointierte Markierungen setzten. Was die Kirchen betrifft, existierten in der Levante, namentlich in Syrien, zahlreiche Kirchen mit zentralem und polygonalem Grundriss. Formal kann man auch einen Zentralbau wie eine Basilika lesen, aber er bringt noch treffender die Verbindung (platonisierender) christlicher Weltanschauung mit der Kaiserideologie zum Ausdruck. Aus der Verbindung von Zentral- und Längsbau ergab sich die Kreuzkuppelkirche. Sie ist ursprünglich als Tetrastyl-Kirche (in ein Quadrat eingeschriebenes griechisches Kreuz) eine reine Zentralbaukirche, wurde aber meist gelängt. Ihre Wurzeln dürften in Persien und Armenien liegen. Im byzantinischen Raum wurde sie zur verbreitetsten Form. Vielleicht wurde sie erstmals in der um die Säule des Styliten Simeon in Qalaat Seman in der Nähe von Aleppo gebauten Kirche (Ende des 5. Jh.s) realisiert. Dem überkuppelten Oktogon waren auf vier Seiten dreischiffige Basiliken angeschlossen, sodass die Kirche eine Kreuzform bildete. Manche Wissenschaftlerinnen wollen den Zentralbau überhaupt von der Kreuzform ableiten. Einerseits gibt es die Kreuzform bereits in Ägypten (man vermutet im Sphinxtempel von Cheops oder Chephren in Gizeh eine solche Form), andererseits hat das Argument von Emerson Swift etwas für sich, dass die frühen Christen ihre Kirchen kaum am Hinrichtungsinstrument der Römer orientiert hätten. Das Gegenargument lautet, dass zum Zeitpunkt der stärksten Bauphasen des Rundbaus das Kreuz bereits ein Symbol der Auferstehung war, wie Swift durchaus einräumt. Mit Mark Wilson Jones läge geradezu eine Umcodierung einer antiken Form vor: Die Kreuzform der christlichen Basilika »evolved from that of Roman basilicas, and only later was the symbolic potential of the cross exploited.« Kunstphilosophisch reizvoll am Zentralbau als Grundform des byzantinischen Kirchenbaus war, dass er mit der Mosaikausstattung zu einem Gesamtkunstwerk verschmolz, das als ganzes jenen anagogischen Charakter besaß, der im Einzelnen auch der Ikone zukam. Hosios Lukas in Böotien (um 1025; bezieht sich auf einen Lokalheiligen, nicht auf den Evangelisten), Nea Moni auf Chios (um 1050) und Daphni in Athen (um 1080) sind die drei noch erhaltenen Beispiele eines solchen Entwurfs. Bisweilen führt man den Paradigmenwechsel vom Längs- zum Zentralbau, der zugleich eine Abkehr vom klassischen Vorbild Roms war, auf den Einfluss der Mönchsbewegung zurück. Die Kuppelbauten seien »Ausdruck der neuen, von der monastischen Bewegung getragenen Religiosität […].«

103

Byzanz

Beide Geometrien lassen sich mit existentiellen Konstanten beschreiben. Sie sind »Ausprägungen zweier kosmischer Prinzipien« – genauer: Sie sind zwei Narrationen, die in kosmischen Prinzipien gründen. »Hat man beim Betreten eines westlichen basilikalen Kultraumes das Empfinden, man müsse gleichsam die Hallenstraße der göttlichen Urbs durchschreiten, um durch den Triumphbogen hindurch ins Chorhaupt, den Thronsaal des Königs, zu gelangen, so wird der Schritt des Betrachters in einer östlichen Kirche irgendwie gehemmt, er möchte eher in der mit allem Glanz des Lichtes herabgestiegenen Stadt ruhig verweilen […].« Bemerkenswert ist Sausers Hinweis auf die Polismetapher im Zusammenhang mit dem Zentralbau, was in der Tat auf den alten Zusammenhang der kosmischen bzw. göttlichen Stiftung der Stadt anspielt. Für Nikolaus Pevsner hingegen entspricht der Zentralbau nicht einer dem Jenseits zugewandten, sondern einer diesseitigen Geisteshaltung. In einem Zentralbau gäbe es kein Prozessieren, ja »hier ist im Grunde überhaupt keine Bewegung vorgesehen. Der Raum übt seine volle Wirkung nur dann aus, wenn man ihn […] vom Zentrum her, betrachtet. Indem der Besucher – solcher Aufforderung gehorchend – von hier aus in ruhigem Verweilen seinen Blick umherschweifen läßt, wird er selbst zum ›Maß aller Dinge‹. So wird die transzendente Bedeutung der Kirche durch einen immanenten und rein menschlichen Gehalt ersetzt.« Pevsner unterschlägt bei solcher Deutung geradewegs den Sinn eines Zentralbaus, nämlich seine anagogische, welt- und materieflüchtige Funktion. Nochmals eigens zu würdigen ist die Neigung des Ostens zur Kuppel. Die Kuppel hatte bereits im profanen Bauwesen Roms ein »Effektpotential, das eine Bedeutungsaufladung unterstützen kann.« Zu dieser Bedeutung gehört der Omphalos (griech. Mittelpunkt, Nabel). Im Sinne von Ezechiel 5,5 wird Jerusalem als Nabel der Welt angesprochen. Mit der Kuppel wurde das kosmische Ei verbunden, das in vielen Religionen und Kulten, darunter in der Orphik, eine große Rolle spielte und ins Christentum als Emblem der Auferstehung übernommen wurde. Und natürlich evoziert die Kuppel bereits im vorchristlichen Grab- und Memorialbau den Himmel, den der Pantokrator lenkt, also die kosmische und transzendente Sphäre. Die literarischen Zeugnisse, Weiheinschriften und Beschreibungen der Kuppel als Himmelsgewölbe sind reich überliefert. Eine Weiheinschrift des (vermutlich von Konstantin 327 gestifteten und von seinem Sohn vollendeten) »Goldenen Oktogons« von Antiochien beschreibt die Kuppel als hell glänzendes himmlisches Gewölbe und Paulos Silentiarios spricht die Kuppel der Hagia Sophia als »lichten Himmel« an. Gregor von Nazianz beschrieb die Kuppel in der von seinem Vater in Nazianz gebauten achteckigen Kirche in ihrer überwältigenden Lichtwirkung: »Von oben her wird sie durch das Gewölbe erleuchtet; zahlreiche Lichtquellen blenden das Auge: eine wahre Lichthalle. Ringsum zieht sich ein gleichwinkliger Wandelgang von glänzendstem Gestein, welcher den großen Raum in der Mitte umschließt.« Die Verschmelzung von Würfel und Kugel entspricht der Verschmelzung von Erde und Himmel in vollendeter Geometrie. Hier trafen sich gleichsam der Weg zum heiligen Geschehen und der Mittelpunkt des Kosmos.

Deichmann 1950, 1256f

Sauser 1966, 493

Pevsner 1943, 185

Kuppel

Arbeiter 2008, 490

Smith 1950, 74–77

Arbeiter 2008, 492ff Lehmann 1945 Arbeiter 2008, 493 6.2.2.

Gregor von Nazianz, Hom. 18

104

Die Spätantike

259 Kuppel der Hagia Sophia; Istanbul 260 Kuppeln der Markus­kirche; Venedig

Janes 1998, 56 Warland Rainer in Toman 2010, 59

Ducellier 1990, 147 Kemp 1994, 24 Onasch 1993, 187–224

Grabar 2006b, 228 Grabar 1947 V.3.4.3.2. V.3.4.3.5.

IX.6.1.

Die Himmelssymbolik wird verstärkt durch die dekorative und bildliche Ausstattung. Im vorchristlichen Bereich bevölkerten Himmelsattribute, Götter und Göttinnen, der Tierkreis oder Sterne auf blauem Grund die Kuppel. Im 6. Jh. gewann die als Lichthimmel konzipierte Goldhinterlegung die Vorherrschaft. Im Osten war Gold von Anfang an dominant. Die überkuppelte Zentralbaukirche ist daher vermutlich weniger das Ergebnis des christlichen Kreuzes oder Resultat einer liturgischen Praxis, sondern Übernahme der Himmelsmetaphorik, die sowohl religiöse als auch politische Bedeutung hatte. »Die kaiserlich-kosmische Liturgie fand in der symbolisch aufgeladenen Architektur ihren Bezugsrahmen und ihre visuelle Vergegenwärtigung.« Der liturgische Ritus genoss im Osten einen besonders hohen Stellenwert. Die Kuppel bot einen Ort der Anrufung, wo Bilder aus einer anderen Welt einen Weg zum Himmel wiesen, unabhängig davon, ob unter der Kuppel ein Längs- oder ein Zentralbau war. »Die Kuppel versinnbildlicht die übergeschichtliche Kirche schlechthin, als Prinzip der Ordnung, als Bewahrerin der Glaubenssätze und Sakramente, als Gemeinschaft der Heiligen und als Architektur des Jenseits.« Von der Grundform des überkuppelten Würfels gab es unzählige Varianten, Oktogonformen (Grabeskirche in Jerusalem, Kirche in Antiochien), Quadratformen, Kreuzformen (Basilika im Lateran, Apostelkirche in Konstantinopel), dreioder Vierkonchenbauten, Rundbauten mit einfachen (Santa Costanza, Rom; Santo Lorenzo, Mailand) oder zweifachen (Santo Stefano Rotondo, Rom) Umgängen. Die Kirchen in der Provinz (Peloponnes, Kreta, Balkan) sind oft kleine rustikale Einraumkirchen. An dieser Stelle sei der Hinweis eingeschoben, dass die großartigste Umsetzung der Idee eines (dynamischen) Himmelsgewölbes die Bauform in den Muqarna-Kuppeln islamischer Moscheebauten erreichte. Im arabischen Raum gab es eine vorislamische Tradition der Kuppel, die vom Kuppelzelt der Nomaden herrührte. Eine der faszinierendsten ausdrücklichen Anwendungen der Narrative, welche die Kuppel mit Himmel und Licht verbinden, in der zeitgenössischen Architektur, ist zweifellos Jean Nouvels 2017 eröffnetes Museum Louvre Abu Dhabi, das von einer flachen, 180 Meter messenden netzartigen Kuppel überspannt wird.

105

Byzanz

261 / 262 San Vitale, Justinian mit Bischof Maximian und Theodora mit Hofstaat; Ravenna

6.2.2. Die Bauten Justinians I. Kaiser Justinian war eine treibende Kraft oder gar der »Patron« (David T. Rice) für das, was als (früh)byzantinische Kunst und Architektur berühmt geworden ist. Der zu den großen Bauherren der Geschichte zählende Justinian war der Neffe eines älteren thrakischen Bauern, der als ihr Kommandant von der Palastgarde nach dem Tod des kinderlosen Anastasios zum Kaiser Justin ausgerufen wurde. Justin gab nach knapp einem Jahrzehnt die Macht an seinen Neffen ab. Justinian wurde auch schon als »lateinischster« Kaiser angesprochen, der die beiden Kulturen unter dem Zeichen des Christentums und der alten Romidee versöhnen wollte. Die Gattin Justinians, Theodora, stammte aus einer Schaustellerfamilie und erst eine Gesetzesänderung hatte die Ehe der beiden ermöglicht. Ihre Nachrede wurde lange von den Klatschgeschichten des zeitgenössischen Historikers Prokop von Caesarea negativ bestimmt. In Wahrheit war Theodora eine kluge und sozial engagierte Frau. Zwar Gattin eines streng nizäanischen Christen, hielt sie ihre schützende Hand über die Monophysiten in Konstantinopel, die in der dortigen Philosophenszene eine führende Rolle spielten. Als Justinian mit Härte gegen die Monophysiten im Reich vorging, bauten diese eine eigene Kirchenorganisation auf und viele von ihnen flohen ausgerechnet in die Hauptstadt. Vielleicht war es das Kalkül Justinians, die derart »beschützten« Häretiker von einer wirkungsvollen Opposition gegen ihn abzuhalten. Der Kaiser ging gegen die letzten heidnischen Reste vor, schloss die neuplatonisch ausgerichtete Akademie in Athen, zahlreiche Gelehrte emigrierten nach Persien und trugen von dort aus später den Platonismus in die islamische Kultur. Trotzdem blieb der Platonismus in einer christlichen Auslegung sowohl die kunstphilosophische als auch die theologische Leitkultur im Osten. Justinian zog eine groß angelegte Neuordnung der Verwaltung samt einer egalitären Ämtervergabe auf der Grundlage des neu geschaffenen Codex Justinianus durch. Der Preis dafür war die nachhaltige Feindschaft der alteingesessenen römischen Aristokratie. Die Methoden Justinians waren alles eher als zimperlich. Peter Heather tituliert ihn daher als »eines der größten Egos der Geschichte« und als einen »autokratische[n] Tyrann übelster Sorte« (im englischen Original liest es sich noch drastischer: »autocratic bastard of the worst kind«). Der Codex Justinianus (529 in erster Auflage erschienen) löste den veralteten Codex Theodosianus ab. 534 erfolgte eine zweite, im Lichte der inzwischen erstellten Digesta stark veränderte Auflage. Die Digesta versammelten kommentierend und geordnet ein halbes Jahrtausend von römischen Rechtsvorschriften. Der Gesamt-

Ducellier 1990, 65

Cesaretti 2004

Pfeilschifter 2014, 236

Heather 2014, 136/245

106

Die Spätantike

Rubin Berthold in PWG IV, 639 von der Basilika zum Zentralbau

Yerasimos 2007, 39

Strube 1984 Binding 1996, 340 Partsch 2004, 98f Kaiserpalast

Rice 1993, 174

2.0. Yerasimos 2007, 62 Jobst u.a. 1999; Jobst u.a. 1997

komplex ging ab dem 16. Jh. unter dem Titel Corpus juris civilis prominent in die Rechtsgeschichte ein. An der anderen Front erhöhte Justinian den Steuerdruck für die Realisierung seiner Bauvorhaben, aber auch, um sein fragiles Großreich militärisch zu sichern. Diese »Untertanenplünderung« führte 532 zum Nika-Aufstand, den er niederschlug und dabei 35 000 Menschen im Hippodrom niedermetzeln ließ (das entsprach etwa fünf Prozent der Einwohner). Es scheint aber auch, dass ihm manche Zerstörung von Gebäuden willkommen war, denn er nützte sie zur Erneuerung vieler Bauten. Dabei kam es zum Paradigmenwechsel von der basilikalen Form zum Zentralbau. Überall im Reich kam es zu reger Bautätigkeit, namentlich in den großen Städten: in Ephesos, Edessa, Antiochien, Ravenna, in Palästina und Syrien. Vor allem aber baute Justinian in seiner Hauptstadt. Die Irenenkirche wurde nach ihrer Zerstörung als überkuppelter Rundbau wiedererrichtet. Nach mehreren weiteren Zerstörungen wurde sie als einziges Bauwerk am Höhepunkt des Bilderstreits renoviert und ist heute noch in der Form des 8. Jh.s erhalten. Im Inneren blieb die Kirche schlicht und bilderlos und vermittelt einen ungestörten Raumeindruck. Aufgrund der massiven Stützbögen der Kuppel kommt der in der Hagia Sophia so bestechende Eindruck der Schwerelosigkeit nicht auf. In der dem syrischen Heiligen Sergios und seinem Schüler Bakchos geweihten Kirche (zwischen 527 und 536) vermuten manche eine Antwort des Kaiserpaares Justinian und Theodora auf die von einer Angehörigen des alten römischen Adels, Anicia Juliana (deren Vater kurzzeitiger Kaiser des Westreichs war), um 527 gebauten, einem römischen Märtyrer geweihten Polyeuktos-Kirche (vermutlich eine überkuppelte Basilika), die eine Überlegenheit der Aristokratie über das plebejische Kaiserpaar signalisieren wollte. Die in den Sechzigerjahren des 20. Jh.s ausgegrabenen Reste der Kirche sind Beispiele für die Übernahme und eigenständige Veränderung sasanidischer Ornamentik. Wie Justinian bei der Hagia Sophia soll sich Anicia Juliana auf das Vorbild Salomons berufen haben. Ob die Sergios-Bakchos-Kirche, die in der Architekturgeschichte eine Zeitlang als Vorbild der Hagia Sophia galt, eine Palastkapelle oder eine monophysitische Klosterkirche war, darüber gibt es eine lebhafte Diskussion. Auch der im Nika-Aufstand beschädigte Kaiserpalast wurde erneuert und mit herrlichen Mosaiken ausgestattet. Der 1927 an den Ausgrabungen beteiligte Kunsthistoriker David T. Rice vermutete eine ähnliche Raummosaizierung in den Palästen von Konstantinopel und Palermo. Die Reste der knapp 2000 Quadratmeter Fußbodenmosaik sind die ältesten erhaltenen Mosaiken von Konstantinopel. Ihre Datierung ist wegen der Kontinuität hellenisierender Klassik auch in der spätantiken Stilvielfalt schwierig. Thematik und Form verweisen denn auch auf römisch-hellenistische Vorstellungswelt und Mythologie. Neuerdings werden sie in die Zeit Justinians datiert. Prominent gehört zu den Sujets, wie überall im antiken Raum, die Jagd auf wilde Tiere. Man darf darin eine Fortsetzung des Motivs vom Abwenden des Chaos und vom Erschlagen der Feinde im Alten Orient annehmen. Herkules als Giganten-Bezwinger spielt dabei eine tragende Rolle. »In solchen Jagden und Tötungen wilder

107

Byzanz

L’Orange/Nordhagen 1960, 21

263–265 Mosaik aus dem Kaiserpalast in Konstantinopel; MMI



Tiere offenbart sich die unüberwindliche Siegerkraft, die alle bösen, die Ordnung der Menschen bedrohenden ›Bestien‹ zu Boden schlägt, die Siegerkraft, die in dem ›anwesenden Herkules‹ Maximian unwiderstehlich weiterwirkt.« 550 wurde eine (vermutlich weitere) Variante der Apostelkirche als Kreuzkuppelkirche mit fünf Kuppeln geweiht, die in der Markuskirche in Venedig (1063) eine orientalische und in St. Front in Périgueux (1120) eine westliche Nachahmung gefunden hat. Auch in Ravenna begegnen sich ein hellenistisch-römischer und ein bewusst gepflegter byzantinischer Geist. Das Mausoleum der (allerdings in Rom bestatteten) Galla Placidia mit kreuzförmigem Grundriss enthält den ältesten vollständigen Mosaikzyklus Ravennas in hellenistisch-römischem Stil. Das Märtyreroratorium San Vitale (527–548) dürfte ursprünglich als gotischer Thronsaal entworfen worden sein, wurde aber als Kirche, vom griechischen Bankier Julianus Argentarius finanziert, unter byzantinischer Herrschaft fertig gestellt. Der oktogonale Zentralbau (gerichtet durch das durch die Apsis verlängerte Chorjoch) mit achteckiger Kuppel versammelt hellenistisch-römische Mosaiken (Presbyterium), byzantinische Säulen und Kapitelle und byzantinisch beeinflusste Mosaiken (Apsis). Der außen unscheinbare Ziegelbau enthält im Inneren eine prachtvolle Ausstattung, darunter die beiden berühmten Darstellungen von Justinian und Theodora mit Weihegefäßen, beide mit Diadem und in einer Gloriole, welche die Präsenz Konstantinopels in Ravenna ausdrücken (auch wenn das Kaiserpaar Ravenna nie besucht hat). San Vitale war Vorbild für den Dom von Aachen, für den Kaiser Karl Spolien aus dem Kaiserpalast in Ravenna holen ließ. In den Mosaiken des im 5. Jh. entstandenen, ebenfalls oktogonalen Baptisteriums der Orthodoxen und jenem 50 Jahre später entstandenen Baptisterium der Arianer, das 556 durch ein kaiserliches Edikt katholisiert und Maria geweiht worden war, kann man wie in San Vitale römische und byzantinische Stilformen unterscheiden. In der Basilika Sant’ Apollinare Nuovo (ab 9. Jh.; urspr. Christus Salvator, ab 6. Jh. San Martino in Cielo d’oro) vermutet man einen unmittelbaren Einfluss Justinians auf das Bildprogramm. Die dem legendären ersten Bischof von Ravenna gewidmete Basilika Sant’ Apollinare in Classe, die größte frühchristliche Basilika in-

266 Basilica di San Marco (11. Jh.); Venedig Simson 1948, 27 Ravenna

Muscheler 2009, 80 V.4.2.1.

108

Die Spätantike

Gerke 1967, 149–159

Deckers 2007, III Hagia Sophia

267 Hagia Sophia; Istanbul Downey 1950

Norberg-Schulz 1979, 60

mitten eines archäologisch interessanten Gebietes, wurde 549 geweiht. Sie ist eine besonders anmutige Verbindung von Architektur und bildender Kunst mit Einbezug der Natur in der außergewöhnlichen Gestaltung des Apsismosaiks. Durch zahlreiche Plünderungen (darunter Marmor für den Tempio Malatestiano in Rimini) und spätere Hinzufügungen ist der Originalzustand nur mehr schwer zu rekonstruieren. Weitere lokale Spezialformen finden sich in den Ländern des Nahen Ostens, darunter die Erneuerung der Geburtskirche in Bethlehem, die Gründung des Katharinenklosters auf dem Berg Sinai (um 548) an der Stelle des brennenden Dornbuschs, wo noch der originale Dachstuhl erhalten ist. Es war zuerst der Gottesmutter und ab dem 12. Jh. der Katharina geweiht. Das Kloster mit seiner zehn Meter hohen und zwei Meter dicken Granitmauer hatte sowohl die Funktion einer Grenzfestung als auch die eines Bollwerks der Orthodoxie im monophysitischen Umfeld. Justinian brachte Geld, Handwerker und vorgefertigte Bauteile auf den Weg, um im gesamten Mittelmeerraum Kirchen als Monumente seines Machtanspruchs errichten zu lassen. Der Höhepunkt für viele Jahrhunderte wurde im Bau der Hagia Sophia erreicht. Die Kirche zur göttlichen Weisheit ist nicht nur ein grandioser Baukörper, sondern sie ist auch ein bemerkenswerter Schnittpunkt politischer und philosophischer Ideen. Die Kirche war die erste, die Justinian unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Widerstandes im Nika-Aufstand als unangefochtener Herrscher in Angriff nahm. Es war, wie schon erwähnt, der fromme Constantius II., der 360 eine von ihm beauftragte fünfschiffige Basilika Jesus Christus weihen ließ. Sie hieß schlicht Große Kirche. Konstantinopel stand als Stadt des Kaisers Rom als Stadt der Apostelfürsten gegenüber. Bevor Justinian ihren Neubau beginnen konnte, war sie mehrfach durch Brände zerstört, von Theodosios II. 404 renoviert und erneut geweiht worden. Die Historiker wundern sich darüber, dass die Pläne für den Neubau schon wenige Monate nach dem Aufstand fertig vorlagen. Das Projekt kam dann auch in der unglaublichen Zeit von fünf Jahren zum Abschluss. Die Kirche gehört nicht mehr zur römischen Reichskunst. Sie ist ein klarer Zentralbau, mehr ein Herrscher- und Prachthaus als ein Gemeindebau und sie war ein passendes Symbol für Konstantinopel und die Idee der Stadt »als einer Manifestation der Civitas Dei.« Aus diesem Grund ist sie auch ein Beispiel für das eigene Profil byzantinischer gegenüber spätantiker Kunst. Die frühere Meinung, die Kirche Hagios Sergios und Bakchos sei das Vorbild gewesen, wird inzwischen in Frage gestellt, obwohl sie bis zur Weihe der Hagia Sophia die Hofkirche war. Auf dem vorgegebenen, etwa 80 mal 70 Meter umfassenden Bauplatz entstand eine Verbindung von Zentralbau und Basilika, was man als Symbolik von Kaiser und Kirche entschlüsseln könnte. Dass dabei die Zentralbauambition überwog, ist wohl dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Ostens geschuldet. Justinian soll beim Bau seiner Vorzeigekirche die übliche Bezugnahme auf Salomon hergestellt und bei der Einweihung 537 ausgerufen haben: »Ich habe dich übertroffen, Salomon!« Auf

109

Byzanz

dessen Tempel bezieht sich auch die Zahlensymbolik, die dem Bau von den kleinasiatischen Architekten und Mathematikern Anthemios von Tralleis und Isidor von Milet zugrunde gelegt wurde. Beide publizierten Architekturtraktate, Anthemios über Mechanik und Isidor über Gewölbekonstruktionen. Anthemios ist der einzige Künstler dieser Zeit, von dem wir einiges aus seinem Leben wissen. Der Bau selbst symbolisiert durch viele formale Elemente eine erhabene Transzendenz. Die Kuppel schwebt – formal ausgelöst durch vierzig Fensteröffnungen – gleichsam schwerelos über dem quadratischen Zentralraum, der durch die sich anschließenden Halbkuppeln gelängt wird (66 zu 32m). Die Kuppel selbst, etwas kleiner als jene noch immer unerreichte des Pantheon in Rom (118–128), maß im Durchmesser 33 Meter (beim Pantheon waren es knapp 44 Meter) und hatte eine Scheitelhöhe von über 55 Meter (damit mehr als beim Pantheon). Sie stürzte freilich nach zwei Erdbeben 553 und 558 ein, wurde von einem Neffen Isidors umgestaltet und dabei um weitere sieben Meter erhöht. 989 (und wieder 1346) brachen neuerlich Teile der Kuppel ein. Für die Innovation, größtmögliche Festigkeit bei geringstmöglichem Gewicht zu erreichen (daher die Fenster in der Kuppel), musste bei dieser ersten Rippenkuppel Lehrgeld bezahlt werden, auch wenn das Gewichtsproblem den Architekten bewusst war. Sie ließen den Lehm aus Rhodos anliefern, der sich durch besondere Leichtigkeit auszeichnete. Kunstphilosophisch gesehen ist die Verbindung zwischen Baukörper und Kuppel, also zwischen Würfel und Kugel, jener Ort zwischen Erde und Himmel, an dem die »Begegnung von Mensch und Gott« geschieht. Die Kuppel wurde für die osmanische Sakralarchitektur sehr wichtig und die Hagia Sophia über Jahrhunderte zum Vorbild der osmanischen Moschee- und Palastbaukunst. Wladimir Sas-Zaloziecky fasst das Bauprinzip zusammen: »[…] ovale Raumgestaltung, die Überkuppelung des mittleren Raumes, das Einfangen der dynamischen Raumbewegungen durch Exedren, die illusionistischen Mittel der Wandentstofflichung, die Kaschierung der konstruktiven Mittel in den Übergängen.« Die Wände wurden nicht nur durch Seitenräume, sondern auch durch Galerien und Arkaden aufgelöst, sodass sie wie eine durchlässige Membran erscheinen. Das macht die ungeheure Lichtwirkung – durch die spätere (9. bis 12. Jh.) reiche Mosaizierung noch verstärkt – aus und die Hagia Sophia zu einem eindrücklichen Kapitel der Lichtarchitektur. Die Bedeutung des Lichts in der byzantinischen Architektur genauso wie in der bildenden Kunst ist unbestritten und ein Kennzeichen der byzantinischen Kunstphilosophie und Ästhetik. »Tagsüber brach sich das Licht in den unzähligen Goldplättchen der Mosaike und ließ das Mauerwerk diaphan wirken,

Naredi-Rainer 1982, 62 Mathew 1963, 67ff

III.3.1.4. 268 Hagia Sophia, Innenansicht Fink 1958, 48–71

Gerke 1967, 192

V.3.4.2.5. Sas-Zaloziecky 1936, 240

Peers 2004, 126–130 Mathew 1963, 5

110

Die Spätantike

Yerasimos 2007, 47

Onasch 1967, 33

Procopius, zit. nach Sauser, 494 IV.8.2.ff.

Duby 1980, 47f

269 Hagia Sophia, Kapitelle mit Bogen Onasch 1993, 111

Downey 1959, 940ff

während nachts die vielen Kronleuchter, Öllampen, Fackeln und Kerzen einen ähnlichen Effekt erzielten.« Die der göttlichen Weisheit geweihte Kirche ist Bedeutungsträger eines christlichen Platonismus. Er verhilft jetzt dazu, das Abbild des sakralen Kosmos der christlichen Lehre in Stein zu bringen. In der Hagia Sophia scheint diese Vision in idealer Weise umgesetzt zu sein. »Im Zentrum […] steht deutlich die Behandlung des Lichtes.« Zahllose literarische Zeugnisse der Ekphrasis, also der bildlichen Darstellung eines abstrakten Gegenstandes in einem Text, loben zur Zeit Justinians dieses Licht als spirituellen Gehalt der sakralen Architektur. Vom Theodora-Biographen Prokop haben wir in seinem Werk De aedificiis (Über die Bauten) auch ein Lob für das Bauprogramm Justinians überliefert, in dem er zahlreiche Bauten beschreibt, darunter an erster Stelle die Hagia Sophia: Der Bau »prunkt aber mit seiner Pracht und durch die Fülle des Lichtglanzes über alle Maßen. Man möchte sagen, daß der Raum nicht von außen durch die Sonne erhellt werde, sondern daß das Leuchten in ihm entspringe.« Dieser Hinweis auf das innere Licht gilt auch für die Ikone, wo diese Illusion durch das Übereinanderlegen vieler Farbschichten hervorgerufen wurde. Der Mensch kann sich von seiner Erdverbundenheit losreißen und zum himmlischen Ort – wie es Platon im Gleichnis der Himmelfahrt der Götter im Phaidros schildert – aufschwingen. In der Hagia Sophia erreicht der Sinn des Zentralbaus eine grandiose Umsetzung, welchen Konrad Onasch so beschreibt: »Seine voll hierarchisierte Struktur setzt nicht waagrecht-partnerschaftliche Zwischenbeziehungen voraus, sondern die einer uneingeschränkten vertikal funktionierenden absoluten […] Autorität mit einer Fülle von rituell-protokollarischen, das heißt letztendlich metaphysisch begründeten Absicherungen gegen jede nur mögliche Einflußnahme von ›Unten‹ bzw. von ›Außen‹. Zu einer Gottheit solcher Art kann man auch nicht auf einer noch so feierlichen Straße gelangen. Der Mensch ist vielmehr von einem Gnadenakt abhängig […].« Die Symbolik verdichtet sich zu einer magischen Präsenz. Wer sich darauf einlässt, dem entschwinden Raum und Zeit und er wird durch die Kraft dieser Raumikone mit in das dynamische, heilige Geschehen einbezogen. Wer den Sinn der Zentralbaukirche so aufschlüsselt, wird die oben erwähnte Deutung Pevsners, nach der der Mensch das Maß aller Dinge sei, zurückweisen. Der byzantinische Hofdichter Paulos Silentiarios, der uns die am besten erhaltenen Architekturbeschreibungen der Antike hinterließ, fasste die Spiritualität der Hagia Sophia stellvertretend für das byzantinische Verständnis der Kirche in einer Ekphrasis, einer bildhaften literarischen Beschreibung, anlässlich der Eröffnung zusammen: »Wenn der erste Schimmer des Lichts mit rosigen Armen die dunklen Schatten vertrieb und von Bogen zu Bogen sprang, dann stimmten alle, Fürsten und Volk, wie aus einem Munde ihre Bitt- und Lobgesänge an; es schien ihnen, als wären die mächtigen Bogen im Himmel erbaut. Und über alledem erhebt sich in die unermeßliche Luft der großartige Helm, der sich wie das strahlende Firmament darüberneigt und die Kirche umarmt […] Der goldene Strom aus glitzernden Strahlen fließt

111

Byzanz

herab und trifft die Augen der Menschen, die den Anblick kaum ertragen können […] So kommen Lichtstrahlen durch die Räume der großen Kirche, vertreiben die Wolken der Sorge, erfüllen die Seelen mit Verheißung, zeigen den Weg zum lebendigen Gott […] Wer immer den Fuß in diese heilige Stätte setzt, möchte für immer dort wohnen, und die Augen gehen ihm über von Tränen der Freude.« Was die Ausschmückung betrifft, stammen aus der Zeit Justinians überwiegend nicht-figurative Motive wie Kreuzdarstellungen. Das ließe sich aus den monophysitischen Tendenzen der Zeit erklären, aber man kann auch zustimmen, dass »die Schönheit der Architektur und ihres ornamentalen Schmucks offenbar sich selbst genügte.« Die ersten figurativen Abbildungen wurden zuerst in nichtöffentlichen Bereichen der Kirche unter Justin II. und nach Beendigung des Bilderstreits realisiert. Im Kirchenraum selbst entsprach die Gestaltung dann dem allgemeinen Muster. Das Christusmotiv wanderte von der Apsis, die für die Darstellung der Muttergottes frei wurde, in die Kuppelwölbung. Die zentrale Bedeutung der Muttergottes als Mittlerin und Symbol der Menschwerdung des Gottessohns passt zum zunehmenden Marienkult in der byzantinischen Welt. Seit dem Konzil von Ephesos und besonders der Translatio eines Gewandes von Maria um 460 nahm der Muttergottes-Kult zu. Seit dem 6. Jh. gilt die Theotokos, die Gottesgebärerin, als Patronin der Stadt. Zu den Ursachen gehört vielleicht auch die im Hellenismus stark rezipierte ägyptische Isis-Religion. In den Zentren wurden hierarchisch die Erscheinungsformen oder Zeichen der Gottheit platziert, darunter die Repräsentanten der historischen und gegenwärtigen Kirche: Apostel, Propheten, Heilige, Märtyrer, Bischöfe. Auf der weiteren Ebene Szenen aus dem Leben Christi. In den übrigen Bereichen eignete sich die Hagia Sophia durch ihre Größe und die Marmorverkleidung der unteren Zonen schlecht für Mosaikschmuck. Benützt wurden dazu Gewölbe und Bogenrundungen. Normalerweise dienten die Seitenwände der Darstellung von Kirchenvätern und Propheten und dem ausschweifenden Erzählen. Die Darstellungen waren niemals naturalistisch, sondern entsprachen in ihrem hieratischen Gestus typischen Konventionen.

Paolos Silentiarios, zit. nach Norberg-Schulz 1979, 70

Lafontaine-Dosogne Jacqueline in Volbach/ Lafontaine-Dosogne 1968, 49

Brenk 2010, 57–81

Berger 2006, 467 Klauser 1981 Kitzinger Ernst in Tronzo 1989, 147f

270 Hagia Sophia, Säulenkapitell

6.2.3. Die kunstphilosophische Bedeutung der Narration in den spätantiken ­ Sakralbauten In der kunsttheoretischen Betrachtung wird seit längerem intensiv über die Spannung zwischen der hieratisch-abstrakten Darstellung des Heiligen auf der einen und dem erzählenden Gestus auf der anderen Seite diskutiert. Die Frage erscheint in der wissenschaftlichen Literatur häufig als kulturell prägende Differenz in der unterschiedlichen Behandlung des Bildes in West und Ost. Mit Blick auf Cefalù, Monreale und die Capella Palatina in Palermo schreibt Eckart Peterich in seinem Sizilienbuch: »[…] vielleicht kann man auch sagen, dass der Osten die Entrückung, die Verzückung der Gläubigen will, der Westen […] will erzählen.« Er folgt einer verbreiteten Meinung, die eine narrative Funktion des Bildes im Westen von einer anagogisch-dogmatischen im Osten unterscheidet. Diese auch vor dem philosophischen Hintergrund durchaus plausible Unterscheidung entsprach

Peterich 2001, 144

112

Die Spätantike

Kitzinger Ernst in Tronzo 1989, 149 Deckers 2007, 48 Partsch 2004, 61f V.5.4.2.

271 Pantokrator in San Paolo fuori le Mura (13. Jh.); Rom

Durliat 1983, 185

Boehm 1969, 26f

II.1.2.2.2.

zudem dem Auseinanderfallen zweier Abbildungsqualitäten in den Basiliken und Zentralbaukirchen. Gegenüber den in den Triumphbögen, Kuppeln und Deckenbereichen vorherrschenden feierlichen, frontalen und statischen Darstellungen mit dem Pantokrator an der Spitze als Ausdruck der systemtragenden dogmatischen Theologie seien die erzählenden Bildteile der Langhauswände bloß »akzessorisch«. Die theologische Deutung des Pantokrators ist unbestritten, dazu gesellt sich bisweilen auch eine soziale, die allerdings spekulativer ist. Der Pantokrator übernimmt die Rolle des Kaisers und erhält dementsprechende Attribute. Eine nochmals neue Pointierung erhielt die ganze Frage in der Wandmalerei der Romanik. In der Romanik stoßen byzantinischer Gestus und westliche Art aufeinander. Die romanischen Künstler bewegten sich deutlich freier. Am ehesten befolgten sie noch in Chor und Apsis eine ikonographische Konvention: »So scheint, daß sich die Maler der Apsiden entschieden von dem Bedürfnis zu erzählen und zu malen abwandten, um umfassende Darstellungen zu schaffen, in denen in Übereinstimmung mit dem Dogma die Einbildungskraft die übersinnliche Welt mit mannigfaltigen, jedoch stets sinnvollen Bildern bereicherte.« Mit detaillierten ikonographischen Analysen hat Wolfgang Kemp in Erinnerung gerufen, dass eine Trennung in dieser Schärfe vielleicht nie intendiert war. Er unterscheidet eine narrativ-historische von der thematischen Ordnung (die wiederum in Unterordnungen zerfällt: Symbole, Personifikationen, repräsentative Figuren, Kurzszenen), die durch einen dritten, übergeordneten Modus (systematische Ordnung) synthetisiert werden. Die Gesamtordnung liest sich dann als ergänzende Kombination der erzählenden und thematischen Ordnung. Sie ist die Signatur des gesamten Programms. In dieser Gesamtordnung, die sich aus der Kombination der erzählenden und thematischen Modi ergibt und die der Betrachter durch seine Synthese herstellen muss, sieht Kemp die Eigenart der christlichen Kunst in solchen Bildprogrammen. Ein Auseinanderfallen in der Dignität wird dadurch vermieden. Was Kemp hier durchführt, hat früher bereits Gottfried Boehm angedeutet, wenn er einen »Lesefehler« bei mittelalterlichen Bildern konstatiert: »Die Behauptung, mittelalterliche Bilder müßten sukzessiv und nicht simultan ›abgelesen‹ werden, hat ihre Ursache im modernen Bewußtsein, das auch jene Bildwerke von der Betrachtung aufzuschließen entschlossen ist, die nicht Abbilder sind, sondern als sichtbare Spur der Emanation des Gottes sich erklären.« Eine solche, rein mimetische Entschlüsselung sei dieser Zeit nicht angemessen. Kemp geht sozusagen von der anderen Seite auf das Problem zu und sieht in scheinbar mimetisch-erzählenden Bildern bereits eine abstrakte Typik. An dieser Stelle sei eingeflochten, dass sich aus systematischer Sicht das Thema grundsätzlich erweitern ließe. Wir sahen bereits in der Kunst des Alten Orients eine immer wieder auftauchende Doppelcodierung zwischen Mimesis und Symbolik – die Geierstele könnte hier als eines von unzähligen Beispielen Erwähnung finden –,

113

Byzanz

sodass sich an diesem Beispiel aus der Spätantike vielleicht nur ein Grundzug bildender Kunst prägnant zeigt. Da sich die christliche Kunst aus der paganen entwickelt hat, gibt es dort bereits Vorbilder. Etwa beim Konstantinsbogen von 315. Ausgehend von den immer noch richtungweisenden Analysen von L’Orange/von Gerkan sieht Kemp in den Streifenerzählungen auf dem Bogen Typologisches eingebaut. Thematisches infiltriere hier das Narrative. Im Konstantinsbogen wird zwar primär Konstantins Sieg über Maxentius gefeiert, aber die Bildergeschichte rühmt seine victoria perpetua, sein ständiges Siegen über alle Feinde des Reichs. Dies sei für die christliche Kunst insofern ein Vorbild, als auch dort der historische Modus für thematische Zwecke mit universellem Anspruch verwandt wird. Das Christentum gewann nach Kemp mit dieser Doppelcodierung zudem einen kompetitiven Vorteil gegenüber den antiken Kultstätten. Die christlichen Bauten setzten sich davon als neuer, erfrischender Kommunikationsstil ab. Die Einbettung des Dogmatischen in die Erzählung ergibt sich aus dem spezifisch christlichen Geschichtsverständnis, das Sequentialität und Konsequentialität gleichermaßen umfasst. Christliche Geschichte ist nicht bloß eine Ereignisabfolge, sondern immer von der Erfüllung der Zeit, also von einer Geschichtsstruktur her bestimmt. Von da her kann Kemp eine Apokryphentheorie fruchtbar machen. Die Apokryphen hätten vor allem die Funktion, Details zu füllen, die in den kanonischen Schriften offen geblieben wären. Die beiden Textsorten gilt es zu verbinden, etwa im Sinne von Juri Lotman, nach dem es in einer Kultur immer zwei Subtexte gibt, einen, der die großen Strukturen der Welt nachzeichnet und einen, der die Aktivitäten der Menschen und ihre Umgebung beschreibt. Kemp exemplifiziert diese These am Bildprogramm von Basiliken, aber auch an Beispielen der Buchmalerei, bei Bildertüren und Diptychen. Sein Rahmen bleibt die Kunstgeschichte und Kunsttheorie, philosophische Kontexte werden ausgespart. Er wählt seine Beispiele überdies aus West und Ost und verteilt über mehrere Jahrhunderte bis ins spätere Mittelalter. Dabei bleibt die Frage bedenkenswert, ob diese Breite der Untersuchungsgegenstände nicht eine inhaltlich vielleicht doch vorhandene Differenzierung methodisch unsichtbar macht. Das schmälert jedoch nicht das Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass ein völliges Auseinanderfallen der Bildprogramme in dogmatische Theologie »oben« und biblia pauperum »unten« bzw. in Ost und West eine Fehlinterpretation sein könnte. Dass aus den verschiedenen philosophischen Kontexten »des Westens« und »des Ostens« diese Subtexte trotzdem einerseits kulturgeographisch, andererseits kirchenhierarchisch zuordenbar sind, ist damit nicht ausgeschlossen. Dies entspräche einer Analogie zur jeweiligen Konzeption der Theologie. Kemp selbst liefert dazu an mehreren Stellen Unterstützung, wenn er auf die Veränderungen der biblischen Erzählungen zu ergebnisorientierter Aufrüstung in der patristischen Auslegung aufmerksam macht. Diese wiederum erfolgte im Westen eher in einem pragmatisch-ethischen und im Osten in einem spekulativen Rahmen. Zu-

X.2.2. Kemp 1994, 55–64

Ebd., 61

Ebd., 63

Lotman 1975, 102

114

Die Spätantike

dem wäre eine Leseart produktiv, welche die Narration als Unterstützung der Dogmatik im Sinne Kemps erkennt, aber dabei doch eine hierarchische Dignität nicht völlig aufgibt. Reizvoll an Kemps Arbeit bleibt jedenfalls, dass sie die gegenläufige Tendenz zu dem in 3.3. erwähnten Anteil der antiken Bilderzählungen in den frühen Hauskirchen an der Dogmatisierung der Jesus-Gestalt schildert. So gesehen zeigte sich in der christlichen Bildgeschichte als ihr Kern eine dogmatische Typologie.

7.0. Der Neuplatonismus

Veyne 2008, 27

Im Hellenismus führte der religiöse und weltanschauliche Pluralismus (Christentum, Judentum, die hellenistischen Philosophenschulen, Gnosis, Motive aus dem orientalischen Kleinasien) zum Erstarken von jenseitsorientierten Strömungen, die in einer verbreiteten Stimmung globaler Unübersichtlichkeit auf fruchtbaren Boden fielen. Dazu gehörte auch der Neuplatonismus. Ein besonderer Umschlagplatz dieser philosophischen und theologischen Weltentwürfe war Alexandrien. Die Vertreter des Neuplatonismus lebten im ostmediterranen und byzantinischen Raum, weshalb das Thema auch unter dem Titel Philosophie in Byzanz abgehandelt werden könnte. Aber weil der Neuplatonismus nicht zuletzt dadurch die Nachfrage nach Jenseitsorientiertheit perfekt erfüllen konnte, dass er die Verbindung von Christentum und Platonismus in systematischer Absicht dachte, passt die Besprechung auch an diese Stelle. War das Christentum familiär und »melodramatisch«, wies der Neuplatonismus in eine kosmische Dimension. Das machte ihn und ein von ihm durchsetztes Christentum auch für gebildete Schichten hoch spannend. Der Neuplatonismus wurde zu einer der nachhaltigsten Strömungen, gerade auch für die Geschichte der Kunstphilosophie. Er beeinflusste Architektur und Kunst im Oströmischen Reich, im lateinischen Mittelalter, in der Renaissance und inspirierte den Deutschen Idealismus und die Romantik. Bis heute ist er ein theoretisches Konzept, das namentlich für die Spiritualitätsdebatte der gegenstandslosen Kunst eine erhebliche Bedeutung hat.

7.1. Die Rezeption Platons III.2.4.3.2.1.

Halfwassen 1999b, 48

Wie der Name schon sagt, ist der Neuplatonismus ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte der platonischen Schriften. Der Ausdruck Neuplatonismus dürfte vom Philosophiehistoriker Jakob Brucker stammen. Er wollte mit diesem Terminus eine vermeintlich abweichende System- und Metaphysikambition des spätantiken Platonismus vom »Original« Platon abheben, der eine bloße Diskursphilosophie betrieben habe. Dass die Vertreter der Tübinger Schule demgegenüber die Einheit des antiken Platonismus beschwören, ist aus dieser Konstellation verständlich: »Die neuplatonische Philosophie versteht sich darum ausdrücklich und grundsätzlich als authentischer und orthodoxer Platonismus.« Dies ist freilich ebenfalls nicht völlig überzeugend, denn die Unterschiede zwischen Platon und dem Neuplatonismus sind keineswegs unerheblich. Insbesondere

115

Der Neuplatonismus

die hochdynamische und für die Kunstphilosophie dann in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Emanationsfigur ist eine gegenüber Platon neue Konfiguration. Dies trotz manch einer in diese Richtung interpretierbaren Äußerung (Pol. 508b) und der schon viel deutlicheren Bemerkung bei Speusipp vom »Hervorgang der Wirklichkeit des Seienden aus dem Einen.« Von Anfang an stützte sich die Platon-Auslegung auf zwei Quellen: die schriftliche Lehre der Dialoge und die von Aristoteles später so genannte ungeschriebene Lehre (agrapha dogmata). Die Platonische Akademie kannte beides und folgte dem systematischen Anspruch der Lehre. Innerhalb eines solchen Systems spielten sich auch innerschulische Kontroversen ab. Im 19. Jh. hat Friedrich Schleiermacher, dessen Übersetzung der platonischen Werke lange Zeit als Standard galt, Platon auf seine geschriebene Lehre eingeengt und dem Gespräch gegenüber dem Systeminteresse den Vorzug gegeben. Der kulturgeschichtliche Hintergrund dafür war die Kritik am System der Romantik und die dort betriebene Kultur des Gesprächs. In dieser Verengung wurzelt die Sichtweise Platons als reiner Aporetiker. Später konstruierte man einen Sprachphilosophen aus ihm. Dagegen gab es immer Einspruch mit Verweis auf die Systemambition Platons. In den letzten Jahrzehnten hat vor allem die Tübinger-Mailänder Schule für die ungeschriebene Lehre und die dort verankerte Prinzipienphilosophie Partei ergriffen. Die rigorose Einschränkung auf die ungeschriebene Lehre mag allerdings ebenso übertrieben erscheinen, denn auch die Schriften Platons vertreten unübersehbar eine Prinzipienlehre. Zudem gewinnen die Vertreter der erwähnten Schule selbst zahlreiche Belege für ihre These ganz klassisch aus dem schriftlichen Œuvre. Jedenfalls ist die Platonforschung mit der Tübinger Wende zu Recht wieder da angekommen, wo der Neuplatonismus ganz selbstverständlich seine Systeme entworfen hatte. Neuplatoniker wie Plotin und Proklos wollten keine Innovation, sondern Platon authentisch rekonstruieren. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Renaissance-Platonismus, der zur Überwindung der mittelalterlichen Scholastik diente, und es ist ein Unterschied zum Deutschen Idealismus, der mit Hilfe Platons die rationalistische Schulphilosophie und die kritischen Begrenzungen Kants zu durchbrechen trachtete.

Speusipp [Isnardi Parente], 58, 72

VIII.6.1.5.

Gomperz 1931 Robin 1908; Natorp 1903; Z­ eller 1839 ­Trendelenburg 1826 Reale 1993; Krämer 1964; Gaiser 1963 Krämer 1959

7.2. Der neuplatonische Dynamismus und seine Autoren Wenngleich die meisten Forscher den Neuplatonismus mit Ammonios Sakkas beginnen lassen, sollte man den Beitrag des an der Zeitenwende lebenden Philon von Alexandrien für die folgende Entwicklung nicht übersehen, zumal wir von Ammonios Sakkas so gut wie nichts wissen. Geboren im kulturellen Schmelztiegel Alexandrien, war Philon Sohn einer begüterten jüdischen Familie, exzellent griechisch gebildet. Seine Hebräischkenntnisse waren möglicherweise bescheiden. Er schien am »Glitter der hellenistischen Welt« Gefallen gefunden zu haben. Philon hielt Platon mit einigem Recht für einen Anhänger des Pythagoras. Die Annahme, dieser sei ein Schüler des Moses gewesen, ist freilich unhistorisch und dem Bestreben geschuldet, Platonis-

Philon von ­Alexandrien

Winston David in Gerson 2010, 236

116

Die Spätantike

Ohly 1986, 919 Ammonios Sakkas Plotin

Porphyrios, zit. nach Schönborn 1984, 159 Horn Christoph in ÄKPh, 641 4.2.

Plotin, Enn. VI 9,2,12

Ebd., VI 9,2,14

mus mit der Lehre des Alten Testaments zu versöhnen. Für Philon trafen sich beide kulturellen Erzählungen in der Vorstellung eines unbegreiflichen unaussprechbaren göttlichen Einen. In dieser Frage schienen in der Tat jüdischer Glaube und platonische Konstruktion zu konvergieren. Diesem Einen schrieb er in Widerspruch dazu (über den er sich nie Rechenschaft ablegte) Attribute des jüdischen Schöpfergottes zu, setzte aber – ganz platonisch – eine Präexistenz der Materie voraus, die ein tätiger Geist ordnet (es gab für Philon keinen Schöpfergott des Alten Testaments). Philon entwarf einen Kosmosaufbau ohne ausdrückliches Emanationsgeschehen und es scheint, dass er – vielleicht aufgrund gnostischer Einflüsse – die sublunare Welt als eigenständiges Prinzip sehen wollte. Kunstphilosophisch nicht uninteressant ist die starke Rolle der Allegorese in Philons Exegese. Über den Literalsinn wird häufig ein Bildsinn gelegt. Adam steht für das Denken, Eva für die sinnliche Wahrnehmung, Kain symbolisiert Selbstsucht, Abel Frömmigkeit. Für die Welt verwandte Philon die Metapher eines sinnlich wahrnehmbaren Hauses Gottes. Der Alexandriner Ammonios Sakkas gilt, wie gesagt, als Begründer des Neuplatonismus, obwohl von ihm keine Schriften erhalten sind. Wir wissen wenig über Leben und Lehre. Allerdings hatte er einen bedeutenden Schüler, Plotin, neben Proklos und Dionysios Pseudo-Areopagites einer der drei großen Neuplatoniker. Plotins Herkunft ist unsicher. Eunapius von Sardeis mutmaßte, er stamme aus Lykopolis, dem heutigen Asyut zwischen Kairo und Luxor, wo er um 205 geboren worden sein soll. Allerdings findet sich in Plotins 54 Schriften, die sein Schüler Porphyrios in 6 Abteilungen zu je 9 Kapiteln (daher der Name seines Werks: Enneaden) nach historischen und systematischen Gesichtspunkten geordnet hat, keine besondere Kenntnis der ägyptischen Religion. Plotin war jede biographische Notiz unangenehm, denn, wie uns Porphyrios berichtet, er schämte sich, in einem Körper leben zu müssen. Daher ließ er sich auch niemals ein Bild oder eine Skulptur von sich anfertigen. Es sei schon schlimm genug, »das Abbild (eidolon) zu tragen, mit dem die Natur uns umkleidet hat.« Immerhin wissen wir, dass Plotin 242 am Kriegszug des Kaisers Markus Antonius Gordianus III. gegen die Sasaniden teilgenommen hat, und zwar, »um die Philosophie der Perser und Inder kennen zu lernen.« Die Schlacht ging verloren, der Kaiser selbst fand den Tod. Auf der Gegenseite kämpfte übrigens Mani, der Begründer des Manichäismus. Plotin floh nach Rom, wo er eine Schule gründete und in gutem Kontakt mit den dortigen philhellenischen Kreisen stand. Sein utopischer Plan der Gründung einer Idealstadt Platonopolis in Kampanien scheiterte. Plotin radikalisierte die Stellung des Einen/Guten gegenüber Platon. Das Eine ist nicht nur »jenseits der Seiendheit«, es ist auch »jenseits des Geistes«. »Überhaupt aber ist das Eine ein Erstes, der Geist dagegen und die Ideen und das Seiende sind kein Erstes.« Denn Denken – Plotin reagiert hier unübersehbar auf Aristoteles’ Charakterisierung des Göttlichen als Denken des Denkens (noesis noeseos) – bedeute immer etwas denken und führe daher in eine Zweiheit. »[…] wenn ferner der Geist sowohl das Denkende wie selber das Gedachte ist, so ist er zwiefältig und nicht einfältig, also nicht das Eine; […].«

117

Der Neuplatonismus

Im Deutschen Idealismus argumentierte Schelling, dessen gesamtes philosophisches Werk neuplatonisch grundiert ist, ähnlich und schloss in seiner identitätsphilosophischen Phase jede Selbstdifferenzierung des Absoluten aus. Dem Anliegen Platons, bei dem das Gute und Schöne keine Identität waren, näher ist Plotin bei der Frage nach dem Schönen. Das Eine ist »jenseits der Schönheit«, es ist das Überschöne (hyperkalon). Auch hier gilt, was bereits bei Platon angemerkt wurde, dass man weiter kommt, wenn man die Einheit – entgegen der verbreiteten Meinung in der Literatur – nicht transzendent, sondern als transzendentale Konstruktion immanentistischer Selbstbezüglichkeit sieht. Eric Perl spricht mit Blick auf die analoge Konstitution bei Dionysios Pseudo-Areopagites vom Zusammenfallen von Transzendenz und Immanenz. Es handelt sich um eine Größe immanenter Selbstentfaltung, wie sie der Struktur nach beim ägyptischen Atum entworfen worden ist. Der Hervorgang im neuplatonischen System in Hypostasen (Emanation) entspringt keiner freien Entscheidung des göttlichen Einen, sondern ist »notwendig und automatisch«. Manche Interpreten wagen sich angesichts dieser Figur eines dynamischen Hervor- und Rückgangs weit in den neuzeitlichen Kontext, wenn sie im Neuplatonismus bereits den Gang in die innere Struktur des Ich und eine Begründung des »selbstreflexiven Rückgangs der menschlichen Seele in sich selbst und in ihren Grund« oder eine Metamorphose des Selbst sehen. Zustimmen kann man dem nur insofern, als die Struktur späterer Selbstreflexivität des Subjekts hier bereits vorgezeichnet ist, allerdings im spätantiken Verständnis als ein kosmisch-göttliches Geschehen und keinesfalls als Akt eines subjektiven Bewusstseins. Andere Abwandlungen des neuplatonischen Narrativs liegen näher: Einmal die Struktur der Dialektik als generatives Prinzip oder die Ambivalenz von Selbstermächtigung und Entmächtigung in der Romantik. Die göttliche Entität kann sich selbst zu ihrem Gottsein ermächtigen. Im gleichen Moment demonstriert das Geschick des Sich-Ermächtigen-Müssens die Ohnmacht dieses Gottes. Wenn in der Neuzeit diese göttliche Entität durch das menschliche Subjekt ersetzt wird, gilt das im Sinne der Bemerkung von Werner Beierwaltes dann für die Reflexion des Subjekts im Deutschen Idealismus. Unproblematischer ist eine Verbindung des Denkaktes Plotins mit seiner Lichtmystik. Das Denken, das in einer ersten Differenz gegenüber dem unsagbaren Einen, also »außerhalb« dieses Einen (das Denken ist eine erste Emanation) geschieht, lichtet in der Rückkehrbewegung zum Einen (ähnlich wie beim eben zitierten Reflexionsakt des Verstandes) dieses selbst. »Insofern nun das Denken in der Rückwendung auf sich das Seiende auf seinen Sinn reflektiert, geht es in die zunehmend lichte, unverborgen sich enthüllende Intelligibilität seiner selbst zurück, das Licht, das vorgängig vom lichtenden Licht des hen durchlichtet ist.« Die dialektische Verschmelzung von Geist als dem Selbstdenken im Anderen und Licht als das Sich-selbst-Sehen im Anderen ist jedenfalls das treffendere Bild für die Verhältnisse als eine Vorwegnahme des Reflexionsaktes, wie er in der Geistphilosophie Hegels später auftreten wird. Die einzelnen Hypostasen als Emanationsstufen sind in hierarchischer Stufung Geist, Ideen, Seele und – an unterster Stelle – Materie. Werner Beierwaltes nannte

VIII.5.2.1.

III.2.4.3.2.4. Perl Eric in Gerson 2010, 772 II.2.2.1. Gombocz 1997, 173

Beierwaltes 1985, 181 Beierwaltes 1972, 86 Trouillard 1955, 208

III.2.3.3.3. VIII.7.3.1.

Lichtmystik

Hedwig 1980, 24

118

Die Spätantike

Beierwaltes 1985, 55 Beierwaltes 1961, 98ff

Tatarkiewicz 1979, 362 Plotin, Enn. V, 5,7,20

O’Meara Dominic in Gerson 2010, 315f

Mathew 1963, 32

Waibl 2009, 99

VIII.5.3.2.1.

Beierwaltes 1985, 89

Plotin, Enn. I,6 Porphyrios Speyer 2005, 67

die Hypostasen der Hervorgangs- und Rückgangs-Bewegung treffend die »sagbare Gestalt des an sich Gestaltlosen«. Das Eine ist verharrend und verströmend zugleich. In der Stufung der Emanationen erhält die dunkle Materie ihre Gestalt erst in der erleuchtenden Formung durch die Weltseele und das hindurchscheinende Urlicht. Diese Formung durch das Licht macht die Materie schön. Das Schöne ist letztlich nichts anderes als eine Selbstexplikation eines Göttlichen. Bei Plotin haben wir die erste dynamische Lichtmetaphysik als Mystik und als Ästhetik entworfen, ein nicht hoch genug einschätzbarer philosophischer Hintergrund für Architektur und Kunst der Spätantike. Das Schöne kann als »Widerschein der übersinnlichen Welt in die sinnliche Welt« interpretiert werden, als Licht, das auf das (göttlich konnotierte) Ursprungslicht verweist. Die anagogische Aufstiegsbewegung in dieser Emanationsfigur ließe sich für Ansätze einer Rezeptionsästhetik fruchtbar machen. Über die Sinnesorgane wird unsere Seele mit materieller Schönheit konfrontiert. Sie erkennt die Form hinter dem Materiellen. Denn die Quelle jeder Schönheit in der Welt ist die intelligible Schönheit. Der anagogische Aufstieg der Seele zum Geist entspricht dem »Schönwerden« der Seele. Unschwer lässt sich diese »Mechanik« auf die anagogische Funktion von Kunst und Architektur anwenden. Kunstwerke (in Byzanz Ikone und Zentralbaukirche) ermöglichen diesen Aufstieg der Seele aus dem Materiellen zum Göttlichen. Dies entspricht der Eigenart byzantinischer bildender Kunst, die an die Architektur gebunden bleibt und einen geistigen Raum jenseits des materiellen aufspannt. Aus dieser neuplatonischen Systematik lässt sich eine zutreffende Beschreibung des kunstphilosophischen Sinnes der mosaizierten spätantiken Kirchenräume gewinnen: »Schön ist […] durchgeistigtes Sinnliches.« Dieser auf den Neuplatonismus gemünzte Satz kann wörtlich auf Hegels Kunstphilosophie angewandt werden und bringt – vermutlich ungeplant – Hegels Bevorzugung der Kunstwerks gegenüber der Natur zum Ausdruck, das eine durch den menschlichen Geist gegangene Natur ist. Analog zum kunstphilosophischen Programm bei Platon, kann man die Selbstdarstellung des göttlichen Einen als Bildphilosophie lesen. Das Schöne ist ein »Prädikament dieser Einheit« und die erscheinende Welt ist relational und »mathematisch strukturiert«. Das Emanationssystem hat eine Konsequenz, die zugleich als »Korrektur« Platons gelesen werden kann. Schönheit kann nicht nur Folge von Harmonie sein, womöglich gar einer (schönen) Harmonie aus hässlichen Einzelteilen (der demiurgische Prozess bei Platon stellt genau diese Harmonie aus unzulänglichen Teilen her). In dem Moment, in dem jede Sinnlichkeit Ergebnis einer Emanation aus göttlicher Überfülle ist, kann es keine Teile geben, die nicht grundsätzlich an der Schönheit partizipieren und nicht auch (wenngleich nur ein unvollkommenes) Abbild göttlicher Schönheit sind. »Wie kann das Irdische ebenso schön sein wie das Jenseitige? Das geschieht […] durch Teilhabe an der Idee.« Als Vermittler des Neuplatonismus war Porphyrios beinahe nicht minder wichtig wie sein Lehrer Plotin, der als schwer verständlich galt. Porphyrios, ein göttlicher Mann, über den man sich Wunderberichte zu erzählen wusste, erlebte den Sieg des von ihm gehassten Christentums, dem er antichristliche Traktate entgegen schleu-

119

Der Neuplatonismus

derte, nicht mehr. Er lebte noch in einer Welt ohne Spaltung und war tatsächlich der letzte Platoniker, der Einfluss gleichermaßen in Ost und West ausübte. Er wirkte zu einer Zeit, wo in Rom die Nachahmung des Griechischen selbstverständliche Praxis war. Erst nach ihm begann die Romanisierung und aus der jahrhundertelangen Unterordnung wurde Gegnerschaft. Auch zu Götterbildern äußerte sich Porphyrios und es scheint, dass er mit der Theorie der Darstellung des Undarstellbaren zurückhaltender umging und es eher bei metaphorischen Vergleichen beließ. Das Götterbild erinnere durch seine Ausführung in glänzendem Material an das Licht und verweise auf die intelligible Welt. Obwohl das Christentum seit 391 Staatsreligion war, wurde der 412 in Konstantinopel geborene Proklos noch heidnisch erzogen. Die Familie lebte an der ländlichen Peripherie in Westlykien. Am Land wurde das heidnische Kultverbot nur zögerlich umgesetzt. Er dürfte in Alexandrien und in Athen an der Akademie, wo im inneren Kreis der Philosophen immer noch die alten polytheistischen Kulte betrieben wurden, bei Plutarch und Syrianus als sehr religiöser junger Mann studiert haben. Proklos hatte neben Dionysios-Areopagites eine enorme Wirkgeschichte, in der islamischen Philosophie, in der italienischen Renaissance bis zum deutschen Idealismus. Beeinflusst von den im 2. Jh.p entstandenen Chaldäischen Orakeln erhöhte Proklos die Zahl der Emanationsstufen erheblich. Zudem bezeichnet er sie mit mythologischen Götternamen. Das entsprach der heidnischen Theurgie, der Technik, mit Göttern in Kontakt zu treten. Zum Standard wurde die Terminologie, die er dem dialektischen Dreischritt gab, mit dem das Eine/Gute sich in der Welt und zugleich als Welt zeigt. Er unterschied das Bei-Sich-Sein (monè), den Hervorgang (próhodos) und den Rückgang/Aufstieg (epistrophè). Diese Triadik (die im Deutschen Idealismus als These-Antithese-Synthese wiederkehrte), deutete der christliche Neuplatonismus als philosophisches Modell der Trinität. Das Sich-Denken des Einen bleibt seinskonstituierender Akt. Welt ist das Bild des Einen selbst. »Die Phantasie gewährt der Seele durch die Bilder die Wendung nach innen und die von den Bildern weg auf sich selbst (zurückgehende) Tätigkeit – wie wenn einer sich im Spiegel sieht und, die Fähigkeit der Natur und seine Gestalt bewundernd, unmittelbar sich selbst sehen wollte und eine solche Kraft bekäme, dass er Sehender und Gesehenes zugleich würde.« Weil der Kosmos ohnehin von Göttern erfüllt ist, erscheinen Götterbilder als überflüssig. Das Böse beschrieb Proklos in neuplatonischer Üblichkeit als Seinsmangel und verwandte dafür eine ästhetische Terminologie. Die Seele sei unangemessen dem Seienden gegenüber (asymmetria) und habe eine falsche Melodie (plenmelos). Dionysios Pseudo-Areopagites ist für die Philosophie des mittelalterlichen byzantinischen Kultbildes der interessanteste Vertreter des Neuplatonismus. Seine Gedanken bilden für das Kultbild der Ostkirche bis heute »die theologische und weltanschauliche Grundlage.« Darüber hinaus war er ein wichtiger Anreger der Gotik. Der in seiner historischen Identität unbekannte Autor dürfte an der Schwelle des 5. ins 6. Jh. im griechisch-syrischen Osten gelebt haben. Erstmals wurde in den Schriften

Thümmel 1991, 96 Proklos

Steel Carlos in Gerson 2010, 652f

Proklos, In Eucl. 141, 7–13; Beierwaltes 1985, 262

Dionysios PseudoAreopagites

Onasch 1967, 18 V.6.2.3./V.7.4.

120

Die Spätantike

Makris 2000, 3–28 V.7.2.2.1.

Dionysios, De nom. 4,7,704b; 4,8,704d; 4,10,705cff

Kapriev 2005, 31ff

Neidl 1976 passim Perl Eric in Gerson 2010, 776

Kapriev 2005, 42 Onasch 1967, 19

Dionysios, zit. nach Onasch 1967, 22

des monophysitischen Patriarchen Severus von Antiochien um 510 aus dem Corpus Dionysiacum zitiert. Dionysios identifizierte sich mit dem in der Apostelgeschichte (Apg 17,34) erwähnten bekehrten athenischen Ratsherrn Dionysios. Diese Identifikation wurde zwar bereits von Abaelard in Zweifel gezogen, aber noch von Thomas von Aquin akzeptiert. Dionysios war seinem Selbstverständnis nach Christ. Ein Resümee über sein gesamtes Œuvre ergibt freilich, dass das platonische Element über dem christlichen dominiert. Dionysios entfaltete sein Werk in seinen stark von Proklos abhängigen Schriften De divinis nominibus (Über die Namen Gottes), De mystica theologia (Über die mystische Theologie), De caelestis hierarchia (Über die himmlische Hierarchie) und De ecclesia hierarchia (Über die kirchliche Hierarchie). Die Philosophie des Dionysios erreichte durch Kommentarwerke des Johannes von Skythopolis und des Maximus Confessor schon früh die Literatur des lateinischen Westens. Für Dionysios ist das Eine – die Überseiendheit des Guten bei Platon aufnehmend – die überwesenhafte Wesenheit, der unsagbare Logos, das Übernamhafte und Grenzenlose oder auch: Thearchia. Das Göttliche ist ihm auch das Licht (phos). Und es ist – so an mehreren Stellen in De divinis nominibus gleichgesetzt mit Schönheit, exakter: mit dem »Über-Schönen«. Auch bei ihm muss sich die göttliche Entität (und das bedeutet: auch das Schöne) – getrieben vom göttlichen Eros – durch eine triadische Selbstexplikation als eine Thearchia-Hypostase darstellen. Der Hypostasebegriff (manchmal gebrauchte man auch den Begriff atomon) stammte von den Kappadokiern und diente vielen Vätern zunächst zur Darstellung des In-Sich-Stand-Charakters eines Individuums. Der Begriff spielte bei der Trinitätsspekulation eine Rolle. Es gab eine komplexe Diskussion um diesen Begriff und der Neuplatonismus veränderte ihn endgültig zu einer Emanationsfigur, weshalb das Konzil von Chalcedon (451) den Hypostasebegriff zugunsten des Personbegriffs aufgab. Die göttliche Anwesenheit (damit die Anwesenheit des Lichts und der Schönheit) in den materiellen Dingen markiert einen immanenten »In-Stand« oder eine »konstitutive Präsenz«. Der Hierarchiegedanke, in dem nach neuplatonischer Üblichkeit die Explikation – zugleich Kosmosdarstellung – erfolgt, wurde hier ausdrücklich theologisch aufgeladen. Er ist einerseits Ausdruck für die im Christentum grundlegende (geistige und irdische) Hierarchie, andererseits handelt es sich um eine mystische Theologie mit Figuren und Bildern und »erotischer Ekstase«. Es ist eine hierarchische Übergabe des Lichtes von oben nach unten. Konrad Onasch nennt das ein Informationssystem des Lichts. An ihm ist die ästhetische Beschreibung des Kosmos ausgerichtet. Dionysios spricht von Ordnung und Wohlordnung (taxis/eutaxia), von klarer Durchgliederung (diataxis), von Harmonie und Symmetrie (symphonia, symmetria). Diese ergibt sich letztlich aus der Einstrahlung des Lichtes/der Wahrheit von oben. Dionysios bezeichnete den Kosmos als ein aus »überaus transparenten und makellosen Spiegeln« bestehendes »Signalsystem«, das den Urstrahl des Lichtes in die erste Materie spiegelt. Die Mathematisierung des Kosmos wird durch die Vergeistigung ergänzt, die sich aus dem Ziel der Einswerdung (henosis) ergibt. Weil Gott in seiner Überseiendheit niemals direkt erreicht werden kann – das war die

121

Der Neuplatonismus

Grundlage der »negativen Theologie« des Dionysios –, kann diese Vereinigung nur durch Vermittlung geschehen. Im untersten materiellen Seinsbereich drückt die Last der Finsternis die geistigen Augen zu. Das intellektuelle Licht öffnet diese Augen schließlich. »[…] wenn jene Augen gleichsam vom Licht gekostet haben und stärker darnach verlangen […]«, strahlt die Überfülle in sie ein. Die Schönheit materieller Dinge ist eine Manifestation der differenten Präsenz der göttlichen Schönheit, einer Schönheit, die im Göttlichen immer schon angelegt ist und (anagogisch) »alles zu sich ruft.« Mit solchen Vorgaben lässt sich das Verhältnis von Licht und Materie bei Dionysios beschreiben, genauerhin die Auflösung der dunklen Materie durch das vom Göttlichen ausgestrahlte Licht. Die Vergeistigung über den Weg einer Vermittlung stand auch hinter dem Bildkonzept, mit dem Dionysios neben Johannes von Damaskus zum führenden Theoretiker der Ikone wurde. In einer »erotischen Bewegung« (kinesis erotike) treffen sich Beschauer und jenes Urbild, dessen unähnliches Abbild das materielle Bild ist. Die Schau des Bildes – und das gilt ebenso für die Erfahrung in entsprechenden Sakralräumen – ist derart das Geschehen einer mystischen Vereinigung. Beide Partner werden durch »Verähnlichung« zu einer Einheit (henosis) verbunden, die einer neuen Wirklichkeit entspricht. Das ist dabei der entscheidende Punkt und entspricht dem neuplatonisch buchstabierten Erbe des Demiurgen-Konzept Platons. Das »Resultat« des anagogischen Prozesses ist die Henosis als eine neue Wirklichkeit, die aus der Synthese von Göttlichem und Menschlichem gestiftet wird. In der Geschwätzigkeit der Welt (polylogia) ermöglicht die stumme Welt des Bildes eine Katharsis. Die Struktur dieser kathartischen Wirkung wird noch in der gegenstandslosen Kunst der Moderne des 20. Jh.s Anwendung finden. Die widersprüchlich erscheinende »areopagitische Semantik«, die von »unähnlicher Ähnlichkeit« oder »überlichtiger Finsternis« spricht, ist nichts weiter als Ausdruck der Erscheinung des Unsagbaren im Abbild. Um diese Ähnlichkeit mit dem gänzlich unähnlichen Ursprung in einen Begriff zu fassen, spricht Dionysios vom symbolon. Darin drückt sich zugleich eine Bildtheorie aus, das Symbol als Anleitung für den »Aufstieg vom bildhaft Sinnfälligen zum Intelligiblen.« Weil Gott in seinem Wesen nicht in materiellen und sinnlichen Zeichen beschrieben werden kann, hilft nur die dialektische Ambivalenz, wo jeder positive mit einem negativen Begriff ausgeglichen ist. Mit dieser negativen Theologie liefert der Areopagite ein vorzügliches Zeichensystem zur philosophischen und theologischen Einordnung von Ikone, Mosaik und Architektur des Ostens. Der bereits kurz erwähnte, um 580 in Konstantinopel geborene Maximus Confessor (eigentlich Maximus Homologetes) mit seinen weniger systematischen als mehr fragmentartigen Schriften spielte im Osten als christlicher Mystiker eine große Rolle. In der neuplatonischen Tradition, vor allem jener des Areopagiten stehend, ist Gott bei ihm seinem Wesen nach unerkennbar und unaussprechbar. Erkennbar ist nur das, was »um ihn herum« (peri auton) ist. Auch er vertritt eine Urbild-Abbild-Lehre zwischen Geistigem und Sinnlichem. Der Mensch wird als Bild Gottes dargestellt, noch mehr ist die Kirche ein Abbild (eikon, typos) Gottes in der Welt.

Dionysios, De nom. 4,5; 4,7 Onasch 1993, 82–87 8.4.

Onasch 1967, 20

Hedwig 1980, 28

8.4. Maximus ­Confessor

Kapriev 2005, 53ff

122

Die Spätantike

Ebd., 158

Ebd., 168

Die Mystik des Maximus hatte Auswirkungen sowohl auf die byzantinische Deutung der Liturgie als auch auf die Diskussion um Philosophie und Theologie der Ikone. Patriarch Photios – Georgi Kapriev nennt ihn einen »intellektuellen Leader« in Konstantinopel – stammte aus einer angesehenen armenischen Familie, die wegen ihrer Ikonophilie ins Exil gehen musste und ihr Vermögen verlor. Die Konzilsentscheidung 843 für die Ikone rehabilitierte Photios und ermöglichte dem Laien, alle Stufen der kirchlichen Ämter zu durchlaufen. 867 hielt er die Predigt anlässlich der Einweihung des Apsismosaiks der Muttergottes in der Hagia Sophia und entfaltete große Ambitionen gegen die Bilderstürmer. Sein Einsatz dafür, die Kirchen wieder mit Bildern auszustatten, war ein wichtiger Impuls für die sakrale Kunst nach dem Bilderverbot. In der Gottesfrage blieb er im neuplatonischen mainstream. Man solle den Anthropomorphismus in der Gotteserkenntnis beenden und die Unerkennbarkeit Gottes ernst nehmen. Die Erkennbarkeit beschränkte sich auf die Erscheinung, die »Silhouette« (skia), also auf eine bildhafte (eikonizei) Darstellung. In der Welt als Erscheinung Gottes liegen die Symbole, Spuren und Abbilder (symbola, typoi, eikona) Gottes. Trotz der mystischen und bildhaften Sprache und der Meinung, dass mit der Ikonenverehrung der Gläubige mystisch zu einer Vereinigung mit Gott geführt werde, hält Photios auch eine diskursive Ebene für möglich. Das entspricht wohl dem Einfluss des Aristoteles. Der aristotelische Hintergrund hat der Philosophie in Konstantinopel gegenüber der Theologie eine vergleichsweise große Eigenständigkeit gegeben.

7.3. Der Neuplatonismus als Paradigma für Anagogie und die Darstellung des Undarstellbaren Auf die kunstphilosophischen Aspekte des Neuplatonismus wurde im vergangenen Kapitel bereits ausführlich hingewiesen, an dieser Stelle sollen nochmals der Gedanke des Dynamismus als Aspekt des Platonismus und seine kunstphilosophischen Konsequenzen vertieft werden. Der Neuplatonismus vereint das platonische Systemdenken mit einer expliziten prozesshaften Selbstdarstellung des göttlichen Einen, das sich in seinem Selbstsein als (transzendentale) Möglichkeitsbedingung jeder Erkennbarkeit entzieht. Der Neuplatonismus funktionalisiert den bei Platon im Phaidros und Timaios formulierten (sich selbst genügenden) Prozess auf einen ausdrücklichen Darstellungsmodus (Emanation) einer göttlichen Entität mit dem ontologischen Status des Nicht-Etwas-Seins. Diese Konstruktion ist insbesondere für eine Kunst, die mit einem sich jeder Darstellung verweigernden Göttlichen konfrontiert ist, ein fruchtbarer philosophischer Boden und sie ist naturgemäß eine kunstphilosophische Quelle für eine elaborierte (anagogische) Rezeptionsästhetik. Die Bildphilosophie gründet eben nicht – und das ist die Botschaft – auf der statischen Urbild-Abbild-Lehre Platons, sondern sie ist die Fortschreibung der spätplatonischen Eros-Lehre. Dieser Unterschied wird in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur kaum gemacht, er ist jedoch für das Verständnis des Bilderstreits

123

Der Neuplatonismus

fundamental. Denn dieser Streit lässt sich auf die Konfrontation zwischen statisch naturalistischer Mimesis und einer anagogisch-dynamischen Mystik reduzieren. Er gründet damit gleichsam die zwei Grundparadigmen der bildenden Kunst, Mimesis und Expression. Der Neuplatonismus pflegt wie keine andere Systemphilosophie den »schönen Prozess«, ganz im Sinne dessen, was im altägyptischen ma’at-Konzept früh entworfen worden war. Er ist zudem eine neue Variante der Ein-Alles-Kosmologie, die ebenso bereits in der ägyptischen Urform einen Hintergrund für die Kunst abgab. Zu Recht kann Werner Beierwaltes sagen: »Das Bild ist so gesehen kein statisch fixiertes, sondern ein in sich dialektisch bewegtes Sein«. Dies gelte gemäß dem Kosmos, der »eine bewegte und doch in sich ruhende Struktur« ist. Es ist eine spannende Reminiszenz an Heraklits Beherrschung der Dynamik, die als Ponderation in der antiken Klassik wieder auftauchte. Weite Kreise der russischen Avantgarde stützen sich auf die Ikone. Der russische Kunsthistoriker Nikolaj Punin, der sich ausführlich mit der russischen Avantgarde beschäftigt hat, nannte die Ikone einen lebendigen Organismus. Diese Bildphilosophie der Darstellung des Undarstellbaren lässt sich in den verschiedenen platonisch-neuplatonischen Mustern buchstabieren. Es ist ein Erscheinen in Strukturen des Mathematischen, als Harmonie und Symmetrie. Dieser Impuls prägte besonders die islamische Bildkultur, die das mathematisch geometrische Dekor pflegte, was man als ein gegenstandsfreies Erscheinen des undarstellbaren Gottes interpretieren kann. Ein anderes Muster ist die ausufernde Licht- und Sonnenmetaphorik Platons. Sie steht nicht nur für das hierarchisch gestufte Ausstrahlen des göttlichen Urlichts von oben nach unten, sondern auch umgekehrt: für den ebenso gestuften Aufstieg von unten nach oben, von der dunklen Materie in das Licht. Das ist der philosophische Hintergrund der in der Spätantike verbreiteten Anagogielehre, vor allem in der byzantinischen Kunst und Architektur, die im weiteren Mittelalter, insbesondere in der Gotik, ihre Fortsetzung fand. Das Bild ist »ein Appell an den reflektierenden […] Betrachter, sich des Urbildes zu erinnern«, und die Kunst »wird zum Moment einer Spiritualisierung und Sublimierung der Welt.« Kunst ist nicht bloß Zeichen oder (unähnliche) Abbildung, sondern selbst Instrument der Anagogie. Die byzantinische Kirche oder die gotische Kathedrale lassen sich mit Otto Demus als dreidimensionaler »Bildraum« (picture-space) deuten mit erheblichem mystisch-anagogischen Anspruch, wo Beschauer und Schau zusammenfallen, so wie Plotin das ausdrücklich beschrieben hat: »[…] jetzt reißt ihn die Woge […] gleichsam fort, und hoch hebt ihn ihr Schwall hinauf. Da schaut er es mit einem Schlag, er sieht nicht wie, sondern das Schauen erfüllt sein Auge mit Licht und lässt durch das Licht nicht etwas anderes sichtbar werden, sondern dies Licht ist es, was sieht.« Der Beschauer ist geradezu körperlich in die große Ikone Kirchenraum eingebettet, er ist wie in einer Performance in das Geschehen selbst involviert: »In Byzantium the beholder was not kept at a distance from the image; he entered within its aura of sanctity, and the image, in turn, partook of the space in which he moved. He was not so much a ›beholder‹ as a ›participant‹.«

X.2.2.

II.2.2.2. II.2.3.2.

Beierwaltes 1985, 76f III.2.3.3.2./III.2.4.1. IX.2.2.7. Krieger 1998, 29

V.3.3.2.f.

Beierwaltes 1985, 92

Demus 1947, 13

Plotin, Enn. VI,7 IX.5.2.6.1.

Demus 1947, 4

124

Die Spätantike

Hausammann 2001, II, 151ff

Die neuplatonische Anagogielehre lässt sich als Konzept eines neuen architektonischen Raums interpretieren. Die dreidimensionale Welt wird auf weitere, nämlich auf geistige und spirituelle Dimensionen überstiegen. Sie realisiert sozusagen ein in der neueren Architektur immer wieder diskutiertes und verschiedentlich umzusetzen versuchtes Überschreiten des dreidimensionalen Raums. Pointiert wird dies noch dadurch, dass der materielle Träger dieses Licht-Raums der Staub ist. Nur durch ihn wird das Licht sichtbar. Die schwebenden Staubpartikel in der Luft werden zu einer unreflektierten dynamischen »Konstruktionsgrundlage« dieses neuen Raumkonzepts. Weiters ist die neuplatonische Systemphilosophie hierarchisch konzipiert. Insbesondere die Hierarchielehre des Dionysios Pseudo-Areopagites passte auf das Selbstverständnis der christlichen Kunst und Architektur. Christentum und Kirche definierten sich von Beginn an über die Hierarchie. Sie fand ihren Niederschlag sowohl im Bildprogramm als auch im Plot der Erzählung selbst. Dies ist auch der Grund, weshalb man bei den Bemühungen, das Erzählprogramm der Basiliken als Einheit zu sehen, doch auf das hierarchische Interesse im Hintergrund aufmerksam machen muss.

8.0. Das Kultbild

2.0.

Veyne 2009a, 51–57 Deckers 2007, 88ff

II.1.2.2.2./II.1.2.4.

Der Mehrwert des Kunstwerks gegenüber seiner bloßen Materialität und technischen Herstellung, die, wie Gottfried Boehm es genannt hat, »ikonische Differenz«, tritt besonders augenscheinlich beim Kultbild auf. Die Frage nach dem Streit, der sich um das Kultbild, insbesondere im christlichen Bereich um das Christus- und Heiligenbild, entspannte, ist überaus komplex und bricht sich in vielen Facetten. Zu seinem Verständnis sind sämtliche bereits erwähnten Motive für das Bild: Mimesis, Opferaspekt, apotropäische Aspekte, ebenso zu berücksichtigen wie politische, soziologische, philosophische und theologische Aspekte. Vieles von dem Genannten lässt sich in der Funktion des Bildes als Repräsentation des Dargestellten bündeln. Dabei kam es – wie schon erwähnt – im 4. Jh. zu einer signifikanten Veränderung. Ausgehend von einer streng mimetischen Kunst erhält das Porträt Züge von Abstraktion durch Nachdenklichkeit und Vergeistigung. Dem Bild kam die Funktion zu, den Dargestellten gleichermaßen zu sakralisieren (ihn also zu entrücken) wie seine Realpräsenz zu markieren. Künstlerisch führte das einerseits zu überpersönlicher Idealisierung eines alters-, ausdrucks-, ja geschlechtslosen ebenmäßigen Herrschergesichts, andererseits zu einem strengen, von Disziplin und Entschlossenheit geprägten Antlitz. Diese vordergründig politische Funktion wurzelte nicht zuletzt auch in einer archaischen Vorstellung von Bildmagie. Im Alten Orient gab es schon lange Vorstellungen einer beinahe völligen Identifizierung von Bild und Dargestelltem. Kultbilder, seien es Bilder oder Statuen, trugen dieselben Kräfte und übten dieselben Wirkungen aus wie das Dargestellte. Das setzte sich in der Antike nahtlos fort. Pausanias berichtet über Statuen und Bilder, die nur Auserwählte sehen durften und denen man Opfer darbrachte. Sie waren

125

Das Kultbild

aufgeladen mit Macht und Energie, ließen Bäume verdorren und machten unbefugte Beschauer blind oder wahnsinnig. Blindheit und Wahnsinn waren – ambivalent – Folge unautorisierter Bildschau, zugleich jedoch Voraussetzung für die Schau einer extramundanen Wahrheit. Seher und Propheten wurden häufig blind oder im Modus des Wahnsinns dargestellt. Platon beschreibt im Phaidros den Wahnsinnigen als den eigentlich »Wahrsinnigen«. So kann die Schau eines Bildes Menschen blitzartig in eine neue Dimension katapultieren, ohne Vorwarnung und ohne eine vorbereitende Initiation. Das heidnische Kult- und Herrscherbild war – ähnlich wie wir es von heiligen Texten kennen – in einen reichen ritualisierten Umgangskanon eingeordnet und stand in der Spannung zwischen sakraler Entrücktheit und Popularisierung. Um das Kultbild rankten sich Bräuche der Danksagung für erfüllte Bitten und Heilungen. Geldstücke, Danksprüche oder Gelübde wurden mit Wachs an das Bild geheftet. Die Bilder wurden nicht nur durch Proskynese verehrt, beweihräuchert, sondern auch sehr handgreiflich gewaschen, gesalbt, geküsst, bekränzt, bekleidet, in Prozessionen getragen. Es gibt Berichte über Züchtigung von Bildern, weil der dargestellte Gott den Wünschen der Menschen nicht nachkam. Manchmal rächten sich dermaßen drangsalierte Bilder. Auch für das Kaiserbild gab es eine Reihe von Vorschriften. Man durfte nicht vor dem Bild urinieren und es weder beim Gang in die Latrinen noch beim Besuch eines Bordells mit sich führen. Dieser vulgäre Umgang mit Bildern war insbesondere im Volk verbreitet und analog den zu übertriebener Konkretheit neigenden literarischen Darstellungen der Götter bei Homer oder Hesiod von den Intellektuellen stark kritisiert. Sie sahen darin die Ursache eines Skeptizismus und Agnostizismus, weil ein dermaßen vereinfachtes Götterbild kritischer und aufgeklärter Befragung nicht Stand hält. Neben die üblichen und bekannten Einwände von Xenophanes, Heraklit oder Platon – auch Varro und Seneca waren Gegner der Präsenz der Götter in Statuen aus toter Materie – reihte sich der kulturverachtende Spott der Kyniker. Menippos spottete über eine Götterstatue, in der Mäuse lebten, und Diagoras soll mit einem Heraklesbild seinen Küchenherd geheizt haben, um auf dem Feuer seine Suppe zu kochen. Die Bildmagie spielte in der mittelalterlichen Tradition der christlichen Bilder eine große Rolle. Es kam bis ins 15. Jh. zu Schändungen antiker Götterstatuen, die auf deren sakrale Macht zielten. Einen kuriosen Fall beschreibt Horst Bredekamp am Beispiel der Hl. Fides von Conques. Dabei handelt es sich um einen Reliquienbehälter mit Holzkern, mehreren goldenen Ummantelungen samt Edelsteinbesatz und dem metallenen Gesicht eines spätantiken Kaiserkopfes, der »einer Geschlechtsumwandlung unterzogen [wurde], um die antike Bildmagie auf die christliche Heilige zu übertragen.« Bernhard von Angers hatte bei einer Reise um 1000 anfangs über dieses Bild gespottet und es als Götzendienst verurteilt, bis ihn eine plötzliche Wundertätigkeit der Statue zu einem Anhänger des Bildes machte. »Im Wechselspiel von Wundertätigkeit und Reantikisierung des Äußeren bewirkt die Heilige Fides einen ästhetischen Overkill, der die Bildkritik durch einen übersteigerten Aufwand der kritisierten Bildmittel betäubt.«

Pausanias, Per. VII 23,24

Platon, Phaidr. 244c

Killy/Höpfner 1954, 315ff Hebert 1989, 122f

Xenophon, Mem. 1,1,11ff; Platon, Phaidr. 229c; Xenophanes, B23, B26

Kollwitz 1954, 319

Bredekamp 1991, 99

Ebd.

126

Die Spätantike

8.1. Das christliche Bild

Mumienporträt

272 Mumienporträt; KHM Hoesch 2000, 464; Borg 1998 Onasch 1967, 78ff

Zaloscer 1961

Deckers 2007, 45f Thompson 1978/79 Christusbild

Die Frage nach dem ausdrücklichen Anheben des christlichen Kultbildes ist immer noch Gegenstand von Diskussionen. Darunter auch die Frage, ob die ab dem 2. Jh. auftauchenden Mumienporträts aus Ägypten, die vor allem in der Oase Fayum (er-Rubayat-Hawara) gefunden wurden, bereits dazu zu zählen sind. Der Wiener Kunst- und Teppichhändler mit einer Filiale in Kairo, Theodor Graf, hatte als erster etwa 300 solcher Porträts 1887 dort aus dem Sand geholt, ohne jeden Fundzusammenhang zu dokumentieren. Später wurde die Suche von anderen professionell fortgesetzt. In diesen großartigen Porträtmalereien vermischen sich die ägyptische Bestattungstradition, eine vorwiegend enkaustische Technik (Wachs als Bindemittel) nach griechischem Vorbild (manchmal auch schon Temperamalerei mit Eigelb als Bindemittel) und die römische naturalistische und individualistische Porträtkunst mit frühchristlicher Glaubensüberzeugung (samt vieler synkretistischer Elemente). Vermutlich keine Salonmalerei, wie einige Zeit vermutet, sondern eine Grabeskunst für jene Angehörigen der griechischen und römischen Bevölkerung, die sich das leisten konnten. Auch wenn die rund 900 bis heute gefundenen Objekte unter dem Gesichtspunkt der Typologie Vorläufer der Ikone waren, und auch wenn christliches Gedankengut in Ägypten früh Fuß gefasst hatte, können diese Porträts aufgrund dieses vielfältigen Umfelds nur mit Mühe als christliche Bildkunst angesehen werden. 392 wurde diese Malerei von Kaiser Theodosius wegen ihres heidnischen Charakters verboten. Ikonographisch wesentlich überzeugender knüpft das Kultbild an die Entrücktheit kaiserlicher Repräsentationsbilder und -statuen an. Es geht hier nicht um die nicht unumstrittene These, Christus sei an die Stelle des Kaisers gerückt – eher ist die Theorie wahrscheinlich, dass Christus aus propagandistischen Gründen den Platz alter paganer Götter einnahm –, sondern es geht um eine rein formale Sicht. Aus dem Porträt verschwindet die Zeit, es wandelt sich zur Ikone. Rein formal betrachtet gibt es Vorbilder bei den Götterbildern aus spätantiker Zeit, von denen es einige Neuentdeckungen gibt. Ein ägyptisches Exemplar zeigt Suchos (Sobek) und Isis mit Nimben und Szepter (2./3. Jh.), ein Gedächtnisbild zeigt einen Verstorbenen zwischen Isis und Sarapis (3. Jh.). Die ersten Bilder von Christus sind vereinzelt aus dem Anfang des 3. Jh.s greifbar. Ein Porträtbild von Christus kursierte bereits in heidnischen Kreisen, wo es als Philosophenbild neben jenen des Platon und Aristoteles aufgehängt wurde. Von ersten Christusbildern in christlichen Kreisen berichten Irenäus von Lyon und Eusebius. In der Frage nach der Physiognomie gingen die meisten Kirchenväter von einem unansehnlichen Antlitz Christi aus, indem sie sich auf die Beschreibungen des leidenden Gottesknechtes (Jes 53,2f) beriefen. In den gnostisch beeinflussten apokryphen Evangelien hingegen wurde unter Berufung auf Psalm 45,3 oder Jes 33,17 das schöne Gesicht Jesu propagiert. Im Baptisterium von Dura Europos (um 240) ist Christus als Besänftiger des Sturmwindes auf dem Meer (Matth 8,9) dargestellt.

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Das Kultbild

Eine größere Verbreitung hatte das Christusbild ab konstantinischer Zeit – nach der erwähnten spezifischen Ikonographie in Katakomben, auf Sarkophagen, Grabreliefs und Mosaiken. Christus erschien allein oder in einer Gruppe in narrativem Kontext. Er trat als wundertätiger Heilgott auf. Im 4. Jh. tauchte der thronende Gott-Christus auf. »Nicht mehr die biblische Textreferenz bestimmt die Bildkomposition, sondern Darstellungsmuster herrscherlicher Kaiser- und Gottesbilder.« Die wesentlichsten Elemente der Christusikonographie gehen auf Konstantinopel zurück. »Christus im Purpur mit der Krone, auf dem Thron mit Szepter und Globus, mit erhobener Hand, auch mit Kreuznimbus, auf Löwe und Drachen tretend, gekrönt von der göttlichen Hand aus der Himmelswolke, als Friedensfürst in der Majestas – alles stammt aus dem religiösen Kaiserkult.« Zur gleichen Zeit begann eine Pantokrator-Typologie. Als Vorläufer dazu und erstes Christus-Porträt gilt eine Abbildung in der Commodilla-Katakombe aus dem 4. Jh. Ihm fehlten noch der Nimbus sowie Gold und Purpur aus dem »Fundus des gottgleichen Kaisers.« Zum Typus des jugendlichen bartlosen trat der ältere bärtige Jesus. Der Bart – Konstantin trat nach einer Zeit bärtiger Kaiser, nachdem Hadrian die von Alexander dem Großen ausgelöste Bartlosigkeit beendet hatte, wieder bartlos auf – war Ausdruck von Weisheit. Philosophen trugen Bärte, auch Julian Apostata war bärtig. Vor allem im syrischen Raum war der bärtige Christus als Philosoph ein beliebtes Sujet. Clemens von Alexandrien hielt für Christen ein bartloses Kinn für unziemlich. Die Christus- und Heiligenbilder wurden analog den Kaiserbildern mit Macht, Kraft und Wirkfähigkeit assoziiert. Neben den Legenden von den ohne Hand gemalten Bildern kursierten Legenden über Wunder, die durch Bilder geschehen, die voll des Heiligen Geistes sind. Das Christusporträt war von Anfang an umstritten. Abgesehen vom alttestamentlichen Bilderverbot knüpfte die Kritik am Christusbild bruchlos bei den Einwänden kunstkritischer griechischer Philosophen an. Abbilder könnten nie das Göttliche zur Darstellung bringen. Darauf gab es eine kulturkritische Antwort, die das materielle, ja erdige Bild geradezu provokant gegen diese Geringschätzung des Materiellen stellte. Zu erinnern ist an Simeon Stylites, der sein Antlitz in Ton drückte und diese als wundertätig geltenden Täfelchen den Wallfahrern überreichte. Freilich ging es hier nicht primär um das Bild, sondern um eine Memorialpraxis, die durch Kontaktmagie ihren Wert erhielt. Materielle Dinge, das gilt etwa auch für das Holz des Kreuzes, an dem Christus hing, werden durch den Kontakt mit dem Heiligen oder mit einer bereits existierenden Reliquie transformiert und können ihre Aufladung an den Träger dieser Dinge übertragen. Solche materiellen Relikte wurden dann beschriftet oder mit Bildern versehen. Insofern sind die Tonobjekte ein schönes Beispiel zum schwierigen, aber kreativen Verhältnis zwischen Geist und Materie im Osten. Eine analoge Situation ist die Ableitung der Ikone von einem auf wunderbare Weise ohne Zutun einer menschlichen Hand entstandenen Urbild. Ähnlich wie beim Christusbild wurde auch für das Bild der Gottesmutter ein außerchristlicher Bildtypus umgedeutet. Das Bild der stillenden Frau und der Typus des auf dem Schoß gehaltenen Kindes sind nahezu im gesamten Mittelmeerbereich

5.1.3. Warland Rainer in Kat. 2013a, 363

Bauch 1960, 283

Jensen 2000, 103 Deckers 2007, 48

Hinz 1973, 68

8.2.

8.3.

4.4.

Barber 2002, 13–37

Marienbild

128

Die Spätantike

Deckers 2007, 49ff

Pfeilschifter 2014, 175

gängig. Die Auszeichnung des Kindes als göttlich kann durch einen Stern angedeutet werden (Katakombe Priscilla), zu dem das Gotteskind nach seiner Himmelfahrt den Vorstellungen entsprechend werden sollte. Nach der Konstantinischen Wende wurde das Gotteskind durch die höfische Proskynese z.B. der Magier gekennzeichnet. Im Jahr 431 wurde am Konzil von Ephesos (und nicht, wie Nestorius gehofft hatte, in Konstantinopel) die Christusgebärerin (Christotokos) zur Gottesgebärerin (Theotokos) aufgewertet. Es war der von Theodosius installierte Patriarch Nestorius von Konstantinopel gewesen, der den Ausdruck Christusgebärerin geprägt hatte, gleichsam als salomonische Lösung der auseinanderklaffenden christologischen Strömungen. Der Marienkult, der in den Evangelien und im frühen Christentum keine Rolle spielte, war inzwischen so stark, dass dieser Ausdruck als Degradierung erschien und »quer zum theologischen und vor allem rituellen Mainstream der Hauptstadt und weiter Teile des Reiches« stand. Es war das Volk, das den Titel der Muttergottes forderte, der Maria auf Augenhöhe mit dem göttlichen Vater setzte. Die Theologen mussten ihren Widerstand gegen diese Entwicklung, die eine Christologie in der Mariologie barg, schließlich aufgeben. Auf vielen Ikonen ist das theologisch überzogene ΜΡΦΥ (Meter Theiou) zu lesen.

273 Pantokrator (14. Jh.); BCM 274 Hodegetria, Sammlung Walter Neidl im Stift Wilten; Innsbruck 275 Koimesis, Sammlung Walter Neidl im Stift Wilten; Innsbruck

8.2. Das Acheiropoieton und die Ikone

Bakalova Elka, Petkovic Sreten in Bakalova u.a. 2002, 151–208

Für viele der schematisierten Typen der Ikonenkunst wird der Ursprung in Konstantinopel angenommen: für die Theotokos (Gottesgebärerin), gleichsam das dogmatische Generalbild der Gottesmutter, die Platytera (Orantin, die ein Brustbild Jesu im Medaillon trägt), die Hodegetria (Wegweiserin, deren Urtyp vom Evangelisten Lukas stammen soll), die Eleusa (Umarmerin des Jesuskindes), der ähnliche Typ der Glykophilusa (die süß Küssende), die Koimesis (Marientod), den Christos Chalkites (der Eherne) und eine im Katharinenkloster auf dem Sinai bewahrte, an die ägyptischen Bestattungsporträts erinnernde Christusikone aus dem 6. Jh., das Urbild des Christus Pantokrator. Ein herausragendes Beispiel ist die um 1125 in Konstantinopel entstandene Vladimirskaja. Sie dürfte zehn Jahre später nach Kiew und 1155 nach Wladimir gebracht worden sein. Viele weitere Typen wurzeln in der Stadt. Die genannten Ausdrücke sind keine Bildtitel, sondern bezeichnen Bild-Typen und nehmen eine lange Tradition auf, wie in früherer Zeit Darstellungen von Gottheiten klassifiziert wurden.

129

Das Kultbild

Es entstanden die Ikonostasen, die Ikonenwände, die den Altarbereich mit drei Türen (nördlich: Prothesisraum zur Vorbereitung der Liturgie, Mitte: die den Priestern vorbehaltene Königstür zum Altarraum, südlich: Diakonion, Aufbewahrungsraum) vom Kirchenschiff trennten. Sie waren der ursprüngliche Ort der Ikonen in der Kirche. Die Ikonostase (griechische Wissenschaftler bevorzugen den Ausdruck templon), die um 1300 abgeschlossen und die kunsthistorisch wohl wichtigste Neuerung gegenüber der Liturgie des Westens war, entwickelte sich aus den frühchristlichen Chorschranken, die aus gearbeiteten Säulen und einem darüber liegenden Architrav bestanden. Die Chorschranke wiederum zitiert antike Säule und Triumphbogen. Zwischen den Säulen brachte man Platten an, auf denen man in hierarchischer Ordnung die Ikonen befestigte. Diese »sakrale Schaubühne«, wo mit Hilfe dramatischer Techniken das »christliche Heilsdrama« aufgeführt wurde, entsprach dem Wesen der Ikone, ihrer dramatisch-dynamischen Durchlässigkeit auf das Heilige. Die Ikonostase bildete die durchlässige Grenze zwischen der »symbolhaft gedachten himmlischen Überwelt und der irdischen Welt.« Symeon von Thessaloniki hinterließ uns dazu ein schönes Dokument: »Das chancel bedeutet die Trennung zwischen dem sinnlichen und dem intelligiblen Bereich, es ist eine starke Barriere zwischen den materiellen und spirituellen Dingen.« Durch die Königstür trat der Priester und präsentierte die Gaben der Eucharistie, sozusagen die Erscheinung des Herrn in realer Gestalt. Die Schranke ist damit gewissermaßen auch eine Grenze zwischen Materie und Geist im oben beschriebenen Sinn. Die Abneigung gegenüber jeder materiellen Beimischung und dem Anteil menschlicher Arbeit ist ein griechischer Topos und findet sich in den Schriften des Paulus in verschiedenen Bildern. Der von Jesus verkündete neue Tempel ist »nicht von Menschenhand erbaut.« Christus ist in ein nicht von Menschenhand erbautes Heiligtum hineingegangen, nicht »in ein Abbild des wirklichen, sondern in den Himmel selbst […].« Im Markusevangelium bedeutet der nicht von Menschenhand errichtete Tempel den in der Auferstehung verwandelten Leib Christi. Im Brief an die Kolosser wird die Taufe als spiritualisierte Beschneidung interpretiert, »die man nicht mit Händen vornimmt […].« Mit dieser Beschneidung verliert man gewissermaßen den irdischen vergänglichen Körper. Schon in der Antike hat diese Abwertung des Materiellen zu einer Reihe von Legenden geführt, nach denen das Bild aus seiner materiellen und sinnlichen Verhaftetheit befreit werden sollte. Als vermutlich rationalisierende Deutung einer frühen fetischistischen Meteoritenverehrung entstanden Erzählungen von Bildern, die – ebenso wie Bücher – vom Himmel fielen. Schon Zeus hatte Götterbilder auf die Erde geworfen (diipetes). Bilder von Athene und Artemis, das Palladion von Troja und/oder Athen, das Schnitzbild der Pallas Athene sind auf diese Weise auf die Erde gelangt.

Ikonostase

Altripp 1998; Walter 1977, III, 251–267

Onasch 1967, 36f Symeon, zit. nach Walter 1977, III, 251

7.3. 276 Ambo (6. Jh.); AAM

2 Kor 5,1

Hebr 9,24; Hebr 9,11 Mk 14,58 Kol 2,11 Acheiropoieton

Willemsen 1939 Dobschütz 1899, 192–211 Belting 1990, 67ff

130

Die Spätantike

Schneider 1950, 68–71

277 Acheiropoieton / Mandylion, St. Spyridon bei Medeon/ Antikyra; heute Hosios Lukas Bulst/Pfeiffer 1991, 21–31

Barber 2002, 24f

Bulst/Pfeiffer 1991, 32–45; Belting 1990, 235ff; Dobschütz 1899, 68ff

Thümmel 1992, 175

Schreiner 2007, 106 Belting 1990, 235–246

Im christlichen Bereich entstand die analoge Legende vom Acheiropoieton, dem nicht von Menschenhand gefertigten Bild, etwa im 6. Jh. Es handelt sich um ein vom Himmel gefallenes Bild Christi, das gefunden wird, sich manchmal auf Leinen (Mandylion) oder Ziegelstein (Keramidion) kopiert und wundertätig ist. In gewisser Weise könnte das Acheiropoieton geradezu als eine Wiederholung der Menschwerdung Christi angesehen werden. Ernst von Dobschütz kommt das Verdienst zu, die verwirrenden Berichte über solche Bilder geordnet zu haben. Antonius von Placentia (um 570) berichtet von einem Acheiropoieton in Memphis, das er allerdings wegen seines starken Glanzes nicht sehen konnte. Es sei an den Brauch in Ägypten erinnert, Götterbilder und -statuen von der Sonne energetisch aufladen zu lassen. In der Zionskirche in Jerusalem sei an der Säule, an welcher Christus gegeißelt worden war, der Abdruck seines Antlitzes zurückgeblieben. Zwischen 560 und 574 ist ein Christusbild in Kamulia in Kappadokien (der Schleier von Kamulia) bezeugt, das eine Heidin in einem Park auf Leinen fand. Das Bild erzeugte von sich selbst Kopien und wirkte Wunder. Es soll (nach einem Bericht von Georgios Kedrenos) 574 nach Konstantinopel überführt worden sein. Allerdings gibt es mehrere Varianten dieser Geschichte. Bilder wurden hier durch Körperkontakt verursacht, sie trugen die Authentizität des realen Körpers noch in sich und waren dadurch wundertätig. Man sprach manchmal von einem Prägebild (charakter), das eigentlich einer Reliquie entsprach. Der Reiz einer materiellen Grundlage scheint hier doch überzeugend gewesen zu sein, wichtig blieb jedoch, dass keine weitere menschliche Hand (also die eines Künstlers) die Magie durchbrach. Dort, wo sie es dann zwangsläufig doch tun musste, in der Ikonenmalerei, durfte diese künstlerische Hand nur einen streng normierten Kopiervorgang durchführen. Am bekanntesten wurde das Christusbild von Edessa. Fürst Abgar Ukam V., König von Edessa, sandte – nach dem Bericht des Eusebius von Cäsarea, der den vermeintlich originalen Briefwechsel überlieferte – einen Brief an Jesus mit der Bitte, ihn von einer schweren Krankheit zu heilen. Er bekam einen Abdruck des Gesichtes Jesu auf einem Leinentuch zurück. Es gibt auch andere Varianten der Geschichte. Im Kunsthistorischen Museum in Wien findet sich eine Inschrift auf einem Türsturz aus Ephesos (5.–6. Jh.). Danach habe Jesus den Apostel Thaddäus zu Abgar gesandt, um ihn zu heilen. Vermutlich ist diese Geschichte ein später Reflex auf die Bekehrung Abgars IX. Anfang des 3. Jh.s. Das Abgar-Bild ging jedenfalls als Mandylion in die Typologie ein. Es wurde von Zeitgenossen sowohl als acheiropoieton als auch als charakter (Prägebild) bezeichnet. Jesus selbst sei demnach ein Freund des Bildes gewesen, argumentierten die Verteidiger der Bilder später. Dieses Bild wurde mit Ziegeln vermauert, wirkte Wunder und hielt Feinde ab. Im 6. Jh. taucht eine Ikone als Abgar-Bild auf – vielleicht war der Anlass die Belagerung Edessas durch die Perser 544. 944 brachte es der Feldherr Johannes Kurkuas nach Konstantinopel, das sich mit diesem »authentischen Christusbild« schmückte. Alljährlich wurde diese Übertragung – in der orthodoxen Kirche bis heute – mit einem Erinnerungsfest gefeiert. Im Jahre 1204 verschleppten es die lateinischen Kreuzfahrer, seine Spuren verlieren sich im Westen.

131

Das Kultbild

Um die frühen Christusbilder bildeten sich zahlreiche Legenden. Wasser, mit dem man die Ikone wusch, setzte Holzausrüstungen feindlicher Angreifer in Brand (als alte Magie der Ambivalenz), Farben wundertätiger Bilder wurden mit dem Wein der Eucharistie vermengt und umgekehrt mischte man Knochenmehl von Reliquien unter die Farbpigmente. Beinahe zu jeder berühmten Ikone gehörte auch eine Legende, die auf den Schatz antiker Zuschreibungen an Bilder und Statuen zurückgriff. Dass Statuen redeten, heilten, sich bewegten, den Kopf wendeten, manchmal verschwanden und wiederkehrten, weinten, bluteten oder schwitzten und Menschen bestraften aber auch beschützten, war schon in der Antike nichts Ungewöhnliches. Im Mittelalter konnten reales Leben und die Kunst bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergehen. Solche magische Wirkung, »mediale Verlebendigung«, ging nicht nur von sakralen, sondern auch von profanen, namentlich höfischen Kunstwerken aus. Im 4. und 5. Jh. entstand die Geschichte des Lukasbildes. Demnach sei Maria dem Evangelisten Lukas, der die bildhafteste Schilderung der Jugendjahre Jesu verfasst hatte und daher als Maler galt, Modell gesessen. Im Westen hatte die Geschichte um das Acheiropoieton kaum eine Chance der Rezeption. Allerdings entstand im 13. Jh. als Analogon der Typus der Vera Icona, des wahren Christusbildes. Der Begriff Vera Icona verschmolz zum Veronika-Bild. Zuerst tauchten leere Schweißtücher, dann solche mit dem Abdruck Christi auf. Die Geschichte der Ikone, des enkaustisch auf Holz gemalten Tafelbildes, begann – wie schon gesagt – mit den antiken Herrscherbildnissen, den ägyptisch-hellenistischen Mumienporträts, diversen spätantiken Götterbildern und anderen Vorbildern, wie etwa dem Brustbildtyp, der in Byzanz und in der griechischen Tradition bekannt war. Kunstgeschichtlich erfuhr die Ikone eine Einengung auf das Tafelbild, das man besser (mit Kuss, Weihrauch, Proskynese, Kerzen) verehren konnte. Nach der Erklärung des 7. Ökumenischen Konzils 787 hatte der Begriff der Ikone einen weiteren Umfang: Es galten »Bilder in Malerei und Mosaik und anderer geeigneter Materie in den heiligen Kirchen Gottes, auf heiligen Geräten und Gewändern, auf Wänden und Tafeln, in Häusern und Straßen« als Ikonen. In der späteren Ikonentradition wurde die Technik der Enkaustik durch Temperamalerei abgelöst. Als Bindemittel wurde statt Wachs Eigelb verwandt. Öl schied aus, weil es zu sehr mit menschlicher Arbeit verbunden war. Die frühesten Ikonen erscheinen noch narrativ, ohne strenges Schema, individualistisch, farbenfroh bis hin zu expressionistischer Manier. »Die frühe Ikone zeigt an, daß sie noch keine fixierte Bilderlehre auszudrücken hat. Sie steht, mit ihren Gegenständen, im Wettbewerb mit widersprüchlichen Traditionen spätantiker Natur- und Bildauffassung. Raum und Fläche, Bewegung und Ruhe, Körperlichkeit und Abstraktion stehen in ihren Gegensätzen nicht nur für den Unterschied künstlerischer Überzeugungen,

Pochat 1996, 107 Steppan 1994; Thümmel 1992, 174–185 8.0. Pekáry 2007, 85–99 Camille 1989, 237 Wenzel 1995, 311

278 Veronika mit Schweißtuch; Burgund (14. Jh.); MBA

Gerke 1967, 239

Thümmel 1991, 11f

Krieger 1998, 54

132

Die Spätantike

Belting 1990, 39

sondern auch für den Gegensatz überlieferter Weltanschauungen und kultureller Traditionen Im Mittelalter symbolisiert die Ikone feste Ordnungsvorstellungen, die eine Standardisierung ihres Erscheinungsbildes erzwingen. Die offene Impression der spätantiken Malerei weicht genauen Umschreibungen, wozu sich immer Linien auf Flächen eignen. Die Vielfalt der möglichen Sinnerfahrung wird auf einen Kanon reduziert, der zu dem kirchlich kontrollierten Kultbild paßt.« Die Veränderung in die beschriebene Form ist nicht zuletzt Ausdruck des dahinter liegenden neuplatonischen Philosophiekonzepts, das nun zur Ausformung der Ikone führt. Dieses Konzept schält sich aus dem heftigen Disput um die Funktion des Bildes heraus.

8.3. Der Streit um das Bild

Mazal Otto in Mazal 1995, 153

Bauch 1960, 282

Speyer 1989, 400f

Reliquien­ verehrung

Bering 2002, 25

Ducellier 1990, 289, 321

Der eigentliche Anlass für den Bilderstreit gibt bis heute einige Rätsel auf. Eine so heftige Ablehnung des Bildes ist in dem hier untersuchten Kulturkreis ungewöhnlich. »Seit urdenklichen Zeiten hatten die mittelmeerischen Völker kein politisches Regime gekannt, das sich auf eine Religion ohne Bilder gestützt hätte.« Es gab Bilder von Christus, Heiligen und Märtyrern, seit dem 7. Jh. hingen Bischofsbilder in den Titularkirchen, Bilder von Klerikern, die wie die hohen byzantinischen Reichsbeamten gekleidet waren und denen man ebenfalls Leuchter und Weihrauch vorneweg trug. Der Bilderstreit ist eher als ein philosophisch-theologischer Metadiskurs auf der Schiene von materieller Bild- und materiefeindlicher Geistphilosophie zu verstehen, der über eine sich seit dem 4. Jh. beim einfachen Volk etablierende Bilderpraxis gelegt wurde. Die anschwellende völlig überzogene Bild- und Reliquienmagie mag die Ablehnung des Bildes zusätzlich angestachelt haben. Doch die Ursachen sind zweifellos komplexer und vielfältiger. Grundsätzlich war insbesondere das Christusbild – so wie in der Antike das Götterbild – in Intellektuellenkreisen nie unumstritten, so wie jede mimetische Bildkunst von kritischen Kommentaren begleitet wurde. In frühchristlichen Kreisen galt eine ambitionierte Bildkunst zeitweise als Heidentum. Was für das Christusbild galt, galt auch für Heiligenbilder. Auch sie wurden im Bilderstreit zerstört. Daneben gab es noch das Kreuz, das besonders verehrte Evangelienbuch und die Reliquien. Reliquienverehrung war grundsätzlich unproblematisch, allerdings mit der gerade erwähnten Einschränkung angesichts der ausartenden Kultpraktiken. Als besonders anstößig galten dubiose Angebote an Pilger wie das gebührenpflichtige Berühren von Ikonen, was manchen Klöstern zu erheblichen Einnahmen verhalf. Gebildete Theologen stießen sich an solchem Gebaren auch deshalb, weil es die Macht der Mönche und Klöster, die viele Privilegien genossen, ungebührlich förderte. Die bodenständigen Mönche mit ihrem engen Kontakt zu den Bedürfnissen des einfachen Volkes gehörten in aller Regel zu den Verteidigern der Bilder und deren haptischen Begreifbarkeit. Aus der Ikone, eigentlich Symbol für ein vergeistigtes Nicht-Bild, wurde eine Reliquie. Um dies in Schranken zu weisen, schlugen sich viele Theologen auf die Seite der Bilderstürmer, aber sie waren deshalb nicht grundsätzlich kulturfeindlich. Eher schon spiegelte sich hier die Abneigung

133

Das Kultbild

der Spätantike gegen eine überbordende Emotionalität der Memorialkulte und der Reliquienverehrung wider. Beim Evangelienbuch wurde in der Regel angemerkt, dass nicht Gold, Silber, Elfenbein und Edelsteine, mit denen es geschmückt war, verehrt werden durften, sondern Gottes Wort. Das Kreuz ohne Corpus wurde im Bilderstreit zum Bildersatz. Allerdings gab es auch vor dem Bilderstreit bereits schlichte Kreuze in Kirchen. Dass in einem solchen Klima ab dem 6. Jh. vor allem das plastische Bild dramatisch zurückging, wird nicht überraschen. Mit dem Ende der heidnischen Kulte wird die Skulptur nicht mehr gebraucht. Religionspolitisch bot im Umfeld insbesondere in der arabischen Kultur der aus dem strengen Monotheismus abgeleitete Verzicht auf das Bild ein Paradigma, das auch auf die christlichen Intellektuellen einen starken Reiz ausübte. In diesem Punkt gab es eine große Übereinstimmung mit dem Judentum. 392 verbot Kaiser Theodosius die Mumienporträtmalerei. 726 begann mit einem Edikt von Kaiser Leon III. der Bilderstreit im engeren Sinn. Leon soll Syrer gewesen sein, was manche als Erklärung für seine Bilderfeindschaft heranziehen wollen. Es gibt aber auch Berichte, dass Leon ursprünglich bilderfreundlich eingestellt gewesen sein soll. Dass Leon selbst 726 ein Christusbild auf dem Chalke-Tor des Großen Palastes von Konstantinopel durch ein Kreuz ersetzt habe, dürfte eine Legende sein. 754 verbot ein Konzil im Palast von Hiereia (es erklärte sich selbst zum 7. Ökumenischen Konzil, das jedoch nach offizieller Zählung erst Nizäa II 787 war) unter Leons Sohn Konstantin V. das Anbringen und die Verehrung von Bildern. Anscheinend protestierte keiner der anwesenden Würdenträger so energisch dagegen, dass wir heute noch etwas davon wüssten (allerdings waren Bilderfreunde vermutlich gar nicht eingeladen). Es begann eine erste Verfolgung der Anhänger von Bildern. Bei der Begründung für die Ablehnung spielte auch die Eucharistie eine wichtige Rolle. Sie sei das eigentliche Bild Christi. Man machte geltend, dass Christus selbst gegen Götzenbilder vorgegangen sei, und berief sich auf die von bilderkritischen Vätern formulierten Argumente. Ein Thema ist kunstphilosophisch besonders reizvoll: die Inkarnation. Dieses Argument taucht zentral immer wieder in der Diskussion auf. Letztlich war der Streit um das Bild eine andere Form des theologischen und philosophischen Streits um die Christologie. Der Bilderstreit ist in der Tat eine »Fortsetzung der christologischen Debatten.« Das Konzil lieferte ein schönes Beispiel dafür, wie sehr die Inkarnationsfrage gerade im Osten mit einer Pneumatologie überformt wurde. Es nahm die von verschiedenen Vätern, darunter Eusebius von Cäsarea, Gregor von Nyssa und Cyrill von Alexandrien propagierte Lehre auf, dass Christi Fleisch, mit dem göttlichen Wort vereinigt, in die göttliche Natur aufgenommen wurde und damit als vergöttlichtes Fleisch nicht darstellbar sei. Damit rückte die Orthodoxie selbst ein Stück weit von der gültigen Lehre der Menschwerdung Gottes in Christus ab. In der byzantinischen Eucharistie wird das Fest der Transfiguration Christi (metamorphosis), also der Verklärung seines Körpers, feierlich begangen.

Thümmel 1992, 118–149, 188f

V.3.3.2.

Thümmel 1991, 25ff

4.2.1.f. Inkarnation

Barber 2002, 62 3.5.

Thümmel 2005, 70 Kretzenbacher 1997, 25ff

134

Die Spätantike

Bilderstreit Thümmel 2005, v.a. 271ff; Passarelli ­Gaetano in Bakalova u.a. 2002, 23–40 Thümmel 1991, 16ff

Basilius, zit. nach Schönborn 1984, 192; im Orig. kursiv

V.5.3.ff./V.7.3.ff.

Brock in Warnke 1973, 30–40 Grabar 1964, 87f

II.3.2.4./V.3.3.2.f.

Veyne 2009a, 139

Thümmel 1992, 188

Der Bilderstreit umfasste zwei Phasen. Das erste Bilderverbot galt von 726 bis zum 2. Konzil von Nizäa 787 (die Beschlüsse von Hiereia wurden aufgehoben), das zweite von 815 (Nizäa II wurde wieder außer Kraft gesetzt) bis zur Synode von Konstantinopel 843 unter der Kaiserwitwe Theodora. Im Jahr 787 war es die spätere Kaiserin Irene, die als Vormund des minderjährigen Konstantin VI. das 2. Konzil von Nizäa einberief und die Rehabilitation der Bilder veranlasste. Hauptargumente des Konzils waren die Inkarnation, die sich jetzt doch zur orthodoxen Fleischauffassung durchrang, die Trennung der Begriffe Anbetung und Verehrung und schließlich die alte Aussage des Basilius von Cäsarea, die in der Philosophie der Ikone die entscheidende Rolle spielte, dass die Verehrung des Abbildes eigentlich dem Urbild gelte: » Denn die Ehre, die dem Bild erwiesen wird, geht auf das Urbild über.« Das Konzil folgerte: »Wer also die Ikone verehrt, verehrt in ihr die Person (hypostasis) des Abgebildeten.« Freilich blieb die Bilderfrage noch lange ein heikles Thema, im Osten ohnehin, aber auch im Westen. Erst in der späten Gotik setzte sich – zusammen mit einem überbordenden Kult des Fleisches – das Bild durch, bis es in der Reformation und der dortigen Ablehnung der Transsubstantiationslehre neuerlich unter Druck geriet. Selbstverständlich ist die Ablehnung des Bildes, die in erster Linie von den Kaisern ausging und auch gegen das bilderfreundliche Mönchtum gerichtet war, nicht ohne politischen Hintergrund verständlich. Darüber gibt es zahlreiche Spekulationen. Wollten die bilderfeindlichen Kaiser die bilderskeptischen Christen im Osten an sich binden, um sie nicht an die Araber, die das Bild völlig ablehnten, zu verlieren? Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die Kaiser die Kirchenpolitik bestimmten und nicht die Patriarchen. Missliebige Kirchenfürsten wurden kurzerhand abgesetzt. Auch die Furcht vor einer freien künstlerischen Elite mag am Hof in Byzanz eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls bekam die Bildkritik durch die Polemiken des Islam gegen das Bild einen zusätzlichen Schub. Der Bruder des Kalifen Abd al-Malik bedrohte die ägyptischen Christen wegen ihrer Bilder und verspottete sie mit christologischen Argumenten. Bilder seien Ausdruck eines Polytheismus. Der Islam kämpfte nicht zuletzt gegen die Bräuche der eigenen Stammeskulturen, wo die Bildtradition tief verwurzelt war. Die Ablehnung der Bilder in Judentum und Islam bedeutete zugleich eine Aufwertung des Alphabets bzw. der Schrift. In der Schrift könne der unsichtbare Gott eher zum Ausdruck kommen als im gegenständlichen Bild. Im frühen Christentum entsprang die Symbolsprache der Kunst sowie die aus heidnischen Vorbildern übernommene Ornamentik, die sich in abstrakte Gebilde und geometrische Muster verwandelte, einer ähnlichen kunstphilosophischen Motivation. In der Zeit des Bilderverbots wiederholte sich die Argumentation. Abbildungen in Apsis und Kuppel wurden durch das Kreuz ersetzt. Die Irenenkirche in Konstantinopel und die Hagia Sophia in Thessaloniki erhielten das Kreuz in der Zeit des Bilderstreits. Allerdings bezweifeln Historiker bisweilen, dass dies ikonoklastische Gründe habe. Von den Bilderfeinden sind nur wenige literarische Zeugnisse enthalten – ihre Schriften wurden später von den siegreichen Bilderfreunden zerstört, aber ihre Po-

135

Das Kultbild

sition lässt sich aus dem Zitatenschatz der heftig geführten Debatte ausreichend rekonstruieren. Zunächst war da das alttestamentliche Bilderverbot, welches gemeinhin das Judentum als bilderfeindlich darstellt. Wenn festgestellt wird, dass das zweite Gebot des Dekalogs zum »Kern der Sinai-Theophanie« gehöre, stimmt das zweifellos, auch wenn es Strömungen im Judentum gab, die sich dem Hellenismus mit seiner Bildkultur geöffnet hatten. Neben dem alttestamentlichen Bilderverbot stießen sich, wie erwähnt, die Bilderfeinde, wie ihre Vorläufer in der Antike, am materiellen und sinnlichen Medium des Bildes. Im Bild werde der erniedrigte Christus noch einmal erniedrigt, klagte Asterios von Amaseia. Dies, obwohl der Bischof in einer in ihrer Echtheit freilich umstrittenen Schrift ein Bild der Märtyrerin Euphemia lobte. Ob hier ein tatsächliches Bild gemeint war oder es sich um eine Ekphrasis eines Martyriums handelt, ist umstritten. Jedenfalls kritisierte Asterios den Luxus der Kleidung, was auf einen hohen Standard in der Textilkunst schließen lässt. Das Argument, Kunst sei unnötiger Luxus, taucht immer wieder auf. Das einzig zulässige Bild Gottes – so Clemens von Alexandrien – sei der Mensch. Jedes andere Bild widerspreche dem geistigen Begriff von Gott. Eusebius von Cäsarea ließ kein Bild Christi zu, weil nur der Vater den Sohn kenne. Er verweigerte, wie berichtet, Constantia, der Schwester Konstantins, ein Christusbild, weil in totem Stoff und irdischen Farben Christus nicht nachgebildet werden könne. Hinter dieser vordergründigen Abneigung gegenüber dem Materiellen und Sinnlichen verbarg sich ein Streit um die Christologie. Thümmels Bemerkung, theologische Positionen seien keine Ursache für den Bilderstreit gewesen, ist trotz der zweifellos manchmal verwirrenden Argumentation nicht überzeugend. Das Problem ist wohl eher, dass man die bis in feinste Verästelungen differenzierte Christologie jeweils für beide Positionen in Anspruch nehmen konnte. Dadurch hat der Bilderstreit durchaus zur Schärfung theologischer Argumentation beigetragen und damit auch eine Qualitätsverbesserung der Theologie zur Folge gehabt. Demnach trenne man in der bildlichen Darstellung zwangsläufig beide Naturen Christi und käme einer Häresie in keinem Fall aus. Darstellbar sei nur der Mensch Christus, nicht aber die göttliche Person (Arianismus, Nestorianismus), oder aber man vermische beide Naturen in unzulässiger Weise, indem die menschliche Natur durch die göttliche absorbiert würde und die Darstellung mit dem Abgebildeten nichts mehr zu tun habe (Monophysitismus). Eustratios von Nizäa behauptete, indem er eine scharfe Trennung der beiden Naturen in Christus vornahm, dass nur die menschliche Seite gemalt werden könne, also sei die Ikone ein unvollständiges Bild. Für Tertullian steht Kunst als Fiktion der Wahrheit der Schöpfung entgegen. Der Syrer Epiphan, Bischof von Salamis auf Zypern, von dem wir drei Schriften zu Bildern fragmentarisch erhalten haben, ereiferte sich darüber, dass der göttliche Logos nicht deshalb Mensch geworden sei, damit man ihn auf Wände pinselt. Vermutlich 392 zerriss er in religiösem Furor in einer Kirche einen Vorhang mit dem Bild »eines Menschen«. Er war einer der wichtigsten und schärfsten Theoretiker der Ikonoklasten und die Geschichte zeigt, wie verbreitet die Bilder inzwischen waren. In

Kohn 1997, 57 Cohn-Wiener 1929 II.3.2.6.

Speyer 2001, 632 Thümmel 1992, 76ff Speyer 1971 Clemens von ­Alexandrien, Protr. 10, 98, 3 Ebd., 4,51,6 4.2.1.

Thümmel 1991, 27ff

4.2. Barber 2007, 103

Bulst/Pfeiffer 1991, 112f Runciman 1978, 32

136

Die Spätantike

Thümmel 1992, 67ff

V.6.2.4.

Thümmel 1991, 1992

Partsch 1998, 240f Bering 2002, 25f

Verteidigung der Bilder

Jensen 2000, 94

Basilius PG, 508C–509A

einem Brief an Theodosius bestürmte Epiphan den Kaiser, der neuen Idolatrie, die er für ein Werk des Teufels hielt, ein Ende zu bereiten. Auch Augustinus vertrat eine bilderskeptische Position. Ebenso hielt Donatus von Besançon Kunst für überflüssigen Luxus und forderte völlig schwarze Bilder (tantum nigrae). An diese Position wird zu erinnern sein, wenn im lateinischen Mittelalter der ebenso asketische Bernhard von Clairvaux für seine Kirchen das reine weiße Licht fordert. Wie verheerend der Bildersturm war, darüber gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Hans Georg Thümmel geht davon aus, dass es zur Zeit des Bilderverbots gar nicht so viele Bilder (mit Ausnahme von bebilderten Vorhängen) gegeben habe. Wenn man jedoch all die berichteten bildlichen Darstellungen, einschließlich von Kleidung, bildlichen Reliefs, Münzen, der auch von Thümmel in ihrer Zahl hoch veranschlagten Vorhänge mit Bildern, ganz zu schweigen von den Devotionalien von Pilgerwesen und Reliquienkult, zusammennimmt, dürften die Berichte über verbreitete Zerstörung von Kunstwerken, von Bestechung von Äbten, von Folterungen und sogar Hinrichtungen, doch ernst zu nehmen sein. Viele Maler flohen nach Italien und verstärkten dort den byzantinischen Einfluss. Es folgte eine längere Periode, in der es keine Bilder mehr gab. Die meisten Bischöfe, die 787 beim Konzil teilnahmen, waren in bilderlosen Kirchen aufgewachsen. Ab dem 6. Jh. sind uns schriftliche Quellen zur Verteidigung der Bilder erhalten. Zunächst finden sich positive Bewertungen des Bildes in der antijüdischen Literatur, die auf die spezifische Charakteristik des Mensch gewordenen Gottes setzten. In der heftig geführten Debatte beantworteten die Befürworter des Bildes jeden Einwand der Gegenseite detailliert. Zunächst wurde dem Bild eine pastorale und katechetische Funktion, jene der biblia pauperum, zugeschrieben. Paulinus von Nola glaubte, dass Bilder zu Gebeten anregen. Er beauftragte Künstler, eine Basilika in Nola mit Christus- und Heiligenbildern zu bemalen und rechtfertige dieses ungewöhnliche Tun damit, den populären paganen Bildwerken aus christlicher Warte etwas entgegen zu setzen. Die von ihm in einem lateinischen Gedicht formulierte Beschreibung der Ikonographie dieser Ausstattung ist eine der ersten Beschreibungen eines christlichen Kunstwerks. Ganz ähnlich argumentierte Hypatios von Ephesos. Bei ihm lässt sich bereits ein Einfluss der Anagogielehre des Neuplatonismus, vor allem des Dionysios Areopagites, greifen. Johannes von Damaskus folgt Basilius von Cäsarea, der die Malerei auf eine Stufe mit der Erzählung stellte, indem er einen alten, schon bei Cicero (Cicero, De orat. 3,26) und Quintilian (Inst. Or. 9,3,66) vorhandenen Topos aufgreift: »Was das Wort der Geschichtserzählung zu Gehör bringt, das stellt die Malerei dar und führt es schweigend vor Auge.« Mit Hinweis auf die des Schreibens und Lesens Unkundigen, die so zur Nachfolge der Schrift angespornt würden, übernahmen der berühmte Prediger Johannes Chrysostomos, obwohl er grundsätzlich Bilder zugunsten der Schrift eher ablehnte, und Neilos von Ankyra, der ebenfalls bilderfeindlich war, dieses Argument. Papst Gregor den Großen brachte es schließlich zur positiven Beur-

137

Das Kultbild

teilung des Bildes. Er rügte einen Bischof Serenus, der Bilder zerstören ließ mit dem biblia pauperum-Argument. Ähnliches galt für Gregor II., der die bilderfeindlichen Kaiser heftig angriff. Das Evangelium werde, so schrieb er in einem Brief an den Patriarchen von Konstantinopel Germanos, verkündet »per litteras et per picturas«. In der zweiten Stoßrichtung ging es um die Frage nach der richtigen Deutung der Inkarnation. Patriarch Photios war gerade wegen seiner konservativen (damit streng nizäanischen) Haltung ein vehementer Befürworter des Bildes. Er drehte die christologischen Vorwürfe um und sah im Ikonoklasmus einen Arianismus. Wenn der Sohn nicht wesensgleich, sondern dem Vater nur ähnlich sei, wird ein Bild zum Götzenbild. Ikonoklasten, die genau das unterstellen, seien geradezu Gotteslästerer. Die Ikone hingegen sei ein Resultat der orthodoxen Christologie, also der Inkarnations-Lehre. Er feierte in Predigten den Sieg über den Ikonoklasmus, den er als »jüdische Torheit« bezeichnete. Ebenfalls auf die Inkarnation stützten sich Simeon Thaumastoreitis und Patriarch Germanos, die Gott zwar nicht für darstellbar hielten, sehr wohl aber den Mensch gewordenen Gott. Das Fleisch sei eben Fleisch eines Menschen und habe keine vergöttlichte Qualität. Wer die Ikone verwerfe, verwerfe auch die Menschwerdung. »Im Sinne dieses festen Glaubens an Christus bilden wir den Ausdruck (charaktera) seines heiligen Fleisches auf den Ikonen ab […].« Die Ikone sei von den heidnischen Idolen strikt zu trennen. Das nicht triviale Problem der Ähnlichkeit der Abgebildeten mit den Urbildern wurde entweder durch die Erzählungen vom Acheiropoieton gelöst oder durch Verweise auf Erscheinungen von Gottesmutter oder Heiligen, welche das Aussehen bestätigten. Das war selbstredend nicht eines in unserem modernen Sinn, sondern gemäß der Definition, welche in der Ikone eine jeweilige Figur ikonographisch kennzeichnete. Das Konzil von Nizäa war die wichtigste Zäsur im Bilderstreit. Es wurde von Patriarch Tarasios, einem Verwandten des bilderfreundlichen Patriarchen Photios, geleitet und verfasste eine ausgewogen positive und differenzierte Beurteilung der Bilderfrage, die auch nach dem endgültigen Ende des Bilderstreits Bestand hatte. Der Konzilsbeschluss fasst alle Argumente zusammen, die für die Verteidigung der Bilder ins Treffen geführt wurden. Mit ihnen galt es, den Stand von 754 wieder zu korrigieren. Bilder seien in den vorhergehenden Konzilien stets anerkannt gewesen, sie gingen auf die Apostel zurück, sie würden nicht angebetet, sondern nur verehrt, wobei die Verehrung auf das Urbild übergehe, sie seien »Bücher« für jene, die nicht lesen können. Die Gottheit Christi bleibt weiterhin undarstellbar, nur der inkarnierte Christus als Mensch kann im Bild erfasst werden. Der Umgang mit dem Bild im lateinischen Mittelalter hielt sich in der Bewältigung der antiken Bildmagie an die oben an Beispielen angedeuteten Strategien der Zerstörung oder einer adaptierenden Übernahme. »Wie im Ikonoklasmus das Bedrohliche des antiken Idols restlos eliminiert wird, so wird dessen Machtaura im Fall der Heiligenstatuen durch Verlagerung vollständig bewahrt.« Neben Einzelfiguren bieten Kapitelle, Tympana und Fassadengestaltungen den Kunsthistorikerinnen ein reiches Forschungsmaterial der Übernahme antiker Vorbilder in die mittelalterliche christliche Bilderwelt.

Arnulf 2008, 99 Gregor II., Mansi 13, 95

7.2.

Kapriev 2005, 194ff

Thümmel 1991, 123

Germanos, zit. nach Schönborn 1984, 174

Maguire 1996, 5–47 Thümmel 1991, 64–94

8.0. Bredekamp 1991, 100

138

Die Spätantike

8.4. Die Philosophie des Bildes

3.5. Johannes von Damaskus

Grabar 1973, 10

Thümmel 1991, 55–63

V.3.4.2.1. Johannes von ­Damaskus, Exp fid lib.4, c.XVI

Johannes von D­ amaskus, zit. nach Schönborn 1984, 185

Thümmel 1991, 45

V.4.2.3.

Der Bilderstreit zwang die Verteidiger des Bildes zu einer grundlegenden theoretischen Legitimation des Bildes. Aus diesen elaborierten Diskussionsbeiträgen lässt sich geradezu eine christlich-neuplatonische Philosophie des Bildes destillieren. Sie beinhaltet den aus dem Christentum stammenden Impuls der Inkarnation und den Impuls eines anagogisch-verweisenden Charakters des Bildes aus dem Repertoire des Platonismus. Einer der Väter der Philosophie des Bildes war Johannes von Damaskus. Er stammte aus einer christlich-arabischen Familie. Sein Vater Sargun ibn Mansur war Finanzminister am umaijadischen Kalifenhof des Abd al-Malik. Oleg Grabar vermutet, dass Johannes, der ein Spielgefährte des Kalifensohnes war, im täglichen Leben arabisch sprach. Johannes kannte die Vorbehalte der Muslime gegen das Bild und die theologischen Grundlagen dafür aus erster Hand. Johannes wurde in Jerusalem gegen seinen Willen von Patriarch Johannes V. zum Priester geweiht und war Mönch im dortigen Mar-Saba-Kloster. Er hinterließ ein reiches Schrifttum im Geiste der traditionellen nizäanischen und chalzedonensischen Christologie. Seine Schriften sind klarer und von größerer synthetischer Kraft als diejenigen der Autoren, deren Einsichten er benützte: Eulogius von Alexandrien, Nemesios von Emesa und Theodoretos von Kyros, der kein Bilderfreund war. Wichtig sind die drei Reden des Johannes – eigentlich ein Erstentwurf und zwei Überarbeitungen – gegen die Ikonoklasten, die ab 726 entstanden. Die Verteidigung der Bilder geschah mit Argumenten gegen alle Einwände. Die christologische Basis der orthodoxen Konzilslehre, auf der Johannes stand, führte zu mancher Spitze gegen die Muslime und deren Vorwürfe gegen die Christen. Der Hinweis etwa, nicht die Schöpfung, sondern den Schöpfer zu verehren, scheint besonders gegen den Islam gerichtet gewesen zu sein. Ganz Homousianer, begründete er das Bild mit der Inkarnationslehre. Zugleich blieb er der platonisch-neuplatonischen Tradition verhaftet, indem auch für ihn die göttliche Überwesenhaftigkeit – jenseits jedes Seienden – nicht erkennbar war. Die Inkarnationslehre fügte er in die platonische Verweisstruktur und Geistlehre ein. Unabhängig vom körperlichen Menschsein des inkarnierten Gottessohnes können wir nicht zum Geistigen vordringen. Das adelt die Materie, in die sich Gott entäußerte. »Mach die Materie nicht schlecht! Sie ist nämlich nicht ehrlos. Denn nichts ist ehrlos, was von Gott kommt.« Die undifferenzierte Verachtung der Materie – damit auch jener des Bildes – sei manichäisch. Dies beziehe sich außer auf das Bild auch auf Gegenstände wie Kreuze und Evangeliare. Das alttestamentarische Bilderverbot sei zu relativieren, weil durch die besondere Lage Israels bedingt, das einen Hang zur Götzenverehrung hatte. Inzwischen stünden die Christen aber nicht mehr unter dem Gesetz, sondern in der Gnade. Darüber hinaus verwies Johannes auf die Theophanien im Alten Testament. Gott erschien dort immer wieder in Menschengestalt dem Adam, Jakob, Jesaias und dem Abraham. Johannes erwähnte über solch theologisch-spekulative Fragen hinaus den wichtigen pädagogischen Nutzen der Bilder. Das Argument fand bei den Stellungnahmen im Westen am Hof Karls des Großen besondere Beachtung.

139

Das Kultbild

Das entscheidende Argument, das als philosophische Gründungsurkunde der Ikone gelten kann, war indes jenes, das man etwas verkürzend als Urbild-AbbildLehre bezeichnet. Manchmal – so etwa bei Hans Georg Thümmel – wird versucht, der Abbild-Lehre einen aristotelischen Kontext zu unterstellen, noch nicht bei Johannes, wohl aber dann bei Theodor, dem wichtigen Mönchsprediger und Verteidiger der Bilder aus dem Kloster Studion in Konstantinopel, einem weiteren Vater der Bildphilosophie, sowie beim Patriarchen Nikephoros. Demnach wäre bei Nikephoros eher von einer Ursache-Wirkungs-Relation zu sprechen als von einer Teilhabe im platonischen Sinn. Dass die Scheidung von Platon und Aristoteles alles eher als scharf war, ist sicherlich richtig, trotzdem muss man die Basis von Thümmels Theorie, nämlich eine »dürftige[n] Überlieferung« und eine daher nötige »Revision der üblichen Anschauung, die die ostkirchliche Bilderlehre von Ioannes her zu betrachten pflegt«, relativieren. Es trifft zu, dass sich Nikephoros für terminologische Fragen in diesem Zusammenhang interessierte, die er dem aristotelischen Reservoir entnahm. Er unterschied das gemalte Bild, das ein Verhältnis der Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten aufweist, selbst aber eine vom Vorbild unterschiedene Wirklichkeit aufweist. Dem steht das Umschreiben (perigraphe) gegenüber, das jede Verschiedenheit von Urbild und Abbild aufhebt und so in ein magisches Bildverständnis führt. Das Christusbild müsse aber eine Differenz im Sinne einer Wesensunterscheidung aufweisen, um einem magischen Bildverständnis zu entgehen. Bei einem solchen Zugang sind wir in der Tat einem aristotelischen Kategorien- und Relationsverständnis näher als einer bloßen Abstufung einer Teilhabe im Sinne Platons. »Dank seiner aristotelischen Denkkategorien kann Nikephoros das Bild in gewissem Sinn ›entmystifizieren‹, ihm nüchtern seinen Platz zuweisen und damit die übersteigerte Identifikation von Bild und Urbild überwinden, in der sich Bildergegner wie Bilderfreunde weitgehend verstrickt hatten.« Nikephoros steht zudem in einem an Aristoteles angelehnten positiven Materieverständnis, das in die »Paradoxie« mündet, dass »in Christus unser Menschsein vergöttlicht werden soll, ohne aufzuhören, ›menschliches Fleisch und Blut‹ zu sein.« Nikephoros formuliert dies beherzt: »Wenn man jemanden nicht sehen kann, kann man ihn auch nicht malen.« Was Christoph Schönborn hier aus dem Text des Nikephoros gewinnt, ist eine klassische Bildtheorie, die zwischen Abgebildetem und Abbild eine klare Unterscheidung trifft. Er degradiert dann allerdings die Ikone zu einem üblichen Bild und nimmt ihr jede anagogische Magie, die dazu dienen könnte, eine unmittelbare Gotteserfahrung zu machen. Dass so etwas für einen an der aristotelisch-thomistischen Scholastik geschulten Theologen eher verdächtig klingt, ist nachvollziehbar, aber es trifft die Intention, welche mit der Ikone weitgehend verbunden wurde, exakt nicht. Die aristotelische Kausallehre ist nämlich kein besonders erfolgversprechendes philosophisches Paradigma, um ein dialektisch-anagogisches Geschehen, wie es der Ikone bei den meisten Autoren zugrunde gelegt wurde, zu erklären. Zudem scheint

Urbild-Abbild-­ Lehre

279 Reste des StudionKlosters; Istanbul

Thümmel 1991, 63

Schönborn 1984, 202 Ebd., 206f Nikephoros, zit. Ebd., 203

140

Die Spätantike

Schönborn 1984, 218

Theodor von Studion, zit. nach Ebd., 209 III.2.4.3.2.6.

Theodor von Studion

Theodor, zit. nach Ebd., 219 Meyendorff 1969

Schönborn 1984, 220f

Schönborn den expressiven Anteil am mimetischen Bild nicht im Blick zu haben, wie folgende Bemerkung zeigt: »Wie wenige Bilder sind künstlerisch so gelungen, daß sie wirklich zu einer Beziehung zur dargestellten Person verhelfen und nicht vielmehr eine solche eher behindern?« Dass dies gerade bei ungegenständlichen Bildern am besten gelingen kann, hat Schönborn nicht gemeint, denn sein Interesse ist es, die Menschwerdung Christi mit der Philosophie und Theologie der Ikone zu versöhnen, und dafür hilft ihm Aristoteles naturgemäß mehr als Platon. Die Ausarbeitung der »Philosophie der Ikone« durch Johannes und eine Generation später durch Theodor scheint doch mit kräftiger Inanspruchnahme des Neuplatonismus, vor allem in der Version des Areopagiten, entwickelt worden zu sein, auch wenn die Idee vom Abbild eines Urbildes auch an anderen Orten auftauchte, z.B. beim Patriarchen Germanos. Aber das zeigt eher die Dominanz dieser mächtigen kulturellen Erzählung. Bei Theodor von Studion heißt es nun, anders als bei Nikephoros, aber ebenso prägnant: »Der Unsichtbare wird sichtbar.« Der zentrale Begriff für das Bild lautete eikon (Abbild). Der Ausdruck selbst ist alt. Er kommt bei Platon in einer kunstphilosophisch durchaus relevanten Form vor. Die sichtbare materielle Welt ist ein (unzulängliches) Bild der wahren Welt. Bei Paulus (1 Kol 15) ist eikon auf Christus als Abbild Gottes gemünzt. Verbunden mit dem neuplatonischen Begriffsreservoir erhielt eikon eine dynamische Komponente und meinte – allgemein gesprochen – die Präsenz des Unsichtbaren im Sichtbaren. Noch prägnanter wird dieses Konzept bei Theodor von Studion, der von einer hypostasis spricht, wenn er das Abbild meint. Das geht bisweilen so weit, dass die Ikone selbst Züge einer Person erhielt. Ob man indes hypostasis grundsätzlich mit Person im modernen Sinn übersetzen darf (wie Christoph Schönborn das unbekümmert tut), sei doch in Frage gestellt. Damit blendet man den neuplatonischen Hintergrund, der mit hypostasis stets einen Kontext der Emanation aufspannt, vollkommen aus. Aber Theodor hatte durchaus die neuplatonische Anagogie im Sinn: »Was gibt es Nützlicheres, was führt uns mehr empor als das Bild?« Diese neuplatonische Relativierung des Bildes wird in der Forschung manchmal sogar als Unterstützung der Ikonoklasten in Anspruch genommen. Der Streit, ob Aristoteles oder Platon hier als philosophischer Hintergrund herangezogen wird, ist auch von Rezeptionsinteressen gesteuert. So setzt etwa Christoph Schönborn begreiflicherweise auf die aristotelische Variante, um einen geerdeten Begriff der Inkarnation zu bewahren: »Die Menschwerdung Gottes ist der Beweis dafür, daß das letzte Ziel der christlichen Betrachtung nicht eine rein geistige Schau sein kann.« Die Deutung des Hypostasis-Begriffs als Person verfolgt das Interesse einer Profilierung des Spruchs von Basilius, wonach die Verehrung der Ikone auf das Urbild übergehe, in Richtung eines trinitarischen Personverständnisses, wie es das Konzil von 787 nahelegte. Ob ein solches Interesse im Diskurs des byzantinischen Ostens des 9. Jh.s in vergleichbarer Weise bestand, darf bezweifelt werden. Zunächst einmal scheint Theodor hier einfach nur die Ikone mittels der Inkarnation zu rechtfertigen: »Sollte also jemand sagen: ›da ich (Christus) geistig verehren soll, ist es überflüssig, ihn in seiner

141

Das Kultbild

Ikone zu verehren‹, so soll er wissen: damit verleugnet er auch die geistige Verehrung Christi. Denn wenn er mit seinem Geist nicht Christus in menschlicher Gestalt zur Rechten des Vaters sitzen sieht, dann verehrt er ihn überhaupt nicht. Im Gegenteil, er leugnet, daß das Wort Fleisch geworden ist.« Aber es ging beim byzantinischen Bild immer, wie Otto Demus zu Recht unterstreicht, um eine Ikone ohne Raum und Materialität: »The Byzantine image escaped the casualness and haphazardness of spatial projection; it always remained an ›image‹ […] without any admixture of earthly realism.« Und Leo Steinberg meint unter Berufung auf Demus, dass insbesondere aus einer Sicht der Renaissance der hieratische Christus in Byzanz eher Ausdruck gnostischer Häresien sei als einer der Inkarnation. Diese Bewertung (aus Renaissance-Perspektive) weist in Wahrheit auf die philosophische Metaerzählung des Platonismus (also keine gnostische Häresie) hin, der die Inkarnation mit seiner Materie-Abwertung konterkarierte und die Pneuma-Seite der christlichen Tradition unterstützte. Entscheidend ist der Hinweis auf die Dynamik des Geschehens. Das Bild mag unzulänglich sein, aber der Verweis auf die anagogische Kraft, die es wegen des Durchscheinens des Göttlichen ins Materielle zu entfalten vermag, macht das Bild wertvoll. Das könnte man als eine Sakralisierung des materiellen Artefakts interpretieren, obwohl es eigentlich bloß um einen Verweischarakter, also um ein Medium, geht. Bereits bei Platon lag die Vervollkommnung dieses »Bildes von Welt« im Erscheinen des Guten im Schönen, was soviel wie eine dynamische Harmonisierung bedeutete, also dynamische Umsetzung in die Zahl. Ein philosophischer und theologischer Sprengstoff liegt darin, dass die hypostasis, also das Bild, dem Göttlichen erst sein Erscheinen ermöglicht. Man kann bei der Ikone das Verhältnis geradewegs umdrehen, weil dann – konsequent gedacht – die Verehrung der Ikone gleichsam über das Sein des Göttlichen entscheidet. Das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis beschrieb Walter Schulz am Beispiel der Gotteslehre des Nikolaus von Kues: »Der Gott des Cusanus ist nicht ohne Welt […] Gott kommt so wenig ohne das Seiende vor, wie das Sehende ohne Gesehenes.« Diese ins Atheistische kippende Konsequenz aus der philosophischen Grundlage der Ikone haben dann in der Tat aufgeklärte Intellektuelle und Künstler im 19. und 20. Jh. gezogen. Johannes von Damaskus umschreibt den Sinn von eikon. Es sei homoioma (Ebenbild), paradeigma (Beispiel) und ektypoma (Abdruck) des Urbildes. Der Abdruckcharakter (»Wer die Ikone Christi anschaut, schaut in ihr Christus«), auf den auch Theodor Studites mehrfach verwies, ist hier zweifellos spiritualisiert zu verstehen. Johannes listet dafür eine sechsfache Typologie auf: Das erste Abbild des Vaters ist der Sohn, an zweiter Stelle steht der Ratschluss Gottes, an dritter der Mensch als Ebenbild Gottes, als viertes die Darstellung des Unsichtbaren durch sichtbare Gestalten, als fünftes die sogenannten Vorsehungsbilder und als sechstes die schriftlichen und bildlichen Andenkenbilder, darunter die Ikonen. Johannes kann mit der bereits oben erwähnten Formel des »Nizäaners« Basilius des Großen, die er aufgreift, die Argumentation der Bilderstürmer unterlaufen. Die Verehrung des Bildes gilt nicht dem materiellen Bild, sondern dem geistigen Urbild (prototypos). Diese Formel, die

Theodor von Studion, zit. nach Ebd., 220

Demus 1947, 34 Steinberg 1983, 71

III.2.4.3.2.5.f.

V.4.2.1. Schulz 1957, 17 IX.2.2.7.

142

Die Spätantike

Thümmel 2008, 459

Barber 2007, 74ff

James 1996, 80–85

III.2.4.3.2.5./7.2.f.

Lüdeking Karlheinz in Boehm 1995, 356 Braun 2001

nach Thümmel »allgemeinen Vorstellungen« entsprach und erst im Bilderstreit ein Beitrag zur Bildtheorie wurde, diente dem Konzil von Nizäa 787 zur Rechtfertigung der Bilder. Auch für Theodor von Studion zeigen sich in der Teilhabe- und Epiphaniestruktur des Bildes im Bild selbst etwas von der Heiligkeit des Urbildes. In diesem Sinn berief sich Theodor ähnlich wie Johannes auf die Inkarnation. Eine solche Sicht löst den Bildcharakter im westlichen Sinn auf. Das Bild ist materieller Verweis, bloßes Fenster, und das Dargestellte steht dem Betrachter nicht mehr als gegenständliches Objekt gegenüber. Was vielmehr bei der Betrachtung einer Ikone passieren soll, ist die Epiphanie des Göttlichen selbst in einer intimen Verbindung von Schau und Erscheinen. Während zeitgenössische Mönche wie der Abt des Mamas-Klosters Simeon die klassische mystische Gotteserfahrung vertraten und genauso kritisch gegenüber einer Theologie des Wortes wie einer des Bildes waren, nahm Psellos eine vermittelnde Position ein. Zwar könne Kunst als solche das Übernatürliche nicht erreichen, aber der Weg dorthin führe zwangsläufig über das materielle Bild. Die materielle Seite der Ikone (techne) sei das eine, etwas anderes aber das, was dieses materielle Bild im Sinne eines gnadenhaften Geschenks (charis) auslösen kann. In der genaueren Beschreibung geht Psellos auf den dynamischen Charakter der Ikone ein, zunächst eher im Sinne einer kubistischen Ambiguität, nach der die Kreuzigungsdarstellung uns Christus tot und lebendig näher bringen könne. Daneben referierte er ausdrücklich die neuplatonische Teilhabedynamik. Die Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Schau ist ganz im Sinne Platons eine vorbereitete Seele. Zum Verständnis dieses wichtigen Paradigmas, das auch für Teile der gegenstandslosen Kunst im 20. Jh. (Suprematismus, abstrakter Expressionismus) gültig blieb, muss man sich von einer starren Urbild-Abbild-Situation, wie sie der mittlere Platon in seiner Ideenlehre vertrat und die in der Literatur verbreitet als Paradigma für die Ikone dient, verabschieden. In solchem Kontext bliebe man auf der Ebene einer reinen Mimesis und würde sich nicht nur der Kritik Platons aussetzen, sondern auch den Vorwürfen der Bilderfeinde. Die Ikone ist jedoch in prozesshafter Transparenz entworfen. Die theoretische Vorlage dafür stammt vom späten Platon und – noch verschärft – vom Neuplatonismus. In diesem hochdynamischen Geschehen einer mystischen Einswerdung geraten der meditierende Betrachter und das in dieser meditativen Schau Erscheinende in einen gegenseitig bedingenden Zusammenhang. Aus der Sicht der Semiotik entfällt ein klares Signifikat, weil sich Bezeichnendes und Bezeichnetes auflösen und eine neue Einheit aus beiden erst im Akt der Begegnung entsteht. Dass ein Bild »realisieren, nicht bezeichnen« soll, anders gesagt: dass jedes Bild einen anagogischen Mehrwert hat, gilt hier in ausgezeichneter Weise. Die mystische Vereinigung des Schauenden mit dem Urbild Gott gelingt – nach Dionysios – in einer »erotischen Bewegung« (kínesis erotiké), die beide Partner in einer neuen Qualität der Einheit (hénosis) miteinander verbindet. Die erwähnten Formeln des Dionysios, »unähnliche Ähnlichkeit« und »überlichtige Finsternis«, sind ein unzulänglicher Beschreibungsversuch eines mystischen Geschehens und sind hier massiv ästhetisch aufgeladen.

143

Das Kultbild

Im christlichen Kontext müsste man von einem sakramentalen Charakter der Bilder sprechen. Sie sind Zeichen von Realpräsenz, die sich aber erst aus der Teilnahme des Rezipienten ergibt. Realpräsenz ist keine Sache einer distanzierten Betrachtung, sondern erschließt sich im Erleben einer neuen Wirklichkeit. Insofern ist das Ende des Bilderstreits für die Befürworter des Bildes nicht nur ein positiver Ausgang, sondern es ist die offizielle Inauguration eines sakramentalen Konzepts, eine philosophisch-theologische Aufladung des Kultbildes, das es vor dem Streit am ehesten im Reliquienkult gegeben hatte. Formal führt diese Bildphilosophie konsequent zur Standardisierung der Ikone. Das ist ganz im Sinne der Kritik Platons an der Kunst als eine Kritik an der falschen Mimesis. In der Normierung geht es um eine präzise Wiederholung objektiver Wahrheit, die jede geschichtliche und genialische (des einzelnen Künstlers) Relativierung ausschließt. Die Ikone zeichnet ein Höchstmaß an Abstraktheit aus. Die Dargestellten erscheinen – ikonographisch als Fortsetzung der byzantinischen Erstarrung – statuarisch, in frontaler Haltung, mit möglichst ausdruckslosem Gesicht. Es gibt keine Perspektive. Spätere Interpreten wie Pavel Florenskij lehnten die Perspektive als menschenbezogen, naturalistisch und als Ausdruck einer Weltanschauung ab und sprachen der Ikone eine Bedeutungsperspektive oder nach Oskar Wulff eine »umgekehrte Perspektive« zu. Die Ablehnung der Perspektive aus Gründen einer unerlaubten, weil gegen die Würde Gottes gerichteten Subjektivierung steht in eigenartigem Widerspruch zur Meinung vieler Renaissancekünstler, welche die Perspektive als göttlich feierten. Dies wegen der für die Gestaltung der Perspektive notwendigen (göttlichen) Geometrie. Auch dabei handelte es sich um einen platonischen Kontext, weil der Sinn der Perspektive darin gesehen wurde, eine materielle Welt mit Hilfe der Geometrie in die Unveränderlichkeit der Zahl zu übertragen. Ebensolche symbolische Bedeutung haben die Farben der Ikone, die nicht der Wirklichkeit, sondern einem festgelegten Kanon entsprechen. Das Licht wird zur Metapher für das göttliche Licht, das mit Hilfe der Maltechnik, einer Schichtung von dunkleren zu helleren Farben, aus dem Inneren der Ikone zu kommen scheint und damit der neuplatonischen Lichtmystik entspricht. »Das Betrachterauge kann diesem ›Eigen-‹ oder ›Innenlicht‹ also nicht ›antworten‹, es kann nur ›empfangen‹.« Die dogmatische Unwandelbarkeit und Zeitenthobenheit der Ikone (die freilich in der Praxis vor allem später in Russland durch Eigenheiten verschiedener Malschulen in dieser Strenge nie durchgehalten wurde) ergab sich aus der Normierung, die zuerst – wohl aus Respekt vor der göttlichen Herkunft des Bildes – anscheinend selbstverständliche Gepflogenheit war und später in den Malerhandbüchern reguliert wurde. Man kann in dieser Abstraktion eine Zwischenstellung zwischen Körperhaftigkeit und Immaterialität sehen. Die Ikone hat wegen dieser Normierung keine innere Zeitstruktur mehr. Sie war »das Produkt eines zunehmenden Ausschlusses der Zeit aus dem Bild.« Sie zeigt vielmehr dem Betrachter die Ewigkeit gleichsam als »dauernde Bewegung in sich.« Genau dieses antimimetische Kapital, das in diesem Symbolsystem steckte, war es, was für die Künstler des 20. Jh.s spannend wurde. Dazu kam noch, dass beispiels-

Standardisierung der Ikone

Onasch 1967, 107–113 Platon, Nomoi 670a

Florenskij 1989 Wulff 1907

V.5.2. Onasch 1967, 46–56

Krieger 1998, 56

Maguire 1996, 48–99 Krieger 1998, 174 Theissing 1989, 196

144

Die Spätantike

IX.2.1.

IX.2.1./IX.2.3.7.

VIII.5.3.2.3.

Schwartz 2004, 35 IX.5.3.2. Krieger 1998, 51

Haftmann 1962, 22

weise solche vormoderne Raum- und Zeitauffassung mit den am Beginn des vergangenen Jahrhunderts aktuellen Entdeckungen der Physik zu konvergieren schienen. Die angesprochene Selbstreferentialität müsste als immer wieder neu sich gestaltende Einheit gelesen werden, die jede vordergründige Subjekt-Objekt-Spaltung der Welt auf immanenter Ebene heilt. Das Nicht-Bild Ikone würde so gerade wegen ihrer Abstraktheit zu einer sehr konkreten, ja individuellen und existentiellen Angelegenheit und löste etwas ein, was möglicherweise ein Urverlangen des Menschen ausdrückt. Dass die Ikone letztlich eine ideale, göttliche Welt gegen die schlechte reale Welt stellte, gab die Urfigur einer Utopie ab. Dies konnte in der Fortsetzung dieses Kapitels viele Jahrhunderte später, nämlich beim Gang in die Abstraktion, auch politisch umgesetzt werden. Dieses Paradigma, das in seiner elaborierten Form immer noch jenes des späten Platon und des daraus resultierenden Neuplatonismus ist, gründet auch ein Erinnerungskonzept, das namentlich in der lebhaften Diskussion um die Entwürfe zeitgemäßer Erinnerungsstätten eine wichtige Rolle spielt. Für die Erinnerung hat die bloße Mimesis keine Überzeugungskraft mehr. Davor beugen wir – mit Hegels berühmten Worten – unser Knie nicht mehr. Ein glaubwürdiges Erinnerungskonzept kann nur dann vorliegen, wenn das Erinnerte zumindest partiell im Schmerz oder Glück nachvollziehbar wird. Mit Blick auf das Berliner Holocaust-Mahnmal meint Claudia Schwartz: »Eisenman hat einen rationalen ›place of no meaning‹ geschaffen und eine Absage an die Vergegenwärtigung des Grauens mit ästhetischen Mitteln. Gäbe es ein Bild für das Bilderverbot, so fände man es am ehesten hier.« Wenn Verena Krieger das Repräsentationssystem der Ikone gegenüber dem des westlichen Bildes als »diametral entgegengesetzt« ansieht, stimmt das zwar für die ausdrückliche symbolische Bestimmung der Ikone, aber, gemessen an der verbreiteten Bildauffassung, stellt die Ikone nur einen besonders anschaulichen Sonderfall dafür dar, dass Bildrezeption stets eine Bildproduktion oder dass das Bild evozierend und nicht reproduzierend ist.

Das Mittelalter

V

146

Das Mittelalter

◀ 280–286 K­ apitelle in Ste-Marie-­ Madeleine (12. Jh.); Vézelay

Bouwsma 2000, 56

Kant 1764, A 109

VIII.7.1.1.

Kluxen 1988; Köck 1988 VIII.8.2.

IX.3.4.1. Klibansky 1939

de Libera 2003

Das Mittelalter umfasst das Jahrtausend zwischen dem 5. und dem 15. Jh. Der Ausdruck ist mit abschätzigem Unterton in der Renaissance aufgekommen, um eine »mittlere Zeit« (medium tempus) zwischen der Antike und der anbrechenden Neuzeit zu kennzeichnen. Der Humanist und Archäologe Flavio Biondo benannte in seinem Historiarium ab inclinatione Romanorum imperii (1483) die Spanne vom Ende des Römischen Reichs bis zu seiner Gegenwart mit diesem Ausdruck. Für England wird der Ausdruck middle ages meist William Camden zugeschrieben. Diese negative Beurteilung blieb dem Mittelalter bis in die Neuzeit haften und erreichte ihren Höhepunkt im Diskurs der Aufklärer, allen voran bei Kant, der von einem »verunarteten Gefühl« sprach und von »geweihten Kriegern, die zur Gewalttätigkeit und Missetat geheiligt« waren, von »elenden Fratzen«, die Religion, Wissenschaft und Sitten verunstalteten. Es dürfte eine Besonderheit sein, dass eine Kultur ein ganzes Jahrtausend des eigenen Werdens über Jahrhunderte hinweg negativ beleumundet hat. Das Blatt wandte sich in der Romantik im 19. Jh., wo es zu einem nostalgisch verklärten Mittelalter-Begriff kam, der im 20. Jh. rassenideologisch überfrachtet und von einer völkischen Verehrung des Nordens gespeist wurde. Während das Fortschrittsdenken der Aufklärung das Mittelalter abwertete, verehrte es die Romantik als Stabilitätsanker der gesellschaftlichen Ordnung. Ein anderes Interesse verbanden christliche Denker mit dem Mittelalter, nämlich die Wiederentdeckung der Scholastik. Dies führte vor allem in der Bewegung der Neuscholastik im katholischen Denken des 19. und 20. Jh.s zu einer engagierten Forschungsarbeit am christlichen Mittelalter, die bis heute andauert. Zahlreiche Forschungszentren wurden errichtet und die kritische Edition von Handschriften angeregt. Dass dies über weite Strecken aus rückwärtsgewandter Motivation und der Gegnerschaft gegen die Moderne angeregt worden ist, soll nicht verschwiegen werden, ändert aber nichts an der verdienstvollen Forschungsambition. Philosophisch galt das Mittelalter lange Zeit – nicht zuletzt wegen dieser Rekonstruktion durch eine christlich orientierte Forschung mit ihrem eingeschränkten Blick auf die aristotelische Scholastik – von Aristoteles dominiert. Raymond Klibansky hat das im Kontext des einschlägigen Forschungsinteresses des Warburg-Kreises zurechtgerückt und auf das Fortbestehen des Platonismus (und zwar des nur in wenigen Teilen bekannten »lateinischen« wie des umfangreicheren »arabischen«) aufmerksam gemacht. Diese Klarstellung ist nicht zuletzt für die Kunstphilosophie erhellend. Ein weiteres gängiges Urteil über das Mittelalter betrifft dessen angeblich ausschließliche christliche Sinngebung. Doch auch das ist weitgehend eine Projektion. Alain de Libera spricht zutreffender von einem multikulturellen Mittelalter. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s erschienen zahlreiche Darstellung des Mittelalters, welche das Bild des Mittelalters deutlich aufhellen, die gesamte Breite der mittelalterlichen Kultur beschreiben und das Mittelalter als vielfältige und große Epoche der europäischen Kultur würdigen. Manchmal kippt die Einschätzung nun in das andere Extrem, etwa wenn man bereits bei Boëthius die Grundlage für die

147

Kontexte

Wiedergeburt der Antike in der Renaissance oder bereits dort die Grundlagen der kritischen Philosophie bei Kant verortet. Viele dieser Darstellungen erscheinen unübersehbar vom Interesse geleitet, das Mittelalter als eine möglichst aktuelle und für die Moderne wegweisende Periode zu bewerben. Das Mittelalter ist sozusagen in Mode gekommen. Immer noch beeindruckend liest sich demgegenüber das knapp einhundert Jahre alte ausgewogene Fazit – als solches muss man es wohl bezeichnen –, das Jan Huizinga 1919 unter dem Titel Herbst des Mittelalters publiziert hat. Der niederländische Historiker nimmt das Mittelalter als selbständige Periode, die ihren Wert nicht aus der Vorbereitung der Gegenwart erhält, und sieht im Spätmittelalter den Herbst eines reichen historischen Abschnitts und keinen Frühling für eine erst kommende Periode: »Auf einem solchen Spaziergang längs dem Damsterdiep oder in seiner Nähe, an einem Sonntag, dünkt mich, ging mir die Einsicht auf: das späte Mittelalter ist nicht Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht.« Die Berufung auf ein so altes Werk hat in unserem Kontext auch deshalb eine Berechtigung, weil Huizinga sich bei seiner Einschätzung vor allem auf die Kunst stützte, namentlich auf das Werk van Eycks und seiner Zeitgenossen. Huizingas bilderreicher Essay wird uns nochmals, nämlich in der schwierigen Abgrenzung der Renaissance vom Mittelalter, helfen.

Fried 2008a, 542, 556 2.1.

Huizinga 1919, VII

1.0. Kontexte Die Frage nach dem Beginn des Mittelalters entspricht – sozusagen von der anderen Seite her betrachtet – jener des Endes der Spätantike. Mehrere Jahreszahlen wurden dafür in Vorschlag gebracht. Besonders »stimmungsvoll« erschiene das Jahr 529, in welchem Kaiser Justinian unter anderem die platonische Akademie schließen ließ und Benedikt von Nursia sein Kloster in Montecassino gegründet haben soll. Dieses Jahr besäße insofern eine große Symbolkraft, weil das Ende der antiken Bildung gleich mit einem christlich-mittelalterlichen Neuanfang zusammenfiele. Allerdings haben Historikerinnen mit dieser Geschichte Probleme, weil sich die Benediktinerregel erst einige hundert Jahre später, in der karolingischen Renovatio, fassen lässt. Dort ging es um das Wiedererstehen der antiken Kultur, aber mit christlichem Gesicht, zum Beispiel im Kleid von Augustinus’ Civitas Dei. Über die Frage nach Kontinuität und Kontinuitätsbruch zwischen klassischer Antike und Mittelalter wurde über lange Zeit heftig gestritten. Alfons Dopsch hat sich seinerzeit engagiert für die Kontinuitätsthese stark gemacht. Ein Argument dabei war stets, dass die Geschichte von der Zerstörung der antiken Kultur durch die Barbaren als Narrativ von den italienischen Renaissance-Humanisten in die Welt gesetzt worden sei. Ins Treffen geführt wurde demgegenüber, dass germanische Völker in Rom integriert und schließlich selbst zu Trägern der römischen Kultur geworden waren, die sie schließlich an das Mittelalter weiter reichten. Immer wieder trifft man

Hübinger 1968

Dopsch 1926, 80

148

Das Mittelalter

3.0.

Aubin 1948, 222 Sundwall 1915, 19

McCormick 2003

Langobarden

IV.1.2.

Durliat 1987, 49

auch auf das dekadenztheoretische Narrativ vom angeblichen Verlust an Kraft und Originalität der spätrömische Kultur. Kaum je berücksichtigen diese Überlegungen die Tatsache, dass der Kulturbruch ausschließlich den Westen betraf, während die byzantinische Kultur ebenso blühte wie die im Osten anhebende islamische. Im Westen jedoch kam es im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter zu einem heftigen Einbruch des Kulturniveaus, was einen mühsamen Neustart notwendig machte und die Entstehung des Mittelalters zu einem quälend langwierigen Prozess werden ließ. Eine raschere Konsolidierung hemmte auch der zu Anfang des 7. Jh.s entstandene expansive Islam, der in der Geschichte Europas eine bedeutende und befruchtende Rolle spielte. Die durch diese Expansion unsicher gewordene Südgrenze und die Distanz zum sich mehr und mehr griechisch verstehenden Konstantinopel führte zu einer bewussten lateinischen Selbstvergewisserung der schmalen westlichen Elite – um den hohen Preis einer vordergründigen Abnabelung vom griechischen Osten und dem Orient. In dieser Trennung vom Osten wurde ebenfalls eine Ursache für das »lange Weitersterben« oder das allmähliche Einschlafen »ohne Erschütterung« der Antike gesehen. Das kulturelle Epizentrum verschob sich vom Süden in den Norden. Eine dramatische Visualisierung fand dieser Vorgang im buchstäblichen Versinken Ravennas, des glänzenden Vorpostens des neuplatonischen Konstantinopel, im Sand der Lagune. Lange Zeit hatte die These des belgischen Historikers Henri Pirenne Gültigkeit, die er in seinem Werk Geburt des Abendlandes. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters (1939) vertrat, dass weniger die germanische Völkerwanderung als vielmehr die Expansion des Islam die Einheit der mediterranen Welt beendete. Dem ist vielfach widersprochen worden. Michael McCormick hat in einer neueren Studie diese These weiter relativiert. Aufgrund archäologischer Untersuchungen an gesunkenen antiken Handelsschiffen, den damit beförderten Münzen, Stoffen, medizinischen Drogen, Reliquien, anhand des bei Messfeiern verbrauchten Weihrauchs, kann McCormick einen regen Handel mit dem Orient auch in den betroffenen Jahrhunderten belegen. Dieser Handel nahm bereits um 700 wieder deutlich zu, wodurch die Grundlagen für einen ersten Boom mit dem Höhepunkt im 11. Jh. gelegt wurden. Im 5. und 6. Jh. sorgten die Wanderbewegungen in mehreren Schüben für die schon erwähnte kriegerische Zeit, aus der das Mittelalter entstand. Zeitgenössische Quellen sprechen eindringlich von einem kulturellen Verwüstungssturm. 568 drangen die Langobarden, ursprünglich südlich der Elbe lokalisiert, mit unklarer Namensherleitung – nach dem wichtigsten langobardischen Chronisten Paulus Diaconus vielleicht: »Langbärte« – nach Italien vor. Dies ist der späteste Termin, für den Westen die Spätantike enden und das Mittelalter beginnen zu lassen. Die Hauptstadt der Langobarden wurde Pavia, die Siedlungen konzentrierten sich auf die Gebiete nördlich des Po. Pavia war, wie bereits berichtet, ein hochstehendes kulturelles Zentrum geworden. »Der Hof von Pavia gehörte zusammen mit den angelsächsischen Kunstzentren des 8. Jahrhunderts zu den wichtigsten Quellen, aus denen die karolingische Renaissance schöpfen sollte.« Dies war die Ursache für die über viele Jahr-

149

Kontexte

hunderte bestehende Bindung der oberitalienischen Gebiete an den Norden, was zur raschen Vermittlung der überlegenen Kultur Italiens an diesen Norden beitrug. Der Süden Italiens verharrte in einer mediterranen Orientierung. Die einzige noch einigermaßen funktionierende Institution in der allgemeinen Anarchie war die Kirche. Der aus altem römischen Geschlecht stammende Papst Gregor der Große versuchte als Gegenspieler des Langobardenkönigs Agilulf in Abstimmung mit dessen katholischer Frau, der bayrischen Herzogstochter Theudelinde, das Römische hochzuhalten. Die Kultur der Langobarden endete mit Karl dem Großen, der sich 774 nach der Eroberung des Langobardischen Königreichs die Langobardenkrone aufsetzte. Langobardisch wurde nie geschrieben, Reste der Sprache sind in Personenund Ortsnamen erhalten. Als künstlerisches Erbe kennen wir das langobardische Flechtbandornament. Daneben gab es eine reiche Kleinkunst, in der sich germanische, christliche und byzantinische Einflüsse vermischten. In der Architektur sind wichtige Bauwerke vor allem in Cividale, daneben in Brescia, Spoleto und Benevent erhalten. Das Ergebnis verschiedener Einflüsse, vor allem des byzantinischen, aber auch orientalischer Formen, auf die germanisch-langobardische Formensprache bezeichnet man als lombardischen Stil. Als einzige der zahlreichen Gründungen dieser Zeit überdauerte das Frankenreich die Wirren der Völkerwanderung. Im 4. Jh. bahnte sich eine Symbiose zwischen dem Römischen Reich und den Franken an. Es entstand der Begriff »Abendland«. Das älteste Königsgeschlecht im Frankenreich, die Merowinger (5.–8. Jh.), leitete sich vom historisch schwer fassbaren König Merowech ab. Greifbarer ist sein Sohn Childerich I., dessen Grab mit kostbaren Beigaben man nahe seiner Residenz Tournai 1653 unter erheblichem Aufsehen wiederentdeckte. Dessen Sohn Chlodwig I., der sich vermutlich 498 mit 3000 Angehörigen des Hofs taufen ließ, gilt als Begründer des (chalcedonensisch ausgerichteten) katholischen Frankenreichs. Erst jetzt begannen die Germanen, ihr Heidentum langsam abzustreifen. Das Jahr 498 ist als Beginn des Mittelalters beliebt. Mit heutigen Worten könnte man Chlodwigs Ehrgeiz dahingehend deuten, das Reich zu einem »globalen Spieler« zu machen. Dazu gehörte, dass er sich als König mit römischem Pomp inszenierte. Den Merowingern wird eine starke Verwurzelung in Bräuchen und Traditionen nachgesagt, darunter in einer mächtigen Königslegitimation. Die Würdezeichen der Könige nahmen Bezug auf römische Vorbilder. Aus der Zeit sind zahlreiche Stücke von Kleinkunst: Münzen, Textilien, Prunkwaffen und Schmuck erhalten. Auch Glasproduktion mit Hilfe der ansässigen romanischen Bevölkerung fand weiterhin statt. Die Rekonstruktion des genauen Übergangs der Macht von den Merowingern zu den Karolingern ist schwierig und stellt die Forscher vor nicht geringe Probleme. Im 6. Jh. begann der dunkelste Abschnitt des Mittelalters, den zeitgenössische Intellektuelle, unter ihnen Gregor von Tours in seinem monumentalen Geschichtswerk (Decem libri historiarium), beklagten. Es kam zu einem Verfall der Schulen, Gallien verstummte. Die gesellschaftliche Ordnung fiel auf die Naturalwirtschaft zurück, Städte wurden zu seelenlosen Festungen, Analphabetentum griff um sich,

IV.1.0.

Merowinger

Ewig 1993, 52

Ebd., 58

Angenendt 1990, 202

150

Das Mittelalter

Aubin 1948, 245

Le Goff 1984a

Bering 2002, 14 Flasch 1986, 86

4.2.2.

Stadtkultur

das Latein verwilderte und zerfiel in romanische Dialekte. Für Gregor von Tours war Latein zwar noch keine Fremdsprache, aber es unterschied sich als klassische Sprache bereits deutlich von der Umgangssprache. »Latein hat aufgehört eine angeborene Sprache zu sein. Auch darin ist die Antike zu Ende gegangen.« In der Folge wurde Latein die Sprache weniger Gelehrter und der Kirche. Der höhergestellte Kleriker (und nur dieser) wurde zum Intellektuellen und hielt das Bildungsmonopol in Händen. Wer in dieser Zeit der Dynamik und Unsicherheit zurückblickte, dem mussten die Hierarchisierung und Stabilität der spätantiken Gesellschaft durchaus reizvoll erscheinen. Es ist wert, die neuplatonischen Systeme, deren Stärke in der Beruhigung der Dynamik durch einen veränderungsresistenten Zyklus liegt, vor solcher Kulisse politisch zu denken. Sogen die frühmittelalterlichen christlichen Denker diesen hierarchisierenden Platonismus zuletzt auch deshalb auf, um die Verluste durch die enorme Mobilisierung über eine statische Ebene der Wirklichkeit zu relativieren? Neben einer einheitlichen unveränderlichen Wirklichkeit, die man im Neuplatonismus fand, ließ sich mit ihm auch die prinzipielle Gutheit und Schönheit des Kosmos gegen die Verrohung der konkreten Umgebung bewahren. Kunibert Bering hält die Ordnung, die Dionysios Pseudo-Areopagites als gottgewollte vorgegeben hatte, geradezu für ein mittelalterliches Muster ähnlich wie das Cardo-Decumanus-System das antik-römische Muster war. Das areopagitische Muster sei in der Anordnung von heiligem Zentrum und profaner Peripherie mannigfach zum Ausdruck gebracht worden: »In der Beherrschung des Raumes lässt sich Macht visualisieren und damit über Bewusstsein verfügen.« Wenn sich »das Denken dem Zeitlichen und Geschichtlichen« zuwandte, dann »immer noch, indem es das Vergängliche auf den Goldgrund der Ewigkeit malte.« Und – so könnte man ergänzen – von dort her Kraft und Legitimität erhielt. In erster Linie wurden die Klöster zu solchen Orten der Stabilität – der Hl. Benedikt steht als konkrete Figur dafür, die stabilitas loci zum Grundpfeiler einer monastischen Spiritualität gemacht zu haben. Diese Klöster samt der im Mittelalter nachhaltig wirkenden Klosterregel waren Instrumente für den mit den Reformen Karls des Großen einsetzenden Aufschwung. Diese Renovatio geschah in einer völlig veränderten Welt. Ab dem 8. Jh. beruhigte sich Europa wieder trotz des 843 einsetzenden Zerfalls von Karls Reich. Der östliche Teil konsolidierte sich durch den Aufstieg der Ottonen, im Westen setzte eine Aufsplitterung in kleine Landschaften ein. Für diesen Aufschwung, der sich im 11. Jh. beschleunigte, bildete eine prosperierende Landwirtschaft die Grundlage. Allerdings war diese durch neue soziale Verhältnisse organisiert. Die alten und letzten Identifikationen, Besitz und Eigentum, waren aufgelöst. In der neuen Feudalordnung bedeutete Grund und Boden in erster Linie die Pflicht zu Abgaben und Steuern. In einem komplizierten Abhängigkeitsverhältnis hatte der jeweilige Herr die Möglichkeit, Besitz zu konfiszieren. Genau daraus ergab sich der Reiz der Stadtkultur, deren zarte Blüten nun heranreiften. Die Stadt bot Freiheiten und neue Identitäten. Jacques Le Goff setzt das Aufblühen der freien Künste, die ihren Namen verdienen, mit der Entstehung der

151

Zwischen Konstantin und Karl dem Großen

Städte im 12. und 13. Jh. in einen Zusammenhang. Immer wieder lassen sich über den Körper der Stadt jene drei Lebensachsen legen, die Roland Barthes in La Tour Eiffel definiert hat: plaisir (Lust), commerce (Handel), savoir (Wissen). Eine vierte sollte hinzugefügt werden: art oder culture! Die eine war den eifernden Aufklärungs- und Städtekritikern ebenso verhasst wie die andere. Und dennoch war stets die Entwicklung der Städte die Grundlage für die Entwicklung der Kunst und Kultur einschließlich der religiösen Erzählungen. Die Kunst dieser Zeit war auf verschiedene Zentren verteilt. Das Tafelbild fehlte völlig, ebenso die immer noch verdächtige freistehende Skulptur. Dafür erlebte im beginnenden Mittelalter (bis zu den gregorianischen Reformen) die Buchmalerei einen Aufschwung. Sie war – ähnlich wie im Islam – ein Refugium der darstellenden Kunst. Zudem entsprach die Kunst des Buches der abgehobenen Rolle der intellektuellen Mönche, Kleriker und Adeligen. Das Buch war nicht primär Arbeitsgegenstand, sondern ein Pracht- und Schmuckgegenstand zur höheren Ehre Gottes, entsprechend aufwendig gestaltet. Er diente zur meditativen Erbauung oder, wie kostbares Porzellan, dem Verkauf. Die Schreiber, die in den Skriptorien schwere Arbeit leisteten, konnten sich Zeilen gegen Jahre im Fegfeuer verrechnen lassen. Miniaturen (der Name leitet sich von minium, dem roten Farbstoff Mennige ab) sind in überragender Köstlichkeit überliefert. In ihnen verbinden sich kalligraphische Virtuosität und harmonische Farbabstimmung. Nicht zu Unrecht wird die Illuminationskunst bisweilen mit der Kunst von Juwelieren verglichen. Ästhetische Gedanken wurden nur sporadisch entwickelt und bewegten sich vor allem in den Bahnen platonischer und augustinischer Harmoniekonzepte. Dennoch gehen Fachleute davon aus, dass es nicht nur um Illustration ging, sondern auch um das Auslösen von Stimmungen im Betrachter, also um Kunst als Expression, gemeint hier in erster Linie: anagogische Gestimmtheit. Es galt die ontologische Bedeutung der Schönheit. Sie war als objektive Eigenschaft des Seienden zwar in die Endlichkeit der Welt übersetzbar, aber niemals durch subjektives Tun zu erzeugen. Der Bezug zwischen Schönheit und Kunst war in weiten Teilen des Mittelalters noch nicht gegeben. Kunst hatte eher mit Magie und mit dem Königsmythos zu tun als mit Ästhetik. Gegenstände dienten der Herrschaftslegitimation, wenn sie mit Signaturen des römischen Imperiums versehen wurden.

Le Goff 1993, 16ff, 93

Assunto 1963, 49 Jantzen 1959, 100

Sterligow Andrei in Woronowa/Sterligow 1996, 12f

Duby 1976, 27

2.0. Zwischen Konstantin und Karl dem Großen Grundsätzlich standen in dieser unruhigen Zeit andere Bedürfnisse im Vordergrund als jenes, über Philosophie und Ästhetik nachzudenken: »Zwischen Konstantin dem Großen und Karl dem Großen dachten nur wenige Menschen über Schönheit und Kunst nach, und diejenigen, die es taten, dachten darüber eher einfach und hausbacken.« Trotzdem ragen einige Gestalten heraus und verdienen eine besondere Würdigung.

Tatarkiewicz 1980, 95

152

Das Mittelalter

2.1. Boëthius 287 Boethius vor Studenten; Handschrift der Consolatio (1385)

Grabmann 1909, 148 Fried 2008a, 11

IV.1.2. Kunzmann 1999, 39

Boethius, zit. nach Enders 1999, 14; Magee John in Gerson 2010, 788–812

Stolz 2004 Fried 2008a, 68

Cicero, De invent. I, 25,35

Ein solcher herausragender Intellektueller war Anicius Manlius Severinus Boëthius. Zeitlich könnte man ihn noch in der Spätantike verorten, aber der Sache nach ist der Römer eine ideale Figur, um das frühe Mittelalter einzuleiten. Martin Grabmann schmückte ihn mit dem Epitheton »letzter Römer, erster Scholastiker«. Johannes Fried sieht in ihm mit großer Geste gar den Aufbruch des Abendlandes »in seine Vernunftkultur«. Boëthius kam um 480 in Rom als Sohn einer Familie des römischen Hochadels zur Welt. Das Geschlecht der Anicier konvertierte im 4. Jh. zum Christentum. Seine hervorragende klassische Bildung, zu der auch Griechischkenntnisse gehörten, dürfte er in Athen und/oder Alexandrien erhalten haben. Er diente dem Ostgotenkönig Theoderich in Ravenna als wissenschaftlicher Berater. 510 wurde er Konsul und 522 ranghöchster Minister (Kanzler) des Westens (magister officiorum). Zerrissen zwischen dem Hof in Ravenna mit der Fiktion des ungebrochenen Römertums und dem byzanzorientierten Teil des römischen Senats, stellte er sich auf diese Seite und damit gegen Theoderich, der zwar von Byzanz abhängig war, es aber auch fürchtete. Philosophisch spiegelte sich in diesem Loyalitätskonflikt die Zerrissenheit zwischen den katholischen Römern, arianischen Goten und monophysitischen Byzantinern. Nach Kerkerhaft, in der die Consolatio Philosophiae entstand, ein Bestseller für viele Jahrhunderte, wurde er 524 in Pavia hingerichtet. Boëthius bemühte sich um Vermittlung des klassischen Bildungsgutes, vor allem von Platon und Aristoteles, durch Übersetzung und Kommentierung, an die neuen Völker im Westen, wobei er das Gemeinsame der beiden Geistesgiganten vor das Trennende stellte (in unam revocare concordiam). Sein Hauptinteresse galt, ganz im Geist der römischen Enzyklopädisten-Tradition, dem didaktischen Aspekt und so hielt er vor dem Studium der philosophischen Werke ein Propädeutikum der freien Künste für sinnvoll. In dieser vorsichtigen Inauguration eines methodischen Rahmens für das Philosophieren sehen viele – etwas vorschnell – ein Anheben der Scholastik im Sinne der zitierten Charakterisierung von Grabmann. Die artes liberales bildeten einen das Mittelalter bis ins 13. Jh. bestimmenden formalen Rahmen für die Tradierung des Wissens, seine methodische Strukturierung und den Umgang damit. In der Antike bedeutete Freiheit (für die aristokratische Elite) Unabhängigkeit von Handarbeit und einem notwendigen Brotberuf. An die Stelle des wohlhabenden Aristokraten traten im Mittelalter der Mönch und der Kleriker. Boëthius bezog sich in De institutione arithmetica ausdrücklich auf die Einteilung der Künste durch den vermutlich im 5. Jh. in Karthago geborenen Martianus Capella. Allein die Nennung der sieben freien Künste – der Begriff selbst ist schon bei Cicero belegt – ist aus seinem seltsamen allegorischen Werk De nuptiis Mercurii et Philologiae (Über die Hochzeit des Merkur mit der Philologie) bis heute in Erinnerung geblieben. Darin wird geschildert, wie Merkur die Philologie heiratet und ihr sieben Dienerinnen, die Artes, schenkt. Später teilte man sie in das vom Platonismus geprägte Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) und das

153

Zwischen Konstantin und Karl dem Großen

eher aristotelisch inspirierte Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik). Die zunehmende Bemühung um Systematisierung und das Aufkommen aristotelischer Ideen führte im Hochmittelalter zu einer Bevorzugung des Triviums, insbesondere der logischen Disziplinen Grammatik und Dialektik. Allerdings wurde immer wieder Verschiedenes unter diesem Kanon subsumiert, sodass es auch im Mittelalter kein allgemein gültiges Studienprogramm gab. Man kann in diesem mittelalterlichen Bildungskanon, der häufig positiv als Inauguration von methodisch-wissenschaftlichem Denken bewertet wird, auch eine Verengung des spätantiken Bildungsschatzes mit seinen medizinischen, historischen, geographischen Beiträgen sehen. Am Ende stand eine »vulgäre Apologetik«, befand Jacques Le Goff. Anders als Augustinus ging es Boëthius um methodische und rationale Argumentation ohne religiöse Rücksichtnahme. Dennoch lässt sich Boëthius nicht so einfach zu einem Scholastiker machen. Seine in die damals verbreitete Trostliteratur gehörende Consolatio ist ein neuplatonisch inspirierter Initiationsgang der Seele, die dabei zur Selbsterlösung im Göttlichen aufsteigt, wofür die (weibliche Figur) Philosophie Trostspenderin, Weg und Strebevermögen zugleich ist. Der Boëthius-Forscher Pierre Courcelle sah in diesem Werk eher einen Protreptikos, eine Werbeschrift für die Philosophie – ähnlich wie Ciceros Hortensius. Die fünf Bücher im Wechsel von 39 Prosa-Dialogszenen und 39 metrischen Teilen entstanden – wie schon gesagt – spätestens 524 im Gefängnis von Pavia. Sie sind neben ihrem philosophischen Anspruch auch »schöne Literatur«, in antikem Versmaß verfasst. Die Fesselung der Seele in dem als Krankheit abgewerteten Körper hat ihre Ursache – ganz in platonischem Geist gedacht – in der Bindung der Seele an die Affekte. Diese seien daher zuerst abzustreifen. Dem Einen/Guten und Göttlichen steht das Viele gegenüber. Der Aufstieg zum Einen (Boëthius spricht von Eros) erfolgt als Aufstieg vom Dunkel zum Licht und von der praktischen zur theoretischen Philosophie – im Werk symbolisiert durch eine Leiter. Die Philosophie wischt dem im Kerker leidenden Boëthius die Augen ab, die »von einer Wolke sterblicher Dinge beschattet sind.« Das Ziel der Aufstiegsbewegung, die Trennung der Seele vom Körper und die Einswerdung mit Gott, gelingt erst im Tod. Der Erlösungsgang des Einzelnen fügt sich in eine kosmische Bewegung, die das erdgebundene Chaos im Prozess bannen soll. Boëthius schreibt ein weiteres Kapitel einer Kosmodynamik, wie sie beim späten Platon so dominant formuliert worden war. Eine christliche Deutung des Boëthius, wie sie Richard Heinzmann versuchte, ist vor solchem Hintergrund wenig überzeugend. Ich halte es hier mit John Marenbon: »Nothing in the De consolatione is explicitly Christian […].« Schon die Unternehmung, Erlösung in der Philosophie und nicht in Kirche, Sakramenten, Gnade und in Christus zu suchen, macht das deutlich. Das wurde schon sehr früh erkannt. In einer volkssprachlichen Übersetzung des Buches ließ der König der Angelsachsen, Alfred der Große, die personifizierte Philosophie durch Gott ersetzen. Boëthius’ Platonismus lieferte eine gute Basis für kunstphilosophische Konzepte. Neben Augustinus gehörte er zu jenen zeitgenössisch stark beachteten Philosophen, die eine platonisierende Ontologie-Ästhetik in das Mittelalter weiterreichten.

Köhn 2000, 186

Le Goff 1993, 150

Courcelle 1948, 74

Boëthius, Cons. I, 2,14 Ebd., 4,39

III.2.4.3.2.5. Heinzmann 1992, 114 Marenbon 1994, 178

Dinzelbacher 1996a, 13

154

Das Mittelalter

Panti 1998, 71f

Boëthius, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 105

Boëthius, zit. nach Ebd., 105

Panti 1998, 93f

Boëthius, Cons. III, 8

In der Wiederherstellung von Harmonie und Symmetrie lag die Heilung der Welt. Boëthius artikulierte diesen Gedanken in seinem Traktat De institutione musica (um 505) auf dem Feld der Musik. Die Harmonie der irdischen Musik (Menschenmusik), die die Ordnung von Körper und Seele meint, ist eine Widerspiegelung des vorbildlichen Ordnungsmusters der kosmischen Sphärenmusik (Weltmusik). Konsonanz und Proportion sind metaphysische Prinzipien und keine einer sinnlichen Ästhetik. Daher ist die Rezeption der Musik eine verstandesmäßige Erkenntnis und keine sinnliche Wahrnehmung, bezieht sie sich doch auf die Theorie der Zahlen und Klangproportionen. »Wieviel glänzender ist es, die Musik in der verstandesmäßigen Erkenntnis als in der mühevollen Übung, also in einem Tun, zu beherrschen! Soviel glänzender ist das nämlich, als der Geist über dem Körper steht. […].« Sie ist ein Zweig der Mathematik und Astronomie. Daher hat ein Musiker die Fähigkeit, auf theoretischer Grundlage über Melodien und Rhythmen, über Musikgattungen und über Liedertexte zu urteilen. »Daher ist der ein Musiker, der die Fähigkeit hat, aufgrund der Theorie oder einer Beweisführung allgemeiner Art, die jedoch das Musikalische berücksichtigt, über Melodien und Rhythmen und die Gattungen der Musikstücke sowie über die Liedertexte zu urteilen.« Musik kann – wie schon Pythagoras berichtete – das Verhalten von Menschen ändern, bezieht also aus ihrem theoretischen Gehalt eine affektive Wirkung. Boëthius artikulierte einen Gedanken, der für die mittelalterliche Ästhetik bezeichnend war: Schönheit ist eine objektive Eigenschaft und die Kunst hilft, diese (mathematische) Schönheit ans Licht zu bringen. Kunst vergegenwärtigt sie metaphorisch und sinnbildlich in der materiellen Welt. Pseudo-Areopagites hatte von unähnlichen Abbildern gesprochen. Solch ein Verhältnis verschärfte sich im späteren Mittelalter durchaus zu einem Widerspruch zwischen dem der scientia musica zugrunde liegenden universalen Proportionsbegriff und der praktizierten Musik mit ihren ganz realen Aufgaben. Kunst im Verständnis des Boëthius hatte einen anagogischen Sinn, sie wurde selbst zum Instrument eines heilenden Aufstiegs zur Wahrheit, ein Aufsteigen des Geistes vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, wie später Hugo von St. Viktor oder auch Abt Suger von St. Denis sagten. Jeder Beschauer kann am Kunstwerk prinzipiell eine Änderung seiner moralischen und – was gleichbedeutend ist – ontologischen Verfassung erfahren. Grundlage dieser Geistorientiertheit war – diesmal teilweise mit Legitimation aus dem christlichen Weltverständnis – die (platonische) Abneigung gegenüber der materiellen Kunst. Denn die Freude am materiellen Schönen entspricht nichts anderem als einer Schwäche des Schauvermögens: »Also macht, daß du schön erscheinst, nicht deine Natur, sondern es bewirkt die Schwäche der Augen derer, die dich sehen.« Die wahre Schau orientiert sich am Geistigen! Dementsprechend blieben die artes liberales für Boëthius geistig orientiert und standen über dem artificium, dem handwerklich Hergestellten. Sie beinhalteten deshalb weder die Architektur noch die bildenden Künste.

155

Zwischen Konstantin und Karl dem Großen

2.2. Andere Autoren neben Boëthius Boëthius übte einen großen Einfluss auf das Mittelalter aus und er ragte mit seiner klassischen Bildung – in dieser Zeit eine Seltenheit – weit heraus. Trotzdem spielten auch andere Autoren eine Rolle in der Weitergabe antiker Traditionen an das Mittelalter. Nachfolger des Boëthius am Hof in Ravenna war Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus, ein loyaler Parteigänger Theoderichs. Peter Heather nennt ihn seinen »Spin Doctor«, weil er in seinen Berichten Theoderich als friedvollen und klugen Philosophen darstellte. Als Kenner der Klassik übernahm er das mathematische Schönheitsideal und sah die körperliche Schönheit in jener der Seele begründet. Schönheit hat neben einer Lust erzeugenden vor allem eine heilende und allegorische Funktion. Kunstphilosophisch hatte auch Cassiodor eine Präferenz für die Musik als Wissenschaft (De artibus ac disciplinis und Expositio in Psalterium XCVII). Er gilt als Gründer der Klostergemeinschaft Vivarium in Kalabrien um 555. Dafür legte er – durchaus unüblich bei den Klostergründungen in dieser Zeit – einen ehrgeizigen kulturellen Auftrag fest. Isidor von Sevilla fasste in seiner von seinem Schüler und Adressaten, Braulio von Saragossa, herausgegebenen enzyklopädischen Werk Etymologia das Wissen der Zeit zusammen. Der Bischof von Sevilla wollte damit die verbreiteten heidnischen Nachschlagwerke ablösen und eine Basis für die dringende Klerikerausbildung schaffen. Im Mittelalter wurde seine Enzyklopädie immer wieder herangezogen. Da ihm die Begriffsbildung wichtig war, fand das Mittelalter bei ihm reiches Material. Seine Etymologien waren freilich eigenwillig. Hermann Aubin nannte sie »töricht« und »abgeschmackten Unsinn«. Eine seiner Ableitungen betraf die artes liberales. Isidor führte sie nicht auf liberalis (frei) zurück, sondern auf liber (Buch). Demnach seien die artes liberales Buchwissenschaften. Die Ästhetik war ihm weniger ein Anliegen, dennoch gibt es Äußerungen dazu. Die Schönheit der Welt bezeuge ihren göttlichen Grund. Diese platonische Grundthese wird durch zahlreiche Bezüge aus nahezu allen Strömungen der antiken Tradition ergänzt. Von Plotin übernahm er die Lichtmetapher für die Schönheit. Zur Schönheit und Perfektion eines Dinges, die mit Maß und Proportion (formosus, pulchrum) zu tun haben, kommen Anmut und Schmuck (venustas, ornatus, decorum), Licht, Glanz und Farbe (lux, splendor, color), aber auch die Aspekte des Nützlichen und Zweckmäßigen (aptus). Den Begriff ornatus übernahm er als Eigenschaft schöner Gegenstände aus der Rhetorik. Dort bezeichnete der Terminus die Verzierung von Wort- und Satzfiguren. Decorum stand bereits bei Vitruv, auf den sich Isidor in Angelegenheiten der Architektur bezog, für die Angemessenheit eines Gebäudes. Isidor setzte die Planung (dispositio) von der Errichtung (constructio) ab und diese trennt er wieder von der Malerei und von der Bildhauerei. Die Plastik dient der Schönheit des Bauwerks selbst (venustas, ornamenti et decoris causa). Diese Schönheit hat keinen Selbstzweck, sondern sie muss mit dem (theologischen oder profan-praktischen) Gebäudezweck übereinstimmen.

Cassiodor

Heather 2014, 76

Isidor von Sevilla

Aubin 1948, 237 Köhn 2000, 185

III.3.4.3.

156

Das Mittelalter

Isidor, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 109

Die späteren Renaissance-Baumeister duldeten den äußeren Schmuck eines Gebäudes nur in Übereinstimmung mit der inneren Topographie. Isidor rechnete nur die Stuckverzierung zum Schmuck, nicht die plastischen Arbeiten. Diese bevorzugte Isidor gegenüber der Malerei. Die Malerei erzeuge durch ihren Illusionismus nämlich ein Scheinbild und sei weniger wahr als die Skulptur. Die Musik verstand er, wie Augustin, Boëthius und Cassiodor, als Wissenschaft und Teil der artes liberales. Dank Harmonie und Rhythmus wird sie zum Sinnbild des (christlichen) Lebens. Neben die freien Künste setzte Isidor die artes mechanicae, welche die technischen Fertigkeiten umfassten. Zu ihnen gehörten die klassischen Fachrichtungen der bildenden Kunst, die Malerei, Bildhauerei, Weberei, aber auch das Tischler- und Maurerhandwerk und die Landwirtschaft.

3.0. Die Kultur des Islam

288 Sultan Ahmed-­ Moschee (1616); Istanbul

289 Nabatäisches Idol aus Petra; JAM

Vor der Beschreibung des Mittelalters mit der Umbruchzeit der karolingischen Renovatio soll ein ausführlicher kultureller Überblick über den Islam erfolgen. Der Islam ist Teil des Mittelalters. Er wuchs mit seiner ungemein faszinierenden Kunst und Architektur aus dem kulturellen Koordinatensystem von Judentum, Christentum, griechischer und römischer Antike, Byzanz, Persien und der eigenständigen arabischen Tradition hervor. Der Islam hat neben Byzanz das Erbe der Antike angetreten und dieses auch an das lateinische Mittelalter weiter gereicht. Er gehört daher als einer ihrer Teile und als nachhaltige Inspirationsquelle zur europäischen Kultur und damit in den in diesem Buch thematisierten Kontext. Die Gegenüberstellung zum lateinischen Westen zeigt, wie ungebrochen in den islamischen Ländern Architektur, Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft auf höchstem Niveau gehalten werden konnten, während das westliche Mittelalter eine schmerzliche Talsohle durchschreiten musste und erst im Hochmittelalter kulturell wieder auf Augenhöhe gelangte.

3.1. Der arabische Hintergrund Die Arabische Halbinsel ist in der allgemeinen Wahrnehmung mit dem Islam verbunden. Aber die Geschichte dieses wegen der großen Wüstengebiete nur spärlich besiedelten Raumes beginnt weit vor der Entstehung des Islam. Bedauerlicherweise existieren dafür bislang aufgrund der spärlichen Quellen nur sehr wenige Untersuchungen und die meisten der altarabischen Reiche (das Reich von Mina, das Qatabanische und Sabäische Reich) sind noch schlecht erschlossen. Besser bestellt ist es um die Nabatäer, die um die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. von Arabien her in das Gebiet zwischen Rotem und Totem Meer eingewandert sein könnten.

157

Die Kultur des Islam

Erstmals scheint der Terminus Araber in einer Siegerinschrift des Assyrerkönigs Salmanassar III. 853a aufgetaucht zu sein. Damit wurde in dieser und anderen assyrischen Dokumenten ein nomadisches Beduinenvolk (al-badawi, von badiya/ Wüstensteppe) bezeichnet, das am Rand des Fruchtbaren Halbmonds lebte. Die ältere Literatur dokumentiert auch die Theorie einer Herkunft aus dem Gebiet Äthiopiens. Die Lebensgrundlage bildete die Kamelzucht. Waren die arabischen Beduinen zuerst in Abhängigkeit der Assyrer und Babylonier, dürften sie ab 549a mit den Persern in einem Bündnisverhältnis gestanden haben und dienten ihnen bei ihren Feldzügen, auch bei jenen nach Griechenland. Am meisten Kenntnisse hat man über Südarabien, den heutigen Jemen, der immer eine Welt für sich war. Abgeschottet durch hohe Gebirge, gesegnet mit reichlich Monsunregen, diente das Land als Scharnier zwischen dem indischen Subkontinent und dem Mittelmeerraum. Vor allem Weihrauch aus dem heutigen Oman war neben Gewürzen eine begehrte Handelsware für die griechischen Tempel und christlichen Kirchen und dieser Handel brachte in den Herrschaftsgebieten von Saba und Hadramaut eine wohlhabende Schicht hervor, die sich von den Halbnomaden in der Wüste abhob. Die nicht nach Norden abgewanderten Semiten sprachen ein Alt-Südarabisch mit zahlreichen Dialekten (Sabäisch, Minäisch, Katabanisch, Hadramautisch), während die abgewanderten Semiten die semitische Sprache nach Vorderasien brachten. Im 6. Jh.a gründeten die Achämeniden die Provinz Arabiya als Teil des Persischen Reichs. In hellenistischer Zeit blieb Arabien an der Peripherie der griechischen Brennpunkte, es gab jedoch enge Kontakte. Aus der Zeit Alexanders sind von vielen kleineren Reichen die bereits erwähnten Nabatäer mit ihrer heute noch in beeindruckenden Resten erhaltenen Hauptstadt Petra südöstlich des Toten Meeres greifbar. Ihre Herkunft ist unklar, ein erstes gesichertes Datum ist 312a, das letzte ist 328p. Bei römischen Historikern tauchen sie als Weihrauchhändler und Seeräuber auf. Ihre Architektur ist hellenistisch geprägt. Die unterworfene Umgebung (Teile Palästinas und Syriens samt Damaskus) wurde ihnen von den Römern wieder weggenommen. Sie blieben aber als Kleinstaat in römischer Abhängigkeit, bis Kaiser Trajan 106p das Nabatäerreich zur (wohlhabenden) römischen Provinz Arabia machte. In ihrem Schatten konnten sich einige kleinere Reiche bilden, die bis zur Schmerzgrenze (273p zerstörte Kaiser Aurelian deswegen das reiche Palmyra) auf ihrer Selbständigkeit beharrten. Aus dem südlichen oder – wie es bei den nach Osten orientierten Arabern hieß – dem rechten Arabien (al-Yaman,

Mann 1914, 2 290 Die »Theaternekropole« in Petra; Jordanien

Stierlin 2009, 11 Hattstein in Hattstein/ Delius 2005, 9 291 / 292 Das Khazne Firaun in Petra und Detail; Jordanien Halm 2004, 10

158

Das Mittelalter

Bobzin 2000, 59

III.2.2.1.

GE I, 341

Bobzin 2015, 113

eben Jemen, z.U. vom linken, al-Scham/Syrien) importierten die Römer zahlreiche Luxusgüter, darunter Weihrauch, Seide, Edelsteine und Perlen. 226p wurde das persische Reich der Sasaniden durch Ardaschir I. nach dem Sieg über die Parther neu gegründet. Die alte parthische Residenz Seleukia-Ktesiphon wurde die neue Hauptstadt. Die Arabische Halbinsel fand sich danach eingeklemmt zwischen den Interessenssphären der Sasaniden und des Oströmischen Reichs von Konstantinopel wieder. Die Beduinen waren mit beiden Hochkulturen vertraut. Darüber hinaus hatten entlang der Weihrauchstraße die Juden erhebliche Missionserfolge. Als Mohammed 620 nach Medina kam, bekannten sich dort drei der fünf ansässigen arabischen Stämme zum Judentum. Daneben gab es auch zahlreiche christliche Gemeinden. Einen eindeutigen Nachweis von jüdischen oder christlichen Gemeinden in Mekka gibt es bisher nicht, zumindest jüdische Gemeinden sind aber wahrscheinlich. Der Ursprung der arabischen Sprache ist nicht geklärt. Das Arabische ist eine semitische Sprache, ihr Alphabet leitet sich ebenso wie das griechische und lateinische vom phönizischen ab. Die Sprache auf der arabischen Halbinsel ist uns durch die oral poetry früharabischer Dichter bekannt. Diese Dichter hatten ein hohes Ansehen als magisch-religiöse Führer, sie führten ihre Inspiration auf höhere Mächte und Geister zurück und sie traten ab dem 6. Jh. selbstbewusst auf Marktplätzen zum Wettstreit gegeneinander an. Diese Poesie wurde ab dem 8. Jh. in Sammlungen zusammengefasst. Die Mu’allaqat und Hamasa sind die bedeutendsten. Neben religiöser gab es auch eine weltliche Literatur, die lebensfrohen Gedichte des Abu Nuwas oder die Satiren und Enzyklopädien des al-Djahiz sind die vielleicht originellsten erhaltenen Beispiele. Das Hocharabisch aus dem Zentrum der Halbinsel im Umkreis von Mekka wurde die Sprache des Koran, der zugleich als erste Verschriftlichung des Arabischen gilt, das sich freilich von den vielen gesprochenen Dialekten sehr unterschied. Heute ist die Sprache des Koran altertümlich und für den arabisch sprechenden Leser eher durch die Gewöhnung an die vielfach rezitierten Verse verständlich. Einige Hinweise im Koran auf Schrift und Bücher zeigen, dass es zumindest vereinzelt die Schrift im arabischen Raum auch schon vorher gab. Dies bestätigen einige in Syrien gefundene Inschriften aus früherer Zeit. Dieses im Koran kodifizierte Arabisch wurde im 7. Jh. die offizielle Sprache des Arabischen Reichs. Die arabische Schrift hatte damals noch nicht die 28 Lautzeichen für Konsonanten, aus denen sie heute besteht. Alte Koranausgaben sind deshalb schwierig zu lesen. Viele der 28 Buchstaben haben eine verschiedene Form je nach ihrer Stellung im Wort. Diese Vielfalt der Formen hat im Zusammenhang mit der Bilderskepsis im Islam die Ausbildung der Kalligraphie angeregt, die schließlich zur wichtigsten Kunstform in der islamischen Welt wurde. Auch die Schreibung der Kursive selbst kennt verschiedene Charakteristiken, von der eckigen »kufischen« über die bis heute verwendeten gerundeten Kursive (nashi) bis zur iranisch schrägen (nastaliq) Form, einschließlich zahlreicher Ziervarianten. Gedruckt wurde der Koran zuerst in Europa, die älteste (sehr fehlerhafte) Ausgabe datiert aus den Jahren 1537/38, hergestellt in Venedig, eine weitere erschien 1694 in Hamburg.

159

Die Kultur des Islam

Bis heute gibt es angesichts verschiedener Lesetraditionen keinen verbindlichen einheitlichen Koran, die Tendenz geht aber zu einer solchen Vereinheitlichung.

3.2. Kontexte Unmittelbar vor dem Auftreten von Mohammed war der arabische Raum in Stammesverbände und Sippen zersplittert mit jeweils eigenen Dialekten. Zwischen Nordund Südarabien gab es zudem einen Bruch, weil sich beide auf verschiedene Stammväter zurückführten. Die Religion war polytheistisch, es wurden Steinidole, Bäume, primitive Statuetten und astrale Gottheiten verehrt. Wie Klippen in der polytheistischen Brandung gab es verbreitet die schon erwähnten christlichen (vor allem in der vorchalcedonensischen Form) und jüdischen Verbände, die einen Monotheismus vertraten. Als Gründer des Islam gilt der Prophet Mohammed. Er ist im Umfeld des altarabischen Polytheismus mit Göttern und Göttinnen aufgewachsen. Einige dieser Götternamen sind uns noch im Koran überliefert. Die Kaaba in Mekka gehörte ursprünglich zum Kult des Stadtgottes (der zugleich der Stammesgott der Quraisch war, jenes Stammes, zu dem Mohammed gehörte) Hubal, den man Allah nannte, was soviel bedeutete wie »der Gott« (al-ilah). Er war in Begleitung einer Göttin, Allat, möglicherweise mit einer Getreidekonnotation. Zudem werden weitere weibliche Gottheiten, Uzza, Lat, Manat »Töchter Allahs« genannt. Es soll in Mekka eine Gruppe von monotheistischen Gottsuchern gegeben haben, die an den alten Göttergestalten Anstoß nahmen. Tilman Nagel sieht in seiner profunden Mohammed-Biographie den Hintergrund dafür im erwähnten jüdischen und christlichen Monotheismus. »Da der altarabische polytheistische Götterglaube seine Kraft bereits eingebüßt hatte, stand Arabien in den Jugendjahren Muhammads im Begriff, weitgehend christlich zu werden.« Gemeint war dabei vor allem ein nestorianisches (Iran) und monophysitisches Christentum, das von Syrien bis Äthiopien und Jemen Anhänger hatte. Der Islam war von Anfang an eine Gegenreligion gegen den arabischen Polytheismus, der als schlimmer Unglaube dem wahren Glauben an einen einzigen Gott gegenübergestellt wurde, und er forderte Umkehr angesichts des bevorstehenden Weltgerichts. Auch der Islam kennt daher eine Zeit des Heidentums und er richtete seinen religiösen Eifer vor allem gegen die eigenen »Ungläubigen«. Die prophetischen Gottsucher (hanif) auf der arabischen Halbinsel wollten die dem Götzendienst Verfallenen von ihrem Tun abbringen. Dies richtete sich auch gegen die Christen, die einen ihrer Propheten, Jesus, zu einem Gott gemacht hatten, wie es in Sure 9 (30) heißt. Wie Sure 112 (2–5) einschärft, hat Gott (Allah) keinen Sohn gezeugt. Der klare Monotheismus, der eine Position im christologischen Streit der damaligen Zeit fortführte, war eine zentrale Aussage des Islam. Angesichts der komplexen Christologie und der Tatsache, dass die Ansicht eines strengen Monotheismus des Judentums mehr Idealisierung oder gar beliebtes Klischee ist, kann man den Islam als strengsten Monotheismus der drei abrahamitischen Religionen bezeichnen. Der Koran erwähnt den christologischen Streit sogar ausdrücklich, wenn es heißt: »So ist Jesus Sohn der Maria – eine Aussage, über die sie uneins sind.« Eine

Mohammed

Halm 2004, 22

Nagel 2008a; Nagel 2008b Hattstein Markus in Hattstein/Delius 2005, 12; ähnlich: Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 17

Schäfer 2017, 7

Koran 19, 35

160

Das Mittelalter

Koran 4, 157f

Koran 22, 35 De Planhol 1975

Fried 2008a, 45; Bobzin 2000, 67ff; Crone/­ Cook 1977

Nagel 2008a

Koran

Paret 1986

Neuwirth 2010

weitere wichtige Weichenstellung liegt in der Ablehnung der Kreuzigung. Nach dem Empfinden des Islam kann Gott nicht eine grausame Hinrichtung seines Propheten zulassen. Im Sinn eines strengen Monotheismus gibt es im Koran mehr jüdische als christliche Gehalte. Neben Mohammed werden unter anderem Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Josef, Moses (der mit 136 Nennungen häufigste biblische Name) und mit besonderer Verehrung Maria erwähnt. Jesus erscheint statt als Sohn Gottes als Sohn Marias. Als Muslim galt fortan, wer sich zum Glauben an den einzigen Gott und dessen im Koran durch den Propheten Mohammed niedergeschriebene Offenbarung bekannte. Islam und Muslim leiten sich vom arabischen aslama (arab. sich hingeben) ab. Allah ist im Sinne des strengen Monotheismus kein Eigenname, der ihn von anderen Göttern unterscheiden würde. »Euer Gott ist der einzige Gott. Ihm müsst ihr euch ergeben.« Wie Judentum und Christentum ist auch der Islam eine Religion der Stadt. Er ist an den wichtigsten Handelsrouten des frühen Mittelalters entstanden. Der Clan Mohammeds, Haschim (von ihm leitet sich der Ausdruck Haschemiten ab), gehörte als eher unbedeutender zu den in der reichen Karawanenmetropole Mekka dominierenden Quraisch. Es ist in der sehr überschaubaren neueren Mohammed-Forschung weitgehend unbestritten, dass der Gründer des Islam eine historische Person war, auch wenn er aus zeitgenössischen Berichten nicht greifbar ist. Eine erste Biographie von dem aus Medina stammenden Ibn Ishaq ist erst aus umaiyadischer Zeit (um 750) bekannt. Erhalten ist das Werk in einer verkürzten Redaktion des Ibn Hisham aus Basra. Interessanter noch ist die Verklärung der Figur Mohammeds zu einer unantastbaren Überfigur in der weiteren Rezeptionsgeschichte, die Tilman Nagel kenntnisreich nachzeichnet. Im 7. Jh. oder später begann das Aufzeichnen mündlich überlieferter Nachrichten über den Propheten (Hadith). Nach den biographischen Berichten wuchs Mohammed, dessen ursprünglicher Name Abul-Kasim ibn Abdallah lautete (Mohammed ist ein Ehrentitel und bedeutet: der Gepriesene), früh verwaist bei Großvater und Onkel auf. Die Heirat mit der wohlhabenden Kaufmannswitwe Chadidscha bint Chuwailid brachte ihm finanzielle Unabhängigkeit. Mohammed, der bei den Handelsreisen bis nach Syrien mit Christen und Juden Kontakte gepflegt haben soll, erfuhr seine Berufung um 610 durch den Engel Gabriel, als er beim Berg Hira nahe Mekka meditierte. Entgegen der in Sure 2 (90) erzählten Geschichte von dem von Allah geschenkten Koran hat Mohammed seine Audition mündlich weitergegeben. Erst nach seinem Tod wurde sie – abschließend durch seinen dritten Nachfolger Kalif Uthman – im Koran (arab. al-qur’an/Rezitation, Lesung) aufgeschrieben. Es ist ein Übergang von einer rituell-oralen Ordnung in eine schriftliche. Die neuere Forschung sieht im Koran eher einen Niederschlag umfangreicher theologischer Diskussionen (unter Umständen im Kontext der Spätantike), entstanden in Mekka und Medina, und nicht das Produkt eines einzigen Autors. Allerdings gilt dieser nach ihrer Länge in 114 Suren geordnete Text auch kritischen Forschern bis heute trotz etlicher durch regionale Einflüsse verursachter

161

Die Kultur des Islam

Lesevarianten als weitgehend authentisch. Zwar bietet der Koran durch dieses Ordnungsprinzip keinen Lesezusammenhang, aber die Authentizität des Textes machte ihn zu einem Kultobjekt und stützt als kulturelles Gedächtnis die Identitätsbildung im Sinne von Jan Assmann. Den Muslimen gilt der Koran bis heute als verbindlich, denn sie gehen mehrheitlich von einer Urschrift im Himmel aus. Besonders im kulturellen Gedächtnis blieb die Schönheit der Rezitation des Koran. Zahlreiche Zeitgenossen berichten über emotionale Ausbrüche und spontane Bekehrungen. »Der Koran ist in einem kulturellen Umfeld offenbart worden, in dem die Sprache im allgemeinen und die Dichtung im besonderen einen herausragenden Stellenwert hatten, in dem die poetisch strukturierte Rede mit übersinnlichen Ursprüngen in Verbindung gebracht und für das Behaupten eines Führungsanspruches für unverzichtbar gehalten wurde.« Die kultische Praxis des ständigen Vorlesens des Koran führte dazu, dass die Gläubigen ihn in der Regel auswendig konnten. Das Vorlesen entfaltete eine anagogische Kraft. Innerhalb dieses kulturellen Gedächtnisses spielten sich Handlungen ab, die der Dignität des Koran Tribut zollten. Die Kalligraphen benützten die Späne der Schilfrohrfedern, mit denen sie den Koran abschrieben, dazu, das Wasser für das rituelle Bad bei Bestattungen zu erhitzen. Anders als der johanneische Logos, der durch die Fleischwerdung Sichtbarkeit erlangte, war das Wort im Islam niemals ein Körper. Im Vergleich von Jesus und dem Koran sind beide das Wort Gottes, »das fleischgewordene der eine, das Rede gewordene das andere.« Harry A. Wolfson hat dazu in Analogie zur Inkarnation im Christentum für den Islam den Begriff der Inlibration (Buchwerdung) geprägt, Navid Kermani spricht von Inverbation. Er spielt auf die starke Rolle des Korans ebenso an wie auf die Rolle der Kalligraphie und des Dekors in der Kunst. Es gibt im Islam keine Ambition, den mystischen Leib einer Kirche als institutionellen Niederschlag der Inkarnation künstlerisch festzumachen. Umso mehr rückten die Buch- und Schreibkunst in den Vordergrund. Gefördert wurde dies durch manche einschlägige Stellen im Koran (90,3; 67,2; 82,10–12). Zudem setzte sich bald die Meinung durch, dass Gottes Wort als Zeugnis seiner Offenbarung in ebenmäßiger Schrift auf fleckenlosen Blättern schön und unübertrefflich geschrieben werden muss. Inwieweit Mohammed, der sich durchaus in der Nachfolge der alten Propheten sah, ein universales und nicht nur ein innerarabisches Sendungsbewusstsein hatte, ist bis heute Gegenstand von (auch innerislamischen) Kontroversen. Vermutlich verstand sich Mohammed weniger als Stifter einer neuen Religion denn als Fortsetzer eines alten Monotheismus. Möglicherweise war ein Cousin Chadidschas, Waraqa Ibn Naufal, Christ, der die Weichenstellungen der ersten Konzilien in der Christusfrage ablehnte und die Streitfragen mit Mohammed diskutierte. Die neue Religion fand zunächst im polytheistischen Umfeld nur wenig Resonanz, Mohammed selbst sah sich Feindschaft und Verfolgung von Seiten der führenden Clans in Mekka ausgesetzt. So entschlossen er und seine Anhänger sich zu einer Flucht (hidschra) in die Oase Jathrib, die dann den Namen Medina (arab. Madinat al-Nabi/Stadt des Propheten) erhielt. 622 war die Übersiedlung nach der Ankunft von Mohammed und seiner Anhänger beendet. Mit diesem Ereignis beginnt die

Assmann 1997

Kermani 1999, 93

Ebd., 213 Wolfson, zit. nach ­Belting 2008, 83 Kermani 1999, 216

Hattstein Markus in Hattstein/Delius 2005, 16 Al-Slaiman 2011

162

Das Mittelalter

Frugoni 2003, 60f Jansen 2008, 242ff

Kadivar Mohsen in Eshkevari u.a. 2009, 80–105

293 Abbildung der Kaaba auf einer Fliese, Rüstem-Pascha-­ Moschee; Istanbul

Hottinger 2008, 110

Donner 1981, 49

vier rechtgeleitete Kalifen

Zeitrechnung im Islam. Die heute global übliche Datierung nach der Geburt Christi wurde erst im Karolingischen Reich für den lateinischen Westen verbindlich. Bis 632 arbeitete Mohammed unter anregenden theologischen Debatten an der Gestaltung einer islamischen Gemeinde. Das Fehlen einer Priesterkaste machte den Islam ursprünglich egalitär und zu einer Laienreligion. An die Stelle dogmatischer Vorgaben trat das Gesetz, tägliche Glaubenshilfe gab nicht ein Priester, sondern ein Rechtsgelehrter, was zu einem frühen und hochstehenden Rechtswesen führte. Dass der Koran zwangsläufig als Rechtsbuch zu gelten hat, wird aber von den meisten Muslimen abgelehnt. Die Verbindung von Religion und Recht ist, wie die Verhältnisse in Byzanz lehren, durchaus ein spätantiker Topos. Es begann eine Phase erfolgreicher, teilweise auf der Grundlage von Stammesfehden auch blutiger, Islamisierung der arabischen Halbinsel mit einem ersten Höhepunkt, der friedlichen Eroberung von Mekka 630. Die Götterbilder (vor allem in der Kaaba) wurden zerstört – mit Ausnahme des schwarzen Steins der Kaaba selbst, deren vorislamischer Kult vor allem wegen des Bezugs zu Abraham übernommen wurde. Die Quraisch, die mit reicher Beute aus diversen Kriegszügen in das islamische Boot geholt werden konnten, stiegen schließlich zur führenden Kraft der neuen umma auf. Die umma entsprach einer Nation, die sich nicht mehr durch Stämme, sondern durch eine gemeinsame kulturelle Erzählung, in diesem Fall der neuen Religion – und durch die sich durchsetzende arabische Sprache – definierte. Denn ursprünglich machten die kriegerischen Stämme der Wüste zwar eine Stammespolitik, aber »keine Geschichte«. Insofern stellen das Arabische (genauer: das Nordarabische) und der Islam einen noch erheblich wirksameren Kitt bei der Staatenbildung dar als etwa das Christentum im Karolingischen Reich. Mit dem Islam war der »Kampf zwischen dem Stamm und dem Staat ein für alle Mal entschieden, und zwar zugunsten des Staates.« Umgekehrt verhalf dieses entstehende Staatswesen dem Islam als einer der vielen in Kleinasien und im Vorderen Orient entstandenen Religionen zu seinem Erfolg. Der arabische Staat begann schnell und erfolgreich zu expandieren und wurde zu einer ernsten Bedrohung für die oströmischen, persischen und weströmischen Nachbarn, zumal diese sich in gegenseitigen Kriegen im 7. Jh. weitgehend erschöpft hatten. Mohammed starb 632 (oder einige Jahre später) überraschend, sein Aufbauwerk war unterbrochen, die Nachfolge ungeregelt, zumal er keine Söhne hatte. Viele seiner Jünger glaubten an eine rasche Wiederkehr, denn sie hatte das Eintreffen des Jüngsten Gerichts noch zu Lebzeiten des Propheten erwartet. Die Übergangszeit bis zum Antritt der Umaiyaden wird die Zeit der »vier rechtgeleiteten Kalifen« (632–661; arab. chalifa/Vertreter des Propheten) genannt. Zunächst konnte Mohammeds Schwiegervater Abu Bakr das Begonnene sichern und die wieder auseinanderstrebenden Stämme zusammenhalten, ehe mit dem zweiten Nachfolger und Kalifen Umar ibn al-Hattab ab 634 eine schnelle Expansion in den Fruchtbaren Halbmond, nach Palästina und Ägypten, nach Mesopotamien und Persien erfolgte. 638 fiel Jerusalem, das wichtige Symbol, auf dessen Felsen Abraham seinen Sohn

163

Die Kultur des Islam

opfern wollte und von dem Mohammed der Legende nach entrückt worden sein soll. 642 wurde Alexandrien erobert. Dies war ein besonders nachhaltiges Ereignis, fand doch damit der Neuplatonismus Eingang in die islamische Philosophie. Der dritte Nachfolger Uthman ibn Affan, ein reicher mekkanischer Kaufmann, schloss die Sammlung, Aufzeichnung und Kanonisierung des Koran ab. Wie schon sein Vorgänger fand er 656 einen gewaltsamen Tod, Ausdruck erster Erschütterungen im neuen Staatsgebilde. Uthman stammte aus dem Stamm der Umaiya, die seinerzeit gegen Mohammed Front gemacht hatten. Trotz seiner Loyalität scheint es erhebliche Feindschaften gegeben zu haben, nicht zuletzt deshalb, weil Uthman sich besonders um die Vorteile seines eigenen Stammes kümmerte. Mohammeds Neffe und Schwiegersohn Ali ibn Abu Talib musste bei seinem Amtsantritt mit dem umaiyadischen Rivalen Muawiya, der in Damaskus eine starke Machtbasis hatte, leben. Daneben versuchten zwei alte Mitstreiter Mohammeds in Basra und Kufa einen Aufstand, den Ali niederschlug. Dieser trotz der negativen Entwicklung zum Schluss häufig als »Goldenes Zeitalter« bezeichnete Abschnitt endete mit einem Bürgerkrieg. Ali wurde 661 in Kufa ermordet. Oberhand gewann Kalif Muawiya, der einstige Sekretär Mohammeds. Er machte den Kalifentitel erblich und gründete die Dynastie der Umaiyaden in der neuen Hauptstadt Damaskus. Die Umaiyaden (661–750) waren Sunniten, diese stellen heute etwa 90 Prozent der Muslime. Die Anhänger der entmachteten Familie Mohammeds, die sich um Alis Sohn al-Husain scharten und dadurch eine eigene Partei (schîat Ali) begründeten, wurden zu erbitterten Gegnern. Beim Versuch al-Husains im Irak, die Herrschaft nach dem Tod Muawiyas zurückgewinnen, fielen er und seine Gefolgsleute bei Kerbela. Kerbela ist bis heute in Erinnerung an diesen Todeskampf 680 ein Symbol für die danach vielfach verfolgten Schiiten, die dort ihr »Passionsmotiv« fanden und einen starken Märtyrerkult ausbildeten. Bei den Schiiten, die auch mystische und sozialrevolutionäre Strömungen kannten, bildete sich eine Art von Geistlichkeit aus. Die Bildung einer frühen Konfessionalisierung im Islam zwischen Schiiten und Sunniten hätte nicht dramatischer vor sich gehen können. Entlang dieser Konfessionsgrenzen entstanden unterschiedliche Rechtsschulen. Vier Schulen respektierten sich gegenseitig als »Leute der Tradition und Gemeinschaft« (Sunniten), die fünfte, die schiitische Rechtsschule, blieb in Distanz dazu eigenständig. 711 erreichten die Araber den Indus und im gleichen Jahr begann nach dem Sieg über das zersplitterte und geschwächte Westgotenreich die Herrschaft der Mauren in Spanien. Gibraltar trägt bis heute den Namen des damaligen berberischen Heerführers Tariq ibn Ziyad (arab. Djebel Tariq/Berg des Tariq). Al-Andalus (das sich vermutlich auf das gotische landlos zurückführen lässt) wurde eine blühende Kultur und ein immer wieder zitiertes Vorbild an Toleranz der Religionen, auch wenn manche Historiker vor einer allzu großen Idealisierung dieser Zeit warnen. Schon bald begann die Rückeroberung des Teil der arabischen Welt gewordenen Gebiets, die sich lange hinzog: Von 801, dem Fall Barcelonas, über 1085 Toledo, 1236 Córdoba bis 1492 Granada.

Umaiyaden

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 31 Hattstein Markus in Hattstein/Delius 2005, 30

Halm 2004, 55

164

Das Mittelalter

6.1.

Heather 2014, 243ff

Halm 2000, 26

Hottinger 2008, 125 Fried 2008a, 46

Im Jahr 732, einhundert Jahre nach dem Tod Mohammeds, erlitten die arabischen Heere eine Niederlage in Poitiers gegen Karl Martell. Diese Schlacht wird in der Geschichtsschreibung häufig als Rettung des christlichen Abendlandes hochstilisiert. In Wahrheit handelte es sich um ein eher bescheidenes Scharmützel, das von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde und sich kaum als Ursache für das Ende der Expansion des Islam eignet. Zutreffender sind dafür innere Gründe, wie eine allgemeine Erschöpfung der Kräfte angesichts des überdehnten Reichs und innere Spaltungen, die sich in Aufständen manifestierten. Nur kleinere Territorialgewinne gelangen noch. Im 9. Jh. eroberten tunesische Aghlabiden Sizilien und machten aus Palermo al-Medina. Das Griechische verschwand zugunsten des Arabischen, bis 1060 die Normannen die Insel (neben Süditalien und Malta) eroberten und sie wieder latinisierten. Das Zusammenleben der verschiedenen Völker und Religionen gelang trotzdem und Sizilien profitierte vor einer höchst kreativen byzantinisch-arabisch-lateinischen Mischkultur mit einem Höhepunkt unter Roger II. 1195 fiel die Insel nach Thronstreitigkeiten an die Hohenstaufen. Auch wenn Friedrich II. persönliche Freundschaften und politische Beistandsabkommen mit der islamischen Seite unterhielt, unterdrückte er die Muslime in Sizilien und mit einer blutigen Niederschlagung eines Aufstandes 1243 endete das islamische Leben auf der Insel. Bei den Eroberungen im Osten gerieten unter anderem in Samarkand chinesische Papierhandwerker in Gefangenschaft, was Auslöser einer sich rasant ausbreitenden Papiererzeugung als unabdingbarer Grundlage für die arabisch-islamische Buchkunst war, auch wenn die Korane weiterhin auf dem haltbareren, wenngleich teureren und für die Illumination weniger geeigneten Pergament geschrieben wurden. Zudem drangen chinesische und buddhistische Motive in die islamische Kunst ein. Die Gründe für die anfänglich schnellen Expansionserfolge des arabischen Staatsgebildes, das von mekkanischen Handelsfamilien geleitet wurde, die anfangs dem Islam skeptisch gegenübergestanden waren, sind bis heute Gegenstand von Diskussionen. Dass die Abwehrkraft im Osten durch die jahrzehntelangen Kriege zwischen Konstantinopel und den Persern arg geschwächt war, ist unbestritten. Inwieweit dem eroberungsfreudigen Justinian eine Mitverantwortung aufgeladen werden muss, ist schon schwieriger zu sagen. Der Erfolg der Muslime erstaunt auch deshalb, weil der Islam keinen so ausgeprägten Missionsauftrag wie das Christentum kannte und die Eroberungspolitik auch nicht zentral gesteuert war. Allerdings gewährte die islamische Herrschaft den unterworfenen Städten und Religionen teilweise mehr vertraglich gesicherte Freiheit, als sie es vorher gegenüber der byzantinischen Reichskirche in Konstantinopel, das sich gegen den Ansturm der Araber erfolgreich wehren konnte, hatten. Insbesondere die in und um Ägypten und Syrien ansässigen monophysitischen Christen (es gibt sie in Form der koptischen und syrisch-orthodoxen Kirchen bis heute) sahen gegenüber der rigorosen Orthodoxie Konstantinopels in den neuen Herren Vorteile. Im Vertrag mit Jerusalem 636 wird der Schutz der Kirchen, christlichen Symbole und die freie Religionsausübung ausdrücklich garantiert. Das führte zu der his-

165

Die Kultur des Islam

torisch eher seltenen Konstellation, dass Herakleios versuchte, durch dogmatische Spitzfindigkeiten die Kluft zwischen Orthodoxie und Monophysitismus zu verkleinern. Dogmatik als Mittel der Weltpolitik! Ein weiterer Vorteil für die Araber war, dass es in Syrien und Palästina durch das Ringen von Byzanz mit den Persern kaum mehr funktionierende Machtstrukturen gab. Die erfolgreiche Expansion führte zur Arabisierung (Verbreitung der arabischen Sprache) und Islamisierung weiter Gebiete von Indien über Nordafrika bis nach Spanien. Trotzdem gab es auch Widerstand. Einige mittelbyzantinische Monumente (Hosios Lukas, Daphni, Nea Moni) oder Enklaven wie Kappadokien mit seinen Felskirchen blieben deshalb in der ursprünglichen Form erhalten. Ein Umsturz im 8. Jh. machte der Umaiyaden-Herrschaft ein Ende und brachte die Abbasiden, mekkanische Verwandte Mohammeds aus dem Stamm der Quraisch, an die Macht. Der Sitz des Kalifats war von 749/750 bis zur mongolischen Invasion 1258 das geopolitisch günstig gelegene Bagdad – wenige Kilometer östlich der alten Sasaniden-Hauptstadt Seleukia/Ktesiphon. Ab 762 bauten die Abbasiden die kleine nestorianische Klostersiedlung sukzessive zur blühenden Hauptstadt des Reiches aus. Als Kalif al-Mutasim bei den Turkvölkern Zentralasiens Sklaven kaufte und sie zu einer ergebenen Truppe (Mamluken) ausbaute, die in Bagdad schwer integrierbar war, errichtete er 836 in Samarra eine neue Residenzstadt. Das Selbstbewusstsein dieser Prätorianergarde (die von 1250 bis 1517 Ägypten regierte) veranlasste einen späteren Nachfolger, 892 wieder nach Bagdad zurückzukehren. Das halbe Jahrtausend der Abbasiden drückte Bagdad in Architektur und Wissenschaft einen starken Stempel auf und machte es zur wohl reizvollsten Metropole der Wissenschaft und Kunst der damaligen Welt. Es gab in Bagdad und Basra auch eine »höfische Literatur«, die nicht selten bei den Religionsgelehrten Irritationen auslöste. Am Abbasidenhof in Bagdad herrschten nicht mehr Stammesführer, sondern die Kalifen übernahmen die Riten der altorientalischen Könige und byzantinischen Kaiser. Das Buch der Zeremonien von Konstantin VII. Porphyrogennetos zirkulierte auch in der islamischen Welt und machte dort das byzantinische Hofzeremoniell bekannt. Die Kalifen gewährten ihre Audienzen verborgen hinter einem Vorhang und waren durch kostbare Insignien ausgezeichnet. Eine Reihe von persischen Traditionen fand Eingang in die Rituale der Religion. Sie äußerten sich im Zeremoniell, in Titulaturen, aber auch in Architektur und Kunst. Die Abbasiden konnten einen Zerfall des Reichs in Unabhängigkeit beanspruchende Teile nicht mehr verhindern. Andalusien und der Maghreb gingen verloren, 910 fassten die Fatimiden in Tunesien Fuß. Abdallah al-Mahdi, der sich auf die Tochter Mohammeds und Frau Alis, Fatima, zurückführte, gründete das Zentrum al-Mahdiya (arab. al-mahdi/der Auserwählte) südlich von Sousse. Die Fatimiden wurden eine erfolgreiche Dynastie und waren durch ihre schiitische Prägung eine Alternative zu den sunnitischen Abbasiden. Ihre wichtigste Eroberung war 969 Ägypten, 972 wurde die Hauptstadt nach Kairo (arab. al-Qahira/die Siegreiche) verlegt. Die Herrschaft der Fatimiden wurde 1169 von dem sunnitischen Kurden Salah ad-Din al Aiyubi (Saladin), dem Heerführer des Zangidenfürsten Nur ad-Din

Partsch 2004, 39 Abbasiden

Stierlin 2009, 100

166

Das Mittelalter

Seldschuken

Holt/Lambton/Lewis 1977, 231

von Gladiß Almut in Hattstein/Delius 2005, 166

und Gründer der Aiyubidendynastie, gestürzt. Damit kehrte die sunnitische Ausrichtung zurück. 945 hatten schiitisch-persische Buyiden die Kontrolle über das Kalifat der Abbasiden errungen, die dadurch ihre politische Macht verloren und nur mehr eine religiöse Autorität darstellten. Die Buyiden schwächten sich allerdings durch die Aufsplitterung in verschiedene Linien selbst, aber sie brachten viel persischen Einfluss in die islamische Kultur. 1055 lösten die Türken unter Tughrul Beg die Buyiden in Bagdad ab und zwangen das Kalifat, die Familie Seldschuk als »Sultane des Ostens und Westens« anzuerkennen. Die türkischen Seldschuken waren die ersten Nomaden, die den Mittleren Osten regierten. Sie waren in der dritten Generation von Zentralasien aus zur mächtigsten islamischen Dynastie aufgestiegen und prägten der islamischen Welt eine türkische Identität auf, die viele als neue Blüte ansprechen. Gleichzeitig trug ihr Clansystem zur Destabilisierung der islamischen Gesellschaft bei. Das Sultanat fügte Byzanz 1071 bei Mantzikert eine erste empfindliche Niederlage zu, was die Eingliederung Anatoliens zur Folge hatte und der seit dem 8. Jh. bestehenden Wanderbewegung von Turkvölkern nach Anatolien neuen Schwung verlieh. Mit der Trennung von Kalifat (für die religiöse Kompetenz) und Sultanat (für die politische Kompetenz) gab es eine zwar der westlichen Entwicklung nicht ganz vergleichbare, aber doch in Ansätzen vorhandene Trennung von weltlicher und geistiger Macht auch im Islam. Im 12. Jh. zerbrach das Seldschukenreich. 1194 fiel der letzte Seldschukensultan in einer Schlacht gegen eine mamlukische Dynastie. Der orthodoxe Islam schien gefestigt, das Kalifat hatte seine Macht wieder zurückgewonnen. Allerdings brachte die Kreuzzugsbewegung – die Kreuzfahrer wurden von den Arabern pauschal als »Franken« bezeichnet – das östliche Mittelmeer in eine prekäre Lage. Der Historiker Ibn al-Athir aus Mosul warnte vor dem sich anbahnenden Kulturkonflikt und vor dem Untergang der islamischen Religion und Kultur. Vor diesem Hintergrund erhielt die Idee des »Heiligen Krieges« gegen die Christen, die die auf dem Tempelberg gelegenen Heiligtümer besetzt hielten und aus der Sicht der Muslime entweihten, neue Nahrung. Allerdings wurde ursprünglich der Begriff des dschihad keineswegs vorwiegend militärisch verstanden. Dschihad (arab. dschahada/sich einsetzen) bedeutete Anstrengung und Einsatz für Gott. Das reichte vom Kampf gegen die eigenen Triebe (v.a. al-Ghazzali), gegen Armut und Krankheit, gegen die Heiden und Polytheisten in Mekka bis zu Eroberungskriegen. Die militärische Komponente führte schließlich zur Vorstellung des Märtyrers im Islam, der nicht nur, wie im Christentum, ein Erduldender, sondern ein aktiv Kämpfender ist. 1187 eroberte Saladin Jerusalem zurück, das 1099 von Kreuzrittern genommen und zum lateinischen Königreich Palästina gemacht worden war. Das islamische Gravitationszentrum hatte sich von den arabischen Gebieten nach Iran und Anatolien verschoben, Iran wurde zu einem künstlerischen Zentrum. Die arabische Sprache konnte sich dort nie gänzlich durchsetzen, es gab weithin eine eigenständige persische Sprache und Literatur. Über Jahrhunderte flossen auch in die osmanische Kultur persische Motive ein.

167

Die Kultur des Islam

Die größte Katastrophe für den Islam war der Einfall der Mongolen, die 1258 Bagdad eroberten und eine Spur der Verwüstung hinterließen. Insbesondere die blühende Malerei in Bagdad erlitt nachhaltigen Schaden. Weite Teile Zentralasiens wurden entvölkert. Allerdings nahmen die Eindringlinge später selbst den neuen Glauben an und schufen eine pax mongolica, die neue Kommunikationsstränge zwischen West und Ost anregte. Es waren diese diplomatischen Kanäle, auf denen die christlichen Mächte – die Bedrängnis der Araber ausnützend – die Fühler nach China ausstreckten. Marco Polo konnte auf relativ sicherem Weg bis nach Peking gelangen. Es entstanden Bauten und Kunstwerke, die zu den schönsten des Islam gehören und von vielfachen Einflüssen gespeist wurden, darunter auch europäischen, namentlich dem perspektivischen Bildraum – im Westen hatte eben die Renaissance begonnen. Die Mongolen brachten mit den chinesischen Bildrollen eine aufregende Neuerung in die arabische Welt und die betörenden Bilderzählungen vor allem im iranischen Raum sind von dort her stimuliert. Im nach dem Sturmlauf der Mongolen unübersichtlichen Osten eroberte sich einer der brutalsten Kriegsherrn mit Energie und Intelligenz ein kleines Weltreich, das er freilich nicht dauerhaft absichern konnte: Timur Lenk. Persien, Mesopotamien, Teile Russlands, Indiens und Anatoliens konnte dieser Warlord, der aus einer turkisierten Mongolenlinie stammte, in kurzer Zeit erobern und machte sich 1388 zum Sultan. Timurs Name bleibt neben jenem seines Neffen, des Astronomen Ulugh Beg, verbunden mit dem Ausbau von Samarkand zur »Schwelle des Paradieses«. Religionspolitisch war Timur Lenk sehr tolerant und ließ alle Strömungen gewähren. Es bildete sich eine Volkskirche mit Sufis und Derwischen, Heiligenkulten und Wahrsagern. Er ließ Künstler und Gelehrte überall, wo er sie fand, entführen und versammelte sie an seinem Hof. Die Bauten glänzten mit bunten Fayencemosaiken, die Buchkunst erreichte höchste Qualität. Einer der berühmtesten Miniaturisten war Kamal ad-Din Bihzad, der in der Forschungsliteratur den Namen »Raffael des Ostens« erhielt. Bihzad malte individuell ausgearbeitete Menschen in einem kalkulierten illusionistischen Raum mit üppiger Architektur. Die Sujets holte er sich teilweise aus Dichtungen, so etwa aus der Khamsa-Dichtung Nizamis. Ab 1500 verloren die Timuriden ihr Reich wieder. Der letzte Timuride, Babur, besetzte 1526 Delhi und gründete die Herrschaft der Mogule in Indien. 1598 machte der Safawiden-Shah Abbas I. (»der Große«) die alte Metropole Isfahan, in der über Jahrhunderte hinweg große Bauwerke entstanden waren, zu seiner Kapitale. Das islamische Indien war ein riesiges Gebilde. Weit weg von den arabischen Ursprüngen, waren die Herrscher meist tolerant gegenüber den Hindus und Sikhs. Ihr indisches Selbstverständnis war ihnen manchmal näher als die Religion. Die neuzeitliche Entwicklung des Islam brachte – im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung – durchaus weitere Aufklärungsschübe. Dem frühen Zerfall des Reiches in Teile folgte in der Neuzeit der sukzessive Verlust des islamischen Charakters von Staatswesen, besonders augenfällig in der Türkei. In anderen Staaten passierte Ähnliches durch einzelne Herrscher oder Kolonialmächte. Auch der arabische Nationalismus vertrug sich in aller Regel nicht mit dem Islam, sondern verfolgte da-

Mongoleneinfall

7.1.

168

Das Mittelalter

von unabhängige politische Ziele. An der Schwelle ins 21. Jh. gibt es in vielen Ländern religiöse Restaurationsbewegungen, die mit zwar kleinen, aber energischen Reformgruppen in Kollision geraten.

3.3. Philosophie und Wissenschaft im Islam

Rosenthal 1965, 29

Gutas Dimitri in Pasnau/ van Dyke 2010, I, 11–25; Halm 2004, 43

Kristeller 1974, 54f Walzer 1962, 444 Cleary 1997

IV.3.5.

Wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, wurde die islamische Kultur, namentlich Wissenschaft und Philosophie, aus den antiken Quellen gespeist. Etwas sehr idealisierend ist die Aussage, dass das gesamte Kulturleben des Islam sich »dem griechischen Geiste gebeugt« habe. Aber, dass die griechische Philosophie und Wissenschaft eine große Rolle spielte, ist kaum bestreitbar. Zudem hat sich die Wissenschaft im Islam freier entwickelt und stand dem Experiment (vor allem in der Optik) offener gegenüber als im Westen. Es gab weniger Probleme durch theologisch-dogmatische Vorgaben, wenngleich religiöse Einschränkungen auch im Islam nicht gänzlich fehlten. Grundlage für einen umfangreichen Kulturtransfer im islamischen Mittelmeerraum war die arabische Sprachgemeinschaft von Indien bis nach Spanien. Mit Seleukia, Alexandria und Antiochia waren die wichtigsten hellenistischen Metropolen unter arabische Herrschaft geraten. Die Araber wussten diese eroberte Kultur zu schätzen. Die Übersetzungsarbeit der griechischen Literatur ins Arabische (und ins Syrische) erfolgte in der Regel über das Aramäische durch mehrsprachige Christen im Fruchtbaren Halbmond, die unter arabischer Herrschaft standen, und durch Intellektuelle in Bagdad. Übersetzt wurden die wissenschaftlichen und philosophischen Werke (darunter Aristoteles, die Neuplatoniker und einige Dialoge Platons, den die Araber Aflatun nannten), während die antike Dichtung praktisch ausgespart blieb. Zum Theater fanden die Muslime keinen Zugang. Im Hinblick auf kunstphilosophische Hintergründe spielte die Rezeption des Neuplatonismus eine ähnlich wichtige Rolle wie im Westen. Plotin, Porphyrios, Proklos und der fälschlicherweise Aristoteles zugeschriebene, in Wahrheit neuplatonische Liber de Causis waren die vorzüglichen Quellen. »Man kann wohl sagen, daß alle arabischen Philosophen Neuplatoniker waren, jedoch keineswegs alle in demselben Sinne.« Die islamische Theologie verstärkte die neuplatonische Behandlung des höchsten Einen, um den Transzendenzaspekt Gottes philosophisch zu stärken – bei gleichzeitiger Zurückhaltung bei der Frage nach der Schöpfung. An die Stelle des Schaffens trat die »Mechanik« der Emanation. Für die Kunst bedeutete diese theologische Zuspitzung eine Konfrontation mit der Unerkennbarkeit und Undarstellbarkeit Gottes, mit einer Lichtmetaphorik und der Geringschätzung der realen Natur. Der undarstellbare Gott war zugleich eine Chiffre für die höchste Schönheit. Die völlige Abwesenheit jedes Inkarnationsgedankens ließ den Platonismus im islamischen Bereich letztlich auf fruchtbareren Boden fallen, als das im Christentum der Fall war, wo er stets quer zur Leiblichkeit Gottes stand. Als Hauptquelle der neuplatonischen Doktrin fungierte das 642 eroberte Alexandrien. Daneben war das im 3. Jh. gegründete und ebenfalls 642 islamisch gewordene sasanidische Zentrum Gundishapur ein geistiger Umschlagplatz. Dorthin

169

Die Kultur des Islam

waren zahlreiche Gelehrte aus Byzanz, nestorianische und aramäische Christen, nach dem Konzil von Ephesos (431) geflohen. Neben der neuplatonischen Philosophie wurde Gundishapur berühmt für die Medizin und Naturwissenschaft. Es verlor seine Bedeutung erst nach der Gründung des nahe gelegenen Bagdad 832. Eine weitere Hochburg des Neuplatonismus war Harran in Nordsyrien, lange ein Hort des Heidentums. Julian Apostata hatte dort die Restauration der alten antiken Götterkulte betrieben. Aus der ansässigen neuplatonischen Schule wurde nach der Übernahme der Stadt durch die Araber 639 eine Medrese, die – wie so viele – den Anspruch erhebt, die älteste Universität der Welt zu sein. Kalif Marwan II. soll bereits eine große Moschee gebaut haben. Kalif Al-Mamun, der von den Christen als tolerant geschildert wurde, drängte die heidnischen Bewohner zur Annahme einer der drei monotheistischen Buchreligionen. Eine weitere geduldete Gruppe waren die Sabier. Sie verehrten solare und lunare Gottheiten. Auch von Harran gingen viele Gelehrte nach Bagdad, mit Aristoteles, dem Neuplatonismus und der Vertrautheit mit astraler Metaphorik im Gepäck. Der Neuplatonismus dominierte lange Zeit die islamische Philosophie, er war aber auch Gegenstand heftiger Kontroversen. Der vornehmste Gegner des Platonismus, Averroës, war zugleich der wichtigste Aristoteliker. Innerhalb des Aristotelismus war die Poetik des Aristoteles kunstphilosophisch wichtig. Das Werk regte eine umfangreichere (mehr linguistische als ästhetische) Auseinandersetzung mit Literatur und Rhetorik an. Neben wenigen anderen philosophischen Einflüssen etwa durch Ibn Hazm aus Córdoba, einem scharfen Gegner jeder allegorischen Literaturdeutung, entfaltete das neuplatonische Gedankengut nachhaltige Wirkungen in der Theologie der Ismailiten, einer sektiererischen Abspaltung der Schiiten. Ihre Ideen beeinflussten die Fatimiden in Ägypten. Die Al-Azhar-Universität in Kairo (971/2) wurde zu einer Hochburg der neuplatonisch-schiitischen Ismailiten, vielleicht überhaupt ein Höhepunkt neuplatonischer Theologie und Philosophie, bis – wie berichtet – Saladin diese »üble ismailitische Propagandazentrale« 1171 wieder sunnitisch machte. Im 8. Jh. begann im geistigen Zentrum Bagdad mit den Fragen nach der Freiheit des Willens und legitimen Aussageweisen über Gott eine islamische Theologie. Grundlage war der strenge Monotheismus mit einem Gottesbegriff, der durch völlige Gestaltlosigkeit ohne jede anthropomorphe Beimengung gekennzeichnet war. Nicht einmal ewige göttliche Attribute ließen die frühen Theologen zu. Ewigkeit käme nur dem unbeschreibbaren Gott selbst zu. Gott offenbare sich nur dem Propheten. Kalif al-Mamun machte diese Lehre zur Staatsdoktrin und verpflichtete die Rechtsgelehrten auf sie. Diese extreme Position der sogenannten Mutaziliten war stark umstritten und von Ahmad ibn Hanbal wurden Gott sehr wohl Attribute zugesprochen. Neben Gott galt schließlich auch der Koran als Eigenschaft Gottes und damit als göttlich und ewig. Grundsätzlich waren in der theologischen Diskussion alle drei Konzepte präsent: jenes vom Schöpfergott, jenes vom ersten unbewegten Beweger (nach Aristoteles) und jenes des emanierenden, unerreichbaren Einen (nach dem Neuplatonismus).

IV.1.0.

III.2.4.3.3.3.

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 50

Blair Sheila/Bloom Jonathan in Hattstein/ Delius 2005, 90f

170

Das Mittelalter

Talmon 2003

Halm 2004, 42 al-Kindi

Hedwig 1980, 99 Abu Bakr ar-Razi

Al-Farabi

Rudolph 2004, 38

Zwischen dem 8. und 10. Jh. entwickelte sich eine arabische Grammatik, die auch dazu diente, mehrdeutige Stellen im Koran zu klären, etwa bei Sibawaih oder seinem Lehrer al-Khalil ibn-Ahmed. Dies war ein erster zaghafter Ansatz einer Koran­exegese. Zwar kann man auch im Islam des Mittelalters wie in der westlichen Ideengeschichte Theologen und Philosophen kaum trennen, trotzdem war die Philosophie im Islam unabhängiger als im Westen. Sie begnügte sich nie mit der Rolle einer bloßen ancilla, einer Magd der Theologie. Bei den islamischen Gelehrten war schon vor der ersten Jahrtausendwende praktisch der gesamte Aristoteles bekannt, er wurde im Westen im Hochmittelalter in platonisierender Leseart aus dem Arabischen in das lateinische Mittelalter übersetzt. Dazu gehörte, dass die bei Aristoteles sorgsam aufrecht erhaltene Trennung von Form und Materie zugunsten einer formdurchsetzten und produktiven Materie aufgegeben wurde. Kalif al-Mamun soll damit geprahlt haben, dass ihm Aristoteles im Traum erschienen sei. Die islamische Philosophie wurde mit dem um 850 am abbasidischen Kalifenhof in Bagdad tätigen Polyhistor al-Kindi selbständig. Die Zeitgenossen in der prosperierenden Metropole nannten ihn den »Philosophen der Araber« oder »Vater der islamischen Philosophie«. Er normierte – in arabischer Sprache (die das bisher gebräuchliche Griechisch ablöste) – ein Vokabular für die Philosophie und betrieb eine negative Theologie im Sinne der platonischen Tradition. Von ihm stammt auch eine Optik, die sich von der geometrischen Harmonie des Kosmos ableitet. Es entsprach einer philosophischen Üblichkeit, dass die Lichtphilosophie nicht nur (empirisch gewendet) als Optik, sondern auch (rationalistisch gewendet) als Erkenntnislehre expliziert wurde. »Es ist daher die Optik, die die allgemeine Gesetzlichkeit der Natur auslegt und damit das Paradigma aller Wissenschaften abgibt.« Der persische Arzt und Naturforscher Abu Bakr ar-Razi setzte sich für die Autonomie der Philosophie ein. Obwohl er nicht an der Existenz Gottes zweifelte, galten viele seiner Thesen als ketzerisch. Philosophie war bei ihm wie in den antiken Philosophenschulen eine Lehre der Lebenskunst. Nach dem Bild des tugendhaften Sokrates entwarf er die Idee einer philosophischen Lebensweise. Al-Farabi war ein universell gebildeter Philosoph. Er wirkte in einer Gruppe, die man als Bagdader Schule bezeichnet. Viele der Angehörigen der Schule hatten einen christlichen Hintergrund. Später wirkte er in einem ismaelitischen Herrscherhaus in Aleppo. Al-Farabi bemühte sich um die Harmonisierung von Philosophie und Theologie, also um die Übereinstimmung zwischen der Vernunft mit den Lehren des Koran. Er formulierte eine ausgefeilte neuplatonische Emanationslehre. Nur so schien sich die Schöpfung philosophisch gegen die These von der Ewigkeit der Welt bei Aristoteles absichern zu lassen. Standen bei al-Kindi vor allem die aristotelischen und neuplatonischen Werke, bei ar-Razi die Platonrezeption der Mediziner im Vordergrund, überlieferte al-Farabi das gesamte antike Erbe, das den Arabern vorlag. In einer Staatsutopie (al-Madina al-fadila) übertrug er Platons Idee des Philosophenkönigs auf den Kalifen. Dabei zog er den Vergleich zwischen Herrscher und Arzt. Was der Arzt für den Körper, sei der Herrscher für die Seele. Die soziale Ordnung wiederum führe sich auf die kosmische Ordnung zurück. Zu dieser Grundannahme passt

171

Die Kultur des Islam

der Entwurf einer Emanation aus dem Einen nach neuplatonischer Leseart. Gott erscheint als das Erste/Gute/Eine. Er wird reichlich mit der Lichtmetapher charakterisiert als der Strahlende und Schöne. Das Werk enthält daher wichtige Elemente einer (Licht-)Ästhetik. Das (intelligible und unerreichbare) Schöne hat – in Übereinstimmung mit Plotin (Plotin, Enn. V,8) – eine ontologische Bedeutung im Sinne letzter wesenhafter Vollkommenheit. Dass diese göttliche Schönheit auch einen aktiven Aspekt im Sinne einer Selbstkontemplation aufweist, könnte eine Referenz zu Aristoteles und dessen Bestimmung des Göttlichen als das »Denken des Denkens« sein. Die geschaffene Schönheit wiederum leitet sich von akzidentellen materiellen Bestimmungen ab. Wird diese (intelligibel oder sinnlich vermittelte) Schönheit Objekt der Kontemplation, dann ist sie eine Quelle der Freude. Vor solchem Hintergrund kann kaum überraschen, dass al-Farabi auch ein wichtiger Theoretiker der Musik war und Das große Buch über die Musik sowie ein Buch über Rhythmen verfasst hat. In seinem Buch über die Einteilung der Wissenschaften beschrieb er den Charakter der poetischen Imagination. Anders als die verbreitete Lehre von höheren Geistern schrieb er die Inspiration (in Verlängerung dazu auch die Prophetie, was diese in die Nähe der Ästhetik rückt) einem Vermögen der Seele zu. Poetische Rede dient der (ins Positive und Negative) übersteigerten Repräsentation des Subjekts und der Fähigkeit, eine emotionale Bewegung bei den Zuhörern auszulösen. In seiner Poetik (kitab al-shi’r) vergleicht er die Imitation mit einem mehrfachen Spiegelspiel. Das Abbild (Kunstwerk) ist mehrere Grade von der eigentlichen Realität entfernt. Auch al-Amiri, der aus Khurasan stammte und in Nishapur starb, wollte Philosophie und Theologie versöhnen. Philosophische Einsichten könnten den Wahrheiten der Religion nicht widersprechen. Anders als sein Zeitgenosse al-Farabi blieb für al-Amiri die philosophische Wahrheit einer geoffenbarten Wahrheit untergeordnet. Die Griechen hätten große Philosophen besessen, aber keine Propheten. Er transformierte den Neuplatonismus in eine mystische Ästhetik des Sufismus. Mit dem um 980 geborenen Avicenna (Abu Ali ibn Sina) aus Buchara, Arzt bei verschiedenen iranischen Fürsten, erhielt die islamische Philosophie und der Neuplatonismus in ihr den vielleicht bedeutendsten Vertreter. Sein Buch der Genesung ist eine philosophische Summe in vier Teilen, die das Wissen der Zeit versammelte. Avicenna stand al-Farabi philosophisch nahe, erarbeitete sich jedoch große Eigenständigkeit. Theologisch vertrat er einen strikten Gottesbegriff, in dem Sein und Wesen zusammenfallen. Das restliche Seiende sei von Gott verursacht, allerdings in einem emanativen Akt, der auch die Rückkehr zu Gott einschließe. Es sei das Licht, das als unkörperlicher Stoff die Formen nach unten trägt. Die These von der Anfangslosigkeit der Welt war eines der Probleme, mit dem Avicenna bei der islamischen Orthodoxie aneckte. Auch in seiner Anthropologie verband sich eine aristotelische Terminologie mit einem eher platonisch gewendeten Inhalt. Avicenna gemeindete das Prophetenwissen, das üblicherweise eine mystische Qualität hatte, in die Intellektlehre ein. Die rationale Seele des Propheten stehe in Verbindung mit dem kosmisch gedeuteten tätigen Intellekt (intellectus agens). Das Prophetenwissen sei daher durchaus rational.

IV.7.2.

al-Amiri

Avicenna

172

Das Mittelalter

Koran, 24,36

7.3.1. Hedwig 1980, 104f

7.2.2.6.1.

Absicht solcher Überlegungen war wohl, ein Auseinanderfallen von Theologie und Philosophie zu vermeiden. Ein Beispiel von Avicennas Bemühung um eine rationale Deutung mystischer Passagen bildet die berühmte und schwierig auszulegende Lichtsure im Koran: »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichtes ist das einer Nische, in der eine Lampe brennt, eine Lampe in einem Glas, und das Glas funkelt wie ein Stern. Angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl beinah leuchtet, auch wenn kein Feuer es berührt – Licht über Licht.« In Avicennas Auslegung der Stelle steht das Licht für Erkenntnis, das Feuer für den tätigen Intellekt (intellectus agens), die Lampe in der Nische für den erleidenden Intellekt (intellectus possibilis als jener Teil des Intellekts, der, weil zum Unterschied vom tätigen Intellekt, an den einzelnen gebunden, beim Tod eines Menschen verschwindet), das Öl ist das Nachdenken und das Öl, das Helligkeit spendet, ohne dass Feuer daran gekommen ist, ist die Intuition. Im Denken des Avicenna vollzog sich eine ähnliche Verschiebung der Lichtphilosophie wie es sie im Westen in der Gotik gab, wo das mystische Licht der Romanik zum Licht der Vernunft wurde. Wie Farben erst im Licht erscheinen, so werden Gegenstände erst im Licht der Vernunft erkannt. Avicenna artikulierte jene Schnittstelle, wo sich Lichtspekulation und Erkenntnislehre treffen. Insbesondere sah er in den Sinnesgegenständen eine Intelligibilität durch das Aufleuchten einer ursprünglichen Intelligenz. Thomas von Aquin vertrat in der westlichen Hochscholastik eine ähnliche Intelligibilität, also eine grundsätzliche Erkennbarkeit des Seienden durch den menschlichen Verstand, die bei ihm aber auf der Würde der Schöpfung Gottes beruht, was einem christlich gewendeten Aristotelismus entsprach. Eine platonisierende Fortschreibung von Avicennas Gedanken führt demgegenüber zum Idealismus. Mit solchen Konstruktionen hatte sich Avicenna zwischen die Stühle gesetzt und musste Kritik von beiden Seiten einstecken, von jenen, denen er zu wenig rational argumentierte (Averroës), und von jenen, denen er zu rational war (al-Ghazzali). Im Anschluss an al-Farabi lieferte Avicenna Elemente einer poetischen Ästhetik, die sich auch auf die bildende Kunst anwenden ließen. Poetische Sprache will einen Akt der Imagination (takhyil) bei den Zuhörern erzeugen, die ganz anders ausfallen kann, als es allenfalls der materielle Träger vorgab. Die ästhetischen Urteile basieren auf der Fähigkeit der Imagination und einem eingeborenen inneren ästhetischen Sinn. Dieser Sinn ist ein leidenschaftliches Begehren, das zu betrachten, was schön ist. Avicenna vermied jede negative Beurteilung der poetischen Imagination und billigte dieser einen sekundären Wahrheitsanspruch zu, weil sie bis zu einem gewissen Grad mit rationalen Aussagen korrespondiere. Im 5. Kapitel seiner Abhandlung über die Liebe (risala fi al-ishq) bezeichnete er die Schönheit in platonischem Sinn als Ordnung (al-nazm), Komposition (al-ta’lif) und Symmetrie (al-i‘tidal). Er unterschied eine Liebe zur Schönheit als Freude an der sinnlichen Wahrnehmung, die aber von einer rationalen, zuletzt auf das Göttliche als erstes Geliebtes gerichteten

173

Die Kultur des Islam

Liebe überboten wird. Eine ähnliche Korrespondenz kennt die innere und äußere Schönheit. Unter dieser Bedingung ist auch an der Freude am Sinnlichen, ja sogar am Körperlich-Sexuellen nichts auszusetzen. Avicennas Ästhetik entsprang einer kreativen Verbindung von Platon, Neuplatonismus und Aristoteles. Das Mimesis-Konzept wurde neuplatonisch dynamisiert und mit dem von Aristoteles in De anima und Parva naturalia vorgetragenen Begriff der Imagination verbunden. Eine außerordentlich wichtige Rolle für die Kunstphilosophie spielte der um 965 in Basra geborene und später im Dienst der toleranten Fatimiden in Kairo stehende Mathematiker ibn al-Haitam, den die Lateiner Alhazen nannten. Seine Position soll im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden. In Basra gab es im 10. und 11. Jh. eine asketische, hierarchisch organisierte Philosophenbruderschaft (Ikhwan al-Safa), die – stark neuplatonisch und aristotelisch beeinflusst – sich mit philosophischen, naturwissenschaftlichen und astrologischen Fragen beschäftigte. Die Philosophie diente im Sinne neuplatonischer Weltanschauungsszenarien zur spirituellen Befreiung. Als einer der bedeutendsten Köpfe der Zeit gilt der persische Universalgelehrte al-Biruni, der in Chorezm, Ghasna und Buchara wirkte und nach ausgedehnten Forschungsreisen durch Indien eine historische und geographische Beschreibung des Landes lieferte. Daneben schrieb er über Astronomie, Physik und Mathematik. Er pflegte enge Kontakte zu Avicenna, der aus Buchara stammte. Al-Muqaddasi, aus Jerusalem stammend, war ein weiterer bedeutender Geograph, der das islamische Gebiet zwischen Atlantik und Indus, seine Städte und Bewohner blumig und ausdrucksstark beschrieb. Dabei berief er sich einerseits auf eigene Anschauung, hatte er doch die meisten Gebiete selbst bereist, andererseits kommentierte er eine Vorlage des al-Dschahiz, eines schwarzen Rhetoren und Bücherliebhabers, von dem man sich erzählte, er sei durch herabstürzende Bücher erschlagen worden. Der herausragende persisch-sunnitische Theologe Abu Hamid al-Ghazzali wiederum wandte als Anhänger einer mystischen (vor allem sufistischen) Spiritualität in seiner destructio philosophorum viel Energie auf, die Philosophie – und zwar in beiden, der platonischen wie auch der aristotelischen Variante – zu kritisieren. Philosophie könne prinzipiell nicht auf Glaubensfragen angewandt werden. Er gehörte zu jenen, die eine Vermischung der beiden Disziplinen aus theologischem Interesse nicht wollten. An die Stelle der Philosophie trat bei ihm als Mystiker die Gotteserfahrung selbst. Andererseits ermunterte er religiöse Gelehrte zum Gebrauch der aristotelischen Logik, aber einzig zu dem Zweck, zu unwiderlegbaren Argumenten für Gottes Existenz zu kommen. Al-Ghazzali kämpfte gegen jeden Luxus, darunter besonders den kunsthandwerklichen, und gegen die Kunst. Seine streng orthodoxen Vorstellungen waren nicht dazu angetan, die Kultur besonders zu fördern. Das Ende der großen Kunst des Islam bringen manche unter anderem auch mit dem Erstarken solch orthodoxer Strömungen in Verbindung. Der neuplatonische Emanationsgedanke wurde vor allem vom persischen Philosophen und Mystiker Schihab ad-Din Suhrawardi als Lichtmystik buchstabiert.

Alhazen

al-Biruni

Al-Muqaddasi

Gaube 1993, 36 al-Ghazzali

Ettinghausen 1962, 184 ad-Din Suhrawardi

174

Das Mittelalter

Schimmel 2000 Ibn Tufail

Bloch 1972, 489f

Marenbon 2008

Averroës

Koran 59,3

Aus Gott, dem Licht des Lichts, emaniert kaskadenartig das abgeleitete Licht. Der Mensch muss sich aus der Dunkelheit lösen und sich vom Licht durchdringen lassen. Suhrawardi musste 1191 aufgrund seines vermeintlich häretischen theosophischen Programms in Aleppo sterben. Er übte mit seiner Mystik großen Einfluss auf den Sufismus aus. Der im spanischen Granada geborene Ibn Tufail stand im Dienste und in hohen Ehren der Almohaden – sowohl in Spanien als auch in Marokko. Er setzte sich für einen Rückzug des Individuums aus der Öffentlichkeit und aus dem Staat ein. Dies demonstrierte er in einem philosophischen Entwicklungsroman Der Lebende, Sohn des Wachenden (Haiy ibn Yaqzan). Der Roman, von Avicenna inspiriert, soll über die Übersetzung von Johann Gottfried Eichhorn zu Daniel Defoe gelangt sein und ihm als Vorlage für den Robinsonstoff gedient haben, so recherchierte es jedenfalls Ernst Bloch. Ibn Tufail schreibt die Geschichte eines auf einer tropischen Insel einsam aufwachsenden Menschen, der durch Beobachtung und Verstand die Welt erforscht, um zu belegen, dass der autonome Intellekt ausreiche, um über viele Erkenntnisschritte und über die Loslösung von den Bindungen an die sinnliche Welt letztendlich zur Gotteserfahrung zu gelangen. Der Roman ist nicht nur eine Kritik an der Vernunftskepsis al-Ghazzalis, sondern auch ein Bekenntnis zum Islam als vernünftiger Religion und sucht eine Versöhnung von Vernunft und Mystik. Kunstphilosophisch interessant ist die im Epilog angedeutete Pointe des Romans. Ibn Yaqzan trifft nach dem Gelingen seiner höchsten Einsichten auf eine Gruppe von Menschen von einer Nachbarinsel. Diese hätten die gleichen Einsichten gewonnen, allerdings nicht aus eigener intellektueller Kraft, sondern über bildhafte Zeichen. Es gibt nach ibn Tufail verschiedene Wege zu Gott je nach der Auffassungsgabe des Einzelnen und einer dieser Wege kann auch die Hilfen des Bildhaften benützen. Mit dem 1126 in Córdoba geborenen Averroës (Abu al-Walid ibn Ruschd), Universalgelehrter und Arzt, erreichte die islamische Philosophie einen Höhepunkt. Einen Abschluss – wie häufig in den Lehrbüchern konstatiert – stellte Averroës nur insofern dar, als nach ihm die aristotelische Logik und die Ontologie mit umfangreichen Methodenfragen in den Mittelpunkt rückten und weniger über das Wesen der Gotteserkenntnis selbst gehandelt wurde. Auch gab es eine Tendenz, freies philosophisches Spekulieren zugunsten einer Dogmatik in Theologie und im Rechtswesen zu unterdrücken. Sein Werk machte eine erstaunliche Karriere im wissbegierigen lateinischen Mittelalter. Auch für Thomas von Aquin, der ihn stets nur den »Kommentator« nannte, war er der wichtigste Vermittler des Aristoteles. Insbesondere die in der arabischen Philosophie immer wieder diskutierte Schnittstelle von Lichtspekulation und Erkenntnislehre spielte auch bei Averroës eine wichtige Rolle und lieferte Anknüpfungen für einen christlichen Aristotelismus und einen idealistischen Platonismus. Die Rezeption in der islamischen Welt ist hingegen weniger übersichtlich. Zwar kann die früher vertretene These, dass mit Averroës die Philosophie in liberaler Form zu einem Ende gekommen sei, mittlerweile als überholt gelten, aber die Forschungslage dazu ist ungenügend. Averroës’ Anliegen war, die Philosophie vom Koran her zu verteidigen. Von Suren wie jener: »Denkt nach, die ihr Einsicht habt«

175

Die Kultur des Islam

leitete er einen zwingenden Auftrag ab, auch theologische Fragen philosophisch zu behandeln. Nach Averroës haben die Aussagen des Koran mehrere Ebenen: Es gibt in sich selbst evidente Aussagen, aber auch solche, bei denen nicht ganz klar ist, ob sie wörtlich oder allegorisch zu behandeln seien, und solche, die philosophisch nicht bewiesen werden können, wie beispielsweise die Frage der Auferstehung. Darüber könne es legitim mehrere verschiedene Auffassungen geben. In dem Werk Die Inkohärenz der Inkohärenz (tahafut al-tahafut) wies er Ghazzalis Verdammung der Philosophie zurück und kritisierte seine Vorgänger, darunter auch Avicenna, dass sie die Philosophie relativiert und angreifbar gemacht hätten. Demgegenüber sei die aristotelische Philosophie geeignet, den theologischen Anforderungen zu genügen. Er setzte sich in einem Kommentar mit der Poetik des Aristoteles (talkhis kitab al-shi’r) auseinander. In diesem Werk zur Ästhetik knüpfte Averroës bei Avicenna an und setzte mimesis (muhaka) mit der Evokation von Bildern, der imaginatio (takhyil), gleich. In der islamischen Philosophie bezieht sich imitatio in der Regel auf imaginative Repräsentation, bei der ein reales Objekt in einer besseren oder schlechteren Form dargestellt wird. Es kann auch eine Übersetzung in eine abstrakte Sprachform sein. Mit platonischem Hintergrund wird über eine graduelle Stufung der Repräsentationsebenen räsoniert: Die Statue als Repräsentation des realen Vorbildes und die gespiegelte Statue als Repräsentation der Statue. Al-Farabi berichtet, dass viele das Spiegelbild als angemessener einschätzten. Mit seinen Thesen von der Anfangslosigkeit der Welt und der Nichtbeweisbarkeit des Weiterbestehens der Seele nach dem Tod war Averroës vielen Anfeindungen ausgesetzt. Die konservativen Almohadenherrscher in Córdoba hielten aber ihre schützende Hand über den Philosophen, der auch ihr Leibarzt war. Wie schon gesagt, trat die aristotelische Philosophie als methodisches Prolegomenon in den Koranschulen in eine dominierende Rolle. Dass es auch Kritiker dieser Entwicklung gab, versteht sich von selbst. Im 13. und 14. Jh. kam es zunehmend zu bewusster Traditionspflege (davon profitierte vor allem Avicenna), eine Entwicklung, die manche Autoren bei aller Zurückhaltung als »scholastisch« bezeichnen. Es war jedenfalls ein konservatives und selektives Vorgehen. Im osmanischen Bereich bemühte sich vor allem Mehmed II. um ein effizientes Schulwesen, was in der Architektur zur Ausbildung der Form der Medresen führte. Die Zentren waren Edirne und Bursa, wo die osmanische Kunst begann, und nach 1453 Istanbul. Im Iran wurde eine »Schule von Isfahan« bekannt, die sich mit den großen Klassikern beschäftigte und manchmal als Renaissance der Philosophie in der islamischen Welt bezeichnet wird. Besonderer Ruhm kam dem um 1630 gestorbenen Mir Damad und seiner von Suhrawardi beeinflussten Illuminationslehre zu. Noch mehr im Vordergrund stand Sadr ad-Din Muhammad Schirazi, bekannter unter dem Namen Mulla Sadra. In Die vier Reisen skizzierte der persische Philosoph und Schriftsteller vier Wege, auf denen Menschen zum Ziel der Erkenntnis gelangen können. Auch er entwarf eine Illuminationslehre mit Gott als dem Licht aller Lichter und dem dunklen Seelenteil, sodass der Mensch nach Erleuchtung streben soll. Es verbinden sich darin neuplatonische, manichäische und sufische Elemente.

Rudolph 2004, 91

Schule von Isfahan

Ebd., 99

176

Das Mittelalter

3.3.1. Kunstphilosophie und Ästhetik

Rudolph 2012

Monotheismus

Zur Kunstphilosophie und Ästhetik des Islam liegen nur wenige Arbeiten vor. Das Thema ist ein Desiderat der Forschung. Wie so oft werden Untersuchungen zur Theologie und Philosophie des Islam bei der Frage allfälliger Konsequenzen für die Kunst und Ästhetik einsilbig. Im angesehenen Standardwerk der Philosophiegeschichte, dem von Friedrich Ueberweg begründeten Grundriss der Geschichte der Philosophie, gibt es im (ersten) Band zur islamischen Philosophie im Sachverzeichnis keinen einzigen Eintrag zu den Stichwörtern Schönheit oder Ästhetik. Immerhin sind Musik und Kunst mit einigen Nennungen erwähnt. Unter Kunst ist allerdings die Philosophie (»Kunst der Künste«), Ethik (»edelste der Künste«), die ärztliche Kunst oder die Kunst der Logik gemeint. Auch zeitgenössische Äußerungen zur Kunst finden sich nur an abgelegenen Stellen, eigentliche Kunsttraktate sind so gut wie keine bekannt. Fragen der Kunst, gar des Bildes lagen immer am Rande des Interesses. Dabei waren die kunstphilosophischen Positionen sowie die Einsichten aus den Wissenschaften der arabischen Gelehrten für die Kunst Europas eine kaum zu überschätzende Quelle. Auch die Entwicklung von Kunst und Architektur beeinflusste den Westen erheblich. Hans Beltings These, wonach die islamische Kultur zwar eine (auch mathematisch) anspruchsvolle Sehtheorie, aber keine Bildtheorie entwickelt hat, ist in Bezug auf das perspektivische Bild des Westens formuliert. Wenn man die Kunst der Renaissance vor der Folie der islamischen Kunst betrachtet, sieht man, wie ambitioniert hier eine auf mathematischen Gesetzen aufgebaute Perspektivenkonstruktion, damit eine scharfe Subjektivierung, ausgearbeitet wurde, die auch das sakrale Kunstwerk einschloss, etwas, was für den Islam (wie übrigens auch für die byzantinische Sakralkunst) undenkbar gewesen wäre. Trotzdem darf man die sich auch im Islam durchhaltende Freude am Bild nicht übersehen. Wenn man die Äußerungen der Philosophen zu Kunstphilosophie und Ästhetik zu sammeln versucht, sind das in erster Linie Bausteine einer Sehtheorie sowie eine ausgefeilte Lichtphilosophie, die in einer großen Klammer Mystik und Erkenntnislehre umschloss. Im letzten Kapitel wurde bereits auf kunstphilosophische und ästhetische Themen innerhalb der philosophischen Positionen hingewiesen. Darunter Äußerungen zur Lichtästhetik, zur Inspiration und Musik bei al-Farabi und ausführlich zur Lichtphilosophie und Poetik bei Avicenna. Bei al-Ghazzali kommt ein empirischer Aspekt ins Spiel, wenn er von der Freude am sinnlichen Empfinden der Schönheit spricht. Im Folgenden sollen nun einige Aspekte einer arabischen Ästhetik und Kunstdeutung sowie einige kunstphilosophische Schwerpunkte im mittelalterlichen Islam angesprochen werden. Über jedem künstlerischen Schaffen schwebte naturgemäß die große theo­ logische Metaerzählung eines strengen Monotheismus (am schärfsten Sure 112) und der damit verbundenen Undarstellbarkeit Gottes. Die frühe Koranexegese war sich uneinig über die Art einer visio beatifica Gottes. Sure 42 (52) lehrt, dass Gott hinter einem Schleier verborgen bleibt, und in den Hadithen ist von einem Vorhang aus Finsternis oder Wasser die Rede. Das ist ein Motiv, das es ähnlich im Judentum

177

Die Kultur des Islam

und im vornizäanischen und monophysitischen Christentum gab und das dort ein langes Leben neben der zur Orthodoxie erklärten nizäanischen Theologie führte. Der strenge Monotheismus im Islam kannte keine Inkarnation, keinen Sohn des göttlichen Vaters, der sich wenigstens in seiner Menschengestalt hätte darstellen lassen. Es gab überdies keine Kirche als »mystischen Leib« des Gottes, damit als ständigen Impuls der Sichtbarmachung. Der islamische Monotheismus war stark zentriert auf den Aspekt des Schöpfergottes. Der Gedanke des Zweitschöpfers Mensch, wie er im christlichen Mittelalter in einer aufwendigen metaphysischen Konstruktion artikuliert wurde, hätte zwar bei den wichtigen islamischen Philosophen vermutlich durchaus Ansatzpunkte gefunden. Ausgehend von wenigen Bemerkungen im Koran, aber zahlreichen Hinweisen in den Hadithen wurde der Künstler, der beseelte Wesen (Mensch und Tier) darstellte, jedoch als Konkurrent des Schöpfers gesehen und als Plagiator denunziert. Einen Ausweg fand der Künstler dadurch, beseelte Wesen gleichsam in die Dekoration oder in die Schrift aufzulösen. Die arabische Schrift mit ihrer hohen ästhetischen und ornamentalen Qualität bot dazu einen idealen Rahmen. Ein zentrales Kapitel islamischer Ästhetik ist die Lichtphilosophie. Sie ist weitgehend aus griechischen Vorlagen übernommen und reicht weit in die Erkenntnislehre. Avicenna und al-Farabi zogen eine klare Verbindung zwischen Lichtemanation und Erkenntnislehre. Das Licht der Sonne führt das mögliche Sehen in ein wirkliches Sehen und das Licht des Mondes den intellectus possibilis in den intellectus agens über. Es gibt eine abwärts gerichtete, Ideen aussendende Bewegung und eine Rückkehr über verschiedene Stufen des Erkennens bis zur Verähnlichung mit dem Licht selbst. Der christliche Arzt Hunain ibn-Ishaq, Schüler eines nestorianischen Christen und ein polyglotter »weinseliger, sich täglich parfümierender Lebemann«, war nicht nur ein Übersetzer (v.a. Aristoteles, Hippokrates und Galen), sondern entwickelte im Anschluss an den griechischen Arzt Galen eine Optik und Sehtheorie. Dazu musste erst eine arabische Terminologie für die griechischen Ausdrücke entwickelt werden. Auf die geometrische Optik nach den Vorgaben der kosmischen Harmonielehre des al-Kindi wurde bereits im letzten Kapitel hingewiesen. Nach al-Kindi sendet das Auge Lichtstrahlen aus. Die Schau (visio) ist damit als aktives Geschehen interpretiert. Es sind die Sehstrahlen des Auges, welche die Gegenstände fixieren. Ein Einfluss dieser Überlegungen auf die Oxforder Schule wird vermutet. Der wichtigste Vertreter einer Lichtphilosophie und Sehtheorie war der oben bereits kurz erwähnte Alhazen. In knapp 100 ihm zugeschriebenen Büchern beschäftigte sich der in Bagdad ausgebildete Alhazen mit der euklidischen Geometrie, mit Planetentheorien, mit Optik und vielen anderen naturwissenschaftlichen Fragen, deren Ausarbeitung er auf der Grundlage von empirischen Experimenten durchführte. Er war überzeugt, dass er mit den Ergebnissen aus seinen Versuchsreihen die griechische Wissenschaft bei weitem überflügelt habe. Ein Ergebnis seiner optischen Experimente zur Lichtreflexion und Lichtbrechung von Spiegeln, Linsen und der Luft war die Erfindung der camera obscura, damals eine zimmergroße Lochkamera, bei der das durch ein Loch eindringende Licht

3.3.2.

Lichtphilosophie

Hedwig 1980, 97

Roeck 2017, 158 Optik und ­Sehtheorie

Hedwig 1980, 100 8.3.

178

Das Mittelalter

VIII.3.1.2.

VI.5.1.

Belting 2008, 118f

Ebd., 113

Hedwig 1980, 103

3.3.3.

auf der gegenüberliegenden Seite ein auf dem Kopf stehendes Bild erzeugt. Neben den empirisch gewonnenen Ergebnissen popularisierte er die Geometrie. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass die Geometrisierung der arabischen Ornamentik in die Lebenszeit Alhazens fällt. Der theoretische Teil dieser Arbeiten basierte auf einer Synthese von Euklid, Ptolemaios und Aristoteles in platonisierendem Umfeld. Er publizierte ihn in seinem Hauptwerk Kitab al-Manazir (Buch der Sehtheorie; 1028). Das Buch erschien später unter den Titeln Perspectiva und (zutreffender) Optik. Es war besonders in Andalusien weit verbreitet und wurde wohl dort auch um 1200 übersetzt. Alhazens optische Theorie kam auf diese Weise ins westliche Mittelalter und bildete in der Renaissance die Grundlage für die Bildtheorie der Perspektive. Für Alhazen ist das Licht dasjenige, was die Welt beherrscht und es ist nach den Gesetzen der Geometrie organisiert. Das reine Licht ist körperlos und geometrisch, jedes Licht, das die Dinge der Welt beleuchtet, ist hingegen abgeleitet und akzidentell. Himmlische Körper seien transparent, irdische Körper hingegen schwächen die Reinheit des Lichts. Er verstand das Licht zwar nicht körperlich, aber dennoch als den physikalischen Gesetzen unterworfen, verortete es also nicht mehr nur außerweltlich. Hier spielte sein empirisches Interesse eine Rolle. Die Entstehung eines Bildes im Auge erklärte Alhazen mit einer ausgefeilten physiologischen Theorie über den Aufbau des Sehorgans. Aber Alhazens Lichttheorie ist zugleich eine Theorie der Schönheit, insofern das reine Licht – auch jenes der Himmelskörper – reine Schönheit ist und abgeleitete, sinnliche Schönheit erzeugt. »Umgekehrt enthüllten sich gerade im Licht jene mathematischen Gesetze, die den Kosmos regieren, in ihrer abstrakten Schönheit.« Es ging dabei nicht nur um das weiße Licht, schön seien auch die leuchtenden Farben. Schon al-Nazzam hatte nach antiken Vorbildern und in Fortführung von sensualistischen Wahrnehmungstheorien im Scheinen der Körper die Farbe verortet. Das Licht unserer Augen verbindet sich mit dem Licht der Körper. Es gab aber auch Philosophen, die jede Farbe auf die Paarung schwarz/weiß reduzierten. Für die Wahrnehmung der Schönheit im vergleichenden Sehen postulierte Alhazen eine Urteilskraft, die Bilder erzeugt, denen in der Außenwelt kein Signifikat entspricht. »Der ›Anblick‹ (aspectus) des Gegenstandes vollendet sich in der intuitio.« Alhazen ist ein exzellentes Beispiel für die Kraft einer eigenständigen arabischen Syntheseleistung auf der Basis der antiken Theorien. Insbesondere wird an ihm auch klar, dass sich Mathematik und Ästhetik nicht voneinander trennen lassen, dass vielmehr hinter der Dekorkultur des Islam eine komplexe Geometrie stand. Diese Geometrie fand sich auch in der Schrift, insbesondere im geometrischen Schriftenkanon, der um 1000 in Bagdad entwickelt wurde, sich ab dem 12. Jh. über den Knotenstil zum geometrisierten vegetabilen Ornament im 13. Jh. entwickelte, das man in der europäischen Renaissance Arabeske nannte. Hans Belting, der die Bedeutung Alhazens für die kulturgeschichtliche Tradition, insbesondere für den Beginn der Neuzeit, zu Recht herausgestellt hat, sieht in der arabischen Kultur die Entwicklung eines körperlosen geometrischen Sehens, »das zu allen antiken Vorstellungen in einem vollständigen Kontrast stand.« Er nennt die

179

Die Kultur des Islam

Geometrie ein »Thema der Kunst mit eigenem Recht«, während sie in der Renaissance auf das Bild hin funktionalisiert wurde. Das trifft den vielleicht wichtigsten Punkt der Differenz zwischen islamisch-arabischer und westlicher Kultur, aber Beltings Beobachtung muss ergänzt werden durch den Hinweis, dass diese Sehkultur den Spuren platonischer Sicht eng folgt. Geometrie war bei Platon die Weise des Erscheinens des an ihm selbst unzugänglichen Göttlichen, also im Sinne Beltings ein Thema mit eigenem Recht. Gerade weil Licht, Ornament und Mathematik sich schon grundsätzlich, besonders aber in der arabischen Kunst nicht trennen lassen, war kunstphilosophisch der Platonismus mit seiner Ablehnung der Mimesis und seiner Körperskepsis für den Islam noch interessanter als für das Christentum. Platons Mathematisierung und die von ihm beschriebene Struktur einer prozesshaften Darstellung (im Schönen) des Undarstellbaren (»jenseits jeder Seiendheit«) wäre ein überzeugender philosophischer Hintergrund für die von Hans Belting als besonders prägnant herausgegriffene Verbindung von geometrisch gebildete Schrift mit dem Ornament (nuqusch) sowie für die Dekorationsformen der Muqarnas und der Mashrabiyyas. Der Bedeutung des Ornaments angemessen, wird darauf in 3.3.3. ausführlicher eingegangen werden. Im 13. Jh. erlebte die islamische Mystik mit dem Einfall der Mongolen, die den neuen Glauben annahmen, einen Aufschwung. Der Mystiker galt als der Arme (faqir, persisch: darvisch) und Kuttenträger (Sufî). Ähnlich wie in der westlichen Mystik ging es um die Vereinigung mit Gott, in der Regel unter der Anleitung eines Meisters. Der Sufismus war über weite Strecken eine mystische Variante neuplatonischer Geistigkeit. Man sammelte sich in ordensähnlichen Gruppen, den Derwischorden. Diese Orden kannten eine Heiligenverehrung, eine für die sunnitische Orthodoxie umstrittene Angelegenheit. Für die Ästhetik ist diese Mystik hingegen höchst interessant. Wie kaum sonst irgendwo setzte die islamische Mystik das um, was Rudolf Otto mit dem tremendum und faszinosum des Religiösen gemeint hat. Die Wirkung des Koran lag keineswegs nur an seinem Inhalt, sondern an der faszinierenden Schönheit seiner poetischen Sprache und an seiner ästhetischen Ausdruckskraft. Nach Berichten konnte die Wirkung von Koranrezitationen so intensiv sein, dass sie zum Tod von Rezipienten führte. Auf dieser Grundlage wurde der Koran auch für therapeutische Zwecke und zur Narkotisierung von Patienten bei Operationen eingesetzt. Eine zupackendere Umsetzung der aristotelischen katharsis im Bereich der Literatur, sowie der Expression im Bereich der Kunst ganz allgemein, lässt sich wohl kaum finden. Einen fruchtbaren Deutungsversuch der islamischen Ästhetik brachte Alexandre Papadopoulo in die Diskussion. Er unterschied zwischen der dargestellten und der autonomen Welt in der Kunst. Die dargestellte Welt meint das in den Kunstwerken dargestellte Thema, also das, was man allgemein unter den mimetischen Anteil verstehen könnte. Ein solches thematisches Motiv war nicht selten eher einfältig, sodass sich daran kaum eine anspruchsvolle ästhetische Wahrnehmung anschließen ließ. Was den ästhetischen Reiz ausmachte, war die Art der Darstellung, der Klang der Sprache und die autonome Welt der Farben und Formen, das also, was Papadopoulo

Belting 2008, 126

Ornament

islamische Mystik

Otto 1917

Kermani 1999, 366ff III.2.4.3.3.3./X.2.2.3.

180

Das Mittelalter

X.2.5.

Kermani 1999, 220

Papadopoulo 1977, 127

Ebd., 99–106 I.3.4./I.4.3.1.

Ebd., 129

als autonome Welt der Kunst bezeichnete. In der zeitgenössischen Ästhetik-Dimension meint das den expressiven Teil der Kunst und verweist auf den selbstreferentiellen Anteil der Kunst. Diese Einteilung konnte in der Tat die Schönheit der Dichtung, namentlich der Rezitation des Koran, die in der muslimischen Welt eine erhebliche Rolle spielte, gut abbilden. Das ging so weit, dass das Hören des Koran ein Wert an sich ist, »es geht nicht oder wenigstens nicht ausschließlich um ein mentales Begreifen der inhaltlichen Bedeutung. Wichtig ist zunächst das sinnliche, und das bedeutet primär: das akustische Aufnehmen.« In der Praxis war es meist so, dass sich die (vordergründig) dargestellte Welt der selbstgesetzlichen (in dieser Diktion: autonomen) Welt der Kunst unterwarf. Das ist jedenfalls eine Erklärung für eine der islamischen Kunst inhärente Tendenz zur Abstraktion: »Daher bilden die Wolken Arabesken und gleichgewichtige Flammenlinien.« Die Priorität der autonomen Welt hilft zudem, diverse Organisationsmuster im Bildaufbau zu verstehen. Eine große Rolle dabei spielt die Spiralform mit all den mystischen Konnotationen, welche die Spirale von Anbeginn an in sich trägt. Alexandre Papadopoulo gelingt mit seiner These ein Brückenschlag von der Mimesis zur ornamenthaften Abstraktion und ein eindrucksvoller Hinweis auf den ästhetischen Sinn solchen Handelns: »So bezeugt eine Miniatur durch den Glanz ihrer Farben, durch die Polyphonie ihrer Beziehungen, durch die Schönheit dieser durch menschliche Gesichter und mathematische Kurven geordneten Welt, durch ihr Wesen selbst die Schönheit und folglich Gott. […] Damit hat der Maler, dessen Kunst die Theologen verdammt hatten, diese dank der ästhetischen Revolution, die wir zu beschreiben versucht haben, nicht nur erlaubt gemacht, es ist ihm gelungen, sie als bevorzugten Zeugen des göttlichen Werkes einzusetzen, nicht durch die Welt, die er darstellt, sondern durch ihr eigentliches Wesen, durch die ›autonome Welt‹, in der Formen und Farben in sicherer Ordnung zusammentreffen.« Zu ergänzen wäre allenfalls, dass sich diese Beschreibung auch auf die byzantinische Kunst anwenden lässt und dass man kaum treffender als durch diese Sätze des französischen Kunsthistorikers den ästhetischen Sinn des Vermächtnisses Platons ausdrücken kann.

3.3.2. Das Bilderverbot Eine komplexe Frage ist jene nach dem Bilderverbot in der islamischen Kunst. Dieses ist weit weniger ausgebildet als vielfach kolportiert. Die frühislamische, umaiyadische Kunst schwelgt ohnehin im Bilderreichtum der Spätantike. Aber auch in der weiteren Geschichte blieb das Bild stets präsent, vor allem in der Buchmalerei, der Metall-, Münz- und Teppichkunst. Allein im Kultraum ist eine klare Vermeidung des Bildes zu beobachten. Im Koran findet die Bilderfrage kaum Erwähnung. Bei drei einschlägigen Suren (Koran 5,91ff; 6,74; 22,31) geht es eher um Stellungnahmen gegen den Polytheismus mit seinen Götzenbildern und um Genusssucht. An einer anderen Stelle (Koran 82,7f) steht die Erschaffung des Menschen im Vordergrund.

181

Die Kultur des Islam

Ein ausdrückliches Bilderverbot wird an keiner Stelle des Koran erlassen. Hans Belting führt das darauf zurück, dass der Koran nicht im Kontext von Rom und Byzanz, sondern in jenem der eigenen Stammeskulturen mit einem bereits widerlegten Götzendienst spielt. Erstaunlich bleibt also eher, dass Mohammed, der die Lehre der Juden gut kannte, das dort formulierte Bilderverbot ausdrücklich nicht aufgenommen hat. Vielmehr äußern sich einige Stellen im Koran durchaus positiv über das Bauen und das Handwerk, oft in Zusammenhang mit König Salomo, dem großen Baumeister, dessen Handwerker als »gute Geister« bezeichnet werden. Davon ließen sich einige bilderfreundliche Gelehrte leiten, berichtet uns später al-Qurtubi. Der Grammatiker Abu Ali al-Farisi sah ein Bilderverbot nur für die Darstellung Gottes, nicht für andere Lebewesen. Manche Suren wiederum sind widersprüchlich. In Sure 27 (45) wird Werken der Architektur zugesprochen, dass sie Staunen und Bewunderung auslösen sollen, andererseits werden sie als Illusion und Lüge abqualifiziert. Und es gibt auch einige Stellen, die man mit konkreten Beispielen von Architektur und Kunst in Verbindung bringen könnte. In den Hadith-Sammlungen gibt es greifbarere Aussagen zur Bilderfrage. Das Argument, dass diese Sammlungen erst in späterer Zeit entstanden und eine zunehmende Distanz zum Bild widerspiegeln, ist fraglich, denn sie waren Ende des 8. Jh.s bereits fertig. Dann wäre wohl von einem Kontext, der sich bis auf Mohammed zurückverfolgen lässt, auszugehen. Das relativiert auch die These Tryggve Mettingers, der in der Doktrin des Bilderverbots eine nachträgliche philosophische Rechtfertigung für das Fehlen des Gottesbildes in einer jahrhundertelangen Kultpraxis im Orient sieht. Oleg Grabar vertrat die Meinung, die Bilderabneigung im Islam sei aus dem Bewusstsein einer fehlenden einheitlichen Ikonographie entstanden. In der direkten Konkurrenz mit dem Christentum verfügte dieses über den Vorteil eines ausgefeilten Zeichensystems. Im Übrigen polemisierte der Islam zwar gegen die Symbole des »Polytheismus« im Christentum, aber nur in Ausnahmen gegen das christliche Bild. Ob ein als bilderfeindliches Edikt gehandelter Brief des Kalifen Yazid II. an den Statthalter von Fustat (Kairo) im Jahr 721 sich tatsächlich gegen die christlichen Bilder oder nur gegen die pharaonischen Bildwerke richtete, ist unklar. Folgt man diesen Überlegungen, könnte man in der Wahl kalligraphischer Darstellung – al-Malik ließ erstmals Münzen mit einer Gott und den Propheten verherrlichenden Schrift prägen – einen Schachzug sehen, ein eigenes Label zu kreieren. Faktum bleibt, dass es nie eine Bebilderung des heiligen Buches Koran gegeben hat, dass die islamische Kunst keine Skulptur geschaffen hat, nie zum naturalistischen Porträt fand – die osmanischen Kalifen pflegten, ihre Porträts von westlichen Malern anfertigen zu lassen – und dass die islamische Kunst in stilistischer Hinsicht der byzantinischen nicht unähnlich war: kein Naturalismus, kein Illusionismus wie Perspektive, Licht-Schatten, Proportion, individuelle Züge. Das war keineswegs Unkenntnis der Künstler, wie dies lange Zeit in der Kunstgeschichte kolportiert wurde, sondern eine bewusste (theologisch inspirierte) Option oder aber die Üblichkeit von an der byzantinischen Malerei geschulten Künstlern.

Belting 2008, 75 II.3.2.6. Koran 34,11ff

Naef 2007, 22

Grabar 2005a, 85–104

Mettinger 1995

Grabar 1977a, 99ff

182

Das Mittelalter

Naef 2007, 12–33 Franz 1984b, 95ff zit. nach Paret 1976, 162

Papadopoulo 1977, 271f

ibn Abbas, zit. nach Hillenbrand 2004, 95

Ettinghausen 1962, 97ff

Papadopoulo 1977, 54

Die Ablehnung des Bildes, wie sie in den Hadithen argumentiert wird, gründete sich auf die erwähnte Sure 82 (7f), also auf den Status Gottes als Schöpfer und Bildner (Koran 3,7; 7,12; 40,68). Das arabische musawwir bedeutet sowohl Künstler als auch Schöpfer. Gott erscheint als erster und exklusiver Künstler. Ein Maler oder Bildhauer demgegenüber plagiiere das Schöpfungswerk Gottes und beleidige ihn dadurch. Dies gilt für das Bild – insoweit es Lebewesen (dazu gehören Menschen und Tiere, nicht aber Pflanzen, denen der Lebensodem fehlt) darstellt. In einem Hadith heißt es dazu: »Wer ist frevelhafter, als wer sich anschickt, zu schaffen, wie ich (Gott) schaffe […].« Al-Mudschahid und an-Nawawi waren Vertreter einer extrem bilderfeindlichen Partei, die sogar einen skurrilen Streit um Puppen für Kleinkinder vom Zaun brachen. Es scheint hier einen großen Unterschied zu geben zwischen der Rolle des Künstlers im Orient und dem westlichen Genie. Doch in Wahrheit täuscht dieser Eindruck. Wie an mehreren Stellen gezeigt, ist das Genie im Westen über weite Strecken eine Strategie der Entmächtigung. Erlaubt ist ihm die Verbesserung der Welt nach den Ideen des Idealen und der göttlichen Wahrheit. Einen solchen Gedanken gab es auch in sufistischen Kreisen im Islam. »Die Sufis glauben an den ästhetischen Gottesbeweis. Jeder schöne Gegenstand, eine Rose, ein Gedicht, eine Malerei und eine Moschee, wird Zeuge, sahid, der absoluten Schönheit, das heißt Gottes. Man könnte das einen platonischen Standpunkt nennen! Der Architekt, der Maler, der Keramiker arbeiten an der Errichtung eines Zeugen, eines Beweises Gottes.« Im Allgemeinen wurden – ähnlich wie im Judentum – Bilder toleriert, wenn man auf ihnen saß oder auf sie trat, also als Kissenüberzüge oder Teppiche, aber sie durften nicht im Umfeld des Gebetsortes auftreten. Eine Möglichkeit war, die Formen von Tieren zu abstrahieren und zu stilisieren, sie praktisch in Dekoration aufzulösen. Offenbar ganz gemäß dem Auftrag an die Künstler des frühen Koranexegeten ibn Abbas: »Du musst die Tiere enthaupten, sodass sie nicht zu leben scheinen und versuchen, sie darzustellen wie Blumen.« Auf den fehlenden Inkarnationsgedanken wurde bereits hingewiesen. Zum Unterschied vom Christentum gab es damit weder eine Handhabe für die bildliche oder skulpturale Darstellung Gottes noch eine für die Verkörperung der Kirche. Die Kunst im Islam wurde daher zum Unterschied vom Christentum vor allem eine profane. Dort allerdings gab es eine große Tradition arabischer Malerei, insbesondere als Buchmalerei, die im 13. Jh. vor allem in Bagdad ihre Unabhängigkeit und größte Blüte erreichte. Noch zu dieser Zeit waren byzantinische Vorbilder für die arabischen Künstler wichtig. Gar keinen Anhaltspunkt findet man im Koran oder in den Hadithen für ein Verbot der Darstellung Mohammeds, wie dies einer weit verbreiteten Meinung entspricht. Auch wenn in den ersten Jahrhunderten Mohammed-Abbildungen kaum vorhanden sind, gilt spätestens ab dem 13. Jh.: »Die Darstellung von Propheten und Heiligen wurde durch nichts mehr behindert, selbst in Ländern streng sunnitischer Observanz wie der osmanischen Türkei sind sie zahlreich zu finden.«

183

Die Kultur des Islam

3.3.3. Arabeske und Ornament Wie bereits mehrfach erwähnt, spielt in der islamischen Kunst die Ornamentik eine zentrale Rolle. In ihr verdichten sich Geometrie und Lichtmystik und sie erfuhr eine aufmerksame und nachhaltige Rezeption. Es war Alois Riegl, der auf die Geometrie der Arabeske, des geometrisierten vegetabilen Ornaments, das im 13. Jh. entwickelt wurde, hinwies und ihr einen unendlichen Rapport zuschrieb. Diese Eigenschaften werden der Arabeske als besondere Eigenheiten zugeschrieben, durch die sie sich von spätantiken Dekorformen unterschied. In ihrem Formenrepertoire befanden sich Akanthus- und Weinblätter- sowie Traubenmotive, im 14. Jh. kamen weitere Formen dazu. Die Arabeske war jedoch nur ein Bestandteil der umfangreichen Ornamentik. Das Ornament hat, formal und generell betrachtet, anscheinend keinen Referenten. Es überbringt keine Botschaft. Immanuel Kant deutete das Ornament als eine »freie Schönheit«. Es erfüllt den Zweck einer interessenfreien Schönheit, einer Schönheit ohne Reiz und Rührung, nachgerade ideal. So wie »eine Menge Schaltiere des Meeres« für sich Schönheiten sind, »die keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks bestimmten Gegenstande zukommen, sondern frei und für sich gefallen. So bedeuten die Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen, oder auf Papiertapeten u.s.w. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.« Die Freiheit vor jedem Zwang nach Mimesis macht das Ornament zu einem idealen Anwendungsfall eines reinen Geschmacksurteils. Karl Philipp Moritz, Professor an der Akademie für Kunst und Gewerbe in Berlin, warnte in seiner Schrift Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente davor, Arabesken wie Hieroglyphen zu deuten. Vielmehr handle es sich dabei um zweckfreie Zeichen, die nach Moritz als Abgrenzungen autonomer Kunst dienen können. Doch eine solche Deutung aus einer »wechselseitigen Beglaubigung von Kunstautonomie und Anthropologie, welche die Form letztendlich vom Inhalt löst«, leitet sich vom westlichen Gebrauch des Ornaments ab und selbst in diesem Rahmen bleibt sie unbefriedigend. Das Ornament in der arabischen Kunst hat durchaus eine erhebliche Anzahl von Bedeutungszuschreibungen. Insofern kann man sagen, dass die islamischen Ornamente gerade keine »[…] unwichtige sogenannte ›Verschönerungskünste‹ sind, sondern ganz im Gegenteil einen der beiden wichtigen Wege darstellen, der es der reinen Geistschöpfung möglich macht, sich durch die bildnerische Sprache in verschiedenstem Material auszudrücken. Die Arabeske hat ihren Ursprung in einem Taumel des Geistes vor allen Möglichkeiten des Spiels der Linien.« Alexandre Papadopoulo verglich das Ornament mit Musik und beschrieb eindrucksvoll die Wirkung von mit Fayencen mit kalligraphischen und ornamentalen Motiven ausgekleideten Gebäuden, die dadurch in »riesige gemalte, illuminierte und kalligraphierte Oberflächen« verwandelt wurden, wie Architektur für die muslimischen Architekten anscheinend vor allem eine »Kunst nur durch ihre Oberfläche, ihre Haut aus Mosaik, Stuck, Fayence oder Marmor, […]« war. Zwar mag das Ornament akzidentell sein, aber es kann einem Gebäude oder einem Gegenstand eine völlig neue Funktion und eine bestimmte Kommunikati-

Arabeske

GE I, 65f Belting 2008, 50

Kant 1790, B 49

VII.4.2.4.1./X.2.5./X.3.4. Schneider 2000, 340

Papadopoulo 1977, 20

Ebd., 24 Ornament

184

Das Mittelalter

Belting 2008, 88 Necipoglu 2005, 103

X.1.3.2.3.

4.1.

Grabar 2006b, 67 Kalligraphie

294 KalligraphieSchreib­utensilien (19. Jh.); TIAM

Belting 2008, 92 Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 82

Grabar 2006b, 67

onsrichtung geben, kann es also mit Bedeutung aufladen. Dabei bleibt das Ornament immer Mittel zum Zweck. Schließlich kommt dazu, dass sich in der islamischen Kunst das Ornament mit einer mathematischen Geometrisierung verbindet und zu einem eigenständigen Zeichensystem wird. Hans Belting deutet das geometrische Ornament als kosmisches Zeichensystem, »in welchem der Betrachter seine Augen diszipliniert und zugleich anregt.« Wenn man dem geometrischen Knotenstil (pers. girih), der ab dem 12. Jh. der Vorläufer der Arabeske war, geradezu die Funktion zusprach, das Auge von Sinnlichkeit zu reinigen, könnte man dies in gewisser Weise als Funktion der gesamten Ornamentik so sehen. Das Ornament darf nicht verwirren, es muss beruhigen. Es löst in einem bilderlosen (um nicht zu sagen: gegenstandslosen) Sehen eine visuelle Meditation aus. Daher hat das Ornament auch eine kathartische Wirkung und einen anagogischen Verweischarakter. Eine solche Deutung lässt sich für alle einschlägigen Oberflächen in Architektur und bildender Kunst, namentlich auch für die Teppichkunst, anführen. Solche Deutungen sind für die Betrachtung des Formproblems spannend. Form ist hier keine Hülle eines Inhalts, sondern wird gleichsam selbst zum Inhalt. Inwieweit das Gesagte auch für andere, außerislamische Dekorformen, etwa jene der Kunst der Völkerwanderungszeit, angewandt werden kann, sei dahingestellt. Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht zuletzt von einer Sichtung der Austauschvorgänge zwischen dem Orient und Irland ab und setzte eine Erklärung der Ornamentik der neuen Völker voraus, wovon die Kunsthistorikerinnen jedoch weit entfernt sind. Wo ist die Grenze zwischen Ornament und Darstellung? In der Kunstgeschichte wurde mehrfach versucht, diese Frage anhand der Fassade des Mschatta-Palastes (Pergamonmuseum Berlin) zu explizieren. Die umfangreiche und großflächige Ornamentik könnte bedeuten, »dass die Fassade eine andere Bedeutung hat als ornamental zu sein.« Da sich die versuchten Deutungen nicht auf einen eindeutigen Referenten beziehen können, hat sich auch keine als allgemeingültig durchsetzen können. Den umgekehrten Fall findet man in der Kalligraphie. Aus der Schrift, die etwas bedeutet, wird ein Ornament, was so weit ging, dass für eine schöne Form manchmal die Orthographie vernachlässigt wurde. Schrift wurde zur Kunst und bot einen sinnlichen Genuss. Eine Büchersammlung wird derart zur Kunstsammlung. »Die Schrift verwies auf ihre eigene Schönheit.« Die Unterschriftzüge der osmanischen Sultane (Tugras) könnten dann als »zweckfreie, absichtslose Kunstgebilde« gesehen werden. Die Lesbarkeit geht nicht gänzlich verloren, erschließt sich aber wesentlich schwieriger. Oleg Grabar versucht, das Problem mit folgender Definition in den Griff zu bekommen: »Ornament ist jener Teil eines Kunstwerks, der dort, wo er ist, einen Sinn ergibt, zugleich aber von einem Ort zum anderen verschoben werden kann, ohne seine Bedeutung oder seine Wirkung zu verändern.« Er sieht außer in der Kalligraphie (und in einigen Bereichen des Sufismus) in der Ornamentik kein ernst zu neh-

185

Die Kultur des Islam

295 Tughra von Sultan Ahmed I. (1604); TIAM Belting 2008, 228

Papadopoulo 1977, 193 Grabar 1973, 210f

Papadopoulo 1977, 170

Ebd., 65–72

Grabar Oleg in ­Hattstein/Delius 2005, 46

Muqarnas und Mashrabiyyas

Montesinos 1987 296 Muqarnas in einem Mihrab



mendes visuelles Symbolsystem. Dem steht die Meinung Hans Beltings gegenüber, der die Geometrie als symbolische Form versteht. In der Tat kann man in Kalligraphie und Dekorkunst, in der sich eine fortgeschrittene optische Theorie mit der Geometrisierungsmotivation des in der islamischen Philosophie rezipierten Platon traf, durchaus ein spezifisches Zeichensystem islamischer Kunst sehen. Die Übereinstimmung mit Platons geometrischer Ambition ist auch vielen Kunsthistorikern nicht verborgen geblieben: »Durch ihren geometrischen Aspekt und durch ihre mathematische Rationalität wie durch die Gleichheit der Formen in jedem Material bei den verschiedensten Funktionen der Objekte, auf denen sie aufscheint, entsprach so die abstrakte islamische Kunst genau dem platonischen Ideal. Und das ist nicht überraschend, denn der Platonismus stellt das ›Leitmotiv‹ der islamischen theologischen und mystischen Spekulationen dar.« Ist demnach auch die Ornamentik eine Umcodierung von Vorlagen? »Although it is less clear whether Muslim piety can really explain the complexities of Islamic ornament, such a hypothesis can be advanced.« Grundsätzlich lassen sich nahezu alle verwandten Formen der islamischen Ornamentik auf ältere Vorlagen zurückführen: »[…] mit Ausnahme der Kalligraphie [waren] alle von der nichtfiguralen islamischen Kunst angewandten Elemente bereits im hellenistischen, griechisch-römischen und byzantinischen Dekor vorhanden […] und […] ein Teil des Ornamentvokabulars von Syrien-Mesopotamien und Ägypten […].« Alexandre Papadopoulo vertritt sogar die These, dass die meist christlichen Kunsthandwerker die Symbole ihrer Religion in die Mosaiken und Malereien einfließen ließen. Dekoration bedeutete in der islamischen Kunst also mehr als bloßer Schmuck. Neben einer mystisch-anagogischen Wirkung kann man in der Ornamentik auch eine theologische Intention sehen. Demnach wäre die Ornamentik als eine »Widerspiegelung einer philosophischen Aussage über das Wesen der Realität« zu lesen. Die islamische Ästhetik mit ihrem Zug zur Abstraktion erschloss gleichsam eine Welt fern des Realismus. Sie wurde zu einer Möglichkeit der abstrakt-geometrischen Darstellung des Undarstellbaren, des unerreichbaren Gottes, beispielsweise in Form des göttlichen Lichts. Insofern ist das Ornament, dort wo es einer avancierten Programmierung folgt, auch als Kunst zu werten und nicht als bloßes Handwerk. Das gipfelt in den Dekorationsformen der Muqarnas und Mashrabiyyas. Die Muqarnas sind dreidimensionale stalaktitartige Dekorformen, die in Gewölben und Nischen als Honigwabenstruktur zur Anwendung kamen. Ihr Name leitet sich möglicherweise vom griechischen koronis (gekrümmt, krummer Schlussschnörkel) ab. Sie folgen komplexen geometrischen Konstruktionen mit Rotations- und Reflexionsachsen und bieten dadurch außergewöhnliche visuelle Effekte, insbesondere Lichteffekte. »Mit dem Verzicht auf die Gestalt scheinen die Künstler zugleich auf das Leben zu verzichten; dennoch haben sie eine Art Kosmos erschaffen, in dem das Abstrakte mit dem paradoxen Attribut der Bewegung versehen ist. Wenn das Auge diesen Dekor eine Zeitlang fixiert, scheint es, als ob

186

Das Mittelalter

Papadopoulo 1977, 191

Grabar 2005a, 73 Belting 2008, 222 GE III, 25

Grabar 2005a, 84ff Belting 2008, 228

Ebd., 274

VI.4.2.1. Ebd., 131

die Kreise, Polygone, reich gelappten Verschlingungen sich drehen wie nächtliche Fiebererscheinungen, während die winzigen Rosetten, die Blumen, die Spiralen, die isoliert die Zwischenräume einnehmen, sich diesem Tanze entziehen.« Oleg Grabar bringt die Materie auflösende Wirkung der Muqarnas ins Spiel. Im 11. Jh. tauchten die Muqarnas im gesamten islamischen Bereich auf, sodass ihre Entstehung vielleicht schon ins 10. Jh. zurückreicht. Über ihre genauere Herkunft und Bedeutung wird viel gerätselt. Immerhin ist auffällig, dass ihre erste Verbreitung in die Zeit al-Farabis und Alhazens, also der ersten Mathematikerschulen fällt. Die breite Anwendung in allen Architekturformen legt nahe, sie »für etwas Essentielles« in der islamischen Kultur zu halten. Sie werden als »Aushängeschild der geometrischen Phantasie« und als »Manifestation von Basisprinzipien einer islamischen Ästhetik« angesehen. Immer wieder wird mit ihnen jedenfalls jene Bedeutung verbunden, die man der Kuppel zuschrieb, die Himmelssymbolik. Für die Moschee wären solche Symboliken leicht zu akzeptieren. Schwieriger ist es, damit auch die verbreitete Anwendung bei Profanbauten zu verbinden. Grabars Erklärungsversuch, es handle sich um eine omnipräsente Mahnung, dass alles Menschengemachte gegenüber der Kraft des Göttlichen vorläufig sei, wäre ein möglicher Schlüssel. In den Muqarnas »ist die Geometrie eine Symbolische Form geworden, so wie es im Westen die Perspektive im Bild war.« Eine kunstphilosophisch ähnlich ergiebige Architekturform sind die Mashrabiyyas. Die kunstvollen geometrischen Fenstergitter trennen an der Schwelle von Innen und Außen den subjektiven Blick von der Außenwelt ab. Das Fenster ist keine Öffnung für den Blick, sondern ein Schirm für das Licht. Die Gitter machen zwar das Licht sichtbar, dem Auge versagen sie aber den Blick in den Raum. »Das geometrische Gitterwerk unterlegt dem Licht, das, so wie es Alhazen verstand, von Hause aus nur mit seinen Strahlen durch die Welt wandert, eine sekundäre Ordnung, die es messbar macht und den Blick darauf zieht.« Die Mashrabiyyas sind als Schirme, die jeden Blickkontakt verunmöglichen, geradezu ein kunstphilosophischer Gegenentwurf zur Perspektive, damit zum westlichen Bild. Dieses lebt vom Tausch der Blicke, von Blick und Gegenblick. Diesem Verhältnis hatte sich auch die Christusikone in ihrer abweisenden Abstraktheit verweigert. Erst Cusanus spielte mit dem Blick und changierte zwischen neuplatonischer Selbstschau des Göttlichen im Menschlichen und dem Blicktausch, der die Renaissance einleitet. Das Licht hatte in der islamischen Architektur »einen geradezu epiphanischen Auftritt.« Außen wie innen spielt das Licht als »Baustoff« eine hervorragende Rolle und löst – ähnlich wie das Mosaik in den frühchristlichen Kirchenbauten – die Materie auf. Die Dekorformen der Muqarnas und Mashrabiyyas verstärken diese Effekte, die als Illumination von materiellen Oberflächen angesprochen wurden, zusätzlich. Zwangsläufig muss eine solche »Lektüre« angesichts fehlender literarischer Quellen spekulativ bleiben. Das Ornament verweist in seiner Abstraktion stets auf Geistiges jenseits des Materiellen. Insbesondere der starke Anteil der Geometrie legt eine solche Vermutung nahe. »Für westliche Augen, welche die Übersetzung der Ma-

187

Die Kultur des Islam

thematik in Ästhetik, jedenfalls vor der Moderne, nicht kennen, ist es erstaunlich, wie sehr die Mathematik über die sinnliche Welt dominiert.« Janine Sourdel-Thomine spricht mit Blick auf die islamische Kultur in solchem Zusammenhang von einer Kultur von »Wissenschaftlern, von Grammatikern, Algebraikern, Rechtsgelehrten, Philosophen und den nach ihren Initiationsstufen hierarchisch gegliederten Mystikern, eine Kultur, zu deren Selbstzeugnissen die teils logischen, teils […] gelehrten wissenschaftlichen Abhandlungen ebenso gehören wie die auf Zahlenharmonien aufgebauten Verse und Melodien […].« Und sie konstatiert einen »Einklang« zwischen diesen vielseitigen geistigen Bewegungen und dem Ornament, für sie ein Abbild komplexer mäandrierender Denkvorgänge. Richard Ettinghausen deutet die geometrische Ornamentik in der arabischen Malerei in diese Richtung. Besonders die streng-orthodoxen Mamluken entwickelten eine große Meisterschaft in der ungegenständlichen Malerei, etwa in der Koran­ illustration. Ihre geometrisch höchst anspruchsvollen Muster und Arabesken stellen nicht nur einen Höhepunkt islamischer Ornamentkunst, sondern auch einen außergewöhnlichen Ausdruck islamischer Ästhetik dar, der sowohl eine Dynamikals auch eine Lichtmetaphorik bedient: »Diese Buchseiten stellen die höchste Form der nichtgegenständlichen Malerei der arabisch-mohammedanischen Welt dar. Obgleich ihre vibrierenden Kreisformen und sternartigen Vielecke ursprünglich mit der Sonne verbunden waren, wie ihre arabische Bezeichnung als shamsa (arab. shams/ Sonne) besagt, gehen sie als Schöpfungen abstrakten und geometrischen Denkens weit über die konkreten Formen der materiellen Welt hinaus. In solchen Gebilden aus strengen Linien und Kreissegmenten wurde eine höhere, grundlegendere Form ästhetischer Vollendung erreicht, eine Art von platonischem Ideal […].« Insofern ist es keineswegs abwegig, wenn als Kennzeichen islamischer Ästhetik das Nichts bemüht wird. Nicht im Sinne eines Nihilismus oder einer bedeutungslosen Schmuckform, sondern »mit einer ganz anderen Art, Bedeutung auszudrücken.« Beispielsweise könnte ein solches Nichts in der Tradition der Nicht-Sagbarkeit des Göttlichen gesehen werden. Die Unabschließbarkeit einer dynamischen Ornamentik drückt genau dieses Nicht-Etwas (wie zugleich den horror vacui) aus. Dass im Islam trotz einer intensiven Schöpfungsvorstellung nirgends die im Westen verbreitete Metapher von Gott als dem Geometer auftauchte, hat wohl auch mit der betonten Abstraktheit Gottes zu tun.

Ebd., 42

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 76

Ettinghausen 1962, 175

Franz 1984b, 98 Belting 2008, 42

3.4. Islamische Architektur und Kunst Ähnlich wie sich die Frage nach der Eigenart christlicher Kunst stellte, ist es eine grundsätzliche Frage, ob die Kunst der islamischen Länder generell als »islamische Kunst« angesprochen werden kann. Was bedeutet »islamisch« in diesem Zusammenhang? Oleg Grabar hat sich gegen eine religiöse Kennzeichnung verwehrt, weil ein großer Teil der Kunst in der islamischen Kultur nicht religiös sei. Überdies gäbe es auch eine islamische Kunst jüdischer und christlicher Gemeinden. Zum Unterschied davon war die christliche Kunst wesentlich eindeutiger von Anfang an eine Kunst des Christentums.

IV.5.0.

Grabar 1973, 1, 9

188

Das Mittelalter

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 72f

Kat. 1993b

Trotz solcher Einwände ist nicht zu übersehen, dass islamische Kunst ohne den Impuls der Religion kaum denkbar ist. Architektur und Kunst des Islam setzten mit bereits hoch entwickelten antik-spätantiken, byzantinischen Vorlagen ein und führten diese äußerst kreativ fort. Für den sakralen Bereich wurden diese Vorlagen sofort durch die spezielle Eigenart einer nichtinkarnatorischen und streng monotheistischen Religion dekonstruiert. Insofern ist die Meinung von Janine Sourdel-Thomine durchaus plausibel: »Die islamische Kunst ist in der Tat zuerst Kunst einer sich auf eine Religion gründenden Kultur.« Was hier für die Kunst festgestellt wird, galt naturgemäß auch für die kulturelle Erzählung der Religion selbst. Wie sich im Laufe der langen Zeit die Religion des Islam selbst bis hin zum unvermeidlich Widersprüchlichen ausdifferenzierte, so auch Kunst und Architektur. Der Islam führte Judentum und Christentum in seinen religiösen wie künstlerischen Entwürfen fort. Das ist auch der Grund, weshalb man kein ausdrückliches Initialwerk der islamischen Kunst und Architektur benennen kann. Das erste heute noch greifbare repräsentative Bauwerk ist der Felsendom in Jerusalem, aber dieses Märtyreroratorium ist ein spätantikes Gebäude – und womöglich gar das Manifest eines christlich inspirierten monotheistischen Protests gegen die nizäanische Wende. Im Fall der christlichen Kunst war das nicht anders. Daher ließ sich die christliche Kunst als Umcodierung antiker und orientalischer Vorlagen auf der Grundlage einer neuen Weltdeutung interpretieren, wobei es zu einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen entstehender Kunstform und entstehender Philosophie bzw. Theologie kam. Der Bilderstreit ist nur eines, aber ein besonders anschauliches Beispiel dafür. Auch gibt es für die christliche Kunst eine ähnlich komplexe (wenn nicht sogar eine komplexere) historische wie geographische Situation wie für die islamische. Was hat der heruntergekommene Kyniker auf den frühchristlichen Sarkophagen mit dem prächtigen Christus-König auf dem Kaiserthron, wie ihn die byzantinischen Mosaiken zeigen, und mit dem geschundenen Gekreuzigten auf dem Isenheimer Altar zu tun? Ist das der gleiche Gottessohn? Karl Borromäus taufte 1572 den noch in Bau befindlichen gotischen Dom von Mailand auf den Namen Duomo di Santa Maria Nascente, während zur gleichen Zeit Palladio, der die Gotik als »konfus« verspottete, einen antiken Tempietto in Maser baute, den Borromäus wiederum als »heidnisch« abqualifiziert hätte. Sind das Gotteshäuser der gleichen Religion? Damit umgehen kann man nur, weil der Kern der christlichen Kunst ein religiöser ist und die begleitende theologische Erzählung eine Auflösung der verschiedenen Darstellungen ermöglicht. Auch in der islamischen Kultur haben sich die theologischen Doktrinen in der Kommunikation mit der Kunst und Architektur verändert und durch die schnelle Ausbreitung fanden eine Reihe von höchst unterschiedlichen Regionaltraditionen Eingang – eben nicht nur in die Kunst, sondern auch in den Islam als religiöse Erzählung. Diese Vielfalt, zu der auch, viel mehr als im frühen Christentum, profane Kunst und Architektur kam, macht gerade den Reiz des Islam aus, wie eine Ausstellung in Berlin 1993/94 eindrucksvoll zeigen konnte. Auch beim Islam kann man mit dem Instrument einer Umcodierung vorliegender Lehren, einschließlich des Juden-

189

Die Kultur des Islam

tums und Christentums, arbeiten. So wie die christliche Kunst anfangs von der paganen spätantiken Kunst kaum zu unterscheidbar war, taucht dieses Problem in ähnlicher Weise auch in der islamischen Kunst gegenüber dem Christentum, der antiken und der byzantinischen Kultur auf. Eine kunstphilosophische Betrachtung kann hier eine rein kunsthistorische durchaus unterstützen. Spannend sind ja weniger einfache Übernahmen von Vorgängen, sondern deren neue Gestaltung, die erläuternde kulturelle Erzählungen im Hintergrund voraussetzen. Insofern gibt es auch in diesem Fall eine ästhetische Sprache, die über alle Ländergrenzen hinweg unverkennbar ist, sodass man resümieren kann: »Denn was selbst dem Unvoreingenommenen auffallen wird beim Betrachten der Kunstwerke aus den Ländern des Islam […] ist die Tatsache, daß diese Werke von Córdoba bis Samarkand von derselben Ästhetik geprägt sind, die von dem Moment an, wo sie sich ihrer bewußt wird, bis zum Ende der islamischen Kunst sich nicht mehr verändert hat.« Ähnliches wird beispielsweise über die Renaissance zu sagen sein, wo es nicht einfach um Wiederverwendung antiker Vorlagen ging, sondern um ihre bewusste und kreative Neukomposition. Dies lässt schließlich auch Oleg Grabar an das entscheidende Kriterium der Bedeutung denken. Erst dort lässt sich eine »islamische« Eigenart festmachen: »Thus, while none of the simplest elements of the hypostyle mosque was original, the composition of a completed building was different from anything preceding it.« So werden basilikale Kirchenschiffe quergestellt, aus Kirchtürmen werden Minarette und aus Toraschreinen Mihrabs, manchmal ohne dass eine äußere Form das kenntlich macht. Grabar bietet an, die islamische Kunst als Akkumulation und Neuordnung (accumulation and novel distribution) von Formen, die in den eroberten Gebieten aufgenommen worden sind, samt einem bewussten Bedeutungswandel zu verstehen. Das Wissen um die Formen war – anders als im frühen Mittelalter im Westen – in den Gebieten des Islam bekannt: »Diese Künstler und Kunsthandwerker des Vorderen Orients mit ihren jahrtausendealten festen Traditionen standen auf allen Gebieten auf der Höhe des Wissens ihrer Zeit, […].« Die islamische Architektur und Kunst führt uns demnach weit über die europäischen Grenzen hinaus. Sie erstreckte sich »vom äußersten Westen Spaniens bis nach Südostasien, vom Balkan und Nord-Turkestan bis zu den tropischen Gebieten Afrikas und den Küsten von Moçambique –, groß ist auch der Zeitraum ihrer Entwicklung.« Es soll daher an dieser Stelle nur jener Teil des Themas Berücksichtigung finden, der kulturgeschichtlich und philosophisch mit der antiken europäischen Tradition verbunden ist. Denn die islamische Architektur und Kunst wurzelt im Hellenismus, in der römischen Spätantike und im christlichen Byzanz. Die Beziehungen zu altarabischer Kunst und Architektur sind noch wenig erforscht (besser dokumentiert sind die Verbindungen der Literatur zur vorislamischen Dichtung), sie müssen an dieser Stelle daher vorläufig als vernachlässigbar eingestuft werden. Gerade in der islamischen Architektur und Kunst wird offensichtlich, wie sehr der Islam ein wichtiger und fruchtbarer Teil der europäischen Kultur ist und wie sehr er die antike Tradition nicht nur abgeschrieben, sondern kreativ und originell weitergeführt hat. In der sogenannten dekorativen Handwerkskunst war der islami-

Papadopoulo 1977, 18

Grabar 1973, 208

Ebd., 210

Papadopoulo 1977, 19

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 72

190

Das Mittelalter

GE II, 311 Fircks/Schorta 2016

sche Raum ab dem 9. Jh. Weltführer – Europa und Asien importierten die Produkte: »Christian Saints were buried in Islamic silks […].« Nicht nur die Leichname Heiliger wurden in islamische Stoffe gepackt, sondern auch viele europäische Herrscher, von Friedrich II. bis zu Herzog Rudolf IV. Aus europäischer Perspektive kommt der islamisch-arabischen Kultur zudem eine wichtige Brückenfunktion zu. Sie gab persische, osmanische, indische und chinesische Einflüsse an den Westen weiter. Darüber hinaus war die mathematisch hochstehende Sehtheorie der arabischen Philosophen und Wissenschaftler eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der mathematischen Perspektive in der europäischen Renaissance, damit indirekt eine Voraussetzung der Herausbildung des modernen kritischen Subjektbegriffs der neuzeitlichen Aufklärung.

3.4.1. Grundlage der Architektur der Sakralräume

Stierlin 2009, 25f ; Halm 2000, 62f

297 Blick auf die Qibla-Wand in der Umaiyaden-Moschee von Damaskus

GE II, 515 298 Mihrab in der ­Umaiyaden-Moschee von Damaskus

Stierlin 2009, 27

Ähnlich wie im frühen Christen­tum begann der religiöse Kult in Privaträumen. Das Haus Mohammeds in Medina gilt in der Rezeptionsgeschichte als Vorbild für die Struktur der Moschee. Mohammeds Haus hatte einen damals bei Händlern üblichen quadratischen abgeschlossenen Innenhof. Dort versammelten sich die Gläubigen unter palmwedelbedeckten Lauben, für die Predigt des Propheten wurde eine Kanzel eingerichtet. Mohammed soll auch in diesem Haus bestattet worden sein. Die Gebetsrichtung war zum religiösen Zentrum Jerusalem hin orientiert. Erst als 624 die Juden in Medina die Unvereinbarkeit von Tora und der Offenbarung des Propheten festgestellt hatten, änderte man die Gebetsrichtung nach Mekka zur dortigen Kaaba. Dennoch blieb auch der Synagogenbau, etwa jener von Dura Europos, eine Inspirationsquelle für den Moscheebau. Die Toranische gilt manchen als Vorläufer der Gebetsnische (mihrab), die um 700 entwickelt wurde. Der Ausdruck Mihrab kommt im Koran fünf Mal vor und meint eine Kammer, während in der früharabischen Profanliteratur der Mihrab die Nische für den König oder ein Standbild bedeutete. Formal lassen sich die Nischen und Apsiden in den Sakralräumen aller drei monotheistischen Religionen von der antiken Apsis als Ort der Götteroder Kaiserstatuen ableiten. Inhaltlich reicht die Deutung des Mihrab von einer symbolischen Gegenwart des Propheten (Grabar, Papadopoulo) bis zur platonisierenden Deutung einer symbolischen Pforte zwischen Irdischem und Göttlichem. Die Nische ersetzt gleichsam die Statue im christlichen Bereich. Der Zentralbereich der Moschee ist der Hof mit dem Reinigungsbrunnen, den es schon vorher in den basilikalen Anlagen der Christen gab. Daran schließt sich

Die Kultur des Islam

eine querrechteckige Säulenhalle als Betraum an, der dem ursprünglich hierarchie- 299 Brunnen der freien Gleichheitsprinzip des Islam entspricht. Inwieweit dabei die mehrschiffige ­Mohammed Ali-­ Moschee; Kairo Basilika Pate stand, die man sozusagen um 90 Grad verdrehte, ist Gegenstand von Diskussionen. In die Kiblawand (arab. qibla/Gebetsrichtung) ist die Gebetsnische (mihrab) eingelassen ist. Daneben steht die Kanzel (minbar). Die Joche (oder »Schiffe«) des Gebetssaales liegen quer zur Kiblawand. Es gibt auch Moscheen, welche die Schiffe senkrecht zur Qibla angeordnet ließen, etwa in der Al-Aqsa Mosche in Jerusalem und der Moschee in Córdoba mit ihren elf (!) Schiffen. Dazu gibt es oftmals einen erhöhten abgeschotteten Bereich (maqsura) für den Vorbeter oder Rechtsgeschäfte. Später wurde dieser von den für den Hof reservierten Tribünen aus Byzanz übernommene Ort der Bereich des Kalifen. Der in der islamischen Architektur omnipräsente Hufeisenbogen ist vorarabisch, man fand ihn bereits in westgotischen Ebd., 105 Kirchen und in Kilikien. Die ersten Moscheen vermutet man in den Militärlagern der arabischen Heere 300 Minbar in der auf ihren anfänglich so erfolgreichen Eroberungszügen. Die ersten noch erhaltenen ­Rüstem- Pascha-­ Moschee; Istanbul Sakralbauten, der Felsendom in Jerusalem und die große Moschee von Damaskus, stehen noch ganz in der Tradition der Spätantike. Der Typus der Moschee bildete sich in der Umaiyadenzeit heraus. Sie war bald ein imposantes Bauwerk, das neben den anfangs schlichten lehmummantelten Holz- oder Strohbauten herausstach. Im Iran entstand später die Iwan-Moschee, eine große gewölbte Halle, die mit ihrer offenen Längsseite sich zum Hof oder zum Betsaal öffnete. Manche Kunsthistoriker leiten den Iwan vom Tonnengewölbe ab und führen seine Entstehung auf die Parther zurück. Im osmanischen Bereich wurde die Hagia Sophia zum Vorbild der als Schlumberger 1969, 196 überkuppelte Zentralbauten ausgeführten Moscheen. Nicht von Anfang an ergänzten ein oder mehrere Minarette, von deren Spitze der Muezzin die Gläubigen fünf Mal täglich zum Gebet rief, die Anlage. Eines der ersten Minarette dürfte jenes der Moschee von Damaskus gewesen sein, christlichen Kirchtürmen nachempfunden. Wichtiger als diese Funktion war wohl der Zeichencharakter des Turmes, der den Sakralbau unübersehbar markierte. Vorlage dafür Halm 2000, 64 waren der antike Leuchtturm bzw. die Wüstenleuchttürme, die der Orientierung der Karawanen dienten (menâr/Leuchtturm). Als Haupttypen bildeten sich das an den Kirchturm angelehnte, viereckige Minarett, das runde spiralförmige Zitat der mesopotamischen Zikkurat und das spätere osmanische Bleistiftminarett heraus. Daneben entstanden später noch einige Sonderformen im Maghreb, im Jemen und im Fernen Osten. Die Moschee ist kein geweihter Ort. Sie diente auch als gesellschaftlicher Treffpunkt und als Raum für den Unterricht. Nur der Boden muss kultisch rein bleiben. Für die Ausschmückung der Moschee setzte sich – anders als bei Profanbauten – aus den erwähnten Gründen ein strenges Bilderverbot durch. Kunstphilosophisch wird von zahlreichen Autorinnen die isla- 301 / 302 Minarette der Umaiyaden-Moscheen in mische Sakralarchitektur gerne in Zusammenhang gebracht mit Aleppo und Damaskus

191

192

Das Mittelalter

mystischen und anagogischen Aspekten, also mit Licht und Farbe, aber auch mit der Geometrie des Baus und der Dekoration.

3.4.2. Zwischen Spätantike und dem Motivschatz Chinas – Die Kunst der ­islamischen Dynastien Die islamische Kunst als jene Kunst, die in islamischen Ländern geschaffen worden ist, ist äußerst reichhaltig und komplex. Die Quellenlage zum Thema – Künstlerbiographien fehlen anfangs völlig, aus späterer Zeit sind einige wenige erhalten – ist begrenzt. Auch wenn die Forschung neuerdings durchaus intensiv ist, kann über die kunstphilosophischen Hintergründe der wechselnden Stile kaum etwas gesagt werden. Ein großer Teil dieser Kunst wurde auf vergänglichen Materialen geschaffen, sodass vermutlich viel davon verloren ging. In der bildenden Kunst stand der Kalligraph im Ansehen über dem Maler. Die kostspielige Buchkunst war von den Auftraggebern an den Höfen abhängig, damit natürlich auch von deren »Philosophie«. Gerade die Buchkunst zeigt neben der Kleinkunst und den Freskenprogrammen die unübersehbare Freude am Bild. Besonders reichhaltig war die figürliche Kunst im persischen Einflussgebiet. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über die wichtigsten Stile innerhalb der unübersehbaren Fülle islamischer Dynastien einen Eindruck von der grandiosen künstlerischen Hinterlassenschaft des mittelalterlichen Islam geben. Es ist zu hoffen, dass die Forschung in den nächsten Jahren viele Neusichtungen zu diesem Thema bringen wird.

3.4.2.1. Die Umaiyaden

Franz 1984a, 103

Hillenbrand 2004, 21

Die erste kulturelle Blüte erlebte der arabische Raum mit der Gründung des Umaiyadenreichs Ende des 7. Jh.s. Unter den Umaiyaden wurde das ursprüngliche Wahlkalifat zu einer dynastischen Abfolge – orientiert an der Organisation arabischer Stammesverbände. Wie immer in der Geschichte waren es der Stolz und das Selbstwertgefühl der neuen Dynastie, was die kunstfreundlichen Kalifen zu Bauherren und Mäzenen werden ließen. Sie wählten die neue Hauptstadt Damaskus außerhalb des arabischen Kernbereichs an einem Schnittpunkt der griechisch-römischen, persischen und afrikanischen Umgebung. Die Kontakte zu byzantinischen Gelehrten, Verwaltungsexperten, Architekten und Künstlern blieben eng. In der Tat war die Zeit der Umaiyaden die »mediterrane Epoche des Khalifats.« Im Bereich der Kleinkunst entstanden hochstehende Metallarbeiten, teilweise mit erotischen Motiven. Kunsthistoriker erkennen in diesem Genre sasanidische, koptische und assyrische Formensprachen. Insgesamt herrschte eine noch an hellenistischen und spätrömischen, aber auch orientalischen Vorbildern orientierte bilderfreundliche Kunst und Architektur vor. Man kennzeichnet die umaiyadische Architektur deshalb manchmal auch als eklektizistisch. Sukzessiv wurde der alte Motivschatz auf Münzen und Abbildungen dechristianisiert, etwa durch das Weglassen des Querbalkens eines auf einem Podium stehenden Kreuzes, oder durch die Veränderung des Christusmonogramms. Insbesondere Münzen dienten als Propa­

193

Die Kultur des Islam

gandainstrument der neuen Religion. Kalifenporträts statt der byzantinischen Christus-Ikone, als Adaptationen von sasanidischen, byzantinischen und griechischen Vorbildern. Schließlich wurden die Porträts abgelöst durch Inschriften und monotheistische Losungen des Islam. Grundsätzlich achteten die Muslime die christlichen Kultstätten und bauten an neuen Stellen. In Jerusalem blieb die Grabeskirche stets unangetastet. Dort, wo das nicht möglich schien, wurde gegen entsprechende Entschädigungen enteignet. Die meisten Umaiyadenmoscheen stehen auf antiken und/oder christlichen Vorgängerbauten. Die ersten größeren Moscheebauten sind verloren gegangen, sodass die zwei bedeutendsten Bauten der Frühzeit des Islam der Felsendom in Jerusalem und die Große Moschee von Damaskus sind. Streitigkeiten zwischen Mekka und Medina auf der einen und Damaskus auf der anderen Seite blockierten die Pilgerstätten und Kalif Abd al-Malik wählte als neuen muslimischen Pilgerort Jerusalem, das von Damaskus aus leicht zu kontrollieren war. Dort lag der Berg Moriah, von dem aus Mohammed in den Himmel entrückt worden sein soll. Er wurde nach verschiedenen religiösen Mythen zugleich assoziiert mit dem Standort des Tempels Salomons, dem Omphalos der Welt, dem Grab Adams, dem Felsen, auf dem Abraham (nach islamischer Leseart ein Hanif, also ein vorislamischer Monotheist) seinen Sohn Isaak opfern wollte (in einer Vermischung von Land und Berg Moriah). Der Omphalos-Gedanke wurde später auf Golgatha angewandt. 687–692 entstand in der Tradition des christlichen Martyrions der achteckige Zentralbau des Felsendoms – ursprünglich eine offene Anlage mit Kuppel und unschwer als Gegenentwurf gegen die christliche Grabeskirche zu interpretieren. Er gilt als »one of the most remarkable architectural and artistic achievements of Islam.« An der byzantinischen Baukunst geschulte Architekten, syrische Handwerker und christliche Mosaizisten aus Konstantinopel schufen ein grandioses Werk mit einem Kuppelscheitelpunkt von 36 Metern. Es handelte sich um ein »rein byzantinisches Werk [handelt], das fast auf den Zentimeter genau die Dispositionen byzantinischer kirchlicher Zentralbauten übernimmt, […].« Nach platonisch-pythagoreischem Vorbild entsprach das Oktogon mit seinem doppelten Umgang San Vitale in Ravenna (540) und der nahe gelegenen Grabeskirche (378), die der Bau wohl überbieten wollte. Zudem ging es um die islamische Umcodierung eines jüdischen Ortes (nachdem die christlichen Narrative nach Golgota umgeleitet worden waren) und um Stärkung Jerusalems gegen Mekka und Medina. Im Inneren findet sich eine erste Mosaikausstattung mit Koransprüchen, die gegen Trinität und Menschwerdung Gottes gerichtet waren. Die Mosaikkunst blieb unter den Umaiyaden das Maß der Dinge und sie knüpfte nahtlos an die byzantinische Kunst an mit Verzicht der Darstellung von Personen und Tieren. Glasierte Fliesen (Fayencen) eroberten sich ihren wichtigen Stellenwert in der islamischen Kunst erst unter den Abbasiden im 9. Jh. Die heutige blaue Verfliesung des Felsendoms stammt aus osmanischer Zeit. Es gibt Berichte über den rituellen Umlauf um den Felsendom, wie er bei der Kaaba praktiziert wurde und immer noch wird.

Kat. 2003

Felsendom

303 Felsendom (7. Jh.); Jerusalem

Grabar 2005b, 2

Papadopoulo 1977, 245

3.3.1.

194

Das Mittelalter

Smith 1950, 41f

Grypeou/Swanson/ Thomas 2006

Luxenberg 2007 Grabar 2005b, 38

Grabar 2005b, 114

Neuwirth 2010

III.2.5.2.

In einer anregenden These hat ein unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg schreibender Orientalist die große arabische Inschrift des Felsendoms in Jerusalem christlich gedeutet. Der Autor geht davon aus, dass al-Malik mit diesem Gebäude ein Manifest einer vornizäanischen, damit vortrinitarischen, streng monotheistischen Doktrin errichtete. Vor dem Hintergrund einer antihellenistischen syrisch-christlichen Tradition mag es plausibel sein, dass der Kalif dieses Manifest ausgerechnet an jenen Ort stellte, der in wechselnder Legende als Tempelberg, Kreuzigungs-, Grabes-, Auferstehungs- und Himmelfahrtsstätte angesehen wird. Dort stand nun dieser einprägsame Gegenentwurf zur Grabesbasilika, die Konstantin seinerzeit als steingewordenes Glaubensbekenntnis von Nizäa errichtet hatte. Al-Malik habe nach Luxenberg seinen Glauben an Christus als Knecht Allahs demonstriert. Luxenbergs Theorie ging freilich noch weiter. Er sah gleich den gesamten Koran unter diesem Paradigma, was eine Diskussion darüber auslöste, ob es sich nicht beim Islam ursprünglich um eine christliche Sekte handelte. Ein Effekt dieser Diskussion war, dass sich die Forschung verstärkt dem Entstehen des Islam zuwandte. Mit den historisch-kritischen Mohammed-Biographien von Josef van Ess und Tilman Nagel wurden dazu wichtige Sichtungen durchgeführt. Dennoch ist der Forschungsstand zur frühen Entwicklung des Islam, namentlich zur Nähe zum jüdischen und streng monotheistischen syrischen Christentum, nach wie vor unbefriedigend. Kunstphilosophisch aufregend ist Luxenbergs These vor allem deshalb, weil man mit ihr im Islam einen ähnlichen Umcodierungsvorgang (diesmal von Judentum und Christentum) sehen kann, wie es das Christentum in Bezug auf die antik-spätantiken Vorlagen war. Zudem verlegt sie den Beginn des »eigentlichen« Islam in die Mitte des 8. Jh.s und den Beginn der Abbasiden-Dynastie, die auch aus diesem theologischen Grund die Umaiyaden so heftig bekämpft hätte. Dass der Felsendom eine Beziehung zu Judentum und Christentum hat, wird kaum bestritten: »[…] the Dome of the Rock must have had a significance in relation to Jewish and Christian beliefs.« Und die These hat überdies eine Nähe zu der von Oleg Grabar präferierten Deutung des Heiligtums (eines »missionary monuments«), wonach es um eine Demonstration einer neuen Religion ging: »It set up the crowns of Byzantine and Persian kings like an offering around the center of the monuments, and put up its own Christology above the crowns.« Zu diesem neueren Forschungsansatz, der den Koran aus der späteren islamischen Deutungshoheit herauslöst, gehört auch die Frage, wieweit der Islam als Religion spätantik geprägt war. Sie wurde neuerdings von Angelika Neuwirth konsequent zu Ende gedacht. Auch wenn man ihrer ausdrücklichen europäischen Situierung des Islam nur teilweise folgen will (was belanglos wird, wenn man Europas Kultur ohnehin als orientalisch betrachtet), stützt sich die Theorie einer spätantiken Begründung auf gute Argumente. In den hellenistischen Philosophenbewegungen ist etwa die emotionsfreie Ataraxie (Seelenruhe) ein zentrales Motiv. Die Autorin weist in diesem Zusammenhang auf die Entemotionalisierung der altorientalischen Geschichten im Koran hin. Ein Beispiel ist die in Sure 37 (85–110) geschilderte Abrahamgeschichte, wo die monströse alttestamentliche Darstellung mit der Beinahe-Opferung von

195

Die Kultur des Islam

304 Umaiyaden-­ Moschee in Damaskus vom Berg Quasiun aus gesehen



Abrahams Sohn Isaak auf einen Gehorsamsakt vor Gott herabgestuft wird. Dieses typische spätantike Zurückdrängen des Pathos lässt sich auch im Judentum (z.B. im Midrasch Tanchuma) finden. Das Opfer hat im Koran keine sühnende Wirkung, im Christentum bleibt es zentral und generiert im (griechisch geprägten) Osten eine zurückhaltende, im (lateinischen) Westen eine intensive Bilderwelt. In Damaskus ließ al-Maliks Nachfolger, Kalif al-Walid I., eine riesige Moschee als Zeichen der neuen Herrschaft der Umaiyaden-Dynastie errichten. Es war ein imperialer Bau in bewusster Kontinuität der byzantinischen Kaiserkunst. Die Moschee entstand auf dem Platz des antiken Temenos und des Vorgängerbaus, der Johannesbasilika. Auf drei Seiten umschließen Arkaden und Säulengänge den Hof, die vierte Seite bildet die Fassade des überkuppelten querliegenden, dreischiffigen Betsaals. Der Eingangsbereich erinnert an die Front einer spätantiken Basilika. Inwieweit die Basilika als Grundlage dieser Moschee diente, wird in der Literatur lebhaft diskutiert. Unstrittig, weil aus den Quellen gut belegbar, ist der von den Zeitgenossen als große Lichtarchitektur gefeierte Charakter des Baus.

Moschee von Damaskus

GE I, 76; Hillenbrand 2004, 25–29; Creswell 1932/40

305 / 306 Frontseite der Umaiyaden-­ Moschee in Damaskus mit Mosaikschmuck

Dem Bau dieser Moschee ging eine gemeinsame Nutzung der aus theodosianischer Zeit stammenden Johanneskirche durch Christen und Muslime voraus. Nachdem Damaskus die neue Hauptstadt geworden war, beanspruchten die neuen Herrscher den gesamten Temenos für sich, trugen die Johanneskirche aus Respekt vor dem Täufer sorgfältig ab und verwendeten Teile davon für die Moschee. Das Haupt des Täufers wird noch heute in einem Schrein der Moschee verehrt. Im Hof zeigen in eindeutiger Referenz zu römischer und hellenistischer Wandmalerei die wenigen erhaltenen Mosaikreste Stadtansichten, berückende Gartensze-

196

Das Mittelalter

Stierlin 2009, 53

Koran 9,72

Ettinghausen 1962, 29

307–309 Mosaikschmuck im Hof der Umaiyaden-­Moschee in Damaskus Stierlin 2009, 56 Wüstenresidenzen

Hillenbrand 2004, 32 Stierlin 2009, 59 Sauvaget 1967 310 Das Wüstenschloss Qusair Amra mit Badetrakt und Brunnenhaus (links); Jordanien Franz 1984a, 70–73

nen mit Pflanzenmotiven, Pavillons und Bächen. »Die Mosaike der Omaijadenmoschee stellen nichts anderes als das Paradies dar.« Die paradiesische Gartenmetapher korrespondiert mit dem Koran, wonach Allah den gläubigen Männern und Frauen »Gärten versprochen hat, von Flüssen durchströmt; in diesen Gärten werden sie ewig verweilen.« Richard Ettinghausen deutet die Mosaiken mit Hilfe von Berichten des zeitgenössischen, oben bereits erwähnten Jerusalemer Geographen al-Muqaddasi als Abbilder der Welt in Architektur und Natur. »Unter der Ägide des Kalifen« sei »die ganze Welt in das ›Haus des Islams‹ eingetreten.«

Für die beiden sich unterscheidenden Raumauffassungen, hierarchische Längs­achse der Basilika und egalitärer Querraum der Moschee, hat Henri Stierlin folgende Erklärung: »Den Wüstenbewohnern und Teilnehmern des arabischen Reiterkampfspiels fantasia, die Seite an Seite nebeneinander galoppierend eine einzige breite Front bilden, stehen die seßhaften Ackerbauern gegenüber, die gewohnt sind, auf ihren Wegen und Pfaden einzeln hintereinander zu marschieren.« Neben den Sakralbauten wurden die Wüstenresidenzen der Umaiyaden als weitere Reminiszenz der Spätantike berühmt. Waren es bloß Außenposten, um dem ungesunden Stadtleben der damaligen Zeit zu entkommen, oder waren es multifunktionale Landgüter mit der Ausstattung von Regierungssitzen? Faktum ist, dass es um die Schlösser herum umfangreiche Wasserbauprojekte gab und eine produktive Landwirtschaft betrieben wurde. Die aus Lehmziegeln und Quadermauerwerk aufgeführten Bauwerke waren luxuriös ausgestattet. In Qusair Amra (711) – Heinrich Gerhard Franz nennt es »Badeschloß« – nahe dem heutigen Amman zieren großartige Wandmalereien im Stil der antiken Vorbilder die Wände. Abgebildet sind in den tonnengewölbten, apsidialen Räumen Jagdszenen und Genredarstellungen mit nackten Nymphen und astrologischen Figuren sowie der Bauvorgang, was an analoge Darstellungen in den ägyptischen Tempeln erinnert. Neben den Malereien gab es Steinreliefs, Stuck und Bodenmosaike mit geometrischen und figürlichen Motiven. Die An-

197

Die Kultur des Islam

lage war zugleich ein Thermenbau nach antikem Muster. Wasser und Garten spielten in allen Residenzen eine große Rolle. Es ist offensichtlich, dass es um das bewusste Präsentieren der Macht über das Wasser ging und der Garten mit seinem (fließenden) Wasser als Gegenentwurf zur Wüste (pers. pairi/ringsum, daizi/Mauer; griech. paradeison) Ausdruck eines überragenden Luxus war. In Chirbet al-Mefdschar (um 735) hat man Dutzende griechisch und römisch inspirierte Motive in den Bodenmosaiken gefunden. Sie gehören zu den bedeutendsten Mosaiken der frühislamischen Kunst. Diese Residenz unweit Jerichos bedeutete den Eintritt der Umaiyaden in den »exclusive club of world leaders«. Es handelte sich um eine multifunktionale Anlage, vergleichbar mit Tivoli bei Rom oder Piazza Armerina in Sizilien. Erstaunlicherweise fanden sich hier und in anderen Schlössern auch zahlreiche Skulpturen, darunter Männer- und Frauenfiguren und Tierdarstellungen. Auch der Kalif selbst wurde in Form des thronenden Herrschers nach römischem Vorbild mehrmals dargestellt.

Hillenbrand 2004, 32 III.3.3.2.2./IV.2.0. Enderlein in Hattstein/ Delius 2005, 83 311–313 Gewölbe­ malerei in Qusair Amra; Jordanien

Schon die um 730 errichtete riesige Anlage Mschatta war ein Ausdruck des am Hof übernommenen byzantinischen Zeremoniells, orientierte sich architektonisch aber eher an römischen als byzantinischen Vorbildern. Immer wieder findet man basilikale Anlageformen, die meist bei den Thronsälen durch byzantinische Kuppel- und Gewölbeanlagen ergänzt wurden. Diese späten Anlagen waren durchaus ein Rahmen für ein ebenso spätrömisch geprägtes Hofleben. Nicht nur das byzantinische Zeremoniell des Kalifen, auch die alkoholreichen Gelage waren legendär. Die islamische Institution des Harems, der in osmanischer Zeit eine enorme Machtfülle erhielt, soll eine umaiyadische Erfindung sein. Für die Feste gab es Musik, Tanz, Poesie und das Lied. Kalif al-Walid II. baute die Stadt Andschar in der heutigen Beka-Ebene im Libanon. Sie war wie die Herrschaftssitze ein Zentrum für die Verwaltung einer rundum blühenden Landwirtschaft und ein Regierungssitz. Ganz nach römischem Vorbild kannte Andschar das Cardo-Decumanus-System, war mit einer Mauer befestigt und gruppierte sich um einen in byzantinischer Bauweise errichteten Palast für das ausladende Hofzeremoniell. Der letzte umaiyadische Kalif Marwan II. verlegte die Residenz nach Harran in Obermesopotamien. Das Ende der Dynastie 750 überlebte nur Abd ar-Rahman I.,

198

Das Mittelalter

314 Das zweigeschossige Wüstenschloss Qasr el-Kharaneh; Jordanien

Barrucand/Bednorz o.J., 34f Moschee von Córdoba

Stierlin 2009, 84

4.2.5. 315 Der Mihrab der ­Moschee von Cordoba

dessen Mutter eine Berberin aus Nordmarokko war. Daher wohl floh er nach Nordafrika und konnte schließlich die Macht in Spanien übernehmen, was praktisch zu einer Fortsetzung der umaiyadischen Kultur unabhängig vom abbasidischen Kalifat in Bagdad führte. Als Hauptstadt baute Abd ar-Rahman Córdoba aus. Er verfasste Gedichte, die den Schmerz nach der verlorenen syrischen Heimat ausdrückten. 785 war Baubeginn der großen Moschee von Córdoba, an der über 200 Jahre bis 990 gebaut wurde. Sie ist das älteste noch erhaltene islamische Bauwerk in Spanien und gleich ein außergewöhnliches Meisterwerk. Ein Wald von mehr als 600 Säulen, darunter zahllose Spolien aus antiker und gotischer Zeit, stützte zahlreiche Schiffe und spannte den größten Gebetsraum des islamischen Westens auf. Der Gebrauch von Spolien ist aus der Spätantike bekannt. Es waren dafür keineswegs Ersparnisgründe maßgebend, sondern die Verehrung der Antike. Karl der Große hatte Spolien von Ravenna nach Aachen liefern lassen, um sie für den Ausbau der Pfalz zum Regierungssitz zu verwenden und seinen Anspruch auf die Fortsetzung der römischen Reichsidee zu unterstreichen. Der Prachtbau in Córdoba war auch eine Demonstration gegenüber dem Abbasidenkalifat in Bagdad. Der Innenraum ist vergleichbar mit den Zisternen in Miseno (Piscina Mirabile) und Konstantinopel (Yerebatan-Saray). Das Aufkommen eines abgeschrankten Bereichs für den Emir in der Moschee (maqsura) widersprach zwar dem Gleichheitsprinzip, zeigte jedoch die sich im abgehobenen Ritual andeutende Machtfülle des Emirs von Córdoba. Die Maksura war reich geschmückt, ein Ausdruck der Herrschermacht im Sakralraum. In Córdoba ist sie durch eine Kuppel mit verflochtenen Rippen bekrönt. In der Kiblawand öffnet sich ein achteckiger Mihrab, der mit einer riesigen monolithischen Marmor-Jakobsmuschel, Symbol des Paradieses, überspannt wird. Für die Dekoration der Moschee sandte der byzantinische Kaiser Nikephoros II. Phokas Künstler und eine ganze Karawane mit vergoldeten tesserae nach Córdoba, eine bemerkenswerte Unterstützung des christlichen oströmischen Kaiserhauses für den Islam in Andalusien. In Konstantinopel herrschte zu dieser Zeit das Bilderverbot, die christlichen Künstler hatten kein Problem, im Abstrakten und Dekorativen zu bleiben. Nach der Rückeroberung durch die Christen wurde die Moschee in eine Kirche umgewandelt, dabei aber mit Ausnahme der Aufstellung etlicher Altäre kaum verändert. Erst in der Renaissance wurde durch den

199

Die Kultur des Islam

Bau der Kathedrale mitten in den Komplex hinein die Anlage schwer in Mitleidenschaft gezogen. Karl V. soll diese Entscheidung später bereut haben. Die Baugeschichte der Großen Moschee von Córdoba verkörpert geradezu die umaiyadische Sakralarchitektur. Sie wurde häufig im Maghreb imitiert (etwa in der Moschee von Tinmal bei Marrakesch, die mit ihren zinnbewehrten Mauern als Gottesburg erschien, 1153). Trotz der Unabhängigkeit Spaniens gab es reiche Kontakte zur abbasidischen Metropole Bagdad. Unter al-Hakam I. und seinem Sohn Abd ar-Rahman II. erlebte al-Andalus trotz einiger Aufstände, die al-Hakam blutig niederschlug, und lästigen Kleinkriegen mit christlichen Glaubenskämpfern einen enormen kulturellen Aufschwung. Der Hof wurde den orientalischen Vorbildern in Bagdad und Samarra angeglichen, samt der Hofetikette, die den Abstand zwischen Kalif und den Menschen vergrößerte. Ein verfeinerter Lebensstil hielt Einzug. Einer der zahlreichen Vermittler war der Musiker, Sänger, Entwickler von Kosmetika und Designer Ziryab, der den eleganten Lebensstil Bagdads nach Spanien brachte. Unter Abd ar-Rahman III., dem achten Emir und ab 929 ersten Kalifen von Córdoba, gab es ausgezeichnete Beziehungen zu Byzanz und zu Otto dem Großen. Zeitgenössische Chronisten beschreiben den regen Audienzbetrieb. Die ganze Welt war zu Gast in Córdoba. Künstler und Gelehrte gingen ein und aus. Man empfing die Delegationen mit großem Stolz im neuen Palast. 936 begann der Kalif mit dem Bau der monumentalen terrassenförmigen Palaststadt Medina az-Zahra (benannt offenbar nach seiner Lieblingsfrau), die man später das »Versailles des 10. Jahrhunderts« nannte. Namen der leitenden Architekten und Künstler, die dieses Paradies auf Erden gestaltet haben, sind überliefert. Anfang des 11. Jh.s wurde die Anlage durch Berbertruppen zerstört. Auch der Nachfolger, al-Hakam II., war ein feinsinniger und gelehrter Mann. Der Kunstliebhaber förderte die griechische Philosophie und ließ Kataloge über 400 000 Bücher in Córdobas Bibliotheken anfertigen. Diese Bücher wurden nach Hakams Tod von Anhängern der malikitischen Rechtsschule vernichtet, weil man ketzerische Gedanken darin vermutete. Wissenschaft und Kunst prosperierten ebenso wie die öffentliche Bautätigkeit. Es war die goldene Zeit von al-Andalus. 1031 fiel das Umaiyaden-Kalifat von Córdoba. Das Vakuum füllten einige Dutzend kleinere rivalisierende Fürstentümer, die sogenannten Taifareiche (muluk at-tawaif), die dann 1090 von den Almorawiden, Almohaden und Nasriden einverleibt wurden. Mit dem Verlust von Córdoba und Sevilla zerfiel zwar die kulturelle Einheit von Andalusien, aber auch die Kultur in den Taifa-Reichen hatte trotz der anarchischen politischen Situation hohes Niveau. Trotz ständiger gegenseitiger Kriege lud sich die höfische Gesellschaft gegenseitig zu kulturellen Anlässen, beispielsweise zu Dichterwettbewerben, ein. Künstler und Wissenschaftler zogen von einem Hof zum anderen. Die Kleinkunst (Elfenbein, Metall, Keramik, darunter die wertvolle Lüsterware) glänzte mit reichen Darstellungen von Tieren, solarer Symbolik, dichter Arabeskendekoration, aber auch der Darstellung höfischer Zyklen mit Bankettszenen, Musikern, Ringern, wie sie bei den Umaiyaden verbreitet waren. Wertvolle Seidenmanu-

GE I, 87

Barrucand/Bednorz o.J., 72

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 34

Hattstein/Delius 2005, 206–297; Barrucand/ Bednorz o.J., 131–161

200

Das Mittelalter

Hillenbrand 2004, 81 Barrucand/Bednorz o.J., 149

3.4.

Granada

Rodríguez 1995, 57

3.3.3.

Senn 1995, 18f IV.6.2.1.

fakturen (mit eigener Seidenraupenzucht) gab es in Sevilla, das sich den Spitzenplatz erobert hatte, Córdoba, Almeria und Malaga. Die überbordende Dekoration hat die Bezeichnung »islamisches Rokoko« hervorgerufen. (z.B. der nach seinem Gründer benannte Palast Aljaferia in Saragossa) Eine kluge Beobachtung führt diese kulissenhafte Schauarchitektur auf überspannte Machtansprüche der Taifafürsten zurück, die »nicht auf realer politischer Kraft und Sicherheit beruhten.« Die muslimischen Kleinfürsten scheuten sich nicht, zur Unterstützung gegen ihre eigene Bevölkerung, die sie zudem noch mit Steuern ausquetschten, auch christliche Fürsten zu Hilfe zu holen. Der rasche Erfolg der Reconquista ist nicht zuletzt auf diese innere Zerrissenheit der Muslime zurückzuführen. Vorher ordneten 1090 die berberischen Almorawiden, die sich auf nomadisierende Berberstämme aus dem Senegalbecken zurückführten, das Chaos in Spanien und übernahmen die Herrschaft. Zeitgenossen beschrieben diese Herrschaft, die vor allem von ihrem Anführer Yusuf ibn Tashfin und seiner energischen Frau Zainab gestaltet worden war, als kulturellen Rückschritt. Das Urteil der Geschichte fällt versöhnlicher aus und es wird auf das hohe Niveau dieser Klage verwiesen. Wahr aber ist, dass Andalusien die größte Blüte hinter sich hatte. Für eine große Kultur waren die Almorawiden zu fromm und intolerant, was auch die Spannungen zur jüdischen und christlichen Minderheit wachsen ließ. Ähnliches gilt für die von sesshaften Berbern aus dem Hohen Atlas sich ableitenden Almohaden, die 1161 in Andalusien Fuß fassten. Anfangs kritisierten sie die Almorawiden wegen ihres Luxus und waren kultur- und kunstfeindlich, änderten aber bald ihre Einstellung. Sie schufen ihrerseits bemerkenswerte Architektur und Kunst und förderten die Wissenschaft. Immerhin arbeiteten unter ihren Herrschern schließlich so angesehene Gelehrte wie Ibn Tufail und Ibn Ruschd (Averroës). Eines der eindrucksvollsten Monumente dieser Zeit ist der Alcázar in Sevilla. Die Nasriden, eine arabische Dynastie, schoben sich zwischen Muslime und Christen. Sie zahlten den Christen Tribut, halfen ihnen gar bei der Rückeroberung von Sevilla und erhielten dafür ein Herrschaftsgebiet für ihr Sultanat von Granada. Die Nasriden pflegten pragmatische Toleranz, duldeten die anderen Religionsgemeinschaften. Granada hatte eine späte Glanzzeit im 14. Jh. unter Yusuf I. und Mohammed V. In dieser Zeit – angeblich um 1238 mit der Verlegung der Residenz nach Granada – wird der Grundstein für die nasridische Alhambra gelegt. Als Burg fand die Alhambra bereits Ende des 9. Jh.s Erwähnung. Sie wurde schließlich nach der Grundsteinlegung noch eineinhalb Jahrhunderte lang als Palaststadt ausgebaut. Im Sinne des horror vacui sind die Wände flächendeckend mit Ornamentik übersät, die entmaterialisierende Wirkung ist so offensichtlich, dass dies als anschauliches Argument für eine spezifische Ästhetik angesehen werden kann. In den Inschriften finden sich Ausdrücke wie »Sinnverwirrung«, die doch anzeigen, dass die Ornamentik eine eigenständige und dominantere Rolle neben der architektonischen Konstruktion spielen sollte. Die Muqarnas in der Alhambra zeigen die Symbolik des Himmelsgewölbes, der Zyklen von Tag und Nacht und stellare Metaphorik. Solche Muqarnas befinden sich auch in christlichen Kirchen und jüdischen Synagogen (To-

201

Die Kultur des Islam

ledo) und legen beredtes Zeugnis von den intensiven Austauschvorgängen und der gegenseitigen Wertschätzung zwischen den Kulturen ab. Diese einmalige Architektur und Kunst in Spanien ist, das sei nicht vergessen, nicht dort geboren, sondern »im Vorderen Orient, wo die umayyadische Kunst und Kultur von der Mitte des 7. bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts entsteht, wächst und reift.« Am 2. Januar 1492 verließ der letzte muslimische Sultan, Mohammed XII., genannt Boabdil, die Alhambra und übergab die Schlüssel den Christen. Das islamische Andalusien hatte nach knapp 800 Jahren aufgehört zu existieren. Allerdings wurden auch unter den christlichen Herrschern die islamischen Bauwerke gepflegt. Es entstanden sogar neue und an älteren Anlagen wurde im Geist islamischer Ästhetik weitergebaut. Die Alhambra überlebte, weil dieser Herrscherpalast auch weiterhin als repräsentativer Regierungssitz genutzt wurde. Aber es begann eine religiöse Intoleranz, die zu Inquisition und Vertreibungen Andersgläubiger führte. Anders war die Situation im Maghreb. Auch dort gab es eine großartige almohadische und almorawidische – vor allem sakrale – Architektur (Marrakesch, Tinmal, Fes, Tlemcen) mit wuchtigen Minaretten und, aufgrund der asketisch religiösen Doktrin, schlichten, aber prägnanten Moscheen. Die Herrschaft der Almohaden im Maghreb endete im 13. Jh. in einer unübersichtlichen Zeit mit einer mehr oder weniger reichen Kultur.

Barrucand/Bednorz o.J., 277

3.4.2.2. Die Abbasiden Im Kernland der Araber übernahmen 749 (bis zum Mongoleneinfall 1258) die Abbasiden, Nachkommen eines Onkels von Mohammed, Abbas, die Herrschaft. Schon im 9. Jh. verloren sie allerdings de facto die Macht über weite Gebiete, von denen sich eins nach dem anderen unabhängig machte. Das Ansehen des Kalifentitels blieb jedoch bestehen und sicherte ihnen eine zumindest symbolische Führungsrolle. Am Beginn ihrer Herrschaft bauten sie das in der Nähe der alten sasanidischen Kapitale Ktesiphon gelegene Bagdad, eine alte nestorianische Klostersiedlung, die den Namen Medina as-Salam (Stadt des Friedens) erhielt und kreisförmig angelegt wurde, als neue, in Handel, Wissenschaft, Philosophie und Kultur blühende Hauptstadt eines riesigen, sich von China bis Spanien erstreckenden Reichs auf. Die Abbasiden wandten sich vom alten Selbstverständnis arabischer Stammesführer ebenso ab wie von den römischen und byzantinischen Vorbildern und knüpften an persischen und babylonischen Traditionen an. Das kann nicht weiter überraschen, lag doch Mesopotamien am Rande der hellenistischen Leitkultur der Spätantike. Nur der Kult am Kalifenhof griff neben persische auch auf byzantinische Vorlagen zurück. Dies ging Hand in Hand mit der bereitwilligen Übernahme despotischer und intoleranter Aspekte der Regierung. Durch ein ebenfalls von den Persern übernommenes Post- und Nachrichtenwesen war der Hof über die Vorgänge im Reich gut informiert und konnte durch ein flächendeckendes System von Statthaltern schnell reagieren. In der Kunstgeschichte gilt die Zeit der Abbasiden als Abschied von spätantikem Geist und spätantiker Kunst. Das bedeutete auch eine zunehmende Distanz von

Bagdad

202

Das Mittelalter

Franz 1984a, 157

Grabar 1973, 212

Hillenbrand 2004, 40

Schienerl Peter in Hattstein/Delius 2005, 325 Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 36 Halm 2004, 36

Naef 2007, 44ff ; Halm 2000, 38

Stierlin 2009, 108

Hillenbrand 2004, 39

Samarra

der Naturvorlage, sichtbar in der Veränderung der Ornamentik gegenüber den Formen bei den Umaiyaden: »Die der sichtbaren, optisch faßbaren Welt entnommenen Naturgebilde werden nicht mehr als Einzelheiten herausmodelliert, plastisch durchgebildet, im Rahmen eines Illusionsraumes gezeigt, sondern linear in der Fläche als Strukturträger verankert.« Oleg Grabar gibt einer auf diesen Fakten basierenden verbreiteten Ansicht seine Stimme, die im abbasidischen Irak den Beginn der islamischen Architektur und Kunst im engeren Sinn sieht: »[…] the vast majority of early Islamic monuments can better be explained in relationship to Iraq than to Syria.« Jedenfalls begann in dieser Periode eine höfische Kunst, angeregt durch das hoch gerüstete Hofzeremoniell. Der Historiker al-Yaqubi bezeichnete im 9. Jh. Bagdad als den Nabel der Welt und im Herzen dieses Zentrums stand der Palast des Kalifen. Vor allem mit Blick auf al-Mamun spricht Robert Hillenbrand vom Kalifen als dem Kosmokrator. Das byzantinische Zeremonienbuch Konstantins VII. und der Kult persischer Könige waren Vorlagen für die Entrückung des Kalifen auf seinen Thron. Kalif al-Mansur soll nach der Gründung von Bagdad gesagt haben, nun bestehe »kein Hindernis mehr zwischen uns und China.« Der Abbau von Handelshindernissen hatte, wie immer in der Geschichte, einen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge. Bagdad wurde »Treffpunkt von Karawanen […] aus aller Welt.« Die Stadt wurde unter den Nachfolgern al-Mansurs zur größten Kulturmetropole der damaligen Welt. Der selbst sehr gebildete al-Mamun errichtete 833 das Haus der Wissenschaft (bait al-hikma) mit einer großen Bibliothek, das sich als interfakultäres Forschungszentrum verstehen lässt. Der Buchhändler Ibn an-Nadim berichtet 988 von über 6000 Buchtiteln in Bagdads Bibliotheken, ein großer Teil davon von griechischen Autoren. Man verwandte in der Stadt alle damals bekannten Schreibstoffe für Bücher: Pergament, Papyrus, chinesisches Papier und Leder. In der Kontinuität des assyrischen und babylonischen Stadtverständnisses bauten die Abbasiden mit Leidenschaft Städte. Neben Bagdad noch ar-Rafiqa, Raqqa, das ursprünglich als Hauptstadt vorgesehen war, Khorabad, Gur, Firnzabad, Samarra und das nahe gelegene Djafariya. Astrologische Berechnungen und Lehren über das kosmische Ideal bestimmten die Stadtform. Der Kunst kam die vornehme Aufgabe zu, den Herrscher zu glorifizieren. Die Überlegenheit der islamischen Kultur – gestützt auf ein hoch entwickeltes Finanzsystem und beste strategische Lage ihrer Hauptstadt – gegenüber dem Karolingerreich ist gerade mit Blick auf Bagdad und seine hervorragenden Wissenschaftler, feinsinnigen Künstler und der hoch entwickelten Lebensart evident. Außerhalb Bagdads entstand um 775 eine den umaiyadischen Wüstenschlössern ähnliche, als Zentrum eines landwirtschaftlichen Großbetriebes dienende Palastanlage: Ukhaidir. Der Palast war autark. Er hatte alle lebensnotwendigen Grundlagen innerhalb seiner Mauern. Aus Stein statt Ziegeln, zeigt die gut befestigte Anlage romanische Merkmale, die sich erst zweihundert Jahre später im Westen durchsetzen sollten. Al-Mutasim übersiedelte 836, um Spannungen zwischen der Bevölkerung und seinen mamlukischen Truppen zu mildern, tigrisaufwärts nach Samarra. 892 wurde

203

Die Kultur des Islam

diese Residenz wieder aufgegeben. In der kurzen Zeit als Regierungssitz entstanden in der aus verschiedenen Vierteln zusammengewachsenen Metropole unter al-Mutasim und seinem Sohn al-Mutawakkil neben mehreren riesigen Palästen die beiden größten Moscheen der damaligen Welt. Heute zeugt nur mehr ein über 20 Kilometer langes Ruinenfeld von der einstigen Pracht dieser in kürzester Zeit buchstäblich aus dem Boden gestampften Stadt. Sowohl vom alten Bagdad als auch von Samarra, die beide aus Lehmziegeln gebaut waren, ist so gut wie nichts mehr vorhanden. Die Anlage der Städte konnte aber von den Forschern dennoch gut rekonstruiert werden. In der Regel bestanden die Bauwerke aus Mangel an Steinen aus Lehmziegeln und waren nach der arabischen Ästhetik des horror vacui sowohl mit polychromem Stuck verkleidet als auch – in geringerem Maß – mit Wandmalereien geschmückt. Der schneller und preiswerter herstellbare Stuck diente vielfach als Ersatz für den gemeißelten Stein. Sie zeigten florale Motive (Weinranken, Trauben) sowie abstrakte und geometrische Formen. Insbesondere bei den abstrakten Motiven finden sich Verweise auf Ambivalenzen, das chinesische Zeichen für Yin und Yang kommt häufig vor. Die in der Kunstgeschichte diskutierten stilistischen Besonderheiten fasst man mit dem Ausdruck »Stil von Samarra« zusammen, der nicht nur auf christliche und jüdische Dekorationskunst wirkte, sondern auch in der Kleinkunst Anwendung fand. Der Stil war ein Niederschlag der vom Bagdader Hofpoeten Abu Nuwas besungenen arkadischen Szenerien einschließlich aller denkbaren (auch homoerotischen) Genüsse. In den Palästen der Stadt, aber auch in den kleinen Landsitzen außerhalb (Qasr al-Djis) gab es weiterhin eine üppige narrative Kunst. Neben Pflanzen- und geometrischer Ornamentik zeigten sie Festmähler, Tänzerinnen, Jagdszenen und Ringerwettkämpfe, teilweise mit stark asiatischem Einfluss, vermutlich durch türkische Sklaven mitgebracht. Auf Abbildungen von Tonkrügen konnte man die »Etiketten« entziffern, die diese als Weinkrüge auswiesen samt den Namen der Weinbauern, Händler und Kellermeister. Dieser künstlerische Niederschlag eines luxuriösen Lebensstils wurde auch von Nachfolge- und konkurrierenden Regimen aufgenommen und er findet sich von Afghanistan über Andalusien bis Sizilien (Capella Palatina). Verschiedentlich wird Samarra auch als ein Übergang betrachtet von den Anregungen der Umaiyadenpaläste zur großen Form standardisierter befestigter palastartiger Moscheeanlagen, die sich über den gesamten arabischen Raum ausbreiteten und als Symbole des jihad angesehen werden könnten. Die Minarette, bisher an antike Leuchttürme und erste christliche Kirchtürme angelehnt, entsprechen nun der Vorstellung der mesopotamischen Zikkurat. Beide Moscheen von Samarra hatten spiralförmige Backsteinminarette, jenes der Großen Moschee erreichte eine Höhe von knapp 60 Metern. Den Pavillon auf der Spitze konnte man über die spiralförmige Rampe zu Pferde erreichen. Ansatzweise wurde die Form in der Ibn Tulun-Moschee in Fustat (876–879) aufgenommen, eine der schönsten, nahezu unverändert erhaltenen abbasidischen Provinzmoscheen. Sie wurde unter dem türkischen General Ibn Tulun (von einem vermutlich monophysitischen christlichen Baumeister) gebaut, dessen Karriere in Samarra begann und der dann Herrscher Ägyptens wurde. Das Minarett wird nun zu einem festen Bestandteil der Moschee.

Franz 1984b, 129–156

Hillenbrand 2004, 43

Ettinghausen 1962, 43

II.1.2.2.1.

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 94

204

Das Mittelalter

316 Ibn-Tulun-­ Moschee mit Spiral­ minarett; Kairo

Blair/Boom in Hattstein/ Delius 2005, 122 Hillenbrand 2004, 51 Kalligraphie

3.3.3. Belting 2008, 81

Ein Niederschlag der neuen Rolle des Ka­ lifen waren die in Samarra – trotz des ursprünglichen Verbots aufwendiger Grabanlagen durch den Propheten – erstmals gebauten Fürstengräber mit Rückgriff auf die Oktogonform der byzantinischen Oratorien. Sie fanden in den persischen Gunbads, den türkischen Türben und indischen Mausoleen eine Fortsetzung. Der Höhepunkt der Grabbauten im Islam ist das Taj Mahal in Agra (Uttar Pradesh) in der späteren Mogulenzeit. Mit diesem, indische und persische Architekturtradition versöhnenden Monument baute Mogul Shah Jehan für seine 1631 bei der Geburt des vierzehnten Kindes verstorbene Frau Mumtaz Mahal das letzte große Werk ausdrücklich islamischer Kunst. Die Textilkunst wurde zu einer der wichtigsten Kunstgattungen in der Abbasidenzeit. Produziert wurden aufwändige Kleidung, Teppiche, Vorhänge, Wandbehänge, Kissen und Decken für den höfischen Lebensstil. In den Textilwerkstätten wurde auf den einschlägigen Produkten der Monarch mit Lob- und Segenssprüchen verherrlicht. Die Werkstätten organisierten sich ähnlich dem westlichen Zunftwesen. Die im 9. Jh. anhebende Keramik und die Glasherstellung traten gleich mit hoher Qualität in den Blick. Unmittelbare Vorläufer fehlen. Die lokalen Ateliers besaßen weder das Material noch die technischen Fertigkeiten und ahmten die chinesischen Vorbilder im eigenen Ton mit dicker farbiger Glasur nach. Eine wichtige neue Technik der Abbasidenzeit war die Lüsterkeramik. Bereits gebrannte Keramik wurde mit Metalloxiden bemalt und daraufhin abermals gebrannt. Diese Keramik hatte eine metallisch schimmernde Oberfläche, war wertvoll und begehrt und breitete sich schnell aus. Das bislang älteste Stück stammt aus dem Jahr 773. Von der ebenfalls hoch entwickelten Metallkunst ist nur mehr wenig erhalten, viele Stücke wurden in Notzeiten eingeschmolzen. Eine Verschärfung des Bilderverbots war ein Impuls für die Kalligraphie, angewandt vor allem am Koran, aber es gab auch nichtreligiöse Manuskripte, vor allem wissenschaftliche Abhandlungen. Die sich wiederholende Anfangsformel der Suren im Koran (basmala): »Im Namen Allahs des Barmherzigen und des Erbarmers« erscheint als apotropäisches, wie ein Amulett wirkendes Frontstück. Sie steht gegen die im Christentum gebräuchliche Trinitätsformel: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.« Die Formen der Schrift wurden abstrakter, es entwickelte sich ein Dekortypus, den man im Westen Arabeske nannte und der zu einem wichtigen Element der späteren islamischen Kunst wurde. Die Künstler arbeiteten nach dem Prinzip des horror vacui und schufen eine all-over-Dekoration. »Die Schrift war gleichsam ein Körper des göttlichen Wortes geworden.« Sie wurde auch zur Wandgestaltung eingesetzt und erhielt dadurch über das Buch hinaus eine Öffentlichkeit. Der fehlende Inkarnationsgedanke im Islam und die Transzendenz Gottes ließ nur

205

Die Kultur des Islam

eine »Inlibration«, ein Erscheinen im Wort bzw. in der Schrift, zu. Das Wort ist hier niemals Fleisch geworden, sondern allenfalls Hülle des Undarstellbaren. Dass der neuplatonische Einfluss, der in der Zeit Bagdads einen Höhepunkt erreichte, diese Transzendierung und Körperskepsis verstärkt hat, ist plausibel, aber die Frage harrt noch einer gründlichen Untersuchung. Der Kalligraph und Steuereintreiber in der Provinz Fers, der später als Wesir Opfer politischer Intrigen wurde und dabei eine Hand und die Zunge verlor, Ibn Muqla, entwickelte ein Maßsystem für die Vermessung von Buchstaben. Er standardisierte sechs Schreibstile, die für die Kalligraphie richtungweisend blieben. Diese Vorlage wurde von Ibn al-Bawwab perfektioniert und Nashi als offizielle kursive Schreibvariante eingeführt. Um ein ausgewogenes Schriftbild zu erhalten, wurde die Schrift teilweise mit floralem Dekor angereichert, sodass sich manchmal Schrift und Dekor-Hintergrund kaum mehr trennen ließen. Grundsätzlich verselbständigte sich die in der Spätantike noch zur Einrahmung von figürlichen Motiven verwendete florale Ornamentik. Insbesondere in Samarra begann man, solche Ornamentik – wie schon allgemein festgestellt – zu geometrisieren und nicht mehr nach der Natur zu gestalten. Der Unterschied zwischen Vorder- und Hintergrund wurde ebenso aufgehoben wie zwischen Zentrum und Rahmen. Diese Form des Ornaments verbreitete sich rasant. Ein treffendes Beispiel sind die reliefierten Marmorplatten, die den Mihrab der Großen Moschee von Córdoba einrahmten. Die Arabesken-Dekoration erreichte durch die Relieftiefe, mehr noch in den Muqarnas, eine dritte Dimension. Diese all-over-Struktur sollte über ihren ästhetischen Reiz hinaus kunstphilosophisch und im Kontext des in 3.3.3. Angemerkten gelesen werden. Die mit den außerordentlich komplex konstruierten Muqarnas ausgestatteten Innenräume eröffnen dem Betrachter das Schauspiel eines dynamischen entstofflichten Himmelsgewölbes, das in der Harmonie und Symmetrie vollendeter Geometrie als ein nachgerade kongenialer Ausdruck der demiurgischen Weltumgestaltung im Sinne Platons interpretiert werden könnte. Deutlicher als Alexandre Papadopoulo kann man die Zusammenhänge nicht zusammenfassen: »[…] die Welt, wie sie unseren Sinnen erscheint, unvollendet, aus Atomen zusammengesetzt und vom Zufall regiert, wird gestützt von einem geheimen Gerüst und der mathematischen Ordnung der Gesetze.« André Grabar berichtet von einer syrischen Hymne aus dem 7. Jh., die er auf Dionysios Pseudo-Areopagites zurückführt. Sie beschreibt die Kuppel der (zerstörten) Sophienkirche von Edessa als Symbol des Himmels. Man kann wohl sagen, dass es sich bei den mit Muqarnas gestalteten Kuppeln um die großartigste künstlerische Umsetzung der Idee der Kuppel als Himmelsgewölbe handelte. Die Muqarnas erreichten im 15. Jh. einen Höhepunkt. Das Dekor ist gleichsam die Weise der Entstofflichung in der islamischen Kunst, mit ähnlicher Funktion wie das Mosaik in Byzanz und der westlichen Basilika. Es ist – ganz ähnlich wie bei den Mashrabiyyas – eine Methode, das Licht sichtbar zu machen. Der Heerführer Ibrahim ibn al-Aghlab schlug im Auftrag des Abbasidenkalifen Harun ar-Rashid Aufstände nieder und gründete das abhängige Emirat der Aghlabiden. Von der Hauptstadt Kairouan, dem bedeutendsten kulturellen Zentrum im

Kühnel 1986

3.3.3.

Papadopoulo 1977, 252

Grabar 1947, 41ff IV.6.2.1.

206

Das Mittelalter

Maghreb (große Moschee umaiyadischen Ursprungs, Stadtpaläste) aus konnten Sizilien (Palermo 832, Messina 842), Sardinien, Malta und kurzzeitig auch Unteritalien erobert werden. Dies war eine Grundlage für fruchtbare Austauschvorgänge in diesem Teil des Mittelmeeres, die vor allem in der Architektur reichen Niederschlag fanden. Die mit prachtvollen Moschee- und Palastbauten ausgezeichneten Städte wurden nach dem Sturz der Dynastie durch die Fatimiden 909 weitgehend zerstört.

3.4.2.3. Die Fatimiden

Grabkult

Suermann 2006

Capella Palatina

Ettinghausen 1962, 47f

Die schiitischen Fatimiden verstanden sich als Nachfahren Alis und seiner Frau Fatima, der Tochter des Propheten. Um 670 konnten sich die Araber in Ifriqiya, der ehemaligen römischen Provinz Africa, dauerhaft festsetzen. Die abbasidische Herrschaft konnten sie vorerst nicht abschütteln, aber die bereits erwähnte politische Entmachtung der Abbasiden brachte, neben der Eigenständigkeit Andalusiens, den schiitischen Fatimiden (909–1171) die neuen Zentren in Tunesien und Ägypten. Zum Unterschied von den anderen Teilreichen strebten die Fatimiden nach einer schiitischen Hegemonie in der gesamten arabischen Welt. Dies sowohl militärisch als auch mit missionarischen und spirituellen Mitteln. Sie hatten einen Hang zum Mystischen und Gnostischen und waren sogar innerhalb der Glaubensrichtung der Schiiten nicht allen geheuer. Manches in der Kultur der Fatimiden wie die Fülle von Grabsteinen und Mausoleen oder die ausgefeilten Zeremonien des Hofes, die sich auch auf die Moscheen erstreckten, ist auf diese Ambition zurückzuführen. Die phantasievollen und formenreichen Mausoleen widersprechen der Mahnung des Propheten nach bescheidenen Beerdigungsriten, waren jedoch offenbar ein notwendiger Niederschlag des Heiligen- und Märtyrerkults der Schiiten, der später von der sunnitischen Orthodoxie wieder bekämpft wurde. Zudem vermutet man in den aufwendigen Beerdigungskulten eine zeremonielle Stärkung der Kalifenfamilie. Die ältesten Beispiele solcher Grabmäler stehen bis heute in Assuan. Ein großer Teil davon ehrt fromme Frauen, die in der schiitischen Spiritualität einen hohen Rang einnahmen. Die Grabmäler dienten Umlaufzeremonien und man sah in ihnen spirituelle Kraftzentren. In der Sinngebung und den Inschriften spielt die Licht- und Sonnenmetaphorik eine große Rolle. Die Referenzen zu Sonne, Mond und Sternen sind häufig. Der Name für den zentralen Rundbau der Mausoleen, shamsa, leitet sich von der Sonne (shams) ab. Auch der Imam wurde mit dem göttlichen Licht verglichen. Die fatimidische Kultur war durch eine intensive Nähe zum christlichen Osten geprägt. Zu dem in der Literatur immer wieder beschriebenen guten Verhältnis zwischen Fatimiden und Kopten gibt es freilich auch relativierende Stimmen. Von den großartigen Palastmalereien ist nichts mehr erhalten. Auch die Architektur in Sizilien ist überwiegend nur mehr aus schriftlichen Quellen, beispielsweise aus den Aufträgen der Normannen an islamische Künstler und Architekten, zu rekonstruieren. Vermutlich ist die Holzdecke der Capella Palatina in Palermo (1131–1140) ein (grandioser) Niederschlag fatimidischer Kunst. Stilistische Eigenheiten verweisen auf Künstler aus dem mesopotamischen Raum, insbesondere gibt es Bezüge zum Stil von Samarra. »That a secular king should be depicted by Islamic artists in a Far Eastern religious

207

Die Kultur des Islam

manner in a Christian church at the very centre of the Mediterranean highlights in the most telling way the international quality of medieval Islamic art.« Dargestellt wurden auf der Decke prachtvolle höfische Szenen (samt astrologischen Themen) in der Manier persischer Miniatur- und umaiyadischer Palastmalerei, wo gleichsam der irdische und himmlische Hofstaat symbolisiert wurde. Christus wird als thronender Herrscher dargestellt. Daneben gibt es heilige Krieger. Der König wiederum thront mit einem Weinbecher in der Hand inmitten seines Gefolges. An anderer Stelle blickt man auf seine Apotheose. Die Muqarna-ähnlichen Honigwaben sind alle bemalt – auch mit Figuren. Und sie sind mit Segenssprüchen in kufischer Manier, vermutlich für den Erbauer Roger II., versehen. Die Abbildungen in den einzelnen Waben fließen ineinander über, sodass die Decke den Eindruck eines fließend-dynamischen Ganzen macht. Die Szenen sind – ebenso wie die Malereien im Palast – ein wertvolles Bildinventar der fatimidischen Malerei, die sonst wegen der Zerstörung der Bibliotheken schwer rekonstruierbar ist. Im 11. Jh. – 969 hatten die Fatimiden Ägypten endgültig gewonnen und hielten es zwei Jahrhunderte lang – lief schließlich die neue Hauptstadt Kairo beim alten, 643 gegründeten Fustat als kreativer Mittelpunkt im islamisch-arabischen Bereich den anderen Metropolen den Rang ab. Kairo war die größte islamische Stadt. Das Hippodrom überbot in seiner Größe den Circus Maximus in Rom und das Hippodrom in Konstantinopel. Die Bibliothek des Kalifen soll 40 Säle mit zwischen 200 000 und 600 000 Bänden umfasst haben. In einem Hammam in Fustat (heute ein Stadtteil Kairos) fand man eine mit Palermo vergleichbare Ausmalung. Wie bei der bildenden Kunst liegt auch von den fatimidischen Sakralbauten wenig Material vor, was eine Bewertung schwierig macht. Die Moscheen lehnten sich an aghlabidische Vorlagen an und hatten in der Regel keine Minarette. Eine Ausnahme ist jene palast- und festungsartige Moschee des streng konservativen und wegen seiner rigorosen Herrschaft gefürchteten Kalifen al-Hakim in Kairo (eine kleine Gruppe von Verehrern dieses 1021 verschollenen Kalifen nannte man nach ihrem Anführer Drusen), die zudem eine ausgeprägte Fassadengestaltung zeigt. Es dürfte sich auch die luxuriöse fatimidische Palastarchitektur aus dem Moscheebau und deren Benützung für königliche Zeremonien entwickelt haben. Zur Glaubenspropaganda der Fatimiden gehörte die Gründung einer der ältesten Universitäten der Welt um 970, der Azhar-Universität mit der zugehörigen Moschee. Das Kunsthandwerk befriedigte mit erlesener Textil- und Metallkunst, Holz, Elfenbein, Glas und Keramik, darunter Lüsterware, die Vorliebe für Luxus der führenden Gesellschaftsschichten. Die Lüsterkeramik hatte ihre Wurzeln in koptischen Vorlagen und im Hellenismus. Im Kloster der Klarissen in Assisi befindet sich ein Reliquiar für einen Nagel der heiligen Klara. Es ist aus Bergkristall und stammt aus einer fatimidischen Werkstatt. Das Reliquiar ist ein Beispiel für zahlreiche Bergkristall-Arbeiten, die den Weg in den Westen fanden. Themen und Motive explodierten geradezu in fatimidischer Zeit, darunter viele Tierdarstellungen, die wiederum als solare, lunare und astrale Symbole fungierten. Es gab auch byzantinische und christliche Motive aus der koptischen Tradition. Bis

Hillenbrand 2004, 72

Mazot Sibylle in ­Hattstein/Delius 2005, 156 Kairo

Stierlin 2009, 190

Contadini 2010, 43f

208

Das Mittelalter

Hillenbrand 2004, 82 3.2.

Papadopoulo 1977, 97

Ebd., 99

Ettinghausen 1962, 151f

zum 11. Jh. waren figürliche Darstellungen verbreitet, die das ausschweifende Leben am Kalifenhof widerspiegelten. Die Künstler waren selbstbewusst und signierten ihre Arbeiten, sodass rund zwei Dutzend Namen bekannt sind. Saladin eroberte 1169 Ägypten wieder – formell für die sunnitischen Abbasiden – zurück. Ab Mitte des 13. Jh.s empfahlen sich die Mamluken der islamischen Welt als Nachfolger Saladins. Kairo wurde das Zentrum der mamlukischen Kunst, für manche eine der schönsten künstlerischen Hinterlassenschaften. Die Mamluken verstanden sich als Garanten der Orthodoxie. Sie richteten fromme Stiftungen ein und sorgten für reiche Kunstausstattung. Durch rege Handelsbeziehungen über die Seidenstraße zum Osten kamen neben den üblichen Waren auch künstlerische Motive und technische Verfahren der Porzellan- und Glasbearbeitung ans Mittelmeer. Die mamlukische Kunst bietet uns die Gelegenheit, ähnlich der Situation in der Spätantike auch im spätmittelalterlichen Islam zwei Typen der Malerei zu unterscheiden. Im abbasidischen Bagdad hatten wir reizvolle genreartige, psychologisierende Themen vorliegen, etwa in den Maqamat-Handschriften. Diese »Bestseller […] der Weltliteratur vor der Erfindung des Buchdrucks« waren erfolgreiche Nachahmungen der arabischen Reimprosa des Dichters al-Hamadhani durch Ibn al-Hariri. Sie wurden in viele Sprachen, darunter ins Persische, Spanische, Türkische, übersetzt. Die diversen Bebilderungen waren eindrucksvolle Werke einer »Ästhetik des Alltäglichen«. Die strenge Glaubensüberzeugung der Mamluken führte hingegen zu einer steifen, stilisierenden Darstellung, die mit ihren Stereotypen und den unstofflichen, ja metallisch wirkenden Kleidern an byzantinische Kunst erinnert. Diese zwei Stile entsprechen durchaus den beiden Welten, die als Vorbild dienten: klassisches Altertum und Orient. »Trotz aller Formalisierung und Vergröberung früherer Stile, trotz extremer Stilisierung und einem ausgesprochenen Manierismus müssen wir doch zugeben, daß diese Bilder originell und eindrucksvoll sind, ja einen monumentalen Charakter zeigen. Da jeder Teil des Bildes auf seine wesentlichen und ausdrucksvollen Elemente zurückgeführt wird, gemahnen die goldgrundigen Szenen mit ihren leuchtenden Farben an Mosaikdarstellungen.« Diese beinahe byzantinische Kunst führte zu einer Meisterschaft der Künstler in streng formalisierter und geometrischer Kunst. Solch geometrische Dekorationen fanden Anwendung in Koranen (darunter Riesenexemplaren), liturgischen Gefäßen, sie breiteten sich auf Teppiche aus und es gab eine sichtbare Lust an komplexen Muqarnas und Mashrabiyyas. So reizvoll diese Kunst auch gewesen sein mag, sie führte durch ihren rigorosen Konservativismus zu einem Abstieg der Künste in der islamischen Welt.

3.4.2.4. Die Seldschuken Die Zeit der türkischen Usurpatoren – 1055 übernahmen sie Bagdad – war (durch den Bau von Medresen) mit einer Stärkung der sunnitischen Orthodoxie gegen die schiitische Spiritualität der Fatimiden verbunden. Ursprünglich hingen die Turkvölker Naturreligionen an, manche waren buddhistisch oder christlich missioniert, erst der Islam stiftete eine einheitliche religiöse Ausrichtung. Sie waren durch arabische

209

Die Kultur des Islam

und persische Traditionen geprägt, brachten die Eigenheiten der Steppenvölker mit, die – wie schon gesagt – in der islamischen Gesellschaft eher destabilisierend wirkten. Als Residenz wählte der Seldschuke Tughrul Beg, der Eroberer von Bagdad, »Herrscher der Herrscher, König des Ostens und Westens, Erneuerer des Islam, rechte Hand des Kalifen und Befehlshaber der Gläubigen«, Isfahan. Tughrul Begs Neffe Alp Arslan konnte weitere Gebiete erobern und schuf die Grundlage für die türkische Herrschaft. Trotz ihrer traditionellen Glaubensauffassungen waren den Seldschuken auch die islamische Mystik und der Sufismus wichtig. Al-Ghazzali, der von einem der wichtigsten politischen Figuren der Seldschuken, dem Wesir Abu Ali Hasan ibn Ali Tusi mit dem Ehrennamen Nizam al-Mulk (arab. Verwalter des Reichs), an die Medrese von Bagdad berufen wurde, formulierte eine Synthese von Sufismus und Sunnitentum geradezu als Programm für die Medresen. Ausdruck des städtischen Reichtums war ein gewaltiges Ausmaß an Kunstproduktion. Zur Erhöhung der Qualität arbeitete man insbesondere bei Metall- und Keramikkunst in Arbeitsteilung. Einen besonderen Stellenwert nahmen die seldschukische Buchmalerei, Koranillustrationen und Korankalligraphie, ein, wo sich der neue »kufische« Stil durchsetzte. Berühmt wurde die bildliche Umsetzung des von Aiyuqi verfassten Versepos Warqa va Gulshah durch den persischen Buchmaler des 13. Jh.s abd al-Mumin al-Khuwayi. Die Architektur entwickelte Minarette in allen möglichen Formen, wobei sie – ähnlich wie das bei den Kirchtürmen in der Romanik der Fall war – ihre symbolische Zeichenfunktion vor den liturgischen Zweck stellten. Besondere Akzente setzten die Seldschuken im Mausoleenbau, der durch den Sufismus angeregt wurde. Sie entwickelten verschiedene Formen, von denen in Zentralasien noch schöne Beispiele erhalten sind. Neben Medresen, Karawansereien an den Handelsrouten – allen voran an der Seidenstraße – und Ordenshäusern der Sufi-Bruderschaften (khanqahs) entstand ein neuer Moscheetyp. Er war eine Verbindung von Kuppelsaal mit vier Iwanen und wurde etwa in der Freitagsmoschee von Isfahan vorbildlich realisiert. Über die Gründe dieser Innovation, für die es Vorlagen aus vorislamischer Zeit im Iran gibt, herrscht Unklarheit. Im Gefolge der Seldschuken bildeten sich in Anatolien und in der Levante sunnitisch ausgerichtete Herrschaftsgebiete turkischer Stämme. Die Emirate der Artuqiden (1102–1408), Zanqiden (1126–1262) und der Seldschuken von Rum (1077–1307) waren dem Osten und der Orthodoxie verpflichtet. Ihre nomadisch lebenden Gruppen waren stammesmäßig organisiert, multiethnisch und vielsprachig und für den Sultan schwer zu kontrollieren. Dieser multiethnische Eklektizismus spiegelte sich in ihrer hoch entwickelten, aber vielfältigen, auch nicht-islamische Traditionen aufgreifenden Kunst. Die Artuqidenschale des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum in Innsbruck mit der Darstellung der Himmelfahrt Alexanders, persischer, byzantinischer und türkisch-islamischer Motive und Beschriftungen ist dafür ein wunderbares Beispiel. In einer originellen Besprechung der Innsbrucker Schale hat Oleg Grabar einen leicht vulgären Geschmack eines neureichen Provinzfürsten ausgemacht.

3.2.

3.3.

5.4.1.

Blair Sheila/Bloom Jonathan in Hattstein/ Delius 2005, 368

317 Artuqidenschale (12. Jh.); TLMF Grabar 2006a, 374f

210

Das Mittelalter

Ettinghausen 1962, 95

Hillenbrand 2004, 127 Ettinghausen 1962, 97–103

Grabar 2006a, 363–378

Hillenbrand 2004, 136

Hillenbrand 1999, 224

Der Artuqiden-Sultan Nasir ad-Din Mahmud regte 1206 ein Buch über die me­­chanischen Apparate seines Hofingenieurs an. Das Buch der Einsicht in die Konstruktion mechanischer Apparate von al-Jazari behandelte dieses Thema samt den zugrunde liegenden mathematischen und mechanischen Theorien griechischer Gelehrter. Es wurde reizvoll illustriert und die Miniaturen in späterer Zeit immer wieder erneuert. Die Seldschuken von Rum brachten von den zeitgenössischen Dynastien den größten Variantenreichtum an Architektur hervor, insbesondere eine große Zahl von stilistisch unterschiedlichen Moscheen. Das 13. Jh. war ein (erstes) Goldenes Zeitalter der Buchmalerei mit Zentren in Mosul, Bagdad und – nach dem Rückzug aus dem Osten in Folge des Mongoleneinfalls – in Damaskus. Diese Periode der Buchmalerei ist eine Zeit großer Unabhängigkeit und die Künstler ließen ihrer Freude an der Gestaltung freien Lauf. Kunst war nicht mehr nur an eine praktische und didaktische Funktion gebunden. Die Anfänge der Buchmalerei, die sich vermutlich aus erklärenden Abbildungen in übersetzten antiken Werken der Wissenschaft entwickelte, sind schwer rekonstruierbar. Für solche Rekonstruktionen ist der Rückgriff auf Motive in der Metall- und Keramikkunst hilfreich. Neben der Buchmalerei erreichte auch die Münzprägung eine Blüte mit figuralen (Herrscher)abbildungen, wobei die Inspiration aus allen Kulturen, namentlich auch aus dem Christentum, Anregungen erfuhr. Für die Metallkunst bildete Mosul ein Zentrum mit Künstlern, die vor den Mongolen aus Kurasan in den Westen ausgewichen waren. Etwa achtzehn noch erhaltene, besonders elaborierte Messingeinlegearbeiten zeigen neben höfischen Szenen solche aus dem Neuen Testament sowie islamische Inschriften und Dekorationsformen. Diese Vermischung christlicher und islamischer Darstellungen brachte man mit Kreuzzugspatronen in Verbindung. Unabhängig von der Tatsache, dass die Kreuzzugsbewegung zahlreiche Einflüsse in die islamische Kunst gebracht hat, vermag in diesem Fall die These mehr zu überzeugen, dass es in diesem Umfeld eine Bereitschaft gab, die umgebende Kultur in ihrer ganzen Breite abzubilden. »This metalwork may even have connoted the subject status of the Christians under Muslim rule, as the details of hierarchical placing suggest.« Bei den neutestamentlichen Abbildungen fehlten die für den Islam unannehmbaren Schlüsselszenen der Kreuzigung und Auferstehung. Der Mongolensturm, der verheerende Folgen hatte und allein in Bagdad alle 36 Bibliotheken in Flammen aufgehen ließ, drängte die islamische Elite weit in den Westen, öffnete aber auch die kulturellen Austauschkanäle in den Osten. Insbesondere Persien blühte unter den Fürstenhöfen der mongolischen Il-Khane (1256–1336), der ebenso mongolischen Timuriden (1405–1506, Herat) und der sich auf Shaik Safi und den von ihm gegründeten sunnitischen Safawiya-Orden zurückführenden Safawiden (1501–1722, Tabriz, Quazwin, Isfahan) auf. Das überkuppelte Mausoleum des Timuriden-Sultans Üldjaitü in Sultaniya (1315–1325) südlich von Tabrizwar ist eine der feinsten Interpretationen des Felsendoms. Der letzte timuridische Prinz und Kunstmäzen, Sultan Husain Baiqara in der künstlerisch hochstehenden Hauptstadt Herat war ein Rivale Cosimo de’ Medicis, Herat eine Rivalin von Florenz.

211

Die Kultur des Islam

Volkstümlicher Islam, Sufismus und Schiitentum verbanden sich auch bei den Ghasnawiden und Safawiden, unter deren Herrschaft Muslime, Christen und Hindus in großer Toleranz zusammenlebten. Buchmalerei und Teppichkunst sind in erlesenen Werken repräsentiert. Schah Ismail und dessen Sohn, der äußerst jung nomineller Nachfolger wurde, Schah Tahmasp I., gaben die Bebilderung des berühmten, von Firdausi um die Jahrtausendwende in 60 000 Versen (zahlreiche Quellen dafür sind verloren gegangen) gedichteten Nationalepos in persischer Sprache Shahname (Königsbuch) in Auftrag. Es war das größte Buchprojekt des 16. Jh.s. Im Jahr 2011 erzielte bei Sotheby’s in London ein einziges Blatt dieses Epos einen Preis von 7,43 Millionen Pfund. Ein amerikanischer Sammler, in dessen Händen das Werk zuletzt landete, hatte das Buch auseinandernehmen und jedes Blatt einzeln versteigern lassen, womit dieses Kunstwerk unwiederbringlich zerstört wurde. Auch die Sammlung von fünf Epen (Khamsa) des unter dem Schutz einer kleinen Dynastie im Osten Kaukasiens lebenden, in Gandscha (Aserbeidschan) 1141 geborenen persischen Dichters ibn Yusuf Nizami wurde in der Zeit von Tahmasp I. in Zusammenarbeit zahlreicher Künstler illuminiert. Tahmasp verlor gegen Ende seines Lebens die Freude an der Buchkunst und den Künsten generell und wandte sich der Mystik zu. Das führte zur Abwanderung vieler Künstler nach Indien, die dort in den Dienst der Mogulen traten. Die verbliebenen Künstler waren selbstbewusst, signierten ihre Werke, wandten sich Alltagssujets zu und, nachdem Schah Abbas I. die Herrschaft der Safawiden wieder gefestigt hatte, öffnete sich der Iran dem Westen, was zahlreiche Anregungen ins Land brachte. Er machte Isfahan zu einer blühenden Stadt. Nach dem Vorbild der koranischen Paradiesstädte errichteten die Baumeister nach den Ideen von Abbas die Shah-Moschee mit Iwan-Portal und eine Palastanlage, die ihresgleichen sucht, inklusive Musikzimmer nach den neuesten Erkenntnissen der Akustik und einem Polofeld in der gewaltigen Gartenanlage.

Niewöhner Elke in ­Hattstein/Delius 2005, 521

Chelkowski 1975

3.4.2.5. Die Osmanen 1308 zerfiel das Reich der Seldschuken endgültig, zugleich schwand der Einfluss der Mongolen. In dieses Vakuum stießen die bereits erwähnten kleineren Emirate mit ihrem bemerkenswerten Kunsthandwerk. Die nach dem Dynastiegründer und Clanchef Osman benannten Osmanen, turkmenische Völker, waren knapp vor der Jahrtausendwende aus den Randgebieten der heutigen Mongolei von den Mongolen nach Anatolien gedrängt worden. Sie vermochten sukzessive ihre Machtposition auszubauen auf Kosten von Byzanz und ihrer muslimischen Nachbarn. Auf ihrem Zug aus den Ursprungsgebieten sogen sie ein iranisches und syrisches Motivrepertoire auf und gestalteten eine gegenüber Byzanz, aber auch gegenüber den Seldschuken eigenständige Kunst. Die osmanische Sprache war ein Gemisch aus Türkisch, Persisch und Arabisch. Geschrieben wurde sie bis zu Atatürk in arabischer Schrift. Der Sohn Osmans, Orhan, der als Erster den Sultanstitel trug, machte Bursa zur Hauptstadt. Murad I. und dessen Sohn Bayazid I. erweiterten das Reich auf den Balkan und in den Osten. Den endgültigen Durchbruch brachten die Schlachten am

Yerasimos 2007, 158

212

Das Mittelalter

Lafontaine-Dosogne Jacqueline in Volbach/ Lafontaine-Dosogne 1968, 156 Brotton 2002, 50

Yerasimos 2007, 214 Hattstein Markus in Hattstein/Delius 2005, 537

Amselfeld 1389, wo sowohl der serbische Herrscher als auch Murad fielen, und Nikopolis an der Donau 1396. 1361 wurde Edirne (Adrianopel) zur neuen Hauptstadt. Erst allmählich bildete sich ein Hof nach byzantinischen und europäischen Vorbildern. 1453, erstaunlich spät, fiel schließlich im Zuge der Orientierung der Osmanen nach Europa Konstantinopel. Am 29. Mai 1453 zog Mehmed II., Fatih (der Eroberer), der bedeutendste Herrscher der Osmanen, in Konstantinopel ein und machte es nach umfangreichen Aufbauarbeiten zur Hauptstadt des Osmanischen Reichs. Eines der Projekte war der Große Basar, durch den die Stadt zu einem internationalen Handelszentrum wurde. Mehmed beherrschte die griechische Sprache und rühmte sich sogar byzantinischer Vorfahren. Nach seinem Triumph in Konstantinopel ließ er Humanisten aus Italien kommen, die ihm täglich aus Texten antiker Historiker, aus den Chroniken der Päpste und der lombardischen Könige vorlesen mussten. Der offizielle Name blieb Konstantiniye, populär wurde Istanbul (griech.: eis-stin polin/in die Stadt) Zwar deportierte Mehmed anfangs praktisch alle Überlebenden und siedelte eine neue Bevölkerung in der Stadt an. Im Laufe der Jahre wurden jedoch christliche, griechische, armenische, spanisch-jüdische (sephardische) Minderheiten geduldet. Vor allem die 1492 aus Granada vertriebenen sephardischen Juden fanden in Istanbul eine neue Heimat. Auch das Patriarchat blieb bestehen und hatte seinen Sitz nach Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee kurzzeitig in der seit den Zerstörungen der Kreuzfahrer stark beschädigten Apostelkirche. 1461 wurde der Bau einer Sultansmoschee (Fatih-Moschee) auf dem Gelände der abgebrochenen Apostelkirche in Angriff genommen. Man fand keinerlei Bauteile der alten Kirche in der Moschee, sodass von einer radikalen Auslöschung der Erinnerung an das Alte ausgegangen werden kann. Aber Mehmed gewährte Juden und Christen Schutz und weitgehende kulturelle Autonomie. Es folgten weitere Eroberungen. Das Osmanische Reich wurde eine Weltmacht und der stärkste islamische Staat. Die Bautätigkeit in Istanbul erreichte wohl wegen der noch nötigen Konsolidierung des Reichs erst unter Süleyman I. dem Prächtigen und seinem berühmten, um 1500 geborenen Baumeister Sinan einen Höhepunkt. Sinan, dem über 400 Bauten und Renovationen (von denen knapp 200 noch erhalten sind) zugeschrieben werden, gilt als einer der größten Baumeister der Geschichte und verhalf dem Osmanischen Reich zu einer Blütezeit in der Architektur. Sein Grabmal ist eine bescheidene Türbe nahe der Süleymaniye. Die Erneuerung Istanbuls fand zur gleichen Zeit statt, in der eine zweite Weltstadt, Rom, mit Bramante, Michelangelo und Bernini ein neues Gesicht erhielt. 1529 stand als Folge des erbitterten, sich lange hinziehenden Kampfes um Ungarn Süleyman vor Wien. Nach dem Friedensschluss mit Karl V., der dafür Tributzahlungen entrichtete, ließ Süleyman mit dem Bau der Süleyman-Moschee seinen triumphalen Herrschaftsanspruch augenscheinlich werden. Istanbul war eine multikulturelle Stadt mit christlichen und jüdischen Bevölkerungsteilen. Die europäischen Staaten hatten dort ihre Botschaften eingerichtet und die Stadt wurde zum begehrten Ziel von Händlern und Intellektuellen. Es gab nach wie vor eine griechi-

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Die Kultur des Islam

sche Akademie des orthodoxen Patriarchats. Ein beeindruckendes Zeugnis dieser feinsinnigen Zeit ist die Einspielung osmanischer und sephardischer Musik, basierend auf den Sammlungen Dimitrie Cantemirs durch das Ensemble Hespèrion XXI unter Jordi Savall. In der Zeit Süleymans erlebte das Osmanische Reich seinen Höhepunkt. Ob die Niederlagen 1571 in der Seeschlacht von Lepanto und 1683 unter Mehmed IV. bei der zweiten Belagerung Wiens auch auf eine militärtechnische und wirtschaftliche Rückständigkeit der Osmanen zurückzuführen waren, wird in der Literatur diskutiert. Jedenfalls hatte sich das Sultanat in den Machtspielen und Intrigen des Harems und des Palastes verheddert und der Welt entfremdet. Zudem wurden die künftigen Sultane vor ihrer Wahl durch ein Gremium über Jahre im Serail eingesperrt, es fehlte ihnen jede politische Erfahrung. Dafür griffen die Großwesire in das Ruder der Machtausübung. Der Serail zog sich schließlich aus Europa zurück. Aber die Niederlage führte umgekehrt zu einer Europäisierung in Wissenschaft und Kultur. Die verbreitete barocke Baukunst in Istanbul ist dafür ein beredtes Zeugnis. Der Blick auf die Architektur zeigt am Anfang die mehrkuppelige seldschukische Pfeilermoschee, etwa in Bursa (Ulu Cami; 1396) und Edirne (Eski Cami; 1403). Es gab im arabischen Raum eine eigene Tradition der Kuppel. In der Regel beruft man sich dabei auf das vorislamische Kuppelzelt (qobba). Große Kuppeln im osmanischen Bereich gab es bereits bei den Hammams. Mit Rückgriff auf Persien und Anatolien begann in Iznik (Haci Ozbek; 1333) oder Edirne mit der Üç-Serefeli-Moschee (1437–1447) die Ambition zur großen Kuppel und hohen Minaretten. Sie markiert »den Beginn des Wettbewerbs um die größte Kuppel unter den osmanischen Bauherren.« Das höchste der vier Minarette in Edirne wiederum maß 68 Meter. Die Vielkuppelmosche war jedoch damals bereits ein »Auslaufmodell« angesichts einer Tendenz zur Vereinheitlichung des Raumes und der Tatsache, dass die Kuppel repräsentative und symbolische Bedeutungen aufsog. Nach der Eroberung Konstantinopels ging die osmanische Architektur eine Symbiose mit der dortigen Form des überkuppelten Zentralbaus ein – etwa im überwältigenden Vorbild der Hagia Sophia. In ihr soll Mehmed II. drei Tage nach der Eroberung der Stadt ein Gebet verrichtet und die Kirche zum Vorbild für die weitere Sakralarchitektur erklärt haben. Die Geschichte illustriert für viele Forscherinnen nicht nur eine zutreffende Parallele zwischen den architektonischen Formen, sondern steht auch für eine bemerkenswerte Übereinstimmung der Rolle des byzantinischen Kaisers und des osmanischen Sultans im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Religion. Gülru Necipoglu liest dies aus einer Analyse der Süleymaniye: »[…] the Süleymaniye mosque proclaimed the perfect concordance of state and religion in the person of the Sultan.« Naturgemäß vermied man in den folgenden Moscheebauten jede Andeutung einer Kreuzform. Bei der Hagia Sophia hatten die Architekten Halbkuppeln zur Verringerung des Schubs auf die darunter liegende Pfeilerhalle eingesetzt. Dies wurde bei den Moscheebauten zu einem wichtigen statisch-bautechnischen und gestalterischen Element und besonders für die Osmanen das primäre Planungsmodul (primary planning module), das vor allem Sinan meisterhaft beherrschte.

Savall 2009

Smith 1950, 83f

Yerasimos 2007, 193 Gladiß Almut in ­Hattstein/Delius 2005, 545

Ebd., 546

Necipoglu 2005, 207

Grabar 2006a, 350 Grabar 2006b, 87–102

214

Das Mittelalter

die Moschee

Sinan

Necipoglu 2005, 13 Necipoglu 2007

IV.6.2.2.

Hillenbrand 2004, 266 318 Süleyman-­ Moschee; Istanbul

Grabar 2006a, 349

Die Moschee war nicht nur ein Gebetsraum, sondern ein soziales Zentrum mit Medresen, Armenhäusern, Bädern, Krankenhaus und meist mit der Grabanlage des Stifters. Solche Stiftungskomplexe konnten auch von Frauen eingerichtet werden – bekannt etwa die Stiftung Hürrem Sultans, der Lieblingsgattin Süleymans, oder jene von Sultansmüttern. Sie ermöglichten den Frauen, mit sozialem Engagement aus der gesellschaftlichen Isolierung zu treten. Dass die monumentalen Moscheen in Istanbul entstanden, erklärt sich aus der Absicht, der christlichen Metropole eine neue Identität zu geben. Beim schon erwähnten Bau der Fatih-Moschee an der Stelle der Apostelkirche dokumentierte der Sultan in einer Gründungsschrift seine Absicht, die verfallene Stadt neu zu erschaffen. Die Bauwerke waren ein wichtiger Ausweis dieser neuen Identität gegenüber den zahlreichen ausländischen Botschaftern, die Istanbul besuchten. Die Medresen, die den Bau einrahmten, sollten einen Brennpunkt der Wissenschaft bilden und den sunnitischen Islam fördern. Der große Architekt Sinan kam durch eine Knabenlese (Zwangsrekrutierungen im Osmanischen Reich) von Zentralanatolien (möglicherweise aus einer christlichen Familie) nach Istanbul. Vielleicht erlernte er erste Ingenieurstechnik bei der Armee und interessierte sich für die Bauwerke der eroberten Städte. Er drückte Istanbul mit seinen Meisterwerken seinen Stempel auf und war der Urheber der »Klassik« der osmanischen Architektur, mit all den Fallstricken solcher Einordnungen. Die heutige berückende Silhouette der Stadt – Motiv zahlreicher Panoramen von Künstlern, welche die Stadt besuchten – geht auf sein Wirken als Hofarchitekt zurück. Sinans planerische Visionen entzündeten sich am Kuppelbau, wie er ihn in der Hagia Sophia genial realisiert vorfand. Nach einem im Auftrag von Süleymans Lieblingsfrau Hürrem realisierten Stiftungskomplex baute Sinan einen ähnlichen Moscheekomplex für Süleymans Tochter Mihrimah Sultan – zugleich die Frau des Großwesirs Rüstem Pasa – die Iskele-Moschee in Istanbul (Üsküdar). Sie gilt bereits als Werk der Reife. Noch monumentaler war die streng symmetrisch entworfene Sehzade-Moschee (Prinzenmoschee; 1543–1548) in Erinnerung an Süleymans an Pocken verstorbenen Sohn und Thronfolger. Um den wie eine musikalische Fuge komponierten Gebäudeberg, der einen Sozialkomplex beherbergte, befanden sich auch die bis zu 70 Meter in den Himmel ragenden Bleistiftminarette. Die Süleymaniye, die Sinan zwischen 1550 und 1557 auf den höchsten Hügel der Stadt stellte und die bis heute ein dominierendes Pyramiden-ähnliches Zeichen setzt, wird in der Literatur als Meisterwerk gefeiert. Nirgendwo gibt es ein zweites Mal eine solch dynamische Kaskade von Kuppeln, so viele Achsen, Richtungen, Blickpunkte, so viele verbale und visuelle Referenzen zu anderen großen Moscheen, zur Hagia Sophia und – zum Paradies. Blieb die Fliesenausstattung in der Süleymaniye noch auf die Umrahmung des Marmor-Mihrab beschränkt, waren die Grabbauten Süleymans und Hürrem Sultans mit prachtvollen Iznik-Fliesen im Saz-Stil ausgestattet. Sie zeigten ein Pflanzendekor, das von der Ausstattung osmanischer Gärten inspiriert

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Die Kultur des Islam

wurde und natürlich – zumal in einer Grabanlage – den himmlischen Paradiesgarten symbolisierte. Eine besondere Rolle spielte die Tulpe, die vermutlich aus Persien stammte und im Osmanischen Reich buchstäblich zu großer Blüte gelangte. Erst mit Atatürks Verdrängung des Osmanischen ließ er auch die Tulpe sterben, sie wanderte sozusagen in ihr Exil nach Holland. Die intime Moschee inmitten des kleinen Basars des aus Kroatien stammenden Großwesirs Rüstem Pasa, einem Förderer des Handwerks, 1561–1563 von Sinan gebaut, wurde mit üppigen Iznik-Fliesenwänden versehen. Besonders stolz war Sinan – so berichtet sein Biograph Mustafa Sai – auf die Moschee für Selim II., Sohn und Nachfolger Süleymans, in Edirne (1569–1575). Der durch grandiose Licht- und Raumwirkung ausgezeichnete Bau mit einer Kuppel von 43 m Höhe und 31,28 m Durchmesser, sowie mit vier knapp 71 m hohen Minaretten ist nicht nur die größte osmanische Moschee, sondern gilt als das Meisterstück Sinans. Dennoch wurde die Kuppelhöhe der Hagia Sophia (49m, Durchmesser 31m; zum Vgl.: Pantheon Durchmesser und Höhe knapp 44m) knapp unterschritten. In der Wissenschaft gibt es eine – vor allem von Godfrey Goodwin angestoßene – Debatte um einen ausdrücklichen osmanischen Barockstil, der mit Sinan begonnen habe. Die Diskussion nimmt dabei methodisch Anleihen an dem Übergang von der Renaissance im Westen in den Barock und versucht, für den osmanischen Bereich etwas Ähnliches zu konstatieren. Auch Sinan habe demnach die göttliche Architektur des Kreises und der zentralen Kuppel mit ihrer Lichtfunktion verehrt, habe dies aber nicht von Vitruv, sondern vom praktischen Vorbild der Hagia Sophia abgeleitet. Es ging Goodwin darum, einer »dekadenten« Mischung von persischen, byzantinischen Motiven einen eigenständigen osmanischen Stil (in its own right) gegenüber zu stellen: »Its aim is, also, to show Ottoman baroque as a creative period; […] It clearly had individuality and zest.« Für ihn war Sinan spätestens mit seinem Grabmal für Süleyman sogar der Erfinder des Barock – ähnlich aber zeitlich von vor Bernini. Diese Beziehung bleibt formal, während Goodwin zwischen dem »ottomanischen Barock« und Christopher Wren eine tatsächliche historische Berührung annimmt. Gülru Necipoglu bleibt in dieser Frage wesentlich zurückhaltender. Sie versteht Sinans Formensprache nicht als kunsthistorische Stiloption, sondern aus dem jeweiligen Kontext von Auftraggeber und dem kulturellen Umfeld. Die Diskussion darüber ist im Gange. So gewagt die These eines eigenständigen Barock im Osmanischen Reich sein mag – eine Reihe von Austauschvorgängen mit dem Westen lassen auch andere Rückschlüsse zu –, kommt ihr das Verdienst zu, nützlich zu sein »as a provocation for historical research, pointing to the existence of more specific and complex histories […].« Letztlich geht es um eine Rezeptionsfrage, inwieweit man der osmanischen Kultur eine eigene Tradition zubilligt, was im Gegenzug wiederum als verkappter Orientalismus ausgelegt wurde, nicht zu sprechen von der Rivalität einer osmanischen versus arabischen Architekturtradition. »A combination of Ori-

319 Rüstem-Pascha-­ Mosche mit Wand­ fliesen; Istanbul

320 Tulpenmotiv in der Rüstem-Pascha-­ Mosche

Goodwin 1971, 6 321 Beyazit-Moschee mit Reinigungsbrunnen (1506); Istanbul Ebd., 76

Caygill 2011, 78

216

Das Mittelalter

Necipoglu 2007, 141; Necipoglu 2005, 77–103

Papadopoulo 1977, 284

322 / 323 Sultan Ahmed-­Moschee (1616), innen; Istanbul

Topkapi Saray

entalist and nationalist paradigms has hindered a fuller understanding of the ways in which the chief architect’s monumental mosque complexes […] mediate among the Islamic, Byzantine, and Italian Renaissance architectural traditions.« Einen anderen Aspekt brachte Alexandre Papadopoulo ins Spiel. Seiner Meinung nach ist die gewaltige Höhe mancher osmanischer Moscheen nicht vom Islam her abzuleiten. »Der Muslim blickt nicht wie der Christ zum Himmel, sondern durch die Qibla nach Mekka. […] Der islamische Kultraum ist also im wesentlichen horizontal […]. Die Entwicklung in der Architektur der Moscheen, die sich auf altem byzantinischem Territorium, besonders in Konstantinopel, abspielte, liegt also vor allem im Ersatz des islamischen Kultraums durch den christlichen Symbolraum, der vertikal verläuft, da der Christ sein Gebet und seinen Blick unmittelbar zum Himmel richtet.«

Der Architekt Mehmed Aga, ein Schüler Sinans, realisierte für Sultan Ahmed I. an einem der reizvollsten Bauplätze über dem Marmarameer und gegenüber den byzantinischen Prachtbauten eine Moschee, die er flächendeckend mit Keramik auskleiden ließ. Wegen der (teilweise in minderer Qualität gebrannten) 21 000 überwiegend in Blau gehaltenen Fliesen aus 300 Werkstätten in Iznik nannte man diesen Bau Blaue Moschee. Das Licht, das durch die aus Venedig importierten farbigen Glasflächen der 260 Fenster strahlte, verwandelt den Raum in eine gewaltige Lichtkaskade. Mit der Anlage des Topkapi Saray knüpfte Mehmed (der zuerst einen ersten Palast im Zentrum der Stadt errichten lassen hatte) an die antike Tradition der kaiserlichen Herrscheranlagen wie jener Hadrians in Tivoli an, die in Granada, Isfahan und im Indischen Osten auch islamische Versionen hervorgebracht hatte. Das Hofzeremoniell pflegte einen unüberbrückbaren Abstand zwischen der (byzantinischen) Entrücktheit des Sultans und den gewöhnlichen Menschen. Diese Isolierung des Herrschers war aber nicht nur Zeremoniell, sondern einem Realitätsschwund des Hofes geschuldet. Zugleich war es ein Rückzug in den verschwenderisch-luxuriösen Harem, ein Rückzug in den sinnlichen Genuss und in die Welt der schönen Künste. Der Palast entstand an der hervorragenden Stelle, wo Goldenes Horn, Bosporus

217

Die Kultur des Islam

und Marmarameer zusammenstießen, und wurde damit ein Symbol der einmaligen strategischen Lage der neuen osmanischen Metropole. Auf dem 60 Hektar großen Areal erstreckte sich die Ruinenlandschaft der seit der Eroberung durch die Kreuzfahrer verfallenden byzantinischen Palastanlage. Der Name des Palastes, an dem über Jahrhunderte gebaut wurde und der anfangs schlicht Yeni Saray (neuer Palast) hieß, leitete sich von einem mit Kanonen bestückten Tor (topkapi) ab, das zur Landspitze führte. Das Hofatelier des Topkapi Sarays war eine Quelle der Kalligraphie, von Luxuswaren, Schmuck, Kleidung, Metallkunst. Angestrebt wurde eine glänzende farbenfrohe Oberflächengestaltung, wozu eigene Techniken entwickelt wurden. Der naturalistische, ja barocke Stil der Architekturen mit ausgedehnten Gartenanlagen als Abbild des Paradieses ruft in Erinnerung, wie stark der Reiz des Renaissance-Italien bis nach Istanbul reichte. Dass Mehmed sich von Gentile Bellini porträtieren ließ, ist ebenso wenig zufällig wie die Tatsache, dass er sich Anregungen für die Ausschmückung des Topkapi Sarays von Künstlern aus Florenz holte. Sein Sohn und Nachfolger Bayazid II. brach diesen kulturellen Austausch kurzzeitig ab, er wurde jedoch unter späteren Herrschern wieder aufgenommen. Dabei spielte die alte Spannung der Bilderfrage, insbesondere des perspektivischen Porträtbildes, auch eine Rolle. Orhan Pamuk hat diese Zusammenhänge in seinem Roman Rot ist mein Name (2001) eindrucksvoll dramatisiert. Innerhalb der islamischen Kunst gilt die osmanische als besonders eigenständig. Manchmal wird ihr bei höchster Qualität in der Ausführung eine gewisse Statik, ja gar Dogmatisierung nachgesagt. Dies hat mit der strengen Kontrolle der Künstler zu tun. In der Architektur soll es sogar zentral standardisierte Blaupausen gegeben haben. Jedenfalls war die Errichtung von Bauwerken gut organisiert und kontrolliert. Vor allem die Palastwerkstätten, in denen Kunsthandwerker aus allen Teilen des Reichs arbeiteten, förderten einen eigenständigen osmanischen Stil als Symbiose all dieser Einflüsse. Im Schoß dieser Werkstätten entstand – angeblich von einem aus Täbris stammenden Künstler mit dem Namen Shahkulu – im 17. Jh. der sogenannte Saz-Stil (Schilfrohr-Stil), ein naturalistischer Stil, der persische und chinesische Motive verwandte und den osmanischen Dekorationsstil auf Fliesen, Töpferwaren, Stoffen und Teppichen nach dem Mittelalter prägte. Eine Konkurrenz erwuchs diesem Stil vom sogenannten Frühlingsstil (Quatre Fleurs), der dem Buchmaler Kara Memi zugeschrieben wird und naturalistische florale Motive zeigte. Besonders blühte in den Werkstätten die Kalligraphie und Buchkunst, angeregt durch bibliophile Sultane. Der Bucheinband wurde zu einem Kunstobjekt und es gab Künstlerdynastien, die sich nur diesem Genre verschrieben. Neben den Palastwerkstätten wurde die Türkei durch die Produktionszentren Iznik für Keramik, Bursa für Seidenverarbeitung und Textilkunst und Usak für die Teppichkunst berühmt. Nach ersten Erzeugnissen aus Tabriz übernahm Iznik, das ehemalige Nizäa, das schon bei seiner endgültigen Eroberung durch die Osmanen 1331 ein Keramikzentrum war, die führende Rolle. In Iznik kulminierte die 1000jährige Keramikherstellung. Erzeugt wurden Fliesen und Kacheln, Karaffen, Lampen und Teller, neben der Gebrauchskeramik auch Objekte ästhetischer Wertschätzung.

Hillenbrand 2004, 257

Keramikkunst

218

Das Mittelalter

Blair Sheila/Bloom Jonathan in Hattstein 2005, 448–451

Hillenbrand 2004, 272

Yerasimos 2007, 320f Teppichkunst

324 Konya-Teppich; TIAM Erdmann 1977 Erdmann 1974

Gantzhorn 1990, 39ff

Die Keramikherstellung war als Monopolbetrieb des Sultans organisiert und die Erzeugnisse ein Exportartikel für ganz Europa. Die Fliesen wurden für die Gestaltung von Moscheen und Palästen verwandt. Sie trugen neben Tiermotiven und koranischen Inschriften Blumenmotive. Grundsätzlich waren Fliesen als dekorative Hülle für Gebäude, wie es sie bereits in der assyrischen und babylonischen Architektur gab, in der gesamten islamischen Welt verbreitet. Im Osten standen neben geometrischen auch pflanzliche und kalligraphische Motive im Vordergrund, im Westen bevorzugte man geometrische. Bei den verschiedenen Bearbeitungstechniken ging es in erster Linie um die Leuchtkraft der Farben – proportional zu den Kosten der Herstellung. Wie in der Metallkunst strebte man sorgfältig gearbeitete und glänzende Oberflächen an. Mit Hilfe dieser Keramik verwandelte sich ein mihrab in einen Paradiesgarten. Die ursprünglich blau-weiße Farbgebung wurde später ergänzt, vor allem durch das Tomatenrot, das als Ausdruck von Macht und Reichtum galt. Das rote Pigment erschien erstmals in der Mihrab-Einrahmung der Süleymaniye um 1550. In der zweiten Hälfte des 16. Jh.s kam es zur Massenproduktion, um die vielen Gebäude und privaten Residenzen auszustatten. Im 17. Jh. begann der Abstieg von Iznik. Gründe dafür waren neben der Massenerzeugung eine Preisbindung durch den Hof. Große Probleme bereiteten die ständigen Feuersbrünste durch die Brennöfen und die Gefahren durch das giftige Blei. Das letzte große Werk Izniks war die Ausstattung der Blauen Moschee. Ein ähnlich erfolgreicher Exportartikel waren die Teppiche. Nach gängiger Meinung in der nur etwa ein Jahrhundert alten Forschung zum orientalischen Teppich hätten die Osmanen oder Seldschuken die Teppichknüpfkunst bereits bei ihrer Wanderung nach Anatolien aus dem Osten mitgebracht. Diese aus begreiflichen Gründen auch in den türkischen Museen verbreitete These verweist auf die ältesten und berühmtesten Exemplare, auf die wahrscheinlich aus dem 14. Jh. stammenden, etwa 18 erhaltenen Konyateppiche, die 1903 in der Ala-ad-Din Moschee von Konya, der alten Seldschukenhauptstadt in Zentralanatolien (sowie in Beysehir und Kairo), gefunden wurden. Insbesondere mit Hilfe dieser Exemplare führte Kurt Erdmann den orientalischen Teppich auf einen nomadischen Ursprung (Fellersatz) zurück. Dieser Theorie ist inzwischen widersprochen worden. In einer magistralen Untersuchung sieht Volkmar Gantzhorn den Teppich als kultiviertes Produkt einer hoch entwickelten städtischen und höfischen Kultur. Er schreibt den orientalischen Teppich, der im sogenannten »Teppichgürtel« (Anatolien, Iran, Zentralasien, Kaukasus) blühte, den Armeniern mit ihren phrygischen und urartäischen Wurzeln zu. Kunstphilosophisch war der Teppich von Anfang ein Symbol von weltlicher, geistiger und geistlicher Macht. Er war aufgeladen mit den abstrakten Zeichen des Weltkosmogramms, das die Gestalt von Mandalas annahm, und gründete in einem tantristischen Weltbild. Man kann ihm eine ähnliche Funktion zuschreiben wie der Ornamentik in der Schrift, welche die Wahrnehmung verändert. Dieses vertrug sich insbesondere mit dem Monophy-

219

Die Kultur des Islam

sitismus der Armenier nach deren Annahme des Christentums. Als Monophysiten von der byzantinischen Orthodoxie verfolgt, standen sie unter dem Schutz der Muslime, denen diese theologische Variante sehr nahe war, was zu einer engen Verflechtung des armenisch-christlichen und islamischen Mustervorrats führte. Seine Überlegungen macht Gantzhorn an dem ältesten erhaltenen Knüpfteppich, dem in Sibirien gefundenen Pazyryk-Teppich (5./4. Jh.a) aus der phrygischen Metropole Sakis fest, der, feingemustert und kurzflorig, ein besonders kunstvolles Stück darstellt. Da die Phrygier auch als Erfinder des Mosaiks gelten, kann die Ikonographie der Muster parallel behandelt werden. Beides hat sich gegenseitig beeinflusst. Das Mustergut für Mosaik und Teppich, teilweise auch für die Buchmalerei und das Architekturrelief, habe sich demnach von Antiochien aus über das gesamte römische Weltreich verbreitet. Auch zu dieser Frage könnte eine weitere Forschung zur Nähe von vornizäanischem Christentum und Islam mehr Klärungen bringen. Besonders interessant ist ein – auch historisch belegbarer – Zusammenhang zwischen den Teppichmotiven des Orients und der Ornamentik der irischen Buchmalerei, ein klassisches Motiv orientalischer Wurzeln der europäischen Kultur. Grob lässt sich ein Unterschied feststellen zwischen den früheren, im osmanischen und kaukasischen Raum eher geometrischen Formen und den späteren, vor allem im Iran verbreiteten floralen Teppichen. Die Teppiche tauchten als erlesene Kostbarkeiten in ganz Europa auf. Insbesondere in Italien und Belgien schätzte man sie hoch und sie wurden etwa seit dem 14. Jh. auf unzähligen Bildern dargestellt. Die Namen der Maler (Crivelli, Holbein, Bellini, Lotto, Memling) dienen sogar dazu, einzelne Teppichgruppen zu unterscheiden und einzuteilen. Eine weitere Kunstgattung, die höchste Qualität erreichte, war die Buchkunst, sowohl die Kalligraphie als auch die Buchmalerei. Es war ein wichtiges Anliegen, die grandiosen Moscheebauten mit ebenbürtigen illuminierten Koranexemplaren auszustatten. Daneben gab es Prachtausgaben von Historientexten und Gedichtsammlungen. Die osmanischen Kalligrafen entwickelten eine Fülle von Schreibstilen, die mit der Länge und dem Zuschnitt der Schreibfeder korreliert waren. Die Kufischrift wurde von angenehmer zu schreibenden Formen abgelöst. Shaik Hamdullah aus Buchara und Ahmed Karahisari entwickelten über die sechs klassischen Schreibarten des Arabischen hinaus jeweils einen eigenen osmanischen Stil. Die Buchmalerei zeigte persische Einflüsse aus der Timuridenzeit. In der religiösen Buchmalerei wurden neue Bildsujets ersonnen. Ein besonders köstliches Stück ist der Siyar-i-Nebi von 1594, eine sechsbändige reich bebilderte Geschichte des Lebens Mohammeds. Bedeutende Buchmalerei fand sich aber auch in profanen Büchern, darunter in Reiseführern. In der Zwischenzeit war der Westen kulturell und künstlerisch längst auf Augenhöhe und das Osmanische Reich fand sich in einer Wettbewerbssituation mit dem Westen, der in der Renaissance die Führung in der Kunst übernommen hat.

Ebd., 54

4.1.

220

Das Mittelalter

4.0. Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Schaller Andrea in Reudenbach 2009, 327

Fillitz 1969, 40

Reudenbach 2009, 12 III.2.1.3.

Technau 1940, 304

Schweitzer 1949, 272

Während im Osten die hoch entwickelten Kulturen von Byzanz und des Islam blühten, rang der Westen um den Anschluss an die Antike und deren Transformation ins Mittelalter. Diese Transformationsfrage stellt sich natürlich auch für die Kunst. Die wichtigste Klammer, die aus der Spätantike ins Mittelalter reichte, war das Christentum mit der Tradition der frühchristlichen Kunst, einschließlich der in diesem Umfeld diskutierten kunstphilosophischen Fragen, die damals in erster Linie theologische Fragen waren. Dieses Christentum war anfangs unübersehbar von heidnischen Motiven überlagert und vieles behielt es bei, wie die Magie des Reliquienkultes. »Auch in Gegenden, in denen die Christianisierung längst abgeschlossen war, lebte der Glaube an die alten Götter weiter fort, hatten heidnische Bilder, Zeichen und Zierformen neben den christlichen Symbolen noch Bestand.« Da die frühchristliche Kunst primär als Umcodierung antiker Kunst ins Koordinatensystem dieser neuen Religion und Theologie geholt wurde, gab es im Korpus dieser Kunst auch eine Präsenz des Antiken. »Der reiche Strom des künstlerischen Schaffens im Abendland zur Zeit der Karolinger läßt sich ohne die ständige Berührung mit der Kunst der Spätantike nicht verstehen.« Auch wenn also »die Formfindung der karolingischen und ottonischen Kunst maßgeblich durch die Antike und speziell die frühchristliche Spätantike bestimmt« war, macht dies diese Kunst keineswegs zu einem »rein kopierenden Revival der frühchristlichen Spätantike.« Es handelte sich vielmehr um eine »Begegnung und Verbindung des antiken Erbes mit einer gänzlich anderen Formenwelt […] die Einbeziehung von im weitesten Sinne germanischen, von langobardischen oder insularen Formen.« Im frühen Mittelalter gab es den Brauch, ähnlich wie bei den orphischen beschrifteten Goldblättchen, den Toten kreuzförmige Goldblättchen auf das Gesicht zu legen. Hier trägt die Kreuzform eine eindeutige christliche Bedeutung, aber es gibt eine Fülle von Kleinkunst, wo man nicht mit Sicherheit entscheiden kann, ob sie christlich oder heidnisch zu verstehen ist. Dass insbesondere in der Sakralarchitektur ein kontinuierlicher Übergang der antiken Bauformen zur neuen Verwendung stattfand, wurde bereits beschrieben. In der bildenden Kunst war die Verschiebung auch in der Form deutlicher. Das hatte sich über die Spätantike hinweg bereits angekündigt und könnte umschrieben werden mit einer »unaufhaltsamen Zerstörung der antik-klassischen Bilderwelt, ihrer schönen Menschlichkeit und ihrer Sinnennähe.« Die Natur wurde zunehmend abstrahiert. Kunstphilosophisch ist das nicht Ausdruck eines Verfalls, sondern entspricht dem Narrativ einer Unterordnung unter eine höhere Ordnungsmacht. Dies konnte an die Form byzantinischer Abstraktion nahtlos anschließen. Dass sich hier die Entgegensetzung von Körper und Seele als passender philosophischer Hintergrund anbietet, ist sicherlich nicht falsch, aber dies ist nur ein Aspekt der platonischen Metaerzählung im Hintergrund. Erst am Übergang in die Gotik kehrte (über die aristotelische Philosophie) die Naturalisierung der Plastik zurück und bereitete den Gang in die Renaissance und der ausdrücklichen Rückwendung zur klassischen

221

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Antike vor. Dieser Prozess erhielt im Reich Karls des Großen einen ersten bedeutenden Impuls.

4.1. Vorkarolingische Kunst und Architektur Die Periode vor Karl, die Zeit der Völkerwanderung, ist unübersichtlich und nicht leicht zu rekonstruieren, geschweige denn, dass kunstphilosophische Hintergründe mit einiger Eindeutigkeit auszuleuchten wären. Kunstgeschichtlich am besten untersucht ist der reiche Schatz vorkarolingischer Buchkunst. Im 4. Jh. trat der Codex, das gebundene Buch, an die Stelle der Buchrolle, die nur mehr vereinzelt für liturgische Zwecke ein Nachleben hatte. Die Buchrollen wurden manchmal nach dem Vorbild antiker Säulen gestaltet. Bei der Predigt wurde die Rolle geöffnet und der lange Papierstreifen zur Illustration des Gesagten von der Kanzel nach unten gelassen. Auf der der Gemeinde zugewandten Seite war er bebildert, auf der Rückseite stand der Text. Bis lange in das Mittelalter hielt sich die von Gregor dem Großen formulierte Meinung, Bilder seien für die Ungebildeten, der Text für die Gebildeten. Noch Ulrich von Pottenstein bemühte im Spätmittelalter dieses Argument. Der Übergang von der Buchrolle zum Buch stellte einen Medienwechsel mit kulturellen Konsequenzen dar. Der Codex suggeriert »eine neue Wissenskonzeption: eine Konzeption von Einheit, Ordnung und Vollständigkeit. Er suggeriert Verlässlichkeit und Zugänglichkeit des Wissens im Hinblick auf ein abgegrenztes und abgrenzbares Sachgebiet.« Der Einband und die Initiale boten neben der Illuminierung die Möglichkeit, aus dem Codex ein Kunstwerk zu machen. Irland entwickelte eine Meisterschaft im Initial und in der Ornamentik, auf dem Kontinent blieb die figürliche Darstellung führend. Der Codex in karolingischer Zeit erschien als ideale Verbindung des heiligen Wortes mit einer schön gestalteten Hülle, dem Einband, »der gleichsam das ›Gefäß‹ im Sinne der in den Libri Carolini formulierten Theorie der Skulptur bedeutet.« Neben der Buchkunst ist die (meist an Vorlagen in romanischen Ländern anknüpfende) Architektur, aber auch die Kleinkunst ein gut durchforstetes Forschungsfeld. Die vorkarolingische Sakralarchitektur hing stark an mediterranen und nordafrikanischen Vorbildern und zeitigte verschiedene Gestaltungen. Das im 5. Jh. christianisierte Irland war eine Drehscheibe zwischen Skandinavien und dem Mittelmeer mit guten Kontakten zu Rom und mit Mönchen, die vom ägyptischen und syrischen Vorbild geprägt waren. Es gab den Saalbau mit Apsiden und den Zentralbau, aber auch Anlehnungen an die klassische Basilika. Viele der unten erwähnten Klostergründungen fielen in vorkarolingische Zeit: Fulda, Herrenchiemsee, Mittelzell auf der Insel Reichenau. Meist entwickelten sich diese Klosteranlagen unter Rücksicht auf Vorgängerbauten als Komplexe ohne vorausgehenden Generalplan. Die Intention solcher Klöster war durchaus der Wille nach Umsetzung des mönchischen Prinzips eines Lebens in Abgeschiedenheit. Für die Kunsthistorikerinnen schwieriger zu rekonstruieren sind die frühen Bischofskirchen. In Salzburg entstand unter dem irischen Bischof Virgil im 8. Jh. eine dreischiffige Basilika mit großer Apsis. Sie dürfte eine der größten nordalpinen Kir-

Codex

Bering 2004, 157 IV.8.3. Wenzel 1995, 343

Margreiter 2007, 116

Bering 2002, 89

vorkarolingische Sakralarchitektur

4.2.2.

222

Das Mittelalter

Jäggi Carola in ­Reudenbach 2009, 377 Winterer Christof in Reudenbach 2009, 284f Fillitz 1969, 42ff 5.4.1.

Kunsthandwerk

Pochat 1996, 112ff Dynamismus im Ornament

Fillitz 1969, 12

Durliat 1987, 249

chenbauten gewesen sein. Im Übergang in die fränkische Zeit bildeten in größeren Städten verschiedene Kirchen, darunter etliche Stationskirchen, eine Kirchen-Familie, die durch Prozessionen für verschiedene Teile des Gottesdienstes oder verschiedene Messen (nach dem römischen Stationsgottesdienst) miteinander verbunden wurden. Der romanische Dom versammelte später die verschiedenen Kirchen in einer einzigen. Quellen berichten von zahlreichen Holzbauten beim Neubeginn der Sakralarchitektur, die freilich verloren gegangen sind. Einen Eindruck dafür vermitteln die etwas später entstandenen Stabkirchen in Norwegen. Mit der karolingischen Renovatio schließlich knüpfte man bald wieder am Basilikatyp an. Religion und Krieg waren zwei massive Antriebe für das Kunsthandwerk. Liturgische Geräte auf der einen, zahlreiche Waffen auf der anderen Seite sind überliefert. Darunter waren so spektakuläre Funde wie jener des Schiffsgrabes (der vor allem, aber nicht nur, wikingerzeitlichen Eigenart einer Schiffsbestattung) von Sutton Hoo in Ostengland. In einem großen Gräberfeld wurde 1939 ein knapp 30 Meter langes Schiff mit wertvollen Grabbeigaben ausgegraben, darunter Edelmetallstücke, die auf eine Herkunft aus Byzanz verweisen. Es mag eine einleuchtende Symbolik sein, dass das Seefahrervolk für die Überfahrt ins Jenseits Schiffe wählte. Neben die antiken Spuren traten bei den neuen Völkern eigenwillige Kunstformen, die in keine der klassischen Überlieferungen zu passen scheinen. Es gibt allenfalls Bezüge zum sogenannten »Tierstil« in den Steppenregionen Mitteleuropas und Asiens des 1. vorchristlichen Jahrtausends, einer Kombination von ornamentalen Tierformen und verschlungenen Flechtmustern. Gekennzeichnet war diese neue Kunst durch einen Dynamismus, der keine Statik kennt. Niemals rückte der Mensch als Bezugsgröße in den Blick, die Formen blieben abstrakt und sich selbst genügend. Die Ornamentik zeigt ein wucherndes Gewirr von Linien, die sich verschlingen, addieren, multiplizieren. Figürliche Darstellungen lösen sich in abstrakter Linienornamentik auf. Es gibt in diesem ständigen Kreisen und Bewegen nur Peripherie, kein Zentrum. Das die Fläche füllende (allerdings meist geometrische) Ornament wurde geradezu zum typischen Stil der Merowingerzeit. Diese Ornamente, die auf die Wirkung in der Fläche ausgelegt sind, »zeichnen sich durch äußerste Feinheit und Präzision aus, durch zarteste Konturierung und Punktierung, durch eine überaus empfindsam aufeinander abgestimmte Farbigkeit. […] Die Formen der Schrift werden gleichsam aufgesogen von einem unglaublich dichten und feinen Netz des Ornaments, das den Seiten eine kostbare teppichartige Wirkung verleiht.« Marcel Durliat verwies auf die reiche Mythenproduktion der nordischen Völker, was sich in dem Formenschatz niederschlug. Die christliche Motivik verdrängte die alten Formen nicht, sie wurde vielmehr integriert. Auch die Christusfigur selbst wurde in das Flechtwerk als Grundelement dieser Kunst eingebaut, »[…] selbst die Kreuzigung wird mit Hilfe der verschlungenen Linie dargestellt.« Diese dynamischen Ornamentwirbel überziehen die Goldschmiedearbeiten und Buchseiten, etwa in dem großartigen Book of Durrow (um 675), mit dem die große Tradition der Buchmalerei auf der Insel begann, dem Evangeliar von Lindisfarne (um 715), der berühmtesten erhaltenen Kopie der Evangelien (samt einer altenglischen

223

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Übersetzung), und dem Book of Kells (um 800). Sie überziehen auch Fassadenteile (langobardische Flechtornamentik) sowie einzelne Monumentalskulpturen wie beispielsweise irische Steinkreuze. Anders als in der äußerlich ähnlichen Ornamentik des Islam, lassen sich hier kaum kunstphilosophische oder gar theologische Erklärungen finden. Vielmehr bleiben viele Fragen offen: Enthalten die scheinbar unentwirrbaren Verflechtungen in Wahrheit mathematische Muster, erweisen sie sich dadurch als gelehrte Chiffren? Geht es darum, das Dynamische, auch das Abwegige und Monströse der Natur und Materie, gegen sich selbst zu stellen und so aufzulösen? Verwandelte man damit (bewusst ?) anstößige Realität in ein beherrschbares Denkmodell? Ist Kunst hier magisch? Hat jene Theorie Recht, die vor allem das Initial und alle ihm ähnlichen Motive auf die (apotropäische) Verzierung des Vorderstevens von Wikingerschiffen zurückführt? Sind es demnach Dämonen bannende Knotenornamente, die sich im Kreis schließen, Meeresungeheuer bannende Verwirbelungen wie auf dem Bug von Schiffen? Dies würde den Sinn des Abstrusen und Monströsen als Hindernisse für böse Geister an Kirchenbauten oder auch in heiligen Texten erklären. Quellen für eine solche Funktion aus dem christlichen Bereich sind praktisch nicht vorhanden. Besser ist die Lage für die heidnischen Gebiete. Ein paar vereinzelte zeitgenössische Reflexionen zur bildenden Kunst generell gibt es immerhin: Beda Venerabilis, dessen angesehenes Werk ihn zu einer Autorität bis zur Scholastik machte, kannte durch seine Zeit im northumbrischen Kloster Wearmouth-Jarrow im »Goldenen Zeitalter Northumbriens« die spätantike Buchmalerei. Neben enzyklopädischen Schriften zur Dichtung, Geschichte, Naturphilosophie, Theologie verfasste er auch eine Konkordanz zwischen biblischen Stoffen und solchen der klassischen Antike. Beda relativierte in einem Text über den Tempel in Jerusalem, für den eine üppige Ausstattung berichtet wird, das strenge Bilderverbot der Juden. Zudem führte er mit Verweis auf das griechische Wort für Malerei (zoographia/lebendiges Schreiben) als einer der Ersten das Argument ins Treffen, bei den Bildern, etwa jenem der Kreuzigung, handle es sich um eine lebendige Lesung (vivam lectionem) für jene, die des Lesens unkundig waren. Auch in der monastischen Spiritualität können einzelne Deutungserzählungen zur Kunst der Völkerwanderungszeit nachgewiesen werden. Eine andere Theorie, die kontrovers diskutiert wurde, hat Volkmar Gantzhorn neu zu beleben versucht. In den irischen Manuskripten finden sich sogenannte »Teppichseiten«, die in einer »syrisch-armenischen Mustertradition« – freilich durch Keltisches überformt – stehen. Harald Wolter-von dem Knesebeck spricht ebenfalls von mittelmeerischen Vorlagen für diese Buchmalerei. Von der Nabelschnur, die die irischen Klöster mit dem Orient und mit Rom verband, war gerade die Rede. Die Äbte Ceolfrid und Benedict, deren Schüler im gerade erwähnten Kloster Wearmouth-Jarrow Beda Venerabilis war, brachten spätantike Handschriften aus Rom (darunter eine Prachtbibel aus der Bibliothek Cassiodors, von der die Abschrift Codex Ami-

325 Ornamentseite aus dem Evangeliar von Lindisfarne (um 700) 3.3.3.

Duby 1976, 22

Hutter Irmgard/­ Holländer Hans in BSG III, 164 Brown 1994, 3

Belting 2008, 79 Werckmeister 1967, 76 Gantzhorn 1990, 69 McKendrick/Doyle 2016, 41f 3.4.2.5. Wolter-von dem ­Knesebeck Harald in Toman 2010, 131ff

224

Das Mittelalter

McKendrick/Doyle 2016, 19 Assunto 1963, 167

Tatarkiewicz 1980, 94

Kubach/Elbern 1968, 107 Gombocz 1997, 357 Reudenbach 2009, 14

Roth 1979, 35

atinus erhalten blieb) zu den Kopisten in die Skriptorien von Northumbrien, dem sächsischen Nordostengland. 669 kam Theodor von Tarsus als päpstlicher Legat aus Kilikien nach Irland. Das Entstehen der Teppichseiten fällt mit seiner Amtszeit als Erzbischof dort zusammen. Aus diesem irischen Kloster ist das älteste europäische Buch erhalten, das Evangelium des St. Cuthbert aus dem frühen 8. Jh. Diese »Ästhetik des Verworrenen und Labyrinthischen« erreichte einen skurrilen Höhepunkt in zumeist anonymen irisch-angelsächsischen Gedichtzyklen des 7. Jh.s, dem Hymnus Lorica oder den Hisperica Famina. Die Prosastücke, ein ungeordneter Verschnitt aus verschiedenen Vorlagen – auch Isidor-Texten – in kaum verständlicher, komplexer Sprache, werden ergänzt durch Gedichte, die nur dem Klang und Rhythmus gehorchen, denen Alliteration, Metapher, Wortspiel und Lautmalerei wichtiger sind als jeder Sinn. Sie sind sprachlich verschlungene Muster, akustische Ornamente. Eine letzte Deutung dieser dynamischen ornamentalen Kunst muss offen bleiben und selbst das Sprechen von einem »Ahumanismus« oder von einer »ausschließlich ornamentalen Zielsetzung« bleibt problematisch. Die Verbreitung solcher Kunst war durch die rege Missionstätigkeit vor allem irischer Klöster, die seit dem 6. Jh. praktisch autonom und romtreu waren, gegeben. Bei der Buchmalerei und in der Metallkunst liturgischer Geräte hat die »insulare Kunst« in den Werkstätten ganz Europas Verbreitung gefunden. Über zweihundertfünfzig Patrozinien berufen sich auf den irischen Mönch Gallus (manche Quellen identifizieren ihn als Elsässer). Daneben gab es viele weitere Iren und Angelsachsen, die nach Europa zogen: Kolumban, Fursa, Kilian, Virgil. Sie gründeten nicht nur Klöster: Echternach (Willibrord), Reichenau (Pirmin), Fulda (Winfrith, der sich dann Bonifatius nannte), sondern sie sorgten auch durch die Verbreitung antiker Motive für die Verbindung zwischen dem untergehenden Weströmischen Reich und dem neuen Imperium. So hat die Missionstätigkeit eine »intellektuelle Wiederbesiedelung Europas« ermöglicht. »Christianisierung und das Bekenntnis zur christlichen Religion hieß damit auch Orientierung an der lateinischen, spätantik-frühchristlichen Kultur.« Die Kunst der Völkerwanderungszeit bietet dem Kulturhistoriker viele Aspekte. Es spiegelt sich in ihr der kulturelle Niedergang. Sie bietet aber auch überraschende Blicke auf neue und ungewohnte Formen und sie zeigt einen Kanal zu Antike und Orient, der über den nördlichen Teil Europas lief. Dieser kulturelle Hintergrund war letztlich auch in dieser Zeit der dominante. Denn diese Kunst »kennt abseits der in antiker Tradition stehenden Gebiete keine monumentalen Werke, keine Steinbauten, Freskenmalereien oder Großplastiken«.

4.2. Die Zeit Karls des Großen Die Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. am Weihnachtstag des Jahres 800 – im Weihnachtsgottesdienst nach dem Zeremoniell der byzantinischen Kaiserinthronisation durchgeführt – wird zu Recht nicht nur als bedeutender Meilenstein in der Geschichte Europas gesehen, sondern war für die Zeitgenossen vor allem die Neuerrichtung des Kaiserreichs im Westen. Auf die breite Rezeptionsge-

225

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

schichte, die eine deutsch-nationalistische Vereinnahmung einschloss, sei hier nur hingewiesen. Karl stellte sein christliches Frankenreich in die Nachfolge des Römischen Imperiums und geriet dadurch in Opposition zum Byzantinischen Reich, das sich als alleinige Verkörperung dieses Reichs mit dem verwaisten Kaiserthron verstand. Er begründete mit seiner translatio imperii das Heilige Römische Reich (Sacrum Imperium Romanorum) und initiierte einen nachhaltigen kulturellen Neubeginn Europas.

326 Fresko Karls des Großen, Kreuzgang Brixen; Südtirol

4.2.1. Kontexte Karls Vater Pippin III. (der zweite Sohn Karl Martells) war als Schutzherr der Römer (Patricius Romanorum) zum König gesalbt worden (nachdem er den letzten Merowinger abgesetzt hatte) und schenkte für die Abkehr von Byzanz Papst Stephan II. in einem historisch nicht mehr nachvollziehbaren Vorgang Gebiete in der Mitte Italiens (Pippinische Schenkung). Sie waren die Grundlage des späteren Kirchenstaats ebenso wie des jahrhundertelangen Ringens zwischen Kaisertum und Papsttum. Karl hatte seine Herrschaft mit Härte und Grausamkeit gewonnen. Zu seiner Zeit war Terror »wirksamer als das Argument, Verwandtschaft gewichtiger als Logik.« Über allem firmierte als Legitimation das Christentum, das er mit Schwert und heiligem Furor den unterworfenen Völkern aufzwang. Der König war nicht nur Anführer in Kriegszeiten, sondern auch Mittler zwischen Mensch und Gott. Ihm selbst kam göttliche Abstammung zu. Seit Mitte des 7. Jh.s war der Frankenkönig – vorbereitet in merowingischer Zeit – der von Gott Begnadete. Als rex und sacerdos erhielt er Ring und Krummstab als Zeichen seines Herrschafts- und Hirtenamtes. Die Zeit Karls begründete ein »einmaliges Zusammengehen von Regnum und Sacerdotium.« Hintergrund war hier die Lehre des Augustinus von der Civitas Dei, die nach der Deutung Gregor von Tours’ bereits im irdischen Staat verwirklicht werden sollte. »Unter diesen Bedingungen wurden die Franken zum neuen auserwählten Volk, zum neuen Israel, zu einem Objekt der Vorsehung, und dieser Gedanke wurde in dem in der königlichen Kanzlei um 763–764 ausgearbeiteten Prolog zum Salischen Gesetz weiterentwickelt, während die hohen Würdenträger sich jeweils mit Aaron, Samuel, Nathan oder Esra identifizierten.« Aber es gab auch den anderen Karl, den, der den Wert von Kultur und Bildung erkannte und der die antike Kultur in sein Reich transformieren wollte. Nach mittelalterlicher Vorstellung war die römische Reichsidee als letzte in der heilsgeschichtlichen Abfolge nicht mehr überbietbar, sie konnte nur übertragen werden. Die bewusste Wende, die er, der Lesen und Schreiben erst in höherem Alter erlernte, einleitete, war eine echte Renaissance. 789 mahnte er in dem Rundschreiben Admonitio generalis (Allgemeine Ermahnung) eine umfassende Bildungsreform, in erster Linie des Klerus, an. Dazu gehörte die Kenntnis der lateinischen Sprache, Gesang, Notenlehre, Grammatik und die Berechnung der beweglichen Feiertage. Im Jahr 525 hatte der skythische, dann in Rom lebende Mönch Dionysius Exiguus die christliche Zeitrechnung vorgeschlagen (es ist unklar, ober er Vorläufer hatte wie Eusebius von

Fried 2008a, 59

Duby 1976, 25 Grégoire Réginald in Grégoire/Moulin/Oursel 1985, 195

Durliat 1987, 136

226

Das Mittelalter

renovatio imperii

327 Dom zu Aachen, heutige Ansicht

4.2.5.

Bering 2002, 23

IV.6.2.2.

Cäsarea). In karolingischer Zeit wurde diese neue Einteilung (eigentlich: ab incarnatione Domini) allgemein eingeführt. Letztlich sollte unter dem Programmtitel einer renovatio imperii aus den unterschiedlichen Kulturtraditionen des Riesenreichs nördlich der Alpen, mit Blick auf Konstantin, eine einheitliche Zivilisation entstehen. Der Anspruch, politisch und kulturell am ungebrochenen Mythos des Römischen Reichs anzuknüpfen, setzte ein Bewusstsein für die Vergangenheit und für die Gestaltungsmöglichkeit der Gegenwart und Zukunft voraus. Die Präsenz des Königs korrespondierte ursprünglich mit dem Königshof als wanderndes Zentrum. Der Hof als wirtschaftliche, organisatorische, geistige und personale Mitte zog von Pfalz zu Pfalz. Die Einheit des Reichs war ein Abstraktum aus einem Geflecht verschiedener Institutionen (Hof, Lehenswesen, Kirchen- und Klosterordnung). Daraus ein Reich als totum und als Institution zu machen, war ein Gedanke, der erst wiederentdeckt werden musste. Karl stellte mit der Etablierung des ehemaligen römischen Kurbads Aachen als sein – wie panegyrische Dichtungen ausdrücklich bestätigen – »Zweites Rom« auch hier die Weichen: hin zu einer ortsgebundenen Residenz. Aachen sollte eine Reichsmetropole nach antikem Vorbild werden, ein kulturelles Zentrum, was Karl konsequent zu einem großen Bauherrn machte. Neben Aachen baute er andere Pfalzen (Ingelheim, Nimwegen, Paderborn, Worms, Frankfurt, Attigny) aus. In der erwähnten Mittlerstellung des Königs könnte man analog der erwähnten Pole regnum und sacerdotium eine Funktion der Kunst in der Versöhnung und Vermittlung der sichtbaren und unsichtbaren Welt sehen. An Karls Hof begannen philosophisches Nachdenken und, damit verbunden, kunstphilosophische Bedeutungszuschreibungen an das Bild, die naturgemäß ebenfalls der Antike entstammten. Auch im Westen formte antikes, ja orientalisches Denken die europäische Philosophie, darüber hinaus aber auch die europäische Kunst, deren Form sich mit dem Aufkommen der entsprechenden philosophischen Grundlagen immer mehr jener im Osten annäherte. Theodulf von Orléans aus dem Beraterstab Karls sah im Bild ein anagogisches Zeichen, das vom sinnlich Wahrnehmbaren auf das Undarstellbare verweist. »Das Bild besitzt neben dem sensus litteralis, dem ›Buchstabensinn‹ , einen höheren Sinn, den sensus spiritualis.« Der seit Cassian diskutierte mehrfache Schriftsinn wurde demnach auch in der Bilddeutung verwandt und als Verweischarakter interpretiert. Mit Karls renovatio kehrten die alten Formen der antiken Kunst zurück und dominierten über den Formenschatz der Völkerwanderungszeit. Insbesondere das Oberitalien der Langobarden wurde für diese Erneuerung ein Vorbild, im Speziellen die Architektur von San Vitale in Ravenna für seine Pfalzkapelle. Von Ravenna ließ Karl Spolien (vermutlich aus dem Palast Theoderichs) holen, ein Unternehmen, das den Sinn der Spolien, Verehrung von und Anschluss an die Antike, deutlich macht (im Unterschied zu ihrer negati-

227

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

ven Bewertung bei Vasari und Raffael). Inwieweit es bei diesem vermutlich bereits in den Achtzigerjahren des 8. Jh.s begonnenen Bau um imperiale Ambitionen ging, ist schwer zu sagen, weil zu dieser Zeit jedenfalls kaum mit der Wiedererrichtung des römischen Kaisertums spekuliert worden sein kann. Zur Erklärung reicht vermutlich das neue Selbstbewusstsein des Frankenreiches, besonders nach der Eroberung des Langobardenreichs. »Nicht schon der Griff nach der Kaiserkrone, sehr wohl aber ein gesteigerter Herrschaftsanspruch Karls, neue Erfahrungen und Eindrücke in Italien, personale Veränderungen am Hof und ein intensives Streben nach rectitudo werden in der Aachener Pfalz und ihrer Kirche augenfällig.« Kunst wurde zu einer Sache des Königs und wie in Byzanz siedelten sich die Ateliers und Werkstätten in seiner Nähe an. Dadurch erhielt sie ein hohes Maß an Einheitlichkeit. Der Hof, Karl und die von ihm berufenen Gelehrten, bildete ein starkes kulturelles Zentrum und bestimmte in außergewöhnlicher Weise die künstlerische Orientierung. »Es ist kein zweiter Fall einer solch intensiven Einflussnahme auf das künstlerische Schaffen im hohen Mittelalter bekannt.« Nachdem die bilderskeptischen Philosophen Theodulf (dessen Villa in Fleury mit Bildern der artes liberales ausgestattet war) und Alkuin den Hof verlassen hatten, nahm diese Orientierung noch ungehinderter an der Spätantike Maß als vorher und es entstand eine regelrechte Hofkunst nach dem spätantiken Schönheitsideal. Was von der Klassik Eingang fand, war in erster Linie der Ordo-Gedanke. In Musik (Augustin, Boëthius) und Architektur (Vitruv) ging es um Realisierung der rechten Harmonie und Ordnung. Zur Umsetzung der renovatio – die spezifische höfische Kunst blieb wohl auf die Hofschule Karls mit ihren wichtigsten Ablegern Fulda, Mainz, Salzburg beschränkt – in einem so weitläufigen Reich benötigte Karl ein Netzwerk. Er fand es in den Klöstern, gleichsam als »Zellen der Kolonisierung der Einöde.« Wie seinerzeit Konstantin sah es auch Karl als seine Pflicht an, im gesamten Reich Kirchen und Klöster zu errichten.

4.2.5.

Patzold Steffen in ­Reudenbach 2009, 247

Fillitz 1969, 23

Oursel Raymond in Grégoire/Moulin/Oursel 1985, 52

4.2.2. Klöster Vom Orient her gewann bald auch im Westen die Idee der Klostergemeinschaft an Bekanntheit. Neben dem Vorbild Gallien mit seinem berühmten Klostergründer Martin von Tours, der lange Zeit bei Mönchen im Osten gelebt hatte, und Johannes Cassianus dürfte die in den italischen Städten kursierende Vita Antonii inspirierend gewirkt haben. Der große Vermittler indes war Hieronymus. Um 385 ging er wie viele andere westliche Mönche in den Orient, nach Bethlehem, wo er für die lateinisch Sprechenden die Regel des Pachomios aus dem Griechischen übersetzte. Er warb für die mönchischen asketischen Ideale vor allem in aristokratischen Kreisen Roms. Das stieß durchaus auf Echo. In Rom, Mailand und anderswo sammelten sich Frauen und Männer in Klöstern – manchmal wird Eusebius, erster Bischof von Vercelli, als erster Klostergründer genannt. Jedenfalls war die Wirkung der asketischen Botschaft der in unwirtlicher Abgeschiedenheit hausenden Mönche groß – bisweilen mit Zügen einer Massenhysterie. Die asketischen Ideale waren teilweise extrem. Es galt, das »Fleisch« zu züchti-

IV.4.4.

Angenendt 1990, 104

228

Das Mittelalter

Speyer 1995b, 218–225

Luhmann/Fuchs 89, 21f Benedikt von Nursia

IV.1.0. Lawrence 1984, 17

Fried 2008a, 50

Brenk 2003, 157

Flasch 1986, 141

Speyer 1995b, 227

gen, weil es per se sündhaft und ein Feind Gottes sei. Ebenso gehörte die Abwertung von Ehe und Familie dazu, vor allem aber der Frau, die nur mehr als teuflische Versucherin erschien. Die Frage, inwieweit dies die familiengebundene spätantike Gesellschaft erschütterte und gar zu einem Geburtenrückgang führte, wird in der Literatur diskutiert. Dabei fühlten sich nicht nur Männer, sondern auch Frauen, vor allem solche aus oberen Gesellschaftsschichten, zu einem mönchischen Leben hingezogen. Römische Häuser wurden in Frauenstifte verwandelt. Die Inspiration dazu holte sich Marcella aus Rom ebenso aus dem Orient wie Melania, die Witwe eines römischen Stadtpräfekten, die ein Kloster am Ölberg in Jerusalem gründete. Hier wirkte die allgemeine Tendenz, dass das mystische Leben der Eremiten als bewusster Gegenentwurf zur Stadtkultur gelten darf. Das Jahr 529, in dem Justinian die Schließung der antiken Schulen anordnete und zugleich Benedikt von Nursia auf dem Monte Cassino sein erstes Kloster gegründet haben soll, diente uns als ideale Markierung des Übergangs von der Antike in das Mittelalter. Dass dieses Ereignis erst jetzt, im Kontext der karolingischen Erneuerung, besprochen wird, hängt mit der schwierigen historischen Greifbarkeit zusammen. Weder die Figur Benedikts ist unzweifelhaft fassbar, noch die Gründung von Montecassino und Subiaco. Sollte die Überlieferung jedoch zutreffen, dann war das zeitgenössische Wirken Benedikts begrenzt. Wahrscheinlicher gilt die Variante der Gründung durch eine Gruppe von römischen Mönchen unter der Leitung des Langobarden Petronax aus Brescia, die auf Geheiß von Papst Gregor II. um 717 den Grundstein des Klosters legten. Beat Brenk spricht allerdings von einer »Wiederbesiedelung«, stellt die Biographie Benedikts nicht in Frage und damit auch nicht seine Regel, geht aber ebenfalls von einer sehr geringen zeitgenössischen Wirkung Benedikts aus. Neben dem berühmten Monte Cassino ließ Karl San Vicenzo, eine mehr als hundert Meter lange Klosterkirche, bauen. Auch die so wichtige Regel des neuen Ordens (Regula Benedicti) der Benediktiner ist erst in karolingischer Zeit nachweisbar. Man könnte also die benediktinische Bewegung auch als karolingisch inspiriert betrachten, als hervorragenden Umsetzungsapparat der Absichten des Hofs Karls. Diese Annahme ist vor allem deshalb nicht unplausibel, weil das frühe Mönchtum grundsätzlich »chaotisch und bildungsfeindlich« war. Die Einsiedeleien waren bevölkert mit Laienbrüdern und Vaganten, die zu Kultur jeder Art eine große Distanz hatten und damit auch der aufgeklärten Antike gegenüber ablehnend eingestellt waren. Vermutlich ist nicht zuletzt deshalb das antike Wissen in erster Linie über islamische Quellen überliefert worden. Erst mit Karl wandte sich das Blatt und es wurden die Klöster zu Horten von Bildung und Wissenschaft. Die Benediktiner begründeten die Identität eines westlichen Mönchtums, das sich als Gegengewicht zum griechisch-orthodoxen Mönchtum verstand. Darüber hinaus wurden die Klöster in einer Zeit, wo der Analphabetismus Norm war – selbst die Könige der Merowinger und Karolinger konnten nicht einmal ihren Namen schreiben – zu den einzigen Kulturträgern. Inwieweit die Klöster mit ihren wachsen-

229

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

den Bibliotheken als Zentren der Kultur entworfen worden waren oder ob ihnen diese Rolle nicht eher unversehens zufiel, ist eine offene Frage. Die Klosterspiritualität war durch das Schlagwort des ora et labora (das wörtlich nicht in der Regel Benedikts steht) charakterisiert. Bisher standen beim Vereinigungsversuch der Mönche mit Christus die Verachtung des Körpers, Kasteiungen und das Gebet im Vordergrund. Sie lebten in den Einsiedeleien der Berge der Toskana, Latiums und Umbriens. Die Regel Benedikts hingegen setzte andere Pointierungen. Neben die Kontemplation trat in gleichberechtigter Weise die – dem westlichen Pragmatismus entsprechend – nicht mehr länger unwürdige Handarbeit. Angesichts der herumziehenden Vaganten lag die Benedikt zugeschriebene Neuheit denn auch eher als in dem ständig zitierten ora et labora darin, dass er Mönche in einem Klosterverband sammelte. An die Stelle des Vagabundierens trat die stabilitas loci in einer familienähnlichen Gemeinschaft mit einem pater familias, dem Abt, an der Spitze. Der Tagesablauf war bis ins Detail geregelt. Benedikt war der Ansicht, »die Streiter Christi müßten anständig genährt, gekleidet und ausgeruht sein, um ihren Kampf erfolgreich zu führen.« Neben die händische Tätigkeit trat das geistliche Studium. Tausende von illuminierten Handschriften entstanden in den Skriptorien. Bücher und Schreibmaterialien waren gemeinsamer Besitz. Selbstverständlich waren das Kopieren und das künstlerische Ausschmücken der Bücher mit einer liturgischen Handlung zur höheren Ehre Gottes vergleichbar, mit Askese verbunden und in den strengen Tagesrhythmus eingebaut. Schulen boten die Klöster dieser Zeit noch nicht an, wohl aber bedienten sie Söhne von wohlhabenden Wohltäterfamilien. Erst nach und nach bildeten sich im Umkreis der Klöster externe Schulen, ohne dass sich eine organisierte und institutionalisierte Schultätigkeit nachweisen lässt. Die Klöster waren autarke Mikrokosmen mit geschlossenem Wirtschaftskreislauf, nach faszinierenden Klosterplänen errichtet und organisiert. Den Kern bildeten die Basilika, der Hof und der Kreuzgang. Man könnte in der Gesamtanlage die antike Stadtanlage mit Tempel und Forum wiedererkennen. Eindrucksvoll nachvollziehbar wird das Gesagte im St. Galler Klosterplan. Er ist in einer Kopie (gegen 820) erhalten und war vermutlich ein Musterentwurf und kein realer Plan. Auf die Regel Benedikts lässt er sich allerdings nicht zurückführen, dazu gibt es dort viel zu wenige Hinweise auf die Gestaltung von Klöstern. Karl ordnete die Regel allen Klöstern an. Dass sich die neuen gelehrten Mönche nicht immer friktionsfrei in den bestehenden Konvent eingliedern ließen und dass die Bildung der Kleriker mühsam war, davon zeugt die Anlage von San Ambrogio in Mailand, wo sich die karolingischen Neuankömmlinge neben dem Turm der alteingesessenen Mönche einen eigenen errichteten bzw. errichten mussten. Der Bau der Klöster folgte nur in zweiter Linie wirtschaftlichen Interessen, er war primär motiviert aus Quellen heiliger Schriften. Klöster erhoben sich auf Fels-

Duby 1976, 124

328 Klosterplan von St. Gallen (9. Jh.) Grégoire Réginald in Grégoire/Moulin/Oursel 1985, 193–239

Klosterpläne

Oursel Raymond in Ebd., 91f

230

Das Mittelalter

Brenk 2003, 138–160

Bering 2004, 80 Reliquienkult

Schaller Andrea in Reudenbach 2009, 333

gipfeln und Meeresklippen nach verschiedenen Psalmworten. Schriftliche Reflexionen darüber sind aus der Frühzeit der Gründungen nicht erhalten. Ebenso ist die frühe Klosterarchitektur noch wenig erforscht. Nicht nur die Architektur der großen Klosteranlagen, auch jene der Einsiedeleien verarbeiteten kunstphilosophische und theologische Überlegungen. Bruno von Köln, Theologe und einstiger Leiter der Domschule von Reims, trat in die Benediktinerabtei von Molesme ein. Von dort aus errichtete er mit einigen Gefährten in der Nähe von Grenoble eine Kartause, später eine weitere in La Torre (Kalabrien). Die Anlage bot den Kartäusern Zellen mit mehreren Zimmern samt ummauertem kleinem Garten, angeordnet rund um den Kreuzgang. »Dem Kloster lag der Gedanke zugrunde, Eremitenleben und Gemeinschaft in einem architektonischen Gefüge in Einklang zu bringen.« Teilweise wurden die Klöster wegen ihrer Reliquienschätze berühmte Pilgerziele. Der Reliquienkult hob um das 5./6. Jh. an und nahm erstaunliche Ausmaße an. 787 schrieb das Konzil Nizäa II Reliquien bei jeder Kirchweihe vor. Bemühte man sich anfangs um einen vollständigen Körper, wurden bald, nicht nur der großen Nachfrage wegen, sondern auch, um eine größere Streuung zu erreichen, Splitter und Körperteile bevorzugt. Gerne wurden Reliquien gestohlen. Der Erfolg eines solchen Raubs wurde als Billigung durch höhere Mächte verstanden. Bischof Bernward von Hildesheim stahl in Rom den Arm des heiligen Timotheus. Der Kult um die Reliquien förderte das Kunsthandwerk. Eine Unzahl von Reliquienbehältern entstanden, mit einem Höhepunkt in ottonischer Zeit. Die Reliquien selbst waren verborgen, konnten aber meist durch Aufklappen des Reliquiars direkt angesehen werden. »Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die kostbaren Reliquiare der Ottonenzeit ihren Inhalt einerseits verhüllten und seine Wirkmächtigkeit durch komplexe Material- und Zeichensymbolik vermittelten, andererseits aber in mehreren Fällen den direkten Kontakt mit der Reliquie zur Verehrung, Vergewisserung und Präsentation zuließen.« Die Pilgertätigkeit regte den Aufbau einer umfangreichen Infrastruktur an. Europa war am Höhepunkt dieser Bewegung von vierzigtausend Klöstern überzogen, die nach der Regel des hl. Benedikt organisiert waren. Sie waren zum Teil verteidigbare Bollwerke, hatten Türme, deren Funktion weniger in ihrem Gebrauch als in der Zeichenhaftigkeit lag. Das Christentum bildete in dieser Zeit die einzige wirkliche Identität Europas.

4.2.3. Die Intellektuellen zur Zeit Karls und die Stellungnahme des Westens im Bilderstreit

Angenendt 1990, 201f

Der Zusammenbruch des antiken Bildungswissens am Beginn des Mittelalters, über das – wie schon erwähnt – ein Gregor von Tours heftig Klage führte, bedeutete zu keiner Zeit eine vollständige Abnabelung von der klassischen Antike. Zwar waren die Kanäle sehr dünn geworden, aber durch sie floss nach wie vor das Kulturgut der Antike. Der Sieg über die Langobarden 774 erschloss einen ergiebigen Zugang zur spätantiken und mediterranen Welt. Im Umkreis Karls begann – wie schon gesagt – im Kontext seiner Renovatio-Idee ein Sondieren der antiken Traditionen, getragen

231

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

von herausragenden Intellektuellen an seinem Hof. »Das Wissen, welches wiederzugewinnen war, bestand nahezu ausschließlich aus Bausteinen der Antike […] Alles, was man diesem ›Steinbruch‹ entnahm, wurde der eigenen Interpretation unterzogen und in einen neuen Zusammenhang eingestellt, der sich auf das christliche Weltbild und dessen Gottesverständnis bezog.« An erster Stelle zu nennen ist dabei Alkuin aus der europäischen Eliteschule York, die damals über die größte Bibliothek des Abendlands verfügt haben soll. Im 5. Jh. hatte die Mission durch den legendären Patrick, vielleicht in der heutigen Grafschaft Cumberland als Sohn einer christlich-römischen Familie geboren, die Insel erreicht. Die Idee der ägyptischen Mönchsbewegung fiel in Irland auf fruchtbaren Boden. Bald war das Land von blühenden Klöstern überzogen. Sie bildeten einen »schmale[n] Steg, der die Antike mit dem Mittelalter, genauer: die Spätantike mit der Karolingerzeit verbindet […].« Die dortigen Gelehrten prägten die europäische Kultur. »Wer zur Zeit Karls des Großen den Anschluß an die lebendig erhaltene antike Bildung erstrebte, tat besser, sie bei Angelsachsen (und Langobarden) zu suchen als in dem herabgesunkenen Frankenreich.« Karl hatte Alkuin 781 auf seiner Rückreise aus Rom in Parma kennen gelernt und an den Hof nach Aachen berufen. Er war ein Mann mit hervorragender Kenntnis der antiken Schriftsteller, insbesondere der Rhetoren, und er war ein Mann mit der Ambition zur translatio studii, also zur Übertragung der Kultur von den Zentren Athen und Rom ins gallische Abendland. Karl hatte die Notwendigkeit verbesserter medialer Kommunikation erkannt und er förderte mit Alkuin die Einführung der karolingischen Minuskel, die einfacher als die irische Schrift war. Sie löste verschiedene Schriftsysteme, darunter die lateinischen Großbuchstaben (Majuskel) und eine ältere römische Kursivart (Unziale) ab. Alkuin machte zudem Latein für die Klosterschulen des Reiches verbindlich. Das klassische Latein wurde zu einer Kunstsprache der Intellektuellen, denn aus ihm entwickelten sich romanische Dialekte. Der Dialogus de Rhetorica et virtutibus des Alkuin gilt als erste rhetorische Schrift seit der Antike. Zur Rhetorik gehört der ornamentale Überschuss. Das führt zur Frage, wie es mit solchem Bedeutungsüberschuss in der künstlerischen Tätigkeit bestellt war. So wie Alkuin mit der Rhetorik eine didaktische Funktion verband, verhielt es sich auch in der Kunst. Sie sollte ästhetischen Genuss erzeugen und didaktischen Nutzen haben. Alkuin hatte nichts einzuwenden gegen schöne Formen, »süsse Geschmäcker, angenehme Töne, wonnevolle Düfte, zum Betasten angenehme Dinge, Ehren und zeitliches Glück […].« Allerdings gilt er trotzdem als Bilderskeptiker. Es ist kaum ein Zufall, dass unter seiner Leitung in Tours nur ornamental geschmückte Handschriften entstanden. Im Schwanken zwischen dieser Zurückhaltung und einer sinnlichen Ästhetik kann die Religion für Klärung sorgen. Alle (erlaubte) sinnliche Ästhetik sollte auf eine geistige Ästhetik hinführen. Wie viele andere zu dieser Zeit entwarf auch Alkuin eine Kreuzestheologie (Ad sanctam Crucem) und inspirierte damit die rege Produktion von (wertvollen, mit Edelsteinen besetzten) Kreuzen. Doch die Haltung zum Bild wurde bald einer ernsten Probe unterzogen. Die karolingischen Hoftheologen, wohl unter der Federfüh-

Blume Dieter in ­Reudenbach 2009, 521 Alkuin

Fuhrmann 1994, 359

Kirn 1928, 130f

Alkuin, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 119

Libri Carolini

232

Das Mittelalter

Haendler 1958 IV.8.3./IV.8.4.

Gombocz 1997, 358

Bering 2002, 28

IV.4.2.3.

Strabo, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 125

zit. nach Bering 2002, 302f

rung des Theodulf von Orléans (der Beitrag Alkuins ist umstritten), der im bilderkritischen islamischen Spanien aufgewachsen war, mussten im Hinblick auf eine ganze Reihe von anstehenden Synoden (Frankfurt 794, Aachen 811, Mainz 813, Aix 816) eine Antwort auf Nizäa II von 787 und der damit verbundenen Atempause im Bilderstreit geben. Die Akte des Konzils, zu dem er selbst nicht geladen worden war, was ihn kränkte, hatte Karl 789 in schlechter Übersetzung (der lateinische Terminus veneratio/Ehrung ebnete die ohnehin schon schwer verständliche griechische Unterscheidung zwischen timé/Verehrung und latreia/Anbetung ein) erhalten und er ließ angesichts des im Osten tobenden Bilderstreits eine eigene Stellungnahme ausarbeiten, zumal man aufgrund der unklaren Terminologie glaubte, das Konzil verpflichte zu einer Anbetung der Bilder wie im Heidentum. Sie erfolgte im Opus Caroli regis contra synodum, den sogenannten Libri Carolini. Die Arbeit war zwar umsonst – Papst Hadrian I. hatte die Beschlüsse des Konzils schon vor der Publikation akzeptiert (nicht der Papst, aber eine römische Gesandtschaft war beim Konzil anwesend) –, aber es war der dokumentierte Wille Karls, die Meinungsführerschaft nicht dem Osten zu überlassen und es wurde schließlich ein »erstes Dokument für eine […] orthodox-kirchliche Lehre über Verwendung und Zweck der Kunst im ›lateinischen‹ Europa seit dem Untergang der antiken Welt.« In diesen Dokumenten herrschte eine sehr pragmatische, um Eigenständigkeit bemühte Sicht der Dinge. Die elaborierte neuplatonische Urbild-Abbild-Lehre scheint den westlichen Theologen unverständlich geblieben zu sein und die einschlägigen Schriften des Gregor von Nyssa oder des Dionysios Pseudo-Areopagites waren bei Abfassung der Libri Carolini den Theologen gar nicht bekannt. Zudem war man ungehalten über die ständigen Wendungen in der Bilderfrage im Osten. So hatte der Westen in einer von Papst Stephan III. 769 einberufenen Synode die Beschlüsse des Konzils von Hiereia verurteilt und an der Bilderverehrung festgehalten. Die positive Bewertung der Bilder basierte in karolingischer Zeit überwiegend auf dem praktischen und didaktischen Aspekt der biblia-pauperum-Theorie. Walahfried Strabo, Schüler von Hrabanus Maurus und Abt des Klosters Reichenau, prägte im Geiste Gregors des Großen das geflügelte Wort vom Bild als »Literatur der Ungebildeten«. Bilder durften verehrt, aber nicht angebetet werden: »Es sollen ja durch die Anschauung der Bilder alle, welche sich in sie versenken, zum Gedächtnis, zur Verlebendigung der Prototypen gelangen wie auch zu dem Verlangen nach ihnen, welchen sie Gruß und volle Verehrung erweisen, nicht jedoch – die eigentliche Anbetung, welche unserem Glauben gemäß allein der göttlichen Natur zukommt. Vielmehr nahen wir uns den Bildern in der Form jener Verehrung, die durch die Darbringung von Weihrauch und Kerzen gekennzeichnet ist […] die dem Bilde erwiesene Ehre geht auf den Prototyp über.« Theodulf unterschied das künstlerisch geschaffene (imago) vom angebeteten Bild (idol). Solche Bilder hatten für ihren didaktischen Einsatz möglichst wirklichkeitsgetreu zu sein. Zur Erinnerung an heilige Ereignisse (memoria rerum gestarum) und auch zum Schmuck müsse man sie tolerieren. Das Bild dürfe aber nicht mit Reliquien oder der Hl. Schrift gleich gesetzt werden und für das Opfer eigneten sich Gefäße (für Weihrauch und Lichter) besser als das Bild.

233

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Bilder sind aus unreinem Material und können die Anbetung Gottes behindern. Materie wurde aus dieser Sicht immer nur als »Einfassung« und »Medium der Inszenierung« des Heiligen geduldet, als Gefäß, Einband und Kirchenraum. Die liturgischen Geräte spielten eine Rolle als Orte Gottes, sie waren Ausdruck des inkarnatorischen Geheimnisses. Diese Sicht förderte das Kunsthandwerk in karolingischer Zeit nachhaltig. Besonders bei der Gestaltung von Kreuzen ging es nicht um das Kruzifix, sondern um das leere Kreuz als Zeichen. Dieses wurde allerdings in Form von Gemmenkreuzen kostbar ausgeführt. Der Glanz der Gemmen erhob das Kreuz sozusagen als Sieges- und Erlösungszeichen in den Himmel. Das Fazit Karls und seiner Theologen in der Bilderfrage war letztlich, dass die Zerstörung von Bildern ausdrücklich zu untersagen ist, jedoch niemand zu ihrer Verehrung gezwungen werden darf. Theodulf wurde von Ludwig dem Frommen 818 abgesetzt, sein Bistum an Jonas von Orléans übergeben. Dieser kämpfte gegen Ikonoklasten im Westen, etwa gegen Claudius von Turin, und entfaltete in seinem De cultu imaginum eine Bildphilosophie für das Kreuz Christi, das mit Farben auf Tafeln gemalt wurde. Der berühmte Biograph Karls, Einhard, Autor der im Geiste von Suetons Kaiserbiographien verfassten Vita Caroli Magni, gehörte zur jüngeren Generation und wurde in Fulda ausgebildet. Er war umfassend gebildet, kannte auch die antiken Architekturtheorien und zeichnete sich durch einen großen Kunstsinn aus. Alkuin schätzte Einhard als Kenner Vergils. Neben der Geschichtsschreibung soll er Bauleiter am Hof gewesen sein, entwarf selbst kleinere architektonische Modelle (Einhardsbogen nach dem antiken Triumphbogen; Einhardskreuz). Jedenfalls betätigte er sich als Bauherr mehrerer Kirchen. Als verheirateter Mann war Einhard Abt mehrerer Klöster, die er von Ludwig dem Frommen für seine Verdienste erhalten hatte. Er selbst schilderte, wie er anlässlich seiner Weihe in Rom Reliquien stehlen ließ, um damit seine Klöster auszustatten. In einem Traktat zur Kreuzesverehrung (Quaestio de adoranda cruce) verteidigte er die körperliche Verehrung (Proskynese) des Kruzifixes, weil man dabei im sichtbaren Abbild das unsichtbare Urbild verehre. Hrabanus Maurus, Schüler Alkuins, Abt der gerade durch sein Wirken berühmt gewordenen Klosterschule von Fulda, stellte unverblümt fest, dass das Wort mächtiger, nützlicher und vollkommener sei als das Bild. Es sei angenehmer und moralischer. Das Bild hingegen ist schon durch seine Beschränkung auf sichtbare Formen dem Wort untergeordnet: »[…] denn mehr Wert hat ein Buchstabe als die flüchtige Gestalt auf einem Gemälde; und mehr an Zierde verleiht er der Seele als die farbenverfälschende Malerei […] Denn die Schrift ist dank einer frommen Heilsregel vollkommen […].« Dass Aussagen wie diese die Buchmetapher befruchteten, damit auch die Kunst des Buches, wird nicht überraschen. Allein aus dem 9. Jh. sind noch über 7000 karolingische Manuskripte erhalten. Fulda war eines der wichtigsten Zentren der Buchmalerei. Kosmos und Natur werden mit einem Buch verglichen, das vom Finger Gottes geschrieben ist. Die Schöpfungsmetapher half Hrabanus, auch dem Kunstwerk abseits des Buches (damit auch der Skulptur) einen Wert zuzusprechen. Ein opus artificiale könne eine der Natur ähnliche objektive Schönheit

Bering 2002, 27

Einhard

Angenendt 1990, 308f

Binding 1996, 35–57

Hrabanus Maurus

Hrabanus, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 122 McKitterick 1994, 221 6.2.2.

234

Das Mittelalter

erreichen, wenn der Künstler die von Gott in die Natur gelegte Schönheit nachahmt. Die Naturnachahmung wurde hier letztlich auf die Schönheit Gottes selbst zurückgeführt. Insbesondere die Musik beruhe auf zeitlosen, ewig gültigen Gesetzen, die der Mensch zwar entdecken, aber nicht manipulieren kann. Der Natur komme gegenüber der Kunst der Vorrang zu. In unzähligen tituli, metrischen Kommentaren, die den Kunstwerken beigegeben waren, lassen sich diese Zusammenhänge belegen. In ihnen erfahren wir das Lob des Dargestellten, der Auftraggeber und Erläuterungen über das Kunstwerk sowie Auffassungen über das Schönheitskonzept. Aus diesen Schriften lässt sich auch jene Metaerzählung rekonstruieren, welche die Stifter preist und die Handwerker und Architekten zurückstuft, was zu einem komplizierten Status der Künstler führte.

4.2.4. Johannes Scotus Eriugena

Schrimpf Gangolf in LMA V, 604

Gombocz 1997, 372

Der bedeutendste Philosoph der Zeit war der aus Irland stammende Johannes Scotus, der sich selber später Eriugena nannte. Der um 810 geborene Johannes arbeitete am Hof Karls des Kahlen als Lehrer der artes liberales. Johannes besaß eine überragende Bildung. Er übersetzte Dionysios Pseudo-Areopagites und Maximus Confessor und kommentierte Boëthius und Martianus Capella. Er wurde vielleicht durch Platons Timaios beeinflusst, den er durch die schlechte kommentierte Übersetzung des Calcidius kannte. Insbesondere die Überarbeitung einer Dionysios-Übersetzung von Hilduin, des Abtes von St. Denis, die Scotus bis 862 beschäftigte (sie fiel freilich wegen der fehlerhaften Vorlage nur mangelhaft aus), führte zu einer neuplatonischen Prägung seiner Philosophie und war kunstphilosophisch ein epochaler Schritt, weil er die östlichen Spekulationen endgültig dem Westen erschloss. Sein mit doppelsprachigem Titel versehenes Hauptwerk Peri physeon merismou id est de divisione naturae ist trotz christlicher Motive ganz vom neuplatonischen Erbe her bestimmt. Gangolf Schrimpf sprach von dem »wohl größte[n] systemat[ischen] Entwurf einer wiss[enschaftlichen] Erfassung der Wirklichkeit im ganzen […]« zwischen Augustinus und Thomas von Aquin. Es handelt sich um eine Auslegung der ersten drei Kapitel der Genesis. Das Thema bildet aber nur den Ausgangspunkt für einen gewaltigen systematisch-dialektischen Entwurf einer Epiphanie der Wahrheit in der Wirklichkeit der diesseitigen Welt. Es hatte damit auch ästhetische Relevanz. 1225 wurde der Besitz des Scotus-Werks von Papst Honorius III. unter Androhung der Todesstrafe verboten. Wenn irgendwo eine Abschrift auftauchte, musste sie nach Rom zur Verbrennung gesandt werden. 1684 kam das Werk auf den Index der verbotenen Bücher (Index Librorum Prohibitorum). Neben das platonische Umfeld trat der methodische Rahmen der artes liberales in der Fassung des Martianus Capella. Mit ihnen ging der intime Kenner der spekulativen Philosophie des Ostens viel freier um, als es in den folgenden Jahrhunderten üblich war. Insbesondere der Gebrauch der Logik zur Wahrheitsfindung in theologischen Fragen war etwas Neues im Karolingerreich. In Aulae sidereae und in De praedestinatione gibt es Architekturbeschreibungen, sodass Johannes wohl mit der zeitgenössischen Architektur und Kunst vertraut gewesen sein muss.

235

Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

In den theologischen Teilen des Œuvres begann mit Scotus das später so schwie­ rig gewordene Ringen zwischen Vernunft und Offenbarungsautorität. Die wahre ­Autorität und die wahre Vernunft könnten sich gar nicht widersprechen, so die einleuchtende Schlussfolgerung, weil sie doch beide der gleichen Quelle entstammten, nämlich der göttlichen Weisheit. Philosophie und Religion unterstützen sich gegenseitig, Offenbarung wird begreifbar und schlüssig. Peri physeon ist ganz im neuplatonischen Abstiegs- und Aufstiegsschema entworfen. Die dabei übliche Struktur des spiegelnden Selbstentwurfs des Einen im Vielen nennt Johannes divisio. »Die divisio ist in gewisser Weise der Akt der Natur, in dem sich Gott entfaltet und in einer hierarchisch gegliederten Ordnung selbst ausdrückt.« Analysis meint demgegenüber den von der niederen Materie in den Geist aufsteigenden Rückgang. Die Verweisstruktur, in der ein anagogisches Kunstverständnis und ein Spiritualisierungskonzept gründen, hat bei Eriugena ein philosophisch selten klares ontologisches Vorbild in dieser Rückkehrbewegung der dialektischen Selbstdarstellung Gottes. Die Entfaltung des Kosmos in der divisio geschieht zweifach: in der Natur und in der Schrift. Dieses wichtige Motiv der zwei Bücher, jenes der Schöpfung und jenes der Schrift, spielte im Mittelalter eine große Rolle. Die divisio spiegelt sich aber auch im Mikrokosmos Mensch wider – mit der platonisierend negativen Bewertung des Materiellen. Die Vielheit des Menschen, seine Materialität und Geschlechtlichkeit, ist Folge der Sünde und Ort der Bewährung zugleich. Es gibt nichts Niedrigeres als den Körper und nichts Höheres als den Geist. Die platonische Dichotomie wird mit christlichem Vokabular versehen und – auf die Eriugena rezipierenden Mystiker vorausweisend – der Tod als Erlösung aus dieser Misere, als Tod des Todes angesehen: »Denn durch irdische Begierden und fleischliche Lüste wird die Natur unterdrückt, welche ursprünglich dazu geschaffen ist, das Himmlische zu erstreben und zu lieben; anstatt die Vernunft zu geniessen, kreist sie in unvernünftiger Bewegung. […] von allem aber das Unterste ist der vergängliche Körper […] und dadurch hat der Tod des Fleisches der menschlichen Natur mehr Nutzen als Strafe gebracht, obwohl derselbe als Strafe für die Sünde gelten sollte, sofern die Auflösung des Fleisches, die man Tod zu nennen pflegt, mit mehr Grund als der Tod des Todes […] heissen sollte.« Allerdings finden sich auch Hinweise auf eine vom dionysischen Vorbild abweichende Stärkung des Menschen als Ort der gesamten sichtbaren und unsichtbaren Welt. Als solche steht er – höher als bei Dionysios – unmittelbar neben Gott. Die einzelnen Glieder der divisio benennt Eriugena mit christlicher Terminologie aus dem biblischen und theologischen Repertoire. Nichtsdestoweniger bleibt die gesamte ontologische Struktur von der neuplatonischen Apokatastasislehre überformt und in ihrem Kerngedanken einer christlichen Schöpfungsdeutung entgegengesetzt. Von einem christlichen Ansatz, wie ihn manche Autoren sehen wollen, wird hier ausdrücklich abgesehen. Eriugena spricht das göttliche Prinzip mit weiblichen Attributen als natura creatrix non creata an, das sich nun in dialektischer Selbstvermittlung im Emanationsakt offenbart. Die Seinsdynamik steht in dieser Ontologie wiederum im Vordergrund. Es

Eriugena, Periph. I,66 Peri physeon

Heinzmann 1992, 126

Eriugena, Periph. II,12 IV,12

Johannes Scotus, Periph. V,7

Heinzmann 1992

236

Das Mittelalter

ist die Erscheinung eines verborgenen Gottes (Theophanie): »Gott weiss also nicht, was er ist, weil er kein Etwas ist« (»deus itaque nescit se quid est, quia non est quid«), gemeint stets als Überseiendes, nicht als nichts), also die Verbindung von negativer Eriugena, Periph. II,28 und positiver Theologie. In diese Theophanie, die bisweilen als Lichtoffenbarung bezeichnet wird, ist die gesamte Schöpfung einbezogen. »Das Seiende insgesamt – also nicht nur die ›Welt‹ im Sinne des griechischen Kosmos-Begriffs – ist Theophanie. Beierwaltes 1976, 241 […] Das Seiende insgesamt ist Erscheinung (Erscheinen) des Gottes als des selbst Nicht-Erscheinenden […].« Welt ist zugleich schattige Explikation des reinen Lichtes. »Nur in den bildhaften, analogen Offenbarungen der Theophanien ist daher die Hedwig 1980, 53 überlichtige ›Dunkelheit‹ (caligo) des Schöpfers abgeschattet erkennbar.« Und dieses Schaffen ist zugleich ein Sich-selbst-Schaffen des Schöpfers. Bildphilosophie Im Sinne solcher Dialektik schreibt Eriugena ein Kapitel Bildphilosophie. Das Bild bringt zur Erscheinung, was als Urbild zu denken ist, und verleiht der sich entKreuzer 2000, 187f ziehenden natura creatrix Sichtbarkeit in der sinnlichen Erscheinung. Wiederum sind die sinnlichen Erscheinungen symbola, die auf eine geistige Wirklichkeit verBeierwaltes 1976, 261 weisen. Werner Beierwaltes nennt die Welt bei Eriugena eine symbolische Struktur, Johannes Scotus, Periph. und das Sinnenhafte ein Bild der unsichtbaren Urschönheit. Welt ist ein Bild des IV,16 göttlichen Urbildes und eine analoge Einheit der göttlichen Ureinheit. Divisio meint im letzten ein dialektisches Selbstvermittlungsgeschehen einer Johannes Scotus, Periph. göttlichen Wesenheit, die in diesem Akt Harmonie und »Symphonie«, also Schönheit III,6 in der Natur erzeugt: »Gotteserscheinungen nenne ich aber die Gestalten sichtbarer und unsichtbarer Dinge, durch deren Ordnung und Schönheit Gott nach seinem Ebd. V,26 Sein erkannt und gefunden wird […].« Die Harmonie der gesamten Schöpfung besteht aus intelligiblem und sinnlichem Sein. Der Grund jeder Harmonie entspricht der obersten Schönheit. Diese höchste Schönheit entspricht auch dem »unbegreifliEbd. V,39 chen und unzugänglichen Licht« und Johannes schreibt ein Kapitel Lichtmetaphysik. Kunibert Bering sieht einen Zusammenhang zwischen dieser Lichtmystik und Bering 2002, 80 der zunehmenden Nutzung edler und glänzender Materialien. An anderer Stelle vermutet Bering eine »Resonanz« der Lichtmetaphysik Eriugenas im Goldgrund der Malerei des Aachener Ottonencodex (Liutharevangeliar), der dort zum ersten Mal in der abendländischen Malerei auftaucht. Dass es eine Rezeption Eriugenas tatsächlich gab, belegen Teile des Werks De coelesti ierarchia im Uta-Codex (ein Evangelistar nach der Äbtissin Uta von Niedermünster in München; Evangelistare geben zum Unterschied von Evangeliaren nur jene für den Gottesdienst benötigten EvangelienstelEbd., 165 len wieder) Anfang des 11. Jh.s. Grundsätzlich entfaltet sich im Mittelalter, von solcher Lichtmystik ausgehend, ein breiter Symbolismus von »Lichtmaterien«, seien es Edelsteine, das glänzende Gold oder die – aus biblischen Vorlagen – »Lichtpflanzen« Lilie, Palme, Rose und Hedwig 1980, 63f »Lichttiere«: Adler, Greif, Pegasus, Lamm, Taube. Insbesondere das HarmoniedenMeier 1977 ken steht in Verbindung mit der spätantiken Musiktheorie. Inwieweit es eine Rolle Beierwaltes 1994, 159–179 für die frühe Mehrstimmigkeit spielt, ist Gegenstand von Diskussionen. Greifbareres liefert das Gedicht Aulae Sidereae, das zur Einweihung der PfalzAulae Sidereae kapelle Karls des Kahlen in Compiègne oder als Memoria dafür entstanden war.

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Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Die Verse sind ein bestechendes Dokument der Deutung des Achtecks sowie etlicher Ausstattungsstücke der Kirche in ihrem symbolischen und anagogischen Charakter. Die Kirche wird – wie die Welt – Ausdruck von divisio und analysis. In der steinernen Hülle der Eucharistie wird das Unsagbare als Erscheinung zugänglich. Auch im westlichen Mittelalter bestimmten das antike Denken und dessen orientalische Wurzeln die philosophische Reflexion. Es kann daher nicht erstaunen, dass auch die künstlerische Umsetzung ähnliche Ergebnisse zeitigte. Wieder gilt die Ontologieästhetik, nach der Naturgegenstände und Artefakte der Welt unähnliche Abbilder der wahren und vollkommenen Welt sind. Ein geistvoller Mensch wird in einer schönen Vase die Verherrlichung des Schöpfers erkennen und nicht von Begierde nach diesem Gegenstand erfüllt sein. Die Urbild-Abbild-Dynamik ist der eigentliche Sinn der Kunst, ebenso wie der Sinn der Ontologie. Im sichtbar Schönen, das selbst »Unsichtbares ist, das sichtbar wird«, erkennt man die reine Schönheit des Wahren. Ebenso relativiert sich jede scheinbare Formlosigkeit, also »Un-schönheit«, immer wieder in Bezug auf das in Harmonie befindliche Ganze der Einheit. Man findet diese idealisierte Einstellung zur Kunst durchgängig im Mittelalter. Ein nicht mehr zuordenbarer kalabresischer Basilianermönch des 12. Jh.s feierte die Marmorinkrustationen stilisierter Blumen auf dem Fußboden in der Capella Palatina in Palermo gegenüber der Vergänglichkeit echter Blumen. Hier war die Schönheit von Blumen in ein Material der Ewigkeit überführt worden. Damit hatte der Künstler seinen Teil zum Erscheinen der Objektivität und Universalität des Schönen beigetragen. Er hatte das Bild der Idee jeweils einzelner nur bedingter Gegenstände erzeugt. In der Beschreibung der Funktion des Künstlers (artifex) gibt es Bezüge zu Platon und Aristoteles. Das kreative Denken des Künstlers geht der Kunst (ars) voraus wie die Wirkung der Ursache. Die Kunst wiederum ist Ursache des Kunstwerks. Dabei bleibt der Bezugspunkt von allem der göttliche creator (artifex omnium), dessen Kunstwerk die Welt ist. Der menschliche Künstler ist einer in »analogem, repräsentativem und imitativem Sinne […].«

4.2.5. Architektur und bildende Kunst Man könnte nicht nur in der Bildung, sondern auch in Kunst und Ästhetik die Zeit Karls als Epoche der Versammlung und Ordnung verschiedener Konzepte ansehen. Es gab nicht ein stringentes und geschlossenes Leitkonzept. Das war schon deshalb unmöglich, weil die Strahlkraft der Renovatio-Idee auch an Orten Auswirkungen hatte, die sich dem Einfluss Karls entzogen. Papst Leo III. und sein Nachfolger Paschalis I. gingen in Rom viele Restaurierungsprojekte an, darunter ein so köstliches Beispiel wie Santa Prassede, eine Nachahmung des konstantinischen Alt-Sankt Peter, mit außergewöhnlicher Mosaik-Ausstattung. Das für Byzanz und Ravenna bestimmende neuplatonische Ideengebäude war durchaus ins karolingische Reich übersetzt worden. Dazu kamen die spärlichen Relikte von den neuen Völkern, die weniger eine philosophische Basis hatten als Traditionen entsprangen. Karl stellte sich mit seiner immensen Bauleistung – über 200

Assunto 1963, 57f

Beierwaltes 1994, 149

238

Das Mittelalter



329–330 Oktogon der Pfalz­kapelle (um 800) und die prunk­ volle Kanzel Heinrichs II. (um 1014); Aachen

Assunto 1963, 82 Kubach 1964, 3 Angenendt 1990, 315

Brenk 2003, 135

Onasch 1993, 197ff 3.4.2.1.

Wolter-von dem ­Knesebeck Harald in Toman 2010, 154

5.3.1. Bering 2002, 57

Klöster, zahlreiche Kathedralen und sechs Dutzend Pfalzen wurden neu gebaut oder erneuert – nicht nur in die Tradition der orientalischen Herrscher. Er schrieb damit einen neuen Abschnitt der europäischen Architekturgeschichte. Es erinnert an Konstantins Bemühung im Osten, flächendeckend das Christentum mit in Stein gebaute Kirche zu implementieren. Auch die Form der Sakralbauten schloss an die Spätantike an. Die südliche frühchristliche (noch querhauslose) Basilika verband sich mit der im Norden verbreiteten Saalkirche samt einiger Zahlenmagie. Also eine Versöhnung von Langhaus und Zentralbau. »Bis in die Zeit der Karolinger, ja der Ottonen, könnte der mittelalterliche Kirchenbau als Ausläufer, als ferne Nachwirkung, als Randerscheinung der mittelmeerischen Spätantike gelten.« Die von Abt Fulrad in St. Denis 755 begonnene Klosterkirche folgte nach der Unterbrechung in vorkarolingischer Zeit wieder dem basilikalen Schema. Karl betrachtete die Sakralarchitektur in Aachen als seine Architektur und sein mustergültiges Oratorium, ein oktogonal überkuppelter Zentralbau mit doppelgeschossigem Umgang, sollte den Kirchen in Ravenna gleichen. Einflüsse durch die Sergios und Bakchos-Kirche oder anderer Bauwerke in Konstantinopel, wie der häufig zitierte vielleicht überkuppelte oktogonale Audienzsaal des Kaiserpalastes, sind nicht beweisbar und gelten heute im Gegensatz zu früheren Meinungen der Kunsthistorikerinnen als unwahrscheinlich. Dennoch gilt die von Karls Architekt Odo von Metz um 780 gebaute Anlage als »innovativ«. Das Viereck – Symbol für die Erde – korrespondiert mit dem Rundbogen – Symbol des Himmels – und dem Achteck. Die Achtzahl, die man von den Baptisterien her kennt, bezeichnet die Taufe als Verbindung von Tod und Auferstehung. Auch der Felsendom in Jerusalem folgte dieser Geometrie. Die acht Wände der Pfalzkapelle (gegenüber dem Achteck von San Vitale gestrafft und steiler) drücken die Ewigkeit aus und spiegeln sich wider in der achtseitigen Kaiserkrone (vermutlich) Ottos I. Darin drückte das Königreich seine Vollendung nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalem aus. »Als oktogonaler Zentralbau mit zwei Säulenstellungen in Superposition in den Emporen war dieser Bau so markant, dass er zum Architekturzitat einlud.« Karl veränderte die private Funktion der ravennatischen Märtyreroratorien in eine öffentliche. Aus Ravenna ließ Karl neben Spolien auch das Reiterdenkmal Theoderichs holen, was übrigens Walahfried Strabo in De imagine Tetrici heftig kritisierte. In seinem Oratorium pflegte er als König Fürsprache bei Gott für sein Volk zu halten. Ungewöhnlich war das Westwerk, eine »karolingische Erfindung« – erstmals aus dem zerstörten Centula (St. Richarius) 799 berichtet –, das sich in der Romanik zum turmreichen Westbau mit Querhausanlagen auswuchs. Formal ist es eine Antwort auf die Einfügung des Querhauses in die Basilika – orientiert an Alt-St. Peter in Rom und in Centula aufgenommen (dessen Rekonstruktionsversuche freilich bis heute spekulativ sind). »In Aachen vermittelt der turmüberhöhte Westbau zwischen dem großen Atrium der Pfalzkapelle und dem Zentralbau.«

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Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik

Das aufblühende Klosterwesen im Frankenreich und auf den britischen Inseln bereitete den Weg nicht nur für eine erneuerte Architektur, sondern auch für die bildende Kunst. Sie wird nun nach der Kunst der Völkerwanderungszeit als karolingisch bezeichnet. In der Kunstgeschichte galt einige Zeit das Wort von der Entstehung der karolingischen Kunst ex nihilo. Das ist eine rigorose Behauptung. Voraus ging immerhin ein reicher Schatz von Kunsthandwerk der Gold- und Silberschmiede. Im Sinn der translatio-Idee griff man außerdem auf ein Repertoire von antiken – Rom war ein »riesiges Reservoir an Zeichen« – und byzantinischen, aber auch iro-angelsächsischen Formen zurück. Diese Kunstblüte war ganz im Sinne des Hofs, der sozusagen sesshaft geworden war und eine Residenz nach spätantik-byzantinischem Vorbild hatte. Es sollte ein Hof mit hoher philosophischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Kultur sein. Diese höfische Kunst diente der Propagierung des renovatio-Gedankens und der Herrschaftslegitimation Karls. Wiederum spurten illuminierte Handschriften den Weg, die Kunst und antikes Wissen gleichermaßen transportierten. Stundenbücher, liturgische Bücher, Sakramentalien, Bibeln, Psalterien, aber auch wissenschaftliche Werke entstanden neben Aachen (z.B. das durchwegs mit Goldtinte geschriebene Harley-Evangeliar; um 800) in berühmten Werkstätten und Skriptorien, die stilbildend wirkten (Reims-Stil, Touronian-Stil, Drogo-Stil). Die Ada-Schule (nach einer von der in verschiedenen Quellen als Schwester Karls bezeichneten Äbtissin Ada in Auftrag gegebenen Handschrift) war die Hofschule Karls im Umfeld von Aachen (Lorsch oder Fulda) mit Reminiszenzen zu den ravennatischen Mosaiken. Als älteste von Karl in Auftrag gegebene Prachthandschrift gilt das nach dem Schreiber benannte Godescalc-Evangelistar (781–783), wo noch eine starke insulare Ornamentik als Rahmen dient. Eines der letzten Exemplare der Ada-Gruppe ist das Lorscher Evangeliar um 810. Beim Wiener Krönungsevangeliar (um 800 mit goldener und silberner Tinte auf Purpurpergament in der Palastwerkstatt Karls in Aachen entstanden) sind die Evangelisten wie antike Philosophen dargestellt. In hellenistischer Manier öffnet sich die Landschaft auf einen lichtdurchfluteten Hintergrund. Möglicherweise waren griechische Künstler in Aachen, die vor dem Bildersturm in Konstantinopel geflohen waren. Es ist ein besonderes Beispiel einer Ambition nach Prunk in der Buchkunst. Auf diesem Buch legten die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs ihren Treueschwur ab. Unter Alkuin entwickelte sich das Kloster Saint-Martin de Tours zu einem Zentrum der Buchkunst und Alkuins Nachfolger spezialisierten sich auf großformatige und verschwenderisch illustrierte Bibeln, wie man etwa am Beispiel der unter Abt Vivian um 845 entstandenen, 449 Seiten starken und 510 cm hohen Moutier-Grandval-Bibel (nach dem Kloster Moutier-Grandval in der Nähe von Basel, für das sie bestimmt war) ersehen kann. Die Einbandgestaltung war eine Sache der im ganzen Mittelalter angesehenen Goldschmiede und Elfenbeinschnitzer. Kunsthistoriker machen eine Vielfalt von Quellen aus, die hier eingeflossen sind: antike, hellenistische, byzantinische, frühchristliche. Die Erneuerung der Liturgie in karolingischer Zeit machte einige Ausstattungsstücke der Kirche (Chorschranke, Ambo, Ziborium, Bischofssitz) zu Objekten für die Künstler.

Henderson 1994, 248 Bering 2002, 112

Barral i Altet Xavier in Duby/Barral i Altet/ Suduiraut 1989, 22f

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Das Mittelalter

Stampfer Helmut in Stampfer/Steppan 2008, 25

Fricke 2007

Auch Wandmalereien dürften noch verbreitet gewesen sein, wovon allerdings kaum mehr etwas erhalten ist. Farbenprächtige Fresken haben sich in Müstair erhalten. Sie sind ein seltener erhaltener Zyklus des heiligen Geschehens, eine Darstellung der res gestae biblicae an einer Wand. Es waren echte Arbeiten al fresco. Die Technik kam über Byzanz aus dem römischen Bereich und wurde in die Romanik weiter gereicht. Mosaikkunst scheint es nur mehr vereinzelt gegeben zu haben. Die Pfalzkapelle in Aachen hatte ein Kuppelmosaik. Die Dekoration war immer noch frei von Menschenabbildungen. Trotzdem kam es in karolingischer Zeit vereinzelt zu ersten (allerdings nicht erhaltenen) von der Gebundenheit an die Wand freien Großskulpturen. Die Monumentalplastik begann aber erst in ottonischer Zeit in nennenswertem Umfang. Zu groß waren die Vorbehalte gegen plastische Arbeiten. Dort, wo sie geschaffen wurden, entschärfte man die Sache, indem man die Skulpturen mit Reliquien oder Hostien füllte. Der Leib Christi fungierte als Repräsentation des einzigen wahren Leibes Christi im Himmel. Bernhard von Angers, ein Schüler Fulberts von Chartres, beschrieb um 1013 argwöhnisch die Wundertätigkeit der Statue der hl. Fides von Conquers, die seine Skepsis gegenüber der Skulptur schließlich in Verehrung verwandelte.

331 Kloster Müstair; Graubünden 332 Taufe Christi (um 1000); Kloster Müstair 333 Karolingische Malerei (um 800); Kloster Müstair

5.0. Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert Über das quellenarme 10. Jh. sind wir schlecht unterrichtet. Schon deshalb eignete es sich für die Denunziation des Mittelalters als dunkel. Man hat den Eindruck, als musste die kulturelle Entwicklung nach den karolingischen Boomjahren noch einmal Luft holen. Denn um die Jahrtausendwende begann mit weit reichenden Reformbewegungen und einer damit verbundenen Pflege des antiken Kulturguts ein Aufschwung, der zum Hochmittelalter führte.

5.1. Kontexte Das Karolingische Reich überlebte Karl kaum. Er selbst fasste eine Teilung des Reichs ins Auge, die dann auch 817, drei Jahre nach Karls Tod, und nochmals 837 geschah. Nach weiterem Tauziehen regelte der Vertrag von Verdun 843 die Aufteilung in drei Teile: Westfranken, Mittelreich, Ostfranken. Die Folge waren eine Schwächung dieser Nachfolgreiche und große Probleme mit Zerstörungs- und Plünderungszügen

241

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

von Invasoren: Normannen in Gallien, Wikinger im Norden, Sarazenen im westlichen Mittelmeer und in Sizilien, Ungarn im gesamten ostfränkischen Gebiet. Den Sarazenen gelang sogar der Coup, den berühmten Abt Majolus des Klosters Cluny als Geisel zu nehmen. 972 wurden die Sarazenen endgültig vertrieben. Dass einzelne dieser Völker auch eine beachtliche Kunst besaßen, wurde und wird an anderer Stelle erwähnt, erinnert sei etwa an die »Schiffsgräber« der Wikinger in Sutton Hoo mit reichen Grabbeigaben. Im Schatten dieser am Horizont dräuenden Gefahren setzten die abtretenden Karolinger nochmals einige Ausrufezeichen. Am umherziehenden Hof des westfränkischen Königs Karl des Kahlen, der von 875 bis 877 auch als Kaiser regierte, kam es zu einer zweiten Renaissance. Die Zentren Fulda, Reichenau, Köln (St. Gereon), Lorsch, St. Gallen, Reims und das Hofatelier von Corbie hatten insbesondere in der karolingischen Buchkunst einen hohen Rang. Die unter Bischof Hinkmar in Reims entstandene Prunkbibel (um 870) ist das am reichsten ausgestattete erhaltene Werk karolingischer Buchkunst mit vierundzwanzig ganzseitigen Miniaturen. Die Einbände waren häufig herausragende Elfenbeinarbeiten, etwa jene der oben bereits erwähnten Liuthard-Gruppe, benannt nach dem berühmten Schreiber Liuthard, dessen Manuskripte sie bargen. Weite Verbreitung fanden die Goldschmiedearbeiten, weil viele dieser Kleinodien als Geschenke dienten. Damit war freilich nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch der Gipfel überschritten. Der neuen Völkerwanderung hatten die schwachen und nur auf ihren Vorteil bedachten Könige nichts entgegenzusetzen: »[…] alle handelten nach der Devise: ›Jeder für sich‹.« Karl der Große hatte Europa vereinigt, aber den Gedanken einer solidarischen Gemeinsamkeit, einer wirklichen Einheit konnte er nicht entzünden. Das einst so stolze Reich der Karolinger zerfiel. Durch das Fehlen einer Ordnungsmacht stürzte das Land in Hungersnöte und Armut. Abteien und Klöster wurden geplündert. Flüchtende Mönche mit Reliquienschätzen auf ihren Wagen gehörten zum täglichen Bild. Die in der Zeit Karls angelaufene Renovatio kam zum Erliegen, Rom war in die Ferne gerückt und in der Verklärung kamen zwei Gesichter Roms zum Vorschein, jenes, »welches Karl den Großen fasziniert hatte […]: das Gesicht mit den reinen, aber erstarrten Zügen, erstarrt in der Unbeweglichkeit der archaisierenden Restauration, elegant und tot wie ein Vers von Vergil«, sowie »ein Gesicht, das sich von all dem beleben ließ, was Rom in diesem Teil des Abendlands derzeit noch an Modernität besitzen konnte.« Das Studium der als vollendet gepriesenen Textformen der Antike versiegte. Man hatte sie nicht um ihres (heidnischen) Inhalts willen gepflegt, sondern wegen der formalen Schönheit: Vergil, Statius, Juvenal, Horaz, Laktanz, Terenz. Damit verkümmerten auch die zarten Pflänzchen eines frühen Humanismus und die Anläufe der Wissenschaft in den Klöstern. Die Mönche konnten kein Latein mehr. Von der strengen und anspruchsvollen Schriftauslegung wandte man sich dem Spirituellen und Mystischen zu, dem verborgenen Gott. Von ihm her »geschehen Zeichen, die ebenso geheimnisvoll sind wie er selbst.« Was sollte ein Mönch in seiner einsamen Meditation auch mit der Rhetorik anfangen oder mit der Dialektik, der Kunst lo-

4.1.

Durliat 1987, 246

Duby 1976, 56

Ebd., 137

242

Das Mittelalter

Bering 2004, 54 Duby 1976, 20

Bering 2002, 73f

Dinzelbacher/Werner 2007, 13 Bloch Peter in Kubach/ Bloch 1964, 166 Blumenberg 1957, 83

5.3.2.

gischen Begründens? Es ging einzig darum, den Text der Hl. Schrift (der Vulgata) zu meditieren. Dass in solch unsicheren und fragmentierten Zeiten die romanische Kunst sich dennoch erstaunlich einheitlich gestaltete, lag einerseits an der Mobilität von Königen, die mit großem Gefolge, samt Fürsten und Bischöfen, ständig unterwegs waren. Sie zogen von Pfalz zu Pfalz, die bis zum Ende des 12. Jh.s neben der Burg die wichtigste Herrschaftsarchitektur war. »Diese ständige Bewegung des kleinen Kreises der Privilegierten, von dem die Erschaffung des Kunstwerks letztlich abhing, begünstigte Kontakte und Begegnungen.« Sogar mit den in großer Toleranz geduldeten christlichen Gemeinden im islamischen Bereich rissen die Kontakte nicht ab. 887 wurde Karl der Dicke durch seinen Neffen Arnulf von Kärnten abgesetzt (im Westen regierte er noch bis 888). Arnulf trug zwischen 896 und 899 wie einige andere Karolinger noch die Kaiserkrone, aber das Reich der Karolinger war de facto zu Ende. 936 wählte man (Lothringer, Sachsen, Schwaben, Ostfranken, Bayern) Otto, den Sohn Heinrichs I., König des Ostfrankenreichs, auf dem historischen Boden der Pfalzkapelle in Aachen zum König. 955 rang Otto I. die Ungarn nieder. 962 wurde er in Rom zum Kaiser gekrönt und wählte nach dem Vorbild Karls, an dessen kultureller Ambition er anschloss, eine bevorzugte Pfalz, diesmal Magdeburg in der sächsischen Heimat der Ottonen, als sein neues Rom. Magdeburg lag näher an der unruhigen Ostgrenze als Aachen. Er ließ eine Palastanlage und einen monumentalen Dom als dreischiffige Basilika errichten. Wie Karl ließ auch Otto Spolien aus Italien holen. »Insgesamt entstand in Magdeburg eine ausgesprochen repräsentative Anlage, die die neue Machtposition der Liudolfinger prägnant vor Augen führt.« Über Italien hinaus stärkten die Ottonen – so nannte man das Geschlecht nach der Kaiserkrönung Ottos – die Verbindung zu Byzanz und zum islamischen Orient. Nach Karl war erstmals wieder ein starkes Kaisertum entstanden. Bis Friedrich II. werden sich deutsche Fürstengeschlechter die Macht im Heiligen Römischen Reich weiterreichen: Sachsen, Salier, Staufer. In der Gesellschaft löste Familienidentität die alte Sippenstruktur ab. Geschlechternamen und -wappen entstanden, die Dynastien gewannen ihre Identität durch Burgen, die auf Hügel- und Bergkuppen aus dem Boden wuchsen. Die größeren unter ihnen verstanden sich als Höfe und eine entsprechende höfische Kultur erreichte im 12. Jh. ein hohes Niveau. Die Konstanz der künstlerischen Produktion hatte andererseits auch zu tun mit der Dominanz des Christentums, eine profane Kultur daneben fehlte weitgehend. Künstler verstanden sich als Ausführende eines göttlichen Auftrags, es ging nicht um individuelle Innovationen. Denn es galt: »[…] alle spekulative Kühnheit wird daran gewendet, den Möglichkeiten Gottes, nicht denen des Menschen, bis zum äußersten nachzugehen.« Das bedeutet allerdings nicht, dass sich nicht bereits im frühen Mittelalter auch die Künstlerpersönlichkeit durchsetzte. Die immer noch verbreitete Theorie vom anonymen Künstler des Mittelalters ist inzwischen überholt. Freilich unterstützte der von Peter Bloch angesprochene laufende Diskurs die Künstlerpersönlichkeit gerade nicht. Zum Unterschied von den Hofateliers bei Karl dem Großen geschah die Kunstproduktion unter den Ottonen in den Klös-

243

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

tern, wo Intellektuelle auch kunstphilosophische Reflexionen anstellten. Kunst in dieser spätkarolingischen und ottonischen Epoche hatte ähnliche Funktionen wie in der antiken Welt. Sie war imperiale Machtkunst der Kaiser und Bischöfe, aber nicht nur. Entsprechend der schwächeren institutionellen Stellung dieser Eliten und den subsidiären und dezentralen Strukturen der (mönchischen) Zentren war der Kontext zweifellos komplexer. Kunst, namentlich eine christliche, erfüllte schon durch die Aufforderung: »Dies tut zu meinem Gedächtnis« (1 Kor 11,24f) auch memoriale (Ereignisse, Heilige, Stifter), identitätsstiftende, religiös-pastorale und persönliche Aufgaben und war (auch dies ähnlich wie in der Antike) ein wichtiges Instrument der Kommunikation. Memoria ist hier in weiterem Sinn zu verstehen als »ein System aus liturgischen, sozialen und kulturellen Praktiken, die das kollektive Gedächtnis konstituieren, die also garantieren, dass im institutionalisierten Gedenken eine generationenübergreifende Gemeinschaft geschaffen wird, die Verstorbene und Lebende verbindet.« Dazu gehörte auch die Kunst, denn die Kunstschätze »waren im Netz der politischen, sozialen, kulturellen, institutionellen und persönlichen Beziehungen die zu Objekten verdichteten Knotenpunkte, die Orte, wo mit Schatzobjekten Identitäten geformt und Erinnerungen wach gehalten wurden.« Jan und Aleida Assmann bauten diese Sicht zur Rede vom »kulturellen Gedächtnis« aus, das Jan Assmann beschrieb als »jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche[n] Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.« Die Memorialforschung reicht zwar in das 19. Jh. zurück, erfuhr aber in den letzten Jahrzehnten eine besondere Aufmerksamkeit. Eine solche Sicht setzt für die Kunstgeschichte voraus, über eine reine Stilgeschichte hinaus die Intentionen der Akteure, aber auch strukturelle und soziologische Analysen in den Blick zu rücken. Im östlichen Mittelmeer – der Ansturm der Araber war zu einem Ende gekommen – betrieb man im 11. Jh. wieder lukrative Geschäfte, die besonders in der Toskana und der Lombardei die Bautätigkeit anregten. Der Doge Orseolo II. von Venedig sicherte in mühevollen militärischen Operationen die für Europa lebenswichtigen Handelswege nach Byzanz vor Piraten. Der dritte Bau des Markusdomes ab 1063 nach dem Vorbild der Apostelkirche in Konstantinopel zeigte die in dieser Hinsicht so wichtige Machtstellung Venedigs im internationalen Spiel. Auf der anderen Seite des Stiefels war es Pisa, das die Südhalbinsel vor den Sarazenen rettete. Mit dem Dom Santa Maria Assunta – im gleichen Jahr 1063 vom griechisch-pisanischen Baumeister Busketos begonnen – und der Anlage des Campo dei Miracoli entstand hier ebenfalls ein selbstbewusstes Zeichen. Auch die Pisaner wollten ein zweites Rom erschaffen, holten Spolien aus Rom und formale Vorbilder für ihre Künstler aus der byzantinischen Kunst.

Michalsky Tanja in Wittekind 2009, 389

Reudenbach 2009, 27

Assmann 1988, 15

IV.6.2.2.

334–335 Baptisterium und Dom S. Maria Assunta; Pisa

244

Das Mittelalter

Bloch, zit. nach Simson 1972, 15

Stadtkultur

Althoff/Goetz/Schubert 1998, 294 1.0.

Investiturstreit

Kempf Friedrich in HBKG III/1, 423

Fried 2008a, 169

Mit einem originellen Bild leitete Marc Bloch das 11. Jh. ein, nämlich mit der Metapher vom »Kampf gegen den Baum.« Der Wald stand im frühen Mittelalters als Metapher für Bedrohungen aller Art. Er verhinderte Landwirtschaft und Wohlstand, er barg wilde Tiere und Räuber. Mit dem Zurückdrängen des bedrohlichen Waldes durch großflächige Rodungen begann im 11. Jh. die Konsolidierung. Es entstand Platz für die Landwirtschaft, die durch ihre Wirtschaftskraft das neue Erblühen der Städte ermöglichte. Das Mittelalter rückte in den Norden, letztlich eine Folge der Ausbreitung des Islam. Die Bevölkerung wuchs, Arbeitsteilung führte zu mehr Spezialisierung, Verkehrsnetze wurden ausgebaut, die Siedlungstätigkeit mit Rodungen und Trockenlegungen intensiviert. Der Unterschied von Stadt und Land nahm zu, die Stadtkultur kehrte zögernd zurück. Zum Unterschied von der antiken Anlage und den zeitgenössischen islamischen Metropolen duckten sich die Städte eng, dunkel und schmutzig hinter Mauern und Türmen. Die Tore wurden in der Nacht geschlossen. Baumaterial war überwiegend Holz (auf dem Land bis ins Hochmittelalter auch für Sakralbauten), erst im 13. Jh. baute man mehr und mehr in Stein, meist als Fachwerkbauten, die sich aus dem Holzbau entwickelten, aber selbst noch um 1400 waren Steinhäuser die Ausnahme. Die Stadt löste ihre Bürger aus der Abhängigkeit von Grundherren und schuf damit die Grundlage für den Aufstieg eines selbstbewussten Bürgertums. In diesem neuen Sozialgefüge erarbeiteten sich Kaufleute ein beträchtliches Vermögen und konnten die notwendigen Handelsreisen an Partner delegieren. Arbeitsteilung und Spezialistentum schritten fort. Der Zahlungsverkehr machte ein internationales Bankwesen notwendig. Die intensivierte Literalität entstand aus Wirtschafts- und Handelsaktivitäten und nicht mehr aus der Pflege der Heiligen Schrift in der klösterlichen Abgeschiedenheit. Abseits dieser offensichtlichen Aushöhlung der klaren vertikalen Hierarchie, der auctoritas, die sich aus der göttlichen Sendung der Oberen legitimierte, kämpften die Päpste um den Erhalt ihrer Macht. Gregor VII., der als Mönch vielleicht kurze Zeit in Cluny lebte, formulierte in seinem Dictatus Papae 1075 eine monarchische Exklusivität des Papstes, die sich der Form nach am Kaisertum orientierte. Vordergründig ging es um die Einsetzung von Bischöfen (Investitur). Seit den Ottonen war die Investitur ein Machtinstrument für den König, weil mit Hilfe der geistlichen Macht der Einfluss der ehrgeizigen Adelsgeschlechter begrenzt werden konnte. Auf der anderen Seite gab es eine Stärkung des Selbstbewusstseins bei Äbten und Bischöfen aufgrund der Schwäche der Königsherrschaft. Daher griff der Papst nun die Investiturpraxis an. Einen schon legendären Ausdruck fand der Streit zwischen den beiden Mächten 1076 im Bann des Salierkönigs Heinrich IV. durch Gregor. Man kann die Bedeutung dieses Streits in der Propaganda der beiden Seiten erkennen. »Eine überfließende Streitschriften- und Traktatenliteratur ergoß sich über die Völker, eine öffentliche Meinung entstand und sah sich alsbald von allen Seiten der Manipulation ausgesetzt.« Auch Symbole der Machtdemonstration gab es allenthalben. Der Baubeginn des Doms in Speyer (um 1030), größter damaliger Kirchenbau und Grablege der Dynastie, war eine solche Demonstration des salischen Königtums.

245

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

Fried 2008b

Bering 2004, 70 Winkler 2009, 20

Roeck 2017, 219

Böckenförde 1976 336–338 Die »rheini­schen ­Kaiserdome« von Speyer, Worms und Mainz (v.l., alle um 1030); heute als Ensembles mehrerer Bauphasen



Die Begegnung 1077 auf der Burg der Markgräfin Mathilde von Tuszien in Canossa war gut vorbereitet. Beide Kontrahenten hatten Interesse an der Lösung des Banns. Es war nicht sosehr ein Gipfel der Eskalation, sondern der beginnende Versuch des Ausgleichs, weil der König unter den Druck der erstarkenden Landesfürsten gekommen war. Papst und Kaiser brauchten einander. Trotzdem folgten ein weiterer Bann und schließlich die Einnahme Roms durch Heinrich. Die folgende Plünderung und Zerstörung der Stadt durch die Normannen 1084 (Robert von Guiscard, der seinen bedrängten Lehensherrn, Papst Gregor VII., wieder einzusetzen versuchte) löste zwischen Tiberinsel, Marcellustheater und Santa Maria in Cosmedin sowie in Trastevere eine Neubauphase mit wichtigen romanischen Bauten aus. Der Investiturstreit – Heinrich August Winkler nannte ihn die »Keimzelle der Gewaltenteilung überhaupt« – führte letztlich dazu, dass das Königtum weltlicher, die Kirche sakraler wurde. Dabei ging der Traum des Augustinus und vieler kirchlicher Philosophen und Theologen von der Verwirklichung der Civitas Dei in dieser Welt verloren. Europa entschied sich für den aufgeklärten Weg der Trennung von Religion und weltlicher Macht. Bernd Roeck spricht vom »Wachstum einer weiteren Säule des europäischen ›Wunders‹, der Zügelung der Religion.« Am Ende dieses langen Weges, auf dem der Humanismus der Renaissance, die Aufklärung des 18. Jh.s und viele blutige Revolutionen im 19. Jh. lagen, stand der säkulare freiheitliche Staat, für den das berühmte Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde gilt, dass dieser Staat die Voraussetzungen, auf denen er ruht, nicht letztbegründen und garantieren kann. Gegen die vielen Versuche von säkularer und christlicher Seite, solche Voraussetzungen dennoch zu formulieren, gilt es einzuwenden, dass gerade das (ideologiefreie) Offenhalten dieses Paradoxons der Garant einer freiheitlichen Staatsordnung ist. Da die Feudalherren noch gottesfürchtig waren – die Sorge um das Seelenheil verdüsterte das Leben –, wanderte ein erheblicher Teil der Einkünfte in fromme Stiftungen, was wiederum Impulse für die Kunstentwicklung auslöste. Dieses Vermögen in der Hand der Kirche brachte ihr – insbesondere auch angesichts des Analphabetentums der Ritter – wieder die Aufsicht über die Kunst ein.

246

Das Mittelalter

indo-arabische Ziffern

Binding 1996, 192 Burnett 1996, IV, 1040

6.2.1.

3.4.2.1.

Kreuzzüge

Durliat 1983, 27f 339–340 Krieger­ mönche, Mosaiken; Hosios Lukas

IV.6.1.

Roeck 2017, 228

Um 970 soll der Mathematiker Gerbert von Aurillac, der an den islamischen Universitäten in Sevilla und Córdoba studiert hatte, von den Arabern in Spanien das indische Rechnen mit Ziffern nach Europa gebracht haben. Historisch ist diese Geschichte unwahrscheinlich, aber Gerbert, der als erster Franzose 999 als Silvester II. für vier Jahre den Stuhl Petri bestieg, scheint einen mit Ziffern notierten Abakus (Rechengerät mit Kugeln und Steinen) besessen und damit bereits mit dem Ziffernsystem gearbeitet zu haben. Der Abakus eignete sich zur Demonstration des Funktionierens von Zahlen, aber nicht für die Anwendung auf die Bedürfnisse des täglichen Lebens. Die Kirche stemmte sich noch einige Zeit gegen die »teuflischen Zeichen der Araber«. Endgültig dürfte sich das Ziffernsystem erst mit der Übersetzung eines Rechenbuches des Persers Ibn Muhammad al-Chwarizmi im 12. Jh. durchgesetzt haben. Dennoch wurde noch lange der alte Abakus gegen das demokratische, weil leicht erlernbare Rechnen mit dem Algorithmus verteidigt, was zu einem skurrilen ideologischen Streit von Abakisten und Algoristen führte, der bis zur Französischen Revolution dauerte. Anfang des 11. Jh.s zerfiel das Kalifat von Córdoba in untereinander zerstrittene Teilstaaten. Das ermunterte die christlichen Heere, die Reconquista voranzutreiben. Erste Erfolge – 1085 gelang die Eroberung Toledos – förderten das Selbstbewusstsein des Christentums, das sich in gewaltigen Kirchenanlagen der Romanik sichtbaren Ausdruck verschaffte. Dies führte auch zur Idee, für das Christentum in den Kampf zu ziehen. Schon viele Kirchenväter, unter ihnen am prominentesten Augustinus, hatten den bewaffneten Kampf für Christus legitimiert. Der Krieg wurde christianisiert und dem Kriegshandwerk wurde der »Rang einer geistlichen Berufung« zugestanden. »Seit dem Ende des 10. Jh. segnete man die Waffen und das Banner des jungen Ritters. Die Riten der Einkleidung wurden zu echten Weihehandlungen; das Kriegshandwerk wurde mit geistlichen Werten ausgestattet. […] Das Schwert wurde praktisch zu einem Instrument göttlicher Offenbarung. Auf diese Weise war das Bewußtsein der Zeit auf die Idee des heiligen Krieges und auf das Kreuzzugsphänomen vorbereitet, […].« Urban II. rief – auch auf Drängen des byzantinischen Kaisers Alexios I. – die Christenheit zur »Befreiung« Jerusalems auf. 1099 eroberten christliche Heere in einem grausamen Blutbad die Stadt und gründeten das christliche Königreich Jerusalem. 1187 konnte es Saladin zurückerobern. Die weiteren Kreuzzüge wurden großteils ein Fiasko. 1204 plünderten die Lateiner, wie berichtet, in einem skandalösen Unternehmen Byzanz und fügten der Stadt irreparablen Schaden zu. Auch im Orient selbst war das Entsetzen der Bevölkerung über die Unkultur, die sich da aus dem Westen ergoss: »Zum ersten Mal sah sich die muslimische Welt mit einem gewalttätigen, intoleranten und kulturell zurückgebliebenen ›Westen‹ konfrontiert. Aus arabischen Chroniken spricht Verachtung gegenüber dem primitiven, mit Gottesurteilen hantierenden Rechtssystem der Franken, ihrer rückständigen Medizin, ihren groben Sitten.« Die Flut der Bilder und Skulpturen wurde im Westen eher zögernd studiert, aber sie blieb

247

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

nicht ohne Wirkung auf die Entwicklung der Kunst. Eine Offenheit einiger Kreuzzügler für die faszinierende Kultur des Orients (mehr Einfluss dürften allerdings die Kontaktzonen Andalusien und Sizilien ausgeübt haben) führte zu Anregungen für den Westen, »die das Abendland förderten und ein mächtiger Antrieb wurden für das Entstehen des Humanismus und der Renaissance.« Der einzige später noch »erfolgreiche« Kreuzzug war jener des von Gregor IX. wegen seiner Zögerlichkeit gebannten Staufenkaisers Friedrich II. 1228. Der hervorragende Kenner und Liebhaber der arabischen Kultur vermochte Jerusalem durch Verhandlungsgeschick 1229 noch einmal (allerdings nur formal, nicht mehr faktisch) zu »gewinnen«. Dies löste im Westen jedoch keineswegs Begeisterung aus, sondern Ärger weiter Bevölkerungsteile über die durch die Verhandlungen erfolgte Aufwertung der arabischen Machthaber, die nun auf Augenhöhe des Kaisers gestellt waren. Architekturgeschichtlich kommt den Kreuzzügen insofern Bedeutung zu, als im Orient zahlreiche an der theodosianischen Befestigung von Konstantinopel orientierte Festungsbauten entstanden. Erneuerte Kirchen zeigten romanische, byzantinische, frühchristliche und arabische Einflüsse. Die Normannen, denen durch ihre Romanisierung in der Normandie in Abhebung von ihren nordischen Wikinger-Vorfahren eine eigenständige Kultur zuwuchs, nahmen den christlichen Glauben an. Unter Wilhelm (»dem Eroberer«) eroberten sie 1066 in der Schlacht von Hastings England – detailliert geschildert im von Nonnen in zehnjähriger Arbeit gestickten siebzig Meter langen Teppich von Bayeux, einem einzigartigen Beispiel monumentaler Profankunst des Mittelalters. Nicht nur floss viel von der romanischen Sprache (häufig für das kultivierte Endprodukt gebraucht, während das Rohprodukt die angelsächsische Bezeichnung beibehielt) in das Englische ein, sondern normannische Bildhauer gelangten auf die Insel und lösten die romanische Kunst aus. Kunsthistorikerinnen erinnern freilich auch an das bereits vorher bestehende bedeutende architektonisch-skulpturale Werk auf der Insel. Anfang des Jahrhunderts setzten sich die Normannen in Unteritalien fest. Robert von Guiscard und Roger I. eroberten 1061 Messina und von dort aus das in zerstrittene arabische Fürstentümer zersplitterte Sizilien. 1130 wurde Sizilien zum Königreich, das es in unterschiedlicher Form bis ins 19. Jh. (bis Giuseppe Garibaldis »Zug der Tausend«) blieb. Wichtige Architekturzentren der Romanik verdanken wir den Normannen in der Normandie (Mont-St.-Michel, St.-Étienne) und in Süditalien (Tarent, Otranto, Venosa, Bari, Palermo).

Sourdel-Thomine/Spuler 1973, 50

341 San Nicola ­Pellegrino (11./ 12. Jh.); Trani

VIII.1.3.

5.2. Die Reform von Cluny Die große Reformbewegung, die in Cluny ihren Ausgang nahm, war eine logische Folge der kulturellen Krise des 10. Jh.s, aber auch eine Reaktion auf die bevorstehende Jahrtausendwende. Sie trug zu einer »tieferen Verchristlichung der abendländischen Gesellschaft« bei. Der geordnete Lauf der Welt wurde immer wieder durchbrochen: Unwetter, Vulkanausbrüche, Sonnenfinsternisse, Kometen rissen den Zyklus aus seinem Takt und riefen nach ritueller Bewältigung. Und sie riefen nach einer möglichst nicht in die Weltgeschehnisse involvierten Gruppe von Männern, die

Annas 2000, 74

248

Das Mittelalter

Fried 2008a, 135

Vegas 2001

kraft ihrer überweltlichen Autorität diese Ängste lindern und die feindlichen Mächte des Teufels vertreiben konnten. Diese verbreitete Stimmung unterstützte jene, die sich jeden weltlichen Einfluss auf die Investitur verbaten. Doch auch das kirchliche Personal war desavouiert und in Kämpfe mit dem römischen Adel verstrickt. Papst Hadrian II. war bei seiner Inthronisation 867 verheiratet, Frau und Tochter wurden kurz danach von einem Vertrauten des früheren Gegenpapstes Anastasius III. ermordet. Johannes VIII. wurde von seinen Verwandten erschlagen. Der Leichnam von Papst Formosus wurde geschändet, Johannes X. wurde abgesetzt, eingekerkert und dort vermutlich auf Geheiß seiner Geliebten umgebracht. Es war an der Zeit, so wussten Talmud-Gelehrte zu berichten, dass die Welt nun, 6000 Jahre nach ihrer Erschaffung, untergehen sollte. Das Gericht stand vor der Tür. Cluny – untrennbar mit der Herrschaft der Ottonen (919–1024) verbunden, die im letzten Teil des ersten Jahrtausends neue Kräfte freisetzten – war solch eine (sehr elitäre) Reformbewegung. Angesagt war eine neuerliche renovatio. Die Beziehungen zwischen den Kaisern Otto I., II. und III. und den Äbten Berno von Baume, Odo, Aimard, Majolus, Odilo, Hugo von Cluny bis zu Petrus Venerabilis waren sehr eng. Die Ottonenkaiser verorteten sich selbstbewusst neben dem Papst und ihrem Pendant in Konstantinopel – die Ehe Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin und Nichte des oströmischen Kaisers Johannes I., Theophanu (Porphyrogeneta/Purpurgeborene), die Otto I. in mühsamer Diplomatie eingefädelt hatte, unterstrich das. Eine der schönsten Heiratsurkunden des Mittelalters, ausgestellt 972 in Rom, hergestellt vermutlich in Fulda, besiegelte diese Verbindung. Durch diese Ehe tat sich eine Schleuse zur byzantinischen und orientalischen Kunst auf. Die Zeit der Ottonen vereinte in seltener Synthese Philosophie, Theologie, Kunst und Architektur. Der Dom zu Speyer (Grundsteinlegung um 1025) war (bis zu Cluny III) die größte damalige Kirche der Christenheit und die salischen Kaiser (der auf den letzten Ottonen, den kinderlosen Heinrich II., folgende Konrad II. und dessen Nachfolger), empfanden sich am Vorabend des Investiturstreits auf Augenhöhe mit dem Papst. Die Gründung von Cluny 910 durch eine Schenkung Wilhelms III. von Aquitanien an Abt Berno geschah ganz im Zeichen einer Reform des Benediktinerordens. Cluny genoss den Schutz Roms, war aber nicht dem Papst und schon gar nicht weltlichen Mächten unterstellt. Man hielt sich an die Auslegung der Benediktinerregel durch Benedikt von Aniane. Der westgotische Grafensohn war Berater Ludwigs des Frommen, des einzigen legitimen Sohns und Nachfolgers Karls. Ludwig animierte Benedikt zu einer umfassenden Reform, die auch den (römischen) Luxus zurückdrängen sollte. Benedikt strebte eine völlige Vereinheitlichung des Klosterwesens an. Das traf sich mit der Vorstellung Ludwigs, der der Einheit des Reichs im Zeichen des Christentums einen vordringlichen Stellenwert gab. Im Kontext dieser Reform entstand der St. Galler Klosterplan und zeigt uns noch heute die ideale Organisationsform eines solchen Klosterkomplexes. Es ging bei der Reform um liturgische und rituelle Neuerungen in den durch zahlreiche Privilegien bevorzugten Klöstern. Und es ging um das Zurückdrängen der Laien. Kunibert Bering versteht diese Idee als sozialhistorischen Hintergrund der kleinteiligen Apsiden in den Ostabschlüssen

249

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

der auf Benedikt von Aniane zurückgehenden Kirchenbauten – gleichsam als Ausdruck der Absonderung einer mönchischen Elite. Das Stillschweigen wurde ebenso wie die Gebetszeiten verlängert, die Liturgie ausladend und feinsinnig. Unter Abt Hugo sang der Konvent täglich zwei Hochämter. Zusätzlich zelebrierte jeder Priestermönch mehrere Privatmessen und neben dem ohnehin üblichen Stundengebet wurden zahlreiche weitere Gebete verrichtet. Prozessionen verbanden die vielen Altäre, damit die verschiedenen Heiligen, in einem dynamischen Prozess. Vor allem das Totengedenken war aufwendig und wurde zu einem Kult der memoria. Zeit zum Studium oder gar zur Arbeit blieb keine mehr. Cluny entsprach dem Stil seiner adeligen Bewohner, die die Handarbeit verachteten. Guibert von Nogent klagte über einige Aristokraten, die ihre nicht als Stammhalter benötigten Söhne in ein Kloster entsorgten, was den Betrieb dort nicht unerheblich störte. Die Abteien zogen weltliche Größen in ihren Bann, von denen manche eintraten, viele am Totenbett (in extremis) noch die Profess ablegten. Cluny konnte ebenso wie die Klöster der folgenden Domschulen auf reiche Stiftungen zurückgreifen. Eine theoretische Grundlegung der Wohltätigkeit hat Marcel Mauss mit seinem Ansatz des Gabentauschs geliefert. Er beschreibt den kulturellen Mechanismus, der die Gegengabe erzwingt. Im Hintergrund dieses Mechanismus stand die magische Seelenbindung an eine Sache, die eine intensive Verbindung von Schenkendem und Beschenktem stiftet. Die Gegengabe für die Schenkungen waren spirituelle Leistungen. Steffen Diefenbach hakt hier ein: »Stiftergabe und Stiftergedenken bildeten auf diese Weise einen wechselseitigen Zusammenhang des Gebens und Nehmens, der ständig aktualisiert wurde und auf einem andauernden Kreislauf von Gabe und memorialer Gegengabe beruhte.« Die neue Bescheidenheit hielt sich nicht lange und der Reichtum der Liturgie schlug sich in einer ebenso üppigen Kunst und Architektur nieder. Der massige romanische Bau (die Cluniazenser breiteten sich im Kerngebiet der romanischen Kunst aus) war eine Burg im Sturm der dunklen Zeiten. Die erwähnten Innovationen in der Liturgie, vor allem die zahlreichen Prozessionen, die, wie der Auszug von Moses ins Gelobte Land, zu Christus ins himmlische Jerusalem führen sollte, verlangten neue Umgänge und Teile wie das Dämonen bannende Westwerk. Die gewaltigen Abteikirchen boten den entsprechenden Rahmen für eine kostbare Ausstattung des Raumes mit liturgischem Gerät und Gewandung. Gott sollte in diesem Luxus in Glanz und Ehre erstrahlen. Bernhard von Clairvaux war einer der heftigsten Kritiker eines solchen zur Schau gestellten Reichtums. Andererseits spielte in der Mystik Clunys der Schrecken eine große Rolle. Es ging um eine Rückbesinnung auf den Grundantagonismus der Welt von Helligkeit und Dunkelheit, von Gut und Böse. In der bildenden Kunst schlug sich das in Darstellungen der letzten Dinge nieder: Jüngstes Gericht, Apokalypse, Teufelsfratzen (Autun, Conques, Moissac)! Das romanische Bild des Teufels war »eine der bedeutungsvollsten Schöpfungen der Zeit.« Der Satan trat als konkrete Person auf,

Bering 2002, 64f

Angenendt 1996, 55

Bering 2004, 28f Mauss 1950, 25 Ebd., 35, 124

Diefenbach 2007, 14 Reichtum der Liturgie

Lawrence 1984, 89

6.2.4. Schreckensmystik

342 Kapitell ­Kathedrale St-Lazare; Autun Durliat 1983, 114

250

Das Mittelalter

IV.8.1. Geese Uwe in Toman 2010, 278; Schmidt 1981, 237 neuplatonische Schönheitslehre

zit. nach Jantzen, 1959, 84 Winterer Christoph in Reudenbach 2009, 298 Johannes Scotus, PL 122 c. 129

Suckale 2002, 87f Schöne 1954, 21

die sogar Mönchen erschien. Die vielen Dämonen konnte man namentlich identifizieren. Aber auch die thronende Madonna als eigenständiger Bildtypus kam in der Zeit der Ottonen auf. Der Thron stand für den Thron Salomons. Jetzt saß Maria mit dem Christuskind – wohlgemerkt: als theotokos – auf diesem Thron als Verkörperung von Weisheit und göttlicher Vernunft (sedes sapientiae). Die Kunst ahmte viel intensiver als in der karolingischen Zeit byzantinische Vorbilder nach und die Ästhetik bediente sich der neuplatonischen Schönheitslehre, mit deren Hilfe in der Baukunst die Deutung der dunklen Innenräume der romanischen Kirche möglich wurde. Die glänzende Ausschmückung ließ sich als unähnliches Abbild des übersinnlichen Lichtes interpretieren, das in die Nacht der Welt hineinleuchtet, um sie zu erhellen. In einem Titulus zur Majestas Domini-Darstellung aus dem Hitda Codex heißt es: »Hoc visibile imaginatum figurat illud invisibile verum cuius splendor penetrat mundum« (»Dieses sichtbare Bild weist auf jene unsichtbare Wahrheit, deren Glanz die Welt durchdringt«). Der Codex dürfte in der ersten Hälfte des 11. Jh.s in St. Pantaleon (Köln) hergestellt worden sein, »wo das kalligraphische Vermögen, das neoplatonisch geprägte Bildungsgut und die byzantinischen Vorlagen zusammenkamen.« Das übersinnliche Licht erleuchtet »die Seele und ruft sie zu ihrem Schöpfer zurück«, sagte Scotus Eriugena. Besonders offensichtlich wird das Programm Clunys auch in der Malerei. Weit entfernt von antiken Vorbildern, aber in Fortsetzung der spätantiken und byzantinischen Schematisierung entsprach das Bild der asketischen Linie. In flächiger Anordnung auf dem Goldgrund der Ewigkeit wurden die Figuren mit ihren strengen Konturen und statuarischen Gebärden zu Zeichen. Über die Abhängigkeiten Clunys von byzantinischen und römischen Vorbildern, die freilich eigenständig verarbeitet wurden, gibt es eine rege Diskussion. Die Farben in der ottonischen Epoche entsprachen nicht den natürlichen Vorgaben, dem Bildlicht wurde ein außerirdischer Charakter verliehen. Es handelte sich um Darstellungen des Nicht-Darstellbaren, des Wahrhaft-Seienden. Es gab bedeutende Wandmalereien. Besonders die erhaltenen Reste einer Wandmalerei in der Kapelle von Abt Hugos Landhaus in der Nähe der Abtei geben über das Programm Clunys Auskunft. Der in einer Mandorla thronende Christus hat byzantinische Züge. Neben der Wandmalerei war die Zeit eine Blüte der Buchmalerei. Abt Odo brachte im 10. Jh. hundert Prachthandschriften aus Tours nach Cluny. Die Buchkunst vertrug sich anfangs durch die enge Regulierung und ihre liturgische Funktion mit der asketischen Linie. Die einzelnen Werkstätten (Reichenau, Trier, Echternach, Regensburg, Hildesheim, Köln) standen untereinander im Austausch. Mit der unter dem elsässischen Grafensohn und Anhänger der Reformen Clunys Leo IX. begonnenen, sich über viele kurze Pontifikate hinziehende (nach Gregor VII. benannten) Reform, die vor allem eine Kirchenreform war (Simonie, Zölibat, Abendmahl, aber auch Investitur betreffend), wurde die Einstellung in Theologie und Kunst wieder strenger. In der Kirchenpolitik führte das zu einem selbstbewussten Papsttum, das sich letztlich im Investiturstreit zwischen Heinrich IV. und Gregor

251

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

VII. das Vorrecht erkämpfte. Es führte auch zum Schisma 1054 mit der Ostkirche in Fragen der Priesterehe und dem filioque. In der Kunst wurde die Haltung gegenüber der Prachtentfaltung äußerst kritisch. Ganz generell wurden ab dem 11. Jh. die »reichen, in das feudale Wirtschafts- und Herrschaftssystem eingegliederten Klöster und Stifte […]« kritisch gesehen. Diese Haltung beendete schließlich die Produktion solcher Prachthandschriften. Die freistehende, gar monumentale Figur wurde, mit Ausnahme erster Kruzifixe, abgelehnt. Sie galt als verdächtig. Hingegen wird von Kunsthistorikerinnen die außergewöhnliche Schönheit der mit der Architektur verbundenen cluniazensischen Skulptur gepriesen: »Ein auf kosmologischen und geistigen Symbolismus zentriertes und kohärentes ikonographisches Programm faßt die Tugenden, aber auch die Töne der Musik, die Jahreszeiten oder die Paradiesflüsse zu einer Einheit zusammen.« Das Kreuz erhielt eine neue Bedeutung. Bisher diente es allenfalls der Erhöhung Christi als König. Das Kreuz als Hinrichtungsinstrument blieb aus Gründen des byzantinisch-platonischen Hintergrundes ausgespart. Auch die Passion fehlte zumeist in der frühen Romanik. Jetzt wurde die Schändung des Menschensohnes zum Thema einer Kreuzestheologie, zumal man bei den Kreuzzügen die Stätten des Todes Jesu kennen lernte. Das Kreuz war ein originäres christliches Motiv in dem philosophisch einem Monophysitismus zuneigenden neuplatonischen Umfeld. »Tausend Jahre nach dem Tod Christi führten die großen, mitten im Zentrum der ottonischen Basiliken errichteten Holzkruzifixe dem Volk zum ersten Mal keinen gekrönten Lebenden, sondern ein Opfer vor Augen.« Der Einfluss Clunys, zu dessen Glanzzeit an die 1000 Reformklöster gezählt wurden, auf die weiteren Reformen in der Kirche bleibt umstritten. Die Ideen verbreiteten sich rasant, neue Zentren (Hirsau, Einsiedeln) bildeten sich, auch das benediktinische »Urkloster« Monte Cassino wurde erneuert – mit Rückgriff auf frühchristlichen Formenschatz, der in Rom ohnehin wieder gepflegt wurde. Andererseits sah Friedrich Kempf in dieser Reform eine »unvollkommene, von den Zisterziensern bald überholte Form.« Nachlassen der Disziplin, eine übersteigerte Spiritualität waren, neben wirtschaftlichen Faktoren, die ideellen Gründe, warum es schließlich zum Zerfall des Klosterverbandes kam, der nach 1250 einsetzte.

5.3. Ästhetik und Kunst im lateinischen Mittelalter nach der Jahrtausendwende Die karolingische und ottonische Kunst und Architektur fand nach den schwierigen Jahrhunderten einer Zwischenzeit seit dem Ende der Spätantike, inspiriert aus dem byzantinischen Osten, eine neue Form. Die Kunstgeschichte sieht daher darin die Grundlegung der mittelalterlichen Kunst ganz generell.

5.3.1. Methodische Anmerkungen Ähnlich wie bei der Besprechung der Antike ist es geboten, auch bei jener des Mittelalters methodische Anmerkungen anzuführen. Es betrifft das Sprechen über Ästhetik und Kunst. Allzu leicht setzt man sich dem Missverständnis aus, dem Mit-

IV.3.5./IV.6.1.

Kempf Friedrich in HBKG III/1, 517

Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 40

Thies 2007a, 38ff Kreuzestheologie Köpf 1991; Köpf 1990

Duby 1976, 155f

Kempf Friedrich in HBKG III/1, 373

252

Das Mittelalter

343–344 St-Trophime, Josefs Traum; Die ­Verdammten; Arles z.B. Speer 1993, 13ff

VII.5.2.3. Huizinga 1919, 270

Speer 1993, 32

Beierwaltes 1994, 156

X.1.1.

telalter undifferenziert eine geschlossene ästhetische Theorie zu unterstellen. Eine solche Kritik gegenüber den meisten Autoren, die sich mit kunstphilosophischen Fragen des Mittelalters beschäftigen, hat etwa Andreas Speer an verschiedenen Stellen geäußert. Die Kritik ist streng, weil zwar bei den einschlägigen Untersuchungen in der Tat meist von Ästhetik und Kunst gesprochen, die je eigene Bedeutung der mittelalterlichen Ästhetik allerdings in aller Regel umgehend klargestellt wird, nämlich, dass im strengen Sinn von Ästhetik erst ab Alexander Baumgarten gesprochen werden kann. Oder wie schon Jan Huizinga feststellte: »Als ein eigener Bereich der Schönheit wird die Kunst im Mittelalter noch nicht begriffen.« Auch von da ab ist der Ästhetikbegriff, ebenso wie die Bestimmung der Kunst und des Schönen, keineswegs stabil geblieben. Insofern erscheint die Bemerkung von Andreas Speer, ob die Frage nach einer »mittelalterlichen Ästhetik überhaupt obsolet geworden ist«, doch überzeichnet. Das hermeneutische Problem stellt sich auch in wesentlich kleineren und überschaubareren historischen Räumen und ist durchaus zu bewältigen. Werner Beierwaltes, der auch der Kritik Speers unterliegt, hat – sich des Problems durchaus bewusst – zu Recht und mit guten Argumenten den Gebrauch des Terminus Ästhetik auch für das Mittelalter verteidigt, falls man ihn nicht neuzeitlich überstrapaziert und »dadurch den mittelalterlichen Gedanken ›aktualisierend‹ überformt.« Ebenso schlüssig forderte Beierwaltes eine ähnliche Zurückhaltung gegenüber anderen »Neuzeit-verdächtigen« Begriffen wie »Ontologie«, »Erkenntnistheorie«, »Kunsterleben« oder gar »Rekonstruktion« und »Dekonstruktion«. Daher wird auch in der vorliegenden Arbeit die Terminologie von Ästhetik, Kunst und Schönheit verwandt – dies nicht zuletzt aus dem Grund, weil diese Terminologie eine große Verbreitung gefunden hat. Dazu kommt, dass im systematischen Teil der vorliegenden Arbeit der Vorschlag eines möglichst weiten Bedeutungsgehalts von Kunstphilosophie und einer spezifischen Bedeutung von Ästhetik gemacht wird. Bei den mittelalterlichen Philosophen wird Kunst, wenn überhaupt, in aller Regel in ihrer didaktischen, nicht aber in ihrer ästhetischen Funktion behandelt, aber in der Praxis ging es auch im Mittelalter um Schönheit und es wurden auch im Mittelalter Baukunst und bildende Kunst betrieben, freilich nahezu ausschließlich als angewandte Kunst. Villard de Honnecourt pries in seinem Skizzenbuch einen der Türme der Westfassade von Laon als den schönsten, den er je entdeckt habe. Und auch ein in Goldblech getriebener, mit Edelsteinen versetzter Kelch wurde im Mittelalter als schön

253

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

angesehen und die Bedeutung dieses ästhetischen Urteils mag gar nicht weit von der heutigen entfernt gewesen sein, auch wenn Schönheit und Kunst in der theoretischen Reflexion eine andere Bedeutung hatten. Denn auch im Mittelalter hatte das Schöne, wie bei den wichtigsten Philosophen der Antike, eine ontologische Bedeutung. Deutlicher als in der Antike könnte man im Schönheitsdiskurs des Mittelalters allerdings eine Metaebene herauslösen, auf die Jan Huizinga verwiesen hat. Huizinga beschrieb die vor allem im 13. Jh. auftretende zunehmende Kultivierung des gesellschaftlichen Lebens und ein wachsendes Interesse an Schönheit im weitesten Sinn. Nun war Schönheit aber, mit einem hohen »Sündengehalt« belastet, ein Dauerthema der Kleriker. Die Folge war, dass Schönheit mit phantastischen philosophischen und theologischen Metaerzählungen gerechtfertigt werden musste. Es bleibt daher ein legitimes Anliegen, den Gebrauch des Terminus Schönheit kunstphilosophisch zu »rekonstruieren«, ebenso wie seinen Niederschlag in zeitgenössischen Texten, Architektur und Kunst betreffend. Es bleibt aber auch ein legitimes Anliegen, das, was Erwin Panofsky mental habit genannt hat, zu sondieren. Das ist schwierig genug, denn im Mittelalter waren theoretische Reflexionen über Kunst und Schönheit spärlich. Eine der wenigen Ausnahmen ist eine »kunsttheoretische« Schrift des Theophilus Presbyter, der wahrscheinlich mit Roger von Helmarshausen identisch ist. Allerdings gibt es auch bei ihm keine ausdrücklich ästhetischen Reflexionen. Theophilus war selbst Goldschmied, schuf unter anderem einige Tragaltäre und gründete nach Aufenthalten in Köln eine Werkstatt in Helmarshausen. Er verfasste zwischen 1100 und 1120 den dreibändigen Traktat Schedula diversarum artium (Über die verschiedenen Künste), in dem er die wichtigsten Kunsthandwerkstechniken, von der Maltechnik über Glasherstellung und -malerei bis zu Metallarbeiten inklusive Glockengießerei, beschrieb. Angesichts des Fehlens von Kunst- oder Architekturtraktaten muss, um die mittelalterliche Kunst und Architektur als Bedeutungsträger zu entschlüsseln, auf theologische und philosophische Konzepte geachtet werden sowie auf verschiedene Textquellen, in denen direkt oder indirekt auf Kunstwerke Bezug genommen ist. Eine der ersten diesbezüglichen Textsammlungen stammt von Julius von Schlosser (Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters; 1896). In der wissenschaftlichen Literatur finden sich mehrere Zugänge, mit den Quellen umzugehen. Sie entsprechen im Großen und Ganzen kunsthistorischen Methoden. Dabei sind zumindest drei prominent vertreten: (1) eine reine Stilgeschichte, die meist ohne Blick auf die Akteure argumentiert. Unter diesem Vorzeichen werden die Quellen benützt, »um einen Bau zu datieren (Stilgeschichte) oder um seine Bedeutung zu erhellen, wobei man sich auf allegorisierende (Sauer), dichterische (Sedl­mayr), theologische (von Simson) oder philosophische (Panofsky) Texte bezog beziehungsweise sie in diesem Sinn gelesen hat.« (2) Methoden, die – gegenteilig dazu – ihren Blick auf die Intentionen der Akteure richten (Bauten als Medium einer sozialen oder politischen Funktion, Ikonographie, Zitat-Theorie, Memoria-Theorien). (3) Eine der stilgeschichtlichen Methode ähnliche Strukturgeschichte. Sie fragt nach gesellschaftlichen Funktionen, die den Bauten zukamen.

IX.3.4.2.

Nille 2013, 75

254

Das Mittelalter

Warnke 1976, 29

Nille 2013, 77

Ebd., 77

X.2.5.

Warnke 1976, 154

Vor allem Martin Warnke schärfte mit seinem einschlägigen Buch Bau und Über­bau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen (1976) einen soziologischen Blick. Er geht dabei aus von den gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit: hohe Mobilität, Bedeutung des Geldes, Professionalisierung des Bauwesens und vor allem zunehmende gesellschaftliche Ansprüche. Die Pointe der Deutung Warnkes liegt in der Spannung zwischen vermeintlicher Selbstdarstellung eines Bauherrn und seiner Zurückstufung zu einem »amtlichen Sachwalter allgemeiner Bedürfnisse«, also von gesellschaftlichen Interessen. Ich sage deshalb vermeintlich, weil auch frühere Bauherrn, Potentaten, Kaiser und Päpste, das gesellschaftliche Umfeld mit im Blick haben mussten. Die erwähnten Methoden der Quellenbetrachtung schießen immer dann über das Ziel, wenn sie verabsolutierend und monokausal angewandt werden, und sie bringen wertvolle Hinweise, wenn man sie so versteht, dass in jedem historischen Kontext im Sinne eines fließenden Übergangs ein anderer Aspekt im Vordergrund steht, damit eine andere Methode die besondere Pointe dieser oder jener Zeit besser abzubilden vermag. Darüber hinaus müssen zu einer und derselben Zeit immer auch verschiedene methodische Blicke auf ein Phänomen geworfen werden. Wenn Warnkes Überlegungen dazu dienen sollten, »eine grundsätzliche Alternative zu den bisherigen Deutungen der mittelalterlichen Sakralarchitektur« zu bieten, wie Christian Nille das sieht, dann wäre das eher eine Verarmung denn eine Bereicherung. Christian Nille formuliert dazu zwei Sätze, die ein verbreitetes Manko einer allzu großen Methodenverliebtheit verrät: »Denkt man etwa an die Dichtung (Sedlmayr), die platonische Philosophie (von Simson) usw., als deren Ausdruck die gotische Kathedrale verstanden wird, so findet sich Warnkes Bedenken bestätigt. Dabei verlieren die künstlerischen Formerscheinungen ihren Eigenwert, ihre spezifische Funktion innerhalb einer Gesellschaft.« Das Manko besteht in der Ungeschichtlichkeit solcher Betrachtungen. Der Verweis auf den Platonismus im Hintergrund beispielsweise ist kein Anschlag auf die künstlerische Form, es sei denn, man ginge von einem völligen Eigenwert (im Sinne der Selbstreferentialität) des Kunstwerks aus, den es in der Realität nicht gibt. Eine solche Behauptung würde auch eine Deutung, wie Warnke sie vorlegt, unmöglich machen, denn das dort in die Waagschale geworfene gesellschaftliche Umfeld setzte einen solchen Eigenwert sofort außer Kraft. Daher gehen Versuche, Methoden gleichsam zu verabsolutieren, mit zwangsläufigen Vereinfachungen einher. Warnke sieht beispielsweise in der Größe des mittelalterlichen Sakralbaus und den damit einhergehenden Schwierigkeiten der Realisierung einen Zwang zum Kompromiss. Die Aufgabe beschreibe »das Ausmaß an Konsensfähigkeit, zu der die auseinanderstrebenden Kräfte der damaligen Gesellschaft gelangen konnten.« Das klingt nachvollziehbar und zutreffend, bildet jedoch die wüsten Streitereien beim Bau des Mailänder Doms (zuvor auch bereits in Reims und Amiens) über die zu realisierende Stiloption, deren Niederschlag am heutigen Bau abgelesen werden kann, ebensowenig ab wie die später in der Renaissance aufbrechenden Differenzen beim Bau des Petersdoms, die ebenso ihre Spuren im Bau hinterlassen haben. Bei diesen Ausein-

255

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

andersetzungen ging es vor allem um philosophische und theologische Deutungen und deren Niederschlag in der Bauform. Was man heute betrachten kann, ist weniger eine Kompromissformel, sondern eher das in Stein gehauene Protokoll darüber, welche Gruppe sich zu welcher Zeit durchgesetzt hat. Auch für den Hinweis, dass es bei der mittelalterlichen Architektur auch andere als nur theologische Bedeutungen gab, gibt es ältere Autoren, die dies gesehen haben, etwa Baldwin E. Smith und Günter Bandmann. Das in dieser Arbeit verfolgte methodische Prinzip ist daher, in einer Art Vogelperspektive über die verschiedenen methodischen Zugänge möglichst viele Aspekte mittelalterlicher Kunstwerke abzubilden. Methoden müssen Schlüssel sein, die helfen, Phänomene aufzuschließen und nicht, diese aus dem Blickfeld zu verbannen. Wenn in einer großen Kommune im Hochmittelalter die Idee zum ersten Mal artikuliert worden wäre, eine Kathedrale zu bauen und Martin Warnke wäre dabei gewesen, dann hätte er bereits zum Zeitpunkt der ersten Planung wissen können, dass am Ende eine gotische Kathedrale herauskommen wird, unabhängig vom »sozialen Handlungsfeld«, also egal wie die gesellschaftliche Diskussion verlief, wie die Machtverhältnisse in dieser Stadt aussahen und ob das Geld vorhanden war oder ausgeliehen werden musste. Die Ursachen dafür, dass diese Kathedrale gotisch geworden wäre, liegen auf einer anderen Ebene. Gestaltungsspielraum gab es allenfalls in der Behandlung der einzelnen Architekturzitate. Denn, und in diesem Punkt ist Warnke zuzustimmen, es ist wohl so, dass bei jedem Errichten eines Kultbaus der Bausinn der Alltagserfahrung entrückt wird. Das gilt übrigens auch für die Entstehung einer religiösen Erzählung. Warnke selbst scheint darauf hinzuweisen, wenn er sagt, dass die gewünschte Formensprache gegenüber dem Alltagskontext abgehoben und autonom aussehen sollte, es also einen »zweckenthobene[n] ästhetische[n] Überschuß« geben muss, »zumal die gotische Kathedrale ihn anbietet.« Letztlich münden vielfach auch eher eng erscheinende Methodenkonstrukte zu guter Letzt in eine erstaunliche Offenheit, andernfalls sie gar nicht zu vertreten wären. Auch bei Warnke ist dies der Fall, wenn er über die politische Ikonographie den eher trivialen Gedanken formuliert, dass Bauwerke neben ihrer jeweiligen Funktion auch eine (zum Beispiel) machtpolitische repräsentative Kommunikationsaufgaben erfüllen. Das erklärt, dass bisweilen die Größe der Formen »von den Bauzwecken nicht mehr abzuleiten sind« und sie einschlägige »Zeichensysteme« tragen, die (nun eben doch) in verschiedener Weise entschlüsselt werden müssen: »Eine Kuppel kann in einem Parlament das überwölbende Volk meinen, Burg- und Zinnenmotive können an einem zivilen Bau [solches gibt es auch an sakralen Bauten zuhauf; BB] Grundsatzfestigkeit signalisieren, sakrale Elemente aus dem Kirchenbau, wie Türme oder Rundfenster, können einen profanen Bau feierlich einstimmen […].« Solche Worte münden in die Handhabung von Methoden in dieser Untersuchung ein, weshalb man auf die mehrfachen Ebenen verweisen kann, die sich bei der Produktion von Kunst an dieser Stelle zeigen. Einmal geht es zum Beispiel beim Bau einer Kathedrale pragmatisch um die Notwendigkeit, dann um politische Interessen, ein solches Bauwerk besonders glanzvoll zu gestalten, dann um die theolo-

cf. Kunst/Schenkluhn 1988

Warnke 1976, 155

Warnke 1994, 171f

256

Das Mittelalter

II.1.3.

gische Programmierung. Es gibt also ganz verschiedene Ebenen, die sich nie auf ein einziges Interesse herunterbrechen lassen. Was bereits von Oskar Kaelin für die Monumentalbauten des Alten Orients angemerkt wurde, dass sie nämlich als Massenmedium fungierten, gilt generell und eben auch für die Bauwerke und für die bildende Kunst des Mittelalters.

5.3.2. Inhaltliche Anmerkungen

Kömstedt 1929, 3

Körper

Demus 1970, 163

Pfisterer 2002, 11

Tripps 1998, 138 blutende Hostie

IV.3.2. 345 Reliquiare franz. (15. Jh.); MBA

Was macht inhaltlich die Eigenart der mittelalterlichen lateinischen Kunst aus? Die Sondierung europäischer Kulturgeschichte läuft immer wieder auf das Ergebnis zu, dass diese sich nahezu flächendeckend aus dem Orient entwickelt hat. Insbesondere die Romanik ist stark von orientalischen und byzantinischen Wurzeln geprägt, was sich nicht zuletzt in der Zurückhaltung bei körperlichen Darstellungen zeigt. Erst mit der Gotik ab dem 12. und 13. Jh. tritt ein Paradigmenwechsel auf, der deutlicher ausfällt als der dann folgende Übergang von der Gotik in die Renaissance. Schon am Beginn des vergangenen Jahrhunderts konstatierte man, dass »nach Form, Inhalt, Stimmung« die alte östliche Kunst »nicht nur von der naturnahen, sondern auch von der sonstigen ausdrucksmäßigen Kunst, wie sie für die westliche Antike möglich geworden war, vollkommen klar zu unterscheiden« ist. Aus philosophischer Sicht erhielt die lateinische mittelalterliche Kunst daher ein einigermaßen eigenständiges Profil erst im 13. Jh. Dieses Profil ließe sich zuspitzen auf den Umgang mit dem Körper. Blieb der platonisch geprägte byzantinische Osten (von der islamischen Kultur, die ja keine Inkarnation kannte, ganz zu schweigen) dem Körper gegenüber stets zurückhaltend, beginnt im Westen – nach der breiten Rezeption aristotelischer Philosophie – geradezu ein Kult um den Körper. Diese philosophiegeschichtliche Spur findet eine Parallele in einer kunstgeschichtlichen, indem die westliche Kunst durch die byzantinische hindurch auf die hellenistischen und antiken Vorbilder stieß. Die Behauptung ist wohl zutreffend, dass bei der kulturellen Erzählung von der Inkarnation »die lange Tradition christlicher Kunst letztendlich ihren Ausgang« nahm. Es ist eine originelle Idee, dies bei der Szene der Verkündigung festzumachen, die wie kaum ein anderes Bildthema »das Verhältnis von Wort und Bild« zum Ausdruck bringt. Ein anderer, theologischer Niederschlag des neuen Verhältnisses zum Körper waren der Kult der Transsubstantiation und die damit verbundene, Anfang des 13. Jh.s Jahrhunderts eingeführte Elevation von Hostie und Kelch nach der Wandlung sowie die Stiftung des Fronleichnamfestes. Zur selben Zeit begannen die Berichte über Hostienwunder. Die blutende Hostie erinnert an die alten blutigen Opferrituale, von denen sich das spätantike Christentum erfolgreich emanzipiert hatte. Auch im Westen gab es Bilder, die weinten, bluteten, Wunder wirkten und der Sichtbarmachung der Kirche – ähnlich wie Hostie oder Reliquie – dienten. Eine solche Rückkehr zu diesen alten Vorstellungen wäre in einem platonisierenden Kontext undenkbar gewesen. Sie setzte eine positive Einstel-

257

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

lung zum Materiellen voraus, wie sie sich nur aus dem Aristotelismus ableiten ließ. Im Blut- und Hostienkult fand die Kirche ein imposantes Memorialzeichen, das ein vergangenes Geschehen in jede Gegenwart holte, einen abstrakten, ja ursprünglich namen- und bildlosen Gott in eine materielle Präsenz brachte und ihn einer synästhetischen Erfahrung öffnete. Die Elevation wurde mit der kultischen Gestaltung, Knien, Glockengeläut, Weihrauch, »zu einem nahezu totalen sinnlichen Erlebnis.« Bei der Elevation kam es zur Erscheinung Christi als Schmerzensmann. Christus zeigte seine Schmerzen der passio penetrant als Ausdruck des Heils und des Opfers. Der Schmerzensmann-Typus hat die einschlägige Forschung in eine erhebliche Spannung gestürzt, die Mitte zwischen Vorbildern in Byzanz und der ausdrücklichen nördlichen Situierung als mystisches Andachtsbild auszuloten. Neben die blutende Hostie trat als weiteres Körperzeichen das Wunder der Stigmatisierung, das neben Franz von Assisi vor allem Frauen betraf. Caroline Walker Bynums Forschungen dazu sind außerordentlich erhellend und lassen den Schluss zu, in diesem von Mystikern und – ausgeprägter – von Mystikerinnen gefeierten Kult von Körper und Fleisch die Eigenart westlicher Kunst des späteren Mittelalters zu sehen. Bynum relativiert eine ältere Auffassung von Ernst Troeltsch, der die Mystikerinnen wegen ihrer Körperüberschreitungen als antihistorisch und antiinkarnatorisch charakterisierte, mit überzeugendem Material und kommt zum Schluss: »The eucharist as body, flesh, meat, was a central focus of female religiosity.« Ja, die eucharistischen Wunder schienen geradezu ein weibliches Genre zu sein. Die detaillierten Schilderungen der Stigmatisierung, aber auch anderer Kapitel der passio, glichen sich auch den Bildern an, die Künstler darüber schufen. In der spätmittelalterlichen Mystik, welche die Lücke füllte, die nach dem Zusammenbruch des labilen Gleichgewichts von Glaube und Wissen der scholastischen Philosophie entstanden war, hob ein regelrechtes Signalsystem der Körperlichkeit an, das sich durch die Renaissance bis in den Barock zog. Um 1300 entstanden Bildtypen wie die Pietà und der Crucifixus dolorosus sowie Karwochen-Skulpturen für den temporären Gebrauch in der Liturgie. Schon seit dem 12. Jh. gab es die Verehrung des Herzens Jesu, auch dies eine Parallelisierung eines säkularen kulturgeschichtlichen Stroms von Herzgeschichten. In der mittelalterlichen Literatur taucht das Herz (meist in Verbindung mit dem Geschlechtsorgan) als Speise auf, als Liebesgabe ebenso wie als Strafe für den Ehebruch. Einen anderen Aspekt der Körperlichkeit hat Leo Steinberg untersucht, nämlich die Rolle des in der Kunst dargestellten Genitals Christi. Das Zeigen des Genitals mit angedeuteter Erektion hat weniger eine sexuelle Bedeutung. Vielmehr ist die Botschaft überdeutlich vor Augen geführt: »Gottes Herabkunft in das Menschsein.« Für Walker Bynum ist hier das Objekt der Beschneidung zur Schau gestellt, bei der Blut fließt und so zu einem überzeugenden Ausdruck der Inkarnation wird. Christus als Quelle des Blutes war der beliebte Topos einer Blutmystik, die im Barock zu einem neuen Höhepunkt fand. Zur Blutquelle Christus passten Metaphern des Weinbaus, Traube, Weinstock sowie die Ähre als Symbol für das Brot und damit den Leib Christi. Das ist nun in der Tat eine ganz andere Sicht als die Zurückhaltung, mit der

Wenzel 1995, 126 Scribner 1990, 13f

von der Osten 1935 Stigmatisierung

Bynum 1992, 66 Ebd., 122 Benz 1969, 548ff Mystik

VII.1.3.

Hülk 1999, 14–18

Steinberg 1983, 8 Bynum 1992, 85f Kretzenbacher 1997, 95–106

258

Das Mittelalter

IV.8.2.

Steinberg 1983, 71 IV.8.4.

Bynum 1992, 206

Kretzenbacher 1997, 102

IV.3.5.

4.2.1.

IX.3.7.

Schrift als Körper

im Kolosserbrief (Kol 2,11) die Taufe als spiritualisierte Beschneidung interpretiert wurde, die uns geradezu vom vergänglichen Körper befreit. Und es ist eine ganz andere Sicht, als wir sie in der byzantinischen Kunst kennenlernten. Ich erinnere an Leo Steinbergs Bemerkung, dass der hieratische Christus in Byzanz eher Ausdruck gnostischer Häresien war als einer der Inkarnation – wobei der Ausdruck Gnosis hier bloß zugespitzt für einen Platonismus verstanden wird. Es gibt Darstellungen (etwa von Jan Gossaert) Christi mit Brüsten, Verweis auf den nährenden Christus, auf Christus als Mutter, wie es manchmal auch seine blutende Seitenwunde konnotiert. Die Inkarnation wird von Juliana von Norwich mit einer Frau verglichen, die ihren Körper an den Fötus weitergibt. Immerhin geschehen mit dem Körper Christi Dinge, die weiblich attribuiert sind: er blutet und er spendet neues Leben. Weibliche Darstellungen betreffen üblicherweise die Kirche, die sozusagen als weiblicher Körper Christi, als seine Braut oder als nährende Mutter erscheint. Nun wird bisweilen die Seitenwunde Christi zum Ursprung der Kirche. Das Entscheidende in dem Ganzen ist die extreme Umsetzung des inkarnatorischen Körpergedankens, mit dem sich die westliche mittelalterliche Kunst nun vom Orient freispielt. Demgegenüber stand Paulus noch fest im Orient und auf der Pneumaseite, Fleisch war bei ihm in erster Linie verbunden mit Sünde und nicht mit Sichtbarmachung eines religiösen Körpers. Letztlich setzte sich der Körper Jesu in der Kirche fort, er setzte sich fort in der Kunst, aber auch in der Schrift. Die vierfache Schriftauslegung, die im Mittelalter erstmals von Cassian und ansatzweise von Origenes und Augustinus vertreten wurde, fasste der dem Augustin von Dacien zugeschriebene Merkvers zusammen: »Littera gesta docet, qui credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.« (»Der Buchstabe lehrt das Geschehene, was du glauben sollst, die Allegorie, der moralische Sinn, was du tun sollst; wohin du streben sollst, der nach oben weisende Sinn.«) Am berühmtesten Beispiel, das seit Cassian überliefert ist, lässt sich diese erste Form einer Lehre von der Schriftauslegung (Hermeneutik) anschaulich machen: Der Name Jerusalem steht für eine konkrete Stadt (buchstäblicher Sinn), für die Kirche Christi (allegorischer Sinn), die menschliche Seele (moralischer Sinn) und das Himmelreich (anagogischer Sinn). Die so vielfach auslegbare Schrift wurde ihrerseits ein Körper. In der Bible Moralisée ist das Christuskind zwischen Buchdeckeln dargestellt. Insbesondere die Allegorie lässt sich mit der Inkarnation fruchtbar machen. Jenseits des Buchstabensinns gibt es einen spirituellen Sinn. Diese Differenzierung galt nicht nur für die Schrift, sondern fand auch in Kunst und Architektur Anwendung. Delikat war in diesem Zusammenhang die Darstellung der Auferstehung, die im 11. Jh. begann. Christus steigt aus einem steinernen Sarkophag, meist mit leicht geöffnetem Deckel. Einerseits ist dem Schriftwort von der Auferstehung des Leibes Genüge zu tun, andererseits handelt es sich jetzt um den verklärten Leib, dem die Erdenschwere abgeht. Christus schwebt dann auch häufig mit wenig konturiertem Körper, die Bewacher seines Grabes blendend, in den Himmel. Die im Kult des Körpers radikalisierte Inkarnationsidee verschiebt das Gewicht in letzter Konsequenz von Gott auf den Menschen und bereitet so die Renaissan-

259

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

ce vor. Meister Eckhart geht in seinen Thesen (die dafür auch verurteilt wurden) sehr weit: »Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das ist auch ganz dem gerechten und göttlichen Menschen eigen. Darum wirkt solch ein Mensch auch alles, was Gott wirkt: Er hat zusammen mit Gott Himmel und Erde geschaffen; er ist Zeuger des ewigen Wortes und Gott wüßte ohne einen solchen Menschen nichts zu tun.« Da konnte die Renaissance nahtlos anknüpfen und ihren Geniebegriff des Künstlers, der den Rohentwurf der von Gott geschaffenen Welt zu veredeln vermag, formulieren. In der weiteren Fortsetzung kann man in kulturgeschichtlicher Sicht die Moderne als Austrocknung des weiblichen flüssigen Körpers zu einem »festen Ding verstehen, einer Ratio, die ihn durch ihr Cogito, ihr ›Ich denke‹ kontrolliert.« Die interessante Frage, die sich dem anschließt, ist, dass wir bei diesen Memorialzeichen von Bildern und figürlichen Kunstwerken sprechen. Das ist nun eine medienphilosophische Geschichte, die Horst Wenzel eindrucksvoll beleuchtete. Das Mittelalter ist die Zeitspanne eines Übergangs von einem körpergebundenen Gedächtnis zu einer bild- und schriftgestützten Memorialkultur. Das läuft geradewegs entgegengesetzt zu dem, was dieses Bild und die Schrift darstellt, den Körper! Über weite Strecken lebte das Mittelalter von Gesten, Gebärden, von Mimik, Artikulation. Selbst Grundrisse von Bauwerken wurden nicht etwa als Plan vorweg gezeichnet, sondern abgeschritten und am Boden abgesteckt. Sukzessive wird diese Körperpräsenz zugunsten der Abstraktion, besser sollte man wohl sagen: der Auslagerung dieser Körperbezogenheit in Bild und Schrift, zurückgenommen. Es gibt nicht die scharfe Trennung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern ein weites Feld eines Nebeneinander der beiden Medien. Wenzel spricht von »der Bi-Medialität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit« und einer »mittelalterlichen Audiovisualität« als einer Kultur des Hörens und Sehens. Schon die Lektüre war Körperarbeit. Bis ins 7. Jh. gab es keine Wortzwischenräume und Satzzeichen. Man musste ein Buch laut rezitieren, um den Text überhaupt zu verstehen. Das Murmeln des Textes bzw. die Lektüre mit Körperbewegungen (beschrieben bei Hugo von St. Viktor) setzte sich noch lange fort. Besonders köstliche Beispiele für diese Zusammenhänge sind die Exsultet-Rollen im Italien des 11. und 12. Jh.s. Die Bildrollen wurden beim Gesang entrollt und unterstützten die gesungenen Texte durch das Bild. Sie hatten geradezu eine kinematische Funktion. Die körperliche Sichtbarmachung Gottes in der Kunst umfasst daher auch die Gebärden und Gesten in der Liturgie: Brotbrechen, Ablegen der Gaben auf den Altar (Grablegung), Elevation (Himmelfahrt), artikuliertes Sprechen der Wandlungsworte, Armgebärden. Reinhard Margreiter macht auf den Körperbezug der Handschriften aufmerksam. Dazu gehören die Elemente und die graphische Gestaltung mittelalterlicher Manuskripte, vom Schriftbild über mnemotechnische Hilfen bis zur Versordnung, dem Initial und den Miniaturen. Die gesamte Semantik des Buches ist metaphorisch bis heute am Körper orientiert. Wir sprechen immer noch von Kapiteln (caput/Kopf), vom Korpus (Körper), von Fußnoten oder dem Buchrücken.

Eckhart, in Quint 1955, 451f

Treusch-Dieter 1998, 11

Wenzel 1995

Hoppe 2007a, 236

Wenzel 1995, 10f

Illich 1991, 57ff

Huot 1987, 3

Wenzel 1995, 68 Margreiter 2007, 141

Wenzel 1995, 41

260

Das Mittelalter

346–348 Daniel in der Löwengrube; Majestas ­Domini; ­Apostel als Beisitzer beim Weltgericht; ­St-Trophime; Arles

Bering 2004, 30; Durliat 1983, 17f

Durliat 1983, 344

Geertz 1983, 47f

5.4. Romanische Architektur und Kunst Das Mittelalter zeigt sich demnach in zwei kunstphilosophisch spannenden Paradigmen, dem platonisch-byzantinischen und dem aristotelisch-okzidentalen. Man kann diese Paradigmen den Kunst- und Architekturstilen von Romanik und Gotik zuordnen. Der Ausdruck Romanik stammt wohl von Charles de Gerville, einem normannischen Gelehrten und Antiquar des frühen 19. Jh.s, der den Begriff auf die Baukunst des 9. bis 12. Jh.s anwandte. Er erkannte erstmals eine Einheit in dieser zuvor mit verschiedenen Begriffen bezeichneten Kunst und Architektur, die allerdings eine aus seiner Sicht von den Vorbildern der Antike abfallende Qualität aufwies – ähnlich wie sich die Situation in der Sprache vom Lateinischen in romanische Dialekte darstellte. Arcisse de Caumont folgte dieser Einschätzung und drückte 1836 mit dem Begriff romanisch den Niedergang der Architektur des 5. bis 13. Jh.s gegenüber dem Römischen Reich aus. Auch dieser Begriff wurde schließlich von seiner negativen Bedeutung befreit und zur Bezeichnung der Kunstepoche des 11. und 12. Jh.s verwandt. Wo genau der Trennungsstrich zwischen der ottonischen Kunst und dem Neuen zu ziehen ist, was das Romanische an der Romanik ist, ist Gegenstand von kunsthistorischen Debatten. Ebenso ist das Ende der Epoche umstritten, was die Trennung von Spätromanik und Frühgotik in Architektur und bildender Kunst schwierig gestaltet und bei verschiedenen Kunsthistorikerinnen verschieden behandelt wird. Marcel Durliat bemühte dazu originellerweise die heftige Kritik Bernhards von Clairvaux, die geradezu eine Kritik an der gesamten Romanik gewesen sei: »Wie sollte man verkennen, daß hier die Negation der romanischen Kunstauffassung ausgesprochen wird? Für die Romanik war das Sichtbare ein Mittel, das durch Riten und Symbole in den Dienst des Geistes gestellt werden kann. Das Bild zeigt in seiner Bedeutungshaftigkeit das Heilige, erregt Staunen, verschafft innere Sammlung und führt zu Gott. Es bietet nicht nur die einfache Zerstreuung, die der hl. Bernhard verdammte.« Symbole spielen eine wichtige Rolle zur Stabilisierung einer Gesellschaft: »Religiöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen.« Lange Zeit versuchte man, geradezu unabhängige regionale Schulen der romanischen Kunst zu unterscheiden. Aber auch wenn regionale Besonderheiten unbestritten sind, war die Romanik, anders als die Einteilung der vorhergehenden frühmittelalterlichen Stile nach den herrschenden Geschlechtern, der erste davon unabhängige europäische Stil. Er gründete auf einem bereits weitgehend vereinheit-

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Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

lichten christlichen Kulturraum. Die Romanik entstand auf einem Gebiet karolingischer Gründungen, mittlerweile durch die Reform von Cluny weitgehend vereinheitlicht. So ist nachvollziehbar, dass entlang der Pilgerrouten, beispielsweise auf den Wegen nach Santiago de Compostela, außergewöhnliche Sakralbauten entstanden. Das Pilgerwesen brachte die nötigen finanziellen Mittel in die Städte und sorgte für einen künstlerischen Reichtum durch die katalanische Kunst. Sowohl Pilgerwesen als auch Kreuzzüge sicherten einen intensiven kulturellen Austausch bis in die entlegensten Gebiete. Unabhängig von einer generellen Epochengrenze unterscheidet sich die Dauer der Romanik regional. Schon vor 1150 begann in St. Denis die Gotik mit rascher Verbreitung in Frankreich, während in Italien noch bis ins späte 13. Jh. romanisch gebaut wurde.

349–351 Abteikirche St-Bénigne (535), Kapitelle (um 1000); Dijon

5.4.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen Architektur Der romanische Baustil – in England nannte man den Stil normannisch, weil ihn die Normannen bei ihrer Eroberung der Insel 1066 mitbrachten – ergab sich im 11. Jh. auf den beschriebenen Wegen. Die bildende romanische Kunst ist in aller Regel an die Architektur gebunden. Erst im Übergang zur Gotik löste sie sich davon zögernd bis zur Wiedergewinnung (nach der Antike) der freistehenden Plastik. Für unseren Zweck bricht das Neue, das die Romanik in der Architektur ausmacht, um die Jahrtausendwende an. Rein äußerlich betrachtet wirken folgende spezifischen formalen Elemente zu einer romanischen Stilgestalt zusammen: Anders als gotische weisen romanische Kirchen keine Einheitlichkeit auf. Sie sind ein Konglomerat verschiedener Raumformen, Wand- und Gewölbetypen. Raum, Wand und Gewölbe sind die »drei Problemkreise«, welche die romanische Architektur beherrschen. Insbesondere die Wölbung sollte man nicht nur als konstruktives Problem sehen, sondern als eines »der Deutung des Kirchenbaues.« Viele romanische Kirchen versammeln die gesamte Kirchenhierarchie (Kathedrale, Pfarrkirche, Klosterkirche, Kapelle, Taufund Grabkirche) in einem einzigen Gebäude. Ähnlich wie in der Stadt gab es auch in dem Gebäude selbst eine Hierarchie der Sakralität vom Zentrum zur Peripherie. Ein weiteres Element liegt in der Abgeschlossenheit romanischer Kirchen. Die burgähnliche romanische Kirche ist gegenüber der Transparenz und Magie des frühchristlichen Baus durch Masse und Umschließung eines weiten Innenraums charakterisiert. Sie zeigt die Rohheit und Dicke der Mauern ganz offen und gewinnt aus dieser Massigkeit ihre eindrucksvolle Schönheit. Gewaltige Steinmauern und Pfeiler

Sedlmayr 1950, 195f

Bering 2004, 40

262

Das Mittelalter

Simson 1972, 13

352 Kathedrale ­St-­Trophime (Anf. 12. Jh.); Arles

Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 38f

Krautheimer 1988b, 142f

Westwerk

Oursel Raymond in Grégoire u.a. 1985, 170 Kubach/Elbern 1968, 66 Braunfels 1953, 180

tragen das Tonnengewölbe, welches das Hauptschiff wie Brücken überspannt: »In jenen dämmernden, sparsam erleuchteten Räumen wird das Gewölbe von mächtigen Pfeilern getragen, deren Höhe, Schwere und oft ungegliederte Masse gleichermaßen beeindrucken.« Das Material Stein festigt diesen Eindruck. Vielerorts war die Kirche der einzige Bau aus Stein. Allenfalls in ländlichen Gebieten wurde auch sie noch bis in das Hochmittelalter in Holz errichtet. Mit dem Stein wurde sorgfältig gearbeitet: Polychromie, Wechsel des Mauerverbands, (lombardische) Blendbögen waren die wichtigsten Stilmittel. Erst die normannische Erfindung der Gurten und Rippen ermöglichte die Reduktion der Steine und später in der Gotik das Durchbrechen der Wände. Trotz der fehlenden Einheitlichkeit lässt sich romanischen Sakralbauten eine konzise Bedeutung einschreiben. Das Tor – ein Ort der Passage – symbolisierte nach dem Vorbild der antiken Monumentaltore, Triumphbögen und Baldachinportiken das Stadttor zum himmlischen Jerusalem. Die Jerusalem-Allegorese war im Mittelalter naturgemäß stark ausgebildet, aber die verbreitete Architekturkopie umfasste ebenso auch reale Bauwerke mit einem hohen Vorbildcharakter. Reine Stilgeschichte wandelt sich dabei in eine Typus- und Bedeutungsanalyse. Diesen Aspekt, dass »die religiöse[n] Bedeutung eines Gebäudes […] im Zentrum des Denkens mittelalterlicher Architekten gestanden zu haben« scheint, hat vor allem Richard Krautheimer herausgearbeitet und mit seiner Exposition »einer zukünftigen Ikonographie der mittelalterlichen Architektur« eine Diskussion unter den Fachvertretern zu dieser Frage ausgelöst. In der architektonisch gebundenen Skulptur häuften sich Dämonen bannende Figuren, Löwen als Bewacher – in ähnlichen Funktionen wie in Ägypten die Uräen, Sphingen und der omnipräsente, die Feinde erschlagende Pharao. Die Idee des römischen castrums wurde in Form eines Pentyrigions, eines Bauwerks mit großem turmbewehrtem Mittelelement und vier Ecktürmen, mit der in karolingischer Zeit wieder entdeckten Basilika verbunden und ein Komplex geschaffen, der Schutz und Wehr für einen besonderen Ort, einen himmlischen Herrschaftsbereich, bot. Die Verschmelzung der in der Basilika freistehenden Türme zum Westwerk, und damit mit dem Kirchenbau, kann als eigentliche Neuerung angesehen werden und gilt als typische Entwicklung des Nordens – dort lag nun die Definitionsmacht. Der Zweck des Turmes wurde hier – er trug in der Regel keine Glocken – deutlich vom Symbolischen her verstanden. Er korrespondierte mit der Symbolik, die sowohl die Geschlechtertürme als auch die Rathaustürme beanspruchten, ein »Monument der städtischen Macht und Freiheit« zu sein. Die häufig ausgesuchte Höhenlage verstärkte diesen Eindruck des Bauwerks. Wie aufgeladen der Turm mit dieser Symbolik war, zeigt, dass asketische und kunstfeindliche Reformorden wie die Zisterzi-

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Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

enser und später die Franziskaner und Dominikaner den Turm nicht zuletzt wegen dieser Symbolik in Erinnerung an die biblische Geschichte von Babylon ablehnten. Das mächtige Westwerk – ein spezifisches Element des romanischen Baus – sucht formal ein Gleichgewicht mit den umfangreichen Ostbauten, die sich aus der Vierung heraus entwickelten. Unzählige Funktionen wurden diesem mehr und mehr selbständig gesehenen Bautypus zugeschrieben. Neben der Stadttorcharakteristik mit Empfangssituation (insbesondere bei den dem Westwerk zugeschriebenen Toranlagen wie in Lorsch) ist eine Abwehr- und Schutzfunktion plausibel. Den aus dem militärischen Begriffsvorrat entlehnten Ausdruck Westwerk führte Josef B. Nordhoff 1873 und 1888 ein. Das Westwerk war in der Regel dem Dämonenvertreiber Michael oder allgemein den Engeln geweiht. Eine Kontinuität der Schutzfunktion, die Engel in ihren Ursprüngen hatten, legt sich nahe. Insofern könnte es gar als ein den Fluch bannendes Initial des himmlischen Jerusalem und jedenfalls als Ausdruck einer ecclesia militans (der die östliche ecclesia triumphans gegenüberstand) angesprochen werden. Es war dunkel gehalten und diente der Feier von Sonderliturgien. Bisweilen führte das zu einer zusätzlichen Apsis und bereits in karolingischer, vor allem aber in ottonischer Zeit zur doppelchörigen Kirche (Fulda, Worms, Mainz, Saint-Maurice d‘Augune, Köln). Als Urtyp gilt die 799 geweihte Klosterkirche von Saint-Riquier in Centula mit dem ersten nachgewiesenen (nicht mehr erhaltenen) Westwerk. Diese romanischen Gebilde, in denen – wie schon gesagt – die Verbindung von Langhaus und Zentralbau bzw. Saalkirche steckt, bleiben theoretisch »vielleicht unklar, räumlich aber höchst interessant und spannungsreich.« Über die Funktion des zweiten Chores, der häufig einen ausdrücklichen Rombezug (zu Alt-St.-Peter) hatte, wird bis heute diskutiert. Die Gründe dafür dürften weniger philosophischer Art sein als vielmehr in der liturgischen Funktion liegen. Die in ottonischer Zeit aufgekommene Deutung, nach der die Chöre weltliche und geistliche Macht symbolisierten, also Sitz des Königs und Bischofs darstellen, und das Westwerk als eine Art Hofkirche für den umherziehenden Kaiser anzusehen wäre, gilt inzwischen als überholt. Die Deutung entstand wohl aus der Gewohnheit umherreisender Könige, bei den Gottesdiensten im Westwerk (Capella imperialis oder auch Solarium genannt) Platz zu nehmen, manchmal vor einem runden »Sonnenfenster«. Günter Bandmann konnte denn auch die Verbreitung des Doppelchores vor allem in den kaisertreuen Gebieten nachweisen. In die Mystik von Cluny ließ sich der romanische Sakralbau gut einfügen. In der Dunkelheit des Innenraums spielt, gleichsam im Sinne einer platonisch inspirierten negativen Theologie, das Licht mit seinem Entzug. Die Deutung der Negativität eines unähnlichen Abbildes gegenüber dem wahren Urbild ist nicht nur Thema der Neuplatoniker, sondern unterstützt auch die Abtrennung eines heiligen Raums vom profanen. Als Tribut an den westlichen Pragmatismus schlägt Nikolaus Pevsner vor, die (östliche) Vorstellung einer anagogisch-mystischen Vereinigung umzulegen auf den Pilgerweg, den man auf den weitläufigen Pilgerstraßen Europas gehen konnte – Ergebnis des im 10. Jh. sich verstärkenden Pilgerwesens – und der in den Kirchen eine symbolische Präsenz gefunden hatte. Dort schritt man den Weg im Längsbau

Bering 2002, 56

Kubach/Bloch 1964, 18

Norberg-Schulz 1979, 78; Kubach/Elbern 1968, 62ff Bandmann 1951, 228

Assunto 1963, 91

264

Das Mittelalter

Pevsner 1943, 67 IV.5.2.2.

Durliat 1983, 45 Cluny III Laule Ulrike in Toman 2002, 78f Conant 1959

353–354 Reste der Abteikirche von Cluny und Modell Wolter-von dem ­Knesebeck Harald in Toman 2010, 190f

Norberg-Schulz 1979, 79 Kubach 1964, 59

symbolisch und rhythmisch »von Joch zu Joch« ab. Pevsner bringt in Erinnerung, dass im Längsbau die alte Säulenstraße der Antike weiterlebt. »Das Joch ist die Urzelle des folgenden Kirchenbaus und wird klar von den gewölbetragenden Gliedern begrenzt, den Gurtbögen, den Schildbögen, den Wandpfeilern oder Wandsäulen, unter Umständen auch den Strebepfeilern. Diese Grundeinheiten reihen sich aneinander und rhythmisieren den Raum – von nun an ein wiederholbares Muster.« Ein Höhepunkt romanischer Baukunst war in der dritten Kirche von Cluny realisiert, zu der Abt Hugo nach einigen Probebauten im Vorfeld 1088 den Grundstein legte. Sie war mit 187 Meter Länge die größte Kirche des Mittelalters. Kenneth John Conant hat die Kirche, für ihn die »größte architektonische Leistung der Weltgeschichte«, mit grundlegenden Arbeiten erforscht. Ihr Kern war eine fünfschiffige Basilika mit Apsis. Umgang, fünf Kapellen und eine dreischiffige Vorkirche ergänzten sie zu einer gewaltigen romanischen Kirchenanlage. Der Ostteil besaß ein zweites Querschiff und vier Türme. Die Kirche krönte ein kühnes Tonnengewölbe. Der reich mit polychromer Skulptur geschmückte Bau war Ausdruck eines selbstbewussten Christentums, das sich 1095 zum ersten Kreuzzug formierte. Die wieder an Monumentalität gewinnenden Skulpturen, die jetzt vom Innenraum nach außen auf die Fassade wanderten, waren ebenso ein Ausdruck selbstbewusster Macht. Durch die großzügige Gliederung verlor die Kirche ein wenig von ihrer Massigkeit und Abschottung, sie verlor die sichtbare Angst, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Zunächst kann man vermuten, dass aus statischen Gründen erstmals in der abendländischen Architektur auch der Spitzbogen zum Einsatz kam. Das erklärt freilich nicht die Motivation der angezielten Auflösung der Wand. »Mit der Einführung des Kreuzgewölbes entwickelte sich ein Doppeljochsystem, bei dem jeder zweite Pfeiler verstärkt wird, um das Gewicht des Gewölbes tragen zu können, während die dazwischenstehenden Pfeiler Teil einer untergeordneten Füllwand werden (erstmals in Speyer nach 1080 durch Heinrich IV.). Das Ergebnis hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Baldachinsystem der byzantinischen Architektur und kennzeichnet den entscheidenden Schritt auf eine echte Entmaterialisierung der Wand hin.« Erich Kubach konnte an kriegsbedingt zerstörten Kirchen nachweisen, dass die konstruktiven Vorteile des Rippengewölbes keineswegs immer ausgenützt wurden. Ob der Einführung eines Kreuzrippengewölbes nun philosophische oder theologische Erwägungen zugrunde lagen und nicht bloß ein bautechnischer Fortschritt, ist schwer zu entscheiden. Irgendeine Art der »Deutung des Kirchenbaues« durch die Wölbung scheint aber evident. So ist es plausibel, dass sich in den spätromanischen Kirchen die Veränderung des Selbstverständnisses ankündigte, die zur Gotik führte. Immerhin gibt es Äußerungen wie jene des Gervasius von Canterbury, der das Kreuzrippengewölbe als ciborium bezeichnete, damit dem Gewölbe die hoheitliche Bedeutung

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Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

eines Altarbaldachins zulegte. Diese spätromanischen Dome wären dann Manifeste eines erstarkten Selbstbewusstseins und Wegmarken in Richtung Gotik: »Ohne die Konsistenz der Mauer aufzuheben, wird sie doch ausgehöhlt, hier mit Kapellen und Galerien, dort mit Laufgängen. Darin, aber auch in den gewaltigen lichtbringenden Vierungstürmen gelingt wohl der stolzeste Sieg des Geistes über die Materie, der sich vor der Gotik ereignete.« Außerhalb Frankreichs und Deutschlands war die Schwe­ re und Burgartigkeit ohnehin weniger prägnant. In Spanien (Kathedrale von Santiago de Compostela; 1075–1125) und in Italien (Pisa mit der unnachahmlichen Auflösung der Fassade durch die mehrgeschossigen Arkaden der ungewöhnlich hohen Basilika) wirkten noch die entmaterialisierenden Tendenzen der frühchristlichen Basilika. Der Übergang in die Gotik entsprach letzten Endes dem Übergang von einer anagogischen Verweismystik zu einer Lichtarchitektur, die eine veränderte Diskurssituation anzeigt. Ähnliches lässt sich in der bildenden Kunst erkennen.

Arnulf 2008, 144; Bering 2004, 40 355–356 S. Michele in Foro (12. Jh.) und Detail; Lucca

Kubach/Bloch 1964, 36

357 S. Martino (12./14. Jh.); Lucca

5.4.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen bildenden Kunst 7.3.2.

Gurewitsch 1997 358–359 Westportal der Kathedrale St-Lazare von Gislebertus und Werkstatt (um 1150); Autun; Detail aus dem Westportal



Das Ende des Mittelalters wird in dieser Untersuchung in Zusammenhang gebracht mit der Entdeckung des Raums in der spätgotischen Bild- und Skulpturenkunst. Davon abgehoben kann man die mittelalterliche Bildkunst von einer Auffassung von Raum und Zeit als synchroner Ganzheit geprägt sehen. Wie in vorachsenzeitlichen Kulturen wird die gleichzeitige Erfassung der Welt dargestellt. Aaron Gurewitsch hat darüber eine bemerkenswerte Studie verfasst. Ohne diesen Verweis auf vorachsenzeitliche Parallelen beschreibt der Autor das Raum-Zeit-Problem, wie es von den neuplatonischen Philosophen behandelt worden ist. Es hat vor allem in der romanischen und in Teilen auch der gotischen Kunst eine kongeniale Umsetzung erfahren und es spielte eine Rolle bei der Bewertung des augenscheinlichen Primiti-

266

Das Mittelalter

Steppan Thomas in Stampfer/Steppan 2008, 57 Mazal Otto in Mazal 1995, 51

IV.7.2. Platon, Tim. 37d

Thomas v. Aquin, ScG II,75 ad 3

vismus der romanischen Kunst. Ein Erklärungsmuster der Moderne, wie es bei der Entschlüsselung ähnlich synchroner Kunst bei Picasso hilft, kann hier nicht angewandt werden, ein vorachsenzeitliches Paradigma scheidet ebenfalls aus. Am plausibelsten ist, die romanische Bildauffassung in die Nähe der byzantinischen Hieratik der Ikone zu stellen. »Die vordringliche Aufgabe der romanischen Malerei war die Veranschaulichung der unverrückbaren Ordnung der christlichen Heilslehre. Dafür prägte sie einen knappen und feierlichen Stil, der um ausgewogene Kompositionen bemüht ist, zu Rhythmisierungen neigt, das Lineare betont und die Gestalten in gelängten Proportionen wiedergibt.« Vielfach wird von Seiten der Kunstgeschichte betont, dass »Kontakte zur byzantinischen Kunst im 12. Jahrhundert die Reifung des romanischen Stils […]« ermöglichten. Eine der kühnsten Abweichungen von den körperlichen Proportionen bietet das Tympanon von St.-Lazare in Autun. In der späten Romanik kam es zu einer zunehmenden Naturnähe, zu Emotion und einem Erzählduktus, was sich dann in der Gotik weiter konturierte. Doch bleiben wir noch bei Gurewitschs Beitrag zur originären Romanik. In erster Linie geht es seiner Meinung nach darum, dass ein mittelalterliches Verständnis den Raum nicht zu einem Projektions- oder gar Kommunikationsraum eines menschlichen Subjekts machen wollte. Die Dinge im Raum wurden von einem Schöpfer geschaffen – wobei dies bis zur Hochscholastik philosophisch durch den neuplatonischen Emanationsgedanken überformt wurde –, daher sind sie in dieser sakralen Dignität zu belassen. Der Mensch trat dabei kaum in die Rolle eines Zweitschöpfers. Ähnlich inadäquat steht es mit der Zeit, die in der platonisch-neuplatonischen Tradition immer in den veränderungsresistenten Zyklus aufzuheben versucht wurde. Der Satz Platons über die Zeit als bewegliches Abbild der Unendlichkeit könnte hierzu als programmatische Überschrift stehen. Immer wieder, ob bei Scotus Eriugena oder dem Abt des cluniazensischen Klosters Fleury, Abbo von Fleury, wird die Zeit als Abbild eines Prozesses verstanden, der zur göttlichen Einheit zurückkehrt. Auch hier muss die Übersetzung einer vorachsenzeitlichen in eine nachachsenzeitliche Zyklizität stattfinden, die eine bewusst getroffene Option darstellt. Es gab eine noch geschlossene Kausalkette zwischen der Figur der ständigen Wiederholung, wie sie die Natur vorgab, und dem Rückschluss auf Gott, der dieses Schema als Schöpfer verursacht hatte. Philosophisch könnte man ein Unverständnis gegenüber der Inkongruenz zwischen Sein und Natur orten. Bei den Dialektikern ab dem 11. Jh. erodierte dieses Konzept. Das Bewusstsein dieser Inkongruenz ging Hand in Hand mit dem Wachsen des Spielraums schöpferischer Möglichkeiten. Die scholastische Philosophie brachte die alten ontologischen Paradigmen ganz offiziell in Diskussion. Sie wurden »quästionenreif«. Noch Thomas schränkte – wie Aristoteles – Nachahmung der Natur auf das ein, was die Natur selbst hervorbringen kann. Allerdings räumte er ein, dass es auch reine Kunstdinge gäbe, etwa ein Haus. In den Kommentaren zu Aristoteles zeigt sich freilich in dieser Frage manche Distanz zur aristotelischen Vorlage. Warum die Kunst aus dem Naturzusammenhang tritt, wird indes nicht erläutert.

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Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

Die Ewigkeit als Bereich des Göttlichen umspielt das mittelalterliche Zeitverständnis. Das menschliche Leben mit Anfang und Ende (tempus) verschwindet völlig vor der geschaffenen Ewigkeit, die zwar einen Anfang, aber kein Ende hat (aevum), und der Ewigkeit, die außerhalb der Zeit steht und zu Gott gehört (aeternitas). Dieser schwache Abbildcharakter der Zeit materieller Erscheinungen auf dem Hintergrund der Ewigkeit ist eine passende Metapher für die Eigenart des romanischen und frühgotischen Bildverständnisses, das wohl aus diesen Gründen zur Porträtmalerei keinen Zugang fand. Die Ablösung des Heidentums durch das Christentum wird meist zu Recht mit einer linearen und finalen Zeitvorstellung verbunden. Aber dieser Übergang war nicht scharf. Die zyklische Zeitvorstellung mitsamt der Vorstellung einer grundsätzlichen Stabilität der Welt bei Veränderungen bloß an der Oberfläche materieller Erscheinungen blieb noch lange erhalten. Die kirchlichen Feiertage orientierten sich am Jahreszyklus der Natur. »Die Agrarzeit wurde auch eine liturgische Zeit.« Natürliche Maße wie Elle, Spanne, Fuß, Tagwerk, machten die Kultur zu einer zweiten Natur des Menschen. Sie wurden erst in der Neuzeit durch abstrakte, vom menschlichen Vorbild abgehobene Maße ersetzt. Die Kirche bestimmte diese Zeit durch die Unterteilung des Tages in kanonische Stunden (meist sieben) mit dem Geläut der Kirchenglocken. Das Leben des mittelalterlichen Menschen verlief im Rahmen der kirchlichen Zeit. »Die Zeit des Individuums […] gehörte nicht ihm, sondern einer höheren Macht, die über ihm stand.« Es war demnach wiederum die Stadt mit der darin sich vom Rhythmus der Natur abkoppelnden Lebensweise (der Handwerker und Kaufleute), die dieses dynamische Zeitkonzept durchkreuzte – und damit letztlich auch ein anderes Mimesis-Konzept auslöste. Eine mechanische Zeit löste »allmählich die alte Art ab, den Arbeitstag nach kanonischen Horen zu gliedern. Säkularisierung ergriff das Zeitempfinden.« Die Erfindung der mechanischen Uhren Anfang des 14. Jh.s individualisierte die Zeit. Um 1335 wurde am Turm von San Gottardo in Mailand eine mechanische Uhr angebracht, 1344 entwarf der Astronom und Uhrmacher Jacopo de Dondi aus Chioggia (er ging dann nach Padua) eine mechanische Turmuhr. »Aus dem Eigentum Gottes verwandelt sich die Zeit in das Eigentum des Menschen.« Man kann davon ausgehen, dass dieses gestiegene Zeitbewusstsein auch eine Schärfung des Individuums zur Folge hatte – zu einer Zeit, in der das Individuum in der Kunst an Raum gewann. Erst mit einer Befreiung der Zeit von externen Autoritäten konnte in der beginnenden Neuzeit eine der Wahrheit verpflichtete Geschichtsschreibung entstehen. Die romanische Kunst entstand im Gleichklang mit der Architektur am Beginn des 11. Jh.s. Der Übergang aus der Spätantike ist immer noch Gegenstand der Forschung und durch schüttere Quellenlage nicht einfach zu rekonstruieren. Jedenfalls scheint es antike, byzantinische und islamische Stränge zur gleichen Zeit gegeben zu haben. Im Zug der ökonomischen Konsolidierung und auf der Grundlage einer anhebenden Reflexion des Menschen über seine Stellung im Kosmos und dem gesellschaftlichen Ganzen begann die Ausstattung der Sakralbauten mit figuralem und

Zeit und Ewigkeit

Gurewitsch 1997, 122f

Ebd., 108

VIII.3.2.3.1.

Ebd., 173

Roeck 2017, 427

Gurewitsch 1997, 178

Bouwsma 2000, 52–66

romanische Kunst

268

Das Mittelalter

360 Sta. M. Assunta in Ruvo (12./13. Jh.); Portalbogen

Fillitz 1969, 87f Le Goff 1990, 162

Hinz 1981,12

Fillitz 1969, 80

Thies 2007a, 51ff Durliat 1983, 124

malerischem Schmuck. Das aufwändige und teure Mosaik war ausgestorben, auch echte Malerei al fresco war selten. Gemalt wurde auf angefeuchtetem Putz mit Farben, die mit Kalk vermischt waren. Für die in bitterarmen Verhältnissen lebenden Menschen eröffnete das traumhafte Wunderwelten. Die ausgemalten Kapellen, Krypten, Apsiden und – weniger häufig – Langhauswände, gelegentlich auch Gewölbe- und Holzdecken (St. Savin-sur-Gartempe, Zillis) erzählten vom Verhältnis des Menschen zu Gott, von der Natur und der Feudalordnung in der diesseitigen Welt. Sie schilderten auch drastisch die Sachen um die letzten Dinge, die zahlreichen Bedrohungen dieser Welt, unter denen das Sexuelle eine besonders intensive Wirkung zu haben schien. Grundsätzlich war die westliche Malerei deutlich freier als jene in Byzanz. Am ehesten gab es nur für die zentralen Orte der Kirche, Apsis und Chor, eine festgelegte Ikonographie. Es scheint Berührungen von Buch- und Freskenmalerei gegeben zu haben. Der Künstler der Fresken in der Krypta von St. Savin-sur-Gartempe soll ein Buchminiator gewesen sein. Wenn man will, kann man, basierend auf der paulinischen Dichotomie von Fleisch und Geist, das Mittelalter eine »Ära der großen Verdrängung« nennen. Man kann aber auch schlicht von einem anderen philosophischen Signalsystem sprechen. Die gleichen Themen griffen die Bildhauer auf. Ob Spanien oder (Süd)Frankreich die Nase bei der schnell aufblühenden romanischen Skulptur vorne hatte, war lange umstritten. Der einem Buchmalereisujet ähnelnde Kerbschnitt im Marmortürsturz der Abteikirche von St.-Genis-des-Fontaines (1019/20) gilt als frühester romanischer Fries. Die salomonische Lösung dieser Streitfrage in der Literatur lag in der Einführung des Begriffs »Pilgerstraße«, auf der französische Bildhauerkunst nach Spanien gekommen sei. Diese Kompromissvariante hebt auch auf die wichtige Tatsache ab, dass – wie in 5.4. bereits erwähnt – die Pilgerbewegung Reichtum in die Region brachte, was den Aufschwung in Kunst und Architektur ermöglichte und zudem den Wunsch nach einer ikonographischen Veranschaulichung der christlichen Botschaft drängender machte. Der Reichtum der Ausstattung des Kirchengebäudes war auch Ausdruck der Macht des Klerus und zeigte die Entschlossenheit, den Verlust der iberischen Halbinsel nicht länger hinzunehmen. Eine der ältesten romanischen Kirchen ist die Abteikirche San Salvador de Leyre (1075) in Navarra. Sie besitzt ähnlich wie Saint-Sernin in Toulouse oder die Kathedrale von Santiago de Compostela ein weitschweifiges Skulpturenprogramm. Die Porte Miègeville von Saint-Sernin gilt als das erste »konsequent plastisch geschmückte Portal.« Viele Tiermotive wurden in Pflanzendekor eingebettet, daneben fanden sich erste figürliche Darstellungen. Die vegetabile Ornamentik spielt eine so große Rolle in der Romanik, dass man an die islamische Kunst erinnert wird und ein orientalischer Einfluss wahrscheinlich ist. Die Kirche Saint-Sernin hatte zudem zwei identische Querhausportale, die sich möglicherweise an »römischen Vorbildern, wie Triumphbögen und Stadttoren«, orientierten. Die Werkstätten griffen zurück auf Sujets der byzantinischen und römischen Metall- und Elfenbeinkunst, ließen sich aber auch von antiken Vorlagen inspirieren,

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Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

insbesondere aus der Sarkophagkunst. Den größten Bestand an romanischen Fresken unter den Regionen Europas weist Südtirol auf. In zahlreichen Arbeiten konnte bis in einzelne Motive hinein der byzantinische Einfluss nachgewiesen werden. Über den am tiefsten eingeschnittenen Alpenpass, den Brenner, zogen im Hochmittelalter über siebzig Mal Könige und Kaiser. Der rege Transit brachte auch künstlerische Techniken und Materialien von einer Gegend in eine andere. So lässt sich etwa das erste Auftreten des (ursprünglich aus Persien stammenden) überaus kostbaren Lapislazuli (er war teurer als Gold und wurde daher oft durch andere blaue Farbstoffe ersetzt) als Pigment um 1080 in Sant’Angelo in Formis in Kampanien nachweisen. Einhundert Jahre später taucht das Pigment, aus dem man Ultramarinblau erzeugte, im Kloster Marienberg im Vinschgau auf. Im 15. Jh. kannten es auch die niederländischen Maler. Nach dem Ende der freistehenden Skulptur in der Spätantike war das skulpturale Werk im frühen Mittelalter – wie schon gesagt – lange als Flach-, Halb oder Hochrelief an die Architektur gebunden. Die christliche und platonische Scheu vor der freien Figur verbannte sie als Fries an die Wand. Das figurale Werk hatte zwei Funktionen: Das Relief war für die Betrachterin oft nur schwer sichtbar. Es diente in erster Linie dem Gottesdienst und der Verherrlichung Gottes. Aber dem figuralen Werk kam immer auch eine didaktische Funktion zu, also die Aufgabe, »Regeln eines guten Lebenswandels zu propagieren« und »zur Wahrheit und zum Heil zu führen.« Die Fassade mit dem Zentrum des in der Regel von der Bauhütte gemeinschaftlich angefertigten Tympanons, aber auch die Holz- oder Bronzetüren könnten als medialer Infoscreen der theologischen Lehre angesehen werden. Der oben als Reliquiendieb eingeführte Bernward von Hildesheim, Erzieher Ottos III., beauftragte als Bischof die Tür für das Portal des Doms von Hildesheim (um 1015). Die in jeweils einem Stück gegossenen Flügel mit knapp 2 Tonnen Gewicht repräsentieren mit Rückgriff auf die antike Malerei den ersten monumentalen Bilderzyklus im Sinne einer biblia pauperum. Themen waren also Jesus- und Heiligenviten oder Jesus umgeben von den Zyklen der Monate und Jahreszeiten als Symbole der harmonischen Ordnung der Schöpfung. Zu letztem bieten sich Analogien an zu den Fresken über die geordnete Welt in den ägyptischen Grabkammern. Auf vielen Bildern gab es Inschriften, die deren Sinn erläutern. Dieser Jesus inmitten der Erzählungen war üblicherweise der Typ der Majestas Domini in der Mandorla. Er steht im Kontext des byzantinischen Herrscher- und Pantokratorbildes, des traditio-legis-Motivs, und bezog sich auf zahlreiche Verweise in der Schrift, etwa Jes 66,1: »Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße.« Die Majestas Domini symbolisiert »die Seinsweise dessen, ›der da ist und der da war und der da kommt‹.« In den romanischen Darstellungen – sowohl in der Skulptur als auch in der Malerei – trifft die (dogmatische) Erhabenheit der Majestas mit der (pastoralen) Erzählung von Kontexten unmittelbar zusammen. Der Hinweis von Georges Duby, dass der didaktische Kontext auch dazu dienen sollte, zur Wahrheit und zum Heil zu führen, verweist auf eine spezifische westliche Spielart der anagogischen Funktion. Sie führte mit didaktischen Mitteln vom

Steppan 2002; Steppan 2001; Stampfer 1998

Stampfer Helmut in Stampfer/Steppan 2008, 26

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 7

Majestas Domini

Hinz 1981, 11 IV.6.2.3.

270

Das Mittelalter

361 Majestas Domini auf Kapitell; Vézelay

IV.7.3.

IV.5.2.2.

Kruzifix

Reudenbach Bruno in Reudenbach 2009, 505

Hinz 1981, 21ff

Monumentalskulptur

Diesseits zum Jenseits. Anagogie ging kaum mehr von der statuarisch-schematischen Unnahbarkeit wie bei der östlichen Ikone aus. Die Verwandlung der Seele durch die Einswerdung funktionierte weniger durch die direkte demiurgische Dynamik in statischem Gesamtkontext, sondern es ging um narrative Didaktik mit hohem mimetischem und performativem Anteil – im Sinne der Bemerkung Nikolaus Pevsners von der Erhebung der Seele beim Abschreiten des symbolischen Weges, was wiederum zur körperbetonten Gestik-Kultur des Mittelalters passte. Andere skulpturale Arbeiten, Hostienmonstranzen und Reliquiare, dienten der memoria und der durch Cluny verstärkten Kreuzestheologie. Die Einstellung zur Mimesis zeigte ebenfalls eine erhebliche Schwankungsbreite. Einerseits herrschte der byzantinische Hintergrund abstrakter Statuarik. Die Umrisse von Figuren wurden häufig bedenkenlos deformiert. Ihre Einordnung in den kosmischen Gesamtplan (aus dieser Sicht der idealen Natur) war wichtiger als ihre an der konkreten raum-zeitlichen Natur gemessene Stimmigkeit. Andererseits zeigen die kontroversen Ansichten der zeitgenössischen Philosophen – hier Platonismus, dort Aristotelismus –, dass es kaum mehr einen flächendeckenden Vorbehalt gegenüber einem Naturalismus in der Kunst gab. Diese zaghafte Befreiung erhielt mit dem aristotelischen Naturalismus und Humanismus einen mächtigen Impuls. Auf dem knapp drei Meter hohen Gerokruzifix im Kölner Dom (spätes 10. Jh.), der ersten erhaltenen Großplastik, wurde Christus in erstaunlichem Naturalismus tot dargestellt. Das Kruzifix konnte eine Hostie aufnehmen und es umrankten Legenden von einem restaurierenden Eingriff durch Christus selbst, dem summus artifex. Das Kruzifix trat als dominante Bildform an die Seite der Majestas Domini. Zuerst war das Kreuz ein Siegeszeichen, die Kreuzigung eine Erhöhung. In ottonischer Zeit begann jedoch auch das Ernstnehmen eines durch einen Menschen erlittenen Todes. »Diese so eindringlich vorgeführte Leiblichkeit des toten Christus ist nicht nur von Belang für die mit der Bildtheologie eng verbundene Zwei-Naturen-Lehre; sie gehört hier auch in den Zusammenhang mit einem neuen Nachdenken über die Messe und das Sakrament der Eucharistie, das im sog. Abendmahlsstreit seit der Mitte des 9. Jh.s einen Höhepunkt hatte.« Es sollte sich dies in der Gotik zum Passionsbild und darüber hinaus zu einem ekstatischen Fleischeskult steigern. In Katalonien ist die reizvolle Mischform bekannt: Ein gekrönter König (Majestad), angetan mit wertvollem Gewand, ist ans Kreuz genagelt. Die Darstellung der lebenden und sterbenden Natur eroberte sich gegenüber der alten Funktion, reiner Verweis auf das Übersinnlich-Geistige zu sein, langsam einen eigenständigen Raum, dem schließlich in der Gotik die Ablösung der menschlichen Skulptur aus der Gebundenheit der Architektur folgte. Die Monumentalskulptur entwickelte sich in dieser Weise im 11. Jh. aus der Deckung der Goldschmiedekunst: perlenbesetzte Kruzifixe, Reliquiare, Einbanddeckel heiliger Bücher, Reliefs in Holz und Bronze, Kirchentüren, geschmückte Altäre. Daneben gab es Versuche im Umkreis Ottos III., in einem weiteren Gestus der Er-

271

Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert

neuerung des Römischen Reichs die Skulptur, ja sogar Monumentalskulptur, im Anschluss an die Antike wieder zu beleben. »Deshalb tauchten großformatige Bildwerke nach antiken Vorlagen aus Rom oder Byzanz paradoxerweise in einer Region wieder auf, die vom Mittelmeer am weitesten entfernt war – an den Grenzen der christianisierten Länder, am Ufer des Rheins und in den sächsischen Bischofssitzen.« Bereits aus dieser Zeit sind Tausende von Künstlersignaturen überliefert. Die nicht zuletzt von Eugène Viollet-le-Duc geförderte Meinung, die Künstler des Mittelalters hätten nicht signiert und seien weitgehend unbekannt, ist nicht richtig. Wie in Autun haben sich jedenfalls zahlreiche Bildhauer (von Malern ist tatsächlich keine einzige Signatur überliefert) selbstbewusst verewigt. Dort ist unter dem thronenden Christus zu lesen: »Gislebertus hoc fecit« (Gislebertus hat dies gemacht). Wir lesen die Inschrift eines Gilabertus von Toulouse, des Mateo von Santiago de Compostela, von den in der Emilia tätigen Meistern Wililgelmo und Niccolò sowie Benedetto Antelami. Der Glockengießer der Glocke der Franziskanerkirche in Zadar – sie trug Bilder der Heiligen Antonius und Franz – signierte mit »Meister Belo und sein Helfer Vivencius.« Allerdings ist mit Horst Wenzel zu vermuten, dass dieses hoc fecit und vor allem das me fecit weniger dem eigenen Ruhm diente, sondern als Personalisierung der Objekte diese den Namen des Künstlers vor Gottes Angesicht tragen. Horst Bredekamp wiederum traut den mittelalterlichen Künstlern ein deutlich höheres Potenzial an subversiver Aufklärung zu, wie er beispielshaft an dem Werk Gislebertus’ in Autun, seiner Eva am Nordportal der Kathedrale Saint-Lazare, überzeugend demonstriert. Er traut dem Künstler eine gewagte Ausdeutung der Bibelworte zu: »Gott weiß: an dem Tag, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« Das großartige Arrangement einer in merkwürdiger Körperdrehung sich gleichsam anschleichenden Eva, in deren Hand der Apfel von teuflischer Krallenhand gedrückt wird, zeige, wie der Mensch durch die Entmachtung Gottes an dessen Stelle tritt. Das aber sei die Situation des Künstlers, der »durch die Gebotsüberschreitung neue, unerhörte Dinge sehen könne […] eben dies aber hatten die Bildhauer vollzogen.« Nun hat Gislebertus sein hoc fecit am Westportal exakt unter den von ihm gemeißelten thronenden Christus platziert. »Die Unerhörtheit der Eva von Autun liegt aber darin, daß sie die gültige Sicht von Todsünde und folgender Buße formuliert, um diese Werte ihres Sinnes zu berauben. Ihre Bußhaltung, das Kriechen auf Ellbogen und Knien, wird zum Mittel der schlangengleichen Bewegung und der körperhaften Verführung. […] Gislebertus propagiert, wovor er zugleich warnt. Mit dieser Eva hat er dem Sündenfall der Bildhauerei ein Denkmal gesetzt. […] damit wird diese Eva zum Urbild und zu einem Endpunkt der Selbstbefreiung der Skulptur.« Wenn man dieser Deutung folgt und weitere Hinweise Horst Bredekamps auf die ironischen Spielereien, vor denen mittelalterliche Künstler sich nicht scheuten, indem sie beispielsweise unter moraltheologischen Anweisungen die Lust des Flei-

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 10 Künstlersignaturen

Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 84f 362 Signatur von ­Gislebertus an der Kathedrale von Autun Cooper 2009, 78

Wenzel 1995, 219

Mos 1, 3–5

Bredekamp 1991, 106

Ebd., 107

272

Das Mittelalter

Ebd., 102ff

Gombrich 1996, 179

Bering 2002, 90 Kat. 2012a, 172ff

Fulbert, zit. nach Fried 2008a, 152

sches der antiken Vorbilder hervorschauen ließen, berücksichtigt, ergibt sich in der Tat ein anderes, aufgeklärteres Bild des mittelalterlichen Künstlers, als es in der Kunstgeschichte lange kolportiert wurde. Nach Frankreich und Spanien folgte Italien nicht viel später in der romanischen Kunst. Die Augen waren dort naturgemäß auf den Osten gerichtet, nach Venedig, zur dalmatinischen Küste und nach Byzanz. In Italien blieb das byzantinische Substrat bis weit ins 14. Jh. lebendig. Man kannte den Osten durch die Kreuzzüge gut. Vor allem die Malerei ist in der Romanik den byzantinischen Vorbildern so nahe gekommen wie sonst nie mehr wieder. Generell verharrte die Malerei in der Konzeption eines geistigen Seins des Dargestellten und ließ weder perspektivischen Raum zu noch eine Ähnlichkeit mit dem Dargestellten. Das mimetische Element blieb dort tabu. Die Buchmalereien in Bibeln, Evangeliaren, Perikopenbüchern, Codices, Psalterien, Heiligenviten, Chroniken und Lehrschriften strahlten die feierliche Ruhe byzantinischer Vorbilder aus. Die Kunst der Buchdeckelgestaltung orientierte sich häufig an den byzantinischen Elfenbeinarbeiten, ein organisches Material als Metapher für die Unvergänglichkeit des erlösten menschlichen Körpers. Das Reichenauer Evangeliar aus ottonischer Zeit besitzt einen Goldschmiedeeinband, besetzt mit Perlen und Edelsteinen und in der Mitte mit einem arabischen Amulettstein aus Achat. Die Evangeliare genossen eine ähnliche handgreifliche Verehrung wie im Osten die Ikonen. Fulbert von Chartres entzog dem Regnum, das bislang auf den König bezogen war, sozusagen das Subjekt und objektivierte es: »[…] so gibt es kein Königreich ohne Land, Volk und König.«

6.0. Das 12. Jahrhundert

Haskins 1927

Das 12. Jh. ist das erste des Hochmittelalters. Manchmal wird auf die beliebte Schablone einer Achsenzeit zurückgegriffen, das Wort von Charles H. Haskins von einer »Renaissance« wurde in diesem Zusammenhang berühmt und gerne verwandt. Stellt man – weniger dramatisch – die Kontinuität in den Vordergrund, kann man jedenfalls von einem spektakulären kunstphilosophischen Paradigmenwechsel und einem wichtigen Schritt in die moderne Welt sprechen.

6.1. Kontexte

Braunfels 1953, 22

Die Wende vom 11. ins 12. Jh. ist eine Zeit großer Dynamik. Die europäische Bevölkerung wuchs nach den meisten Schätzungen bis ins 13. Jh. von 40 auf 60 Millionen. Die schon in 5.1. erwähnten Fortschritte wurden begleitet von einer Klimaerwärmung, was die Agrarproduktion erhöhte und die zugehörigen Techniken weiter verbesserte. Der Produktivitätsfortschritt in der Landwirtschaft legte die finanzielle Basis für das Aufblühen der Städte und des Handels in den friedlicher gewordenen Zeiten. Die mittelalterlichen Städte – gewachsen und nicht geplant – sind dem Kloster vergleichbare Versuche auf profaner Ebene, den Gefahren der Zeit zu begegnen. Allerdings bleibt die religiöse Legitimation durchaus nicht verborgen. Ähnlich wie

273

Das 12. Jahrhundert

der Aufbau von Klöstern in einer kleinen Dimension oder der Aufbau des durch Pilgerstraßen strukturierten Europas im Großen, hatten die Städte ein sakrales Zentrum und eine zunehmende Profanierung zur Peripherie hin. Im Sinne der alten Idee religiöser Stadtkonnotation waren sie eine Umbauung eines religiösen Zentrums. Die größten der neuen Städte lagen an den Pilgerrouten, Heiligenbilder schützten die Tore. Der Glanz der die Häuser weit überragenden Kathedralen war freilich nicht nur Zeichen religiöser Legitimation, sondern – wie immer – Ausdruck von Wohlstand und Macht. Prozessionsstraßen – als Prachtstraßen architektonisch gestaltet – führten axial auf die Kathedrale zu. Prozessionen waren sehr beliebt. Sie imitierten in mittelalterlicher Gestenkultur den Einzug Christi in Jerusalem, der anagogisch-didaktisch nachvollziehbar wurde. Die Bischöfe, die seit der Spätantike in Städten residierten, durften sich über den ihnen durch das Erstarken der Stadt zuwachsenden Machtgewinn freuen. In den Städten gab es wieder Geld, was den städtischen Bauhütten samt ihren Baumeistern Aufträge bescherte. Über die Organisation der Bauhütten ist wenig bekannt. Dafür scheint ein eigener Verwalter zuständig gewesen zu sein. Daneben gab es den Baumeister (magister operis oder architectus), der den Auftrag des Auftraggebers oder Stifters umsetzte. Ausgeführt wurde er durch Maurer und Steinmetze. Die Baumeister-Architekten erlebten im 13. Jh. einen sozialen Aufstieg, was sogar zu Klagen führte, die Architekten würden sich auf der Baustelle die Hände nicht mehr schmutzig machen. Die reichen Bürger errichteten sich Geschlechter- und Wohntürme als Statussymbole. Rom soll über 300, Florenz 150, Ascoli Piceno 200 besessen haben. Zu dieser aufgeklärt wirkenden Zeit passt schlecht das Andauern der Kreuzzüge. Hugo von Payens hatte um 1120 den Templerorden gegründet. Diese Verbindung von Mönch und Ritter war bereits bei den Zeitgenossen äußerst umstritten und es bedurfte der engagierten Intervention des Bernhard von Clairvaux, der in seinem Buch Vom Lob der neuen Ritterschaft (De laude novae militiae) diese Orden – es folgten die Johanniter und der von Friedrich II. stark geförderte Deutsche Orden – verteidigte, mit Argumenten, die an die Beschreibung der Wächter in Platons Politeia erinnern. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass Bischöfe in Rüstung in die Kirche zogen, unter der sich das Priestergewand verbarg. Bei der von Bernhard ausgelösten Diskussion vermischten sich vordergründig der Einsatz für die heiligen Städte im Orient mit einer veritablen Stadt- und Aufklärungskritik. Trotz dieser schweren Belastung wurden mit dem Orient auch Geschäfte gemacht und der kulturelle Austausch erhielt paradoxerweise sogar Impulse durch das Interesse am Orient. Eine noch ergiebigere Quelle war Andalusien. Der Zufluss an philosophischem, mathematischem, astronomischem und medizinischem Wissen aus dem islamischen Andalusien verwandelte den lateinischen Westen »im Innersten«. Unzählige Bücher wurden übersetzt, große Werke der klassischen Antike wie der Almagest des Ptolemaios der westlichen Welt zugänglich. Die Differenzierung der Gesellschaft und die Arbeitsteilung nahmen zu. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Ebenen führte – stimuliert durch die im Investiturstreit zerbrochene sakrale Sinngebung profaner Herrschaft – zur Pluralisierung von Le-

Bering 2004, 34

6.2.4.

Fried 2008a, 205 ­Pochat 1986, 148–154 III.2.6.1./IV.3.3.1.

274

Das Mittelalter

Huizinga 1919, 56

Rader 2010, 265

7.2.ff.

Bering 2004, 145f

363 Santissimo Salvatore in Cefalù 3.2.

IV.6.2.3. Roeck 2017, 306

bens- und Kulturformen, die sich anfangs – mit großer Emotion aufgeladen – noch rivalisierend gegenüber standen. Diese Pluralisierung bedeutete allerdings nicht gleichzeitig eine Egalisierung. Die mittelalterliche Gesellschaft blieb in vielfacher Hinsicht streng hierarchisch. Die städtische Kultur begann sich von der monastischen, höfischen und ländlichen Kultur abzusetzen und brachte eine erste Blüte volkssprachlicher Literatur hervor: das Rolandslied, die Tristanromane, die Lieder Walthers von der Vogelweide, die (schon eher der Renaissance zugehörenden) Canterbury Tales des genialen Geoffrey Chaucer, der bei mindestens zwei Italienreisen vielleicht Petrarca oder Boccaccio getroffen hatte. Das für diese Sänger wichtige Instrument der Laute stammte von den Sarazenen und verbreitete sich über das Sizilien Friedrichs II., der sich selbst (wie einst Herodes) als Sänger zelebrierte, an die europäischen Fürstenhöfe. Der Streit des Bernhard von Clairvaux gegen den Luxus eines Abtes Suger und der benediktinischen Architektur war auch ein Streit zwischen monastischen und städtischen, später scholastischen Kultur- und Wissensformen. Auf dem Fresko des Ambrogio Lorenzetti im Rathaussaal von Siena thront die personifizierte Stadt in den Mauern und die Göttin Securitas überträgt den Segen vom umfriedeten Bereich auf das umliegende Land. In Italien gab es starke Bestrebungen einer renovatio Roms. Zahlreiche antike Anlagen wurden geplündert und Teile als Spolien wiederverwendet. Dazu kamen Rückgriffe auf das frühchristliche Ideal (S. Paolo fuori le Mura). 1143/44 wurde gar der römische Senat wiedererrichtet. Außergewöhnlich war die Entwicklung in Sizilien. Der Normannenherrscher Roger I. verfolgte eine tolerante Politik und machte die Insel zu einem polyglotten Vielvölkerreich, in dem katholische Lateiner, orthodoxe Griechen, Juden und Muslime zusammenlebten. Unter Roger II. wurde der Hof in Palermo ein blühendes Zentrum von Wissenschaft und Kunst. Palermo soll 300 Moscheen besessen haben. Bei Ausstattung der Palastkapelle Capella Palatina (1131–1140) und der Kathedrale von Monreale (1172–1176 unter Wilhelm II.) waren vermutlich byzantinische Mosaizisten am Werk. Die Palastkapelle war von der Anlage her ein lateinischer Kirchenbau, hatte eine byzantinische Kuppel und byzantinische Mosaiken, islamische Muqarnas und Malereien und einen Campanile im Stil der französischen Frühgotik. Der sich bildende eigenständige normannische Stil vereinigte diese arabischen und byzantinischen Elemente. Die Kathedrale von Cefalù (um 1131) hat zwei Türme, die an nordafrikanische Minarette erinnern. Die Mosaiken, Niederschlag komnenischer Kunst in Italien, zeigen sich narrativer als die Klassik in Konstantinopel, auch wenn man diesen Unterschied nicht überbewerten sollte. Nicht erst mit dem Staufer Friedrich II. war »Süditalien zum neben Andalusien wichtigsten Emporium antiken Geistes […]« aufgestiegen. Philosophisch besonders bedeutsam war, dass das 12. Jh. dem Abendland die aristotelischen Schriften brachte. Ab etwa 1140 lag der gesamte Aristoteles in lateinischer Übersetzung vor. Er kam aus den arabischen Quellen in Spanien ins Abend-

275

Das 12. Jahrhundert

land. Daneben zeichnete bereits ab dem 10. Jh. für Übersetzungen und Kommentierungen das Kloster Mont Saint-Michel in der Normandie verantwortlich. Von den kaum zu überschätzenden Konsequenzen für die Kunst war bereits die Rede. Die »Umprägung byzantinisierender Vorlagen in veristische Schilderungen« mit der offenen Demonstration von Gemütsbewegungen lässt sich etwa bei den Meisterwerken des Nikolaus von Verdun, dem Dreikönigenschrein (Köln), Annoschrein (Siegburg) oder dem inhaltlich vielleicht von der Schule Sankt Viktor beeinflussten Verduner Altar (Klosterneuburg), zeigen. Der Aristotelismus ebnete den Weg zu freistehenden, monumentalen Figuren. In der Schriftauslegung traten neue logische und sprachphilosophische Methoden an die Stelle der alten Schriftauslegung oder der meditatio der monastischen Spiritualität, die einen synästhetischen Charakter aufwies. Die oben erwähnte Körpergebundenheit der Schriftlektüre passte in eine mittelalterliche Kultur der Gestik. Die Mönche »murmelten die Schrift vor sich hin«, so wie es heute noch im Judentum und im Islam üblich ist. Sowohl die höfische als auch die kirchliche Literatur des Mittelalters war Ausdruck »einer semi-oralen Gedächtniskultur.« Schriftlektüre ließ sich durchaus mit der unmittelbaren Wahrnehmung bei einer Bildbetrachtung vergleichen. Verträge und Schwüre, Unterwerfungen und Begegnungen wurden durch performative Rituale vollzogen. Bisweilen kam es gar zu »Ritualmissverständnissen«, wie bei einer Begegnung von Friedrich II. mit seinem Sohn Heinrich, aufgrund der Verschiedenheit südlicher und nordalpiner Traditionen.

Gouguenheim 2011

Bering 2004, 122 364 Mont Saint-­ Michel; Normandie 5.3.2.

Wenzel 1995, 326

Rader 2010, 408

6.2. Die Domschulen Den Weg in eine rationale theologische Wissenskultur legten die mittelalterlichen Domschulen, die zwischen Platonismus und Aristotelismus schwankten. Sie waren ein wichtiges Kapitel im Ringen um eine Theologiekonzeption als Wissenschaft. Die Mönche der frühmittelalterlichen Abteien kümmerten sich kaum um Unterweisung gewöhnlicher Gläubiger, »sie schwebten über der Realität.« Daher übernahmen nun in den Bischofstädten die Domschulen pastorale und erste schulische Aufgaben. Dennoch waren sie keine Schulen im engen Sinn, sondern Stätten des wissenschaftlichen Nachdenkens. Das Wort des Petrus Damianus von der Philosophie als Magd der Theologie war noch nicht vom Vernunftoptimismus eines Abaelard getragen, der einhundert Jahre später der Theologie die Logik als Instrument empfahl. Darin spiegelt sich der philosophische Umbruch vom lange dominanten Platonismus zum Aristotelismus, der in der Hochscholastik zum führenden philosophischen Paradigma wurde. Die Domschulen sind für unser Thema ein interessantes Kapitel, weil in ihnen auch kunstphilosophische Gedanken entwickelt wurden. Dabei trafen platonische Verweisästhetik und aristotelischer Naturalismus aufeinander. Schritt für Schritt löste der Naturalismus den Platonismus ab. In der Baukunst blieb weiterhin eine Lichtarchitektur bestehen, man kann aber eine Verschiebung der inneren Bedeutung ver-

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 106

276

Das Mittelalter

muten. Mystische Lichtanagogie wie in Byzanz und in der Romanik wird abgelöst durch das Licht der Vernunft, das eine Öffnung auf Kommunikation mit der Welt ausdrückte. In der bildhauerischen Kunst ist der Wechsel der Paradigmen deutlicher sichtbar. Die Figur befreite sich aus der Gebundenheit an den Sakralbau, sie befreite sich auch aus der Unterwerfung unter eine kosmisch-geistige Macht und erhielt einen Eigenstand.

6.2.1. Die Schule von Chartres

365 Kathedrale von Chartres, Portalfiguren

Aertsen Jan in Pasnau/ van Dyke 2010, 77f

Gerbert von Aurillac

Die Domschule von Chartres (als Bischofssitz bereits im 4. Jh. erwähnt), ein geistiges Zentrum der Gotik, wurde 990 von Fulbert gegründet und erlebte ihren Höhepunkt unter Bernhard von Chartres, der als tolerant, gelehrt und als großer Platoniker geschildert wird. Die Schule, in der die Platonismusrezeption im Mittelalter zu einem Höhepunkt gelangte, kann als Scharnier zwischen platonischem Erbe und der anhebenden, eher dem Aristoteles zugeneigten Scholastik angesehen werden. Beides findet sich bei den Vertretern und dementsprechend divergent sind die Meinungen zur Ästhetik. Inspirationsquellen waren der platonische Timaios in Form eines von dem vermutlich neuplatonischen Christen des frühen 5. Jh.s Calcidius übersetzten und kommentierten fragmentarischen Textcorpus, die mathematischen Abhandlungen des Boëthius, De musica des Augustinus, aber auch die biblische Schöpfungslehre. Der Timaios war der wichtigste Teil der ohnehin nur wenigen im Mittelalter verfügbaren Schriften Platons (Menon, Phaidon, Parmenides). Er lenkte nicht nur den Blick auf die Natur, sondern regte auch Vergleiche zwischen platonischem Demiurgen und christlichem Schöpfer an. In der Bible Moralisée (um 1220) wurde der Schöpfergott als Architekt mit dem Zirkel in der Hand dargestellt. Im (unvollständigen) Lehrbuch der sieben freien Künste des Thierry von Chartres, dem Heptateuchon, verdrängte die aristotelische Logik die Lektüre der Klassiker. Der Blick auf die Natur und ihre Gesetze trat in den Vordergrund. Von einer anagogischen Mystik war bei Thierry weniger die Rede, dafür von Schönheit, die in den Dingen der Natur selbst liegt. Bei Gilbert von Poitiers wich die negative Theologie dem fortschrittlichen Optimismus, Gott mit Hilfe der aristotelischen Kategorien erkennen zu können. Dennoch blieb Chartres grundsätzlich einer platonisch-ästhetischen Tradition verpflichtet und immer noch eine Hochburg auch der antiken Kultur. In der Naturwissenschaft kannte man die bedeutenden Vertreter der Antike und in der Medizin las man die arabischen Quellen. Thierry setzte diese Kultur ausdrücklich zur ganzheitlichen menschlichen Bildung ein. Dass eher eine Mathematisierung der Wirklichkeit im Sinne des Platonismus als die strenge Logik des Aristoteles betrieben wurde, hat auch mit dem Erbe des wichtigen Anregers der Schule, Gerbert von Aurillac, zu tun. Der spätere Papst Silvester II. kannte, wie schon kurz erwähnt, die arabischen Ziffern, die in der Folge das schwer zu handhabende lateinische Notationssystem ablösten. Die Araber nahmen den Ursprung der Ziffern in Indien an, die über den Perser Muhammad al-Chwarizmi große Verbreitung fanden. Sein Name wurde zu alchoarismi amalgamiert und zu Algorithmus latinisiert (Algorismi dixit), während sich Algebra vom al-gabr, dem

277

Das 12. Jahrhundert

Umstellen von Termini von einer auf die andere Seite des Gleichheitszeichens, ableitet. Gerbert hatte die neue Algebra bei Studien im arabischen Katalonien kennen gelernt. Das Aufregende des neuen Systems war die Null, arabisch sifr (Leere), wovon sich das deutsche Lehnwort Ziffer ableitet. Als Erfinder der Null gilt der indische Mathematiker Brahmagupta und diese Ziffer erschütterte in der Tat die Welt: »Welch ungeheure intellektuelle Leistung steckte in dieser Erfindung: einem Zeichen für das Nichts, das zugleich einen Hauch von Unendlichkeit birgt!« Gerberts Spezialität war das Quadrivium, vor allem Arithmetik und Astronomie. Gott müsse nach den ewigen Gesetzen der Mathematik schaffen und diese Gesetze fänden ihren Niederschlag in der Architektur bis hinein in detaillierte architektonische Formen, in Fialen, Krabben, Blumen, sowie in der Kleinkunst, bei Altären, Monstranzen, Reliquienbehältern, ja selbst im gemeißelten und gemalten Faltenwurf der Kleidung. Die Mediävisten machen um die Figur des Gerbert nicht viel Aufhebens, aber eine ausführlichere wissenschaftliche Aufarbeitung könnte vermutlich ein erhellendes Licht werfen auf die Frage nach dem Verhältnis von Geometrie und ornamentaler Kunst im Islam, damit auch auf die These über die erhebliche Wirkung des späten Platon auf diese Kunst. Vor diesem geistigen Hintergrund fertigte Villard de Honnecourt um 1235 sein 33 (ursprünglich vermutlich 46) Pergamentblätter umfassendes Skizzenbuch mit qualitätvollen Federzeichnungen an. Es ist das ausführlichste erhaltene und in seiner Bestimmung immer noch nicht geklärte Handbuch der Gotik. Man kann es nicht als theoretischen Traktat bezeichnen, sondern als Musterbuch, wie das damals nicht ungewöhnlich war. Es ging also um Motive, nicht um technische Bauzeichnungen. Allerdings enthält es neben Menschen- und Tierdarstellungen durchaus praktische Anweisungen für Baumeister und Steinmetze. Es zeigt nicht nur die Lust am Zeichnen von Architektur, sondern auch, dass sich architektonische Ideen auf diesem Weg schnell in Europa verbreiten konnten. Das Musterbuch des Villard wird in der Forschung durchaus als Vorläufer des nachantiken Architekturtraktats gesehen und es zeigt, dass »ein wie auch immer gearteter Diskussionsbedarf über architektonische Qualität überhaupt bestand.« Spätere, bereits am Übergang in die Renaissance geschriebene Musterbücher neigen zu höherer Spezialisierung und führen zu den theoretisch anspruchsvolleren Werkmeisterbüchern. Die mittelalterliche Ästhetik basierte auf den Kategorien Harmonie, Maß und Zahl. Das parallelisierte auch damals das Licht, das strahlender Ausdruck dieser Harmonie ist. Ein Zyklus von 186 Buntglasfenstern im gotischen Neubau (1194–1260) der Kathedrale Notre Dame in Chartres ist ein Beispiel einer neuerlichen Lichtarchitektur nach der byzantinischen. Sie versammelte viele Architekturzitate aus älteren gotischen Bautypen, darunter auch aus dem Bau von militärischen Anlagen. Sie war zugleich Nachbau der idealen Harmonie der göttlichen Himmelsstadt und des legendären Tempels Salomons. Die Kathedrale von Chartres galt, zusammen mit jener von Reims, (auch im Hinblick auf die Fassadenskulptur) als Idealtyp einer gotischen Kathedrale und als nicht mehr überbietbar. »Die Reimser Fassade stellt einen Höhepunkt in der plastischen Durchformung dar.« Deshalb wurde der elegante, aber we-

Halm 2004, 48; Brotton 2002, 44f

Roeck 2017, 167

Villard de ­Honnecourt

Klein 2007b, 80 Freigang Christian in ATh, 196 Fürst 2007

Baumann 2007, 97 Klein 2007b, 54f

Nicolai 2007, 48

278

Das Mittelalter

Kimpel/Suckale 1985, 59

366 Kirchenfenster mit Szenen aus dem Leben des Hl. Martin (1300); Tours

Aubert 1963, 50

niger aufwendige Bau von Soissons – auch im Geiste von Chartres – eher zum Vorbild für die weitere Entwicklung. Die Kenntnis der Geometrie in der Natur und die Fähigkeit zur Normierung erhoben den Architekten über den Stand der Handwerker hinaus. Der Einsatz der Geometrie bestimmte auch das skulpturale Werk und widersprach daher auch nicht der intensiven und empirisch werdenden Naturbeobachtung. Anstelle der alten romanischen deformitas trat die naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit. Dies bestimmte die Bauplastik an den Kirchenfassaden, vor allem Darstellungen der Natur: Rosensträucher, Erdbeerbüsche, Weinstöcke, Kresse, Farne, Ahorne, Eichen. »Im Laufe des 13. Jahrhunderts entfalten sich die Knospen, springen auf und schmücken sich mit Blättern; im 14. Jahrhundert sind es wahre Sträuße, belaubte Zweige, mit Blüten und Früchten überladene Äste; im 15. Jahrhundert werden sie zu dürrem und dornig-herbstlichem Laub- und Astwerk, das den glühenden Sommer überstanden hat.« Der Aristotelismus in der Schule ist als philosophischer Hintergrund zu erwähnen, wenn in und an der Kathedrale von Chartres Tausende von Plastiken standen, darunter einige der wichtigsten frühgotischen Vollplastiken am Königsportal.

6.2.2. Die Schule von St. Viktor

Hugo von St. Viktor

Hugo, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 227

Das Kloster der Augustiner-Chorherren von St. Viktor in Paris ging auf eine Gründung des Wilhelm von Champeaux 1108 zurück. Wilhelm hatte dem Kloster eine musische Ausrichtung gegeben und beherbergte Künstler und Literaten. Unter dem ersten Abt Gilduin begann ein glanzvoller Aufstieg des Klosters. Cluny übte dabei starken Einfluss aus. Die Handarbeit, von der intellektuellen Arbeit abgelöst, mystische Tradition und das neu entstehende scholastische Denken näherten sich einander an. Hugo von St. Viktor entwickelte aus der Kommentierung des Dionysios Pseudo-Areopagites (Expositio in hierarchiam coelestem Sancti Dionysii Areopagitae) eine ausdrückliche Ästhetik, die er im Didascalicon de studio legendi, einem Einführungswerk in die Philosophie mit didaktischem und enzyklopädischem Anspruch (die Autorschaft für das gesamte Werk ist umstritten), niederlegte. Platonisch ist seine Verweisästhetik. Wie Platon kennt Hugo die Dreiteilung der Werke, das Werk Gottes, jenes der Natur und jenes des Künstlers (artifex), der die Natur nachahmt. Diese Teilung ermöglicht einen anagogischen Aufstieg vom Sinnlichen zur Wahrheit. Das wahrhafte (göttliche) Schöne ist im Übersinnlichen, seine abbildhafte Spiegelung zeigt sich im Sinnlichen. »Dennoch gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Schönheit dank der Rivalität, die der unsichtbare Künstler zwischen beiden eingerichtet hat, in welcher gleichsam aufflackernde Lichtscheine von verschiedenen Proportionen zusammen doch ein einziges Bild ergeben. Danach steigt des Menschen Geist von der sichtbaren Schönheit zur unsichtbaren Schönheit empor […].« Es ist ein Licht, das alles durchdringt und in den Dingen den Ursprung noch aufleuchten lässt. Auch in der Schule von St. Viktor

279

Das 12. Jahrhundert

spielt die neuplatonische Lichtmetaphysik – nicht nur als Mystik, sondern als Ontologie – eine überragende Rolle. Otto von Simson geht ähnlich wie Conrad Rudolph von einem Einfluss von Hugos Dionysios-Kommentar auf Suger von St. Denis aus. Dem ist mit dem wenig überzeugenden Argument fehlender Quellenbestätigung mittlerweile widersprochen worden. Wladyslaw Tatarkiewicz hat Hugo einen »Panästhezismus« zugeschrieben. Die mystische Kontemplation ist daher auch der angemessene Zugang zu dieser Schönheit. Diese Kongruenz ist möglich, weil nach der alten Makrokosmos-Mikrokosmos-Gleichung das Universum und die Welt »gleichsam ein Buch [sind], das Gottes Finger geschrieben hat […].« Gott selbst hat demnach das materiell-kontingente Schöne auf das unsichtbar Schöne hingeordnet. Für die sichtbare Form, die auf das Unsichtbare verweist, verwandte er den von Dionysios Pseudo-Areopagites übernommenen Ausdruck Symbol. Dies alles verfasste Hugo in einem schwärmerischen und heiteren Ton im Sinn einer Mystik, die »den disziplinarischen Asketismus überwunden hat« und sich auch an den sinnlichen Schönheiten erfreut. Die neuplatonische Verweisästhetik wird angereichert durch ein sinnliches Element: »[…] hier nämlich ist die Schönheit, wie sie dem Auge erscheint, und das Ebenmass, das auf dem Antlitz strahlt, ein Fest für die Augen; hier ist die Süsse des Duftes, die den Atem erfrischt, hier ist die Erlabung durch den Geschmack, die den Appetit anregt, hier die sanfte Glätte der Körper, die entzückt und liebkosend die Berührung entgegennimmt. Dort ist die Schönheit eine Tugend, und die Ebenmässigkeit ist Gerechtigkeit, die Süssigkeit ist Liebe, und der Wohlgeruch ist Verlangen, Freude und Verzückung aber werden zu einem Lied.« Die höchste Schönheit wird durch den intuitiven Verstand (intelligentia) erkannt, das niedere Schöne durch Sinne und Phantasie (imaginatio). Das Sinnlich-Schöne ist ein Ausdruck der absoluten Schönheit und sie führt den Sinn auch dorthin. Im Sinnlichen zeigt sich die Schönheit in der Ordnung der Teile im Gegenstand und im Verhältnis des Gegenstandes zu anderen (situs), in der Bewegung (motus), der Sichtbarkeit (species), durch die Seiendes in Gestalt und Farbe unterscheidbar ist, und der Beschaffenheit (qualitas), wodurch er Gegenstand der Sinneserkenntnis wird. Es geht also um eine platonisierende Anagogieästhetik, die gleichsam aristotelisch mit einer positiven Würdigung des Sinnlichen erweitert wird. »Die heuristische Funktion der so erfaßbaren Schönheit besteht nach Hugo darin, daß aus dem Sinnenfälligen […] das diese Schönheit ermöglichende, absolut gedachte Denken erschlossen werden kann.« Eine Entwicklung der Verselbständigung der Natur samt ihrer sukzessiven Abkoppelung von einer verweisenden Funktion führte schließlich in die Renaissance. Über die Kunst schrieb Hugo, sie sei sowohl ein Nachdenken, ja eine Wissenschaft von Regeln und Vorschriften (ars), als auch eine praktische Ausführung (usus). Die praktische Tätigkeit war stets früher als die Reflexion darüber. »Bevor es eine Grammatik gab, haben die Menschen geschrieben und gesprochen […] Dann aber kamen die Wissenschaften [artes]; sie hatten ihren Ursprung zwar im praktischen Gebrauch [usu], sind diesem aber doch weit überlegen.« Die theoretische Be-

Simson 1956, 171ff Rudolph 1990, 73 Speer Andreas in Speer/ Binding 2000, 33f 7.4. Tatarkiewicz 1980, 223 Schönheit Hugo, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 230

Eco 1987, 25

Hugo, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 227

Marc-Aeilko Aris in ÄKPh, 411f

Hugo v. St. Viktor, Didasc., 151ff

280

Das Mittelalter

Kristeller 1976, 173

Binding 1996, 209ff

Binding/Speer 1993, 30

Ebd., 27

7.4.

Richard von St. Viktor

trachtung einer Tätigkeit steht über der reinen Ausführung derselben. Die Philosophie wiederum sei das, worauf alle artes sich auszurichten hätten. Sie sei die Kunst aller Künste (ars artium). Im Spannungsfeld von scholastischer und monastischer Theologie (man kann auch sagen: von Aristotelismus und Platonismus) brach Hugo mit der Tradition der freien Künste: Der traditionelle mittelalterliche Ars-Begriff war zu eng geworden. Hugo legte eine der wichtigsten – vielleicht sogar die erste – Darstellungen der artes mechanicae im Mittelalter vor. Die mechanischen Künste wurden aufgewertet und in sieben Bereiche gegliedert. Zur Herstellung von Gebrauchsgütern, aber auch von Gebäuden oder Skulpturen braucht man theoretisches Wissen. Daher seien auch diese Künste Wissenschaften (scientiae) und nicht bloß Kunstfertigkeiten (artes). Zu ihnen zählte er neben der Landwirtschaft, Medizin, Korbflechterei, Wehrtechnik, Seefahrt, Jagd, Handel und Textilhandwerk erstmals auch das Theater und die Architektur. Diese Künste dienten dazu, Defizite des Menschen auszugleichen und seine Existenz zu sichern, aber sie dienten auch der Annehmlichkeit. Ohne die Terminologie streng durchzuhalten, unterschied Hugo die ars, die erst durch die erfahrungsbasierte Handlung selbst entsteht (z.B. Architektur), von der disciplina, die durch Schlussfolgerung (ratiocinatio) gekennzeichnet ist (z.B. Dialektik als Logik). Diese Einteilung markiert das langsame Ende der Gültigkeit der klassischen artes liberales. Zur entsprechenden Aufwertung der Künstler dauerte es freilich noch bis in die Renaissance. Jedoch führte dies zu einer »Auflösung jener im ars-Begriff bis in das 12. Jahrhundert angelegten Einheit von technischer Vollkommenheit und wissenschaftlich-philosophischer wie theologischer Betrachtungsweise, welche zur Erreichung der pulchritudo im anagogischen wie allegorischen Sinne die Voraussetzung bildete.« Im Anschluss an diese Trennung haben Günther Binding und andere aus Untersuchungen zum mittelalterlichen Baubetrieb einen folgenschweren Schluss gezogen. Nämlich dass das theologisch-anagogische Paradigma keinerlei konkreten Einfluss auf die Bauentwürfe genommen habe. Ein solcher Schluss ist schwer nachvollziehbar, weil im geistigen Umfeld kein anderes Paradigma als eben ein anagogisches sichtbar war und es ist wenig überzeugend, wie man solche dominierende Leitgedanken einfach ignorieren sollte. Das schließt nicht aus, dass es mehr und mehr zu einem Rückgang unmittelbarer theologischer Reflexion zugunsten der Herausbildung eines Musterkanons gekommen sein mag. Die Künste gehörten nach Hugo zu den menschlichen Bedürfnissen. Zuerst befriedige der Mensch das Notwendige, dann das Angenehme und das Zweckmäßige und zuletzt das Bedürfnis nach dem Schönen. Alle Künste könnten sich in den Rang des Schönen erheben. Angesichts der positiven Aspekte, die Hugo dem Sinnlichen abgewann, war sein Schüler Richard von St. Viktor zweifellos ein Mystiker, obwohl er in seinem Werk De Trinitate Gottesbeweise formulierte, die er für unwiderlegbar hielt. Ästhetische Themen handelte er in symbolischer und mystischer Sprache ab. Er stand zwar im Schatten Hugos, genoss aber nichtsdestoweniger hohes Ansehen. In De praeparatione animi ad contemplationem, auch Benjamin minor genannt, gab er

281

Das 12. Jahrhundert

praktische Anleitungen zur Meditation. In De gratia contemplationis oder Benjamin maior beschrieb er Askese und Kontemplation unter verschiedenen Gesichtspunkten. Der Titel nahm Bezug auf Psalm 67, der die Schau des Einzugs Gottes in sein Heiligtum schildert. Dabei heißt es: »Da ist Benjamin, klein, doch ihr Führer […].« Richard beschrieb den Zustand mystischer Entrückung detailliert. Der Körper tritt über eine sechsstufige Versenkung aus sich heraus, wird sich fremd (alienatio) und zur Schau des göttlichen Geheimnisses empor gerissen. Ein ähnlicher Weg ist jener zur Schau des Schönen, der über Bauwerke und Kunstwerke gehen kann. Über die sichtbaren Dinge führt er zum Bestaunen (admiratio) des Schönen und über eine sechsstufige Hierarchie gelangt man schließlich zu den unsichtbaren und geistigen Dingen. »Niemals könnte sich aber die Vernunft zur Betrachtung des Unsichtbaren erheben, wenn ihr nicht die Phantasie (imaginatio) die Formen der sichtbaren Dinge vergegenwärtigte und zeigte […].«

Binding 1996, 26f Richard v. St. Viktor, zit. nach Assunto 1963, 207

6.2.3. St. Denis und der Beginn der gotischen Architektur In den bisher besprochenen Schulen kamen kunstphilosophische Motive zur Sprache: die Lichtmystik, das anagogische Bildprinzip, die für den Kunststil der Gotik bedeutsam waren. Besonders gilt dies für die Schule von St. Denis, die jener von St. Viktor sehr nahe stand. In der Literatur wird Abt Suger von St. Denis immer wieder als »Erfinder« der Gotik bezeichnet. Legende und historische Wahrheit sind schwer auseinander zu halten. Denn die Konstellation um St. Denis-en-France und seinen Abt Suger war eine besondere Schnittstelle der Geschichte und sie ist in den letzten Jahren zu einem Brennpunkt kontroverser Forschung geworden. St. Denis war die Begräbnisstätte des legendären Bischofs von Paris, Dionysius, der im 3. Jh. das Martyrium der Decischen Verfolgung erlitt. Später wurde das Kloster zur Grablege der Merowinger, Karolinger, Kapetinger und der Könige Frankreichs, ein geschichtsträchtiger Boden also. An diesen Gräbern meditierten die Könige nach ihrer Salbung mit dem von einer Taube vom Himmel gebrachten Salböl und dort holten sie seit Ludwig VI. 1124 das legendäre Banner des Hl. Dionysius, die Oriflamme (lat. aurea flamma/goldene Flamme), die manchmal mit dem Banner Karls des Großen identifiziert wurde, wenn man in den Krieg zog. Suger übernahm das Kloster, das 829 von Hilduin der Benediktinerregel unterstellt worden war, in einem heruntergekommenen Zustand und ging mit großer Ambition an die Sanierung. In seinen Berichten schien ihm die wirtschaftliche Gesundung wichtiger als die religiös-monastischen Reformen. Bald war Suger – insbesondere nach der Rückgewinnung des Nonnenklosters Argenteuil mit seinen großen Einkünften – Abt eines in Reichtum schwelgenden Klosters. Er war ein selbstbewusster, von seiner Mission überzeugter Mann von Welt, der seine eigenen Bauprojekte durch umfangreiche Lobeshymnen und Allegoresen beschrieb. Vorbild dazu war ihm wohl der merowingische Dichter Venantius Fortunatus aus dem 6. Jh., von dem zahlreiche Kirchweihgedichte erhalten sind. Erwin Panofsky porträtierte Suger wie einen Renaissancefürsten. So erschien Suger jedenfalls in der Wahrnehmung von außen. Zeitgenossen schildern ihn – ob

Abt Suger

Annas 2000, 91ff

Panofsky 1955

282

Das Mittelalter

7.4.

Speer Andreas in Speer/ Binding 2000, 56

Abaelard, zit. nach Markschies 1995, 15

Verklärung oder historische Wahrheit, ist schwer zu erfahren – als bescheidenen Mönch, der in einer kleinen Zelle lebte. Suger scheint – allen Einwänden zum Trotz – bei Bauausführung und Ausgestaltung der neuen Kirche im kühnen Stil der moderni bestimmenden Einfluss ausgeübt zu haben. In weitschweifigen Beschreibungen im Liber de rebus in administratione sua gestis, im Libellus de consecratione ecclesiae Sancti Dionysii, der Rede zum Bau der Kirche, und in den Ordinationes erklärte er die religiöse Bedeutung des Baus und der verschwenderischen Ausstattung. Dabei ging es weniger um Architekturbeschreibungen und mehr um die »umfassende Erschließung der Disposition und Einrichtung der Basilika als eines einheitlichen liturgischen Raumes.« Mit der Betonung dieser liturgischen Komponente wurde in der Diskussion um Abt Suger als Bauherr ein weitgehender Konsens in der Wissenschaft erschüttert. Bisher galt, dass Suger seine bauliche Neugestaltung (damit zugleich die Entstehung der Gotik) im Geiste der Lichtmetaphysik des Dionysios Pseudo-Areopagites durchgeführt habe. Darin waren sich Kunsthistoriker und Philosophen wie Erwin Panofsky, Otto von Simson, Hans Sedlmayr, Werner Beierwaltes und etliche andere einig. Diese Theorie basiert auf starken Argumenten, da das Corpus Dionysiacum mit der Abtei intensiv verbunden war. 827 hatte der byzantinische Kaiser Michael II. in einem feierlichen Staatsakt in Form eines Pergament-Codex ein Manuskript der Schriften des Areopagiten an Kaiser Ludwig den Frommen gesandt. Ludwig leitete das Corpus an Hilduin von St. Denis weiter. Dieser fertigte eine erste provisorische Übersetzung an, der sich eine bessere und kommentierte Version des Johannes Scotus Eriugena anschloss, die 862 König Karl dem Kahlen übergeben wurde. Eine dritte Übersetzung entstand im 12. Jh. durch Johannes Sarracenus. Diese geistige Nähe zum großen Neuplatoniker verband sich – eifrig gefördert durch Hilduin – noch mit der Legende, der Titelheilige Dionysius sei identisch mit dem syrischen Philosophen, den man seit karolingischer Zeit aufgrund der bewussten Irreführung durch Dionysios selbst zudem noch für den Paulusschüler aus der Apostelgeschichte hielt. Eine in den Weihebeschreibungen öfters gebrauchte Formel des Suger spricht vom dreifachen hl. Dionysius (ter beati Dionysii). Einzig der mehrere Jahre in St. Denis lebende Abaelard wagte unter Verweis auf Beda Venerabilis Zweifel an dieser krausen Identifizierung: »Ich las einmal in Bedas Auslegung der Apostelgeschichte und fand beiläufig die Stelle, in der Beda erklärt […] Dionysius Areopagita sei nicht Bischof von Athen, sondern von Korinth gewesen. Eine solche Behauptung musste meinen Klosterbrüdern sehr wider den Strich gehen; […] Ich zeigte einigen Brüdern […] halb im Scherz jene Stelle des Beda […] Voller Empörung nannten sie Beda einen ganz verlogenen Literaten, ihr Abt Hilduin verdiene mehr Vertrauen […] Wütend schrieen sie los, jetzt hätte ich mich verraten, ich sei ja schon immer ein Feind ihres Klosters gewesen, aber nun habe ich mich am ganzen Königreich vergangen […] indem ich Dionysius Areopagita nicht als ihren Schutzpatron gelten lasse.« Endgültig geklärt hat die Fälschung Lorenzo Valla in der Renaissance. Dionysius löste den Hl. Martin mehr und mehr als Schutzpatron Frankreichs ab.

283

Das 12. Jahrhundert

Grundsätzlich ist es angesichts der auch politischen Bedeutung des Œuvres kaum anzunehmen, dass Suger seinen Inhalt nicht gekannt haben sollte. Vielleicht regte Hugo von St. Viktor durch seinen Kommentar zum Hierarchiewerk des Dionysios Suger sogar zu einer Lektüre an. Wenngleich die Rezeptionsfrage des Corpus Dionysiacum durch Suger umstritten ist, ist es alles eher als unplausibel festzuhalten: Was Suger bei Dionysius fasziniert haben muss, waren Lichtmetaphysik, Hierarchiedenken und das anagogische Gesamtkonzept. Dieses sieht auch Andreas Speer gegeben und spricht vom »bedeutsamen anagogischen Moment […], das auch Sugers Schriften durchzieht.« Gott als Licht, das sich kaskadenartig in die materielle Welt hineinreflektiert und sie zum Anteil des Göttlichen nobilitiert, ist die Botschaft. Die Neugestaltung der Kathedrale war damit gleichermaßen ein kirchliches, kunstgeschichtliches und politisches Ereignis, das zudem der Île-de-France eine kulturelle Spitzenstellung einbrachte und sie zum Nukleus der sich ausbreitenden Gotik machte. Wollte man sehr vorsichtig argumentieren, könnt man sagen, dass Suger die Kirche von St. Denis so umgestalten ließ, als hätte er sich an der neuplatonischen Lichtmetaphysik orientiert: Der alte Bau hatte eine düstere Vorhalle aus karolingischer Zeit, vermutlich unter Pippin begonnen und 775 unter Karl dem Großen geweiht, eine mit Türmen und Zinnen bewehrte Burg. Suger öffnete die Mauern, das Tageslicht strömte in den Raum. 1140 wurde der neue Westteil (die Türme waren noch unvollendet), 1144 die Ostanlage samt Chor, Kapellenkranz und Krypta in großen Feiern eingeweiht. Der Chor war zur aufgehenden Sonne ausgerichtet. In ein und demselben Licht sollten sich alle an verschiedenen Orten ablaufenden Riten zu einer einzigen Feier versammeln. In der Weiheinschrift heißt es: »Indem der neue Teil als späterer sich dem früheren verbindet, erstrahlt die Halle, die in ihrer Mitte erhellt ist. Denn es erstrahlt, was sich strahlend Strahlendem vermählt, und weil neues Licht es überströmt, strahlt das edle Werk, welches dasteht, erweitert zu unserer Zeit, ich, Suger, war es, unter dessen Leitung es ausgeführt wurde.« Andreas Speer, Günther Binding, Christoph Markschies haben diesen Konsens zur Frage des Einflusses des Areopagiten auf die Gotik in jüngster Zeit an verschiedenen Stellen in Frage gestellt. Dabei verweisen sie in erster Linie auf die fehlende Bestätigung aus den Quellen. Dieses Argument ist freilich sowohl inhaltlich als auch methodisch nicht wirklich überzeugend und wird in 7.4. eingehender kommentiert. Ähnlich unbefriedigend bleibt der Hinweis darauf, dass es sich bei den »meisten der immer wieder angeführten Belege für einen pseudo-dionysischen Einfluß« um ein traditionsgeschichtliches »Grundinventar allegorischer Schriftexegese oder […] um Kirchenbau-Allegoresen« handle. Niemand behauptet ja, dass Suger nun plötzlich mit der dionysischen Vorlage etwas völlig Neues verband. Es geht vielmehr darum, dass er in einem neuplatonischen Traditionsstrom stand, der als vermutlich nachhaltigsten Niederschlag die Lichtmystik hat. Die spannende Frage wäre nun, aus welcher Motivation Suger – in diesem Traditionsstrom stehend (Panofsky nennt es mental habit) – einen gotischen Bau errichtete. Das Paradigma der Lichtmetaphysik bedeutet in kunstphilosophischer Sicht stets die Darstellung des Nicht-Darstellbaren in einem materiell-sinnlichen Aggre-

7.4.

Speer 1993, 45

Sedlmayer 1988, 586

Suger, De adm 327

Speer Andreas in Speer/ Binding 2000, 32f

Lichtmetaphysik

284

Das Mittelalter

Hedwig 1980, 61f z.B. Speer 1993, 43

Wenzel 1995, 325 Arnulf 2008, 116

Roeck 2017, 214f

Gombrich 1996 Sedlmayr 1950, 602 6.2.4. Duby Georges in Duby u.a. 1989, 113

gatzustand. Im christlichen Bereich eignet sich dafür der inkarnatorische Aspekt des Göttlichen. Dazu gehört selbstverständlich auch das, was man als Liturgie bezeichnet. Sie ist eine Form der Sichtbarmachung des Undarstellbaren. Sie erscheint neben der Schöpfung und der Bibel als das »dritte Buch« göttlicher Theophanie. Insofern ist der Hinweis auf das immerhin in den Schriften Sugers klar dokumentierte Interesse an der Liturgie durchaus erhellend. Man kann aber in unserem Kontext kaum Liturgie gegen philosophische oder theologische Ideen ausspielen, zumal Suger selbst die irdische Liturgie als Abbild des himmlischen Glanzes bezeichnete. Vielmehr wirken in der Tat »Wort und Schrift, Bilder und Figuren im Kirchenraum zusammen zur Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens.« Bis zum Auftreten überzeugenderer Einwände gibt es kaum einen Anlass, die These des neuplatonischen Kontextes von Sugers Gotik aufzugeben und von einem Missverständnis Panofskys zu sprechen. Die gotische Kathedrale ist sowohl ein Kapitel Lichtarchitektur als auch eines anagogischer Kunst. Sie ist in der Tat »[d]er spektakulärste Versuch des Mittelalters, die Widersprüche von Geist und Materie aufzulösen, […] Sie zeigt die Arbeit an dem Unternehmen, Geist, Licht und Himmel zum Bauwerk zu machen.« Bei den nun entstehenden Kathedralen faszinierten ihre Größe (magnitudo) und ihre Lichtwirkung, die glänzende Helligkeit (claritas). Die anagogische Lichtmystik wurde philosophisch und theologisch gedeutet. Das oberste Licht ist Gott und in anagogischer Weise sind die Dinge ontologisch höherwertig, je mehr sie an diesem göttlichen Licht teilhaben. Da sich im 12. Jh. jedoch gerade in den Domschulen ein aristotelischer Kontext aufzubauen begann, der zu einer Aufwertung des Sinnlichen und schließlich zu einem Naturalismus führte, und da in dieser Zeit die aufgeklärte Scholastik anhob, könnte man die gotische Lichtarchitektur auch mit einem aufgeklärten Selbstbewusstsein verbinden. Der gotische Bau schottet sich nicht mehr von der Welt ab, sondern tritt in eine argumentative Auseinandersetzung mit ihr. Ernst Gombrich überschrieb die Kapitel über Romanik und Gotik treffend mit »Die streitbare Kirche« und »Die triumphierende Kirche«. Suger spricht von allerheiligsten Fenstern als Vermittler dieses Lichtes. Der Lobpreis des Lichtes gehört zu der in der Gotik einem Höhepunkt zustrebenden »Schaubegierde«. Für Georges Duby war die 1140 vollendete Fassade, auf der sich Suger auf seinen ausdrücklichen Wunsch im mittleren Tympanon vor Christus kniend darstellen ließ, »bahnbrechend für die gotische Bauplastik.« Auch der Schmuck der Kirche wurde von Suger – ähnlich wie in der Spätantike – argumentativ in diese Mystik eingemeindet. Für Suger war die Pracht der Kirche nichts weiter als die Vorstufe der Herrlichkeit des Himmels. In den glänzenden Oberflächen und bunten Glasfenstern brach sich das Licht tausendfach. Die Kathedrale wurde zu einem realen Spiegel, in dem sich die geistige göttliche Herrlichkeit fokussierte und jeden Betrachter in einem geradezu sakramentalen Geschehen mit sich riss. Selbst die Reliquien wurden mit Gold und Edelsteinen geschmückt und an ausgesuchten Orten zur Schau gestellt: »Als daher mich einmal aus Liebe zum Schmuck des Gotteshauses die vielfarbige Schönheit der Steine von den äußeren Sorgen ablenkte und würdiges Nachsinnen mit veranlaßte, im Übertragen ihrer verschiedenen heiligen Eigenschaften von ma-

285

Das 12. Jahrhundert

teriellen Dingen zu immateriellen zu verharren, da glaubte ich mich zu sehen, wie ich in irgendeiner Region außerhalb des Erdkreises, die nicht ganz im Schmutz der Erde, nicht ganz in der Reinheit des Himmels lag, mich aufhielt, und [glaubte,] daß ich, wenn Gott es mir gewährt, auch von dieser unteren [Region] zu jener höheren in anagogischer Weise hinübergetragen werden könne.« Georges Duby bringt die »Mechanik« auf den Punkt: »Mit Gemmen überzogen, thronen die Gebeine des heiligen Dionysius […] im Licht seiner eigenen Theologie.« Suger versuchte unübersehbar, den Vorwurf des übertriebenen Luxus, insbesondere aus der Ecke der zisterziensischen Asketik, geradewegs ins Gegenteil zu verkehren. Er führte philosophische und theologische Argumente ins Treffen. Nicht nur ein reines Herz und gläubige Absicht seien Voraussetzungen, sondern auch die äußere Schönheit der heiligen Gefäße sei Zeichen der inneren Reinheit und zugleich Hilfe dafür, sie zu erlangen. Dies, zumal das (Kunst)Werk das Material übertraf (materiam superabat opus). »[…] ich sage, daß mir folgendes vornehmlich angemessen schien: daß alles, was besonders kostbar ist […] dem Dienst an der hochheiligen Eucharistie gewidmet sein solle. Wenn nach dem Wort Gottes oder auf Geheiß des Propheten goldene Kannen, goldene Schalen, goldene Mörser dazu dienten, das Blut von Böcken, Kälbern oder einer roten Kuh aufzunehmen, um wieviel mehr müssen, um das Blut Jesu Christi aufzunehmen, goldene Gefäße, kostbare Steine […] in beständiger dienstbarer Ergebenheit und vollkommener Demut bereitgestellt werden! […] Es halten auch diejenigen, die dem nicht uneingeschränkt beipflichten, dagegen, für diesen Dienst müsse ein heiligmäßiger Geist, ein reines Herz, eine gläubige Absicht genügen.« Mit vielen Synonymen soll die gemeinte Bedeutung des Schönen – Belege für schön oder Schönheit finden sich kaum – beschrieben werden: decor, pulchritudo, venustas, speciositas. Insbesondere im Kirchenbau gab es in Spätantike und Mittelalter eine breite Architekturallegorese, die sich an die oben erwähnte vierfache Schriftdeutung anlehnte. Dazu wurden von den Autoren sämtliche einschlägige Stellen der Schrift als Quelle benutzt. Schwierig ist die Frage zu beantworten, ob und inwieweit die allegorischen Deutungen die Bauformen beeinflusst haben. In der gotischen Kirche wurde allem ein symbolischer Sinn zugeschrieben. Der Kirchenbau selbst symbolisierte den Tempel Salomons oder das neue Jerusalem, das Gewölbe war Abbild des Himmels, die Fenster erhellten das Kirchenschiff wie die Kirchenväter oder Apostel die gesamte Kirche. Das Glas ist der Geist dieser Lehrer. Die Dachziegel sind die Ritter, welche die Kirche beschützen. Der Turm ist die Beichte und Reue, die Glocken sind die Priester, die zum Gottesdienst rufen. Der Eingang ist der Glaube, durch den die Menschen zur Kirche gelangen. Das Portal ist Christus, durch den man zum Vater gelangt. Die Pfeiler tragen das Gewölbe wie die Apostel, Propheten und Bischöfe die Kirche, und das Licht ist Christus selbst. Eine dichte Versammlung solcher Allegorien findet sich in popularisierender Form bei Honorius Augustodunensis, der vorsichtig die Bilder verteidigte. Ihm zufolge seien die Fenster die Kirchenlehrer, die sich gegen Häresien stemmten und das Licht der wahren Lehre einströmen ließen.

Suger, De adm 345 Duby 1976, 179

Suger, De adm 342

Ebd., 347ff

Allegorese

Binding 1996; Bandmann 1951; Sauer 1924

Kitschel 1938

Stein-Kecks Heidrun in Wittekind 2009, 276

286

Das Mittelalter

Duran, zit. nach Aubert 1963, 97 Pevsner 1943, 114 Binding 1996, 384 Neuheuser 1993, 139

Kimpel/Suckale 1985, 7 Neuheuser 1993, 158 Durliat 1983, 52f Kimpel/Suckale 1985, 291; Kern 1982 Gurewitsch 1997, 74

Sedlmayr 1950, v.a. 141–164

Guillaume Duran sah in den Fenstern »die göttlichen Schriften, die das Licht der wahren Sonne, d. h. Gottes, in der Kirche, d. h. im Herzen der Gläubigen verbreiten und sie alle erleuchten.« Sogar der Mörtel erhielt eine theologische Deutung. Der Kalk sei die himmlische Liebe, der Sand die Bürde der Welt, das Wasser die Vereinigung von beiden. Der Mörtel selbst wiederum verbindet die Steine wie die Liebe – eine Allegorie, die sich schon bei Augustinus findet. Bei der Grundsteinlegung des Ostchors soll der Zement mit dem Weihwasser der Kirchweihe angerührt worden sein. Der Schlussstein im Gewölbe oder der Eckstein, der die Wände verbindet, ist Christus selbst. Der Schlussstein im Gewölbe des Chors in Amiens trägt das Christusbild. Der Chorumgang war nicht nur Bild des Universums, sondern auch eines unaufhörlicher Sühne und Buße. Entstanden war er samt dem eingefügten Kapellenkranz, um möglichst vielen Menschen den Zugang zu mehreren Reliquien zu ermöglichen. Auch das Labyrinth tauchte wieder auf. Es wurde zu einer Ersatzwallfahrt, wo der Sünder auf Knien ins Zentrum rutschte. Zum Erlangen von Heiligkeit schien eine aktive Bewegung im Raum notwendig. Was indes bei dieser Allegorese keine Berücksichtigung fand, war der jeweilige Baustil der Gebäude. Die Symbolik galt für eine Basilika genauso wie für einen Zentralbau, für eine romanische Kirche ebenso wie für eine gotische. Im 13. Jh. wurde die Schematisierung der künstlerischen Ausstattung universeller. Die Nordseite der Kirche war dem Alten Testament, die Südseite dem Neuen Testament und die Westseite den letzten Dingen gewidmet. Und schon im Mittelalter tauchte die Proportion des Menschen als Ebenbild Gottes für das Kirchengebäude auf. Es ist Ausdruck der Makrokosmos-Mikrokosmos-Gleichung. Das Presbyterium repräsentierte den Kopf, der Chor die Brust, das Querschiff die Arme, das Längsschiff den Rumpf. Die Renaissance griff diese Schematisierung wieder auf und setzte dann freilich auf einen humanistischen Aspekt. St. Denis war Vorbild für zahlreiche städtische Kathedralen, für Le Mans, Bourges, Voyon, Laon, Paris, Soissons. Durch die enge Verbindung des französischen und englischen Hofs übernahm England rasch das neue Selbstverständnis, während neben Italien wegen der Verwurzelung in der antiken Tradition vor allem Deutschland aus politischen Gründen (im Erstarken der Kapetinger sah man eine Rivalität zum Kaiser) lange bei der Romanik blieb.

6.2.4. Cîteaux und die asketische Architektur der Zisterzienser Gegenüber der Prachtentfaltung Clunys bildete sich eine Gegenbewegung, deren Vorbild die Einsamkeit, die Handarbeit (im Sinne des ursprünglichen benediktinischen ora et labora) und die Bedürfnislosigkeit des Asketen- und Eremitentums war. Damit einher ging eine gegenüber Cluny massive Redimensionierung des Gebetslebens, was manche Kritiker als Verdrängung des Gottesdienstes durch den Weltendienst diffamierten. Intendiert war eine Ablösung der Feierlichkeit durch Askese. Vor solchem Hintergrund hatten auch ungebildete Laien (Konversen), vornehmlich als Arbeiter, ihren Platz im Kloster.

287

Das 12. Jahrhundert

Robert, Abt von Molesme, gründete in der Wildnis von Cîteaux (Cistercium) im Burgund 1098 als bereits Siebzigjähriger das neue Reformkloster, das der Benediktinerregel folgen sollte. Die Prachtentfaltung dort ablehnend, hatte man den Verband von Cluny verlassen. Ging es zunächst eher zäh voran, wuchs die Bewegung bald schneller, vor allem als um 1112 Bernhard mit drei Dutzend Gefährten eintrat. Nach zwei Jahren gründete er von dort aus das Kloster Clairvaux, dem er als erster Abt vorstand. Um das Todesjahr Bernhards gab es bereits 350 Klöster dieser neuen Spiritualität. 1790 wurde Cîteaux aufgehoben und zerstört. Bernhard, der bald zum neuen Stern der zeitgenössischen Spiritualität und Mystik werden sollte, war ein asketischer, von heiligem Zorn beflügelter Mann. Er wurde zum Sprachrohr einer neuen monastischen Bewegung, die gegen jeden Luxus kämpfte, gegen weltlichen Ruhm der römischen Kurie und für die Kreuzzüge, vor allem den gescheiterten zweiten (1147–1149). In seiner Schrift De laude novae militiae legitimierte er – wie schon erwähnt – die neuen Ritterorden, die im Heiligen Land gegründet wurden. Ihre Angehörigen würden – anders als die zeitgenössischen Ritter, deren Burgen durch eine erste höfische Kultur zu glänzen begannen – weder lachen noch überflüssige Worte verlieren, Jagd und die Vogelbeize ebenso verachten wie Heldenlieder und Gesang. Bernhard geißelte die Andersgläubigen, die es zu vernichten galt, den heiligen Kriegern wurde dafür das Paradies versprochen: Ein Ritter Christi »tötet mit gutem Gewissen […]. Wenn er stirbt, nützt er sich selber; wenn er tötet, nützt er Christus.« Die neue Bewegung richtete sich in ähnlicher Weise wie die zahlreichen häretischen Reformatoren gegen die glänzenden Städte, die reich gewordenen Kleriker, den aus ihrer Sicht nutzlosen scholastischen Unterricht, gegen Paris, der Verderberin der jungen Geister, und jedes Disputieren über die Heilige Schrift. Viel Kraft bezog der neue Orden aus der Mystik des Augustinus. Dazu kamen einige Lehrer aus Chartres und mit ihnen der Geist des Neuplatonismus. Bernhards hochzeitliche Metaphern feiern die mystische Liebe. Schon die Predigten Fulbert von Chartres, mehr noch jene Bernhards, förderten den bisher stärker im Orient verbreiteten Marienkult. Angeblich hatte auch der Abt von Saint Denis, Suger, für den Dom Notre Dame in Paris ein Fenster mit einem Marienmotiv (möglicherweise eine Marienkrönung) gestiftet. Dass Suger eine wesentliche Rolle in der Verbreitung der Muttergottes-Darstellung gespielt hat, wird in der neueren Literatur aber bezweifelt. Die Marienverehrung entwickelte sich parallel zum Topos der Verehrung der Damen im höfischen Lied und im Spiel der ritterlichen Welt im säkularen Bereich. In der Ikonographie rückte – zaghaft bereits in der Romanik beginnend – die Muttergottes-Darstellung an Orte, die bisher Christus vorbehalten waren, in die Apsis und an die Portale. An der Westfassade waren unterschiedliche Mariendarstellungen zu sehen. Maria thronte neben Christus als Himmelskönigin (S. Maria in Trastevere). Sie erscheint nach dem Hohen Lied auch als Braut Christi (die Kirche symbolisierend) und als wahre Weisheit (auf dem Thron). Erstmals tauchten Darstellungen der Himmelfahrt Marias auf, ein Gedanke, der im 12. Jh. populär wurde. Bernhards Meditationen über den irdischen Christus prägten das Ecce Homo-Motiv. Christus rückte mehr und mehr als der Leidende ins Bild.

Bernhard von Clairvaux

Lawrence 1984, 89

Bernhard, Ad mil 277

Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 118 Marienverehrung

Schmidt 1981, 237f

288

Das Mittelalter

asketische ­Spiritualität

Tatarkiewicz 1980, 217 367 Zisterzienserabtei Sénanque (12. Jh.); Provence

Bernhard, Ad Guid 783

Oursel Raymond in Grégoire u.a. 1985, 140

Bernhard, Ad Guill 193

Ebd., 195ff 6.2.3. Suger, De adm 345

Bernhards Spiritualität hatte einen großen Einfluss auf die Kunst und eine ho­ he ästhetische Qualität. Sie lässt sich am besten in seinen Sermones super Cantica canticorum (Predigten über das Hohe Lied) und in der umfangreichen Briefliteratur nachvollziehen. Die innere Schönheit genießt gegenüber der äußeren Schönheit eine klare Priorität. Die Schönheit der Seele ist Reinheit, Helligkeit, Demut – so fasste Thomas von Cîteaux in einem Kommentar zu den Cantica die Ästhetik zusammen. Die Themen der Kunst wurden sozusagen weicher: die Beziehung zwischen Christus und seiner Mutter, das Thema Seele, das Motiv der Brautmystik. Bernhard kämpfte mit seiner asketischen Ästhetik gegen die Theologie und Ästhetik des Luxus (vor allem von St. Denis), die als Verherrlichung Gottes legitimiert wurden. Aus der Sicht Bernhards richtete sich sein Kampf aber gegen Eitelkeit, Prahlerei und Neugierde, gegen die Sucht nach Abwechslung und Neuem, gegen eine Kunst des Vergnügens, die nicht die Herzen erhebt: »[…] weil es sich nicht geziemt, bei der Festfeier etwas Neues, Unbedeutendes zu hören, man sollte eher bei dem Bewährten und Alten bleiben […].« In die 1152 erschienenen Statuten des Ordens fanden Regeln für eine möglichst einfache Buchgestaltung Eingang. Dies geschah knapp zwanzig Jahre nach dem Tod 1134 des 3. Abtes von Cîteaux, Stephan Harding, der im Kloster nicht nur eine Bibliothek aufgebaut, sondern sich um eine blühende Buchkunst große Verdienste erworben hatte. Die etwa zwei Dutzend in seiner Amtszeit illuminierten Handschriften orientierte sich mehr an den Vorbildern von Cluny als an den Vorschriften Bernhards. Weiter polemisierte Bernhard in seinem Brieftraktat Apologia ad Guillelmum Abbatem (1125) gegen »die grenzenlose Höhe der Bethäuser, ihre übermäßige Länge und unnötige Breite […]. Dies alles zieht den Blick der Betenden auf sich und hindert die Andacht.« Besonders vehement ging er, neben der reichen Kirchenausstattung, gegen die Darstellungen der romanischen Skulptur vor: »O Eitelkeit über Eitelkeit, aber nicht weniger wahnwitzig als eitel! An den Wänden zeigt die Kirche ihren Glanz, an den Armen ihre Knickrigkeit. Ihre Steine bekleidet sie mit Gold, ihre Kinder läßt sie nackt. […] was haben diese Dinge mit den Armen zu schaffen, den Mönchen, den Männern des Geistes? […] wozu dienen in den Klöstern, vor den Augen der lesenden Brüder, jene lächerlichen Mißgeburten, eine auf wunderliche Art entstellte Schönheit und schöne Scheußlichkeit? Was bezwecken dort die unflätigen Affen, die wilden Löwen? Was die widernatürlichen Zentauren, die halbmenschlichen Wesen, die gefleckten Tiger?« Abt Suger von St. Denis reagierte auf all diese Anwürfe, die ja auch ihm galten, und drehte – wie bereits erwähnt – das Argument geradewegs um, wenn er die anagogische Funktion des Schmuckes, der von den Alltagssorgen ablenke und zur Kontemplation helfe, ins Treffen führte. Bernhard war ein Vertreter der Lichtmystik wie Suger, allerdings des asketischen, klaren, weißen Lichts. Diese Weißheit –

289

Das 12. Jahrhundert

in der Offenbarung schreiten die Heiligen in weißen Gewändern einher (Offb 4,6) – hatte eine breite Tradition in der Kommentierung der Väter. Nach der Regel des Ordens durfte die Leere der Kirche nur durch Kruzifixe durchbrochen werden. Allein der mystische Aufstieg ins jenseitige Ziel der seelischen Liebe zählte noch. Die Rigorosität dieser asketischen Architekturnorm ermöglicht noch heute in den unverändert erhaltenen Klöstern der Zisterzienser eindrucksvolle Raumerlebnisse. Die Forderung nach einem schmucklosen Weiß in Sakralgebäuden wurde in der Renaissance, wo die drei Kunstgenres Architektur, Malerei, Bildhauerei sich zwar begegneten aber nebeneinander blieben, wieder aufgenommen. Diese vor allem in den mystischen Texten der Cantica Canticorum entwickelte Ästhetik brachte gegenüber den romanischen Schreckensdarstellungen eine neue Dimension einer Lichtmystik, eine der Reinheit und Ethik, wie sie als platonischer Geist über Augustinus zu Bernhard gekommen war. Die Schau in diesem Licht »erschreckt nicht, sondern besänftigt, sie erregt nicht die unruhige Neugierde, sondern beschwichtigt sie, sie wühlt die Sinne nicht auf, sondern bändigt sie.« Bernhards Ästhetik des Einfachen und Notwendigen konterkariert die Schreckensdarstellungen der romanischen Kirche, von Cluny noch als reinigende Symbolik betrachtet, durch eine Licht- und Liebesmystik. Schreckenverzerrte Figuren passen nicht mehr in die im Altarsakrament täglich gefeierte Anwesenheit Christi. »Auf dieser Wandlung beruht überhaupt die ›evangelische‹ , menschliche Ikonographie des frühen 13. Jahrhunderts.« Dort knüpfte Bernhard eine Christus- und Kreuzestheologie an, die von einer Passionsfrömmigkeit getragen wird und viel Einfluss auf die spätere Mystik ausübte. Die Zisterzienser verzichteten auf die Krypten und erhoben die Reliquien in Schreine zur Anschauung durch die Gläubigen. Der Heiligenkult wurde ab dem 12. Jh. in die Liturgie einbezogen. Die Krypta hatte als Ort der Reliquie eine lange Geschichte, die im 9. Jh. begann. Im 10. und 11. Jh. kam es zu Höhepunkten in der Kryptengestaltung in Köln, Speyer und vereinzelt in Oberitalien, wovon das schöne Beispiel einer mit 100 Säulen gestalteten Krypta (geweiht 1174) im Dom von Gurk (1140–1200) erhalten ist. In Frankreich hatte die Krypta kaum eine Bedeutung (mit der prominenten Ausnahme der Königsgruft in St. Denis, die freilich eher eine lichte Unterkirche war). Nach Hans Sedlmayr musste die gotische Kathedrale die Krypta »ihrem ganzen Wesen nach ablehnen«, weil sie der Lichtmystik ebenso widersprach wie der Idee des Baus als Abbild des Himmels. Sedlmayrs Gotik-Deutung ist freilich auch gespeist von seiner Verehrung des Mittelalters als Zeit der harmonischen Ganzheit, die er, der konservativ-katholische Kunsthistoriker, gegen die brüchige Neuzeit, die jede Mitte verloren habe, absetzte. Insofern sah er in der Kathedrale kein Kunstwerk einer sinnlichen Wahrnehmung, sondern ein transzendierendes geistiges Erfassen, eine »›Vision‹ des Ganzen«.

368–369 Zisterzienser­abtei Silvacane, Provence; Refektorium und Kirche

VI.7.2.

Bernhard, Cantica 347

Sedlmayr 1950, 309 Thies 2007b, 88ff Zisterzienser Wenzel 1995, 103

Krypta

Sedlmayr 1950, 231

Ebd., 83

290

Das Mittelalter

Kimpel/Suckale 1985, 58 Fronleichnamsfest

Tripps 1998, 136f Sedlmayr 1950, 509 Wenzel 1995, 99 Nicolai 2007, 20 Kretzenbacher 1997, 27

Bynum 1992, 127ff Wenzel 1995, 109ff Bynum 1992, 62

Jungmann, zit. nach Sedlmayr 1950, 306

Unabhängig davon dürfte die Deutung dieses geistigen Transzendierens für die Gotik zutreffend sein. Es ging um eine »Sakralität des Sehens«. 1264 stiftete Papst Urban IV. das Fronleichnamsfest und 1317 wurde es allgemein eingeführt. Es ritualisierte eine verbreitete Meinung, dass bereits das Anschauen der Hostie heilbringend sei. Anfang des 13. Jh.s wurde die Elevation der Hostie unmittelbar nach der Wandlung zu einem neuen Mittelpunkt der Eucharistie, man möge sozusagen auch in visu kommunizieren. Es sind Berichte erhalten, wonach Gläubige nach der Elevation die Kirche verließen, weil sie durch die Schaukommunikation bereits gesättigt waren. »Die Volksfrömmigkeit des Mittelalters ist eine Schau-Frömmigkeit […].« »Eine sublimierte Sinneserfahrung von Augen und Ohren löste das Haptische zugunsten des Visuellen ab.« Und das Fronleichnamsfest, »das ganz sicher von der Mystik der vorangegangenen Epochen und Persönlichkeiten genährt« worden sei, erhielt gerade deswegen eine hohe Autorität. Mystikerinnen, die einen regelrechten Kult der mystischen Vereinigung und Ekstase mit dem Essen des Fleisches Christi verbanden, wussten oft nicht mehr anzugeben, ob ihre Kommunion real oder nur mystisch in visu erfolgt war. Sie hatten ihre Ekstase (die wie im Fall der Zisterzienserin und Verehrerin der Eucharistie Ida von Louvain 13 Tage andauern konnte) bereits bei der Elevation. Für sie wurden die Kirchen zu einem intensiven Geschmacksraum. Die stigmatisierte Lidwina von Schiedam lehnte die Aufnahme der Hostie mit dem Hinweis ab, Christus selbst habe sie ihr bereits in einer Vision gereicht. In dieser Intensivierung der Schau könnte man auch eine der Kirche nicht ungelegen kommende Gegenbewegung zum zunehmend empirischen Blick der spätmittelalterlichen Philosophie vermuten. Jener Blick war auf die reale Welt ausgerichtet, angereichert mit den antiken und arabischen optischen Theorien, dieser jedoch auf Christus selbst. Freilich entging der visionäre Blick dann doch nicht ganz den Vorboten der Neuzeit, war er doch subjektiv und körperlich. Hinter dem Ganzen stand religionsphilosophisch das Bestreben, die Gegenwart Gottes zu zelebrieren, der in der Eucharistie gegenwärtig ist. »Aus der Eucharistie ist eine Epiphanie geworden […]«, meinte der große Liturgiker Andreas Jungmann. Bernhards spirituelle Ästhetik prägte vor allem die schlichte zisterziensische Architektur über Jahrhunderte. Es war eine Architektur, die ihre Spuren weit in die Profanarchitektur (Festungs- und Wirtschaftsbauten) zog. Wer heute eine der zisterziensischen Kirchen aus dieser Zeit betritt, mag bedauern, dass sich der künstlerische horror vacui auch dieser Kirchen bemächtigt hat. Die Tradition, die nur mit Raum und Licht arbeitete, nähme heute sicherlich einen besonderen Platz ein. Denn die schlichte Ästhetik der asketischen Räume, die reine architektonische Form, besticht den heutigen Geschmack durch ihre überwältigende Kraft doch mehr als die mit Bildern, Skulpturen, buntem Marmor vollgestellten Sakralräume. In der Kunst wurden die Vorgaben weniger streng befolgt. Insbesondere in der Buchmalerei erreichte Cîteaux ein hohes Niveau, ebenso in der skulpturalen Kunst, vor allem in Kreuzgängen und Kapitelsälen. Schließlich war gegen Ende des 12. Jh.s auch Cîteaux den weltlichen Sitten verfallen. Etliche Zisterzienser trugen die Mitra

291

Das 13. Jahrhundert

und bauten ihrerseits prächtige Kathedralen, was wiederum den neuen Bettelorden Raum zur Entfaltung gewährte.

7.0. Das 13. Jahrhundert Im 13. Jh. setzte sich der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung fort. Es bildete sich eine Stadtkultur, die ihres Namens würdig war. In den Städten wuchsen neue Bildungszentren, die Universitäten. Diese im Schoß der Kirche entstandenen Einrichtungen sprengten letzten Endes die mittelalterliche Kultur mit ihrer christlich-religiösen Sinngebung. Man könnte zum Schluss kommen, dass die Kritiker der Stadtkultur aus Cîteaux oder aus den Bettelorden die Kraft der Aufklärung gar nicht falsch eingeschätzt hatten.

7.1. Kontexte In dieser neuen dynamischen Welt entwickelten sich ein Zeitgefühl und eine Neugierde, die sich den Dingen der Natur zuwandte. Es wuchs die Einsicht, dass die Welt größer und vielfältiger war, als man das bisher geahnt hatte, und dass der endgültige Sieg des Christentums noch in weiter Ferne lag. Diese Einsichten waren nicht zuletzt eine Folge des Einfalls der Mongolen, die aus dem Fernen Osten sengend und mordend herandrängten. Obwohl bereits Gerüchte und phantastische Geschichten kursierten, war ihre Herkunft lange unklar, man nannte sie Tartaren (die aus dem tartaros). Der plötzliche Tod des Großkhans Ügedai 1241 wandte das Schicksal des schutzlos dem Ansturm ausgelieferten Abendlands in letzter Minute. Die irrationale Weltuntergangsstimmung durch die Mongoleninvasion verstärkte zusammen mit dem Märchen, die Mongolen seien die verschollenen Stämme des israelitischen Nordreichs, den latenten Antisemitismus im Mittelalter. Er verband sich mit Legenden von Ritualmord und Hostienfrevel. Die positive Seite des abgebrochenen Mongolensturms war ein im Gefolge der Ereignisse eingetretener Schub an globalem Handel. Man ließ die Kreuzzüge bleiben und begann zu entdecken, zu missionieren und Geschäfte zu machen. »Das Zeitalter von Puristen wie dem heiligen Bernhard, einem der eifrigsten Kreuzzugshetzer, ging zur Neige.« Die sagenumwobene Reise des 17jährigen Marco Polo mit Vater Niccolo und Onkel Maffeo (die bereits 1266 am Hof der Mongolen in Peking gewesen waren) 1271 erschloss endgültig den Handels­weg nach Fernost. Die Kaufmannssöhne lernten Arabisch, die Sprache der fortschrittlichsten Handelspartner, mit denen namentlich die Italiener profitable Geschäfte machten. 1202 fasste Leonardo da Pisa, Fibonacci (vermutlich erst im 16. Jh. von filio Bonacci abgeleitet), in seinem Liber abaci die arabische Lehre der Algebra zusammen, darunter auch die Berechnungsvarianten des goldenen Schnitts. Die arabische Algebra hatte er als Handelsdelegierter

Mongolensturm

II.3.2.2.

Roeck 2017, 229

370 Fibonacci am Campo Santo in Pisa (1863)

292

Das Mittelalter

Frugoni 2003, 57f Brotton 2002, 42ff

Grabar 2006a, 43–67, hier 47

Friedrich II.

371 Castel del Monte Schirmer 2000

Gregorovius 1875, 174 Gerster 2001 Simson 1972, 27 Rader 2010, 198

im heutigen Algerien und bei zahlreichen Reisen in arabische Länder in den dortigen Traktaten gefunden. 1226 traf er in Pisa mit Friedrich II. zusammen. Fibonacci ging als großer Mathematiker, der das Ziffernrechnen und damit auch die Null nach Europa brachte, in die Geschichte ein. Seine Motivation war schlicht die Vereinfachung der Buchhaltung für den Handel. Aber mit dem goldenen Schnitt hinterließ er ein Vermächtnis für zahlreiche Künstler bis in die Gegenwart. Die Verflechtung von Handelsbeziehungen und Kulturaustausch ist eine komplexe Fragestellung. Der Handel mit Gewürzen, Baumwolle und Stoffen umfasste nicht automatisch einen Austausch von Kunst und Architektur – so bringt das Oleg Grabar pointiert auf den Punkt. Aber ebenso klar ist, dass auf diesem Wege auch ein Kulturaustausch stattfinden konnte – wirtschaftlicher Austausch ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Grundlage für kulturellen Austausch. Mit Sizilien lag ein Stück Orient mitten im Mediterran. Durch eheliche Verbindung kam ein blutjunger König auf den dortigen Thron, ein Enkel Friedrich Barbarossas. Mit Friedrich II. von Hohenstaufen kehrte das römische Imperium zum Mittelmeer zurück. Friedrich regte eine kaiserliche Kunst an. Sie sollte Orient und Okzident gleichermaßen verbunden sein. Der mehrfach exkommunizierte Feind der Kirche baute statt Kirchen Burgen. Etwa 300 Neu- oder Ausbauten werden ihm zugeschrieben, darunter gerade einmal eine einzige Kirche (Altamura in Apulien). Im rätselhaften oktogonalen Castel del Monte (Castrum apud sanctam Mariam del Monte), in dem die Typik von Jagd- und Lustschloss, Landhaus und Castrum verschwimmen, ließ Friedrich Kaiserkrone und himmlisches Jerusalem zusammenfallen. Schon Ferdinand Gregorovius hat im 19. Jh. die vermutlich bewusst symbolische Bedeutung dieses Bauwerkes erkennen wollen, wenn er es als weithin sichtbares Herrschaftszeichen, als »die unermessliche Ebene beherrschendes Wahrzeichen« interpretierte: »Wie das Diadem des Hohenstaufenreichs, das herrliche Land krönend, erschien es mir, wenn es die Abendsonne von Purpur und Gold funkeln ließ.« Diese architektonische Metapher regte zu vielen Deutungen an. Georg Gerster nennt es ein »architektonisches Mandala, das zwischen Erde (Quadrat) und Himmel (Kreis) vermittelt.« Es ist unklar, ob Friedrich die Burg, die vielleicht von zisterziensischen Meistern gebaut wurde, je gesehen hat, aber sie gilt als die »reifste Schöpfung staufischer und süditalienischer Baukunst«, ja als eines »der bedeutendsten mittelalterlichen Architekturdenkmäler überhaupt.« Friedrich strebte auch im Rechtswesen die Nachfolge der antiken Tradition an. In seinen Konstitutionen von Melfi kodifizierte er 1231 einen Rechtsbestand für sein Königreich Sizilien und stellte sich mit diesem Rechtscodex in die Reihe mit Justinian. Auf dem (leider weitgehend zerstörten) Brückentor von Capua (um 1235) ließ er die Figur der Iustitia mit Rückgriff auf den göttlichen Herrscher im Hellenismus als Allegorie der gerechten Herrschaft thronen. An seinem Hof in Palermo versammel-

293

Das 13. Jahrhundert

te er eine illustre Schar von Künstlern und Dichtern (darunter war auch der Bruder des Thomas von Aquin, der Dichter Rainald von Aquin), die sich – etwas Neues zu dieser Zeit – weltlichen Themen zuwandten. Mit diesem Kreis wird der Beginn der italienischen Nationalliteratur verbunden. Viele, so auch der dem George-Kreis angehörige Friedrich-Biograph Ernst Kantorowicz, sahen in ihm das Ideal des Künstlerherrschers. Sicher ist, dass Friedrich ein leidenschaftlicher Sammler von Büchern war, darunter kostbare Kunstwerke wie das Bäderbuch Über die Bäder von Pozzuoli (De Balneis Puteolanis) des Petrus von Eboli, in dem erstmals die medizinische Wirkung von Heilquellen beschrieben wurde. Friedrich markierte aber auch durch sein Interesse an empirischer Forschung eine neue Zeit. Der begeisterte Falkner, der die größten und für die Beize geeignetsten europäischen, nämlich isländischen, Falken von Lübeck, wo sie gehandelt wurden, nach Italien holen ließ, verfasste unter Rückgriff auf arabische Vorlagen das berühmte Werk Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen (De arte venandi cum avibus). Eine zweite Jagdlehre war der Moamin (eine abgekürzte Form für Mohammed), eine Kompilation verschiedener arabischer Quellen. Olaf Rader nennt es ein »Paradebeispiel für den orientalisch-okzidentalen Wissenstransfer.« Friedrichs empirische Forschung war nicht nur Liebhaberei, er konnte auch zahlreiche verbreitete Irrtümer korrigieren. Die Profanierung der Herrschaftsformen durch die klare Trennung der Machtbereiche von Kaiser und Papst führte anfangs zu einer Stärkung des Papsttums. Es konnte sich gegenüber den Geschäften der irdischen Macht als besonders heilig darstellen. Ein Jahrhundert nach Friedrich und seiner heftigen Auseinandersetzung mit dem Papst hatte diese Institution auf das weltliche Leben ihren Einfluss weitgehend verloren. Der großflächige Umbau Roms unter den Päpsten der Renaissance und des Barocks, der den Machtanspruch sichtbar machen wollte, war eher Ausdruck einer inzwischen eingetretenen Ohnmacht. Innozenz III. bezeichnete sich zum ersten Mal nicht mehr nur als Nachfolger Petri, sondern als Stellvertreter Christi (vicarius Christi), was bis heute zur Papsttitulatur gehört. Er berief 1215 das 4. Laterankonzil ein, das die Ketzerei ausrotten und den wahren Glauben stärken sollte. Die alten Orden der Benediktiner, Kartäuser und Zisterzienser verloren ihre Kraft. Teilweise hatten sie sich an die weltlichen Vorgaben angepasst und erreichten das sich selbst genügende Getriebe der städtischen Kultur nicht mehr. An ihre Stelle traten die Bettelorden. Die Angehörigen der von Norbert von Xanten, Franz von Assisi und Dominikus gegründeten Orden suchten ein Leben in völliger Armut zu führen. Sie lebten ausschließlich von Almosen und waren nicht nach dem Pfarrprinzip organisiert. Ihre überregionale Organisation stärkte die zentrale Macht des Papstes gegenüber den Ortskirchen. Dies führte zwangsläufig zu Spannungen, die sich in andauernden Streitigkeiten entluden. Die Bettelorden rehabilitierten neuerlich die Handarbeit mit der betont positiven Sicht von Natur und Materie. In den Niederlanden bildete sich eine Terminologie heraus, welche die alte Frömmigkeit der Mönchsorden, die devotio antiqua, von der neuen, praxisorientierten Frömmigkeit,

Ebd., 295

Bettelorden

294

Das Mittelalter

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 106 7.3.2.

Eucharistielehre

Colpe 2008, 208f

Flasch 2007, 256–259

der devotio moderna, absetzte. Thomas von Kempen schrieb eine Imitatio Christi, sozusagen das Hauptwerk dieser neuen Frömmigkeit. Insbesondere die Franziskaner stellten mit der Ablehnung jeder Hierarchie im Orden die alte benediktinische Ordnung auf den Kopf. Auch die stabilitas loci war kein besonderer Wert mehr, mönchische Wanderprediger zogen durch die Lande und predigten auf den Plätzen der Städte. Der lokale Klerus bemühte sich um Kontrolle über die Klosterverbände, damit auch über die Tätigkeit der Künstler. »Wie in anderen Bereichen drängte die Weltgeistlichkeit die Mönchsorden in den Hintergrund.« Papst und Bischöfe beendeten das Vagabundieren, sammelten die Brüder in Konventen und machten aus ihnen Priester und Professoren. Sie bauten ihre Klöster mitten in den Städten, wo sie als Prediger in den geräumigen schlichten Hallenkirchen Stadt- und Aufklärungskritik betrieben und sie zu Orten der Volksfrömmigkeit machten. Die Bodenständigkeit der Bettelordenskirchen war (neben der Orientierung Italiens an den antiken Vorlagen) auch ein Beitrag für die Tatsache, dass die in Italien später einsetzende Gotik anders ausfiel als in Frankreich. Die Volksfrömmigkeit erhielt eigenständige Züge. Im 14. Jh. isolierten sie sogar die mächtige Bewegung der Scholastik. Solche Dezentrierung förderte spiritualistische und häretische Bewegungen, wie die Waldenser und Katharer, die in ihrer radikalen Kritik an den Verfehlungen der Kirche von manchen Einstellungen offizieller Orden freilich nicht so weit entfernt waren. Das 4. Laterankonzil 1215 beschloss das Dogma der Transsubstantiation gegen den Wildwuchs in der Eucharistielehre. Der Streit um die Eucharistie gründet in der Übersetzung des Kopula-losen Aramäischen und Hebräischen (das – mein Leib) in das Griechische: »Das ist mein Leib«, also der Überführung in eine Seins­ aussage. Erst die Substanz-Akzidenz-Lehre des Aristoteles ermöglichte die metaphysische Überhöhung eines ursprünglich nur symbolisch verstandenen Rituals, wie es etwa Berengar von Tours, ein Schüler des Fulbert von Chartres, vertreten hatte. Er stieß sich an der Abendmahlstheorie des Lanfranc von Bec, die von einer substantiellen Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi ausging. Nach dem dinglichen Substanzverständnis Berengars würde Christus dabei gekaut, verdaut und ausgeschieden werden. Berengar setzte dem ein nur symbolisches Verständnis entgegen, bei dem Christus nicht real in den eucharistischen Gaben anwesend sein konnte. Mit dem aristotelischen Substanz-Akzidenzverständnis lehrte die Kirche nun – freilich in seltsamer Verkehrung des Aristoteles –, dass bei gleich bleibenden Akzidenzen sich bei der Wandlung nur die Substanz verändern würde. Es war eine vor allem vom Volksglauben durchgesetzte Umwandlung einer symbolischen, abstrakten Hostie in einen greif- und erlebbaren Körper. Dementsprechend blieb schon bei den mittelalterlichen Theologen und Philosophen diese Lehre umstritten. Namentlich Dietrich von Freiberg beklagte darin einen Anschlag auf die Wissenschaft. John Wyclif sah in der Veränderung der Substanz konsequent die Zerstörung eines Stückes der Schöpfung Gottes durch diesen selbst. Das könne jedoch unmöglich so sein. Eine Kommission in Oxford rang sich unter massivem kirchlichem Druck zu einer knappen Mehrheit für eine Verurteilung Wyclifs durch.

295

Das 13. Jahrhundert

Die Transsubstantiationslehre war ein weiterer Schritt der Sichtbarmachung des mystischen Leibes Christi, der zudem die Schaubegierde der Zeit befriedigte. Und sie war damit ein kunstphilosophisch kaum zu überschätzender Paradigmenwechsel. Sie führte zu »neuen Liturgie- und Bildformen, in denen Zeigen und Verbergen, Wandlungsvorgänge und affektive Ergriffenheit des Betrachters eine zentrale Rolle spielten.« Zudem verlangte das Konzil, Reliquien nur mehr in Behältern zu zeigen. Das Reliquiar wird zum Schaufenster des realen Körpers Gottes. Reliquien wurden als die lebendigen Steine angesehen, aus denen die Kirche gebaut ist. Und Reliquien in den vielen Altären verwandelten die Kirche zu einem Versammlungsraum von Heiligen und Märtyrern. Ein aristotelisches Naturverständnis paarte sich mit der Schaumystik des alten Platonismus. Die Auseinandersetzung zwischen der kirchlichen und weltlichen Macht schärfte die literarische Polemik und die Argumentationskultur. Man argumentierte mehr und mehr innerweltlich und wandte sich auch innerweltlichen Kausalketten zu. Im 13. Jh. war die aristotelische Philosophie flächendeckend zu einem neuen Standard geworden. Anfangs schlug dem neuen, vermeintlich empirischen Denken großes Misstrauen entgegen. In Paris entbrannte heftiger Streit zwischen der kirchlichen theologischen Lehranstalt und der weltlichen Artistenfakultät, die Aristoteles frei und aufklärerisch rezipierte. Die Laien mischten sich mehr und mehr in das von der Kirche beanspruchte Feld der Bildung ein. »Wenn ein Laie erfolgreich mit einem Doktor der Theologie über Fragen der Lehre oder der Herrschaft der Kirche disputieren und dabei zur Verwirrung seines Gegners die Heilige Schrift, Augustinus, Gregor oder das kanonische Recht zitieren konnte, kam das kulturelle Monopol der Kirche ins Wanken.« Auch um die kirchliche Lehre gab es Streit. Die Kirche erließ daraufhin Lehrverbote von aristotelischen Texten. Bischof Étienne Tempier verurteilte 1277 die Physik des Aristoteles, die Schriften des Averroës und allgemein 219 Thesen, darunter einige, die Lehraussagen des Thomas von Aquin sehr ähnlich waren. Die diversen Verbote richteten sich zumeist gleichzeitig auch gegen antike Literaturstoffe ganz allgemein. Die Philosophie des Aristoteles veränderte nicht nur die Theologie grundlegend – die mystisch-anagogische Mönchstheologie wurde vom rationalen Argumentieren der Scholastik abgelöst –, auch Architektur und Kunst veränderten sich. Über die »Inkubationszeit« einer Sondierung von Platonismus und Aristotelismus in den Domschulen hinweg, kam es zur Befreiung der Skulptur aus der Gebundenheit an das Bauwerk und zur Naturalisierung der Figur. In der Architektur begann die Gotik in der Île-de-France und kam dem Bedürfnis nach einem einheitlichen Ordnungsmuster in der divergent gewordenen Welt entgegen. Sie breitete sich schnell nach England aus – vorbereitet durch den normannischen Stil. Ab der Mitte des 13. Jh.s kennen wir zahlreiche Namen von Architekten, die ein hohes Prestige besaßen und deren Leistungen entsprechend honoriert wurden. Kunsthistoriker schreiben ihnen ein Œuvre aufgrund des individuellen Profils ihrer Arbeiten zu. Es gab durchaus einen Wettbewerb (aemulatio) um eine individuelle künstlerische Handschrift. Ihre Mobilität war hoch und manche Architekten betreuten mehrere Baustellen.

Nicolai 2007, 14

Argumentationskultur

Thomson 1983, 184

Chenu 1960, 20

Gotik

6.2.3.

Klein 2007b, 88 Freigang 2007, 154

296

Das Mittelalter

Klein Bruno in Klein 2007a, 16f 7.3.2.

Martyr, zit. nach Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 143 Skulptur

Harbison 1995, 94ff

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 108

Es gab technische Fortschritte, um Kostenersparnis und Erhöhung der Baugeschwindigkeit zu erreichen. Eine Serienproduktion von Formsteinen und Standardisierungen bei den Fassaden setzte ein. Die Entwicklung der Architekturzeichnungen nach 1200 ermöglichte eine bessere Planung. Bisher geschah die Kommunikation am Bau vor allem verbal, mit Unterstützung von Modellen oder dem Appell an bestimmte Vorbilder. In der Bildhauerei war der Übergang von der Romanik in die Gotik grundsätzlich weniger scharf, ein weites Feld für die Kunsthistorikerinnen. Die neuen Mönchsorden waren nur bedingt fruchtbare Orte von Architektur und Kunst. Ihre Kirchen waren betont einfache und schmucklose Backsteinbauten, Motivation für Bildhauer und Maler kam erst mit dem Impuls, die Kirchen mit weitschweifigen Freskenerzählungen auszustatten, welche die Predigten bildlich unterstützen sollten. Auch das plastische Werk erhielt – unter der Aufsicht des Domkapitels – eine didaktische Aufgabe. Die Außenfassaden boten Platz für eine Enzyklopädie der gesamten christlichen Welt. Ein armenischer Bischof namens Martyr pilgerte im 15. Jh. nach Santiago de Compostela und kommentierte das, was er an der Kathedrale – hauptsächlich aus der Werkstatt des berühmten Meisters Mateo – zu sehen bekam, folgendermaßen: »Über der Pforte […] sieht man Christus auf einem Thron und eine Darstellung all dessen, was seit Adam geschehen ist und bis zum Ende der Welt geschehen wird.« Immer mehr Teile der Kathedrale wurden mit Skulpturen besiedelt. Nicht mehr eine anagogische Funktion stand hier im Vordergrund, sondern die Kirchenwand begann zu erzählen. Die Ablösung der Skulptur von der Architektur hatte gewissermaßen in der Organisation der Künstler eine soziologische Parallele. Die Trennung der Metiers Bildhauer, Steinmetz und Baumeister setzte ein. Auch im Christusbild schlug sich der Umbruch nieder, wie in 5.3.2. überblicks­ artig berichtet. Christus wurde als Mensch dargestellt und von der Gloriole, die in der Romanik als Symbol seiner göttlichen Transzendenz unabdingbar war, befreit. Der thronende Christus trat zugunsten des Typus des Leidenden zurück. Mit den menschlichen Zügen gewann dieser Christus an Individualität, die an die Stelle eines universalisierten Typus trat. Diese Entwicklung kam der privatisierten Mystik des Spätmittelalters entgegen. Im Norden hielt sich diese Art von Frömmigkeit noch bis in die Renaissance hinein und zeitigte in der Kunst einen Niederschlag. Ähnlich wie in der Philosophie der Scholastik gab es auch in der Kunst ein labiles Gleichgewicht zwischen Natur und Übernatur, dogmatisch formuliert: zwischen Gott- und Menschennatur des Christus: »Deshalb gelangte die Skulptur hier in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts für einen kurzen Augenblick zu einem bewundernswerten, fragilen Gleichgewicht zwischen Realismus und Abstraktion, zwischen natürlicher und übernatürlicher Welt.« Die Befreiung der Figur führte zu einem Wiederauftauchen der Monumentalplastik schon seit dem 12. Jh. – nicht auf dem Stadtplatz wie in der Antike, sondern in der Kathedrale und im Kreuzgang. Eines der größten noch erhaltenen gemalten Kruzifixe schuf Paolo Veneziano vermutlich um 1350 für die Dominikanerkirche in Dubrovnik. Es misst 5 mal 4,70 Meter. Als ob es einen Niederschlag der oben angesprochenen Fragilität gegeben habe, hatten die Bildhauer

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Das 13. Jahrhundert

das Problem, die freistehende Figur in einen sicheren Stand zu bringen. Der mittelalterliche Künstler kannte nicht den antiken Kontrapost, der das Problem in der Renaissance lösbar machte. Daher sieht man im Mittelalter häufig seltsam verdrehte Fußstellungen, um der Skulptur das Stehen zu ermöglichen. Die verstärkte Individualisierung fand einen ebenso konsequenten wie – aus heutiger Sicht – befremdenden Niederschlag in der Rechtspraxis. Wahrheitsbeweise wurden früher durch den Schwur von Eideshelfern, also kollektiv (in karolingischer Zeit gab es noch Gottesurteile) geleistet. Die neue Form verlangte ein individuelles Geständnis. Um es zu erhalten, kam die Folter zum Einsatz. Analog traten an die Stelle einer (auch kollektiv aufbringbaren) Geldbuße Körper- und Verstümmelungsstrafen. Man konnte die Stärkung des Individuums an den Figuren der Portale der Kathedrale sehen, wie »jeder Einzelne durch seine persönliche Sünde bestraft oder aber durch deren Buße erlöst […]« wird. Eine ganz andere Konsequenz der Individualisierung war die schon erwähnte Liebesmystik. Religiös war sie vor allem vom Marienkult geprägt. In der profanen Literatur wurde das Liebeswerben um eine Frau zu einem beliebten Stoff. Der Held des höfischen Romans musste sich im Rahmen der ritterlichen Kultur zur Eroberung der Frau bei Abenteuern bewähren. Der Erfolg war dann »Besitz« des Helden, der durch seine Abstraktheit nicht einem Lehensherrn abgetreten werden musste. Das ritterliche Turnier wurde in adeligen Kreisen zu einem zentralen Ereignis. Die Kirche und um das Seelenheil eifrig bemühte Theologen wie Bernhard von Clairvaux bekämpften diese ritualisierte Institution, weil sie erotischen Interessen diente und dem Ehebruch Vorschub leistete. Später haben auch Renaissancehumanisten dieses typisch mittelalterliche Gesellschaftsspiel lächerlich gemacht. Ob denn ein Cicero je an solchen Turnieren teilgenommen hätte, soll Petrarca spöttisch gefragt haben. Die Geschichte von Partner und Partnerin wurde zum literarischen Topos. Berühmte Beispiele waren die Paare Tristan und Isolde oder Abaelard und Héloise. Dieser neuen Rolle der Frau entsprach die Eleganz im Literarischen und allgemein im Lebensstil. Frankreich hatte die Führung in den literarischen Genres übernommen. Ein Höhepunkt der Minnelyrik stellte der von Guillaume de Lorris gegen 1236 begonnene und von Jean de Meung fortgesetzte allegorische Versroman Roman de la Rose dar, der auf etliche Motive und Allegorien der Antike anspielt. Christine de Pizan, eine der bedeutendsten Dichterinnen Frankreichs, beklagte 1399 die würdelose Beschreibung der Frauen in diesem Roman. War das ein früher Feminismus oder ein Klammern an mittelalterliche Vorstellungen gegen den neuen freien Umgang des Renaissance-Humanismus? Jedenfalls lag in diesem Einfallstor der (heidnischen) Erotik eine jener Grundlagen, die später als Renaissance (Wiedergeburt) Auferstehung feierten und deren mittelalterliche Wurzeln vergessen wurden. »In den erotischen Kulturformen lag das wahre Heidentum.«

Klotz 1997, 57

Dinzelbacher/Werner 2007, 36 Geese Uwe in Toman 2007a, 311 6.2.4.

Huizinga 1919, 80f

Ebd., 359

298

Das Mittelalter

7.2. Die Scholastik

Schmidinger 2000a, 31f

Grabmann 1909, 259

auctoritas und ratio

Scholastik und ­Mönchstheologie

Köpf 1996a, 99f 7.2.2.1.

Gössmann 1971, 19

In einschlägigen Kreisen gibt es eine Diskussion darüber, wann die Theologie als Wissenschaft begonnen habe. Viele Autoren sehen diesen Beginn mit der Herausbildung rationaler Methoden, also mit der Scholastik und der damit verbundenen Situierung der Theologie an der Universität. Die Literatur der Väter, die Jahrhunderte währenden Streitigkeiten um die Christologie samt den die wichtigsten Fragen entscheidenden Konzilien, auch jene nach dem methodischen Rahmen der artes liberales in der alten spätantiken Fassung sich richtenden theologischen Bemühungen wären demnach keine theologische Wissenschaft im engeren Sinn gewesen. Ein Kapitel in dieser Debatte ist die Gegenüberstellung von scholastischen Kathedralschulen und alter Mönchstheologie. Die Scholastik richtete sich als städtisches Wissenssystem, anders als die kontemplative, spirituelle Mönchstheologie, nach außen, kommunizierte in ihrer universellen Wissenssprache Latein mit der Welt und suchte nach dem Leitspruch Anselm von Canterburys – nach Martin Grabmann der »wahre Vater der Scholastik« – fides quaerens intellectum (der Glaube, der den Verstand sucht), eine vernünftige Begründung für die vertretene Glaubenslehre. Als Legitimationsinstanz wuchs neben der auctoritas die ratio heran. Der heilige Text ist zwar an sich wahr, aber erst die weitere Untersuchung kann aufzeigen, in welcher Hinsicht er wahr ist. Die Auslegung musste sich an Prinzipien halten, die so allgemein sind, dass sie für Wissen universell gelten. Wollte man einen Vergleich mit dem zeitgenössischen Baustil der Gotik heranziehen, könnte man feststellen, dass die Argumentationen der Scholastik durch ähnlich hohe Transparenz ausgezeichnet waren wie die Bauweise der gotischen Kathedrale. Im 14. Jh. kam zu diesen Legitimationsformen noch die empirische Erfahrung dazu und bereitete den Boden für die Renaissance. Natürlich wurde vor der Folie einer solchen Suche nach Legitimation erst richtig bewusst, dass Glaube und Wissen von sich aus in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Konfrontation von Scholastik und Mönchstheologie manifestiert sich bis heute in Fragen wie jener auch schon im Mittelalter diskutierten, ob Bernhard von Clairvaux Theologe war oder »nur« Mystiker, Prediger und erbaulicher Schriftsteller. Anschaulich wird das im gut dokumentierten Streit Bernhards gegen Abaelard. Bernhard siegte in dieser Auseinandersetzung weniger auf der Ebene des Arguments als vielmehr durch sein diplomatisches Geschick und seine gute Netzwerkarbeit. Es war ein in der Kirche sich noch öfter wiederholendes Fanal, wo einerseits die vermeintliche Reinheit des Glaubens gegen die begriffliche Oberflächlichkeit einer nur wissenschaftlichen Schultheologie ausgespielt wurde, andererseits Bernhards Programm als rückwärtsgewandtes Verhindern wissenschaftlicher und methodischer Stringenz denunziert werden konnte. Jenseits interessengeleiteter Positionen kann es kaum Argumente geben, nicht auch die Bemühungen der verschiedenen Klostertraditionen als eigenständige Mönchstheologie zu würdigen, denen durchaus reizvolle Aspekte im Gegensatz zur anhebenden Scholastik abgewonnen werden können. Der Begriff einer »monastischen Theologie« stammt von Jean Leclercq, der neben Étienne Gilson zu einem wichtigen Würdiger des Theologen Bernhard wurde.

299

Das 13. Jahrhundert

Grundsätzlich ging die neue scholastische Methode mit einer Verarmung der ursprünglichen Breite der artes einher. Im Trivium wurden die literarische Grammatik und die Rhetorik zugunsten der aristotelischen Logik und Sprachphilosophie verdrängt. Die Grammatik diente nicht mehr zur Einführung in die schöngeistige Literatur, sondern wurde zur sprachphilosophischen Methode. Das Quadrivium, aus dem man die Musik gänzlich eliminierte, verlor ebenso an Breite. Aus der Perspektive der Kunst und Ästhetik war die Tradition der monastischen Theologie ohnehin wesentlich produktiver als die Scholastik. In dem Moment, in dem der breite Symbolismus einem rationalen, später sogar empirischen Zugriff auf die Natur wich, ging auch der für die Kunst und ihre Deutung so fruchtbare Verweis­ charakter verloren. Die Scholastik schuf sich eine »spezielle Rhetorik, wo die Bilder, die Vergleiche, die Metaphern, die Symbole unmittelbar verbegrifflicht werden und bar jeder sinnenhaften Gefälligkeit sind.« Andererseits ist unbestreitbar, dass – letztlich vermutlich als Folge der Abnabelung des spekulativen Ostens vom lateinischen Westen – einer rationalen, theorielastigen Schultheologie die Zukunft gehörte. Die Bataille des sept arts (ein Werktitel des französischen Klerikers Henri d’Andeli) zwischen Humanisten und Scholastikern führte zum vorübergehenden Sieg der letzteren. Die Scholastik ist weit über die engere Theologiegeschichte hinaus zu einem wichtigen Aufklärungsimpuls europäischer Geistesgeschichte geworden. Im byzantinischen Raum gab es kaum Vergleichbares, einzig in der arabisch-islamischen Kultur gab es eine Tradition einer frühen Aufklärung. Indem die Scholastik die Aufklärungskultur des Westens begründete, fungierte sie paradoxerweise auch als Pate der Kultur des Skeptizismus und der Religionskritik. Allein, die Kraft logischer Argumente wurde auch hier wie zu allen Zeiten überschätzt. Die Scholastik spielte mit diesen Argumenten teilweise ein krauses Spiel. Wie das bei vielen Wissenskulturen der Fall ist, verengte sie sich zuletzt in einer zum Ritual erstarrten Gegenüberstellung von Position und Gegenposition und die Methode verselbständigte sich gegenüber dem Inhalt. Deshalb entzündete sich bei den Humanisten der Renaissance eine herbe Kritik am scholastischen Bildungs- und Methodenideal. Sie schafften mit den Humanistenzirkeln und Akademien eine neue Konkurrenz und brachten die scholastische Methode im engeren Sinn zu einem Ende, was aber letztlich einen neuen Schub einer aufgeklärten Wissenskultur bedeutete. Die Scholastik war eine geistige Bewegung der neu erstarkten Stadt. Im 12. und 13. Jh. zentrierte sich mit dem Wachsen der Städte das kirchliche Leben mehr und mehr auf die Bischofs-, damit Stadtkirche. Ihre Erbauer durften auf viel Geld hoffen. Denn inzwischen hatten viele Grundherren ihre Residenzen in der Stadt, dort lag das Kapital und es wurde immer noch freigiebig gestiftet. Woher das Geld kam, verrät der Skulpturenschmuck an den Kathedralen: »Die Türme von Laon erwuchsen aus dem Boden neuer Ernten und junger Weinreben, gekrönt von dem in Stein gehauenen Abbild der Pflugochsen; in den Kapitellen aller Kathedralen blühen Weinstöcke; die Fassaden von Amiens und von Paris stellen den Zyklus der Jahreszeiten anhand der bäuerlichen Arbeiten dar.« Insbesondere die (sieben!) Tür-

Chenu 1960, 57

Köhn 2000, 204f

VI.3.0.ff. Stadtkultur

Duby 1976, 163

300

Das Mittelalter

Gurewitsch 1997, 300

Duby 1976, 166

Universität

Chenu 1960, 31f

me Laons wuchsen in der Tat aus einer kräftig-plastischen Fassade organisch heraus, sie sind nicht mehr auf eine romanische Burg aufgesetzt. Eine »Theologie der Arbeit«, wobei der erste Arbeiter »der Schöpfer selbst, summus artifex, der ›Welt­ architekt‹« war, wurde hier symbolisiert. Es war auch die Stadt, in der mehr und mehr ein Naturverständnis entstand, das nicht nur als schablonenhaftes Abbild Gottes verstanden wurde. Die Kathedrale als eine »friedliche Vereinigung des Schöpfers und der Kreaturen […]« war ein einziger Lobpreis Gottes für den fruchtbaren Zyklus des Lebens, der jetzt in einer Liturgie von Brot und Wein, von göttlicher Gnade und menschlicher Arbeit, zur Hoffnung auf ewiges Seelenheil geworden war. Jetzt zeigte sich der fruchtbare Zyklus der Natur nicht mehr nur als Symbol harmonischer Kosmosordnung, sondern als Quelle sehr profanen Reichtums. Geld und Wissbegier förderten die Kathedralschulen. Das Viertel neben den Kathedralen füllte sich mit Scholaren, Lehrer und Schüler bildeten eine universitas magistrorum et scholarium. Über diese Lehranstalten, die zu dem alten Kanon der septem artes weitere Fächer reihten: Philosophie, Medizin, Jurisprudenz und die Theologie, verlor die Kirche bald die Kontrolle. Ihre Lehrer standen unter dem Schutz der Könige. Rund 150 Jahre später als in der arabischen Welt entstanden im Westen in Salerno bereits im 9. Jh. (dort gab es ausschließlich eine medizinische Ausbildung und der Status ist nicht geklärt), Bologna (um 1088 als eine genossenschaftliche Gründung von Studenten, die sich ihre Universitätsleitung wählten), Neapel (1224), Paris (um 1231), Oxford (Anfang des 13. Jh.s) die ersten Universitäten. Es folgten viele weitere, unter ihnen Coimbra (1308), Prag (1348) und Wien (1365). Sie bedienten nicht zuletzt auch den Bedarf der neuen Stadtkultur nach Fachleuten für Verwaltung und Rechtswesen. Die Scholastik ist kaum ohne die neue Weltläufigkeit denkbar. Die Lehrer der Universitäten griffen für ihre Studien auf die muslimisch geprägten Kommentare und Abhandlungen des Avicenna und Averroës zurück. Die Texte des Aristoteles waren ja in ihrer muslimischen Interpretation (und dies war eine platonisierende) ins Abendland gebracht worden. All diese Quellen wurden nun in ein neues philosophisch-theologisches Gebäude verbaut.

7.2.1. Die Form der scholastischen Literatur Die Scholastik war bestrebt, den Stoff in einer vollständigen Sammlung systematisch darzustellen. Schon Abaelard hatte seine Theologia in dieser Absicht gegliedert. Petrus Lombardus, der »Magister in sententiis«, wurde mit seinen in vier Bücher eingeteilten Sentenzen, einer Zusammenstellung vor allem augustinischer Gedanken, zu einem theologischen Klassiker und das große Vorbild für die scholastischen Summen. Der Franziskaner Alexander von Hales machte diese Sentenzen als erster zur Grundlage des theologischen Unterrichts und vom 13. Jh. bis in die Reformationszeit war es Standard eines angehenden Theologen, die Lombardischen Sentenzen zu kommentieren. Selbst Martin Luther hat, wenn auch widerwillig, das Werk um 1510 als Dozent in Erfurt noch ausgelegt.

301

Das 13. Jahrhundert

Die scholastischen Schriften unterwarfen sich einem darstellungstechnischen und didaktischen Schema. Am Anfang steht die quaestio (Frage) als kleinste literarische Einheit. Sie war vom Schüler des Anselm von Canterbury, Anselm von Laon, verbreitet worden. Die Sentenzen und Summen stellten gleichsam »Sammlungen disputierter Quaestionen« dar. Summen sind – noch genauer – eine »synthetische, vollständige Sammlung von ›Sentenzen‹ , in denen man die Wahrheit der christlichen Lehre […] niederlegen wollte.« Die Summen waren der Höhepunkt der wissenschaftlichen Literatur und »mit der strengen und kraftvollen Logik einer Kathedrale aufgebaut«. Diese Metapher scheint für das gotische Bauwesen in der Tat zutreffend zu sein. So wie auch Schlachten hochgradig »ritualisierte und symbolische Aktionen waren«, gab es bei den Bauwerken einen hohen symbolischen Anteil. »Oft wußten ihre Bauherren, wie beispielsweise Richard Löwenherz im Falle von Château Gaillard, selbst nicht mehr zwischen wirklicher Funktion und zeichenhaftem Wert zu unterscheiden […].« Jedes in der Summa behandelte Problem wurde in Form einer Frage formuliert und der Sinn eines Textes durch Begriffsanalyse zu erfassen versucht. Dazu wurden Argumente pro und contra aufgelistet. Sie entstammten der Schrift, der Tradition (vor allem der Vätertradition) und der Vernunft. Mit Hilfe von Definitionen und Schlussverfahren suchte man eine Lösung des Problems und beantwortete zum Schluss die einzelnen Argumente. Die Formelhaftigkeit der Methode, »der unerträglich unpersönliche Stil«, verdeckte mitunter die Verschiedenheit, ja teilweise Unversöhnlichkeit der Meinungen mittelalterlicher Autoren. Das ganze Verfahren entsprach der rituell geregelten Übung der Unterrichtsform der disputatio, die man mit dem ritualisierten Turnier vergleichen könnte. Die Verarmung der Ausdrucksvielfalt liegt auch am »philosophischen Unvermögen« des Latein, das schon Seneca beklagt hatte. Latein eignet sich für Metaphorik und sprachliche Bilder eher schlecht. Man könnte freilich, angelehnt an Georges Duby, in den »Spielen des Syllogismus« eine Spielart literarischer Ästhetik sehen. Das formalisierte Ritual des Disputierens war zwar durch die Formulierung ständiger Opposition eine Grundlage für den späteren Humanismus der Renaissance, doch gleichermaßen lässt sich argumentieren, dass die im Hochmittelalter vertretene Vielfalt der Positionen verengt wurde und den schwachen Aufschwung des Humanismus vorerst wieder schnell verkümmern ließ. Jan Huizinga beklagte die ermüdende mittelalterliche Beweisführung: »[…] sie weist sogleich zum Himmel hinauf und verliert sich von Anbeginn in Fällen aus der Heiligen Schrift und moralischen Allgemeinheiten.« Schon die Zeitgenossen Johannes von Salisbury oder Giraldus von Bari kritisierten die Entleerung der Methode vom Inhalt. Letzterer sprach von einem bloßen Geschwätz (garrula loquacitas), das übrig blieb. Die Beiträge zu Ästhetik und Kunst waren – gemessen an der platonisch-dialektischen Tradition – eher Nebensache.

Summa

Köpf 1996a, 127; Chenu 1960, 83–105 Chenu 1960, 336 Aubert 1963, 10

Klein 2007b, 58

Chenu 1960, 57

Ebd., 122 Duby 1976, 249

Huizinga 1919, 230

302

Das Mittelalter

7.2.2. Die scholastische Philosophie

VIII.8.2.

Kristeller 1974, 40

IV.3.5.

Die Philosophie der Scholastik gilt als Höhepunkt der Philosophie des Mittelalters, für manche gleichzeitig der Höhepunkt christlichen Philosophierens. Inhaltlich wird die scholastische Philosophie meist mit einer klaren Dominanz des aristotelischen Denkens in Verbindung gebracht. Eine erste Kennzeichnung gegenüber der monastischen Theologie ist eine Verneigung vor einer mit dem rationalen Argument arbeitenden Philosophie und Theologie. Das hat auch damit zu tun, dass die Philosophie des Thomas von Aquin im 16. Jh. gegenüber dem Mittelalter durch umfangreiche Kommentierung an Bedeutung gewann und die Kirche in der Neuscholastik des 19. Jh.s die Flucht zurück ins Mittelalter antrat, um ein Bollwerk gegen die Moderne zu errichten. Auch die zweite Kennzeichnung benötigt differenzierte Beurteilungen. Richtig ist, dass die aristotelischen Schriften seit dem 12. Jh. lückenlos bekannt waren und – samt den arabischen Kommentaren – eine reiche Rezeption erfuhren. Ein klarer Aristotelismus bahnte sich jedoch erst mit Thomas von Aquin den Weg. Daneben zog sich ein breiter Strom des Platonismus auch durch das Mittelalter. Paul Oskar Kristeller erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass der Aristotelismus in Italien kaum Fuß fassen konnte. Ihre Wirkung entfalteten die italienischen Aristoteliker, allen voran Thomas von Aquin, vor allem im Norden: in Paris, Oxford und Köln. Die italienischen Universitäten hatten nicht einmal theologische Fakultäten, sondern betrieben Jurisprudenz und die freien Künste, darunter prominent die Medizin. Erst Ende des 13. Jh.s drang aristotelisches Gedankengut in die Universitäten ein, der Aristotelismus war in Italien eher »ein Phänomen der Renaissance«. Dass die gotische Skulptur im Norden entstand, während die Renaissance in Italien anhob, mag in der Kunst eine konsequente Parallelentwicklung zur jeweiligen Dominanz der großen Leitkulturen sein.

7.2.2.1. Abaelard

Fried 2008a, 228 6.2.2.

6.2.3.

7.2.

Der 1079 geborene Petrus Abaelard war ein erster glanzvoller Geist einer neuen Zeit. Selbstbewusst und streitbar zog er nicht nur begeisterte Schüler an sich, sondern wurde auch leidenschaftlich bekämpft und von zwei Konzilien (Soissons 1121; Sens 1140) verurteilt. Er lehre »des Ruhmes und des Geldes wegen«, hatte er schnoddrig zu Protokoll gegeben. Er dürfte Schüler des Roscelin von Compiègne und des Realisten und Gründers von St. Viktor Wilhelm von Champeaux gewesen sein. Abaelard vertrat allerdings im Universalienstreit eine Gegenposition zu Wilhelm und dies in solch anmaßender Weise, dass sich die beiden überwarfen. Der Nachwelt blieb Abaelard bekannt durch seine Liebe zu Héloise und seine im Auftrag ihres Onkels erlittene Entmannung. Héloise trat schließlich in das Kloster von Argenteuil (das zu St. Denis gehörte) ein, Abaelard wurde Mönch in St. Denis. Auch dort sorgte er bald für Aufregung, weil er die Identität des Dionysios Areopagites anzweifelte. Ab 1135 lehrte er in Paris und rief mit seinen Thesen Bernhard von Clairvaux auf den Plan, der ihn in vielen Briefen an den Papst denunzierte. Vom darin sich spiegelnden Konflikt zwischen Mönchstheologie und aufgeklärter Scholastik war bereits die Rede. Seine Bücher wurden von Innozenz II. feierlich im Petersdom verbrannt.

303

Das 13. Jahrhundert

Abaelard setzte Impulse beim Dauerbrenner mittelalterlicher Debatten, der »Universalienfrage«, die schon von Neuplatonikern (Porphyrios) thematisiert worden war. In diesem Streit ging es darum, ob Allgemeinbegriffe (also »Baum« oder »Mensch« und Eigenschaften) in der Realität existieren. Sind Universalien in sinnlich erfassbaren Gegenständen zu finden oder werden sie vom menschlichen Intellekt erzeugt? Für Wilhelm von Champeaux stellten die Universalien eine einzelnen Dingen gemeinsame Substanz dar (Realismus). Abaelard lehnte dieses alte ontologische Modell ab und interpretierte die Universalien nur mehr als Sprechweise. Ein Universale war für Abaelard, in Anlehnung an Aristoteles, bei dem die Kategorien keine Seinsweisen, sondern nur mehr Sprechweisen waren, nur ein Wort. Die Sprache als Laut sei zwar Teil der Schöpfung, aber das Wort als Sinngestalt gründe in menschlicher Konvention (inventio). Das Allgemeine existiere demnach nicht real, aber es sei auch nicht nur ein Laut, wie es der Nominalismus eines Roscelin formulierte, sondern habe eine durch Abstraktion gewonnene allgemeine Form (forma communis), welche durch die Ähnlichkeit der Dinge erfasst werde. Diese Form sei ein Denkgebilde, das als Zeichen für eine (abwesende) Allgemeinheit stehe. Nur über das Denken habe der Allgemeinbegriff einen Bezug zur Wirklichkeit. Man mag in diesem Ausgehen Abaelards vom Menschen und seiner Erkenntniskraft den Zungenschlag einer modernen transzendentalphilosophischen Gnoseologie erkennen und es kann nicht verwundern, dass solche Überlegungen auf Zurückhaltung stießen. Denn Abaelards Ablehnung des Realismus stellte das die mittelalterliche Erkenntnislehre weitgehend fundierende Prinzip der realen Erkennbarkeit der Schöpfung in Frage. Die Referenz von Sprache und Sein wurde zutiefst erschüttert und das später von Thomas von Aquin formulierte Wahrheitskriterium der Übereinstimmung von Denken und Sache wurde unterminiert. Insofern wies solch avantgardistisches Denken bereits voraus auf eine Überwindung des mittelalterlichen Weltbilds in der Renaissance und in der Neuzeit. Diesen vor allem philosophischen Überlegungen schloss Abaelard ausdrücklich theologische an. Er verfasste mehrere Werke mit dem Titel Theologia, die alle unvollendet blieben. Theologie sei eine Wissenschaft über die göttlichen Dinge. In seinem Sic et Non versuchte er, anhand von 156 Beispielen widersprechende Abschnitte der Hl. Schrift und Aussagen der Kirchenväter mit den Regeln des logischen Argumentierens, der Dialektik, aufzulösen. Das Werk hatte seine Sprengkraft darin, dass die Widersprüche zwischen Autoritäten und zwischen Autoritäten und der menschlichen Vernunft mit Hilfe eben dieser Vernunft aufzulösen seien. Dies legte eine Basis für die Behandlung der Autoritäten in der Scholastik. Man war zwar gehalten, die Autoritäten als Vorbilder zu nehmen, aber sie wurden im Namen der Vernunft »interpretiert«. Alanus ab Insulis prägte den unnachahmlichen, die Tätigkeit der modernen »Spindoktoren« beschreibenden Satz: »Eine Autorität hat eine Nase aus Wachs, d.h. man kann sie in verschiedene Richtungen biegen.« Darin zeigt sich ein grundsätzliches Vorgehen, das in der Scholastik geradezu zur Methode wurde. Das Instrument der Logik ließ sich unschwer auf das inhaltlich Gewünschte verbiegen. Noch in einem weiteren Punkt wies Abaelard voraus auf den in der Neuzeit vorge-

Universalienfrage

8.3.

Sic et Non

Alanus ab Insulis, zit. nach Chenu 1960, 160

304

Das Mittelalter

372 Franz von Assisi, Fresko; Subiaco

stellten berechenbaren Gott, der den Willkürgott manch mittelalterlicher Theologen abgelöst hat. Nach Abaelard bleibt nicht nur grundsätzlich eine rationale Gottesidee möglich, er glaubte auch, dass Gott jedem ernsthaft suchenden Menschen das Heil ermögliche. Dies brachte ihn in seinem Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum sogar zur Behauptung prinzipieller Heilsmöglichkeit für Menschen anderer Religionen und zur Einsicht, dass in jeder Lehre ein Stück Wahrheit zu finden sei, und machte ihn zu einem toleranten Gesprächspartner. Allerdings eben auch zu einem Ziel für Angriffe all jener, die dem Ideal des extra ecclesiam non salus (kein Heil außerhalb der Kirche) folgten.

7.2.2.2. Die Franziskaner und Dominikaner

Franziskaner

Duby 1976, 245 Schneider J. 2002, 23

7.2.2.4.

Dass am Anfang der Hochphase der Scholastik die Entstehung der Bettelorden darzustellen ist, liegt an der Ambivalenz dieser Orden. Waren die Dominikaner von Beginn an durchaus der Wissenschaft gegenüber aufgeschlossen, um gerüstet die theologische Lehre zu verteidigen, schwankten die Franziskaner zwischen mystisch-asketischer und wissenschaftlicher Ambition. Um 1205, bei einer Meditation einer Kreuzesikone in San Damiano (heute in Santa Chiara in Assisi), beendete Giovanni Battista Bernadone sein Dasein als begüterter Kaufmannssohn, den Freuden des Lebens zugeneigt, und wurde als Franz von Assisi zu einem exzentrischen Einsiedler und Büßer. Gefährten schlossen sich ihm an und 1210 gab es eine erste Erlaubnis für die kleine Gemeinschaft, nach einer Regel in strenger Armut zu leben. Der liebevoll Poverello genannte Mönch wurde zum wohl populärsten Heiligen der Kirchengeschichte, ja neben Jesus von Nazareth »der große Held der christlichen Geschichte«. Schon im 14. Jh. entstanden phantasievolle bilderrreiche, literarische Sammlungen legendärer »wunderbarer Begebenheiten« über das Leben des Franziskus und seiner Gefährten, die Fioretti. Franziskus selbst war weit entfernt von wissenschaftlichen und theologischen Ambitionen und verbot seinen Brüdern sogar den Besitz eines Psalters – außerdem auch den Bau von Kirchen. Dafür traten das theatralische Moment und die Bemühung um volkstümliche Veranschaulichung in den Vordergrund – nicht nur in seinen legendenhaften Anrufungen der Natur oder in den Tierpredigten. Thomas von Celano berichtet von einem am Heiligabend 1223 aufgeführten Krippenspiel bei Greccio in den Sabiner Bergen. Diese Reduktion auf das Bodenständige und Begreifbare ist ein Impuls für die volkstümliche Kunst, hatte damals jedoch auch eine eindeutig revolutionäre, gegen rationale Theologie und die aufgeklärte Stadt gerichtete Stoßrichtung und alarmierte die Amtskirche. Das Schrifttum des Franziskus, Briefe und diverse Mahnschreiben, fromme Texte, lyrische Loblieder und Anbetungen, reichte nicht für eine weltumspannende Ordensgründung. Der schnell expandierende Orden brauchte organisatorische Kenntnisse. Diese lieferte Bonaventura von Bagnoregio. Als Generalminister des Ordens und Gelehrter achtete er auf eine genehme Darstellung des Lebens des Franziskus, um im akademischen Streit um die Armutspraxis eine klare Position vertreten zu können. Bonaventura gilt als zweiter Gründer des größten Ordens der Kirche.

305

Das 13. Jahrhundert

Anders als Franziskus war der adelige Spanier Domingo de Guzmán, Dominikus (lat. canes domini/der Hund des Herrn), von klein auf mit der katholischen Welt vertraut. Er studierte Theologie, wurde Prior in Burgos und entschloss sich zu einem kontemplativen Leben. Er glaubte, in der Predigt das geeignete Mittel zur Mission und zur Bekämpfung der Ketzer gefunden zu haben. Zum Unterschied von den mittlerweile prunkvollen und eitlen Auftritten der Zisterzienserprediger wählte Dominikus den Weg der Armut, um die Glaubwürdigkeit seines Tuns zu unterstreichen. 1216 genehmigte der Papst den Orden der Prediger, die Dominikaner. Zum Unterschied von Franziskus bejahte Dominikus die intellektuelle Rüstung seiner Predigerbrüder ausdrücklich, damit sie erfolgreich den Argumenten der Ketzer begegnen können. In der Folgezeit kämpften die Dominikaner nicht nur mit Argumenten gegen die Ketzer, sondern mit der von Gregor IX. eingerichteten Inquisition. Es kam immer wieder zu Spannungen zwischen der Identität als Bettelorden und der zweiten Identität als Orden von Universitätsprofessoren. In beiden Orden, bei den Franziskanern noch mehr als bei den Dominikanern, gab es eine Debatte darum, ob die Theologie eine Wissenschaft sei oder eine Weisheit. Die Dominikaner stützten sich auf drei Bücher: die Bibel, dan Liber Sententiarum des Petrus Lombardus, von einem der berühmtesten Magister der Kathedralschule von Notre-Dame als konzentriertes theologisches Wissen verfasst, und die Historia scholastica seines Schülers Petrus Comestor. Auch dieser Orden wuchs rasch und brachte hervorragende Theologen hervor. Die ersten wichtigen Beiträge zur Scholastik stammten aus dem Franziskaner­ orden. Alexander von Hales trat 1231 dem Orden bei und gilt als Begründer der philosophischen Franziskanerschule. Bei seinen Vorlesungen in Paris legte er – wie schon gesagt – erstmals die Sentenzen des Petrus Lombardus zugrunde. Ihm wird eine Summa zugeschrieben, die teilweise aus der Hand seines Schülers Jean von Rochelle und anderen stammte und die ein Kapitel über Ästhetik beinhaltete. An die Stelle des spekulativen und literarischen Sprechens etwa bei Suger oder Bernhard traten nun definitorische Fragen und Fragen nach dem Verhältnis des Schönen zum Sein und zum Guten. Verbreitung gewann dabei eine Definition des Schönen, die Wilhelm von Auvergne anbot: schön sei, was von sich aus gefällt (per se ipsum placet) bzw. was den Sinn erfreut (animum delectat). Ähnliches findet sich auch in der Summa Alexanders. Schöne Formen erkennen wir daran, dass sie uns gefallen. Damit sie uns gefallen, müssen die Dinge bestimmte Eigenschaften haben. Einige Farben und Formen und die Anordnung der Teile sind ihrem Wesen und ihrer Natur nach schön. Sie gefallen von Natur aus und nicht etwa durch das Gutdünken des betrachtenden Subjekts. Das Schöne erhält nur aus der Gesamtanlage seinen Wert. Wilhelm bringt in seinem Werk De bono et malo einen Vergleich. Das Auge ist für sich betrachtet schön und eine Zierde des Gesichts. Wäre das Auge aber an der Stelle des Ohrs, dann wäre es hässlich. Für Wilhelm ist das Leiblich-Schöne realer als das Geistig-Schöne, denn das Geistig-Schöne nennen wir schön aus dem Vergleich mit der sichtbaren Schönheit.

Dominikaner

Frank 1967

7.2.1.

Alexander von Hales

Wilhelm von Auvergne

306

Das Mittelalter

Hedwig 1980, 115

7.2.2.6.

Wilhelm von Auvergne, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 253

373 Marmor­ inkrustation am Dom von Orvieto

Diese Bestimmung des Schönen wies in eine Richtung, die der bisher gängigen neuplatonischen zuwiderlief. Zum Unterschied von der dort üblichen »Verweisästhetik« wurde hier die Schönheit als eine objektive Eigenschaft der Dinge gesehen, die bis ins Sinnliche reicht. Das ergab sich aus der vorwiegenden Beschäftigung Wilhelms mit Aristoteles. Allerdings wurde ein platonisierender Rahmen nicht ganz verlassen, denn nach wie vor ist das erste exemplarische Bild die göttliche Weisheit. Licht ist sowohl Ausdruck göttlichen Seins als auch reine Transparenz. Der Selbstwert der diesseitigen Schönheit ist im Ganzen immer noch ein Widerschein göttlichen Seins. Auf dieser Linie des Schönheitsbegriffs bewegte sich dann Thomas von Aquin. Die alte platonische Harmonievorstellung wurde mit der Ablösung der platonisierenden Verweisontologie durch einen (aristotelischen) philosophischen Realismus, der das konkrete Einzelding auszeichnete, neu interpretiert. Die mathematische Konnotation entfiel. Jetzt ging es um das Verhältnis einzelner Teile zueinander in Bezug auf ein bestimmtes Ziel. Immer wieder tauchen Anklänge an das augustinische Harmonieverständnis modus-species-ordo auf, wenn es in der Summa Alexandri heißt: »So wie die Schönheit des Leibes auf der Übereinstimmung der Teile beruht, so geht die Schönheit der Seele aus der Harmonie der leiblichen Kräfte und aus der Ordnung der seelischen Kräfte hervor.« In Spannung zum Neuplatonismus stand auch die Frage nach der Beziehung zwischen dem Guten und dem Schönen. Hier gingen die Meinungen anfänglich noch auseinander. Wilhelm von Auvergne identifizierte beides noch in platonischer Manier, während in der Summa Alexandri eine Differenzierung begann, die Thomas von Aquin dann aufgriff. Das Schöne diene der Kontemplation, während das Gute Gegenstand einer strebenden Liebe sei. In der Franziskanerschule dominierte kunstphilosophisch ein Platonismus, der aber zunehmend durch einen Aristotelismus und durch die spezifische Programmatik eines Bettelordens geerdet wurde. Hier vollzog sich ein epochaler Paradigmenwechsel hin zur Renaissance und zum Empirismus der Neuzeit.

7.2.2.3. Robert Grosseteste und die Lichtmetaphysik

Baur 1917

Robert Grosseteste aus dem Umfeld Oxfords, vielleicht erster Kanzler der dortigen Universität, später Bischof von Lincoln, gehörte zwar nicht dem Franziskanerorden an, übte aber großen Einfluss auf ihn aus. Der um 1170 geborene Grosseteste spielte durch seine neuplatonisch inspirierte Lichtmetaphysik, die er aus der Tradition der Pythagoreer mathematisch deutete, in der Ästhetik eine wichtige Rolle. Grosseteste legte seine ästhetischen Anschauungen in theologischen Traktaten nieder: in dem von Basilius’ gleichnamigen Werk angeregten Hexaëmeron (Sechstagewerk; um 1243), sowie in mathematischen Abhandlungen Von den Linien (De lineis angulis) und Vom Licht oder über den Anfang der Formen (De luce sive de inchoatione formarum). Auch in dem Brief De unica forma omnium finden sich Äußerungen zum Thema und naturgemäß in einem Kommentar zu Dionysios Pseudo-Areopagites. Vieles von dem platonischen Gedankengut wird in aristotelischen Begriffen

307

Das 13. Jahrhundert

buchstabiert. Die Verbindung von Neuplatonismus und Aristoteles spiegelt sich in der Gleichsetzung von Licht und (aristotelischer) Form. Grosseteste schwelgte im Lobpreis Gottes als »formschönste Form« (forma formosissima), »vollkommenste Vollkommenheit« (perfectio perfectissima) und »bestgestaltete Gestalt« (species speciosissima). Licht und Schönheit reichen hier über die Brücke des Platonismus bis zur altorientalischen Gleichsetzung von Göttlichem und Schönheit zurück. Die Form ist das Licht, das von einem Punkt aus emaniert und dabei Sphären bildet, die immer weniger durchlässig werden, weil sie sich mehr und mehr mit der Materie vermischen. Das Licht ist eine »expansive Kraft, die in ihrer Ausbreitung als kosmische Manifestation wirkt.« Der aristotelische Begriff der Form ist hier platonisch überlagert. Aber auch die Materie bleibt mit Formen durchsetzt. Damit ist das Licht in jedem Seienden präsent. Die Renaissance hat diesen Gedanken weitergeführt und aristotelisch die Materie gegenüber dem Platonismus aufgewertet. Die oberste Form Gott ist Licht (lux suprema), Urbild (exemplar), ursprüngliche »Kunst« (ars), und zudem wird sie mit der Zahl aufgeladen – nach Augustinus’ Ausspruch, dass alles ins Nichts zerfiele ohne Zahl. Dieses ontologische Konstrukt wird ästhetisch buchstabiert. Die oberste Schönheit ist die Schönheit Gottes, der selbst Licht ist: »Lasse ›dieses‹ und ›jenes‹ weg und betrachte das Schöne selbst, wenn du kannst. Da wirst du einsehen, daß Gott nicht durch eine andere Form schön ist, sondern daß er selbst die Schönheit alles Schönen ist.«/»Dieses Licht ist aus sich selbst heraus schön, weil seine Natur einfach ist, und ihm ist zugleich alles (einfach). Es ist im höchsten Grade einheitlich und steht durch die Gleichheit in einem Verhältnis von größtem Einklang zu sich selbst: der Einklang der Proportionen aber ist Schönheit. Deshalb ist das Licht auch ohne das harmonische Verhältnis körperlicher Gestalten in sich selbst schön und erfreulich anzusehen.« Im Licht drücken sich wie in der idealen Geometrie des Kreises oder des Punktes die Vorstellung von der absoluten Identität Gottes mit sich und seine Einfachheit aus. In der Emanation der Ausstrahlung des Lichtes werden auch die Dinge der sichtbaren Welt schön (sie werden dadurch auch erkennbar). Schönheit kommt einem Ding zu durch die Einheit, die zugleich Verweis auf die trinitarische Einheit Gottes ist. Das macht alles Geschaffene zu einem Spiegel Gottes (omnis creatura speculum est). Das Licht schafft (im Sinne des platonischen Demiurgen) in der materiellen Welt eine Harmonie des Schönen und der Einheit. Es stellt eine »Übereinstimmung (consonantia) eines Gegenstandes mit den ihn umgebenden Gegenständen« her. Lichtmetaphysik wird mit Zahlensymbolik kombiniert. Das Göttliche/Schöne ist Einheit, die Materie die nachgeordnete Zweiheit. Die Verbindung von Materie und Form ist die Drei und das Ergebnis dieser Verbindung ist die Vier. Damit machte Grosseteste die pythagoreische Tetraktys im Sinne vollkommener Symmetrie und Harmonie zur Grundlage seiner Ästhetik. Seine Lichtphilosophie buchstabierte Grosseteste auch als Musikphilosophie und

Hentschel 1993, 225

Grosseteste, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 261

Hedwig 1980, 131

VI.4.0.

IV.4.3.

Grosseteste, zit. nach Assunto 1963, 222/223

374 Rosette von Sta. M. Assunta in Troia (12. Jh.); Apulien Perler Dominik in ÄKPh, 342

Baur 1912, 58

308

Das Mittelalter

Panti 1998, 4

Dinzelbacher 2003, 66f

Grosseteste, zit. nach Assunto 1963, 224

Belting 2008, 144f VI.5.1. Grosseteste, zit. nach Baur 1912, 51

Belting 2008, 149

ganz im Geiste Platons sah er im Verlust geistiger Proportion und Harmonie ei­ ne Krankheit. Vielfach wird von der Begeisterung mittelalterlicher Zeitgenossen für die bunte Vielfalt und Kraft der Farben berichtet. Diese Begeisterung betraf auch die bunten Fassaden und die Farbfenster der gotischen Dome, soweit nicht ein Asketismus wie jener der Zisterzienser an ihnen Anstoß nahm. Auch die Farben wurden daher bei Grosseteste ein Thema. Sie sind einfach, bloße Entfaltung des einfachen Lichts und stoßen unmittelbar ohne Zwischentöne aneinander. Vor dem Gedanken, dass alles Seiende an der Urschönheit, damit am Göttlichen Anteil hat, kann Grosseteste die Rolle des Künstlers, zuerst des architectors, beschreiben: »In der gleichen Weise, wie die Form dieses Hauses im Geiste dieses Architekten eine Form ist, ist die Kunst (ars) oder die Weisheit (sapientia) oder das Wort (verbum) des allmächtigen Gottes die Form aller Geschöpfe […].« Architekt und Handwerker (artifex) werden als (demiurgische) Umsetzer göttlicher Verhältnisse im irdischen Bereich verstanden. Bei solchen Aussagen überwiegt der ontologische Sinn vor einem bloß ästhetischen. Unter artifex ist nicht ein Künstler im neuzeitlichen Sinn gemeint, sondern es ist ein Ausdruck für das handwerkliche Verfertigen ganz generell, das mit dem göttlichen Schöpfungsgedanken beginnt. Dass es im Mittelalter offenbar weitere Differenzierungen gab, zeigen Inschriften im Dom von Piacenza, einem Meisterwerk lombardischer Romanik. Dort gibt es an den Säulen des Mittelschiffes Tafeln der »niederen« Schuster, die nur Reparaturarbeiten ausführten, und solche der »höheren« Schuster, die aus kostbarem importierten Leder meisterhafte Schuhe verfertigen. Grossetestes Ästhetik, die eine Lichtkosmologie und zugleich Ontologie ist, berücksichtigte auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die er aus arabischen Quellen, insbesondere aus Werken Alhazens, die das lateinische Mittelalter eben erreicht hatten, kannte: Das bildergewohnte lateinische Mittelalter rezipierte Alhazens (bildlose) Sehtheorie in Form einer spezifischen Bildtheorie. Diese Sehtheorie ließ sich daneben relativ problemlos in eine platonisierende – jetzt christlich buchstabierte – Lichtmystik einordnen. »Das Licht breitet sich der Natur nach in alle Richtungen aus, sodaß sich von jedem Lichtpunkt aus sofort eine große Lichtkugel bildet, die sich so lange ausbreitet, bis sie auf einen undurchlässigen Körper trifft […].« An dieser Stelle ließ sich auch das Hässliche einordnen. Wie bei allen Neuplatonikern ist es kein eigenständiges Prinzip, sondern ein Mangel an Sein bzw. an Schönheit. Der Naturforscher und Philosoph Witelo, wie John Peckham und Roger Bacon, der sich ebenfalls mit der Optik beschäftigte, dem Oxfordkreis angehörig, vollendete 1268 seine eigene De perspectiva. Der Eindruck der neuen Erkenntnisse der Optik dürfte ziemlich nachhaltig gewesen sein. Im Roman de la Rose tauchen allerlei Verwunderungen über die Verzerrungen durch Spiegel mit verschiedenen Brennweiten auf. Gegen eine visuelle Theorie der Sinneswahrnehmung gab es jedoch Widerstand. Mit dem Streit, inwieweit Sinnlichkeit überhaupt eine Erkenntnisquelle sein könne, zog die Empirie in die Wissenschaft ein, »und es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie auch die Kunst erreichte, die bisher der Religion gedient hatte.«

309

Das 13. Jahrhundert

Bacon gilt als ein origineller Kritiker des in die Krise geratenen alten Bildverständnisses. Der Bewunderer Alhazens forderte die Sinnenfälligkeit des Bildes unter Einschluss der Geometrie und der perspectiva. Er pries Licht und Farbe als Erfahrungen, die uns unsere Sinne ermöglichen. Papst Nikolaus III. ließ den ähnlich denkenden John Peckham an die päpstliche Universität nach Viterbo holen, um mit dem neuen Bildparadigma die Palastkapelle dort auszumalen. »Verglichen mit den Langhausfresken der Unterkirche von Assisi haben die dort dargestellten Martyriumszenen geradezu die Qualität malerischer Erlebnisberichte.« Mit diesem Engagement schrieben Roger Bacon, John Peckham und Witelo ein Kapitel beim Übergang der gotischen Kunst in die Renaissancekunst und sie legten nachhaltige Grundlagen für die Anwendung der Geometrie auf Optik sowie auf andere Wissenschaften.

Perrig Alexander in Toman 2007b, 51

7.2.2.4. Bonaventura Der aus der Toskana stammende, um 1221 geborene Giovanni di Fidanza mit dem Ordensnamen Bonaventura, später Generaloberer des Franziskanerordens und Kardinal, studierte bei Alexander von Hales in Paris und lehrte auch dort. Er war aus anderem Holz geschnitzt als der Ordensgründer. Weltgewandt organisierte er den Orden und betrieb Theologie und Philosophie. Dabei hielt er die Philosophie aus einer kritischen Sicht an der kurzen Leine. Der gläubige Theologe erkenne die Wahrheit eher als der auf die Vernunft bauende Philosoph. Vielleicht wollte Bonaventura mit solcher Strenge die sich in der aufgeklärten Stadtkultur emanzipierenden Philosophen nochmals energisch dem theologischen Interesse unterordnen. Bonaventura stand in der Tradition des Platonismus, benützte jedoch auch aristotelische Begriffe, wie Potenz-Akt, Form-Materie und die Ursachenlehre. Hielten sich die frühen Schriften an den scholastischen Formenkanon, erscheinen die Spätschriften freier und literarischer. Seine Ansichten zur Ästhetik breitete Bonaventura an verschiedenen Stellen aus, darunter in seinem Itinerarium mentis in Deum, einem mystischen Tagebuch der Seele bei ihrem Aufstieg zu Gott. Er pries darin die Vollkommenheit, Ganzheit und Schönheit der Welt. Sie gründe als ihr Spiegelbild auf der wahren Schönheit Gottes. Das entsprach Bonaventuras Theologie, wonach das ungeschaffene Wort (verbum increatum) im Gottessohn als inkarniertes Wort (verbum incarnatum) in die Welt gelangt ist und dort als inspiriertes Wort (verbum inspiratum) den Menschen erleuchtet. Andere Äußerungen zur Ästhetik gibt es in seinen Bibelkommentaren, dem Sentenzenkommentar und in den Reden über das Sechstagewerk (Collationes in Hexaemeron). In einem kleinen Werk, der Zurückführung der Künste auf die Theologie (De reductione artium in theologiam), führte er die alten artes liberales auf die Theologie, die höchste Wissenschaft, zurück. Auch bei Bonaventura wird die oberste Schönheit mit Gott und dem Licht, zugleich aristotelisierend auch mit der Form, gleichgesetzt. Licht und Form wiederum beruhen als Ursprung der Schönheit auf Proportion und (Zahlen-)Gleichheit (aequalitas numerosa). Ein Gegenstand ist schön, »wenn in ihm Harmonie der Teile und Gleichheit vorhanden sind.« Als lumen dringt Licht durch die Räume, als color und splendor wird es reflektiert und macht die leuchten-

Licht und Form

Bonaventura, zit. nach Assunto 1963, 232

310

Das Mittelalter

Tripps 1998, 204

Imbach Ruedi in ÄKPh, 141 Bonaventura, zit. nach Assunto 1963, 235

Bonaventura, zit. nach Ebd., 234 Bonaventura, zit. nach Pochat 1996, 170 Wahrnehmungs­ ästhetik

Imbach Ruedi in ÄKPh, 145

den Körper sichtbar und schön. Das Licht ist Emanation und Eigenschaft des Einzeldings zugleich. Das körperliche Licht ist dem göttlichen Licht ähnlich. Bonaventura steht ganz im Rahmen der Urbild-Abbild-Relation. Die Übereinstimmung mit Augustins De musica und De ordine ist nicht zufällig. Auf ihn berief sich Bonaventura ausdrücklich. Vor diesem Hintergrund ist das Kunstverständnis Bonaventuras zu deuten. Zwar sieht Bonaventura den Wert der bildenden Kunst wie die meisten mittelalterlichen Autoren vorwiegend in ihrer didaktischen Funktion, aber ein genauerer Blick offenbart durchaus auch weitergehende Aspekte. Kunst vermag nur, bereits Existierendes zu verwandeln. Sie steht hinter der Natur, die aus sich selbst Potentielles in wirklich Seiendes umsetzt. Das Kunstwerk entsteht nichtsdestoweniger im Geist des Künstlers als Idee, die er dann realisiert. Kunst ist »nach der scholastischen Terminologie deshalb im eigentlichen Sinne ein ›habitus operativus‹«. Der Künstler schafft »draußen das Werk so ähnlich er nur irgend kann nach dem Urbild [exemplari interiori], das er in sich hat.« Ein Kunstwerk ist zugleich nachahmend und auch voll von künstlerischem Ausdruck. Auch Phantasiegebilde können entstehen, die zumindest – wenn schon nicht Nachahmungen von Realem – neue Anordnungen hervorbringen. In diesem philosophischen Gemisch von Platon und Aristoteles verließ Bonaventura eine reine Verweisästhetik. Eines der Ziele der Kunst sei auch das Bewegen des Gemüts bis hin zum Lustgewinn (ut illo delectetur). Darüber hinaus müsse das Kunstwerk »nützlich und dauerhaft [utile e stabile]« sein. Bonaventura zog einen Vergleich zur Liebe: »Wenn jemand nach einer Frau mit dem Drang der Liebe trachtet, dann besingt er sie und schreibt Lieder.« Diese erstaunlich positive Sicht des Materiellen fußt auf Bonaventuras Ontotheologie. Dort bereicherte er eine platonisierende Emanation (nach der die Materie an unterster Stelle steht) durch das christliche und franziskanische Programm, dass das göttliche Wort jedem Seienden unmittelbar nahe steht. Das wertet das materielle Seiende auf. Folge davon war eine breit aufgefächerte Wahrnehmungsästhetik. Das sinnlich Schöne vermittelt sich durch Sinneswahrnehmungen, indem Bilder der materiellen Dinge von der Seele erfasst werden. Aber Schönes kann auch auf unmittelbarem Weg (visus spiritualis) erfreuen. Diese Wahrnehmung ist dann befriedigend, wenn das Wahrgenommene schön, angenehm und gesund (pulchri, suavis, salubris) ist. Im Vordergrund steht der Sehsinn und das sichtbare Schöne, er geht dem Geruch-, Gehör- oder Tastsinn voraus. Freilich gibt Bonaventura als Antwort auf die Frage nach der Ursache des Wohlgefallens wieder den Hinweis auf das Verhältnis der Harmonie. Trotzdem zeigt sich auf diesem bereits psychologischen Feld ein empirischer Zug, der sich von den rein spekulativen Erklärungen über das wahre Schöne erheblich entfernt, wenngleich er sich noch keineswegs zu sich selbst befreit hat. Man kann Ruedi Imbach zustimmen, dass »im Bereich der mittelalterlichen Metaphysik das vom Menschen geschaffene Kunstwerk nur als vielfach vermitteltes Derivat existiert und letztlich weder eine eigene ethische Valenz noch eine autonome ontologische Konsistenz besitzt.«

311

Das 13. Jahrhundert

7.2.2.5. Albert der Große und seine Schule Albertus Magnus wurde um 1200 in Lauingen an der Donau in eine Adelsfamilie hineingeboren. Er studierte in Padua, wo er mit der Philosophie des Aristoteles in Berührung kam, und, nach dem Eintritt in den Dominikanerorden in Köln, später in Paris. Albert war geschätzt durch diverse Gutachten und Schiedssprüche außerhalb des universitären Rahmens, was ihm den Ehrentitel doctor universalis einbrachte. Mit Albert rang sich die christliche Philosophie nun sehr diszipliniert zum Aristotelismus durch. Dabei gab es viel zu differenzieren, denn Aristoteles war durch die arabischen und jüdischen Kanäle teilweise stark platonisiert und es musste mühsam zwischen Original und Kommentierung geschieden werden. Zudem gab es zwischen 1210 und 1231 päpstliche Aristotelesverbote. Albert leistete hier jedoch nur die Vorarbeit, er selbst blieb nämlich, vermutlich ohne dass ihm das bewusst war, stark dem Platonismus verhaftet. Erst mit Thomas von Aquin gelang eine überzeugende aristotelische Wende. Albert kommentierte das gesamte Œuvre des Dionysios Pseudo-Areopagites und leitete davon einige ästhetische Aussagen ab, die er im Opusculum De pulchro et bono niederlegte. Wie Grosseteste benützte Albert die Lichtmetapher für Gott. Einerseits blieb er dabei in neuplatonischen Bahnen. Gott ist »helllichte Dunkelheit«, das »Überlichtige« (supersplendens) und jenseits aller Prädikation, andererseits sprach er das Licht der Vernunft zu. In der Philosophie und ihren Sätzen komme dieses Licht zum Vorschein. Hier war es kein mystisches Licht mehr, es war das selbstbewusste Licht der weltlich gewordenen Vernunft, in dessen Glanz man Gott nun nicht nur bekannte, sondern ihn argumentierte. Ein Tatbestand, der die transparente Lichtarchitektur der Gotik auch in anderem als dem mystischen Verständnis sehen lässt. Noch deutlicher aus dem Vorrat des Pseudo-Dionysios stammten die Lehre von der Teilhabe einer jeden Sache am Schönen und die Betonung des Göttlich-Schönen als Urbild alles Schönen. Allerdings läuft die Argumentation anders als bei einer reinen Verweisästhetik. Das Schöne und das Gute seien der Sache nach identisch, begrifflich (ratione) aber unterschieden. Wenn etwas als schön oder gut bezeichnet wird, sind das bloß verschiedene Aspekte eines Gegenstandes der Schöpfung. Schön bezieht sich dabei auf Wohlgeordnetheit und Klarheit, ein Gedanke, den Thomas von Aquin aufgriff: »Die Schönheit beruht auf dem Glanze der substantiellen oder aktuellen Form, der über die proportionierten Teile der Materie ausgegossen wird.« Diese ästhetischen Bemerkungen übersteigen insofern einen Platonismus, als sie sich auf die Bestimmungen von Gegenständen beziehen, die nicht einfach nur Spiegelungen von etwas Unsagbaren sind. Für das Bekenntnis zu einem gewissen Eigenstand des Materiellen ließ sich der Aristotelismus wunderbar mit dem christlichen Schöpfungsverständnis verbinden. Die klare Trennung von Materie und Form, wie sie Aristoteles vertrat, findet man bei Albert freilich kaum. Hierzu wirkte die Tradition von platonischer Teilhabe und neuplatonischer Emanation noch zu stark. In averroistischer Manier entstehen Formen aus der produktiven Materie. Das Schema des Hylemorphismus führte zu der weiteren Unterscheidung zwischen einem essentiell Schönen und einem nur akzidentell Schönen.

Albert, zit. nach ­Tatarkiewicz 1980, 274

312

Das Mittelalter

Ulrich von ­Straßburg

Ulrich von Straßburg, zit. nach Ebd., 275/272

Hedwig 1980, 189f

Ulrich von Strassburg, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 275

Grundsätzlich gilt, dass für die dominikanische Linie der scholastischen Metaphysik, die sich eher zur aristotelischen Tradition hingezogen fühlte, Ästhetik kein vordringliches Thema war. Das Schöne hatte an ontologischer Bedeutung verloren und wurde angesichts der als wichtiger eingestuften Fragen nach Gott und Mensch ein Randproblem. Albert hinterließ allerdings eine eher dem Neuplatonismus zuneigende Schule, was wiederum ein gesteigertes Interesse an Fragen der Schönheit mit sich brachte. Ulrich von Straßburg, ebenfalls Dominikaner, war der wichtigste Vertreter dieser Schule. Er widmete in seiner (unvollendeten) Summa de Bono dem Schönen das vierte Kapitel. Nach der Vorlage bei Albert fallen Schönheit und das Gute zusammen. Sie werden nur vom Verstand getrennt. Wir finden widersprüchliche Aussagen, die zwischen aristotelischer Terminologie und platonischem Inhalt schwanken: »Die Form ist die Schönheit eines jeden Dinges«, schreibt er in De pulchro, aber dann heißt es wieder: Die Materie sei chaotisch, ungestaltet und hässlich, die Form hingegen umso schöner, je mehr sie am Göttlichen teilhat, »[…] je mehr sie sich von den Bewegungen der Materie befreit und darum klarer erscheint.« Platonisch bleibt die Gleichsetzung Gottes mit Schönheit und Licht. Für Gott selbst formulierte Ulrich eine Trinitätsspekulation. Über die drei göttlichen Personen gelangt die Schönheit zu einem Zusammenklang (consonantia) in Gott. Wie in der Ontologie das göttliche Wesen – selbst Licht – sich den Dingen als Licht mitteilt, lässt das Licht nicht nur die Form der Dinge hervortreten, sondern ist gleichsam ihre Substanz selbst. Sein wird in dieser neuplatonisch infiltrierten Tradition der Scholastik prozessual begriffen: als fluxus, als continuum fieri (ständiges Werden). Materie wird dann konsequenterweise als zunehmende Verdunkelung (obumbratio) der leuchtenden Form, die sich in der Materie mehr und mehr verliert, angesehen. Der Anteil an Licht entscheidet vor einer solchen ontologischen Folie auch über die Schönheit der sichtbaren Welt. Im Schönen leuchtet die Form: »Je weniger Licht eine beliebige Form erhält, desto formloser (hässlicher) ist sie infolge der Verdunkelung der Materie, und je mehr sie von diesem Licht erhält, desto schöner ist sie dank der Erhebung über die Materie […] Wo aber dieses Licht zum Wesen eines Dinges gehört (essentialiter), dort herrscht eine unaussprechbare Schönheit, ›die zu schauen selbst Engel begehren‹.« Diese Schönheit der Welt umfasst, wie er in De pulchro schreibt, eine vierfache Übereinstimmung von Materie und Form, um die consonantia sicherzustellen. Bei den durchformten Teilen kommt es jeweils auf ein richtiges (harmonisches) Verhältnis an. Das ermöglicht Ulrich eine Definition der Hässlichkeit. Sie ist immer dort gegeben, wo gegen ein solches Verhältnis im Sinne einer deformitas verstoßen wird, beispielsweise bei defekten oder monströsen Körpern. Eine entscheidende Wende der gesamten Ontologie trat mit dem wichtigsten Schüler Alberts ein, mit Thomas von Aquin.

313

Das 13. Jahrhundert

7.2.2.6. Thomas von Aquin In Thomas von Aquin, dem wirkmächtigsten Lehrer der Kirche, kulminierte das neue, von Aristoteles geprägte Denken der Scholastik. Der später »engelgleicher Doktor« (doctor angelicus) genannte Thomas wurde auf Schloss Roccasecca bei Aquino 1224 als Sohn des Herzogs Landulf von Aquin geboren. In Montecassino erzogen, trat er gegen den Widerstand der Familie dem Dominikanerorden bei. 1239 verließ Thomas die Abtei, vermutlich wegen des Eroberungszugs Friedrichs II. nach Italien. Er studierte in Neapel, wo er unbehindert mit dem Werk des Aristoteles in Kontakt kam, in Paris, wo er Albertus Magnus traf und mit ihm 1248 nach Köln ging. Als Lehrenden trifft man ihn in Paris, der damals angesehensten Universität, später in Orvieto, Viterbo, Rom und Neapel, wo er auch Funktionen innerhalb des Ordens erfüllte. Der Tod ereilte ihn 1274 auf dem Weg zum Konzil von Lyon in Fossanova. Beeindruckend für uns Heutige ist die schier unglaubliche Zahl von Werken, Summen, Kommentaren, Opuscula, Quaestionen, dazu unzählige Gutachten, Predigten, Briefe, vor allem angesichts der eifrigen, damals so beschwerlichen Reisetätigkeit. Sein berühmtestes Werk ist neben der Summa contra Gentiles die Summa theologica, an der Thomas etwa sieben Jahre arbeitete und die er dann unabgeschlossen liegen lassen musste.

375 Benozzo Gozzoli, ­Thomas v. Aquin zwischen Aristoteles und Platon mit den Füßen auf Averroës (1468/84)

7.2.2.6.1. Ontologie und Theologie Das Denkgebäude des Thomas durchkreuzte den bisher vorherrschenden Neuplatonismus gründlich. Er war gläubiger Christ und Theologe und sein Anliegen lag im Programm des scholastischen Wahlspruchs fides quaerens intellectum. Gegen den Platonismus erhält die Vernunft eine rationale Form, aber mit dem Platonismus gibt es eine integrale Kraft der Vernunft, die den Menschen Gott und seine Schöpfung erkennen lässt. In der Gottesfrage konterkarierte Thomas den Platonismus, indem er – an Aristoteles anknüpfend – von Gott als einem vollendeten Akt ausging, der keine Potenz einer noch nötigen Selbstverwirklichung mehr in sich hat. Gott ist Akt und verwirklichtes Seiendes (ens perfectissimum). Er tritt als machtvoller Schöpfer aus eigenem Willen auf, der nach seiner Schöpfungstat das Geschaffene in Freiheit entlässt und es nicht in dauernder funktionaler Abhängigkeit (wie das neuplatonische Göttliche) an sich bindet. Kurt Flasch verweist auf den historischen sozialen Kontext: »Die Erstursache (Gott) des Thomas verhielt sich wie ein wohlberatener Lehensherr: Er griff nicht in die Zuständigkeit der Vasallen ein.« Gott braucht zur Vervollständigung seiner ontologischen Souveränität keine Selbstdifferenzierung in Form der Emanation. Er ist nicht auf Selbstrealisation zum Beispiel im Schönen angewiesen. Das ist nicht nur ein theologischer, sondern auch ein kunstphilosophischer Paradigmenwechsel. Mit einem Schlag verliert das Schöne die ontologische Verbindlichkeit und seinen Sinn als Darstellung des Undarstellbaren und damit seine besondere Bedeutung. Die Schönheit wird in weiterer Konsequenz zu einer bloßen Eigenschaft eines empirischen Gegenstandes, wie es sich bei Albertus Magnus bereits angekündigt hatte. Thomas konnte mit Aristoteles, der in seinen

Gott

IV.7.2. Flasch 1986, 334

314

Das Mittelalter

III.2.4.3.3.2.

Seiendes

Beierwaltes 1972, 86 Elders 1985, 20, 52

Hegel 1801, 53 Individuationsprinzip

Schriften – wie damals üblich – stets der »Philosoph« genannt wurde, nicht nur (gegen Platons Immanenz) einen transzendenten Gott, sondern auch eine positive Sicht der Leiblichkeit formulieren. Über Aristoteles hinaus ist das materielle Individuum bei Thomas durch die Würde der christlichen Schöpfungsvorstellung überformt, zur Person (im Sinne der im Christentum gedachten Einmaligkeit und Unverfügbarkeit) aufgewertet. Die Metaphorik einer virtuellen Anwesenheit der Schöpfungsautorität im Geschaffenen (wie die Ursache in ihrer Wirkung) sichert diese Aufwertung gegenüber Aristoteles ab. Zudem ermöglichte dieser Gedanke, philosophisch zwischen Pantheismus (Univokation) und Deismus (Äquivokation) einen transzendenten Gott zu denken, der in der Welt wirkt und aus dieser erkennbar sein kann. Das konkrete Seiende der geschaffenen Welt klärte Thomas in seinem Erstlingswerk De ente et essentia, wo er in radikal antiplatonischer Manier jedem Seienden ein Dasein (esse) und zugleich ein Sosein (essentia) zuschrieb und gleichzeitig eine Erkennbarkeit durch den menschlichen Verstand. Mit dieser Bestimmung formulierte Thomas das, was zu seinem nachhaltigsten Erbe wurde: die Überzeugung von einer prinzipiellen Erkennbarkeit und kategorialen Bestimmbarkeit der gegenständlichen Welt. Die Rückbindung aller Erkenntnis an eine sinnliche Erfahrung ist eines der Kennzeichen dieser Vorgehensweise. Hier tritt freilich kein neuzeitlicher Empirismus auf, sondern ein Optimismus prinzipieller Erkennbarkeit des Geschaffenen, ein Optimismus, der profangeschichtlich in der Neuzeit bereits bei Descartes und seiner Trennung von res cogitans und res extensa zerbrach, spätestens und am nachhaltigsten in der transzendentalen Wende zu dem die Gegenstandswelt strukturierenden Subjekt bei Immanuel Kant. An dieser Stelle liegt das Hauptproblem bei einer Transferierung des aquinatischen Denkens in die Gegenwart. Die neuscholastische Rezeption hat in der Regel aus der Not eine Tugend gemacht und Thomas von Aquin ein transzendentalphilosophisches und idealistisches Konzept zugeschrieben. Dieses Unterfangen, um das heftige Kontroversen ausgetragen wurden, ist freilich mit schwerwiegenden Eingriffen in die Vorlage verbunden. Werner Beierwaltes sprach von Beschädigung durch ein »ideologisches Adaptionsinteresse« und Leo Elders von einer »Metaanthropologie«, die an die Stelle der Metaphysik getreten sei, was Thomas freilich abgelehnt hätte. Schon Hegel hatte in seiner kritischen Würdigung von Fichtes Transzendentalphilosophie das Nötige dazu gesagt: »Die Transzendentalphilosophie geht allein dahin, das empirische Bewußtsein nicht aus einem außerhalb desselben befindlichen, sondern aus einem immanenten Prinzip, als eine tätige Emanation oder Selbstproduktion des Prinzips zu konstruieren.« In gewisser Weise revolutionär war auf dem Hintergrund der bisherigen theologischen Lehrmeinungen das Individuationsprinzip einer Materie, die auf eine quantitativ-akzidentelle Konkretheit hin ausgelegt ist (materia quantitate signata). Wenngleich im Œuvre des Thomas kaum von einer Geschichtlichkeit im engeren Sinn gesprochen werden kann, könnte dieses Bekenntnis zum konkret geschichtlichen Individuum doch als ein Schritt zu einer positiven Verfassung des Menschen als leib-geistige Einheit gesehen werden, die die körperlichen Grenzen nicht automatisch negativ bewertet und sie nicht ständig gegen das Geistige ausspielt.

315

Das 13. Jahrhundert

Die Erkennbarkeit dieses soseinsbestimmten Seienden basiert auf der Schöpfungskonformität alles Geschaffenen (ens commune). Thomas legt über die gesamte Schöpfungsordnung Seinsbestimmungen (Transzendentalien), die er in seiner Disputatio de veritate auflistet: unum, bonum, verum, ens, aliquid, res. Diese Seinsbestimmungen sind nicht selbstexplikative Entäußerungsstufen wie im neuplatonischen Systemkontext, sondern Beschreibungen, die auf eine reale Basis des Seienden verweisen. Sie gehen auf Philipp den Kanzler zurück, dessen um 1230 geschriebene Summa de bono als erster Traktat darüber gilt. Die Transzendentalien meinen allgemeine Bestimmungen, die allen Dingen gemeinsam sind. Jedes soseinsbestimmte Individuum bleibt eingebunden in den Universalitätsaspekt des Seienden schlechthin, sodass eine einheitliche Verbindung zwischen allem Geschaffenen und (per analogiam) dem Schöpfer hergestellt ist. Auf dem Hintergrund der hier formulierten Einheit (ens et unum) entfaltet Thomas auch eine Erkenntnismetaphysik (ens et verum). Innerhalb dieser hat die bei Roger Bacon von einer Sehtheorie inspirierte Erkenntnislehre einen hohen Stellenwert. Die Einheit (ens et unum) ist keine Einheit im Sinne einer platonischen Immanenz, vielmehr ist sie durch die scharfe Trennung (distinctio realis) vom transzendenten Schöpfer zu seiner Schöpfung gebrochen. In der Liste der Seinsbestimmungen fehlt das pulchrum (Schönheit), das bei Platon als Explikationsfeld des Göttlichen die zentrale Rolle der platonischen Ästhetik begründete. Man kann davon ausgehen, dass Thomas es – ganz im Gegensatz zu manch einer (vor allem im Geiste von Kants Transzendentalphilosophie oder des Neuplatonismus stehenden) neuthomistischen Kommentierung, die das Schöne trotz der ausdrücklichen Nicht-Nennung als Seinsbestimmung reklamiert –, sehr bewusst nicht erwähnt hat. Thomas schloss namentlich in seinem Kommentar zur Seelenlehre des Aristoteles jede Harmonie (damit: Schönheit im platonischen Sinn) für die Seele aus. Ganz offenbar ist die Distanz zur Schönheit als Seinsbestimmung im Einklang mit Aristoteles gegen die Mathematisierung der Weltseele bei Platon gerichtet. Erst auf der Grundlage seiner spezifischen Seinsbestimmungen konnte er Schönheit in die Nähe zum Guten bringen (»pulchrum est idem bono, sola ratione differens«) und es so verschärfen. Das Schöne diente hier als ein erster Schritt auf dem Weg zu einer erkenntnismäßigen Erfahrung des Seienden. Immer wieder sieht man ein Bemühen um ein sorgfältig austariertes Verhältnis von Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube. Prinzipiell bleibt die Vernunft eigenständig, aber, weil von Gott geschaffen, von einer realen Grundlage gespeist. Die Eigenständigkeit der Philosophie lag auch den sogenannten Gottesbeweisen zugrunde. Thomas sprach von fünf Wegen, nach denen sich – von der Erfahrung ausgehend – durch vernünftige Überlegung auf eine erste Wirkursache schließen ließ. Die Wege enden nicht in der Glaubensvorstellung Gottes, sondern – philosophisch sauber – in einem Prinzip, das wir – wie Thomas dann sagt – »alle Gott nennen.« In seinem Wesen lässt sich Gott jedoch nicht begreifen. Thomas blieb einer Letztbegründungsambition gegenüber zurückhaltender als viele neuscholastische Schulen des 20. Jh.s. Der hohe Rang der Vernunft und die prägnante Formulierung des konkret Seienden weisen bereits in das Spätmittelalter, wo das sorgsame und mit hoher Diffe-

Thomas von Aquin, De ver 1,1 Seins­ bestimmungen

Schönheit

Seubert 2015, 37; Lotz 1965; Maritain 1947, 40ff Kristeller 1976, 174f Thomas von Aquin, De anim lib.I, lect.9

Thomas von Aquin Sth lib.I, q.27, a.1 ad 3

316

Das Mittelalter

renzierung erreichte Gleichgewicht zwischen Glaube und Wissen nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Bei aller beeindruckenden Größe des thomanischen Denkgebäudes und auch angesichts des Stellenwerts des Personbegriffs darin war der Weg zu einem wirklichen Humanismus noch weit, wie die äußerst abwertende Einschätzung der Frau, der Juden oder der Getauften, die ihren Glauben wieder aufgeben wollen, zeigt.

7.2.2.6.2. Ästhetik

Chenu 1960, 191

Neidl 1976

Speer 1993, 15 Assunto 1963, 105–111 Pochat 1996, 179–190

Thomas von Aquin, Sth lib.I, q.5, a.4 ad 1

Thomas verband mit der Schönheit grundsätzlich einen platonischen Kontext, nämlich eine immanente Ontologie und Mathematisierung. Schon von da her war Schönheit für ihn kein vordringlicher Untersuchungsgegenstand. Er sah das »bildersprachliche Verfahren in der Arbeit des Philosophen als Hilfsmittel sehr niederen Wertes« an. Unter dem Einfluss des Aristoteles hatte er in der Gottesfrage den Transzendenzbegriff gegen Platon in Stellung gebracht und in seiner Ontologie lag der Schwerpunkt antiplatonisch auf dem materiellen Ding. In seinem Dionysios-Kommentar destruiert er ebenso geschickt wie gründlich die neuplatonischen Gehalte so weit als nur möglich. Der Ästhetik widmet er in seinem riesigen Œuvre keine einzige Schrift, Kunstphilosophie, Ästhetik, Schönheit waren für Thomas bestimmt keine wichtigen Fragen. Einschlägige Äußerungen dazu sind allerdings verstreut zu finden. Den bemühten Versuchen, Thomas auch eine ausdrückliche Ästhetik abzuringen, kann schon grundsätzlich aus dieser Konstellation kaum viel Erfolg beschieden sein. Doch ist die Meinung, wie sie etwa Andreas Speer vertritt, dass es in der Literatur eine verbreitete (in »beinahe allen Studien zu Fragen einer mittelalterlichen Ästhetik«) Zuschreibung einer ausdrücklichen Ästhetik an Thomas gäbe, übertrieben. Die von Speer namentlich angeführten Autoren Rosario Assunto oder Götz Pochat weisen der Kunstphilosophie des Thomas von Aquin keineswegs eine Schlüsselrolle zu. Abgesehen von einzelnen auf Thomas bezogenen Einzelstudien entspringt diese Behauptung eher der Lust, einen vermeintlichen wissenschaftlichen Konsens zu destruieren. Es sei nochmals unterstrichen, dass der platonische Kontext, wie er insbesondere im Kapitel zu Platons Spätphilosophie zur Sprache kam, sowohl systematisch als auch wirkgeschichtlich ästhetisch ungleich fruchtbarer und interessanter war – und immer noch ist – als der rigide Entwurf eines Thomas von Aquin in den Bahnen des Aristoteles. Andererseits darf man aber auch nicht übersehen, dass die Ästhetik des Aquinaten (wenn man hier von Ästhetik sprechen will, im Vordergrund steht eher die Erkenntnisfrage) gerade aus dieser Wende der Ontologie hin zum Sinnlichen ihre Originalität gewann. Kaum je seit den Sophisten hat jemand die Sinnlichkeit so hoch bewertet wie Thomas: »das wird schön genannt, das im Anschauen gefällt« (»pulchrum enim dicuntur, quae visa placent«). Allerdings ist Zurückhaltung geboten, was die Modernität dieser Aussage angeht. Einmal beschränkt Thomas die Ästhetik nur auf den Gesichts- und Gehörsinn, die dem Geist und der Erkenntnis am nächsten seien. Es geht hier auch nicht um ein ästhetisches Urteil, sondern wir bewegen uns im Rahmen eines komplexen Erkenntnisschemas, das in ähnlicher Wei-

317

Das 13. Jahrhundert

se bei Thomas de Vio, Cajetan, beschrieben wurde. In einer ersten Stufe des Erkennens auf sinnlicher Ebene wird ein späteres Urteil vorbereitet. Zum anderen hatte in der substanzorientierten Ontologie des Thomas weder die Urteilskraft des Subjekts einen hohen Stellenwert, noch durfte sich dieses Sinnliche von einer göttlichen Schöpfungsordnung abkoppeln. Insofern schreitet Thomas in seiner Ästhetik auf einem engen Pfad zwischen platonischem Immanentismus auf der einen und einem »modernen« Empirismus auf der anderen Seite. Die innovative Kraft einer solchen »Ästhetik« bleibt daher zwangsläufig beschränkt. Bei der Hochschätzung des Materiellen kommt sein gemäßigter Realismus zum Tragen. In die Erkenntnislehre ist eine Bildlehre eingeflossen. Gegenstände sind erkennbar, weil sie mit göttlichem Schöpfergeist durchformt sind. Das Erkennen von Gegenständen gelingt durch eine conversio ad phantasma (Hinwendung zu einem Bild), das, vom intellectus agens erhellt (»quod phantasmata et illuminatur ab intellectu agente«), die species intelligibilis (den Begriff) liefert, also durch eine geistige Abstraktion. Die Schönheit als Eigenschaft von Gegenständen unterliegt ebenfalls der Abstraktion. Jede intuitive Schau schließt Thomas aus. Schönheit wird vielmehr als Kategorie des Sinnlichen in der weitesten Bedeutung in das Erkenntnisvermögen eingemeindet. Schönheit ist ganz im Sinne seiner Ontologie eine objektive Eigenschaft von Gegenständen. »Nicht darum ist etwas schön, weil es von uns geliebt wird, sondern weil es schön und gut ist, wird es von uns geliebt.« Die Bestimmungen, die einen Gegenstand zu einem schönen machen und eine Sinneserfahrung auslösen, sind deren drei: integritas (Ganzheitlichkeit, Vollständigkeit), proportio (Verhältnismäßigkeit, Ausgewogenheit) und claritas (Glanz). Solche Bedingungen passen auf die zwei von Thomas präferierten Sinne, den Gesichts- und den Gehörsinn. Mit Blick auf die integritas nannte Umberto Eco die Ästhetik des Thomas treffend eine »Ästhetik des Organismus«. In der Tat ist die Ontologie des Aquinaten vom Organismusgedanken getragen. Selbst der in der Literatur meist als neuplatonisch beschriebene vierte Weg seiner »Gottesbeweise« ist zutreffender aus dem Geist des Organismus formuliert. Eine der Voraussetzungen, durch die ein Gegenstand zu einem schönen wird, ist demnach das organische Zusammenwirken aller Teile, um ein Ganzes zu definieren. Umgekehrt gesprochen kann – unbeschadet seines ontologischen Wertes – ein Gegenstand nicht schön sein, wenn ein Bestandteil fehlt. Die zweite Bestimmung, proportio, bedeutet nicht bloß Mathematisierung. Auch wenn Thomas eine ähnliche Kategorie einführt, wie sie platonisierende Philosophen zur Grundlage ihrer Ästhetik machen, ist die differenzierende Unterscheidung davon wichtig. Proportio ist ein kunstphilosophischer Ausdruck, der ganz allgemein – die gesamte Ontologie betreffend – die grundsätzliche Bezogenheit zusammenwirkender Teile nach dem Muster von Akt und Potenz meint. Man kann darin zweifellos eine Reflexion auf das Anliegen nach einem harmonischen Verhältnis von Übernatur und Natur, also von Glaube und Wissen, Theologie und Philosophie, Kirche und Staat ebenso sehen wie von Materie und Form oder von esse und essentia. Es geht

Braun 1995

gemäßigter ­Realismus

Thomas von Aquin, Sth lib.I, q.85, a.l ad4

Thomas von Aquin, In Div Nom c.IV, l.10 Thomas von Aquin, Sth lib.I, q.39, a.8 integritas

Eco 1987, 128 Braun 1995, 168; Seidl 1982, 154f

proportio

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Das Mittelalter

claritas

hier um die gegenseitige Verwiesenheit und Zweckbestimmung und um den Ausschluss eines jeden Monismus. Reine Schönheit und Funktion sind miteinander als Erkenntniszusammenhang verbunden. Eine gläserne Säge sei keineswegs schöner als eine aus Eisen, weil man jene nicht benützen kann, so Thomas. Besonders pikant ist die Bestimmung der claritas. Sie ist Ausdruck der Lichtmetaphysik und könnte wie die proportio platonisch interpretiert werden, zumal sie offensichtlich für die Klarheit und Reinheit des Lichtes und der Farbe steht. Aber von jeder platonischen Konzeption unterschieden, steht hier das Licht nicht als Metapher für einen anagogischen Verweis auf ein göttliches Licht, das in seinem Strahlen die Gegenstände erst erzeugt, sondern auch die claritas ist eine Eigenschaft der Gegenstände selbst. Darüber hinaus zeugt dieses Licht von der Intelligibilität der Welt. In seinem analogen Gebrauch des Lichtbegriffs spricht er vom lumen corporale, dem lumen intellectuale, dem lumen supranaturale, dem lumen purum. Trotzdem ist diese Lichtmetaphysik mehr ein metaphorisches Sprechen und kein neuplatonisches Paradigma. Es hat daher eher eine erkenntnismetaphysische Bedeutung als dass sie ästhetisch fruchtbar zu machen wäre. Gemäß seiner Metaphysik ist die Schöpfung durchzogen von einem Geist (intellectus agens), der jeden Gegenstand erkennbar und dem menschlichen Geist (intellectus possibilis) zugänglich macht.

7.2.2.6.3. Kunst

Schlink 1991 Thomas von Aquin, Sent lib.III, dist.9, a.2 q.2

Speer, Markschies u.a.

Aubert 1963, 52

7.4.

Zur Zeit, in der Thomas dies formulierte, wurden an den gotischen Kathedralen Statuen des »schönen Christus« bewundert, die den Bestimmungen des Thomas entsprachen. Die Bildwerke in Kirchen lehnte Thomas nicht ab. Für ihre Existenz führte er drei Argumente ins Feld: das biblia pauperum-Argument, Inkarnation und schließlich die größere Intensität des Bildes gegenüber der Schrift. Dazu kommt noch der unvermeidliche Verweis auf Basilius (»honor imaginis ad prototypum refertur«). Es ist ein hartes Urteil, das die kunstphilosophischen Aussagen des Thomas von Aquin als irrelevant für das zeitgenössische Kunst- und Architekturgeschehen abtut (Speer, Markschies u.a.). Zwar schrieb Thomas, der sich bei der Grundsteinlegung des Kölner Domes möglicherweise in der Stadt aufhielt, nie über konkrete Kunstwerke oder Architektur, aber mit Thomas reiht sich neben eine anagogisch-platonische Deutung, die den Dom als erscheinendes Bild eines verborgenen Gottes interpretierte, eine andere Variante. Demnach zeigt das sich öffnende Bauwerk den in intellektuellen Kreisen offenbar verbreiteten Optimismus, dass sich alles Geschaffene ebenso wie Gott im Licht menschlicher Vernunft argumentieren und erkennen ließe. In der Summa des Aquinaten rückt alles in das »helle Licht einer vernünftigen, logischen Glaubenslehre«. In diesem Optimismus zeigen sich ein neues Selbstbewusstsein der Scholastik und ein gegenüber der Abschottung eines mystischen Raums in der Romanik dezidierter selbstbewusster Wille zur Kommunikation mit der Welt. Zweifellos fungierte Thomas hier nicht als Ideengeber einer Ästhetik, aber die gotische Kathedrale könnte vor solchem Hintergrund zumindest bis zu einem bestimmten Grad als Realisierung einer bestimmten Ontologie im Sinne eines kulturellen Habitus gesehen werden.

319

Das 13. Jahrhundert

Grundsätzlich scheint die scholastische Theorie der Kunst zweifach entworfen worden zu sein: Einmal als Produkt des Geistes, der außerhalb der Natur anzusiedeln ist, und zum anderen als in der Natur als Schöpfung Gottes liegend, also als »Kunstwerk« (ars divina) des göttlichen artifex. Die Quellen mögen hier nicht eindeutig sein, ontologisch ließe sich der Zusammenhang von Thomas von Aquin her indes plausibel ableiten. Menschliches Kunstwerk kann dann stets »als eine ›Nachahmung‹ (ars imitatur naturam), aber zugleich auch als die ›Nachschöpfung‹ der ewigen Urformen der Dinge im Kontext von Raum, Zeit und Materie verstanden werden.« Eine solche zweifache Sicht lässt sowohl eine neuplatonisch geprägte – das Kunstwerk als anagogisch wirksames Abbild – als auch eine aristotelisch-thomistische Interpretation zu, die sich streng am Kausalitätsverhältnis orientiert. Diese Beschreibung des künstlerischen Hervorbringens, das im Geist des Aristoteles die Vier-Ursachenlehre umspannt, ist in der Folgezeit außerordentlich wirkmächtig geworden. Ein Kunstwerk entsteht aus Materialursache, Formursache (der Idee im Künstler), Wirkursache (der Künstler) und Finalursache (Zweck und Funktion des Kunstwerks). Entsprechend dem Verhältnis von Gott und seiner Schöpfung ist der Künstler ein Umsetzer, der eine gefasste Idee in vorgegebenes Material überträgt. Dass Thomas unübersehbar ein Autoritätsverhältnis zwischen dem Künstler und seinem Kunstwerk annimmt, worin sich jenes von Schöpfer zu seiner Schöpfung spiegelt, ist offensichtlich. Auch dies hat den Einspruch von platonisch inspirierten Philosophen hervorgerufen. Ebenso ist solch ein Zusammenhang für das Kunstverständnis der Moderne nicht akzeptabel. Hegel, der Dialektiker, beklagt eine Kausalitätslehre ganz generell: »Eine falsche Identität ist das Kausalverhältnis zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung […] In ihm bestehen beide Entgegengesetzte, aber in verschiedenem Rang; die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich; das eine herrscht, das andere wird botmäßig.« Hegel drückt hier einen Zusammenhang aus, der die Neuzeit zutiefst prägte und sich vor allem an der Zweckursache stößt. Darauf wird im Abschnitt VII. zurückzukommen sein. Ein dort verwandtes Zitat von Marcus Felsner sei bereits hier angeführt: »Das beginnende 18. Jahrhundert ist durchdrungen von der begeisternden, rauschhaft wahrgenommenen Einsicht, dass die Beschaffenheit der göttlichen Schöpfung und die sie beherrschenden Gesetze allein aus der Mathematik erkannt werden können. Überwunden ist die mittelalterliche Vorstellung, dass jedem Naturding sein Platz im Weltganzen durch seinen Zweck zugewiesen ist, was alle Fragen nach dem Wie notwendig offenlässt.« Die Kunst (ars) ist ein Wissen, das von den artifices vertreten wird, auf der Kenntnis von Ursachen basiert und das im Herzustellenden Anwendung findet. Es unterscheidet sich vom Erfahrungswissen der experti. Kunst ist dem göttlichen Schöpfungsakt stets nachgeordnet. Auch wenn Thomas im Gefolge des Aristoteles auf den Schiffsbau oder auf den architector zurückgreift, ist damit nicht der (schöpferische) Künstlerarchitekt gemeint, sondern der Kenner der Ursachen für das Wissen einer spezifischen ars. Das Grundschema der Metaphysik des Aristoteles, das Verhältnis von aufnehmender Materie und gestaltender Form, ist hier auf die Kunst übertragen. Der Künstler ist nach dem Schöpfergott und der Natur, die aus sich

Hedwig 1980, 193

Ursachenlehre

Hegel 1801, 48

Felsner 2010, 83

320

Das Mittelalter

Thomas von Aquin, Sth lib.I, q.15, a.1 Ebd. q.117, a.1

selbst etwas herstellt, der Gestalter und Formgeber, z.B. eines gebrochenen Felsblocks. »Das Haus existiert schon vorher im Geiste des Baumeisters und man könnte es die Idee des Hauses nennen, denn der Künstler bemüht sich, das Bauwerk der Form, die er im Kopfe konzipiert hat, anzugleichen« (»sicut similitudo domus praeexistit in mente aedificatoris; et haec potest dici idea domus quia artifex intendit domum assimilare formae quam mente concepit«). Dabei ahmt Kunst letztlich die Natur nach, in der es durch die Gestaltungskraft Gottes ähnlich zugegangen ist (»ars imitatur naturam in sua operatione«). Ein solches Verständnis insbesondere bildhauerischer Arbeit blieb auch noch in der Renaissance gültig, eine besondere Modernität zeichnete es keinesfalls aus.

376–378 Dom Santa Maria (14. Jh.), Details der Fassade; Orvieto

7.3. Die Gotik in Architektur und bildender Kunst

VIII.3.2.2.2. Baur 1981, 11

Evers Bernd in ATh, 644 Roth 1979

Der Blick auf die Gotik wird zumindest durch zwei historische Projektionen beeinträchtigt. Einmal ist es die in der Einleitung erwähnte negative Sicht der Renaissance auf das Mittelalter, die zudem den Terminus gotisch mit deutsch gleichgesetzt hat. Giorgio Vasari spottete über die aus dem Norden kommende Art zu bauen und schob sie den Goten in die Schuhe. Mit seiner Bezeichnung der maniera gotica war er einer der ersten, die den Ausdruck gotisch prägten. Was in der Renaissance abwertend gemeint war, schlug in der deutschen Romantik in eine Mittelalter- und Gotikbegeisterung um. Sie erkor im 19. Jh., das keinen universalen Stil mehr kannte, die Gotik neben der Romanik zum bevorzugten Baustil. Dass für die Gotik so viele Metaerzählungen existieren, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass de facto gotisch »vom 12. bis zum 20. Jahrhundert fast ohne Unterbrechung gebaut worden« ist. Für Christian Ludwig Stieglitz, August Reichensperger, der um 1840 den Weiterbau des Kölner Doms betrieb, Georg Gottlob Ungewitter, der in der Vollendung des Kölner Doms die Krönung einer christlich-germanischen Bauweise sah, war die Gotik ebenso eine altdeutsche Baukunst wie für Carl Alexander Heideloff, für den der »deutsche Baustyl einzig und allein deutschem Gemüt und dessen schaffender Kraft« entsprang. Diese Gleichung von gotisch und deutsch wurde in der Zeit des Nationalsozialismus endgültig politisch instrumentalisiert. »Daß die Gotik ein ideologisch so an-

321

Das 13. Jahrhundert

fälliger Gegenstand ist, hängt mit der lange in Geltung stehenden Meinung zusammen, die Gotik sei, im Gegensatz zur Romanik, der eigentlich deutsche Stil.« Dazu kam, dass man in der Gotik eine anscheinend gegen Rationalität und das alte Regelwerk gerichtete religiöse Bewegung sah. Dies wiederum ganz im Gegensatz zu den Gotik-Deutungen eines Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, der darin ein rationales luzides Strebewerk sah, das die statische Kräfteverteilung offenbar macht. Abgesehen von dieser rezeptionstheoretischen Überlegung und mit Blick auf die kulturgeschichtliche Kontextualisierung entstand die Gotik in der Zeit einer der »gewaltigsten Urbanisierungsbewegungen der Geschichte. Die gotische Kunst entwickelt sich inmitten dieser städtischen Gemeinschaft, die sich vor allem als wirtschaftlicher Mittelpunkt versteht.« Erstmals seit der Antike traten die Sakralgebäude in einen Wettbewerb mit profanen, vor allem öffentlichen, später auch privaten Gebäuden. Das verlangte jene Öffnung, die im Kontext der Scholastik bereits angesprochen wurde. »Diese städtische Kultur, die sich der des Klosterbereichs, der auf sich beschränkt bleibt, entgegenstellt, öffnet sich freizügig nach außen und erlebt die Geburt eines neuen Menschentyps – des Intellektuellen.« Zu ergänzen wäre, dass der Intellektuelle eben auch auf dem Boden der kirchlichen Lehreinrichtungen, der Universitäten, wuchs und diese Öffnung im Licht einer jetzt argumentierenden Glaubensüberzeugung auch für die städtischen kirchlichen Einrichtungen galt.

Toman 2007a, 7

VIII.3.2.3.2.2.

Erlande-Brandenburg 1984, 16

Ebd.

7.2.

7.3.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Architektur Sowohl die erwähnte ideologisch belastete Mittelalterbegeisterung als auch die Würdigung des Mittelalters von kirchlicher Seite in der Neuscholastik lösten einen Impuls einschlägiger Forschung aus. Diese führte letztlich zu einer Korrektur des alten Narrativs vom »finsteren Mittelalter«. In der Konsequenz sahen sich auch andere herumgereichte Narrative auf den Prüfstand gestellt. Dazu gehört die inzwischen widerlegte Idylle vom armen anonymen mittelalterlichen Künstler, der sich unter Selbstaufgabe in den Dienst der heiligen Sache stellte. Diese Meinung hatte sich wohl auch aufgrund entsprechender Aussagen der Kirche (Nizäa II 787) oder von frühen Mönchsvätern festgesetzt. Rezeptionsgeschichtlich verfestigte sich diese Ansicht in den Legitimationserzählungen für die Neuzeit. Besonders gründlich hat Aaron Gurewitsch diese Meinung in einer eindrucksvollen Studie über die Genese des Individuums in der europäischen Kulturgeschichte relativiert. Um aus dem persona-Begriff des Mittelalters die Topographie eines Individualismus herauszufiltern, setzte Gurewitsch auf autobiographische Äußerungen bei Guibert von Nogent, Abaelard und Abt Suger, aber auch auf die bereits erwähnten Künstlersignaturen. Dass man im Hochmittelalter eine Zurückhaltung gegenüber dem Individuum vorfindet, deutet Gurewitsch (so wie etwa schon vor längerer Zeit Alfons Dopsch) als einen von oben verfügten Kollektivierungszwang. Die Rezeptionssituation im Hinblick auf die Gotik bietet gegenwärtig mehrere Zugänge, die sich teilweise verbinden lassen, die sich aber auch widersprechen. Vielleicht könnte man sie zu zwei Paradigmen bündeln: (1) einmal eine Sicht der Gotik bzw. der gotischen Kathedrale im Kontext eines anagogischen Kunstverständnisses

VIII.8.2.

mittelalterlicher Künstler

Legner 2009; Tripps 1998, 201–210; Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 157

Gurewitsch 1994

Gotik als ­Erzählung

322

Das Mittelalter

379 Palazzo Ducale (um 1400); Spitzbogen und Maßwerk; Venedig

380 Sonnenfenster am Dom von San Feliciano; Foligno, Umbrien

6.2.3.

Nicolai 2007, 110

Speer Andreas in Speer/ Binding 2000, 15 IX.3.4.2. 7.4.

oder einer erzählerischen Ambition. Darunter lassen sich Motivforschungen zur neuplatonischen Lichtmystik oder zur scholastischen Summenliteratur bei Erwin Panofsky, Otto von Simson, auch Günter Bandmann subsumieren und großzügig auch Formanalysen, wie sie Georg Dehio (Stichworte: »Kreuzrippengewölbe« und »Strebesystem«), Hans Sedlmayr (Stichworte: »Baldachinsystem«, »Schweben« und »Himmelsstadt«) und Hans Jantzen (Stichwort: »diaphane Struktur«) durchgeführt haben. Dieter Kimpel und Robert Suckale brachten in ihrem Gotik-Buch Die gotische Architektur in Frankreich (1985) auch ideologiekritische Aspekte in die Diskussion. Ihre durch die Annales-Schule inspirierte Geschichtsschreibung, die die Lebenswirklichkeit der Zeit und die konkreten Interessen von Auftraggebern und kirchlichen Institutionen bei der Wahl von Architekturformen und Bildthemen berücksichtigen, versteht sich zwar als Gegenposition zu reinen Formanalysen. Aber man könnte sie auch als korrigierende Ergänzung fruchtbar machen. (2) Anders verhält es sich mit dem anderen Paradigma, das auf einen quellenkritischen Zugang zur Gotik aufbaut. Seine Vertreter gehen exemplarisch und empirisch vor und lehnen ideengeschichtliche »Generalthesen« ab, ja ironisieren diese bisweilen. In kurzen Zügen sollen beide Paradigmen in ihren Stärken und Schwächen vorgestellt werden. Für das Paradigma der Kathedrale als Ort der Lichtmystik und anagogischer Erfahrung ist der historische Ausgang die Konstellation von St. Denis mit seinem Abt Suger, wie dies auf den letzten Seiten ausführlich dargestellt worden ist. Dabei geht es keinesfalls darum, dieses Paradigma exklusiv für die Gotik zu reservieren. Selbstverständlich war jede Lichtarchitektur von einschlägiger Metaphorik begleitet. Dass mit »vergleichbaren Worten« auch »die Hagia Sophia oder die Pfalzkapelle in Aachen gepriesen worden« waren, ist kein Argument gegen eine neuerliche Anwendung im Fall der Gotik. Es war prominent Erwin Panofsky, der die Bedeutung dieser Konstellation ins Bewusstsein rief und sie in den geistesgeschichtlichen Kontext von Neuplatonismus und Scholastik stellte. Panofsky beabsichtigte, sein einschlägiges Sugerporträt samt den Textausgaben der wichtigen Weiheschriften Sugers zum 800. Geburtstag der Einweihung des Ostchores von St. Denis im Jahre 1944 herauszubringen (es erschien erst 1946). Mag sein, dass es Panofsky auch darum ging, antike Bildung und den aufkeimenden mittelalterlichen Humanismus als »Gegenentwurf zur Barbarei des Nationalsozialismus« stark zu machen. Gegen eine solche Motivation, die zu allen Zeiten Berechtigung hat, wäre nichts einzuwenden. Panofsky bezog Sugers Handeln mit seiner Methode der Ikonologie, die an anderer Stelle kritisch gewürdigt wird, auf das neuplatonische, aber auch auf das scholastische Paradigma (ohne diese beiden Paradigmen wirklich zu unterscheiden). Damit legte er eine Spur, der viele Autoren folgten und die jahrzehntelang zum führenden Muster der Gotikforschung wurde. Hans Sedlmayr, dessen Kathedralen-Buch (1950) etwa zur gleichen Zeit wie sein rückwärtsgewandter kulturkritischer Essay Verlust der Mitte (1948) entstand, schloss sich dem – sogar mit klarer Unterscheidung von Neuplato-

323

Das 13. Jahrhundert

nismus und Scholastik – an. Auch Charles Morey, Otto von Simson, Hans Jantzen, Georges Duby, Christian Norberg-Schulz, Günter Bandmann, Götz Pochat, Wladyslaw Tatarkiewicz, Rosario Assunto, Umberto Eco, Nikolaus Pevsner und der Philologe und Philosoph Werner Beierwaltes legen dieses gängige geistesgeschichtliche Paradigma der Gotik als Lichtarchitektur in ihren Arbeiten in der einen oder anderen Form zugrunde. Historisch wird dabei immer wieder verwiesen auf den Einfluss des Corpus Areopagiticum auf Abt Suger von St. Denis. Innerhalb dieses Konsenses gibt es selbstredend spezifische Besonderheiten, insbesondere durch eine darauf aufbauende Formanalyse. Finden sich bei Sedlmayr zweifelhafte ethnische Aspekte wie ein vermeintlich nordisches Element im Umgang mit Licht, Farben und dem Kristallinen, geht es Otto von Simson primär um das Licht. Ebenso fasziniert vom Licht war Hans Jantzen, der die leuchtenden Wände als diaphane Strukturen bezeichnete, die sämtliche Raumgrenzen auflösen. Vielfach wird die spezifische Raumerfahrung der gotischen Kathedrale beschrieben. Sedlmayr spricht von Baldachinsystemen. Nikolaus Pevsner sah eine Belebung träger Mauermassen und eine Steigerung der Spannung des Raums als »System starker Bewegungsenergie«/»Im ganzen ist der Chor von St. Denis geprägt durch eine neue Unbeschwertheit, durch den Fluß geschmeidiger und doch straffer Kurven, durch eine kraftvolle Konzentration und zugleich ein freies, ungehindertes Strömen des Raumes.« Das erinnert an Titus Burckhardt, der ähnlich argumentierte: »Die romanische Kunst läßt den Stein Stein sein; sie macht nur seine träge Masse einer geistigen Ordnung untertan; die gotische Kunst dagegen flößt dem Stein gleichsam ein eigenes, zielstrebiges Leben, einen drängenden Willen ein.« Aaron Gurewitsch spricht von einer rhythmisierten bewegten Ruhe. Pevsner hob neben dem Licht die Bedeutung der Rotunde auch für die Gotik hervor, wenngleich sie aus liturgischen und konstruktiven Gründen nicht in der Idealgestalt realisiert wurde. Sie überspannt den Ort des Verweilens, die Vierung: »Aber auch hier hält man nur für kurze Zeit inne. Bald schließen sich, nunmehr im Chorabschnitt, Mittelschiffe und Seitenschiffe aufs neue zur Straße zusammen, und wir kommen erst dann wirklich zur Ruhe, wenn wir die Apsis und den Umgang erreicht haben, in deren kraftvoller Umarmung die Parallelströme der nach Osten drängenden Raumenergie aufgefangen werden, um in einer letzten steil nach oben gewendeten Bewegung […] zum Gipfelpunkt des Schlußsteines anzusteigen.« Insbesondere in der Beschreibung des detaillierten tektonischen Systems kommt Pevsner unwillkürlich zu einer hymnischen Schilderung der anagogischen Erotik des Lichtraums. Wenn er zudem in der gotischen Kathedrale sowohl unseren Verstand als auch unser Empfinden beteiligt sieht, könnte das als Verweis auf die Spannung von platonischer Mystik und scholastischer Aufklärung gelesen werden: Die Architekturen der Kathedrale zielten »bewußt auf den Gegensatz zwischen einem Innenraum, der ganz von gläubigem Empfinden, und einem Außenbau, der ganz vom logischen Intellekt geprägt ist.« So bedürfe es kaum »vieler Worte, um deutlich zu machen, daß die gotische Kathedrale […] aufs engste der klassischen Scholastik verbunden ist.«

6.2.3.

Sedlmayr 1950, 330ff

Sedlmayr 1950, 167 Klein 2007b, 39

Pevsner 1943, 88/89f

Burckhardt 1962, 70 Gurewitsch 1997, 89

Pevsner 1943, 106

Ebd., 111f/112

324

Das Mittelalter

Braunfels 1953, 124

5.4.1. Simson 1956, 93

Erlande-Brandenburg 1984, 24 Rippengewölbe

381 Notre-Dame in Paris (1163–1345) Waldmetaphorik

Bialostocki 1972, 114

Auch Wolfgang Braunfels sah in der Gotik das Bewusstsein, dass jedes Ding seinen Platz in einem Organismus zugeordnet erhält. Für ihn sind auch Straßen solche Orte: »Indem man sie durchschreitet, vollzieht man das Gesetz ihrer Bestimmung«. Das ist ein schönes Beispiel eines angewandten Organismus- und causa-finalis-Gedankens des Thomas von Aquin. Braunfels verweist auf die Eigenart, dass die Kathedrale im nördlichen Europa eng von Bürgerhäusern umschlossen war, während sie im Süden frei stand. Es gibt viel Quellenmaterial dafür, wie Plätze frei gemacht wurden, um Domkirche und Stadtpalast dem Blick zu öffnen. Bisweilen wurde dieses Interesse an Inszenierung bereits als Beginn der Renaissance im Trecento gedeutet. Die Gotik bot in ihrem ab etwa 1150 verwandten Strebewerk ein auf Transparenz ausgerichtetes freigelegtes Stützsystem. Das macht den deutlichen Unterschied der gotischen Architektur zur romanischen aus. Für Simson macht das die Gotik nicht zur »Erbin«, sondern zur »Rivalin« der Romanik. Die Mauermassen werden durchbrochen, das Licht strömt in das Innere. Ein differenziertes Strebesystem ermöglicht diese großflächigen Öffnungen, der Rundbogen wird durch den Spitzbogen abgelöst. Vor allem die Neugotik im 18. und 19. Jh. war von der Dynamik der Kräfteverteilung und der Transparenz der statischen Verhältnisse fasziniert und erkannte darin eine Modernität, die sich auch auf die Gusseisenarchitektur anwenden ließ. Das Bauen wurde durch technische Hilfen, durch Standardisierung und Vorfertigung von Bauteilen und durch maßstabgerechtes Planen deutlich kostengünstiger und schneller. Es war die »innige Verbindung« von Spitzbogen, Rippengewölbe und Strebewerk, die »die große technische Leistung der Gotik« ermöglichte. Die Bautechnik, die den neuen Stil als Ausdruck eines neuen philosophischen Selbstverständnisses ermöglichte, war das Rippengewölbe. Es ließ sich schneller und kostengünstiger errichten als das Tonnengewölbe und gewährte dem Architekten eine deutlich größere Flexibilität in der Raumgestaltung. Die Gotik hat weder Spitzbogen noch Gewölberippen erfunden. Beides fand breite Verwendung in der islamischen Architektur und war auch in der Romanik verschiedentlich in Gebrauch, aber diese Konstruktionen wurden nun gezielt eingesetzt. Ein neues Raumsystem schafft eine Einheit, die an die Stelle der Raumvielfalt der romanischen Kirchenfamilie tritt. Innerhalb eines solchen Rahmens differenziert sich der Sakralbau in die großen Kathedralen auf der einen und die schmucklosen Zisterzienserkirchen und Bettelordenskirchen auf der anderen Seite. Neben diesen eher formalen Beschreibungen und den Deutungen der Kathedrale als anagogisch-mystischer Raum tritt eine weitere reizvolle, die auf die Wald- und Gartenmetaphorik abhebt. Denn die gotische Architektur spielt mit einer »Vegetabilisierung der Bauformen.« Karl Oettinger sah darin eine Bedeutungsverschiebung von der Kathedrale als Abbild der Civitas Dei zur Bedeutung des Himmelsgartens und Paradieses. Mit der Lebensbaumsymbolik kommt jeder Pflanzenform sakrale Bedeutung zu. Auch Teile wie Kanzel und Chorgestühl werden häufig in der Form

325

Das 13. Jahrhundert

von Gartenlauben gestaltet. Dieses Narrativ diente dem Kunsthandwerk für die Gestaltung der Ornamentik. Die Gotik wurde zu einem gesamteuropäischen Stil, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den französisch-, deutsch- und italienischsprachigen Gebieten. Mit der Gotik begann die Stärkung der profanen Seite des Lebens. Die Regierungen der Städte, aus denen die Stadtstaaten der Renaissance wurden, brauchten Paläste. »Der ‹Gründungsbau‹ norditalienischer Stadtpaläste in der ›neuen Form des monumentalen Stadthauses‹ mit Turm, der die casa-torre zugrunde liegt, ist der zwischen 1208 und 1257 entstandene Palazzo dei Priori in Volterra. Er bildet das unmittelbare Vorbild für den nach 1294 erbauten Palazzo Vecchio in Florenz.« Alle diese von mir in einem Paradigma zusammengefassten Deutungen, von Andreas Speer als »ideengeschichtliche[n] Generalthesen« bezeichnet, wurden in den letzten Jahren einer Kritik unterzogen. Diese richtet sich gegen die Methode Panofskys, die als ein »analogisch-insinuierendes Verfahren« abqualifiziert wird, und sie richtet sich gegen den Inhalt, der vom philosophischen Idealismus der Romantik gespeist und überholt sei. An die Stelle der alten Methode soll ein streng quellenkritisches Verfahren treten, um die hermeneutischen Probleme eines Verständnisses der Intentionen von Bauherrn, Architekten und Kunsthandwerker des Mittelalters zu bewältigen. Solche Quellenstudien beziehen sich sowohl auf den Baubetrieb, auf das mittelalterliche Kunsterleben, als auch auf die unmittelbaren Quellen, namentlich jene Sugers von St. Denis, die nun im Lichte analytischer, manchmal schon ins Positivistische kippender Textlektüre neu interpretiert werden. Dass dabei die bisher vertretene Meinung der (von den Schriften des Areopagiten beeinflussten) Intention des Abtes von St. Denis destruiert wird, ist nur konsequent. Günther Binding bekennt, dass er sich durch die Beschäftigung mit zeitgenössischen Quellen, mit der Entwicklung der architektonischen Formen und des Baubetriebs, immer mehr von der Auffassung (gemeint v.a. Otto von Simson) entfernte, die gotische Architektur als Abbild oder Darstellung einer übernatürlichen Wirklichkeit zu verstehen. Als wichtige Weichenstellung wird immer wieder auf die Trennung der verschiedenen Sparten von artes bei Hugo von St. Viktor verwiesen. Damit sei, so glauben die Autoren, eine theologische von einer bautechnischen Motivation getrennt worden. Die eine bleibe vage, die andere ließe sich durch Beispielsfälle und durch die in der Nachwirkung aufgekommenen Musterbücher, wie jenes von Villard de Honnecourt, gut belegen. Das Paradigma gerät mit dem inhärenten Positivismus in die Nähe eines rein technisch-konstruktiven Interpretationsversuchs der Gotik, der, von den Gusseisenkonstruktionen des 19. Jh.s ausgehend, etwa von Viollet-le-Duc angestoßen wurde. Ihm ging es allerdings weniger um Reduktion der Gotik auf eine Ingenieursleistung als vielmehr um die Rekonstruktion der inhärenten Modernität. Dazu wurden freilich schon früher Feststellungen abgegeben, etwa von Nikolaus Pevsner: Für das Verständnis der Gotik seien ästhetische Gesichtspunkte »bei weitem bezeichnender als alle technischen Verbesserungen […].«

382 Palazzo Vecchio (Anf. 14. Jh.) mit Loggia dei Lanzi; Florenz

Nicolai 2007, 79 Quellenkritik Speer 1993, 39 Speer Andreas in Speer/ Binding 2000, 16

Binding 1995a, 12 6.2.2.

VIII.3.2.3.2.2. Pevsner 1943, 88

326

Das Mittelalter

Simson 1956, 151f

Speer 1993, 45

Markschies 1995, 42 Veyne 209, 158 X.2.5.

Toman 2007a, 9 Klein 2007b, 28

7.4.

Für die Bewertung dieser beiden Paradigmen stellen sich grundsätzliche Fragen. Etwa jene, inwieweit man von einem Einfluss weltanschaulicher Konzepte in einer Gesellschaft auf die Gestalt von Architektur und Kunst ausgehen kann, inwieweit also nach Erwin Panofsky Kunstgeschichte in der Geistesgeschichte wurzelt. Die vorliegende Arbeit fußt letztlich auf einer solchen Voraussetzung. Gälte das nicht, hätte Kunstphilosophie in der Tat einen schweren Stand. Den Kritiken ist dort Recht zu geben, wo emphatisch eine regelrechte Kausalität zwischen Neuplatonismus und gotischer Architektur beschworen wird. Für Otto von Simson wäre die gotische Architektur »ohne die falschen Angaben eines anonymen syrischen Schriftstellers [gemeint ist Dionysios Pseudo-Areopagites und dessen Rezeption durch Suger; BB] […] gar nicht entstanden.« Das mag deutlich überzogen sein, aber die gegenteilige Behauptung scheint ähnlich legitimationsbedürftig. Freilich bleibt letztlich die Haltung zu einem möglichen Einfluss weltanschaulicher Konzepte auf Kunst und Architektur auch bei den Autoren des zweiten Paradigmas nicht völlig klar. Einerseits ist die Ambition groß, solche Zusammenhänge als spekulativ möglichst kleinzureden, andererseits wird auch von ihnen die Funktion der Kunst als Bedeutungsträger im mittelalterlichen Kunsterleben im Allgemeinen und die Bedeutung des anagogischen Moments der gotischen Architektur im Besonderen nicht in Abrede gestellt. Dennoch bleibt das Bemühen sehr wichtig, Sugers Abhängigkeit von Erscheinungen des Zeitgeistes, sei es der Neuplatonismus, sei es die Scholastik, zu relativieren. Allerdings überzeugt das sowohl methodisch als auch inhaltlich wenig, wie in 7.4. eingehender diskutiert werden soll. Insbesondere gibt es kaum mehr eine Antwort auf das Phänomen der Gotik als grenzüberschreitendem Stil, es sei denn, man gibt sich mit technologischen Erklärungen wie der Fortentwicklung des Hebezuges zufrieden. Kunst würde damit – wie Paul Veyne in anderem Zusammenhang meint – ein »Kind ihrer eigenen Werke« und generiert daraus neue Formen. Das wäre die Position reiner Selbstreferentialität von Kunst, die freilich nicht frei von Problemen ist. Insofern sollte es eigentlich klar sein, dass die alte Kontroverse, ob die Idee oder die Technik bestimmend für die gotische Architektur war, sich nicht in eine der Alternativen auflösen lässt. Eine Idee lässt sich ohne Technik nicht umsetzen, dass aber bloße Technik ohne eine Idee, ja eine Philosophie im Hintergrund ziel- und planlos ist, ist auch schwer zu bestreiten. Man könnte in Abwandlung eines Kant-Wortes sagen: Idee ohne Technik bleibt leer, Technik ohne Idee bleibt blind. Dass Abt Suger den Anfang der Gotik personalisiert, sei es als deren »Schöpfer« oder als »Katalysator einer Bewegung, die bereits einige Jahre zuvor angefangen hatte«, ist über alle Lager der Gotiktheorien hinweg Allgemeingut. Umstritten indes ist die Frage, inwieweit er selbst ein philosophisches Konzept besessen und dieses als Vorlage für den Bau seiner Kirche benützt hat. Dazu soll in einem eigenen Kapitel eingegangen werden.

327

Das 13. Jahrhundert

7.3.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Skulptur und Malerei Die diffizilen Fragen des Übergangs von der romanischen in die gotische bildende Kunst sind Sache der Kunstgeschichte. Hier geht es darum, einige kunstgeschichtlichen Meilensteine zu referieren und mögliche kunstphilosophische Aspekte dabei im Auge zu behalten. Interessant ist, dass die Eröffnung der gotischen Skulptur ebenfalls in St. Denis geschah. Abt Suger stellte am Portal die alttestamentlichen Könige auf, wohl um propagandistisch einen Bezug zu den zeitgenössischen Herrschern herzustellen. Die klarste Ablösung von der Romanik lässt sich bei den ursprünglich 24, heute noch erhaltenen 19 Figuren auf dem Königsportal der Kathedrale von Chartres studieren. »Aus dem romanischen Mauerverband des Reliefs heraus waren die Figuren gleichsam vor die Säule der Portalgewände getreten. Mit diesem Schritt, dessen ›Beweggrund‹ die Kunstgeschichte bis heute nicht schlüssig zu erklären vermag, hatten diese sich zugleich an den Beginn einer neuen Epoche der Bildhauerei gestellt.« Ähnliches beschreibt Xavier Barral i Altet für die Königsgalerien ganz allgemein, die mit dem Aufstellen der Königsfiguren in der oberen Fassadenzone begann. Die Darstellungen weisen auffällige Veränderungen auf: Es sind keine Schrecken mehr dargestellt wie in der Romanik. Weltordnung statt Weltgericht, der Blick auf Gottes Barmherzigkeit statt auf ihn als strafenden Richter. Alles, was den Zorn Bernhard von Clairvaux’ ausgelöst hatte, war beseitigt. Kunstphilosophisch kann man an der gotischen Figur den Übergang vom Platonismus zum Aristotelismus ablesen. Kunsthistoriker verweisen auf eine Ambivalenz zwischen der »zeremoniellen Stilisierung ihrer Haltungen« und der »einer jeden Figur eigenen, ja beinahe individuellen Gestalt […].« Anschaulicher kann man das Kippen der alten byzantinisch-romanischen Statik in den Naturalismus der Gotik kaum beschreiben. Die Statue emanzipierte sich aus der Gebundenheit der Architektur und sicherte den Raum. Berühmte Beispiele dafür sind der Bamberger Reiter (vermutlich Stephan I. v. Ungarn; um 1230), der Teil eines umfassenden Bildprogramms war, und der Magdeburger Reiter (vielleicht Otto I.; um 1245). Neben Aristoteles hatten auch die Bettelorden ihren Anteil an der Naturalisierung. Sie reflektierten anfangs mit wenig philosophischer Ambition. Ihre Wurzeln lagen in der Mönchstradition, wobei der Gottesknecht Jesu ebenso gefeiert wurde wie die Schöpfungen der Natur. Ihr Aufruf, den Bruder Christus in Liebe und Mitleid nachzuahmen, bedeutete, »ihn in den bewegendsten Augenblicken seines Lebens darzustellen, in der Zartheit der Kindheit und im Leid der Todespein, und ihm jene Frau an die Seite zu stellen, die ihn in ihrem Leib getragen hatte […].« Franziskus pries die Natur überschwänglich als Schöpfung Gottes. Der Lobpreis dieser Schöpfung geschah auch an den Fassaden der Kathedralen, wo die Abbildungen den realen Vorbildern immer ähnlicher wurden. Jean de Marville, vor allem aber

383 St.-Sauveur in Aix-en-Provence; gotischer Engelschor in den Archivolten

Skulptur

Geese Uwe in Toman 2007a, 300 Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 128

Geese Uwe in Toman 2007a, 300

Barral i Altet Xavier in Duby u.a. 1989, 158

328

Das Mittelalter

384–386 Kartause von ­Champmol, Portal (um 1400), Philipp d. Kühne mit Johannes d. Täufer, Madonna mit Kind, Margarete v. Flandern mit Katharina v. Siena; Dijon Geese Uwe in Toman 2007a, 321

Klotz 1997, 12

387 Trauerzug der Mönche am Grabmal Philipps d. Kühnen v. Claus Sluter, Detail; MBA

388 Abguss des Moses vom Moses-Brunnen der Kartause v. Champmol v. C. Sluter; MBA

dessen ursprünglicher Assistent Claus Sluter statteten die Kartause von Champmol in Dijon, die Grabeskirche der Herzöge von Burgund, (dem Anspruch St. Denis in Frankreich nachempfunden) mit Szenen von realistischen Figuren aus. Er hob noch dazu profane Menschen, nämlich Philipp II. den Kühnen mit seiner Gemahlin, als Stifter ins Portal, das über Jahrhunderte biblischem Personal und Märtyrern vorbehalten war. »Nie zuvor waren am Portal eines sakralen Gebäudes lebende Menschen ins Bild gesetzt, dazu so real […].« Die Tympana gewannen eine starke, schon perspektivisch anmutende Raumtiefe. Man gerät mit dieser Entwicklung an den Rand dessen, was noch Mittelalter genannt werden kann. Heinrich Klotz sah im Portal von Champmol das »erste große Denkmal der Kunst der Frührenaissance« nördlich der Alpen. In Italien war die Figur von Hause aus weniger an die Architektur gebunden. Das französische Figurenportal war in Italien kein Vorbild, denn dort waren die Einflüsse aus der Romanik, aus Byzanz und dem Orient stark. Die Skulpturenprogramme wurden auf Kanzeln, gerne zusammen mit erzählenden Fresken in Bettelordenskirchen, wo sie gleichsam die Predigt bildlich unterstützen, oder großflächig auf Türen von Kirchen und Baptisterien präsentiert. Aber auch in Italien gab es große Fassadenprogramme wie jenes des Doms von Orvieto, das – von verschiedenen Bildhauern stammend – als Schlüsselwerk der gotischen Skulptur in Italien gilt. Die lebendigen und theatralisch – manchmal unter Verwendung von Bildtafeln – vorgetragenen Predigten der Bettelmönche hatten auch das Kunstempfinden verändert und die starre byzantinische Form als leblos erscheinen lassen. Niccolò Pisanos Kanzelrelief im Baptisterium in Pisa (um 1260) nimmt sich in

329

Das 13. Jahrhundert

seinem Klassizismus wie eine »polemische Antithese« gegenüber der alten byzantinischen maniera aus. In Malerei und Skulptur brachen die Künstler die alte hieratische Körperhaltung durch einen leichten anmutigen Schwung auf, der typisch gotischen S-Form. Dazu kamen naturalistische, ja verspielte Gesten, fließende Gewänder, die Figuren erhielten Volumen und waren nicht mehr bloß schemenhaft angedeutet. In Deutschland und Österreich begannen Bildhauer in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s Bildwerke aus Holz zu schnitzen. Es gab dafür reichhaltige Vorläufer. Im frühen Mittelalter waren Reliquien immer vom Bilderverbot ausgenommen. Sie repräsentierten stets pars pro toto den gesamten Heiligen. Reliquiare wurden im Laufe der Zeit als figürliche Behälter gearbeitet. Und schließlich wurden erste geschnitzte Skulpturen häufig (aber nicht ausschließlich) durch die Anwesenheit der Reliquie in ihnen geheiligt und derart dem Bilderverbot entzogen. Johannes Balbus von Genua fühlte sich noch im 13. Jh. bemüßigt, drei Gründe für die Aufstellung von Bildern in der Kirche aufzulisten: sie dienten der Belehrung, Memoria und Kontemplation. Die haptische Funktion von Reliquien zeigte sich vor allem bei Berührungsreliquien, die alte magische Vorstellungen fortsetzten. Um 1400 entstanden die sogenannten Schönen Madonnen, die – ästhetisch verfeinert und idealisiert – keine Reliquien mehr enthielten. (Muttergottes vom Kölner Friesentor) Sie waren sehr weiblich und mütterlich mit unter dem Gewand sich abzeichnenden Körperformen und bewegtem Faltenwurf gearbeitet. Es spielte sich ein ähnliches Kapitel einer aufklärerischen Naturalisierung ab wie im Reinen Stil der Antike zur Zeit des aufgeklärten Athen. Auch wenn grundsätzlich der Übergang von der romanischen zur gotischen Malerei für die Kunsthistorikerinnen einfacher zu bestimmen ist als jener von der gotischen zur Renaissancemalerei, ist die Malerei der Gotik ein schwieriges Kapitel. Die kunsthistorischen Rahmenbedingungen dazu sind komplex. Vor allem in Deutschland und Österreich sind eine neuartige Dynamik und Ausdruckshaftigkeit zu erkennen. Möglich, dass dies durch die Dynamik der Kathedralgotik angestoßen wurde. Diesen neuen Stil nennen die Kunsthistorikerinnen »Zackenstil«, indem sie sich auf die gebrochenen Falten der Gewänder beziehen, die eine hohe Dynamik gegenüber der starren, ruhigen Form der Romanik enthalten. Die Wende trat gegen Mitte des 13. Jh.s auf und fiel mit dem Ende der Stauferzeit zusammen. Schwieriger ist die Abgrenzung zur Neuzeit. Da geht es einmal um die zeitliche Abgrenzung zur Renaissance und zum anderen um die geographische Abgrenzung der italienischen von der niederländischen Malerei. Dort nämlich kippte das Bild am deutlichsten in die neuzeitliche Vorstellungswelt, oder wie Hans Belting es ausdrückte, die alten Funktionen des religiösen Bildes bestanden fort, aber nur mehr als »Hülse für eine neue Ästhetik und ein neues Weltinteresse, für das noch keine eigenen Bildthemen zur Verfügung stehen.« Claus Sluter, Rogier van der Weyden und Jan van Eyck mit ihren narrativen Bildern werden von den meisten Kunsthistorikerinnen zwar noch der Gotik zugeschlagen, sie »schmecken« mittelalterlich, aber in ihrer Malerei zeigt sich ein Naturalismus, der im Sinne der einführenden Bemerkungen in 5.3.2. als abschließender Höhepunkt lateinischer mittelalterlicher Kunst gesehen werden kann, genauso gut aber als Anfang einer neuen Kunst, die Raum und Zeit real behandelt:

VI.6.2. Perril Alexander in Toman 2007b, 46

Tripps 1998, 111f Wenzel 1995, 323

III.2.4.1.

Malerei

Kluckert 2007, 428

Belting Hans in Belting/ Kruse 1994, 10 Huizinga 1919, 300

330

Das Mittelalter

Ebd., 290

Kluckert 2007, 388

Klein Bruno in Toman 2010, 344

Retabel

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 231

»Die äußerste Möglichkeit in der irdischen Gestaltung des Göttlichen war hier erreicht; der mystische Inhalt dieser Darstellung war nahe daran, sich aus den Bildern zu verflüchtigen und allein die Lust an der bunten Form zurückzulassen.« Für unseren Zweck genügt es, auf Grundstrukturen zu verweisen wie jene, dass die Niederländer sich an einem realistischen Naturmodell orientierten, die Italiener den Raum und die Perspektive erkundeten. Beide Wege kamen darin überein, dass sich ein großes Interesse am Raum und dem Figurengefüge in ihm zeigte. Das ist eine Exploration, die in die Neuzeit weist. Inwieweit die Lösung dieses Problems in Frankreich und in den Niederlanden anders ausfiel als bei den Italienern – zu nennen ist an erster Stelle Giotto –, ist Sache der Kunsthistorikerinnen. So viel an philosophischer Charakteristik sei freilich festgestellt, dass Giotto, mit dem im nächsten Kapitel die Renaissance begonnen werden soll, den Bildraum für den Betrachter öffnete. Das bedeutete »eine radikale Abkehr vom damals noch dominanten byzantinischen Schema, das zwar die Nähe der Glaubensdinge suggerieren, aber zugleich die Unnahbarkeit der heiligen und biblischen Personen deutlich machen wollte.« Dass diese Entwicklung in der Zeit Irritationen hervorrief, kann nicht überraschen. Daher gab die Kirche bei ihren Aufträgen der alten maniera greca, dem byzantinischen Stil, den Vorzug. Die gotische Malerei verlor zudem im sakralen Bereich die Malflächen, weil die Mauern der Kirchen aufgelöst wurden – deutlicher als im profanen Bereich, in Burgen, öffentlichen Palästen und Wohnhäusern. Eine Alternative in den Kirchen wurde der Altarbereich. Seit Priester und Gemeinde ihre Blicke nach Osten richteten, »geriet der Altar vollständig zu einem magischen Ort, auf den die Gläubigen wie gebannt blickten.« Das Laterankonzil 1215, das diese Entwicklung verstärkte, markierte die Geburtsstunde des Retabels (lat. tabula altaris/Tafel hinter dem Altar), die das Antependium (lat. ante pendere/Vorhang oder eine feste Verkleidung der der Gemeinde zugewandten Altarseite) ergänzte. Das Retabel wurde zu einer auf den Altartisch (Mensa) mit oder ohne Sockel (ital. Predella/Stufe) aufgesetzten großen Altartafel, manchmal mit Flügel ausgebaut als hervorragender Ort bildlicher und skulpturaler Darstellungen, aber auch zur Aufbewahrung von Reliquien. Zusammen mit Altar und Antependium bildete es ein Gesamtkunstwerk, in dem Malerei und Bildhauerei zur Synthese gelangten. Georges Duby sah im Altarretabel den Ort, wo das theatrum sacrum »dauerhaft in das Kircheninnere« übersiedelte. Abseits von verschiedenen Theorien über die Herkunft des Retabels (Reliquienschrank, liturgische Handlung) versammelte das Retabel die schon vorher in verschiedener Weise durchgeführte Bebilderung des Altarbereichs und bot eine grandiose Bühne für die Schilderung religiöser Erzählungen. Das Retabel ist, zusammen mit verpflichtenden Reliquien bei Kirchweihen, letztlich Zeichen für die Verwandlung eines Tisches für ein Mahl zu einer Bühne, vor der die Gemeinde ein Opfer vollzieht. Insbesondere im Übergang zur Renaissance wurden Künstler wie der Tiroler Michael Pacher, der Schwabe Veit Stoß, der Thüringer Tilmann Riemenschneider, der aus Nördlingen stammende Friedrich Herlin, Hans Brüggemann aus Walsrode (Niedersachsen), Hans Leinberger und andere mit ihren prunkvollen Altären

331

Das 13. Jahrhundert

389 Krümme des Abtstabes v. Robert v. Molesme (11./12. Jh.); MBA



berühmt. Der Flügelaltar mit seinem monumentalen Schnitzretabel erreichte hier seinen Höhepunkt und endete um die Wende zum 16. Jh. Einerseits war die Größe der Altäre an eine Grenze gestoßen, andererseits hatte auch die Reformation solche Höhenflüge gebremst. In den Schatzkammern des 14. Jh.s – am berühmtesten wurde jene von Karl IV. in Prag, der mit seiner Reliquiensammlung eine heilige Stadt symbolisieren wollte –, sammelten sich Retabeln, Kreuze, Reliquiare, Kelche, Monstranzen, Weihrauchgefäße, Kandelaber, Herrschaftszeichen. Aber auch in Frankreich und Deutschland wurden kostbare und außerordentlich teure liturgische Geräte angefertigt, darunter Reliquienschreine, die als Architekturmodelle ausgebildet waren. In glänzendem Gold ruhten die Reliquien in einer Miniaturkathedrale, die das himmlische Jerusalem symbolisierte. Monstranzen hatten die Form eines Kathedralportals. Alle diese Geräte konnten in Prozessionen mitgeführt werden und dienten der Sichtbarmachung des mystischen Leibes der Kirche. Der Bezug zur Architektur war passend, denn man könnte den gesamten Kirchenbau als ein Reliquiar interpretieren, zumal nach der lebhaften Zunahme von Seitenkapellen und Altären im Spätmittelalter. Als ein anderer Ersatz für die verlorenen Mauerflächen reifte die Glasmalerei zu einer anspruchsvollen Kunst. Die Technik reichte ins 7. Jh. zurück. Zum künstlerischen Aspekt gesellten sich anspruchsvolle Techniken des Brennens, der Verlötung der einzelnen Scheiben und des Einbaus in das Fenster. Die leuchtenden Bilder eigneten sich besonders für die theologische Symbolik des Lichts, das die Seelen der Gläubigen zu erheben imstande ist. Die große Zeit der Glasmalerei erlebte Frankreich zur Zeit der Kathedralen, in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s. verbreitete sich die Glasmalerei auch in den deutschsprachigen Gebieten. Am längsten gotisch blieb die Buchmalerei, wo sich Ende des 13. Jh.s – durch großzügiges Mäzenatentum gefördert – eine blühende Kunst dieses Genres bildete. Jean de Berry, ein jüngerer Bruder Karls V. von Frankreich, wurde durch seine internationale Sammlung kostbarer Bücher berühmt. Darunter fanden sich Stundenbücher, das private Gegenstück zu den priesterlichen Brevieren. Sie wiesen Einflüsse aus den Malerschulen von ganz Europa auf und neben ihrer religiösen Funktion war der ästhetische Reiz wichtig. Zahlreiche berühmte Künstler, darunter die Brüder Limburg, Herman, Paul und Johan (die alle drei 1416 an einer Seuche starben), die berühmtesten Miniaturmaler überhaupt, arbeiteten für ihn. Dargestellt wurde das Leben der Ritter und Bauern. Dieser Blick auf reales Leben entspricht durchaus dem im Nominalismus vertretenen Empirismus. Jean de Berry gilt als einer der ersten großen Privatsammler. Neben Büchern sammelte er auch Spielbretter, Wärmflaschen, Borsten von Stachelschweinen und ähnliche Kuriositäten. Frankreich blieb in der gotischen Buchkunst führend, auch wenn es auch in Italien, in Mailand und Pavia, angesehene Zentren gab. Die Förderer dort, wo man die Ritterromane liebte, waren die Visconti und durch ihre politischen Beziehungen nach Burgund waren die französischen Einflüsse stark. Ganz unterschiedliche Einflüsse zeigte die Buchmalerei der deutschsprachigen Länder. Die im 14. Jh. entstandene Handschrift der Schweizer Familie Manesse

Kuthan Jiri in Klein 2007a, 197

Wenzel 1995, 103 Glasmalerei Kurmann-Schwartz Brigitte 2007, 469

Buchmalerei

332

Das Mittelalter

ist ein besonders populäres Beispiel der hohen Kunst der Miniaturmalerei. Neben Admont, Seitenstetten und Klosterneuburg entstanden vor allem in Böhmen erlesene Objekte.

7.4. Gibt es eine Philosophie der gotischen Kathedrale?

6.2.3.

Semper 1860, XIX

Rodin, zit. nach ­Sedlmayr 1950, 529

Sedlmayr 1950, 321ff

Es geht bei den vorhergehenden Betrachtungen nicht um rein stilgeschichtliche Einordnungen, die unter Umständen einer Verselbständigung eines Stils das Wort reden. Es geht um die allgemeine Sicht auf Architektur als Bedeutungsträger, also um die Grundintention der vorliegenden Arbeit, dass bildende Kunst und Architektur mit ideengeschichtlichen Konstellationen korreliert sind. Wenn nach Erwin Panofsky Zeichen und Gebilde Zeugnisse von Ideen und Gedanken sind, muss man auch in der gotischen Kathedrale die Manifestation einer philosophischen oder theologischen Konzeption sehen. Nun bleibt es freilich schwierig, eine solche Konvergenz von Idee und Umsetzung an überprüfbaren Fakten festzumachen. Das ist der Grund, weshalb es stets auch Kritik an solcher Parallelsetzung gab. Neuerdings haben – wie berichtet –Günther Binding, Andreas Speer und Christoph Markschies eine mögliche Verbindung der von Abt Suger gebauten Gotik mit dahinter stehenden Ideen, speziell jenen des in St. Denis übersetzten Corpus Dionysiacum, kritisiert. Im Speziellen geht es um die alte, schon 1860 von Gottfried Semper vertretene These, dass die Gotik ein Ausdruck neuplatonischer Lichtmystik bzw. der Scholastik sei: »Eben so war der gothische Bau die lapidarische Uebertragung der scholastischen Philosophie des 12. und 13. Jahrhunderts.« Dazu gesellen sich zahlreiche sensible Stimmen aus Literatur und Kunst, die das Wesen der Gotik zum Ausdruck brachten: Auguste Rodin bewunderte in seinem Werk Kathedralen Frankreichs (1917) die Pracht des Lichtes. Die Griechen hätten den »Zauber des Lichts verstanden, die Gotiker ihn aus Eigenem wieder aufgenommen […].« Rodin stellte die Bedeutung des Lichtes vor jene des Spitzbogens und sah in der Kirche ein Bild des Himmels und in den Farben der Fenster ein Zeichen für die Epiphanie der Glückseligkeit des Himmels auf Erden. Soweit ich sehe, ist bei den meisten Autoren, die diese These vertreten, kein Unterschied zwischen den beiden Ideengebäuden: neuplatonische anagogische Aufstiegsdialektik, emanative Lichtmystik, organisatorische Hierarchisierung auf der einen und scholastisches Vernunft- und Systemdenken auf der anderen Seite, gemacht worden. Eine Ausnahme ist Hans Sedlmayr. Er ist ein Vertreter der neuplatonischen Deutung der Kathedrale und steht der Gleichsetzung mit der Scholastik reserviert gegenüber. Allerdings stand ihm das einschlägige Buch Panofskys dazu bei seiner Arbeit noch nicht zur Verfügung. Die Meinung, dass die Gotik Ausfluss dieser beiden Denkgebäude ist, kann in ihrer allgemeinsten Fassung – von den erwähnten Ausnahmen abgesehen – als verbreiteter Konsens der älteren und jüngeren Kunstgeschichte und Philosophie betrachtet werden. Wie bereits an Zitaten gezeigt, ging Otto von Simson wesentlich pointierter als Panofsky an die Sache heran. Für ihn – ich wiederhole hier die entscheidende Aussage – ist es »wahrscheinlich«, dass ohne die einmalige Situation der Verschmelzung von drei verschiedenen Personen

333

Das 13. Jahrhundert

zu einer, also »ohne die falsche Angabe eines anonymen syrischen Schriftstellers, der 600 Jahre zuvor gelebt hatte, die gotische Architektur gar nicht entstanden wäre.« Für Simson ist die Abteikirche von St. Denis der »Gründungsbau« der Gotik und er hält es für ausgemacht, dass Suger die neuplatonische Gedankenwelt gekannt habe. Zwar sei er nicht als Architekt aufgetreten, habe aber Einfluss auf die Gestaltung der Kirche genommen. Eine solch breite Übereinstimmung anerkannter Fachleute birgt immer die Gefahr einer bequemen wissenschaftlichen Monokultur in sich. Kritikern kommt daher das Verdienst zu, einen solchen Konsens in Frage zu stellen oder dessen Qualität durch den Zwang zur Verteidigung zu verbessern. Die Sache, um die es geht, soll exemplarisch an Erwin Panofskys Betrachtungen in seinem Werk Gothic Architecture and Scholasticism diskutiert werden. Ursprünglich ein Vortrag im Rahmen der Wimmer Lectures 1948 am St. Vincent College in Latrobe, Pennsylvania, gelang ihm ein nachhaltig wirkender Beitrag zum Thema. Panofsky gehörte dem Warburgkreis an, der, an Aby Warburg orientiert, einen Neuplatonismusschwerpunkt in der kunstgeschichtlichen Deutung hatte. Horst Bredekamp wurde ein prominenter Kritiker, der der Ikonologie vorhält, sie sei auf einschlägige Motive (des Neuplatonismus) fixiert. Panofsky übersetzte und kommentierte erstmals die drei Schriften Abt Sugers von St. Denis zum Neubau und zur Ausstattung der Kirche, Ordinatio, De consecratione, De Administratione. Darin und in einem späteren Aufsatz setzte Panofsky eine Kenntnis der Philosophie des Areopagiten bei Suger voraus und deutete einige übereinstimmende Passagen in Sugers Schriften in diese Richtung. Er tat dies im Kontext seiner ikonologischen Methode. Die Pointe dabei war die Einbeziehung des gesamten verfügbaren kultur- und ideengeschichtlichen Hintergrundwissens der Zeit, um zu Klärungen zu gelangen, die eine reine Bildbeschreibung übertreffen konnten. Über die Methode der Ikonologie samt kritischen Einwänden wird in IX.3.4.2. detaillierter berichtet. Die vorliegende Fragestellung ist jedenfalls ein ideales Anwendungsbeispiel dieser Methode. In seinem Buch geht es Panofsky weniger um den Neuplatonismus, sondern um die Analogie zwischen Gotik und Scholastik (obwohl eine klare Trennung nicht gemacht wird), die über die zeitliche und örtliche Entsprechung hinausgeht. Panofsky setzt grundsätzlich für eine historische Epoche eine innere Geschlossenheit ihrer verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen voraus. Es geht also gerade nicht darum, »wie ein spezieller ›habit‹ von einer Berufsgruppe auf eine andere übergeht, […].« Denn schon die Frage nach einer nachträglich zu rekonstruierenden Beziehung zwischen zwei Berufsgruppen innerhalb eines gemeinsamen kulturellen Habitus, hier zwischen Scholastik und Gotik, müsste eigenartig anmuten. Ebenso wenig geht es um eine allfällige dezidierte Ästhetik des Thomas von Aquin. Die Geschlossenheit der historischen Epoche äußere sich vielmehr im Genre der scholastischen Denk- und Literaturform. Solche phänomenalen Struktur­ ähnlichkeiten – auch solche in Bezug auf die Geschichte – skizziert er einleitend. Frühgotik und Frühscholastik hoben zur gleichen Zeit im Umkreis von Paris an. Die gegenüber der Romanik animierten Figuren atmeten den Geist des neuen aristotelisch-scholastischen Verhältnisses von Seele und Körper. Die Summa als Lite-

Simson 1956, 151f Simson 1984, 595

IX.3.4.1. Bredekamp 1992

Panofsky 1946 Panofsky 1948

Nille 2013, 54

7.2.2.6.2.

334

Das Mittelalter

7.2.1.

Wyss 1993a, 10

raturform der Hochscholastik zeigte eine höhere und strengere Organisation als die früheren wissenschaftsliterarischen Formen, Enzyklopädien und Sentenzenbücher. Darin sah Panofsky Entsprechungen zu der höheren Organisationsform hochgotischer Baustrukturen gegenüber den früheren. Ähnliches ließe sich für die Spätscholastik und Spätgotik feststellen. Die Scholastik lief im Mystizismus der Bettelorden und im Nominalismus aus. Dabei ging das ausgewogene Verhältnis von Glaube und Wissen verloren, um das es den Philosophen der Hochscholastik zu tun war. Analog dazu kam es in der Spätgotik zu einem Auseinanderfallen der Bauformen (Bettelordensaalkirchen) und zu übersteigerter Subtilität und starker Pluralisierung der Stilformen. Im zweiten Kapitel seines Buches versuchte Panofsky, die gegenseitige Beeinflussung von Gotik und Scholastik anhand kunstgeschichtlicher Fakten zu belegen. Panofsky war nicht der erste, der einen solchen Vergleich wählte. Im 19. Jh. hatte der Historiker Jules Michelet in seiner Histoire de France (ab 1833) eine Analogie zwischen der aristotelisch geprägten Scholastik und der Gotik hergestellt und von »Syllogismen in Stein« gesprochen. Dem folgte der gerade erwähnte Gottfried Semper mit ähnlichen Gedanken. Die Grundlage für dieses Unterfangen sah Panofsky darin, dass die Scholastik eine Denkform (mental habit) geprägt habe, die sich auch auf die übrigen Kulturerscheinungen auswirkte – geradezu nach dem Ursache-Wirkungs-Schema. Er bezog sich dabei nicht allein auf die Baukunst, sondern ging von einem engen Austausch zwischen Künstlern verschiedener Genres aus. Die Erbauer der Kathedrale – wenngleich vielleicht nicht mit der scholastischen Originalliteratur vertraut – wären jedenfalls vom scholastischen Gedankengebäude aus dem verbreiteten Bildungskanon, modern gesprochen: aus dem intellektuellen Diskurs, geprägt gewesen. Dass sich solche Zusammenhänge nur schwerlich anhand empirischer Fakten belegen lassen, ist ganz offensichtlich und wird von Panofsky auch nicht angestrebt. Forschungen zum Skizzenbuch des Villard de Honnecourt deuten an, dass den Entwürfen unmittelbar keine bewusst wahrgenommene universelle Idee zugrunde lag, sondern dass sie im Versuch-und-Irrtum-Verfahren durch geometrische Konstruktion pragmatisch entstanden sind. Was diese Forschungen freilich nicht beseitigen können, ist die Möglichkeit eines weitgehend subkutanen Bildungswissens, eben zuerst der langen neuplatonischen Tradition, dann der scholastischen Systematik. Beat Wyss hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt: »Weltanschauungen sind interdisziplinäre Wolkengebilde, die sich gleichzeitig als physikalische Formel, sprachliche Wendung oder Kunstform ausregnen können.« Wie sonst wären auch flächendeckende Stile überhaupt über längere Perioden und geographische Räume erklärbar? Eine Ursachenrelation, wie sie Panofsky nahelegt, abschwächend, stimmt auch Bernd Nicolai, der dem Gedanken vom mental habit Panofskys skeptisch gegenübersteht (»Es ist heute klar, dass sich das Handlungswissen der Architekten in der Gotik deutlich vom diskursiven Vorgehen der Vertreter der Scholastik und deren Systematisierungsanspruch unterschied.«), unter dem Terminus »Ratio der Sinne« einer verbindenden Idee zu, die »als gemeinsame Klammer dienen [kann], unter der verschiedene Bereiche von Theologie und kirchlicher Kunst als Ausdruck einer

335

Das 13. Jahrhundert

rationalen Ordnung begriffen worden sind. Für Ausstattungsprogramme dürfte ein engerer Zusammenhang zum theologischen Diskurs wahrscheinlich sein […].« Oleg Grabar äußerte in anderem Zusammenhang durchaus kritische Vorbehalte gegen eine allzu enge Ableitung von Kunststilen aus philosophischen Texten, aber er hegte keinen Zweifel an einem subkutanen Kulturwissen: »The importance of written sources lies in the parallelism they provide for visual phenomena and, to as smaller degree, in showing a time’s characteristic concerns which contribute to the taste and will for creating monuments.« Wie schwierig es ist, unmittelbare Textkenntnis von Architekten und Bauherren nachzuweisen, war auch Panofsky klar. Das zentrale Element seiner Argumentation liegt daher woanders, nämlich in einem Strukturvergleich zwischen gotischem Baustil und der »Architektur« der scholastischen Summa. Wie sehr die Konstruktion der Summa an das Vorgehen eines Architekten erinnert, ist auch andernorts aufgefallen. Mit Blick auf das Œuvre des Thomas von Aquin meinte Marie-Dominique Chenu: »Wenn ein Architekt beginnt, das Werk seiner Wahl zu verwirklichen, dann entwickeln sich seine Gedanken im Sinne eines monumentalen Ordnungsgefüges, in dem seine schöpferische Erfindungskraft sich betätigt in der Bewegung der Massen, in der Abstimmung der Funktionen, der Aufteilung des Programms, der Verbindung der Teilglieder.« Diese synthetische Leistung erbringe Thomas bei der Konstruktion seiner Werke. Es geht also zum Beispiel um Prinzipien des Gestaltens und des methodischen Vorgehens bei Texträumen und Architekturräumen. Rationalen Begründungsverfahren von Glaubenswahrheiten – Panofsky spricht von Klärung (elucidatio, clarificatio) – stehen dabei solcher Systematik widersprechende, gleichsam »antischolastische«, nämlich mystische Tendenzen gegenüber. Ohne dies zu thematisieren, verweist Panofsky an dieser Stelle auf eine deutliche Differenz zwischen einem neuplatonischen und einem scholastischen Konzept. Es geht also um Parallelen insbesondere der Struktur der scholastischen Summa zur Struktur des Stils der Gotik. Die Summa weist eine klare Gliederung auf, sowohl was die Ordnung der behandelten Themen betrifft, als auch die Form selbst. Panofsky sieht hier einen Willen zur bewussten und offenen Manifestation und Klarheit. Immer wieder verweist er auf das Bildungsmonopol der Scholastik, sodass diese »passion for clarification« sich in den intellektuellen Diskurs eingeschrieben hat. Die Botschaft, in Glaubensfragen durch den Gebrauch der Vernunft und durch die Transparenz des Vorgehens überzeugender zu argumentieren, musste auch die Kunst berühren. Standardisierung, Schematisierung und Gliederung nahmen gegenüber der Romanik zu. Dazu kam in der gotischen Architektur die Beendigung der Abschottung der Romanik durch die Transparenz. Ging es dabei um (vernünftige) Durchsichtigkeit der Konstruktion, entsprach die spätgotische Hallenkirche wieder der Trennung von Glaube und Vernunft, wie sie sowohl die Mystik als auch der Nominalismus auf verschiedene Weise durchführten. Panofsky ging in seinen Analysen sehr weit und beschrieb detailliert die Funktion der Teile der gotischen Architektur, um sie in Beziehung zu den Teilen der scholastischen Summa zu setzen. So löste beispielsweise das einheitliche Rippengewöl-

Nicolai 2007, 33

Grabar 2006b, 185

Chenu 1960, 351

Panofsky 1951, 36

336

Das Mittelalter

7.2.2.1.

Kidson 1987; ähnlich Rudolph 1990 Kidson 1987, 17 Beierwaltes 1994 Ebd., 153

Markschies 1995, 37

be die Vielfalt der Gewölbeformen in der romanischen Kirche ab. Dies habe dem Streben in der Summe zu jeweils homogenen Teilen und ihren Untergliederungen entsprochen. Eine andere Eigenart der Scholastik fand er ebenfalls in der Gotik: die Bemühung, die teilweise widersprüchlichen Aussagen der alten Autoritäten, ja sogar der Bibel, in einem komplexen Disputationsschema zu versöhnen. Was Peter Abaelard in seinem Sic et Non durchführte – Unterschied zwischen der Wahrheit an sich und der irrtumsanfälligen menschlichen Auslegung derselben – sah Panofsky in der Hochgotik in ähnlicher Weise praktiziert. Exemplifizieren ließe sich das an der Entwicklung der Fensterrose der Westfassade (die England ablehnte, Italien enthusiastisch übernahm), an der Organisation der Mauer unterhalb der Lichtgaden und an der Vereinheitlichung der Säulen der Schiffe. Die Argumentation Panofskys ist – nochmals sei darauf hingewiesen – auf Strukturvergleiche ausgerichtet und es kommt ihr durchaus eine gewisse Überzeugungskraft zu. Aber es ist klar, dass solche Thesen mit dem Kriterium fehlender Quellenbelege ohne große Mühe in Frage gestellt werden können. Das wurde auch eifrig betrieben. Peter Kidson griff Panofskys Suger-Deutung scharf an. Zwar ging er davon aus, dass Suger die Schriften des Dionysios gelesen hat, aber er sei keineswegs ein »follower of the Pseudo-Dionysius« gewesen. Werner Beierwaltes verteidigte Panofsky gegen ein aus seiner Sicht übertrieben empirisches Architekturverständnis in einem Zusatz seines im Eriugena-Buch wiederabgedruckten Aufsatzes zur mittelalterlichen Ästhetik von 1976 mit Hinweis auf ein nur bescheidenes Verständnis des Platonismus bei Kidson. Beierwaltes sprach von einem »Schwundplatonismus«. Unter dem missverständlichen Titel »Gibt es eine ›Theologie der gotischen Kathedrale‹ ?« fasste Christoph Markschies diesen Einspruch der erwähnten Autoren prägnant zusammen. Missverständlich ist der Titel deshalb, weil sich sein Bericht in Wirklichkeit auf die Frage konzentriert, ob Abt Suger zu seiner Idee einer gotischen Bauform durch das Werk des Dionysios angeregt wurde und die dort gefundenen Vorgaben als Bauherr bewusst umgesetzt hat. Dabei macht auch Markschies keinen Unterschied zwischen der Scholastik (was bei Panofsky im Vordergrund stand) und einem neuplatonischen Konzept, was zu einigen Missverständnissen führt. In der Hauptfrage der Abhängigkeit Sugers von der neuplatonischen Lichtmetaphysik kommt Markschies das Verdienst zu, gegenüber einer vorschnellen Meinung, die gotische Kathedrale sei geradezu die in ein Bauwerk gegossene Philosophie des Dionysios, im Lichte der neuesten Forschungen zur Praxis des mittelalterlichen Baubetriebs zur Vorsicht gemahnt zu haben. Mit dem von ihm gewählten Buchtitel hat das jedoch nur wenig zu tun. Markschies weist darauf hin, dass weder biographische Notizen noch Konkordanzen in den zahlreichen Beschreibungen nahe legen, dass Suger das Werk des Dionysios studiert hätte. In den vergangenen Jahrzehnten seien keine »wirklich überzeugenden weiteren Belege eines Einflusses des Corpus Dionysiacum auf Suger […]« hinzugekommen, sodass die entsprechenden Hinweise von Panofsky und von Simson »zunehmend als problematisch empfunden« würden. In der Tat gibt es eine Fülle von berechtigten Relativierungen einer allzu einfachen Kausalverbindung von Corpus Dionysiacum und Sugers Neugestaltung seiner

337

Das 13. Jahrhundert

Kathedrale. Sie sind bautechnischer, kunsthistorischer und literarkritischer Art und wurden bereits an verschiedenen Stellen erwähnt. Christoph Markschies geht jedoch erheblich weiter und will durch das Fehlen entsprechender Belege nachweisen, dass Abt Suger keine solchen Anregungen erfahren und sie folglich auch nicht umgesetzt hätte, dass damit – in weiterer Folge – die Gotik nicht auf einer neuplatonischen Metaphysik gründet. Ein solcher methodische Zugang (man kann ihn positivistisch nennen) führt zur eher kuriosen Behauptung, dass das Fehlen »direkter Zitate oder allgemeinerer Anspielungen« eine »Falsifikation« von Panofskys und Simsons These »höchst wahrscheinlich mache.« Eine fehlende Bestätigung für eine These kann diese freilich niemals falsifizieren. Zudem hörte sich mit einem solchen methodischen Zugang jede Möglichkeit einer Annahme von Zusammenhängen zwischen religionsgeschichtlichen, politisch-sozialen Weltbildern und Kunst und Architektur, wenn diese nicht ausdrücklich textlich dokumentiert sind, grundsätzlich auf. Freilich ist das vermutlich auch gar nicht mehr angestrebt. Nicht überraschend bleiben bei Markschies dann »Moden«, »zeitgenössischer Geschmack« und »wirtschaftliche Möglichkeiten« in seltsam luftleerem Raum stehen. Zur Gotik hätten nicht Ideen, sondern ein »intensiverer Umgang mit Maschinerie und Hebezug« geführt. Auf die Frage, woher solche Moden und Geschmäcker kamen (und in der Geschichte immer wieder kommen) und weshalb wirtschaftlicher Reichtum (den Suger anstrebte und Bernhard bekämpfte – aus sehr philosophischen und theologischen Gründen) und technischer Fortschritt gerade diese und keine andere Stilform hervorbrachten, gibt es mit Markschies keine Antwort. Ein Satz von Alain Erlande-Brandenburg bringt das Gemeinte plastisch auf den Punkt: »Europa hat den Stil der Ile-de-France nicht einfach nur übernommen, es hat sich in diesem Stil wiedererkannt.« Die gesamte Problematik einer auf materialistischer und positivistischer Grundlage operierenden Vorgehensweise hat etwa Oleg Grabar an zahlreichen Beispielen eindrucksvoll beschäftigt, ich bin bereits an mehreren Stellen darauf eingegangen. So berechtigt eine Warnung vor einer zu einfachen Ableitung der Gotik aus einem bestimmten philosophischen Gedankengebäude auch sein mag, es ist doch eine bizarre Annahme zu glauben, dass Abt Suger, dessen ganze Lebensenergie dieser einmaligen theologischen, politischen und sozialen Stellung des Dionysiusklosters galt, den Inhalt des in einem brisanten Staatsakt in sein Kloster gekommenen Corpus nicht gekannt haben soll. Ob durch eigene Recherche oder durch Information aus zweiter Hand seiner Theologen und Philosophen, ist ebenso ephemer wie die Frage, ob die Kirchweihinschriften von Suger selbst oder von einem Mönch des Klosters in seinem Auftrag gedichtet wurden. Was eine solche Möglichkeit zur fraglichen Sache beitragen soll, bleibt unklar. Das Fehlen schriftlicher Belege dafür macht eine solche Rezeption nicht unwahrscheinlicher. Selbst kritische und auf die Auswertung empirischer Befunde orientierte Autoren stellen eine Kenntnis der dionysischen Lichtmetaphysik durch Suger außer Frage. Markschies zeigt jedoch unbeabsichtigt selbst eine plausible Antwort auf das Dilemma auf: Er ist ambitioniert, namentlich bei der Frage der Lichtmetaphysik, auf die ungebrochene Tradition seit der Antike hinzuweisen, sodass eine Konzentration dieser Sache auf Dionysios überflüssig er-

Ebd., 43f

Ebd., 43/42

Erlande-Brandenburg 1984, 38

3.3.1./3.3.3.

Markschies 1995, 41

z.B. Neuheuser 1993, v.a. 157ff

338

Das Mittelalter

Nicolai 2007, 20

Sedlmayr 1950, 305 Duby 1976, 185

Bourdieu 1967, 135

scheinen müsse. Zustimmend zitiert er eine Bemerkung von Andreas Speer, nach der einige Übereinstimmungen zwischen Dionysios und Suger eher zufällig seien und einer verbreiteten christlichen Epigraphik seit der Spätantike entsprächen. In dieselbe Kerbe schlägt Bernd Nicolai, der eine aus seiner Sicht »unzulässige Analogie künstlerischer, architektonischer, theologischer und geistiger Strömungen, die sich auf den ›anagogicos mos‹ , den Aufstieg von der materiellen zur immateriellen Welt beruft«, kritisiert. Denn solche Architekturmetaphern seien »unabhängig von der realen Gestalt der Bauten seit der Spätantike angewandt worden, wie es bei der Hagia Sophia oder der Pfalzkapelle in Aachen zu sehen ist.« Darin haben beide Autoren durchaus Recht. Eine Fixierung auf Dionysios Areopagites im Zusammenhang mit Sugers gotischem Neubau ist in der Tat gar nicht nötig, denn die einschlägige Platonismusforschung weiß längst von der ungebrochenen Tradition seit der Spätantike – wobei es in diesen Fällen um einen spezifischen Einsatz des Lichtes in Bildkunst und Architektur ging. Eine direkte Abhängigkeit ist freilich zumeist differenzierter dargestellt und auch selten in dieser Überspitzung gemacht worden. Sedlmayr bleibt sehr zurückhaltend gegenüber dem Ausdruck einer »Verursachung«, er sucht vielmehr »Tendenzen, die den Wandel der religiösen Anschauungen bewirken« und die eben auch den Wandel künstlerischer Anschauungen nach sich ziehen. Und bei Georges Duby heißt es: »Die Ikonographie von Saint Denis griff die gesamte romanische Symbolik wieder auf, bezog sie aber unverhüllt auf eine Darstellung Christi.« Trotz dieses Tatbestandes geht auch Duby von einem enormen Einfluss des Areopagiten auf Suger aus. Das ist keineswegs ein Widerspruch. Denn gerade die kunstphilosophische Sicht auf die Geistesgeschichte zeigt, wie sehr der platonische Anteil an der Auffassung von Schönheit, Licht, von anagogischer Theologie bestimmend ist und wie diese Lichtmetaphysik erst bei Thomas von Aquin und seinem Begriff der claritas etwas Neues geworden ist. So hat der Autor ganz Recht, wenn er auf die andere Tradition einer Lichtarchitektur neben der Gotik verweist, auf die Kirchenbauten in Byzanz. Sie waren ebenso inspiriert von einem gerade dort mächtig gewordenen Platonismus. Dass diese platonischen Zusammenhänge, einerlei ob als anagogischer Weg, als Ausstrahlung des göttlichen Lichtes nach unten oder als Aufstiegsgedanke von einer dunklen Materie aus nach oben, in die verbreitete Epigraphik des Christentums seit der Spätantike gehören, ist trivial. Den kritischen Klärungen und den zweifellos bedenkenswerten Einwänden gegen eine allzu überschwängliche Personalisierung, wie sie in der Literatur bisweilen tatsächlich vorgekommen ist, zum Trotz, kann Markschies mit seiner literarkritischen Methode, die hier gegen eine Traditions- und Ideengeschichte ausgespielt wird, die gängige Meinung kaum nachhaltig erschüttern. Und die Bemerkung Pierre Bourdieus, der eine französische Übersetzung von Panofskys Werk besorgt und ihm ein ausführliches und eigenständig-kommentierendes Nachwort angefügt hat, trifft nach wie vor zu: »Gotische Architektur und Scholastik ist ohne Zweifel eine der schönsten Herausforderungen, die jemals dem Positivismus entgegengebracht worden ist.«

339

Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters

8.0. Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters Wann ging das Mittelalter zu Ende? Georges Duby antwortete auf eine solch anspruchsvolle Frage salomonisch: Es gehe dabei »weniger um Chronologie als um Geographie.« Chronologisch betrachtet spielt dieser Übergang vom Mittelalter in eine neue Zeit jedenfalls im 14. und 15. Jh. Das 14. Jh. ist demnach eine Zeit des Umbruchs, in manchen Gebieten noch mittelalterlich, in anderen bereits von Renaissance und Neuzeit geprägt.

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 231

8.1. Kontexte Das 14. Jh. war – gegenläufig zu einer noch fruchtbaren Kultur – wirtschaftlich eine Zeit der Stagnation. Die kurze Warmzeit war zu Ende gegangen, der Klimawechsel und das zu rasche Bevölkerungswachstum, dem die landwirtschaftliche Produktion hinterherhinkte, führte an der westlichen Peripherie zu Hungersnöten (1315–1317, 1351–1359) und Epidemien – 1347 bis 1352 die Große Pest –, Plagen, die beinahe zu einer Halbierung der Bevölkerung Europas führten. In Florenz brach das Bankensystem zusammen, große Städte schlitterten in Hyperinflation und in den Bankrott. In ganz Europa kam es zu (teilweise blutigen) Aufständen von Bauern. Neben den Bauern kämpften auch die städtischen Bürger um ihre Rechte. 1338 bis 1453 tobte der Hundertjährige Krieg. Der Streit um die Vorherrschaft von Kaiser und Papst nahm groteske Züge an und führte zu Kriegen zwischen den papsttreuen Guelfen und den kaisertreuen Ghibellinen. So wie in der Geistesgeschichte Philosophie und Theologie fielen Kirche und Staat auseinander. Das Papsttum verlor endgültig seinen im Mittelalter auch durch die Gregorianische Reform erarbeiteten universalen Anspruch. Der im Bann stehende Wittelsbacher Ludwig IV., der zahlreiche papstkritische Intellektuelle beherbergte, hielt die päpstliche Anerkennung seines Kaisertitels nicht mehr für nötig. Er ließ sich vom römischen Stadtvolk wählen und setzte gleich einen Gegenpapst (Nikolaus V.) ein. Bis 1417 kämpften zwei Päpste (am Beginn des 15. Jh.s sogar drei) um ihre Legitimität. Durch die Verlegung der päpstlichen Residenz nach Avignon 1309 (bis 1377 bzw. endgültig 1417) verlor Rom auch in der Kunst an Bedeutung. In Avignon, dieser »Relaisstation par excellence für den wechselseitigen Austausch künstlerischer Ideen und Strömungen«, fanden sich die Italiener ein und brachten die italienische Formensprache in die Kunst Frankreichs. Avignon expandierte schnell. Bald gingen Kunstimpulse von dort aus. Eine eigene »Schule von Avignon« entstand. Einer ihrer wichtigsten Vertreter wurde Simone Martini. Der päpstliche Hof selbst praktizierte eine höfische Malerei mit weich fließenden Gewändern und eleganten Bewegungen, die sich durch reisefreundliche Künstler über andere Höfe Europas (Paris, Prag, Wien, Florenz, Mailand, Burgund) verbreitete. Louis Courajod prägte für diese Periode den Ausdruck Internationale Gotik. Im deutschsprachigen Raum benützten Hans Börger und Wilhelm Pinder den Terminus weicher Stil und für den zugehörigen Madonnentyp den Terminus Schöne Madonna. Die mit Raffinement gekleidete, betont weibliche Maria war als eine Dame des höfischen Lebens ein fernes Echo der

Avignon

Wolf 2002a, 23

Schöne Madonna

Hawel 1984; Clasen 1974

340

Das Mittelalter

Duby 1976, 445ff

Bialostocki 1972, 16

390 Madonna des Meisters von Seeon (15. Jh.); TLMF

Cooper 2009, 82

Grabar 2006a, 49

Duby 1976, 315

Ebd., 316 Mystik

Hedwig 1980, 237–255

mittelalterlichen Minne und Verehrung der Frau, die zugleich – wie bei Dantes Beatrice oder Petrarcas Laura – inspirierende Muse war. Der Stil zeigt große Pracht und Eleganz und bedient sich kostbarer Materialen. Die Herkunft des Stils, der eine europäische künstlerische Gemeinschaftssprache und »eine Art Mode« war, ist nach wie vor Gegenstand von Diskussionen. Die rasante Verbreitung macht eine solche Originalitätsforschung schwierig. Als Quellen werden neben Avignon selbst Paris und die Toskana genannt. Toskanische Künstler waren in Avignon prominent vertreten. In der Lombardei und an den Fürstenhöfen der Po-Ebene wurde der neue Stil begierig aufgenommen. Zwischen 1431 und 1448 entstand in Zadar, das enge künstlerische Verbindungen zu Venedig unterhielt, ein Altarretabel, das zu den schönsten Exemplaren der internationalen Gotik gehört. Die Kunsthistorikerinnen sind sich in der Provenienzfrage uneins und schreiben das Werk Dujam Vuskovic oder Giovanni di Pietro zu. Der Austausch von Kunstgütern im mediterranen Raum erhielt eine neue Qualität. Kunstgegenständen wurde nicht mehr nur eine ästhetische Qualität zugeschrieben, sondern sie erhielten zudem eine regionale Zuschreibung und die eines Künstlers oder einer Werkstätte. Gegenstände aus dem Orient wurden deshalb zu Luxusgütern. Es entstanden Musterbücher (etwa von Giovanni de’ Grassi) nach Vorlagen in arabischen Traktaten, z. B. des Bagdader Arztes Ibn Butlan, dessen illustrierter Text zur Heilkunde (Taqwim as-sihha) in ganz Europa bekannt war. Bereits im 13. Jh. ließ sich die fragile Balance zwischen Glauben und Wissen nur noch schwer halten. Bonaventura war eher an den Grenzen der Vernunft interessiert als an ihrer Synthese mit dem Glauben und die Mystiker von Meister Eckhardt bis Ulrich von Straßburg ordneten die Rationalität ohnehin der Erleuchtung unter. Die katholische Theologie begab sich zumindest in Teilen »in ihrem Entsetzen über die Kühnheit der Dialektik […] entschlossen auf den Weg des Mystizismus.« Für die religiöse Kunst galt Ähnliches. Die Bildlosigkeit Gottes im rationalen Diskurs erzeugt in dem Moment, in dem diese Rationalität ihre Überzeugungskraft verliert – und das tut sie außerhalb von intellektuellen Eliten immer – das Bedürfnis nach neuem Bilderkult und dieser kam in »geschmäcklerischer« Form in der privaten Spiritualität. Zwar stützte die Heiligsprechung des Aquinaten 1323 die Betreiber einer rationalen Theologie bei den Dominikanern in der innerkirchlichen Konkurrenz mit dem Franziskanerorden, der in Paris und Oxford den Ton angab. Doch in der scholastischen Lehre löste sich die Methode mehr und mehr vom Inhalt ab, sie wurde dadurch vielfältiger, kritischer und subjektivistischer, aber auch empirisch. Dergestalt konnte sie die mystische Seite nicht mehr integrieren. Andererseits verlor auch der Platonismus an Einfluss. Er bot über all die Jahrhunderte eine Kanalisierung und Disziplinierung des Mystischen in seiner Anagogielehre und Lichtmystik. Die Lichtmetaphorik spielte in der Mystik eine große Rolle und paarte sich mit der intensiven Körpererfahrung, von der vor allem Mystikerinnen berichten. Auch in der bilden-

341

Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters

den Kunst, den Darstellungen der zu Tode gefolterten heiligen Frauen und Männer, überstrahlt stets ein Licht der innigen Visio die grauenhaften Praktiken der Folterungen. Das Foltern des Körpers verstand man als einen Akt der Erhöhung im Sinne eines Zugangs zu Christus. In der alten Spannung von Geist und Körper erscheint der Körper nun in den Geist erhoben und ist kein Hindernis mehr für die Visio. Eine typische Bewegung dieses Auseinanderbrechens von Glauben und Wissen war der Nominalismus. Wilhelm von Ockham wurde 1324 vom Papst in Avignon wegen seiner scharfen Rationalität und der Trennung von philosophischer und theologischer Wahrheit der Häresie bezichtigt. Er fand Zuflucht bei Ludwig dem Bayern. Daneben hielten der Dominikaner Meister Eckhart, sein Schüler Johannes Tauler, Heinrich Seuse, der Bußprediger Gerhard Groot, Thomas a Kempis, dessen Schrift Imitatio Christi weit verbreitet war, mystische Zwiesprache mit Gott. Seuse berichtet uns von einem ganz persönlichen mobilen Andachtsbild der Heiligen Weisheit, das typisch für die privatisierte Frömmigkeit war. Eckharts Nachfolger als Leiter des dominikanischen studium generale in Köln, Berthold von Moosburg, schrieb den einzigen Kommentar des Mittelalters zu Proklos. Trotz dieser Präsenz des Neuplatonismus auch in der Scholastik war der Aristotelismus nun die dominierende Philosophie. Das galt auch für das Schöne und die Kunst. Sie wurden im Geiste der Wende zur Sinnlichkeit des Thomas diesseitiger und funktionaler. Aber gleichzeitig verwandelte sich die Ästhetik zur Weltlichkeit. Gegenüber Thomas schwand der göttliche Legitimationsgrund. An die Stelle kollektiver Verwaltung durch Priester und Professoren trat die Individualisierung des Religiösen. Anders gesagt: Das Christentum gewann an Volkstümlichkeit. Gegen Ende des Jahrhunderts tauchten vagante Prediger auf – gerne auch Franziskaner –, die von Stadt zu Stadt zogen, in Kirchen und auf Plätzen predigten. Diese »internationale Predigtlizenz« (Bruno Klein) war eine neue Kommunikationsform im Mittelalter. Die Auftritte, die oft viele Stunden in Anspruch nahmen, vermischten sich mit Theaterspielen (ludi theatrales). Man kann durchaus den Vergleich mit heutigen Predigern in den Vereinigten Staaten wagen, deren massenmediale Verbreitung ihre Kraft noch zu steigern vermag. 1419 scheint es die erste theatralische Darstellung des Heiligen Grabes gegeben zu haben. In fast allen Städten veranstaltete man am Palmsonntag Prozessionen mit einem geschnitzten Palmesel samt Christusfigur. Am Fest der Himmelfahrt zog man den hölzernen Christus in das Gewölbe der Kirche. Dieses Theatralische ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass das Christentum endgültig eine Volksreligion geworden war. Johannes Tripps nennt solche Skulpturen »handelnde Bildwerke« und unterscheidet sie von wundertätigen Ikonen. Handelnde Bildwerke erhalten ihre Dignität erst aus dem Gebrauch in der Liturgie zur Verbildlichung der Heilsgeschichte. Das Bedürfnis nach Hausaltären, Klappaltären, Andachtsbildern, privaten Skulpturen war groß, jenes nach schwülstig-kitschigen Darstellungen von Flammen und Liebesfunken blieb ein volkstümlicher Rest der Lichtmystik. Es begann eine europäische Karriere einer zu allen Zeiten von den Theologen gefürchteten Vulgarisierung und Infantilisierung komplexer theologischer Konstruktionen, die bis

Nominalismus

Volksreligiosität

Tripps 1998, 119–133

Duby 1976, 416

Tripps 1998, 11

342

Das Mittelalter

Martyriums­ darstellungen

Huizinga 1919, 183 Mills 2005, 128

Huizinga 1919, 176f Wenzel 1995, 231

Bialostocki 1972, 27

heute anhält. Aus medienphilosophischer Sicht handelt es sich im Grunde um eine Rückwendung vom Paradigma der Schriftlichkeit zu jenem der Mündlichkeit und der damit verbundenen körperverbundenen Memorialkultur. Religiöse Schwärmerei wucherte in ungebremster Mystik und die Nähe zur Magie wurde sogar zu einem Problem für Kirche und Gesellschaft. Der Theologe und Astronom Pierre d’Ailly war einer von vielen Kämpfern gegen diese Welle und den damit einhergehenden Aberglauben. Sprunghaft stieg die Zahl der Festtage und Prozessionen an. Für jeden Teilbereich Christi, Marias, der Kirche, gab es eigene Verehrung: Marias Frömmigkeit wurde ebenso eigenständig verehrt wie ihre Sieben Schmerzen, die Himmelfahrt, die Fünf Wunden Christi, natürlich sein Herz und der Kreuzweg. Eine wahre Bilderflut setzte ein. Viele der sentimentalen und kindlich-naiven Devotionsobjekte wurden von Frauen und Frauenkommunitäten in Auftrag gegeben. Aber auch Herrscher, Geistliche, Adelige und reiche Bürger stifteten Kapellen mit reicher Ausstattung. Profiteure waren die individuell auftretenden Künstler, die sich um Aufträge auf dem freien Markt bemühten. Kunstwerke wurden zu Handelsgut. Die Martyriumsdarstellungen wurden immer grausamer, die üblen Praktiken und Folterwerkzeuge wurden geradezu zum Logo der Märtyrer und zu willkommenen Bildvorlagen für die Künstler. Märtyrertum wurde zu einer medialen Erzählung über den Tausch körperlichen Leidens in eine heilige Wahrheit. Es kam zu abartigen Praktiken: Heilige und Märtyrer wurden gekocht, fachgerecht zerlegt und präpariert, manche wurden schnell zerschnitten und ihre Teile geraubt, um sie als Reliquien zu sichern. Durch das Trinken von Reliquienwasser hoffte man auf Übernahme der Aura des Heiligen. Die Mystikertexte schwelgen in sakraler Erotik, in Bildern der Trunkenheit, des Wahnsinns und visionärer Kontemplation. Die Schöne Madonna wurde Ende des 15. Jh.s durch die emotionsgeladene Schmerzensmutter abgelöst. Die spätscholastische Zersetzung der im Hochmittelalter mühsam formulierten Synthesen entsprach einem verbreiteten Verfall der mittelalterlichen Universalitätsidee. Die Goldene Bulle von 1356 Kaiser Karls IV. (der sie Unser kaiserliches Rechtbuch genannt hatte) stärkte die Rechte der Kurfürsten. Karl machte Prag zu seiner festen Residenz, gründete den »sonderbarsten Hof um die Mitte des 14. Jahrhunderts« und ließ die Stadt kulturell erblühen. In Prag mischten sich deutsche, englische – die Tochter Karls, Anna von Böhmen, war mit Richard II. von England verheiratet, der wiederum Kontakte zu Burgund und Flandern hatte –, französische, italienische und slawische Motive. Im Augustiner-Chorherren-Stift auf Karlshof ließ Karl das Oktogon der Aachener Pfalzkapelle nachahmen. Die Kirche wurde 1377 Karl dem Großen und der Himmelfahrt Marias (dem Patrozinium der Pfalzkapelle Karls) geweiht. Albrecht II. begründete die habsburgische Herrschertradition, die im Wesentlichen bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches halten sollte. Die kleinen Einheiten standen in Spannung zur Organisation des Großen und Ganzen. Im 15. Jh. wird Nikolaus von Kues die coincidentia oppositorum, die Versöhnung der Gegensätze, zu seinem Programm machen. Auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) wurde zum ersten Mal nach Nationen abgestimmt, wobei das Kriterium dafür die Sprache

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Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters

war, was vor allem als Schwächung des Papstes angesehen werden kann. Einer der drei, die um ihre Legitimität feilschten, Johannes XXIII., der aus Neapel stammende Baldassare Cossa, musste, obwohl er noch in weißem Ornat auf einem Schimmel feierlich eingezogen war, als Stallknecht verkleidet aus dem Konzilsort fliehen. Er wurde schließlich gefasst, schwerster Verbrechen angeklagt, abgesetzt, sein Name getilgt und nur durch das Geld der Medici freigekauft, sodass er eines natürlichen Todes sterben konnte. Erst 1958 wagte es Angelo Roncalli, den gleichen Papstnamen wieder anzunehmen. Das Konzil, das von Sigismund von Luxemburg, der seit 1419 römisch-deutscher Kaiser war, straff geführt wurde, schaffte es, wieder eine Einheit der Kirche herbeizuführen und ihr mit Martin V. einen anerkannten Papst zu geben.

8.2. Architektur und Kunst im Übergang Auch in der Kunst lässt sich der Verlust der einigenden und disziplinierenden Idee der platonischen Anagogielehre bzw. der aristotelischen Scholastik verfolgen. Dadurch bereitete sich der kunstgeschichtlich nicht leicht zu fassende Übergang in eine Form vor, die man dann der Renaissance zuordnen wird. Im Unterschied zum Früh- und Hochmittelalter verlor die Kathedrale ihre einheitliche Form. Sie wich »Raum und Bewegung, d.h. dem Ablauf in der Zeit«. Nikolaus Pevsner konstatierte die Auflösung des geschlossenen und disziplinierten Raumes und eine Öffnung auf überraschende Vieldeutigkeit. In England, wo die Gotik mit dem Wiederaufbau der Kathedrale von Canterbury 1174 (von Wilhelm von Sens) begonnen hatte, setzte sich ein eigenständiger Stil unter Einbeziehung der normannischen Tradition gegenüber Frankreich durch. Nach dem Early English Style entstand um 1250 unter Edward I. der (nach einer Einteilung von Thomas Rickman) sogenannte Decorated Style. Die Schmuckformen erhielten ein Eigenleben. Sie blieben akzidentell und wurden nicht mehr in den substantiellen Körper integriert. »Innerhalb einer rationalen Ordnung konnte sich zudem das irrationale Element frei entfalten.« Nikolaus Pevsner verglich diese Tendenz des Raffinierten mit dem »verwickelten Sophismus« von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Er argumentiert – Form und Struktur vergleichend – ähnlich, wie Erwin Panofsky es bei den Kathedralen des Hochmittelalters unternommen hatte. Gewölbeformen wurden beliebig und frei erfunden, Spektakuläres wie hängende Schlusssteine oder frei in der Luft schwebende Rippen mögen Erinnerungen an die geistige Artistik des Nominalismus auslösen. Der – wiederum nach Rickman – Perpendicular Style (berühmte Beispiele: Gloucester 1337–1377; Kapelle des King’s College in Cambridge) brachte eine Gegenbewegung, gleichsam eine Erinnerung an die alte ästhetische Tugend der integritas. Die Einzelformen wurden wieder einem Gesamtschema untergeordnet. In der Kunstgeschichte wird dieser Paradigmenwechsel verschiedentlich auf die Pestepidemie Mitte des 14. Jh.s zurückgeführt und darin »eine theologisch motivierte Abkehr vom reichen System des Decorated« gesehen. Die Spätphase dieses Stils überlebte bis ins 16. Jh. und wurde in der Neugotik wieder aufgenommen. Am längsten hielt sich die Kathedralidee dort, wo auch die Scholastik ihr verbindliches Konzept bewahren konnte und die Bindung von König und Kirche intakt blieb, in Spanien.

Fischer/Timmers 1971, 18 Pevsner 1943, 138

Decorated Style

Fischer/Timmers 1971, 20 Pevsner 1943, 130 7.4.

Perpendicular Style

Nicolai 2007, 260

344

Das Mittelalter

391 Cà d’Oro (15. Jh.); Venedig 392 Dogenpalast; Venedig

Wolf 2002a, 30

Bettelordens­ kirchen

Bürger Stefan in Klein 2007a, 284–295 Aubert 1963, 144f

Simson 1972, 17

Borngässer 2007a, 246

An der Ostsee begann nach dem Frieden von Stralsund (1370) die große Zeit der Hanse-Städte. Starke und unabhängige Städte schlossen sich zu Städtebünden zusammen. Neben der Hanse gab es einen Rheinischen und einen Schwäbischen Städtebund. Im Norden strahlte das Zentrum Lübeck in Architektur und Kunst in den gesamten Ostseeraum aus. Die dortige Marienkirche (1277–1351) wurde dutzende Male nachgebaut und prägte die Backsteingotik dieses Raums. In Italien wies die späte Gotik noch weniger Geschlossenheit auf. Kunsthistoriker sprechen daher auch lieber von der Architektur des Trecento. Die Gotik kam in Italien weniger bei den Kathedralen (wichtige Ausnahme Mailand) zur Anwendung als eher bei den Volkskirchen der Bettelorden und bei profanen Bauwerken. Entlang dem Canale Grande in Venedig entfalteten sich vom Dogenpalast bis zur Cà d’Oro (zwischen 1420 und 1440) alle wunderbaren Spielarten spätgotischer Profanarchitektur. Am Dogenpalast wurde im gesamten 14. Jh. gebaut und »er bleibt eine künstlerische Welt für sich, unvergleichlich wie so vieles in der Lagunenstadt und deshalb kaum in einen stilgeschichtlichen Stammbaum einzuordnen.« Die venezianische Gotik reichte entlang der östlichen Adriaküste bis weit in den Süden. Die Bettelordenskirchen waren für die Versammlungen vieler Menschen gebaut. Es handelte sich als Zweckbauten um ausladende, helle Hallen, meist einfache Backsteinbauten, in der Architektur nach den Ordensregeln nüchtern und nackt, manchmal zweischiffig, ein Schiff für die Brüder, eines für die Laien. Es gab keinen zentralen Lichteinfall, keine Strebebögen, kein Querhaus, keinen Chorumgang, sondern nur einen streng vereinheitlichten Raum, der durch die fortgeschrittene Gewölbetechnik entstand. Auch ein Kapellenkranz kam (außer bei Pfarrkirchen) nicht in Betracht, weil die meisten Brüder keine Priesterweihe besaßen. Allerdings entfalteten die Wände einen ungeheuren Schatz an Freskenerzählungen. Diese galten nicht als Luxus, sondern als erzählende biblia, welche die Predigten unterstützten. In Assisi war mit San Francesco zwischen 1228 und 1253 die erste einschiffige (zweigeschossige) Franziskanerkirche entstanden – zugleich für Simson »der erste wahrhaft gotische Bau Italiens.« Giotto schildert in der Unterkirche auf den nördlichen Querarmteilen (die Oberkirche ist von Cimabue und seiner Schule ausgestattet) das Leben des Franziskus. Aus diesem Grundmuster, das von Papst Gregor IX. gegen die Intention des Bettelbruders und im Sinne einer Aneignung von dessen Popularität im antikaiserlichen Kampf angeregt wurde, entwickelten sich viele Formen: richtungsdifferente Saalkirchen mit offenem Dachstuhl (S. Francesco in Siena), mehrschiffige Kirchen mit flacher Decke (die dreischiffige Santa Croce in Florenz) oder aufwendigere gewölbte Schiffe (Santa Maria Novella, Florenz; Frari, Venedig). Es gab eine »höchst innovative und qualitätvolle Architektur der Bettelorden, nicht aber die Bettelordensarchitektur.« Abweichend von den strengen Vorgaben der Ordensregel

345

Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters

kam es zu einem ehrgeizigen Wettbewerb zwischen den Orden. Die Franziskaner übertrafen in Florenz mit ihrer Kirche Santa Croce deutlich jene der Dominikaner, Santa Maria Novella. In den Städten Kroatiens, wo sich neben Italien die meiste Ordens-Architektur erhalten hat, liegen die Konvente und Kirchen der beiden Orden meist an entgegengesetzten Orten der Stadt. Reiche Stifter sorgten für prächtige Kapellen im Inneren. Auch hinderte die Identität als Orden der Armut nicht die Ausstattung der Konvente mit wertvollsten Kunstwerken. Als 1667 Dubrovnik von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde und die folgende Feuersbrunst unschätzbare Werte vernichtete, schrieb der kroatische Poet des Barocks, Junije Palmotic, dass über die Stufen des Minoriten-Klosters Ströme von geschmolzenem Gold auf die Placa flossen. Die Spätgotik zeigt den kunsthistorischen Betrachterinnen gegensätzliche Züge: »Wer der Spätgotik das Streben nach […] Vereinfachung des gotischen Systems zuspricht, hat nicht weniger recht als derjenige, der im spätgotischen Stil die Neigung zum Formenreichtum und zur Komplizierung feststellt.« Häufig war die architektonische Form schlicht (Hallenkirche), das Dekor jedoch komplex. Das Zerbrechen des Genormten, Regulierten und Dogmatischen hatte wohl auch damit zu tun, dass sich die Kunst den Klerikern zunehmend entzog. Hier drängt sich der Blick auf den Streit um die Universalien auf, die Hand in Hand mit der Individualisierung und Naturalisierung ging. Petrarca feierte als Erster im Zusammenhang mit der angeblichen Besteigung des Mont Ventoux (ob er wirklich droben war, ist ein beliebtes Streitthema der Philologen) die Landschaft als »ästhetisch-emotionales Erlebnis.« Cennino Cennini, Maler und Kunsttheoretiker aus Valdelsa, verfasste – vermutlich in Padua – einen Kunsttraktat (Libro dell’Arte), in dem er erstmals seit der Antike in dieser Klarheit der Malerei die Nachahmung der Natur empfahl. Mit dem neuen Paradigma Roger Bacons war ein Naturalismus in die Kunst eingekehrt, der die byzantinische Manier verdrängte. Gentile da Fabriano schuf prachtvolle Werke mit naturalistischen Details sowie Andeutungen von Raum und einem Licht-Schatten-Spiel. Das ist neu und steht für den Übergang vom Mittelalter in die Renaissance. Schärfer tritt die neue Ordnung in den um 1425 von Masolino da Panicale und Masaccio gemalten hochemotionalen Fresken in der vom Seidenhändler Felice Brancacci in Auftrag gegebenen Kapelle in Santa Maria del Carmine in Florenz, die als »Inkunabeln der Renaissance-Malerei gelten und aufgrund ihrer Innovationskraft den Künstlern über ein Jahrhundert lang als Inspirationsquelle dienten.« Cennino Cennini prägte den Begriff des disegno. Dies bedeutet Zeichnung, Entwurf, Absicht. Gemeint war ein Mimesiskonzept, das den Künstler als kreative Quelle aufwertet und ihn nicht bloß als Automaten der Nachbildung sieht. Dazu kam das beginnende Experimentieren um die Raumdarstellung auf zweidimensionaler Fläche um die Mitte des Jahrhunderts.

393 Santa Maria Novella (13./14. Jh.; Fassade 15. Jh.); Florenz

Cooper 2009, 76

Belamaric 2009, 109

Bialostocki 1972, 101

8.3. Kluckert 2007, 395 VI.4.1.2.

7.2.2.3.

Deimling Barbara in Toman 2007b, 240

346

Das Mittelalter

Profanierung des Sakralen

Huizinga, zit. nach Kluckert 2007, 400 Nicolai 2007, 21 mystische Einkehr

Perrig Alexander in Toman 2007b, 74

Duby 1976, 420ff Flasch 1986, 445ff

Das Auseinanderfallen von Glaube und Wissen hatte eine verbreitete Profanierung des Sakralen in der spätgotischen Kunst zur Folge bis hin zum Vulgären. In der Jungfrau mit dem Kinde von Jean Fouquet wollte ein Historiker des 17. Jh.s die Züge einer königlichen Mätresse erkannt haben und Johan Huizinga nannte sie abfällig »Modepuppe«. »Eine schleichende Profanierung führte seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, vor allem in Italien, aber auch nach 1400 in der altniederländischen Malerei zur Umkehrung der Parameter: das Abbild des profanen Lebensumfelds unterschiedlicher Stände bildet das Gehäuse, in dem sich die Heilsgeschichte vollzieht.« Daneben zelebrierte man mystische Einkehr als Reaktion auf die Katastrophen des Jahrhunderts. Öffentlicher Buße auf der einen und Individualisierung (mystischer) Religiosität auf der anderen Seite waren kein Widerspruch. In den Kirchen liefen mehrere liturgische Handlungen gleichzeitig ab, offensichtlicher Ausdruck eines religiösen Lebens, das mystischer, innerlicher, damit aber auch privater und individueller geworden war. Hinter dem »Moral- und Bußboom und seinen eskapistischen Tendenzen steckte der Wunsch nach Wiedererlangung jenes ›Unschuldszustandes‹, dessen vermeintlicher Verlust Gottes Zorn erregt zu haben schien.« Vor allem in Siena erinnerte man sich an die alte Funktion der biblia pauperum und begann, dem gerade erst aufkeimenden Illusionismus wieder abzuschwören und die byzantinische Stilrichtung als die religiös wahre wieder aufzunehmen. Es kam dadurch zu einem erheblichen Verzug der Ausbildung der Renaissancekunst. Insbesondere die Dominikaner unterstützten diese rückwärtsgewandten Tendenzen, nicht zuletzt aus Rivalität gegenüber den populären Franziskanern und ihrer schauspielerischen Auftritte auf den Plätzen der Städte. Diese Frömmigkeit benötigte das Bild. Die Darstellungen waren farbenfroh und realistisch, die Stifter von Kunstwerken ließen sich bereitwillig darin verewigen. Die Porträtkunst mit ihren ungeschminkten realistischen Aussagen erreichte eine große Meisterschaft. Zeigte die Romanik den Christus des Jüngsten Gerichts und der letzten Dinge, das 13. Jh. den gelehrten Christus, war jetzt der anrührende, leidende und sterbende Mensch Jesus das Thema. Ein makaberer Kult um den toten, von Würmern zernagten Körper hub an. Vom Triumph des Todes wurde erzählt, der, die Sense schwingend, die in Saus und Braus lebende Gesellschaft vernichtet, und dieser Schrecken sollte den Optimismus des sich emanzipierenden Menschen hintanhalten. Vom toten Jesus Christus im Schoß seiner Mutter bis hin zum Kult pompöser Grabmäler reichte die Palette der Auseinandersetzung mit dem Tod. Manchmal wurden mehrere Gräber für eine einzige Person errichtet und Körper, Eingeweide und Herz getrennt beigesetzt. Dies geschah etwa auch noch bei Ludwig XIV. und diesem Brauch folgten die Habsburger bis in die Gegenwart. In früheren Zeiten warf das die Frage nach der gelingenden Auferstehung eines dermaßen fragmentierten Körpers auf.

347

Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters

8.3. Philosophie und Ästhetik der Spätscholastik Die Spätscholastik brachte einerseits eine Verschärfung der methodischen und logischen Standards. Gerade deswegen fielen viele Glaubensfragen aus diesem engen Rahmen heraus und dies öffnete der neuen Mystik Tür und Tor. Wie oft in der Ideengeschichte trat kompensatorisch angesichts einer zugespitzten Verwissenschaftlichung des Geistigen ein Schub von mystischen Elementen auf. Was für den Nominalismus oft gesagt wird, gilt auch für die Mystik. Diese legte nicht nur, wie Thomas von Kempen zu sagen pflegte, die Axt an die Wurzel des Baumes der Unmoral, sondern auch an den Baum der Kircheneinheit. Der Zulauf zu den Predigten war gewaltig, Menschen nahmen lange Anreisen auf sich, um sie zu hören. Diese bodenständige Pastoral hatte längst den Bezug verloren zu den Professoren, die sich den Kopf über das Universalienproblem zerbrachen. Darin fokussierte sich aber durchaus die neue Entwicklung. Schon Roscelin von Compiègne, Petrus Abaelard und Gilbert von Poitiers stritten um die Frage, welchen seinsgemäßen Stellenwert man den Allgemeinbegriffen – beziehungsweise im 12. Jh. den Namen – einräumen sollte. Die platonische Lösung frei schwebender Ideenwirklichkeiten wurde abgelehnt und ihnen jeder Realitätscharakter abgesprochen. Sie seien vielmehr bloße Namen (Nominalismus). Bei dieser Ablehnung war das Effizienzkriterium maßgeblich. Dieses besagte, dass mit neuen Realitätsebenen so sparsam wie nur möglich umgegangen werden sollte. Die Brisanz des Streits brach erst im 14. Jh. so richtig auf, weil er einen Aufklärungsschub bedeutete, der metaphysikkritisch die Autonomie des Einzelnen stark machte und den Allgemeinvertretungsanspruch religiöser Weltdeutung in Schranken wies. Die Nominalisten leugneten jede Wirklichkeit solcher Begriffe. Sie seien nur Windhauch der Stimme (flatus vocis) oder in Gedanken Erfundenes (conceptus), eben reine Namen. Die Nominalisten, darunter die Franziskaner Duns Scotus mit eher transzendentalisierender Schlagseite und Wilhelm von Ockham mit eher empiristischer Ausrichtung und dem Bemühen, durch die Annahme einer intramentalen Realität den Fiktionscharakter des Allgemeinen zu umgehen, lehnten jeden Realitätsgehalt im Logischen entschieden ab. Die metaphysische Relevanz lag darin, dass jede Einheit des Seienden entweder als grundsätzlich unmöglich, als bloße Fiktion (fictio) oder – transzendentalisierend – als Entwurf und Konstruktion menschlichen Geistes angesehen wurde. Weit vor Descartes war mit solchem Denken ein Bruch durch die Schöpfung gezogen. Man entfernte sich damit tatsächlich von dem großen Syntheseversuch und dem (mittelalterlichen) Urvertrauen der Einheit von Subjekt und Gegenstand innerhalb der göttlichen Schöpfung eines Thomas von Aquin, der diese Synthese in aristotelischer Terminologie buchstabiert hatte. Mit ziemlicher Bestimmtheit war nun auch eine massive Aufwertung des Einzelnen erreicht. Thomas hatte sich noch um ein Seinsprinzip der Individuation bemüht, Ähnliches unternahm Scotus. Sein Ergebnis solcher metaphysischer Recherchen nannte er haecceitas, die Diesesheit. Im Nominalismus wird die faktische Vereinzelung nur mehr konstatiert und Ockham machte sich über die Bemühungen von Thomas und Scotus eher lustig. Der

Thomson 1983, 82f Universalienproblem

7.2.2.1.

Nominalismus

348

Das Mittelalter

III.2.4.3.3.2.

Schönheit

Duns Scotus, zit. nach Tatarkiewicz 1980, 309

III.2.4.3.f.

Nominalismus erhielt ein negatives Image, weil er sich einerseits dem Vorwurf einer leeren Logifizierung, andererseits dem des Irrationalismus ausgesetzt sah. Allerdings waren Ockham und der Nominalismus vor allem im Norden Europas weitaus einflussreicher als etwa der Thomismus. Letztlich entfaltete hier Aristoteles, der gegen die platonische Konzeption die Rettung eines souveränen Gottes in der Trennung von Göttlichem und Weltlichem sah, seine ambivalente Sprengkraft. Davon blieb in der Rezeption letztlich die Unerreichbarkeit Gottes für die menschliche Vernunft übrig. Dieser Aspekt des Aristoteles ist sein Beitrag zur Entwicklung der abendländischen Naturwissenschaft. Es entspricht der in der späten Scholastik nachvollzogenen Trennung des Religiösen, für das allein die Kirche zuständig blieb, vom Profanen, das der Freiheit der Wissenschaften oblag. Der eigentliche Impuls für die Umsetzung dieses dem wissenschaftlichen Zugang offenen Realen in die Zahl erfolgte in der Renaissance, die vor allem Platons Timaios rezipierte, von Seiten des erneuerten Platonismus. Dass angesichts einer solchen philosophischen Grundlage die Ästhetik noch weniger eine Rolle als in der Hochscholastik spielte, versteht sich von selbst. Es gibt nur verstreute Äußerungen dazu, die sich in den vorgegebenen Rahmen einfügen. Die Eigenschaft der Schönheit wurde nicht als Qualität eines Gegenstandes verstanden, sondern sie ergibt sich aus der Verbindung der Eigenschaften eines Gegenstandes, den wir als schön erachten. Die Argumentation drehte sich gegenüber bisher geradewegs um: »Die Schönheit ist nicht irgendeine absolute Qualität an einem Körper, sondern die Gesamtheit aller dem Körper entsprechenden Eigenschaften, d.h. der Grösse, der Gestalt und der Farbe, und schließlich auch die Gesamtheit aller Beziehungen dieser Eigenschaften zum Körper und untereinander.« An anderer Stelle erweiterte Scotus das Schöne in eine ethische Dimension. Das entsprach dem Verständnis der Theologie als praktischer Disziplin. Schon der Oxforder Dominikaner Robert Kilwardby hatte in seinem um 1250 entstandenen De ortu scientiarum zwischen Philosophie und Theologie in ähnlicher Weise unterschieden. Bei dieser sei Gott und nicht die natürliche Vernunft die Quelle der Erkenntnis. Die Philosophie liefere theoretisches Wissen, die Theologie hingegen praktisches. Nichts ist hier in ein weiter greifendes ontologisches Konzept eingepasst, Duns hatte die scholastische Terminologie von ihrem Seinsgehalt abgehoben. Damit einher ging der Rückzug von allgemeinen Seinsbestimmungen (Transzendentalien). Gibt es bei Thomas von Aquin noch eine Diskussion darüber, ob das Schöne zu diesen Seinsbestimmungen gehört (was bei ihm nicht der Fall ist), kommt eine solche Diskussion bei den Nominalisten gar nicht erst auf. So wie das Schöne aufgrund der Poportioniertheit der Teile auftritt, gilt auch das Gute nur für Seiendes, das kein Schlechtes (malum) ist. Die Begriffe werden relativiert, von ihrer ontologischen Bindung befreit und in einen offenen empirischen Raum gesetzt. Dadurch werden wieder, wie schon in anderen Phasen einer Moderne (Sophisten) – schön und gut miteinander verschränkend –, Ansätze einer Rezeptionsästhetik formuliert. Das Schöne ist ein bonum delectabile, ein Gut, das man genießen kann. Jede Verweisästhetik war damit überwunden. Mit anderen metaphysischen Begriffen verhält es sich ähnlich: Im bisherigen aristote-

349

Das Ende des Mittelalters

lisch-thomanischen Verständnis bedeutete forma beispielsweise eine der Materie zustrebende Substanzform, im spätscholastischen Kontext wird sie zur bloßen figura, zur Gestalt, zum »äussere[n] Gefüge der Dinge« reduziert. Sie kommt von Seiten des Künstlers, der damit »seine Schöpfung sich selbst« angleicht. Der Mensch richtet in der künstlerischen Tätigkeit die Welt auf sich hin zu. Das ist ein vollkommen neuartiger, transzendentaler Ansatz, der die starke Stellung des Menschen deutlich dokumentiert. Noch schärfer zog der aus Ockham südlich von London stammende Wilhelm gegen jede Verbindung eines Schönheitsbegriffs mit realen Sachgehalten zu Felde und stellte ihn in ein Umfeld des Individualismus. Alte Begriffe, auch etwa jene von Form und Figur, betreffen das Gefüge von Teilen und »erschaffen keinerlei von der Substanz und den Qualitäten abgetrennten Dinge […].« Der Künstler kann von einer Idee inspiriert sein, die selbst zwar keine weitergehende Bedeutung hat (geschweige denn, dass sie göttlicher Herkunft sei), aufgrund welcher der Künstler allerdings etwas schaffen kann. Bilder können etwas in der Natur Gegebenes nachahmen oder aber eine Idee des Künstlers darstellen. Ockhams Kunstbegriff war beliebig. Er erinnert an den Kunstbegriff anderer aufgeklärter Epochen wie jenen der Sophisten in der Antike. So gesehen ist die künstlerische Tätigkeit frei und unterscheidet sich darin von der in der Natur herrschenden Notwendigkeit. Diese Zurückhaltung der Philosophie in Fragen der Kunst und der Ästhetik fiel in eine für die Kunst sehr produktive Zeit. Der scheinbare Widerspruch lässt sich leicht auflösen. Gerade weil die Kunst nicht mehr in eine ontologische Funktion gepresst war und gerade weil das 13. und 14. Jh. so viele Sprachen sprachen, konnte sich Kunst freier und ungehemmter entfalten. Es drängte die Künstler zur Beobachtung der wahrnehmbaren Welt. »So führt der Ockhamismus geradlinig zu dem hin, was wir in der Kunst als Realismus bezeichnen.«

9.0. Das Ende des Mittelalters Italien hatte im 14. Jh. das Mittelalter weitgehend hinter sich gelassen und strahlte die neuen Ideen nach ganz Europa aus. In Frankreich hingegen war die Architektur im 14. Jh. noch gotisch und die Skulptur jenseits von Italien war sogar während des 15. Jh.s noch mittelalterlich. Der im Zusammenhang mit Avignon schon erwähnte, in ganz Europa verbreitete weiche oder internationale Stil war der letzte des Mittelalters und er war die fortgeschrittenste Stilrichtung, welche sakrale Kunst vermenschlichte. Die Figur der Schönen Madonna eroberte Raum und Zeit und stellte geradezu einen anmutigen in sich dynamisch ruhenden Pol in dem umgebenden Raum dar. Die Frage nach Mittelalter und Neuzeit soll im nächsten Abschnitt, der sich der Renaissance widmet, nochmals aufgegriffen werden. Resümierend bleiben wenige Hinweise, die flächendeckend das Ende des Mittelalters signalisieren. Den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit bzw. die Renaissance muss man sich eher als eine Verzahnung vorstellen. In der Kunstgeschichte wird bisweilen bei der Sakralskulptur

Ebd., 309

Ockham, zit. nach Ebd., 310

Duby 1976, 367

350

Das Mittelalter

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 301

Simson 1972, 46

ein direkter Übergang von der Spätgotik in den Barock beschrieben. Dazu kamen die in 8.1. beschriebenen Verzögerungen der neuen illusionistischen Malweise. Der Zerfall der Synthese von Glaube und Wissen, das Ringen um die Wissenschaftlichkeit der Theologie bis zur Scholastik und der Zerfall dieses Anspruchs im Nominalismus war nur eine Episode beim Verlust der Universalitätsidee. Von Kaiser Karls Stärkung der Kurfürsten war bereits die Rede. Das kritische Bewusstsein eines sich aus der anonymen Gesellschaft befreienden Individuums trat an die Stelle der mittelalterlichen Autorität. Marsilius von Padua, der mit Johannes von Janduno in Gedankenaustausch stand, wollte 1324 im Defensor pacis die Macht des Papstes auf seine geistliche Funktion beschränkt sehen und brachte das Volk als Legitimitätsinstanz ins Spiel. Papst Johannes XXII. verurteilte solche Ansichten scharf. Wilhelm von Ockham hingegen fand für seine politischen Vorstellungen viele Anregungen. In der Kunst erstarkte das Selbstbewusstsein der Künstler, städtische Werkstätten lösten die kirchlichen Bauhütten ab. Sie versammelten Steinmetze und Künstler aus ganz Europa und waren nahezu autarke Gebilde mit eigener Gerichtsbarkeit und strenger Arbeitsdisziplin. Aus ihnen entwickelten sich am Ende des Mittelalters die Zünfte, die von Auftraggebern aus der Stadt organisiert waren. Die Künstler wurden gewissermaßen in ähnlicher Weise unabhängig wie die von ihnen gestalteten Skulpturen. Über die Einkommensverhältnisse und die soziale Stellung der Künstler wissen wir wenig. »Ist jener ›Johannes aus Pisa‹ , dessen Name um 1300 in sorgfältig geführten Rechnungsbüchern des Doms erscheint und dessen Entlohnung zu unserem Erstaunen kaum höher war als die der Steinmetzen, etwa der berühmte Giovanni Pisano, einer der genialen Vorläufer der italienischen Renaissance?« Was wir aber wissen ist, dass sie oft weite Reisen auf sich nahmen und Aufträge für weit entfernte Orte übernahmen. »Die Bildhauer des Nordquerhauses der Kathedrale von Chartres kamen von Laon, nachdem sie die Arbeiten an der dortigen Westfassade beendet hatten; die von Amiens treffen wir in Reims wieder, der große Meister des Straßburger Südquerhauses war zuvor in Chartres.« Die Scholastik war erstarrt. Eine kritische Abkehr von der logischen Argumentationstechnik führte zur Erneuerung des Literarischen und Rhetorischen – stellvertretend für den Transfer stehen die Tre Coronati, die drei gefeierten Sterne der anbrechenden Renaissance: Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio – und zu einer spannungsvollen Symbiose von Aristotelismus und Platonismus unter Führung des Letzten. Wieder, wie schon am Beginn des Mittelalters, hatte das antike Bildungsgut die Kraft, eine neue, diesmal die Grenzen Europas in der beginnenden Welteroberung sprengende Epoche einzuleiten.

Die Renaissance

VI

352

Die Renaissance

◀ 394 Michelangelo, David (um 1501); GA

Ferguson 1948, 329

6.2.

Gab es überhaupt eine Renaissance? Die Frage mag seltsam scheinen, aber es ist in Mode gekommen, dass die Mediävisten Teile dessen, was man bisher unter Renaissance ablegte, für das Mittelalter reklamieren. Die Motivation dazu mag sein, das von den Renaissancehumanisten verdunkelte Mittelalter möglichst hell erstrahlen zu lassen und bereits dort die Weichenstellungen für die Neuzeit zu verorten. Das Unterfangen erscheint wie eine späte publizistische Rache an den Renaissanceintellektuellen. Überdies lässt sich ausnützen, dass im Fall der Renaissance die geschichtsphilosophische Frage nach Epochengrenzen besonders schwierig zu beantworten ist. So hat man angesichts des »Aufstandes der Mediävisten« den Bruch zum Mittelalter immer weiter nach hinten geschoben. Geographisch gehen die Dinge ebenfalls durcheinander. In großer Übereinstimmung wird die Geburt der Renaissance in Italien angesiedelt. Der französische Kunsthistoriker und Erfinder des Begriffs »Internationale Gotik«, Louis Courajod, vertrat eine andere Meinung und sah in Italien bis ins 15. Jh. nur Gotik, während die Renaissance ein Import aus Frankreich und den Niederlanden gewesen sei. Solche heftigen Differenzen entstehen, weil sich namentlich die Kunstgeschichte nicht leicht tut, eine Grenzlinie zwischen Spätmittelalter und Renaissance zu ziehen, und weil tatsächlich Einflüsse keineswegs nur in einer Richtung verlaufen sind. Der im vorhergehenden Kapitel zitierte Satz von Georges Duby, dass es bei diesem Übergang weniger um Chronologie als um Geographie ging, bringt die Problematik auf den Punkt. Wenn man bereits in der Spätgotik die Eroberung des Raums und die plastische Herausarbeitung von Körperformen sieht, spricht einiges dafür, wenn viele Kunsthistorikerinnen den Barock organisch aus der späten Gotik herauswachsen sehen. Insbesondere im Norden, wo sich die Spätgotik bis ins 16. Jh. hielt, war der erste Kontakt mit der Renaissance meist bereits einer mit dem Manierismus.

1.0. Der Begriff der Renaissance

Klotz 1997, 37ff Wolf 2002a, 13

Sutthoff 1990, 2ff

Bouwsma 2000 Rauch Alexander in Toman 2007b, 308

Die Neuzeit scheint mit einem Bruch zwischen Süden und Norden begonnen zu haben, eine Tatsache, die für lebhafte Diskussionen sorgt, und man kann der Einschätzung von Heinrich Klotz folgen, dass es hier weniger um Qualität als vielmehr um die spezifische Eigenart der Kunst ging. Entsprechend verwirrend ist die Situation um die Terminologie. Für die frühe Zeit geistern »nomenklatorische Lückenbüßer« wie »Protorenaissance«, »Spätmittelalter«, »Spätgotik«, »Frühhumanismus« durch die Literatur, ganz zu schweigen von eher kuriosen Zuschreibungen wie »posthume Gotik«, »Zwittergotik«, »Bastardgotik« und dergleichen mehr. Für das Ende der Epoche ist die Verwirrung nicht viel geringer. Während der Beginn ein breites Thema in der Fachliteratur ist, wurde bislang – darin ist William J. Bouwsma zuzustimmen – zum Ende eher wenig gesagt. Um 1900 bezeichnete man bisweilen den Barock noch als Spätrenaissance. Erich Hubala versteht in seinem Beitrag über die Kunst des 17. Jh.s zur Propyläen Kunstgeschichte unter Barock vorwiegend den Klassizismus. Es ist dann konsequent, wenn er damit sympathisiert, den

353

Der Begriff der Renaissance

Beginn des Barock im 16. Jh. zu sehen, und Michelangelo einen »Vater des Barocks« nennt. Demnach wäre die Klassik nur durch die kurze Phase des Manierismus unterbrochen worden, nach dessen Überwindung gleichsam eine Renaissance der Renaissance erfolgte. Dieser Ansatz scheint in gewisser Hinsicht nicht unbegründet. Dies vor allem dann, wenn man eine an der Renaissance orientierte Klassik von einem eher von der Romantik gespeisten Klassizismus unterscheidet, eine Unterscheidung, der in diesem Werk viel Sympathie entgegengebracht wird. Die Verwirrung drückt ein grundsätzliches Dilemma von Epochenbegrenzungen aus, das besonders plastisch wird im Fall der Renaissance. Denn Renaissance ist Wiedergeburt und Erneuerung, und solche gab es naturgemäß immer. Daher hat Erwin Panofsky die Renaissance auch in den Plural gesetzt und deren Auftauchen geradezu zu einer Konstante europäischer Geistesgeschichte gemacht. Es gab demnach, von der karolingischen Renovatio ausgehend, auch im Mittelalter ständige Neuerungen. Renaissance wäre entweder generell eine Bezeichnung von Aufbruchs- und Erneuerungszeiten oder man schwächt den Bruch zum Mittelalter ab und spricht vorsichtiger von einem Neubeginn. Das Mittelalter besäße dann einen langen Herbst, sodass festgestellt werden könnte, dass »auch im Italien des fünfzehnten Jahrhunderts die Fundamente des Kulturlebens noch immer rein mittelalterlich geblieben sind […].« Die Stilbegriffe »Mittelalter«, »Gotik«, »Renaissance«, »Neuzeit« sind als Abgrenzungen »kaum befriedigend anzuwenden [sind], weder zeitlich noch formal. Längst wissen wir, daß die bedeutenden Voraussetzungen für das, was wir ›Renaissance‹ nennen, schon [im] Trecento geschaffen wurden. Denn manche ›gotische‹ Form birgt bereits Ideen der ›Renaissance‹ in sich, und manche Höhepunkte des neuen Stiles, besser gesagt: der neuen Ideale, vollziehen sich erst im folgenden Jahrhundert, im Cinquecento.« Wenn das so ist, war der einstige Vorschlag des Kunsthistorikers Richard Hamann, eine Epoche der Renaissance überhaupt abzulehnen, nicht ohne Witz. Seiner Meinung nach bildete sich die neue Form erst um 1500 heraus und wich um 1530 bereits manieristischen und barocken Tendenzen. Von einer Epoche, die nur eine Generation umfasse, zu sprechen, sei indes unsinnig. Wilhelm Pindar ging einen ähnlichen Weg und lehnte in seinem Werk Deutsche Barockplastik die Existenz einer Renaissanceplastik in Deutschland schlichtweg ab. Er ließ den Barock um 1580 (mit Carlo di Cesare del Palagio und Hubert Gerhard) anheben. Das andere Extrem formulierte Fernand Braudel. Auf den Spuren des Wirtschaftshistorikers Armando Saporis schrieb er, dass ihm dessen »kühne Idee, die ›echte Renaissance‹ bis zum 12. Jahrhundert zurückreichen zu lassen, sehr zupaß kommt.« Ja, bis ins Jahr 1000 und einer dort zaghaft beginnenden Aufklärung sollte der Beginn der Renaissance verschoben werden. Damit hat Braudel die Renaissance als ernst zu nehmende Epoche ebenfalls eliminiert. An dieser Stelle wird jedoch energisch an einer eigenen Epoche der Renaissance festgehalten. Dies aber nicht etwa, um die Renaissance als »ideologisches Werkzeug« päpstlicher Machtentfaltung zu interpretieren, welche die Architektur als »bewußte

Hubala 1970, 32

VII.4.2.

Panofsky 1990

Pochat 1996, 207

Huizinga 1919, 347

Rauch Alexander in Toman 2007b, 351

Braudel 1991, 74

354

Die Renaissance

McLean Alick in Toman 2007b, 12

Ebd., 16

Braudel 1991, 74

Huizinga 1919, 347

Bialostocki 1972, 11

Wiederbelebung der Antike unter christlichen Vorzeichen« verstanden habe, so eine weitere Desavouierung der Epoche. Alick McLean verweist auf die Metaphorik der Macht, die jedem antikisierenden Bauen zukomme, und geht mit dieser These folgerichtig bis auf das 11. Jh. zurück. So sei etwa (das im 11. Jh. von Bischof Alibrando begonnene) San Miniato al Monte in Florenz als Verbindung von Tempelfront und Triumphbogen in seiner Ikonographie »der Vereinigung der göttlichen und weltlichen Macht gewidmet«. Weitab von jeder Stilgeschichte wird mit einem solchen metapherntheoretischen Ansatz der Begriff der Renaissance zu einem Passepartoutbegriff, noch dazu eingeschränkt auf die Architektur. Zudem müsste man McLeans These auf den profanen Bereich erweitern. Denn auch die Fürstenhöfe banden Kulturschaffende an sich, selten aus anderem Antrieb als den, die autoritäre Herrschaft des Fürsten propagandistisch absichern zu helfen. Hier wird aber an der Epoche einer Renaissance festgehalten aus kulturellen und philosophischen Gründen und dies in einem eigenen Kapitel über die Kultur der Renaissance noch ausführlicher expliziert. Ich übernehme dabei die mit allen erwähnten Unschärfen breit akzeptierte grobe zeitliche Begrenzung, welche die Renaissance zwischen 1400 und 1600 ansetzt. Treffender als mit Braudels Worten kann man die Motivation dafür, an einer eigenständigen Renaissance festzuhalten, kaum zusammenfassen: Die Renaissance kläre, »wie und warum sich die Kultur Europas verändert.« Dagobert Frey gab einem 1929 erschienenen Werk den Titel Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung. Und mit Jan Huizinga findet sich ein Mittelalterhistoriker, der überzeugend den Abschluss einer Epoche (des Mittelalters) beschrieb, auch wenn er sich schwer tat, über dem »Kommen der neuen Form« auch ihr »Angekommensein« festzustellen. Die Sicht auf die Renaissance als einer Epoche, die bloß als kultureller Umbruch definiert ist, mag vordergründig im Widerspruch stehen zur Größe und Wirkung der entstandenen Kunst: »Läßt sich eine Zeit als Übergangsperiode ansehen, in der große Werke entstanden, die reich sind an Schönheit und Symbolik, an Ausdruck und Ideen, und deren Wert fortdauert?« Jan Bialostocki beantwortet die Frage selbst einige Zeilen weiter: »Nur selten änderte sich in der älteren Kunst in so kurzer Zeit so vieles. […] in diesen hundert oder hundertfünfzig Jahren vollzog sich in der Kunst der Schritt vom Mittelalter zur Neuzeit.« Ein anderes Bild, eines, mit dem der Magier und Wissenschaftler Paracelsus, eine typische Renaissancefigur, sein eigenes Tun beschrieben hat, könnte als passende Metapher für die Renaissance dienen: Seine Alchemie sei ein Geschäft, alles Erstarrte zu verflüssigen und umzugestalten. Auch für die Renaissance war es geradezu das Ziel, das Erstarrte der alten Scholastik zu verflüssigen, ohne dass die neue Gestalt bereits bekannt gewesen wäre. Wie ließe sich nun die Identität dieser Station im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit charakterisieren? Zumindest durch diese Eigenschaften: die Entdeckung und Gestaltung des Raums, das dezidierte Aufgreifen und Neuordnen des antiken Erbes, die Hinwendung vom unsichtbaren Gott zur sichtbaren Welt, das Formulieren des neuen Bildungsideals des Humanismus, das in der Vorstellung des uomo universale gipfelte.

355

Der Begriff der Renaissance

Schon willkürlich zu nennen ist jede genaue Datierung von Anfang und Ende der Renaissance. Dabei zieht sich die Jahreszahl »um 1420« durch die Literatur. Das bezieht sich auf Masaccio (Tommaso di Giovanni) und sein um 1427 gemaltes perspektivisches Meisterwerk: das Trinitätsfresko in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella in Florenz. Es bezieht sich zudem auf das andere Genre: die Skulptur, und den Paradigmenwechsel, der sich in den Bronzetüren des Baptisteriums in Florenz ausdrückte. Aus der zeitlichen Kongruenz erübrigt sich eigentlich eine Antwort auf die beliebte Frage, ob der Anfang der Renaissance eher in der Skulptur oder der Malerei zu sehen ist. Interessanter ist die Frage, ob man nicht das Jahrhundert voher im Blick behalten muss, genauer: die dominante Figur Giottos, der vielen Generationen von Historikerinnen und Kunsthistorikern als der große Neuerer gegenüber dem Mittelalter galt. Denn das beherzte Fortschreiten der Malerei vom noch byzantinisierenden, an der Linie orientierten (disegno) Giotto am Anfang bis zum pastosen, konturlosen, schon ins Barocke weisenden Gestus eines Tizian am Ende könnte (zumindest für die Malerei) eine anschauliche Begrenzung der Epoche abgeben. Geographisch ist hier von Florenz die Rede, dem Ort der Entstehung der Renaissance. Dies, obwohl Florenz zum Unterschied von Rom keine Reste aus der Antike besaß. Zur gleichen Zeit orientierte sich Siena noch an der alten maniera greca, ebenso wie Venedig mit seiner weitgehend byzantinischen Identität. Dort prägte zudem die Gotik noch Architektur und Kunst. Der 1400 geborene Jacopo und sein ältester Sohn Gentile Bellini waren die ersten Maler in Venedig, die man mit ihrer Raumwirkung ohne jedes Wenn und Aber der Renaissance zurechnen kann. Gentile war der dafür mit Geschenken überhäufte Porträtist des Konstantinopel-Eroberers Mehmed II. Dieses Bild dokumentiert das vorbildhafte Ansehen, das die Renaissance auch im Osmanischen Reich genoss. Von Giovanni Bellini, einem Bruder Gentiles und Schwager Andrea Mantegnas, stammt das Triptychon Thronende Madonna mit den vier Evangelisten von 1488 in der Sakristei der Frari-Kirche in Venedig, das – zwar noch als dreigliedriges Retabel gemalt – eine Vereinheitlichung des Raums anstrebt. Bellini schuf »eine perfekte Illusion von Räumlichkeit und Tiefe.« Im Norden des Kontinents vollzog sich der kulturelle Paradigmenwechsel ein oder gar zwei Jahrhunderte später. Katharina Krause nennt für den Umbruch das Jahr 1530: »Formen, die das Zeitalter der Gotik geprägt hatten, traten mehr und mehr in den Hintergrund und wurden durch solche ersetzt, die an die Antike oder die vermittelnden Künste in den Nachbarländern, in Italien genauso wie in den Niederlanden, angelehnt waren.« Dazu mögen nicht zuletzt die Italienreisen Dürers 1495/96 und 1505–1507 beigetragen haben. Sie leiteten die Tradition einer »transalpinen Mobilität und Beziehungskultur« ein, der viele Künstler und Dichter folgten. Die Ausnahme bilden in der Malerei (in der Architektur geht der Norden mit der spätgotischen Hallenkirche nochmals einen Sonderweg) die Entwicklungen in Flandern und im südwestdeutschen Raum, wo insbesondere zwischen der Florentiner Kunst und großen Realisten wie Lukas Moser oder Jan van Eyck große Analogien bestehen. Die noch in der Gotik ausgebildeten Künstler wie Albrecht Dürer, Mathis Neithart, den Joachim von Sandrart Grünewald nannte, Lucas Cranach oder Johan-

Datierung

6.2. Wundram 2004, 11f, 36ff

Geographie

V.5.4.2./V.8.2.

V.3.4.2.5.

Borngässer Barbara in Toman 2010, 525

Krause 2007a, 6 Niehr 2007, 313

356

Die Renaissance

Roeck 2017, 357

Sutthoff 1990, 10f Günther 2009, 197 Kruft 1985, 106

Günther 2009, 12f Ladner 1969, 351f 3.0.

nes Altdorfer erlebten eine sich rasch wandelnde Welt mit veränderter Stilvorstellung und Ikonographie. Zwischen den niederländischen Malern und den Kollegen, Fürsten und Sammlern in Italien bestanden lebhafte Kontakte. Kunstwerke aus den Niederlanden waren an den Höfen Italiens weit verbreitet und für die Renaissancekünstler eine Quelle der Inspiration. Die zeitliche Verschiebung bewirkte, dass die Renaissance in Italien im Augenblick ihrer Europäisierung bereits ihr Ende erreicht hatte. Es war zudem meist nicht die klassische Renaissance, sondern bereits der Manierismus, also der anbrechende Barock, der im Norden das Mittelalter ablöste. Die von Giorgio Vasari mit feiner Sensibilität getroffene alte Einordnung sollte ebenfalls nicht aus dem Blick geraten. Er setzte die Erneuerung der italienischen Kunst bereits im frühen 14. Jh. an und ließ die Kultur der Renaissance mit den Tre Coronati anheben. Demnach sei mit Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio eine neue Zeit der Wiederentdeckung der Natur, der Würdigung des Menschen und der realistischen Abbildung angebrochen. Dante tritt in seiner Göttlichen Komödie (Divina Commedia; um 1321) – und das ist etwas Neues – als Ich-Erzähler auf: »Der Leser, ›il lettor‹, ist das immer wieder adressierte Gegenüber – wie der Betrachter eines Bildes ein Jahrhundert später zum Teil der zentralperspektivischen Inszenierung wird.« Giorgo Vasari, der die Ablehnung des Mittelalters durch die Renaissance-Humanisten bei Lob einzelner Werke blumig formulierte (notte di Medio evo, età vecchia, tenebre), setzte die neue Klassik sowohl vom Alten als auch vom Modernen (des 13. und 14. Jh.s) ab. Das Alte, die griechisch-byzantinische Manier, habe sich ebenso von der Natur entfernt wie der gotische Stil der Deutschen (maniera tedesca). Die negative Bewertung der Gotik vermochte in ihr nur Derbes, Bäurisches, Primitives zu erkennen – stets gemessen an der antiken Form und am Vorbild der Natur. Beides sei in der Gotik deutlich verfehlt worden. »Verflucht sei, wer sie erfand«, wetterte Filarete gegen die Gotik und Alberti nannte die gotischen Bauten »wahnwitzige Albernheiten«. Das Mitglied der Akademie von Florenz, Gherardo Spini, beschimpfte die gotische Architektur als würdelos und ohne jede Regel (senz’ordine o regola alcuna). Einen ganz anderen Blick warf der spätere Klassizismus auf die Gotik. Er sah in ihr durchaus einen Bezug zur Natur. Als Epochenbezeichnung für eine europäische Achsenzeit ist der Begriff Renaissance zwar erst bei Jean Baptiste Séroux d’Agincourt und bei Jules Michelet im 19. Jh. in die Kunstgeschichte eingeführt und dann üblich geworden, aber die Metaphorik einer Neu- oder Wiedergeburt hat bereits das Selbstbewusstsein der Zeitgenossen der Renaissance bestimmt. Giorgio Vasari hatte dafür die biologische Metapher rinascita geprägt. Anders als Romanik oder Gotik ist die Renaissance kein eigentlicher Stilbegriff, sondern eine Kennzeichnung einer kulturellen Epoche. Daher wird in einem eigenen Abschnitt versucht werden, eine Kultur der Renaissance zu beschreiben. Nichtsdestoweniger gibt es auch eine Kennzeichnung von Kunst und Architektur. Kunstphilosophisch lässt sich die Linie mit der Behandlung des Raums ziehen. Beim Stilwandel um 1400 wird die Form additiver Bildelemente, die in der Malerei

357

Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

der Gotik trotz allem Naturalismus bestimmend blieb, durch eine räumliche Integration der Elemente abgelöst. Die Elemente werden aufeinander bezogen und erzeugen einen homogenen Bildraum und ein konsistentes Bildgeschehen. Am frühesten finden sich Spuren dieser neuen Auffassung bei Giotto und sie lassen sich im Vergleich seiner Ognissanti-Madonna (1305) mit der Thronenden Madonna Cimabues (1280) demonstrieren. So gesehen könnte man in der Tat von einer neuen Achsenzeit sprechen. Nicht nur im Sinne eines »Januskopfs«, eine Metapher Petrarcas, die Friedrich Merzbacher aufnahm. Petrarca empfand sich auf der Grenze zwischen zwei Ländern, wo er zur selben Zeit vorwärts und rückwärts blickte. Merzbacher sah seinen Kopf in der Antikenrezeption zurück und zugleich im Humanismus nach vorne gerichtet. Aber es geht hier um eine »echte« Achsenzeit: vom Additiven der byzantinischen maniera greca zur Organisation im Raum. Das lässt sich kulturgeschichtlich beziehen auf die reale Entdeckung des Raums in der Welteroberung des 15. und 16. Jh.s, sowie auf die Befreiung im geistigen Raum aus der ritualisierten Enge des scholastischen Wissenschaftsbegriffs. Freilich ist die Situation insofern komplexer, als der humanistische Blick nach vorne geradewegs aus den antiken Wurzeln gespeist und der geistige Raum aus einem erneuerten, aus Byzanz importierten Platonismus der Akademien, gewonnen wurde.

Merzbacher Friedrich in PWG VII , 376 Kristeller 1986, 11

II.4.

2.0. Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte Die Renaissance konnte auf jenem Substrat aufbauen, das im späten Mittelalter durch die »kommerzielle Revolution« erstellt worden war. Die Befreiung von den Erstarrungen des alten Systems der Scholastik, die bereits im Nominalismus begann, führte Wissenschaft und Kunst zu neuen Aufbrüchen. Die Entdeckungen brachten ein neues Weltbild mit neuen Wertvorstellungen hervor. Das sorgte für eine Reihe von Aufgaben in Kunst und Architektur. Neben sakralen Bauwerken entstanden Fürstenpaläste, Rathäuser, Stadttore, Brunnenanlagen, Landhäuser und Memorialbauten wie Reiterstatuen und Grabmäler. Dabei waren die Jahrhunderte der Renaissance wirtschaftlich keineswegs unkompliziert. Im 15. Jh. gab es eine verbreitete Stagnation, besonders in Italien (wenn auch auf hohem Niveau). Die Gewichte in Europa hatten sich verschoben. Was in Italien an Handelsvolumen verloren ging, gewann die europäische Peripherie an den Küsten des Atlantischen Ozeans und später an Ost- und Nordsee dazu. Bildung und Wissen wurde unter anderem durch die Erfindung des Buchdrucks 1447 durch Johannes Gutenberg zu einem breiten Gut. Die neue, anspruchsvolle Technologie, deren Wurzeln – wie alles – in den Orient reichen, löste eine Massennachfrage nach Schriftwerken aus, was wiederum die Produktion stimulierte. Eine vervielfachte objektive Textgrundlage, gewonnen durch ein mechanisiertes Verfahren, trat an die Stelle der variantenreichen, Eliten vorbehaltenen Handschriften. Die Produktion von Büchern änderte die Kultur generell, wenngleich sich dieser Para-

Lopez 1962, 30

Buchdruck

358

Die Renaissance

Schmidt 2007, 376ff

McLuhan 1967, 184

Eisenstein 1983 IX.4.7.1.

von Samsonow 2001, 77/78

Margreiter 2007, 122

digmenwechsel über einen längeren Zeitraum hinzog, in dem Buchdruck und alte Handschrift nebeneinander bestanden. Viel ist über diesen Medienumbruch geschrieben worden. Man muss nicht die negative Einschätzung von neuzeitlichen Medienrevolutionen verschiedener Autoren teilen, aber die drastischen Worte Marshall McLuhans, gemünzt auf den Buchdruck, beschreiben die Nachhaltigkeit dieser medialen Revolution zutreffend: »Wenn der Stammesmensch vom phonetischen Alphabet wie von einer Bombe getroffen worden war, dann schlug die Druckpresse bei ihm wie eine 100 Megatonnen Wasserstoffbombe ein.« Marshall McLuhan erregte mit seiner These der strukturellen Prägung der Umbrüche der Renaissance in Wissenschaft und Kultur einschließlich der Entwicklung der Perspektive seinerzeit erhebliches Aufsehen und wegen seiner wenig empirischen, vielmehr spekulativen und assoziativen Methode auch Anstoß. Trotzdem wurde seine Grundthese bei viel Kritik an Einzelfragen auch von sich um empirische Grundlagen bemühenden Forscherinnen durchaus bestätigt und ist heute weitgehend akzeptiert. Der Medientheoretiker Neil Postman bezeichnete die Tatsache des kulturellen Umbruchs durch eine Medienwende mit dem Ausdruck Medienökologie. Jedes Medium schaffe sich eine (kulturelle) Umwelt. Im Buchdruck sah Postman eine soziale Revolution, welche die mittelalterliche Hierarchie aufgebrochen habe. Als Gefahr vermutete er eine Desorientierung durch die Fülle der neuen Informationsflut, was jedoch durch die Institutionen der (sich bildenden) bürgerlichen Familie und der Schule aufgefangen wurde. Auch Elisabeth von Samsonow verfolgt diese medienphilosophische Spur. Für sie ist die Renaissance gekennzeichnet durch die Ablösung einer mnemotechnischen Erinnerungskultur: »In der Renaissance überholt die Schrift die Architektur als Primär-Imago kognitiver und mnemotechnischer Orientierungsstrategien.« Die Schriftorientierung zog Samsonow zufolge einen Raumverlust nach sich. Dabei handle es sich nicht um eine glatte Ablösung, sondern um eine Kollision. Die Deformationen und Effekte dieser Kollision »bildet nun das Motto für den Introitus in das Barock.« Medienphilosophisch repräsentiert die gedruckte Buchseite einen neuen Wissenstypus. Sie bietet »einen überschaubaren, systematisierbaren und manipulierbaren geometrischen (Gesichts-)Raum […].« Gegenüber der überwiegenden Hörkultur des Mittelalters förderte der Buchdruck eine verschärfte Visualisierung der Kultur. Eine der Konsequenzen war der Aufstieg des bildenden Künstlers gegenüber der anfänglichen Dominanz des Dichters parallel zur Entwicklung des gedruckten Buches. Klar ist, dass der Buchdruck jedenfalls in kaum zu überschätzender Weise bei der Befreiung und Emanzipation des Individuums half, das nun einen leichteren Zugang zum Wissen erhielt. Dazu gehörte auch das künstlerische Wissen. Denn der Buchdruck schuf neue Möglichkeiten der Darstellung von Theorien der Kunst und Architektur. Es entwickelte sich mit einem Höhepunkt in der beginnenden Neuzeit – immer entlang der antiken Vorgaben von Vitruv – eine rege schriftliche Diskurskultur der Auslegung dieser antiken Vorgaben und ihre Adaption an regionale Besonderheiten und Geschmacksvorstellungen. Freilich wäre es unzutreffend, in der

359

Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

Renaissance nur gelehrte und belesene Künstler und Auftraggeber zu vermuten. Nach wie vor zogen Scharen von Künstlerhandwerkern durch Europa und lieferten sich einen harten Wettbewerb um Aufträge, worunter nicht selten die Qualität litt. Auftraggeber griffen verschiedentlich auf Urteile von Experten zurück, wenn es an die Bezahlung eines fertig gestellten Werks ging. Für die erwähnten Kunst- und Architekturtraktate war neben dem Buchdruck auch der Bilddruck eine kaum zu überschätzende Neuerung. »Das revolutionäre neuzeitliche Aufschreibesystem des Buchdrucks erlaubte nicht nur eine wortgetreue intensivierte Textzirkulation, sondern erstmalig auch die formgetreue Bildzirkulation von Architektur und ihren Details.« Dessen Technik war noch ein wenig älter. Holz- und Metallplatten-Drucke wurden bereits seit Beginn des 15. Jh.s verwandt. Die Holzdrucktechnik führt sich auf den seit der Antike bekannten Stempelschnitt zurück. Die Techniken des 15. Jh.s bildeten die Grundlage für die Druckgrafik, wobei die Frage, ob in Italien oder Deutschland die ersten Schnitte entstanden, umstritten ist. Jedenfalls entstand Ende des 15. Jh.s in Florenz ein Holzschnitt eines unbekannten Künstlers mit einer Abbildung der Stadt am Arno (Plan mit Kette). 1493 verlegte Hartmann Schedel eine Weltchronik in Nürnberg mit 1800 Holzschnitten. Anders als der Holzschnitt, der wie der Buchdruck mit erhabenen Lettern ein Hochdruckverfahren war, entwickelte sich der Kupferstich als Tiefdruckverfahren unabhängig vom Buchdruck. Die Technik des Kupferstichs geht auf alte Gravurverfahren zurück. Seit Anfang des 15. Jh.s ist die Technik in der Kunst bekannt. Es ist nicht ganz klar, wo sie erstmals entwickelt wurde. Albrecht Dürer hat den Kupferstich perfektioniert und zahlreiche große Meister der Renaissance bedienten sich dieser Technik. Seine Blüte erlebte der Kupferstich im Barock, wo viele Künstler Kopien ihrer Gemälde stechen ließen und – als Katalog gebunden – zur Werbung einsetzten. Dürer experimentierte auch mit Eisenätzverfahren, einer ersten Radierung. Die Technik wurde von Matthäus Merian weiterentwickelt. Stahlstich und Radierung, die wegen der Härte des Materials eine nahezu unbegrenzte Zahl von Abzügen ermöglichten, wurden einerseits zu idealen Techniken für die Buchillustration, andererseits zu einem eigenständigen Genre der Kunst. Die Druckgrafik prägte die visuelle Kultur bis zur Technik der Fotografie. Es gab lange eine Mischung alter und neuer Medientechnik. Gedruckte Grafiken wurden händisch koloriert oder mit handschriftlichen Texten ergänzt. Unter den ersten (und zugleich schönsten!) illustrierten Büchern befand sich das mit 172 Holzschnitten (man vermutet die Schule Mantegnas oder Bellinis und sogar einige aus der Hand Dürers) versehene, vom venezianischen Buchdrucker Aldus Manutius 1499 herausgebrachte, dem (historisch schwer fassbaren) Dominikaner Francesco Colonna zugeschriebene Meisterwerk Hypnerotomachia Polyphili (meist schlecht mit Der Traum des Poliphilo übersetzt). Der verworrene (vom Volgare wieder ins Lateinische zurückübertragene) Roman war Kunst- und Architekturbeschreibung sowie Liebesgeschichte in einem. Vor allem in der Gartenbaukunst der kommenden Jahrhunderte griff man gerne auf die Beschreibungen in diesem Roman zurück. Der in der Nähe von Rom geborene Philologe und Liebhaber der griechischen Literatur

Niehr 2007, 298f Bilddruck

Hoppe 2008, 386

Krause 2007b, 23f

Thoenes Christof in ATh, 15 von der Heyden-Rynsch 2014, 62f

360

Die Renaissance

Aldus Manutius

Ebd., 10

V.3.2. Individuum

V.9.0.

V.5.4.2./V.7.3.1.

Hauser 1964, 32

aller Genres, Aldus Manutius, verfügte in Venedig über eine große Sammlung von in Konstantinopel zusammengestohlenen griechischen Handschriften, die er nun druckte. Es waren die ersten gedruckten Bücher mit griechischen Buchstaben. Bei der Redaktion wurde er von einer Gruppe gelehrter Humanisten beraten. Sein venezianische Druckereibetrieb leistete auf diese Weise einen überragenden Beitrag für Kenntnis und Verbreitung der klassischen Texte in der Renaissance, zumal es in seinem Druckhaus auch noch zur »Erfindung« der »Taschenbücher« (Libri portatiles im Oktav-Format) kam. Die Technik der beweglichen Lettern fasste in Vendig rasch Fuß und fand über die verzweigten Handelsnetze rasche Verbreitung. Man sprach in der Serenissima von der »germanischen Spezialität«. Manutius konnte zudem auf eine inzwischen auch im Westen ausgereifte Papierproduktion zurückgreifen. Das Papier (aus Leinenhadern), das im arabischen Raum seit dem 10. Jh. (aus China importiert) bekannt war, erreichte im späten 13. Jh. Italien und löste das teure Pergament aus Tierhäuten ab. Wie erwähnt, hatte das gedruckte Buch großen Anteil an dem – gemessen am Mittelalter – hervortretenden kritischen Bewusstsein eines sich aus der anonymen Gesellschaft befreienden Individuums. Es trat an die Stelle der Autorität, wodurch sich die Legitimitätsfrage weltlicher Herrschaft neu stellte und die Kirche mit ihren Einrichtungen in die Kritik geriet. Auf Marsilius von Padua und Johannes von Janduno, die 1324 im Defensor pacis das Volk als Legitimationsinstanz ins Spiel gebracht hatten, wurde bereits hingewiesen. Dass dieses Individuum vor allem in der Renaissance seine neue Stellung eroberte, gilt nach wie vor, auch wenn die Herausbildung des Individuums inzwischen mit überzeugenden Argumenten weit ins Mittelalter verlegt worden ist. Dass sich der Mensch immer als Individuum und nicht als Kollektiv empfand und dies auch einforderte, ist wenig erstaunlich. Es geht hier aber um den kulturellen Diskurs, der dem Individuum einmal die Luft raubte, es dann wieder – in Renaissance und Neuzeit – aufrüstete. Ein Diskurs, der von den wiederentdeckten antiken Klassikern ausgelöst worden war. Insofern sind manch gut gemeinte Warnungen, die Wiederentdeckung von Natur und Mensch in der Renaissance sei bloß eine Erfindung des 19. Jh.s, weit überzogen: »Die Entdeckung der Natur durch die Renaissance hat der Liberalismus des 19. Jahrhunderts erfunden; dieser spielte die natürliche und naturfreudige Renaissance gegen das ›von der Natur entfremdete Mittelalter‹ aus, um damit die reaktionäre Romantik zu treffen.« Zweifellos mag das aufgeklärte 19. Jh. eher der Renaissance zugeneigt gewesen sein als dem Mittelalter, aber die neue Sicht einer vom Menschen manipulierbaren, wissenschaftlich untersuchbaren Natur gehören ebenso in die Renaissance wie ein humanistischer Metadiskurs. Mit Blick darauf reagierten die Philosophen der Renaissance und der frühen Neuzeit mit der Konstruktion von Staatsutopien nach dem Muster Platons. Offensichtlich ein Unterfangen, um das sich befreiende Individuum gleich wieder in einen Ordnungsrahmen einzugliedern, zumal eine große verbindende philosophische Idee der Zeit, wie sie im Hochmittelalter vielleicht noch bestanden haben mag, zunehmend erodierte. Weder die italienischen Stadtstaaten, in denen die »Besitzverhältnisse« kompliziert waren, ließen sich durch eine Idee

361

Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

verbinden, noch hielt sich eine solche im Gebiet des alten römischen Kaisertums, im Heiligen Römischen Reich. Vom sacrum imperium sprach man bereits im 12. Jh. innerhalb der kaiserlichen Kanzlei, um Ansprüche gegenüber den Päpsten anzumelden. In der Mitte des 13. Jh.s tauchte der Begriff des Heiligen Römischen Reichs auf, als ein fiktives Projekt, dem kein exaktes Staatsgebilde auf einer Landkarte entsprach. Es waren die Reichsfürsten, die den vielstimmigen Ton angaben. Nikolaus von Kues legte als junger Konzilssekretär 1433 dem Basler Konzil seine Reformschrift concordantia catholica vor. In ihr trat er für ein geeintes Reich nach annähernd bundesstaatlicher Ordnung mit einer starken Zentralgewalt ein und prangerte die Kurzsichtigkeit der um ihren Vorteil ringenden Reichsfürsten an. Cusanus wurde zu einem großen Denker von Toleranz und der Versöhnung von Gegensätzen (coincidentia oppositorum). Der aus Florenz stammende Niccolò Machiavelli ist der bekannteste politische Schriftsteller dieser Zeit, der sich Gedanken über den erfolgreichen Herrscher machte. Im Il Principe (1513) scheint der in der Rezeption oft falsch gedeutete Philosoph die politische Rücksichtslosigkeit, Gewalt und den Betrug am Volk zu preisen. Aber in den vermutlich zur gleichen Zeit entstandenen Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio schilderte er eindrucksvoll am Beispiel Roms (das Werk war als Kommentar zu Titus Livius’ Geschichtswerk angelegt) die Rache der Geschichte an politischen Figuren, die solche Rücksichtslosigkeit zu ihrem politischen Kalkül machten. Offenbar hatte er aus der Umgebung – er erlebte Blüte und Sturz der Medici, Erfolg und Misserfolg der französischen Eroberung und die Machtgier von Päpsten – seine Lehren gezogen und sie in politische Schriften gegossen. Zudem konnte er in diplomatischen Missionen für das Florenz nach der Zeit Savonarolas viel praktische Erfahrung sammeln. Jean Bodins Six Livres de la République waren eine Reaktion auf die konfessionellen Gemetzel der Zeit, zumal der Konfessionskoflikt dabei war, ein politischer zu werden, und die Reichseinheit in höchste Gefahr brachte. In der Schrift rang er um die Stellung eines gerechten, entsprechend starken Herrschers, der die inneren Gegensätze zu überwinden vermag. Dabei setzte er auf monarchische Strukturen. Er traute weder dem Volk noch der Aristokratie eine erfolgreiche und stabile Regierung zu. Der Humanismus Bodins äußerte sich in strengen sittlichen Normen, welche der Monarch zu erfüllen, und in Verträgen, die er einzuhalten habe. Bodin ging mit seiner Definition von Souveränität in die politische Geschichte ein und plädierte schon damals für ein starkes totum gegenüber einer zersplitterten Landschaft von Einzelstaaten. Als ob Bodin die kommende Katastrophe geahnt hätte, lag hier doch bereits jener Funke, der im 17. Jh. zur Explosion im Dreißigjährigen Krieg führte. Erst mit dem sich im 15. Jh. endgültig etablierenden Haus Habsburg, das durch konsequente Mehrung seiner Erblande zum machtvollsten Fürstengeschlecht und kontinuierlichen Träger der Kaiserkrone aufstieg, konnte das Heilige Römische Reich »maßgebliche Ordnungsmacht im Herzen Europas« werden. Spätestens mit Friedrich III. war das Haus Habsburg zum »Haus Österreich« geworden. Geschickte Heiratspolitik und günstige Todesfälle ermöglichten schließlich Österreichs Aufstieg

Heiliges ­Römisches Reich

4.2.1.

Mazohl-Wallnig 2005, 75

362

Die Renaissance

Kirche im 15. Jh.

V.8.1.

395 / 396 Der burg­ artige Papstpalast in Avignon (14. Jh.)

Thomson 1983, 233

Roeck 2017, 398

zur Weltmacht unter Karl V. Sein Vorgänger Maximilian I. gilt als der »letzte Ritter«, also als Figur der Renaissance zwischen Mittelalter und Neuzeit. Unter seinem Patronat entwickelte sich eine deutsche Renaissance in gewisser stilistischer Unabhängigkeit von Italien. Die Kirche durchlief im 15. Jh. ein besonderes Wechselbad zwischen völligem Verfall und lauteren Lichtgestalten. Durchgehend bestimmte der Streit zwischen Papst und Konzil sowie die unheilvolle Vermischung von kirchlichem und staatlichem Interesse den Gang der Kirchengeschichte. Im 14. Jh. befand sich der päpstliche Hof (von 1309 bis 1377) in Avignon. Zwar half dies der Verbreitung der italienischen Kunst, aber das bedeutungslos gewordene Rom stand im Schatten der norditalienischen Städte, vor allem von Florenz und erholte sich davon nach der Rückkehr der Päpste nur langsam. Man nennt das 14. Jh. manchmal das Jahrhundert ohne Rom. Der päpstliche Hof in Avignon hatte bei den Humanisten, auch bei den Klerikern, einen denkbar schlechten Ruf. Päpste und Gegenpäpste kämpften um ihre Legitimität. Mit Gregor XII., Johannes XXIII. und Benedikt XIII. rangen gar drei Päpste zur gleichen Zeit um ihre Anerkennung. Felix V. war der letzte Gegenpapst der Geschichte. Mit Enea Silvio Piccolomini bestieg ein 1442 von König Friedrich III. zum poeta laureatus bekrönter Humanist, Rhetor und Dichter als Pius II. – seine Namenswahl unterlegte er mit einem Vergil-Zitat (sum pius Aeneas/ich bin der pflichtbewusste Aeneas) – den päpstlichen Thron. Er war der einzige Papst, der sowohl mit dem Dichterlorbeer als auch mit der Tiara gekrönt war. Sein aufgeklärter Geist hinderte Piccolomini, von dem »eine gute Anzahl unehelicher Kinder« in den Hauptstädten Europas aufwuchs, allerdings nicht daran, zum Schluss in einer Bulle 1463 zum Kreuzzug gegen die Osmanen aufzurufen. Vorher hatte er Mehmed II. in einem Brief aufgefordert, sich taufen zu lassen, damit sich dann die gesamte islamische Welt dem Christentum zuwende. Der Ruf nach dem Kreuzzug wurde nur in Venedig gehört. Der Einfluss der Päpste auf die weltlichen Regierungen war überschaubar geworden. Unter Urban VI., »ein seiner Epoche würdiges Ungeheuer«, der sechs Kardinäle hinrichten ließ, Sixtus IV., der in den Mordanschlag auf die Medici-Brüder verstrickt war, Innozenz VIII., der 1484 die Hexenjagd sanktionierte, und dem Borgia-Papst Alexander VI. erreichte die Institution der Kirche ihren bisherigen Tiefpunkt. Simonie, Ablasshandel, Hexenprozesse, Inquisition, ja Verstrickungen in Verbrechen und Korruption formten das Bild, das die klerikale Welt hinterließ. Freilich bleibt eine endgültige Qualifizierung dieser Päpste schwierig. Denn auch die zeitgenössischen Biographen verfingen sich in den politischen Kabalen. Das Bild, das der zeitgenössische florentinische Historiker Francesco Guicciardini in seiner damals wegen der Konzentration auf (vermeintliche) Tatsachen höchst erfolgreichen Historia d’Italia

363

Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

etwa von Alexander malte, fiel äußerst einseitig aus, stand der Autor doch im Dienste einer alexanderfeindlichen Reformbewegung. Sabine Poeschel hat aus dem Bildprogramm der von Pinturicchio ausgemalten Borgia-Räume im Vatikan das kirchenpolitische Programm eines tief in der Antike verwurzelten Christentums abgeleitet. Inmitten der personifizierten freien Künste erscheint Alexander als eines der drei Planetenkinder des Sol-Apollo. Die Verstrickungen des römischen Papsttums in politische und militärische Interessen beförderten die Abneigung weiter Kreise gegen die Kirche. In der römischen Bevölkerung brach Jubel aus, als der Tod des wegen seines Nepotismus, seines Antisemitismus und seiner Härte in der Inquisition verhassten Paul IV. bekannt geworden war. Künstlerisch war diese unruhige Zeit der Kirche dennoch äußerst fruchtbar und dies blieb weiterhin so durch ein verstärktes Mäzenatentum und eine Öffnung gegenüber dem Humanismus. Rom wurde nach Florenz die Renaissancestadt schlechthin. Nikolaus V. und Pius II. sind dabei vor allem zu nennen. Ähnliche Verdienste kamen Sixtus IV., Julius II., dem wohl größten Kunstmäzen, und Leo X. zu: Erste Pläne und anschließender Baubeginn von St. Peter, Bau der Vatikanischen Paläste, Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, sein Letztes Abendmahl und sein David, die Stanzen und Loggien des Raffael mit Allegorien aus humanistischem Geist, Tizians Assunta. Sixtus V. ließ in seinem fünfjährigen Pontifikat nicht weniger als vier Obelisken in Rom aufstellen – in seiner Grabinschrift in der Cappella Sistina in der Basilika Santa Maria Maggiore wird er freilich nicht dafür, sondern für die Vollendung der Kuppel am Petersdom in seinem Todesjahr 1590 gerühmt. Mit dem Niedergang der Medici wurde auch in Florenz die Krise der Kirche offenbar, die von konservativen Kreisen generell als Folge der Moderne angesehen wurde. Der Dominikanermönch Girolamo Savonarola war eine jener verwegenen Stimmen, die sich gegen einen relativistischen Zeitgeist der Moderne erhoben. Freilich überspannte er den Bogen in seinem theokratischen Eifer. Seine Hetzreden geißelten den vermeintlichen Sittenverfall und den Subjektivismus der Künstler. Er sah im Paganismus der Renaissance generell ein Verderben und stempelte alle Päpste, die Bibliotheken bauten, zu Mittätern. Eine Rotte von aufgehetzten Jugendlichen zog 1497 durch Florenz und plünderte im Namen Christi alles, was als anrüchig galt, »heidnische« Schriften, »pornographische« Bilder, darunter viele großer Renaissancekünstler, Luxusgegenstände, Spielkarten, Musikinstrumente. Auf der Piazza della Signoria ging eine große Zahl wertvoller Artefakte in Flammen auf. Nebenbei wurden die Frauen drangsaliert, die sich »wie die Weiber der Muslime« verschleiern sollten. Aber Savonarola konnte – zumindest zeitweilig – auch Künstler in seinen Bann ziehen. Sandro Botticelli, dessen Bilder von den religiösen Eiferern ebenfalls in die Flammen geworfen wurden, malte unter seinem Einfluss nur noch religiöse Werke. Er verzichtete in seiner Geburt Christi (1500) sogar auf die Zentralperspektive. Pietro Perugino – mit seiner »Gefühlsseligkeit […] gewissermaßen ein italienischer Memling« – kam dem moralischen Geist mit seinen Bildern entgegen. Die Stimme Savonarolas wurde schließlich gewaltsam zum Schweigen gebracht.

Poeschel 1999

Girolamo ­Savonarola

397 Statue des ­S­avonarola; Ferrara

Chastel 1966, 297

364

Die Renaissance

Martin Luther

Thomson 1983, 503f

»Körper« der Kirche

McLean Alick in Toman 2007b, 14

Nachhaltiger tönte die Kritik aus dem Norden. Martin Luther war die ingeniöse Figur einer Konstellation, die sich aus theologischer und pastoraler Verirrung der Kirche, nationalen und volkstümlichen Impulsen, antireligiösen Affekten und abstrakter Kirchenkritik des Humanismus speiste. Das Zögern der Politik, insbesondere Karls V., vor allem aber die Uneinsichtigkeit Roms gegenüber den schon länger schwelenden kritischen Stimmen, taten das ihre, sodass aus einer Reformbemühung eine religiöse Revolution mit blutigen Folgen wurde. Dabei war Luther keineswegs ein Einzelkämpfer. Es gab im 16. Jh. eine verbreitete Reformstimmung. Ein eindrucksvolles Dokument dazu ist das Consilium de emendanda ecclesia von 1537. Bei der Vorbereitung des Konzils von Trient hatte der Farnese-Papst Paul III. eine Kommission zur Themenfindung und -bearbeitung eingesetzt. Das reformfreudige Gremium legte eine ungeschminkte Bestandsaufnahme inklusive drastischer Vorschläge auf den Tisch. Die Schuld für die Missstände sahen die Autoren bei den Päpsten. Sie geißelten Nepotismus, Habgier, Simonie, Machtrausch. Die Schrift, die der Papst diskutieren ließ, zog weite Kreise, Luther verfasste einen sarkastischen Kommentar dazu. Luthers Reform, sein Eintreten für die Freiheit des Christenmenschen, vor allem das Motiv der Verantwortung für die eigene Schuld, kann kulturgeschichtlich gar nicht überschätzt werden. Es teilte Europa seitdem in kulturelle Sphären auf, pointiert dargestellt in eine nordisch-lutherisch orientierte, in der die Menschen Anregung fanden, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, und eine südlich-katholische, die von der Idee des Erlöstsein geprägt wurde. Luthers großer Erfolg verdankte sich einem neuen Medium, dem gedruckten Flugblatt. Inhaltlich weitete sich die Anprangerung der Sittenlosigkeit in Rom aus zu einer Anprangerung der vermeintlichen Sittenlosigkeit der Gesellschaft schlechthin. Das bedeutete letztlich: nicht nur neue Freiheit, sondern auch neue Einschränkung! Kunstphilosophisch von Interesse ist bei der Reformation eine sich verschärfende Kritik am (katholischen) »Körper« und an der »Magie des Kultes« der Kirche. Luther, noch deutlich pointierter die Wiedertäufer und vor allem die Calvinisten – Calvins theologische Systematik war ein qualitätvoller Gegenpart zur Rückwendung des Trientiner Konzils zur mittelalterlichen Theologie –, »verneinten die magischen Fähigkeiten von Reliquien, Heiligenbildern und Gebäuden« und brachten »zum ersten Mal in der Geschichte des westlichen Christentums den Glauben an die Kirche als einer Institution mit allumfassender, von Gott gegebener Macht ins Wanken.« Sie zerstörten mit humanistischer Ambition den Körper der Kirche, der im Westen besonders seit der Gotik prägnant in den Vordergrund gerückt war, einerseits nachhaltig, provozierten aber auch eine bewusste Propaganda mit diesem Körper durch die katholische Kirche im Barock. Humanistisch kann man eine solche Entwicklung deshalb nennen, weil nun der direkte Zugang zu den jetzt in die Volkssprache übersetzten biblischen Schriften (in der katholischen Kirche stand die volkssprachliche Bibel noch lange auf dem Index der verbotenen Bücher) sowohl einen eigenen Eindruck ermöglichte als auch die teure und aufwendige Heilsgewinnung durch Ablass und Reliquienkult überflüssig machte. Peter Sloterdijk formuliert den damit verbundenen Säkularisierungsschritt so: »Nach dem Sieg der protestantischen Symboltheo­

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Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

retiker über die katholischen Realpräsenzmystiker in den Eucharistiedebatten des 16. Jahrhunderts wurde vollends deutlich, wie die neuzeitliche Seele aus den Paradiesen der rauschhaften Teilhabe vertrieben wird.« Balthasar Hubmaier fegte mit einem Wisch die gesamte, den katholischen Jahrhunderten eingeschriebene Memorialkultur (damit das wichtigste Machtinstrument) hinweg, indem er den »unnützen Tand von der Kindertaufe, Vigilien, Jahrtagen, Fegefeuer, Messen, Götzen, Glocken, Läuten, Orgel, Pfeifen, Ablaß, Prozessionen, Bruderschaften, von Opfern, Singen, Brummen« unter Beschuss nahm. Er wurde am Stubentor in Wien als Ketzer verbrannt, seine Frau ertränkte man drei Tage nach seinem Tod in der Donau. Geradezu »in Antiritualen« wurde die Sakralität von Kirchenräumen, Gewändern, liturgischen Geräten und Bildern ganz bewusst entweiht, um ihnen jede theologische Bedeutung zu nehmen. An vielen Orten artete die Opposition in einen heftigen Bildersturm aus. 1524 erklärten sich die Bürger Zürichs mit den Reformideen Huldrych Zwinglis solidarisch und zerstörten die Ausstattung von Kirchen. Der Bildersturm wütete in ganz Europa und warf die Kunst weit zurück. Wie im Streit um die Bilder im Mittelalter in Byzanz wurden die drangsalierten Bilder wegen ihrer Machtlosigkeit verspottet und so die magische Aufladung heiliger Bilder bloßgestellt. Für die Künstler bedeutete dieser Ikonoklasmus den Verlust ihres bislang wichtigsten Auftraggebers, der Kirche. Daraus resultierte ab etwa 1530 eine erhöhte Mobilität der Künstler, was wiederum den Kunstaustausch (insbesondere zwischen Nord und Süd) förderte. Beim reformatorischen Kirchenbau knüpfte man bei den alten apostolischen Kirchen an, meist wurden die bestehenden katholischen Kirchen den neuen liturgischen Bedürfnissen angepasst. Bilder und Skulpturen verschwanden aus dem Kirchenraum. Als erste protestantische Kirche gilt die von Martin Luther geweihte Kapelle von Schloss Hartenfels in Torgau. Sie begründete den Typus der Schlosskapelle, der schließlich von Katholiken übernommen wurde. Johannes Calvin, die Führungsfigur der französischen Reformation, lehnte – noch radikaler – auch die Funktion der Kunst als biblia pauperum ab. Die sich schnell verbreitende Kenntnis des Lesens machte sie scheinbar überflüssig. In seinen Institutiones Christianae religionis (1536) schrieb er gegen den Schmuck in Kirchenbauten an. Auch der in der Nähe von Zürich geborene Rudolf Wirth (lat. Hospinian) pflichtete dem in seinem De templis (1572) mit dem Argument bei, dass Christus schließlich arm gewesen sei. Bei aller Abneigung gegen heidnische Tempel beschrieb er die Kirche als stabiles Steingebäude, das erhöht über der Stadt liegen sollte, und kam damit zur gleichen Auffassung wie Vitruv und die Corona der Renaissancearchitekten. Besonders der Dom von Florenz diente mehreren protestantischen Autoren von Reiseberichten und Architekturtraktaten wie Johann Fichard oder dem pragmatischen Joseph Furttenbach d. Ä. als Vorbild, weil er an den Tempel Salomons in Jerusalem erinnere. Das Konzil von Trient (1545–1563) und die Gegenreformation versuchten mit zwei Waffen, Jesuitenorden und Inquisition, verzweifelt dagegenzuhalten. Sie setzten gerade auf das, was von den Reformatoren so vehement angegriffen wurde: die Eucharistie und den eucharistischen Körper, der bei jeder Transsubstantiation per-

Sloterdijk 1993, 135

Fast 1962, 37f

Hamm 1996, 84

IV.8.3.

Meier 2007, 411

Lippmann 2007, bes. 230

Ebd., 232f Konzil von Trient

366

Die Renaissance

Sprenger 2006

Kruft 1985, 103

formativ restituiert wird. Das stimulierte weiter eine körperbetonte christliche Kunst. Das Konzil war vom Farnese-Papst Paul III. 1545 eröffnet worden und tagte mit Unterbrechungen in Trient und Bologna bis 1563. Die Stimmung war ernst, die Erinnerung an den Sacco di Roma 1527, die Plünderung der Stadt durch marodierende deutsche und spanische Söldner Karls V. mit etwa 30 000 Opfern, war noch zu präsent. Das Konzil sollte eine gründliche Reform der Kirche bringen und eine Antwort auf Luther sein. Karl V., ein Förderer des Konzils, träumte davon, dass unter seiner Herrschaft gar die Wiedervereinigung der Kofessionen gelingen sollte. Doch die Geschichte entschied anders. Die Reform- und Gegenreformbewegung erfassten ganz Europa und letztere artete manchmal in übelste Praktiken aus. In der berüchtigten Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572 kam es zu einem Massenmord durch einen fanatisierten Pöbel an den Hugenottenführern in Paris und im ganzen Land. Gregor XIII. ließ es sich nicht nehmen, die Morde mit einer Gedenkmünze zu feiern, und er erteilte Giorgio Vasari den Auftrag, die Ereignisse in der Sala Regia zu würdigen. Für Frankreich war dieser Angriff durch die dadurch ausgelöste Auswanderung der protestantischen Elite vorübergehend ein schwerer Schlag. Denn die Kehrseite war ein trotziger Aufschwung des Protestantismus. Neben dogmatischen und kirchenpolitischen Weichenstellungen gab das Konzil in einem Dekret in der letzten Sitzung 1563 einige Hinweise zur Kunst. Grundsätzlich reagierte das Konzil auf Fragen der Kunst – gemessen an dem den Bildern abgeneigten Protestantismus und Calvinismus – vorsichtig positiv, im Allgemeinen mit Hinweis auf die didaktische Funktion der Bilder, im Besonderen auf ihre Eignung für die Meditation. Dazu gehörte eine Tendenz zur Kodifizierung, Regulierung und Typisierung von Bildern und Architekturentwürfen. Es tauchten wieder Regelbücher auf, die den Künstlern die Ikonographie vorgaben. Es gab den Wunsch nach einem religiösen Realismus, der sittliche Normen beachtete und propagierte. 1559 wurden beanstandete Stellen im Jüngsten Gericht (1534–1541) Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle übermalt. Manche Künstler sahen sich bemüßigt, ihre Arbeiten zu widerrufen und die von ihnen geschaffenen nackten Figuren zu bekleiden. Für die Sakralarchitektur legte das Konzil Standards der Bescheidenheit fest. Die Hauptschiffe mussten von Gräbern und Chorschranken frei bleiben, alles sollte auf den Hochaltar als sichtbares Zentrum konzentriert werden. Das machte den Hochaltar zu einer begehrten Bühne für ein künstlerisch gestaltetes liturgisches Theater. Weite Hallenräume, um Massen aufzunehmen, wurden ebenso empfohlen wie die Anlage von Seitenkapellen. Das bedeutete eine unübersehbare Empfehlung für den Langbau, während der Zentralbau den Geruch des Heidnischen hatte – für die in den Zentralbau vernarrten Architekten der Renaissance eine unangenehme Empfehlung. Grundsätzlich sollten Sakralgebäude in schmuckloser und schlichter Ausführung errichtet werden. Il Gesú in Rom ist in der Grundanlage noch diesen Kriterien verpflichtet, mit dem Barock kam dann jedoch die große Zeit der illusionistischen Deckengemälde und der Ambition auf das Gesamtkunstwerk. Die Einschätzungen zum Einfluss des Konzils auf die Kunst sind nicht einheitlich. Einerseits bot das Konzil weder eine Handhabe für einen neuen Stil noch für

367

Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte

eine nachhaltige neue Ikonographie. Immerhin stimulierte es den Neubau und die Erneuerung zahlreicher Kirchen, die in desolatem Zustand waren. Zudem bemühte man sich um Reinlichkeit. In einem vom Regensburger Generalvikar verfassten Buch (Ornatus Ecclesiasticus oder Kirchen-Schmuck; 1591) gab es ein eigenes Kapitel »Von den Besen«, in dem die für verschiedene Aufgaben geeigneten Reinigungsinstrumente beschrieben wurden. Auf der anderen Seite hat die Anordnung einer eindeutig lesbaren religiösen Kunst – zumal im Kontext der nun erneuerten mystischen Bewegungen – einen Schub von realistischen Heiligenbildern ausgelöst. Ein Impuls für eine besonders qualitätvolle Kunst war dies gewiss nicht. Man könnte sich fragen, ob nicht das Unverständnis der Kirche gegenüber der Kunst der Moderne im 19. und 20. Jh. bereits hier grundgelegt wurde. In England und Frankreich waren die Zeiten vom hundertjährigen Ringen gegeneinander geprägt. Die Lichtgestalt der Jeanne d’Arc, die 1429 Orléans befreite und auf dem Scheiterhaufen endete, ist eine typische Verkörperung dieser Zeit. Die Entwicklung von Kunst und Kultur war stark behindert. Dabei hatte besonders Frankreich ein reiches Mittelalter hinter sich und schon früh mit der Relektüre der Antike begonnen. Unfähig zu eigenem kreativen Umgang, übernahm man anfangs weitgehend die italienischen Vorbilder. Erst im 18. und 19. Jh. stieg Frankreich zur führenden kulturellen Kraft in Europa auf. Anders war die Situation in England. Das elisabethanische England, das goldene Zeitalter unter Elisabeth I., kann als echte Renaissance gelten. Die Literatur aus Italien war einschließlich jener der Antike bekannt. Sie wurde eifrig übersetzt. Christopher Marlowe und Edmund Spencer griffen ebenso auf die alten Stoffe zurück wie William Shakespeare. Shakespeare – über die endlosen Spekulationen an der Autorenidentität kann an dieser Stelle nicht geurteilt werden – revolutionierte die Literatur. »Ihm gelang es wohl am besten von allen englischen Autoren, diese klassische und humanistische Tradition auf einen kräftigen Stamm zu pfropfen und damit ein Werk von europäischer Bedeutung zu schaffen.« Francis Bacon stand für die neue Wissenschaft und zahlreiche Abenteurer erforschten die Welt, gründeten Kolonien und machten England zu einer neuen Seeund reichen Weltmacht. Im 15. Jh. bildeten die Niederlande den Kern des Herzogtums Burgund. 1363 war Philipp der Kühne mit dem Herzogtum Burgund belehnt worden, 1369 kam es durch Heirat in seinen Besitz. Es entstand das Haus Burgund mit der Hauptstadt Dijon, eine mächtige Dynastie, deren Hof mit legendärem Luxus ausgestattet war und die eine Blütezeit des Landes markierte. Durch die Hochzeit Marias von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen und reichsten Erbtochter des damaligen Europa, mit Maximilian I. kam Burgund schließlich an Habsburg. Die Herzöge gaben Dijon auf und regierten von verschiedenen niederländischen Zentren aus. Norbert Wolf charakterisiert die Zeit als »höfisch-bürgerliches Doppelgesicht, das sich auch in der bildenden Kunst, vornehmlich in der Malerei, kundtat.« Inzwischen hatten sich in dieser Weltgegend mächtige Städte etabliert, die strategisch günstig lagen, wie Brügge und später Antwerpen, oder große Manufakturen besaßen wie Gent, Lüttich oder

Kirschbaum 1945

Bärsch 2017, 67f Bresc-Bautier Geniviéve in Ceysson u.a. 1987, 161 VIII.8.2. England und Frankreich

Thomson 1983, 622

Burgund

Wolf 2002a, 121

368

Die Renaissance

Länder im Osten

Thomson 1983, 127

Brüssel und über den aufblühenden Welthandel zu großem Reichtum kamen. Ein kapitalistisches Wirtschafts- und Bankwesen wuchs heran und bildete die Basis für diesen Wohlstand, der wiederum die Grundlage einer kulturellen Blüte abgab. Die Malerei konnte in ein geradezu goldenes Zeitalter eintreten, wofür eigene Entwicklungen, aber auch intensive Kontakte zu Italien gleichermaßen Ursache waren. Die Niederlande waren wesentlich weiter entwickelt als die skandinavischen Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden, die den Anschluss noch suchten. Zwar richtete namentlich Schweden bald gute Bildungsinstitutionen ein, die Studenten gingen dennoch lieber ins Ausland zum Studium. Weiter fortgeschritten waren auch die Länder im Osten, darunter Polen. Auch polnische Studenten studierten gerne in Padua, Bologna und Paris, bis Kasimir III. von Polen 1364 eine Universität in Krakau und Karl IV. 1348 eine in Prag errichtete. Unter Karl IV., der ab 1347 (als Karl I.) König von Böhmen war, erlebte Böhmen eine kulturelle Blüte, Prag war »nach Avignon das Zentrum der europäischen Kultur.« Die Gotik traf sich mit den Einflüssen aus Rom und Byzanz. Einer der architektonischen Höhepunkte war der schon vor Karls Zeit begonnene, aber unter seiner Herrschaft von Matthias von Arras und Peter Parler erbaute Veitsdom in Prag. Die Malerei war stark italienisch geprägt, das Porträt erreichte eine große Meisterschaft. Die Bewegung der Hussiten beendete vorübergehend die Blüte Prags.

3.0. Die Kultur der Renaissance

Greenblatt 2011, 17

III.2.5.2.

Das eingangs erwähnte Wort Braudels, wonach der Begriff der Renaissance klärt, »wie und warum sich die Kultur Europas verändert«, kann nur eingelöst werden, indem man die Renaissance als eine kulturelle Bewegung nimmt. Das unterscheidet sie von Romanik und Gotik, die trotz aller Verflochtenheit in philosophische Paradigmen vorwiegend Stilrichtungen von Architektur und Kunst waren. Aber an dieser Zeitenwende ist etwas breiter Angelegtes passiert: »Es muss etwas geschehen sein in der Renaissance, etwas, das anbrandete gegen die Dämme und Grenzen, die Jahrhunderte gegen Neugier, Begehren, Individualität, gegen nachhaltige Aufmerksamkeit für die Welt, gegen Ansprüche des Körpers errichtet hatten.« Stephen Greenblatt macht diese Wende an einer spannenden Entdeckungsgeschichte fest. 1417 fand der Humanist Poggio Bracciolini, der in Klöstern nach antiken Büchern suchte, in der Umgebung von Konstanz das längst verloren geglaubte Manuskript De rerum natura von Lukrez, das die Lehren des Epikur zusammenfasste und bei den Humanisten ein ebenso begieriges Interesse wie in der Kirche Entsetzen auslöste. Das in tadellosen Hexametern verfasste Lehrgedicht des Materialisten und Agnostikers wurde von der katholischen Kirche mehrmals verboten und stand von 1717 (aufgrund einer italienischen Übersetzung) bis zur Abschaffung der Liste 1966 auf dem Index der verbotenen Bücher. Marsilio Ficino verfasste einen ersten (zumindest den ersten überlieferten) begeisterten Kommentar, distanzierte sich aber später nach außen hin von diesem bösen Machwerk. Für Greenblatt war das ein Schlüsselereignis für die

369

Die Kultur der Renaissance

Renaissance und er meint, dass bei einem tatsächlichen Verlust dieses Werks »Neuzeit und Moderne [hätten] einen völlig anderen Beginn und Verlauf genommen [hätten].« Das ist für die Dramaturgie seines wunderbaren Buches ein schöner und notwendiger Einstieg, aber doch weit übertrieben. Es gab genügend andere aufklärerische Stränge, welche die Renaissance eingeleitet hätten. Der Klassiker zur südlichen Renaissance ist nach wie vor die 1860 von Jacob Burckhardt veröffentlichte Kultur der Renaissance in Italien. Abgesehen davon, dass dieses Relief der Renaissance der Epoche in schwer nachvollziehbarer Weise eine Philosophie absprach, bleiben die kennzeichnenden Motive bis heute weitgehend gültig. Was macht die Renaissance nun aus? Drei Elemente stehen traditionsgemäß im Vordergrund: (1) die Entdeckung der Welt und des Raums, (2) die Entdeckung von Mensch und Natur und (3) die Abkehr vom Mittelalter zugunsten der Wiedergewinnung der Antike. Der bereits oben angemerkte Hinweis auf das Interesse der Gelehrten des 19. Jh.s an dieser Darstellung verdient Beachtung, macht diese Charakterisierung aber keineswegs zu einer Erfindung des 19. Jh.s. (ad 1) Die Entdeckung des Bildraums in der Malerei gilt als Abgrenzungskriterium der Renaissance gegenüber dem Mittelalter in der Kunst. Der Kontext sprengt aber auch hier die Grenzen der Kunst und ist ein kultureller Paradigmenwechsel. Die Wahrnehmung des unendlichen Raums ist gegenüber dem vorgegebenen ordo des Mittelalters eine neue Erfahrung und zwingt den Menschen dazu, einen eigenständigen Standpunkt einzunehmen, von dem aus er dem Raum eine Struktur gibt. In der Kunst nannte man das Zentralperspektive. Der Blick in den Raum festigt gleichsam die Stellung des Subjekts und stellt es der Welt gegenüber. Unter dieser Hinsicht sollte man die Renaissance dann doch mit den »Erfindern« der Perspektive, in vorderster Linie Brunelleschi und Masaccio (mit seinem Trinitätsfresko 1427), beginnen lassen. Es begann hier eine kulturgeschichtliche Revolution, nämlich das ausdrückliche Entstehen einer Bildkultur, die sowohl dem westlichen Mittelalter zeitlich, aber auch der byzantinischen und islamischen Kultur geographisch entgegenstand. Dabei soll nicht übersehen werden, dass sich dieser Prozess schon lange, seit der späten Romanik und der Freistellung der Skulptur aus der architektonischen Gebundenheit, vorbereitet hat. Diese Tatsache macht die Abgrenzung der Renaissancekunst von der gotischen, vor allem in der Malerei, so schwierig. Die Entdeckung des Raums war nicht nur durch die reale Eroberung der Erde durch die Entdeckungsfahrten induziert, sondern er war nach einigen Medientheoretikern – wie bereits erwähnt – auch ein Spiegel des neuen Mediums, des gedruckten Buches. Dieses unterstützte die visu-

Ebd., 15

Perspektive

398 Masaccio, Trinität; Florenz

370

Die Renaissance

Ong 1982

4.2.1. 5.0.ff.

Gerl 1989, 156 Natur und Subjekt

III.2.4.1.

4.1.2.

elle Seite, denn jede Buchseite bildet einen offenen Raum, der durch Typographie gestaltet wird. Diese unter anderem besonders ausgeprägt vom Jesuiten Walter J. Ong vertretene These sollte allerdings im Kontext philosophischer Metaerzählungen relativiert werden. Auch die Buchseite ist wie die leere Leinwand zunächst ein neutrales Vis-à-vis eines mittelalterlich oder neuzeitlich gestimmten Subjekts. Das galt auch für die Seite einer Pergamenthandschrift, aber der mittelalterliche Künstlerhandwerker sah darin vermutlich eine zweidimensionale Ebene, die er wie ein Ikonenmaler nach seiner Auffassung gestaltete. Der neuzeitliche Setzer mag in der Tat in der Buchseite einen Raum gesehen haben, dessen Füllung ihn mit komplexeren Fragen konfrontierte. Denn in der Renaissance wurde diese Raumeroberung auch zu einer philosophischen Revolution. Ausgehend vom zaghaften Blickwechsel, mit dem Cusanus bei einer Christusikone spielte, folgt die mathematisch umgesetzte Perspektive letztlich der Einsicht, dass Gegenstände – mit Kant gesprochen – immer nur so erkennbar sind, wie sie uns erscheinen. Der Optimismus des Mittelalters, Gegenstände in ihrem An-sich-Sein erkennen zu können, ist vorbei, das Mittelalter in diesem Punkt klar verabschiedet. Die Entdeckung des Raums ging Hand in Hand mit der Emanzipation des Subjekts, von dem aus dieser Raum sich öffnet. Dazu gehören ein besonderes ingenium des Künstlers auf der einen und ein wissenschaftlichen Kriterien genügendes Regelwerk auf der anderen Seite. »Gemeint ist, daß der Künstler sein unverwechselbares, subjektives Sehen ausdrückt, die Subjektivität seines Standpunktes zum Maß macht.« (ad 2) Als zweites Element erwähnte ich die Entdeckung der Natur und des Subjekts, was naturgemäß mit der Entdeckung des Raums zusammenhängt. Die antike Kunst, die nun zum Maßstab wurde, basierte auf der Darstellung der Natur. Doch diese hatte eine zumindest zweifache Bedeutung: Zum einen – und das war der in der griechisch-römischen Antike dominierende Aspekt – war sie die Basis für Realismus und Emotion. In den aufgeklärten Kreisen war Kunst Naturmimesis bis hin zur schon an perspektivische Gestaltung gemahnenden Skenographie. Zum anderen wurde genau diese aufgeklärte Linie einer nachhaltigen Kritik unterzogen und die Natur als Trägerin mathematischer Harmonie im Sinne der platonischen Konzeption rezipiert. Nach diesem Paradigma bedeutete Naturnachahmung als demiurgischer Gestus Verbesserung der Natur nach idealen Vorgaben, an denen sich der Künstler orientiert. Im Mittelalter und in der Renaissance wurde die Arbeit an der Natur in beiden Bedeutungen weitergeführt. Die Pole Natur und Subjekt eröffneten daher die Spannung von Natur und Kultur oder eben jene von regelgeleiteter Mimesis und dem Genie. Konnte die Renaissance diese Spannung noch ausgleichen, brach sie im Manierismus und Barock endgültig auf und führte zum Streit um die Klassizität. Die alte von der göttlichen Harmonie geformte Natur mündete in der Renaissance aber auch in mystische und okkulte Ideengespinste. Das »Buch der Natur« wurde zur unerschöpflichen Quelle von allerlei Spekulationen, ein methodisch geregeltes empirisches Vorgehen musste sich erst langsam entwickeln. Neben der sich

371

Die Kultur der Renaissance

schärfenden Wissenschaft blieb in der Renaissance auch die Magie stets präsent. Philosophisch bildete eine Basis dafür die lebhafte Rezeption des averroistischen Materieverständnisses, also der mit Formen durchsetzten Materieauffassung. Das ging bis zum scheinbaren Paradox, dass auch Aristoteliker meist Kritiker der aristotelischen Naturphilosophie waren. Gegen die substantialistische Materieauffassung des Aristoteles bevorzugten sie die mathematische Naturauffassung Platons, die schließlich in die Wissenschaft der Neuzeit wies. Die kosmische Harmonie spielte vor allem in der Architektur eine bedeutende Rolle. Den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance markierte allerdings die Hinwendung zur Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, die an die Stelle der transzendenten Ewigkeit trat. Einer der häufig zitierten Sprüche der Zeit lautete: veritas filia temporis, die Wahrheit sei eine Tochter der Geschichte. Auch diese neue Sicht auf das wichtige Verhältnis von Mensch und Natur speiste die bereits besprochene neue Wahrnehmung des Raumes. Von den alten Traktaten des Alhazen und Witelo ausgehend, interessierte das Problem der Darstellung eines dreidimensionalen Raumes auf einer zweidimensionalen Fläche. Von Piero della Francesca bis Dürer wurde die Sache hundertfach diskutiert und mündete auch von dieser Seite her in das Ringen um die Perspektive. Um die Frage nach dem Hervortreten individuell geprägter Künstlerpersönlichkeiten spannt sich eine lange Diskussion, auf die an verschiedenen Stellen im Mittelalterteil bereits hingewiesen wurde. Jacob Burckhardt schuf mit seiner einschlägigen Studie eine hartnäckig sich haltende Legitimationsbasis für die Renaissance und die gesamte Neuzeit. In ihrer Ausschließlichkeit ist Burckhardts These heute unhaltbar. Das Individuum der europäischen Kulturgeschichte hat eine weit ältere, in das frühe Mittelalter reichende Genese. Dass die Diskussion bis heute dennoch weitergeht, hat damit zu tun, dass der Inhalt der Individuumsvorstellung schwierig zu rekonstruieren ist. Welches Selbstbewusstsein besaß das Individuum des Mittelalters? Wie nahm es seine Souveränität wahr? »Natürlich verfügte die mittelalterliche Persönlichkeit noch nicht über einen solchen Grad an Autonomie und Souveränität, wie er erst Jahrhunderte später zum Hauptcharakteristikum der Persönlichkeit werden sollte; sie war eine Person, die von Gott geschaffen und dazu bestimmt war, zu Ihm heimzukehren.« Da bleibt nun doch ein Spielraum offen für das Herausschälen einer aufgeklärten und sich emanzipierenden Persönlichkeit in der Renaissance. Daher sollte dieses Charakteristikum der frühen Neuzeit nicht im Licht der durchaus berechtigten Relativierung von Burckhardts pointierter Sicht völlig aufgegeben werden. Man nannte diese Entwicklung Humanismus. (ad 3) Das dritte Charakteristikum war die Wiederentdeckung der Antike, das, was der Renaissance ihren Namen verlieh. Die Kultur der Renaissance umfasst eine zwei Jahrhunderte dauernde Umbruchszeit, in der sich – fließend und regional unterschiedlich – spezifische epochenbildende Eigenschaften durchsetzten, die man in Literatur und Kunst direkt auf die Antike zurückführen kann. »Tatsächlich sind sich Antike und Neuzeit in der Kunst nie zuvor und nie wieder in der Folgezeit so nahe gekommen.« Die Antike galt als historische Konstellation der Bildung sowie

3.2. V.3.3.

5.0.ff.

Gurewitsch 1994 Dopsch 1926

Gurewitsch 1994, 205

Wiederentdeckung der Antike

Wundram 2004, 24

372

Die Renaissance

Garin Eugenio in PWG, 442 399 Dom Santa Maria del Fiore (Bau 14. Jh., Kuppel 15. Jh.) mit Baptisterium (12. Jh.); Florenz

hochstehender politischer Strukturen, die sich als Vorbilder für die neue Sozialordnung eigneten. Für die Kunst und Architektur war sie ein Reservoir von Formen, die nun souverän gestaltet und eingesetzt werden konnten. Wichtig war, dass sich der Begriff der Renaissance – definierte Epoche oder bloß Umbruchszeit – als Projekt der Erneuerung gegenüber dem pejorativ gebrauchten Mittelalter abhob. Im Vordergrund stand, mehr noch als die bloße Rückkehr zur Klassik, der Mythos, den man damit verband. In Wahrheit war die Leidenschaft nach der Antike ja nie völlig verloren gegangen. Sie bestand auch im lateinischen Mittelalter. Daher bleiben manche Übergänge fließend. Das im 12. Jh. (1150 Vollendung der Marmorinkrustation) entstandene achteckige Baptisterium in Florenz war antiker als manch ein Gründungsbau der Renaissance. Auch erweckte die Renaissance keine antike Form im Ganzen zu neuem Leben, sondern verwandte die Antike als Reservoir an Einzelformen, die sie aus einem neuen Geist in größter Freiheit zu neuen Kombinationen fügte. Die vom Ahnherrn der republikanisch-nationalistischen Geschichtsschreibung, Jules Michelet, im 19. Jh. vertretene These von einer heidnischen Revolte der Renaissance ist eher seiner strikt revolutionären und antiklerikalen Einstellung zuzuschreiben und stimmt in dieser Ausschließlichkeit keineswegs. Viele Künstler und Intellektuelle blieben dem Mittelalter und der Kirche durchaus verbunden. Giovanni Pico della Mirandola gehörte zu den Verehrern des Mittelalters. Im 15. Jh. bedienten die meisten Bilder religiösen Inhalts genau jene Funktionen, die ihnen schon im Mittelalter zugeschrieben wurden: Sie sollten der Unterweisung einfacher Menschen dienen, fromme Gefühle auslösen und Symbol der Inkarnation sein. Giotto, Raffael, Fra Angelico, Masaccio, Michelangelo, sie alle schufen religiös inspirierte Kunst. Freilich nicht selten mit schlecht verborgener subversiver Ironie und freilich gab es auch Kritik am Mittelalter. Raffael etwa lehnte ähnlich wie Petrarca und Valla die »deutsche« (gotische) Kunst heftig ab. In Humanistenkreisen goss man ätzenden Spott über die scholastische Methode. Erasmus von Rotterdam äußerte sich abfällig zum Mönchtum und zu äußerlicher Frömmigkeit. Er wurde zu einem der heftigsten Kritiker des Vorgehens der Kirche gegen Luther, mit dem er in Briefwechsel stand. Lorenzo Valla verneigte sich vor der Subtilität des Thomas von Aquin, war sogar bereit, die Philosophie gegenüber dem Glauben aus Demut zurückzustutzen, aber er sah die eigentlichen Dinge des Lebens durch die Fülle der metaphysischen Erkenntnisse bei Thomas eher verstellt als gelichtet. An die Stelle scholastischer logischer Argumentationstechniken und spätscholastischer Spitzfindigkeiten trat nun (wieder) die geschliffene Rhetorik nach dem Vorbild Ciceros. Der rhetorische, damit ästhetische Anteil am Argument war für die Kultur der Renaissance wichtig. Die Rhetoriklehre Quintilians erfuhr eine neue Wertschätzung. Sie wurde ein wichtiges Muster für Kunst und Architektur und lieferte auch noch im Barock grundlegende Charakteristika. Die Liebe zu den literarischen Kunstwerken der klassischen Antike regte eine Suche in alten Klöster- und Stiftsbibliotheken nach einschlägigen Texten an, argwöhnisch beobachtet von manch einem Geistlichen. Der Dominikanerkardinal Giovan-

373

Die Kultur der Renaissance

ni Dominici etwa kämpfte gegen die neue Modernität im Gewande der Antike und skizzierte ein Leben von »Mönchlein und Nönnchen« im Stil der alten Gottesstaats­ idee. Die in den Bibliotheken gemachten Funde wurden ediert und in der neuen Technik des Buchdrucks publiziert. Sie schlossen unmittelbar an die antiken Originale an und nahmen nicht mehr den Umweg über die arabische Kommentierung. Die Renaissancekultur ist undenkbar ohne das anspruchsvolle Bildungswissen. Gewaltige gehobene Bildungsschätze aus der Antike brachen sich Bahn, als die Einschränkungen durch die kirchlichen Institutionen wegfielen. Einen Niederschlag fand der Bildungsanspruch in der zeitgenössischen Kunst. Einerseits in den vielfältigen antikisierenden Bezügen, andererseits in den gerne gewählten Verrätselungen. Giorgiones Bild Die drei Philosophen (um 1503) wurde bis heute unzählige Male zu deuten versucht, ähnlich wie Das Gewitter (1506). Analoges kann man über Botticellis Primavera (um 1482), über Tizians Venus mit dem Orgelspieler (um 1545), wo Schönheit, Musik und mathematische Proportion verschränkt werden, oder über die antikisierenden Fresken Giulio Romanos in Mantua sagen. Überhaupt war die antike Mythologie mit ihren komplizierten Erzählsträngen in Stadtpalästen wie in den Landhäusern der Humanisten gleichermaßen beliebt. Das erinnert an die Beliebtheit der griechischen Malereien in den Landvillen der führenden Schicht Roms. Ein weiteres Motiv war die Verherrlichung der Taten von Herrscherfamilien, die tunlichst Bezüge zu antiken Triumphmotiven zeigen sollte. Daraus resultierte doppeldeutige sakrale Kunst. Cosimo Rossellis Bild vom Untergang der Ägypter im Roten Meer in der Sixtinischen Kapelle konnte als Anspielung auf den 1482 errungenen Sieg der Armee des Papstes unter Roberto Malatesta am Campomorto südlich von Rom über das Königreich Neapel unter Herzog Alfons von Kalabrien gedeutet werden, weil im Bild die siegreichen Heerführer dargestellt wurden. Vielleicht ging es wirklich darum, »ein ewiges Gelehrtengespräch aufrechtzuerhalten, den Paragone des geistigen Disputs, und eben nicht darum, durch logische Antworten trivial zu befriedigen.« Dies passt zur Ambition der Humanistenkreise, das gebildete Gespräch zu pflegen. Diese erstmals in der Kunstgeschichte ausdrücklich angewandte Verrätselung fiel zusammen mit dem Selbstbewusstwerden der Künstler, die sich aus dem Handwerkerstatus emanzipiert hatten. Mit der Verschlüsselung ihrer Kunst erreichten sie eine Befreiung aus den alten Funktionalisierungen der Kunst und gewannen eine neue Eigenständigkeit. Es ist eine Verselbständigung des Ästhetischen gegenüber dem Mimetischen.

III.3.3.2.2.

Bialostocki 1972, 141 Rauch Alexander in Toman 2007b, 392

Krieger 2011

3.1. Die Entdeckung der Welt Zur Kultur der Renaissance gehörte als conditio sine qua non die Entdeckung der Welt. Europa begann, den Blick auf die weiten Räume der Welt zu richten und sie zu erobern. Nicht mehr der Ritter, sondern der Seefahrer kennzeichnete die Zeit und schuf eine »Poesie des Transports und der Überfahrt.« Die Seefahrermetaphorik hat etwas Gewagtes. Das Meer wurde von alters her dämonisiert als Sphäre des Gesetzlosen und Orientierungslosen. Hans Blumenberg verwies in seiner famosen Metaphernbehandlung darauf, dass der Kulturkritik das Meer immer verdächtig gewesen

Sloterdijk 2001, 28

374

Die Renaissance

Blumenberg 1979, 10f

Wolf 2012, hier 125

Garin Eugenio in PWG, 455

V.3.4.2.5.

Hancock 1996 Eroberung neuer Kontinente

Bastl 2002, 12

sei. »Was hätte den Schritt vom Land auf See sonst motivieren können, als der Überdruß an der kargen Versorgung durch die Natur und der eintönigen Arbeit des Landbaus, der süchtige Blick auf Gewinn im Handstreich, […] auf Üppigkeit und Luxus?« Umso aufregender ist die Selbstinszenierung der Neuzeit als »nautische Epoche« und die sich daran anschließende Metaphorik (auch in der Emblematik) von Staatsschiff, Steuer und vom Lenker und Kapitän. Der aus Neugier auf die Welt gerichtete Blick löste auch Ideen in den Europäern aus, mit dieser Welt etwas anzufangen, Europa sozusagen zu vergrößern. Der reformfreudige Kardinal Aegidius aus Viterbo begrüßte die Entdeckung neuer Länder als Vervollständigung der Welt. Viele Faktoren haben zu diesem epochalen Unternehmen geführt. Darunter auch als ein kulturphilosophischer Impuls eine neue Sichtweise, die den Menschen auf sich selbst stellte und an seine schier unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeit glauben ließ. Pico della Mirandola verglich die Fähigkeiten des Menschen im Äußeren mit seinen unendlichen Potentialen im Inneren. Es gab politische und religiöse Interessen. Die französische Krone unterstützte die Expeditionen nach Brasilien, um ein Refugium für die verfolgten Protestanten zu gewinnen. Die Jesuiten dehnten ihre missionarische Ambition auf den ganzen Erdkreis aus. Und selbstredend gab es wirtschaftliche Interessen an den Expeditionsfahrten. In Gestalt des halb europäischen und halb asiatischen Osmanischen Reichs hatte sich ein mächtiger Riegel zwischen Okzident und Orient geschoben. Schon im 14. Jh. war der militärisch und theokratisch organisierte Islam Europa auch an der Ostflanke näher gerückt und hatte Schritt für Schritt das Umfeld Konstantinopels und den Balkan erobert (1389 Schlacht auf dem Amselfeld gegen die Serben, 1396 bei Nikopolis gegen ein Kreuzfahrerheer). 1453 nahm Mehmed II. schließlich Konstantinopel ein und besiegelte das Ende des griechisch-europäischen Osten. 1458 zog der Sultan in Athen ein und setzte für drei Jahrhunderte die Flagge mit dem Halbmond auf die Akropolis. 1456 löste der Sieg eines christlichen Entsatzheeres vor Belgrad über die Türken im Abendland einen Freudentaumel aus. Das ebenfalls bedrohte Venedig befreite sich mit einem Friedensvertrag aus den Querelen, der zwar ungünstig war, aber doch die Basis für das ökonomische Überleben schuf. »The trade and profit of the city consiteth of all nations«, schrieb Shakespeare in seinem Kaufmann von Venedig. Der eigene Handelsplatz, das Mittelmeer, war mittlerweile gut bekannt. Der türkische Geograph Piri Reis hatte es in seinem Kitab-i Bahriye (Buch über die Seefahrt) mitsamt seinen Inseln, Buchten und Zuflüssen, angereichert mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Informationen, mit erstaunlicher Genauigkeit dokumentiert. Man vermutet in der Piri-Reis-Mappe eine Kompilation sehr alter, in die Zeit der alexandrinischen Bibliothek zurück reichender Vorlagen. Nun richtete sich der Blick über die bisherige Grenze der Welt hinaus. Man war auf die Eroberung neuer Kontinente gestimmt. Kontinente wurden auf den kunstvollen Landkarten häufig als Frauen dargestellt. Der weibliche Körper Europas war vor allem im 16. Jh. verbreitet. Die Eroberung der Kontinente wurde verglichen mit der Eroberung einer Frau. Gerhard Mercator (eigentl. Gerard de Kremer) aus Flandern fand eine neue Methode, die Erdkugel zweidimensional abzubilden. Bei der Übertragung eines dreidi-

375

Die Kultur der Renaissance

mensionalen Raums auf eine Fläche treten zwangsläufig immer Verzerrungen auf. Mercator gab der Gebrauchbarkeit seiner Karten für die Seefahrt den Vorrang. Durch die Projektion auf einen imaginären Zylinder, der um die Weltkugel gelegt wurde, gelang ihm eine winkelgetreue Darstellung. Dafür musste man in Kauf nehmen, dass die Landflächen nahe der Pole durch die Verzerrung größer erschienen, als sie sind, Länder, die niemanden interessierten, weil sie als unbewohnbar galten. Die Großkreisnavigation über weite Strecken wurde nun relativ einfach. Man konnte nach dem gleichen Kompasskurs (der sogenannte trockene Kompass dürfte im späten 13. Jh. in Gebrauch gekommen sein) fahren. Zwar musste man den Vorteil durch einen längeren Weg erkaufen, aber es war damals die einzige Möglichkeit einer einigermaßen exakten Navigation, die erst nach Entwicklung genauer Uhren durch die Ortsbestimmung mit dem Sextanten ihren Durchbruch erlebte. Mercator prägte mit seinem Werk Atlas oder kosmografische Meditationen über die Schöpfung der Welt und die Form der Schöpfung (Atlas sive Cosmographicae Meditationes de Fabrica Mundi et Fabricati Figura) den Ausdruck Atlas. Angeblich meinte er nicht den das Himmelgewölbe stützenden Titanen, sondern den gleichnamigen sagenhaften König von Mauretanien. Atlanten und Reisebeschreibungen verkauften sich inzwischen gut, neben dem Atlas des Gerhard Mercator verfassten Guillaume Postel mit De la République des Turcs (1560) und der Humanist Ogier Ghislain de Busbecq mit Itinera Constantinopolitanum et Amasianum et de re militari contra Turcas instituenda consilium (1581) Reisebestseller. Die Seefahrt über die großen Ozeane war nahezu eine Überlebensfrage geworden, denn außer für Venedig, das sich einigermaßen aus der Affäre ziehen konnte, war für die anderen europäischen Mittelmeer-Anrainer der Fernhandel empfindlich gestört. Daher unterstützte man jede Bemühung, die Seewege auszukundschaften und sie für den Handel zu sichern. In Spanien und Portugal, bitterarme Länder am Rande der alten Welt, fanden sich genügend Abenteurer, Hochstapler und eine willige Soldateska, die nichts zu verlieren hatten, und es begann ein Wettlauf waghalsiger Entdeckungsreisen. Nicht wenige Fürsten erkannten mit schneller Auffassungsgabe das gute Geschäft eines organisierten Piraten- und Korsarentums. Der Handel mit Edelmetallen und »schwarzen Sklaven« aus Afrika, vor allem von der »Goldküste« Guineas, lockte. Heinrich der Seefahrer, dem man später eine eigene Seefahrtsakademie andichtete, war eine solch zwielichtige Schaltstelle für die Blauwasser-Expeditionen. 1488 gelang Bartholomäus Diaz die erste Umsegelung des Kaps der Guten Hoff­nung (bereits 650a sollen die Phönizier im Auftrag des Pharao Necho um das Kap gesegelt sein). Vasco da Gama eröffnete 1498 endgültig den Seeweg nach Indien. 1500 entdeckte der Portugiese Pedro Alvarez Cabral Brasilien und der Genuese Christoph Kolumbus stand 1492 bei den Bahamas vor Amerika. Ein Jahr später folgten Puerto Rico und Jamaica. Ausschlaggebend für die Entscheidung, die Handelspartner des Ostens im Westen zu suchen, waren Überlegungen, dass der Weg nach Indien auf der Westpassage kürzer sei als jener rund um Afrika. Es war unter anderem Paolo Toscanelli, der Mathematiklehrer und Statiker von Brunelleschi, der

400 Gerhard Mercator, Kupferstich v. Theodor de Bry (nach 1694)

Bouwsma 2000, 68ff

376

Die Renaissance

III.2.5.2.

Ebd., 71f

Blake 2007, 104

Brotton 2002, 35ff

überall für die Westroute warb. Die von ihm gezeichnete Karte von 1474 hatte Asien links von Europa. Diese Meinung stützte sich auf eine bereits in der Antike diskutierte These, derzufolge sowohl die südliche als auch die nördliche Hemisphären unbewohnbar und unbefahrbar seien. Erst jetzt, wo man diese Einsichten benötigte, wurden sie relevant. In der geographike hyphegesis gab Claudius Ptolemäus für 8000 Orte der Ökumene die exakten Längen- und Breitengrade an. Das Werk gelangte 1410 in lateinischer Übersetzung (Cosmographia) in die Renaissance. Allein die Entfernungen wurden gewaltig unterschätzt. Ptolemäus hatte von dem in Rhodos wirkenden Stoiker und Geographen Poseidonios von Apameia den falschen Erdumfang von 29 000 (statt in Wahrheit 40 000) Kilometern übernommen. Dies, obwohl Eratosthenes von Kyrene in Alexandrien mit einem korrekten Messverfahren der Wahrheit schon im 3. Jh.a sehr nahe gekommen war. Dass Kolumbus Kenntnis von den Nordamerikafahrten der Wikinger um das Jahr 1000 besaß, gilt hingegen als unwahrscheinlich. 1531/33 eroberte der gewissenlose Konquistador Francisco Pizarro Peru, 1519/ 21 hatte Hernán Cortés dasselbe mit Mexiko erledigt. Er suchte die Weiterfahrt nach Indien über den Pazifik. Gegen das Wüten der Konquistadoren geb es bereits zeitgenössische Kritik. Amerigo Vespucci aus Florenz betrat bei mehreren historisch nur mehr schwer rekonstruierbaren Fahrten im Auftrag der Medici Amerika und wurde zum umstrittenen Taufpaten der vorher hartnäckig als Ostküste Asiens angesehenen Landmasse. Der Kartograph Martin Waldseemüller gab als Erster auf seiner Weltkarte, nur 15 Jahre nach der Entdeckung, dem neuen Weltteil – nicht zuletzt aufgrund in ganz Europa kursierender, in ihrer Authentizität zweifelhafter Briefe Vespuccis – seinen Namen. Der Portugiese Ferdinand Magellan fand bei der ersten Umsegelung der Welt 1520 (mit einer spanischen Flotte, weil der portugiesische König die Unterstützung des Projekts abgelehnt hatte) die südliche Durchfahrt zum Pazifik. Zwar ist die Magellanstraße nautisch eine extrem anspruchsvolle Passage, aber immerhin konnte man das noch gefürchtetere Kap Hoorn mit dem entgegen stehenden Wind- und Wellensystem umfahren. Magellan nannte den neuen Ozean Pazifik, weil die Wassermassen ihm so friedlich begegneten. Allerdings kam er bei dieser ersten Erdumsegelung mit dem Großteil seiner Besatzung ums Leben. Es waren Todesopfer im Namen des Fortschritts. Diese erfolgreichen Entdeckungen machten die europäischen Meeresanrainer in kurzer Zeit zu reichen und mächtigen Staaten. Der geweitete Blick löste Bewunderung für die fremden Kulturen aus, die von Künstlern schwärmerisch dargestellt und deren Träger in der wissenschaftlichen Literatur zu edlen Wilden hochstilisiert wurden. Andererseits traten die Europäer in der Neuen Welt wenig zimperlich als Eroberer und Missionare auf den Plan. Die Bettelorden des 13. Jh.s waren dabei an vorderster Front engagiert und haben bis heute dort Missionsgebiete. Selbst Kolumbus, dem man eine große Verehrung des Franz von Assisi nachsagte, fasste seine Fahrten als Beitrag zur Christianisierung auf. Die heimischen Klöster, aber auch private Sammlungen, wurden zu Museen von in Übersee gesammelten Kuriositäten. Auch Cosimo Medici I. besaß eine solche Sammlung. Einen reizvollen Niederschlag am neuen Interesse an der Natur findet man in den skurrilen Bildern des Mailänders

377

Die Kultur der Renaissance

Giuseppe Arcimboldo. Er, der in Wien und Prag am Hof Rudolfs II. mit Astrologen und Quacksalbern verkehrte, ist eine Figur, die den schmalen Grat der Renaissance zwischen Wissenschaft und Magie verkörperte.

3.2. Magie und Wissenschaft Die Kultur der Renaissance war nicht zuletzt eine Wissenskultur, die sich gegenüber der extremen Verengung in der Scholastik einer wieder breiten Vielfalt des Wissens öffnete. Dass diese Wissenskultur zu einer »unaufhörlichen Zerstörung des Magischen, des ›Spirituellen‹, zugunsten des Rationalen, Natürlichen und Mechanischen« führte, sollte freilich nicht voreilig behauptet werden. Der gerne zitierte Satz, den Ulrich von Hutten 1518 an seinen Humanistenfreund Willibald Pirckheimer richtete: »O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben«, entsprach zwar einer verbreiteten Befindlichkeit, trifft aber nur die halbe Wahrheit. Die Dinge zwischen Himmel und Erde blieben noch lange ein ebenso weites wie vages Feld. Gerade wegen einer ausgewogenen Gewichtung musste sich die Wissenschaft aus einem Konglomerat von Traditionen, Alchemie, Magie und Mystik – und einer noch lange starken Theologie und Kirche herausschälen. Brian Vickers sprach von okkulter und wissenschaftlicher Mentalität in der Renaissance und Ernst Bloch charakterisierte die Renaissance als ein »Zeitalter der Magie.« Jan Huizinga sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen der »Allegorie des Mittelalters und der Mythologie der Renaissance.« Genau das wollte Aby Warburg lange nicht wahrhaben und schob Okkultismus und Astrologie in das Mittelalter ab. Erst mit der Analyse der Schifanoia-Fresken musste er akzeptieren, dass diese Dinge auch in der Renaissance nicht überwunden waren. Sein optimistischer Evolutionismus in der Wissenschaft zerbrach ihm unter den Händen, was Warburg sehr zu schaffen machte. Geheimnisse wurden überall gesehen, bei der Gottesfrage (arcana Dei) ebenso wie beim Staat (arcana imperii). Solche Geheimnistuerei war eine Mode und manch ein Naturwissenschaftler konnte das Interesse an seinen Forschungen dadurch steigern, dass er sie als Geheimwissen vermarktete. Die Verrätselungen in der Kunst, von denen oben die Rede war, müssen auch in diesem sozialphilosophischen Kontext verstanden werden. Jacob Burckhardt nannte die Astrologie eine der wichtigsten spirituellen Errungenschaften der Renaissance. Die Astrologie galt als Wissenschaft, sie wurde an den medizinischen Fakultäten gelehrt. Melanchthons Schwiegersohn, Caspar Peucer, schrieb neben geographischen, medizinischen und astronomischen Abhandlungen 1553 auch ein Lehrbuch über das astrologische Wissen. Man deutete die Einflüsse von Gestirnskonstellationen auf die Ereignisse in der Welt – beinahe alle namhaften Astronomen erstellten auch astrologische Gutachten – und das Verbreiten von apokalyptischen Szenarien, von den Bußpredigern bis zu den Werken von Albrecht Dürer oder Hieronymus Bosch, war an der Tagesordnung. Die Deutung der Weissagungen in Horoskopen war geradezu eine eigene hermeneutische Gattung. Die alten platonischen Harmonievorstellungen prägten das Weltbild zutiefst. Die Astronomen waren von den regelmäßigen Bewegungen der vier Elemente, aus denen die Erde be-

Garin Eugenio in PWG, 517

Pirckheimer, zit. nach Goertz 2004, 39

Vickers 1985; Bloch 1977a, 182 Huizinga 1919, 226

IX.3.4.1.

Astrologie

Grafton 1999a

378

Die Renaissance

Ägyptenrezeption

II.2.7

Wissenschaft

Hansen 2011, 212

Bouwsma 2000, 36

Kristeller 1974, 67

stehen sollte, ebenso überzeugt wie von der Gleichförmigkeit der Bewegungen der Himmelskörper. Man deutete diese Stimmigkeit als Musik, die sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Teile des Menschen, vor allem von Körper und Seele, ergab. Auch für Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim) galt die Formel, dass der Mikrokosmos Mensch nichts anderes sei als ein Abbild des Makrokosmos. Darüber hinaus schrieb die Renaissance ein wichtiges Kapitel Ägyptenrezeption, die Gleichwertiges erst wieder im 19. Jh. erlebte. Diese führte unter anderem zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift 1822 durch Jean-François Champollion. In der Renaissance stand die Entdeckung der mystischen und hermetischen Texte im Vordergrund, die 1463 von Ficino übersetzt wurden. Isaak Casaubon korrigierte die Fiktion des hohen Alters und datierte das Corpus Hermeticum erstmals in die Spätantike. Auch die griechische Übersetzung der Hieroglyphica des Horapollon wurde von Aldo Manutius in Venedig 1505 herausgebracht. Kaiser Maximilian I. regte eine lateinische Übersetzung an, die Willibald Pirckheimer besorgte und die mit einer Bebilderung von Dürer 1512 erschien. Maximilian verlor dann allerdings das Interesse an diesem Projekt. Trotz dieser Befangenheiten mit dem Mystischen bahnte sich die Wissenschaft unaufhörlich ihren Weg. In der Renaissance trafen geradezu zwei Erzählungen aufeinander, wobei die neue, die wissenschaftliche, sich zunehmend aus der mittelalterlichen Vorgabe löste. Klaus Hansen hat ein solches Verhältnis mit Blick auf die Versuche um die Schwerkraft von Isaac Newton pointiert und humorvoll auf den Punkt gebracht: »Der den Kopf des Physikers treffende Apfel löste ja nicht zwangsläufig die Erkenntnis der Schwerkraft aus. Hätte derselbe Apfel einen mittelalterlichen Theologen getroffen, könnte dieser darin einen Fingerzeig Gottes gesehen und ein Kloster gegründet haben, das für seinen Apfelessig berühmt geworden wäre. Äpfel fallen folglich nicht auf leere Köpfe, sondern auf solche, die bereits mit Wirklichkeitsdeutungen gefüllt sind.« Aber, so könnte man fortfahren, der fallende und am Kopf Schmerz verursachende Apfel rüttelt eben an den scheinbar unveränderlichen Wirklichkeitsdeutungen und lässt neue Einsichten zu. Anders als etwa die Architektur, die sich für ihre Aufwertung dem Formenkanon Vitruvs auslieferte, legte die Wissenschaft mehr und mehr die Bindungen zu alten Vorstellungen ab. Besonders die Mediziner, Physiker und Astronomen forderten als Basis die Natur ein. Neben der Astronomie mit dem Universalgelehrten und Arzt Girolamo Cardano, Tycho Brahe, Nikolaus Kopernikus, den bereits ins 17. Jh. gehörenden Astronomen Galileo Galilei und Johannes Kepler, kam es auch in Physik und Medizin zu Umbrüchen. Kopernikus steht für einen sprichwörtlich gewordenen Paradigmenwechsel von der alten geozentrischen Sicht des Ptolemäus zum heliozentrischen System. Es war dies ein Stück Bedeutungsverlust für den Planeten Erde, der durchaus revolutionär war. Keplers Platonismus ist unbestritten, auch Galilei hatte »einen Platz in der Geschichte des Platonismus.« Das Problem des Raumes war jetzt wichtig und man thematisierte ihn in Beziehung auf das beobachtende Subjekt. Es war bereits jener Blick auf den Raum, den 200 Jahre später Immanuel Kant auf den Reflexionsraum des Verstandes werfen oder

379

Die Kultur der Renaissance

– besser gesagt – diesen Reflexionsraum schaffen wird. Die neuen Dimensionen des kosmischen und erdgebundenen Raums eröffneten, »what had previously been unknown, ignored boundaries previously surrounded with numinous awe, and vastly expanded the horizons of knowledge.« Die Renaissance brachte – mit Vorläufern im Spätmittelalter – die Wende zum Experiment, was unter anderem zur Widerlegung einer ganzen Reihe von Thesen des Aristoteles führte. 1608 wurde in den Niederlanden das Fernrohr erfunden. Auch Galileis Werkstatt baute diese Geräte und Galilei empfahl es der venezianischen Signoria als Hilfsmittel im Krieg. Das Fernrohr ermöglichte die Beobachtung des unendlichen Raums, zahlreiche Entdeckungen am Himmel und den Beweis des heliozentrischen Weltbildes. Was Galilei dabei noch wahrnehmen konnte, war, dass das All einer riesigen Maschine glich, in der alles nach Gesetzmäßigkeiten mechanisch ablief. Galilei wurde »erster Mathematiker und Philosoph« bei den Medici in Florenz. Bei einem Aufenthalt 1611 in Rom wurde er mehrfach geehrt und es folgte ein ausgedehnter wissenschaftlicher Austausch vor allem mit Jesuiten. In den folgenden Jahren verschärfte sich der Kampf gegen die Reformation. Man blickte deshalb auch aufmerksamer auf das, was Physiker und Astronomen trieben, und das wurde für Galilei verhängnisvoll. Nach seinem Dialog über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische (1632) wurde Galilei, der Kopernikaner, 1633 vom Inquisitionsgericht in Rom verurteilt und nach Arcetri, einem Stadtteil von Florenz in den südlichen Bergen, verbannt. Sein früherer Förderer, der aus einer Florentiner Kaufmannsfamilie stammende Urban VIII., hatte seine schützende Hand zurückgezogen. Was bei Galilei nicht mehr gelang, war eine Einheit von Wissenschaft und Kunst, wie sie noch Leonardo so eindrucksvoll gelebt hatte. Die Kunst war inzwischen ein von der Wissenschaft unterschiedenes, eigenständiges Genre, dem er großes Interesse entgegen brachte. Gut dokumentiert sind seine Sympathie für den Klassizismus und die Ablehnung des Manierismus. Er selbst fertigte zahlreiche Tuschebilder des Mondes und der Sonne mit ihren Flecken an, die teilweise als Vorlage für Kupferstiche dienten. In Physik und Medizin waren der Physiker Pierre Gassendi und die Anatomen Realdo Colombo, Andrea Cesalpino, Felix Platter, der Flame Andreas Vesalius und der Freund da Vincis, Marcantonio della Torre, führend. Vesalius beschrieb in De humani Corporis Fabrica 1543 als Erster mit exakten Illustrationen alle Organe des Körpers, wobei er mit seiner Verachtung gegenüber dem bisherigen Anatomie-Vorlesungsbetrieb nicht hinter dem Berg hielt. Im Mittelalter war das Sezieren von Leichen untersagt. Bisher durfte selbst der Dozent die Leiche nicht berühren und kannte die Anatomie nur aus dem vor ihm liegenden Buch. Jetzt änderte sich das grundsätzlich. Im berühmten teatro anatomico der Universität Padua stand ein großer Seziertisch. Darüber befand sich eine Kanzel, auf der eine Messe für die Seele dessen gelesen wurde, den man unterhalb gerade sezierte. 1308 hatte die Universität von Padua die Erlaubnis erhalten, jährlich eine Leiche zu sezieren, in der Renaissance erhöhte sich die Zahl stark. Zur induktiven Methode »gehörte ein neuer Typ von Wissen-

Bouwsma 2000, 67

Galileo Galilei

Bieri 2007

Bredekamp 2007

Thomson 1983, 644

380

Die Renaissance

Günther 2009, 20

Goertz 2004, 61f

schaftler: einer, der vom Katheder herabsteigt, um praktisch tätig zu werden.« Die induktive Methode förderte ein empirisches Wissen über die Anatomie des Körpers, was nicht nur für die Medizin ein gewaltiger Fortschritt war, sondern auch eine Voraussetzung für die Behandlung des in der bildenden Kunst erstmals seit der Antike wieder entdeckten Themas Körper bildete. Auch hier wurde die wissenschaftliche Seite überlagert von der alten Ambition, im »Buch der Natur« zu lesen und den alten Autoritäten zu folgen. Mit ihnen geriet man manchmal freilich auch in Konflikt. Vesalius etwa musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, er leugne die Lehre, dass Eva aus der Rippe Adams erschaffen worden sei, weil er angab, auf beiden Seiten des männlichen Brustkorbs gleich viele Rippen gefunden zu haben. Anatomen bereiteten mit ihren Entdeckungen zum Sehorgan den Weg zu neuen Wahrnehmungstheorien, wie sie etwa Kepler gegen Witelo und Peckham entwarf. Keplers Sehtheorie ist die erste, die jene von Alhazen korrigierte. In dieser breiten wissenschaftlichen Basis liegt einer der Unterschiede zwischen der Renaissance im Süden und jener in Flandern und im südwestdeutschen Raum. Die florentinischen Künstler reflektierten ihr Tun mit wissenschaftlichem Anspruch theoretisch, während im Norden eher intuitiv und praktisch vorgegangen wurde.

3.3. Das neue Sozialgefüge

Stadtstaaten

Thomson 1983, 138

die Fugger

Die Veränderung der alten Sozialordnung führte die schon im Hochmittelalter wieder entstandenen Städte zu neuer Blüte. Die vor allem in Italien als Kleinfürstentümer oder Stadtstaaten organisierten Städte hatten zumeist eine republikanische Grundordnung. Sie wurden aber meist von Fürstengeschlechtern regiert. Die mittelalterliche Feudalordnung mit dem Schwerpunkt landwirtschaftlicher Produktion ging zu Ende. Neben die Landwirtschaft traten Handel, Handwerk und Finanzdienstleistung. Ein kapitalistisch organisiertes Handels- und Wirtschaftssystem war mit Monopolen und Kartellen durchsetzt. Die italienischen Städte waren die großen Investoren in den Städten Nordeuropas und Englands. In Paris gab es am Ende des 13. Jh.s sechzehn Filialen italienischer Handelshäuser. Das ermöglichte einzelnen Familien, zu großem Reichtum zu gelangen, den sie häufig zur Förderung von Kunst und Wissenschaft, aber auch für soziales Engagement einsetzten. Während die Mittelschicht verarmte und die Handwerker ab etwa 1500 zu einem lohnabhängigen Proletariat absanken, trieben die wohlhabenden Familien, besonders in Italien und in den flandrisch-alemannischen Handelsstädten, die Renaissance an. Eine gesunde städtische Ökonomie ist in der Geschichte immer eine notwendige Grundlage der Kultur. Dies war auch und besonders in der Renaissance so. Berühmt geworden sind die im Montangewerbe, Bankgeschäft und Baumwollhandel global tätigen Fugger. Die Finanzkraft war so groß, dass Jakob Fugger den teuren Hof Maximilians I. finanzieren konnte, der letztlich vom Handelshaus abhängig war. Geld der Fugger floss auch, um die Wahl Karls zunächst zum römisch-deutschen König, dann als Karl V. zum Kaiser, zu sichern. Auch das kulturelle Mäzenatentum der Fugger kannte keine geographischen Grenzen. Die Erneuerung der Fondaco dei Tedeschi in Venedig, Sitz der deutschen Händler, war ebenso ein Auftrag

381

Die Kultur der Renaissance

der Fugger wie Dürers Rosenkranzfest für die Kirche San Bartolomeo in Venedig und Giulio Romanos Thronende Madonna für Santa Maria dell’Anima in Rom. Ihre eigenen Schlösser und Bauwerke, vor allem in Augsburg, ließen sie von italienischen Künstlern prächtig ausstatten. Das soziale Engagement umfasste eine von Jakob Fugger finanzierte Sozialsiedlung in Augsburg, die Fuggerei, die heute noch besteht. Die Siedlung wurde zwischen 1516 und 1523 aus einfachen Materialien mit sparsam ausgeführten genormten Musterhäusern im Sinne einer beinahe schon modernen Rationalität errichtet. Dazu kamen Elemente, beispielsweise Mauern, die keine Schutzfunktion mehr hatten, sondern als Symbol fungierten für die neue »Civitas als ein Bereich des Rechts, der Sicherheit und der Ordnung.« Ähnliches bewirkten die Welser oder die zahlreichen Bankierdynastien, die Alberti und Medici in Florenz, die Pazzi in Venedig und Florenz, die Scrovegni in Padua. Der Dichter und Geistliche Giovanni Rucellai, der mit den Medici nach Florenz zurückgekehrt war, ein ehrgeiziger Bauherr, bekannte, dass es für ihn kein größeres Vergnügen gäbe als Geld zu verdienen und es auszugeben, wobei das Ausgeben noch viel schöner sei. Neben den Bankgeschäften waren auch Handwerk, Manufaktur und Handel, vor allem der Fernhandel mit seiner aufwendigen Logistik, lukrative Unternehmungen. Die Niederlassungen reichten weit in den Orient, in gewisser Weise war die Renaissance in der Tat ein großer Basar. Die Mäzene erkauften sich in Politik, Kirche und Kultur eine ebenso tragende Rolle, wie sie die Fürstengeschlechter innehatten, die Malateste in Rimini, die Montefeltro in Urbino, die Este in Ferrara, die Gonzaga in dem von den Sümpfen des Mincio geschützten Mantua, die Aragon in Neapel, die autoritär herrschenden Visconti und – nach deren Aussterben 1447 – die Sforza in Mailand und die Medici (die Herrschaft, Wirtschaft und Kunst in sich vereinigten) in Florenz. Aber auch im Norden konnten einige kunstsinnige Herrscher mit Italien mithalten, neben dem Haus der Fugger in Augsburg etwa der Hof des Königs von Ungarn, Matthias Corvinus, in Buda, der enge Kontakte zu den Medici unterhielt. Er war ausgestattet mit einer riesigen Bibliothek, die unzählige Schriften der Lateiner und Griechen in ihrem Bestand hatte. In Buda hielten sich Künstler und Schriftsteller von höchstem Rang auf. Herzog Federico da Montefeltro von Urbino ließ sich um 1476 vermutlich vom spanischen Maler Pedro Berruguete, der am Hof in Urbino wirkte, als Idealgestalt des Renaissancefürsten, in voller Rüstung ein wertvolles Buch lesend, darstellen. »Tatsächlich war dieser Mythos der Kultur und Kunst mehr als äußerliche Konvention. Die großen Herrscher, die Herzöge, Condottieri und Kardinäle, die Bankiers und Kaufleute waren wirklich in den Kreis der Kunst eingetreten.« Der Wunsch nach »Würdigung und Verewigung« führte zu einer Flut von Medaillen und Büsten, die formal nach einer Synthese zwischen harmonischer Proportion und individuellem Zug suchten. Aber nicht nur Fürsten, sondern auch Intellektuelle wollten in den Ruhm solcher Darstellungen gelangen. »Kurze Zeit später wollten auch die Inhaber einer anderen, geistigen Macht, die sich aufs engste mit der Politik verband, die Professoren der Universität Bologna – Kommentatoren des

Muscheler 2009, 124f

Braunfels 1953, 46

Borsi 1981, 59

Brotton 2002, bes. 34–61 Mäzene

Bialostocki 1972, 145 Ceysson Bernard/BrescBautier Geneviève in Ceysson u.a. 1987, 56

382

Die Renaissance

Duby Georges in Duby u.a. 1989, 161

Stellung der Frau

Gerl 1989, 28ff

Monumental­ skulptur

401 Reiterstatue Marc Aurels, Kapitol; Rom (Kopie) 402 Reiterdenkmal des Gattamelata; Padua

Römischen Rechts und somit Begründer der königlichen Autorität –, durch Reliefbildnisse ›all’antica‹ in ihrer Stadt verewigt werden.« Professoren waren öffentliche Personen geworden. Die Wissenskultur hatte sich von der Kirche befreit, der Buchdruck zog eine Universalisierung des Wissens nach sich. Dies kam den Frauen der Oberschicht zugute, die in den Erziehungsprozess gleichberechtigt eingegliedert waren. Sind uns die Frauen aus dem Mittelalter in erster Linie als religiöse Mystikerinnen bekannt, erreichen uns aus der Renaissance Geschichten von Frauen als selbstbewusste gebildete Fürstinnen, Gönnerinnen und Mäzenatinnen: die Königinnen von Zypern, Eleonora von Aragon und Caterina Cornaro; Bianca Maria Sforza, die von ihrem Gatten ungeliebte und übel behandelte Gemahlin Maximilians I., der zwar ihre Schönheit pries, aber ihren vermeintlich schwachen Verstand tadelte, oder Isabella d’Este, die hochgebildete, polyglotte Kunstsammlerin und Mäzenatin am Gonzaga-Hof zu Mantua, in den sie eingeheiratet hatte. Die römische, aus altem Adelsgeschlecht stammende Dichterin Vittoria Colonna wurde von Michelangelo, einem von vielen Literaten und Künstlern, die zu ihrem Kreis gehörten und der ihr im christlichen Neuplatonismus verbunden war, in Gedichten verherrlicht. Schon ab dem 14. Jh. wagte sich die Monumentalskulptur wieder in den öffentlichen Raum. Sie wanderte von der Kathedrale zum Rathausplatz. Das antike Reiterstandbild wurde wiederentdeckt. In ihm verdichtete sich die Idealfigur der Renaissance. In den sich als Erben Roms verstehenden Städten der Renaissance ließen sich die Herrscher als Augusti oder nach dem Vorbild Marc Aurels auf dem Pferd darstellen. Man verherrlichte berühmte Männer und kleine Edelleute, die sich dem lukrativ gewordenen Geschäft des Kriegshandwerks verschrieben hatten und als »Warlords« (Condottieri) zu wohlhabenden Fürsten aufgestiegen waren. Erst mit der fortgeschrittenen Gusstechnik in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s ließen sich die ersten Bronzereiterstatuen seit der Antike realisieren. Jene (verloren gegangene) für Niccolò III. d’Este von Antonio di Cristoforo und Niccolò Baroncelli in Ferrara, jene des in Padua als Diktator wirkenden Erasmo da Narni, genannt Gattamelata (1453; Padua), von Donatello, des venezianischen Condottiere Bartolommeo Colleoni (1496 in Venedig nach einem Gipsmodell gegossen und aufgestellt) von Andrea del Verrocchio. Dazu zu zählen sind auch die monochrom gemalten Standbilder des in Florenz dienenden englischen Söldnerführers John Hawkwood (1436; Florenz) von Paolo Uccello und des Niccolò da Tolentino (1456; Florenz) von Andrea del Castagno. Hans Burgkmair entwarf um 1508 ein Reiterstandbild für Maximilian I. Es blieb unvollendet und ist verloren. Vorbilder waren auch hier Grabmonumente, die bis weit in die Neuzeit hinein eine architektonische Form bleiben, um die Macht von Papst oder Fürst auszudrücken. Die vielleicht bedeutendsten frei stehenden Grabanlagen aus der Renaissance waren das Julius-Grab Michelangelos (seit 1505), die ein Kenotaph gebliebene Anlage für Kaiser Maximilian I. (seit 1502) in der Hofkirche in Innsbruck (eigentlich mit 200 Bronzefiguren für Wien, Wiener Neustadt oder für das Georgskloster am Wolfgangsee geplant) und das Grabmal der Katharina von Medici und Heinrichs II.

383

Die Kultur der Renaissance

in St. Denis (1563–1572). Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang auch die prunkvollen, antiken Triumphbögen nachempfundenen Grabmäler der Dogen in verschiedenen Kirchen Venedigs. Ähnliches gilt für die allegorische Freskenreihe über das gute und schlechte Regiment in Stadt und Land (buon governo) in der Sala della Pace des Palazzo Pubblico von Siena von Ambrogio Lorenzetti. In all dem zeigt sich der humanistisch gebildete, machtvolle Herrscher, der seine gute Führung in den Dienst der idealen Stadt stellte. Die Neuordnung der Regierungsebene erforderte umfangreiche politische Definitionsfragen, für die man in den antiken Vorlagen, von Aristoteles bis Cicero, das nötige Know-how finden konnte. Good governance war das angestrebte Ideal, und es wurde in Lobreden auf Stadt und Fürstengeschlecht gefeiert. Solcher Humanismus in Gestalt antikisierender Allegorien ersetzte in den Ratsstuben die im Mittelalter gebräuchlichen Bilder vom Letzten Gericht. Dass es einen Anreiz gab, über Idealstaatsmodelle, die von der alten Polisidee als Abbild des Kosmos getragen waren, nachzudenken oder sie als Veduten auf Leinwand zu entwerfen, kann man gut nachvollziehen. Auch im Norden wuchsen fürstlichen Residenzgebäuden eine memoriale und legitimatorische Funktion zu. »Im Laufe des 15. Jh.s hatten sich die regierenden Fürstenhäuser zunehmend darum bemüht, die historische Dimension ihrer Familien und Herrschaften zu kommunizieren.« Man bemühte sich, die Familientradition auf Karl den Großen, Augustus, Cäsar oder gar Troja zurückzuführen und diese Würde in den Residenzen ausdrücklich werden zu lassen. In einem solchen Zusammenhang erhalten Gebäude eine ikonische Funktion. Mathias Müller liest aus Ernst Kantorowicz’ Deutung des corpus mysticum die Gleichsetzung des politischen mit dem architektonischen Körper des Amtssitzes: »So konnten Bauwerke auch in den nordeuropäischen Ländern des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit zu ›Porträts‹ bzw. ›Bildern‹ von Königen, Fürsten und reichsfreien bürgerlichen Stadträten werden […].«

4.2.6.

Hoppe 2007b, 248

Müller 2007, 254

403 Blick auf Florenz

3.4. Der Brennpunkt Florenz Zur Renaissance gehören – eine intensive Identität, wie sie sich in anderen Perioden kaum findet – die Stadt Florenz und die drei Jahrhunderte lang herrschende Dynastie der Medici. Dies sei gesagt, auch wenn es in anderen Gebieten zur gleichen Zeit ebenfalls Humanistenkreise gab, etwa um 1400 in Frankreich mit Jean de Montreuil, Nicolas de Clemanges oder Gontier Col.

die Medici

Huizinga 1919, 348ff

384

Die Renaissance

Roeck 2017, 470 Thomson 1983, 161

Abulafia 2011, 428

404 Uhrturm des Rathauses von Aix-en-­ Provence (1505) 405 Stadttor (»Altpörtel«) in Speyer (13.–15. Jh.) am westlichen Ende der alten Prachtstraße, Stadtseite McLean Alick in Toman 2007b, 30

Florenz war zwar Republik – von Leonardo Bruni dichterisch verherrlicht (Laudatio florentinae urbis) –, wurde aber von einer adeligen Oligarchie beherrscht, in der sich die Medici 1434 (gegen die anderen einflussreichen Familien der Albizzi, Strozzi, Buondelmonti, Pitti, Capponi) die führende Stellung sichern konnten. »Die komplizierte Verfassung und damit die zähe Kraft der Horizontalen verhinderte nackte Tyrannei.« Sie machten in einem »gemäßigten Despotismus« aus einer nach Hungersnöten, Pestepidemien (1348, 1400), Überschwemmungen und sozialen Unruhen (1378) siechenden Stadt eine wirtschaftliche und kulturelle Metropole. Giovanni di Bicci de Medici baute das familieneigene Bankhaus zu einem global agierenden Unternehmen aus und legte mit dem erwirtschafteten Reichtum die Grundlage für die Machterhaltung, setzte ihn aber auch zur Förderung von Kunst und Wissenschaft ein. »Um 1300 konnte man den Florentiner Florin in allen Winkeln des Mittelmeerraums antreffen. Er zeugte von […] der wachsenden Integration dieser Region zu einem einzigen Handelsraum.« Das Haus sanierte unter anderem die zerrütteten Vatikanfinanzen, was keine schlechte Grundlage für die Beziehung zwischen Florenz und Rom bildete. In die Zeit Giovanni di Biccis fällt der Bau der berühmten Kapelle in der Kirche von San Lorenzo durch Brunelleschi, dem ersten Zentralbau der Renaissance. Von 1375 bis zu seinem Tod bekleidete Coluccio Salutati das Amt des Kanzlers. Er galt nach dem Tode von Petrarca, den er, ohne ihm je begegnet zu sein, sehr verehrte und mit dem er regelmäßig korrepondierte, als geistiger Führer in Wissenschaft und Kunst, einer der ersten bedeutenden Humanisten. Salutati, den Petrarca zum Aufbau einer Bibliothek angeregt hatte, schrieb Lobreden auf Florenz. Mit ihm und Leonardo Bruni begann die Stadtpanegyrik in der Neuzeit. Die Stadt als solche wurde zu einem eigenständigen Thema. Sie wurde selbstbewusst, was sich nicht zuletzt in einer reichen öffentlichen Bautätigkeit niederschlug. Der Rathausturm, der wie der Kirchturm Glocken trug, wurde zum Symbol der städtischen Macht und stellte sich selbstbewusst neben den Kirchturm. Es entwickelte sich geradezu ein Wettbewerb um die größten Türme (manchmal wie in Speyer auch als Stadttor-Turm) und kräftigsten Glocken (campanilismo). Das Rathaus wurde sowohl in den italienischen Stadtstaaten als auch in den freien Reichsstädten nördlich der Alpen zu einem mächtigen architektonischen Symbol. Zu Salutatis in klassischem Latein geschriebenen Briefen an Staatsmänner und Regierungen sagte Gian Galeazzo Visconti aus Mailand, der in seinem Todesjahr vergeblich Florenz belagert hatte, sie seien gefährlicher als eine Reiterabteilung. Salutati förderte humanistische Zirkel, zu denen etwa Niccolò Niccoli, der die Firma seines Vaters verkaufte und sich mit dem Geld eine große Sammlung alter Handschriften zulegte (nach seinem Tod kaufte Cosimo de’ Medici die Sammlung), Leonardo Bruni und Gianozzo Manetti gehörten. Viele von ihnen konnten Griechisch, was eine neue Dimension der antiken Kultur erschloss. 1397 errichtete Salutati in der Stadt

385

Die Kultur der Renaissance

406 Geschlechter­ türme in ­San Gimignano 407 Stadtplatz von Siena mit Schatten des ­Rathauses

einen Lehrstuhl für Griechisch und berief Manuel Chrysoloras aus Byzanz. Dieser von den Florentinern gefeierte intellektuelle Star wurde zu einer Symbolfigur für den anhebenden Strom griechischer Kultur aus dem Osten. Studenten schwärmten nach Konstantinopel, um dort Sprache und Kultur zu studieren. Wagenladungen von Büchern trafen aus Byzanz und Griechenland im Westen ein. Griechische Handschriften wurden zu einem begehrten Sammel- und Handelsgut, darunter Literatur, Philosophie, Geschichtswissenschaft und Schriften zur Technik. Dieser Kulturaustausch riss auch in osmanischer Zeit keineswegs ab. Neben Chrysoloras wurden andere Professoren für Griechisch bekannt: Johannes Argyropoulos reiste durch ganz Europa, besuchte 1454 die Schule Plethons in Mistra und unterrichtete in Florenz und Rom. Argyropoulos’ Schüler Konstantin Laskaris lehrte in Florenz, Neapel und Messina Griechisch – seine Grammatik von 1476 war das erste gedruckte Buch in griechischer Schrift im Westen –, sein Bruder Andreas Johannes Laskaris vermittelte Bücherlieferungen vom osmanischen Konstantinye nach Florenz und machte in Frankreich humanistische und neuplatonische Gedanken bekannt. Der Kreter Marcus Musurus lehrte in Venedig, Padua und Rom. Man liebte als Bildsujet im Quattrocento den heiligen Hieronymus in seiner Studierstube – den gelehrten Mönch, der die Vulgata schuf, die Übersetzung von Bibeltexten (vermutlich aus griechischen Vorlagen) ins Lateinische. (z.B. von Antonello da Messina) Giovannis Sohn, Herzog Cosimo Medici I., der später den Beinamen il Vecchio (der Alte) erhalten sollte, gelang ein beispielloser Aufstieg aus der Verbannung. 1434, fünf Jahre nach Giovanni di Biccis Tod, waren die Medici im Machtkampf mit der einzig verbliebenen Familie, die sich mit den Medici messen konnte, den Albizzi, unterlegen und Cosimo wich nach Venedig aus. Doch bereits nach einigen Monaten holten die Florentiner die Medici zurück und warfen die Albizzi aus der Stadt. Mit Cosimo il Vecchio begann die eigentliche Herrschaft der Medici in Florenz. Cosimo vergab an Michelozzo di Bartolommeo den Auftrag zum Bau einer Residenz. Im Audienzraum des Palastes waren Gemälde von Antonio und Piero Pallaiuolo, darunter die Drei Taten des Herkules zu sehen. Den Medici wird eine Neigung zum Allegorischen und Mystischen nachgesagt. Herkules galt in Florenz schon länger als Symbol der Tugend und Stärke, aber auch – aus Sicht eines republikanischen Stadtstaates, der autoritär regiert wurde, besonders delikat – als Tyrannentöter. Auch die Pallaiuolo-Bilder vom Stadtpatron Johannes dem Täufer und dem Stadtsymbol, dem Marzocco-Löwen, drücken Kraft und Stärke aus. Cosimo il Vecchio finanzierte

386

Die Renaissance

platonische ­Akademie

Flasch 2004, 29

Kristeller 1986, 36 1976, 104; Thomson 1983, 224ff

Lorenzo de’ Medici

Walter 2003

2.0.

den Umbau des Klosters San Marco und dessen Freskenausstattung durch Fra Filippo Lippi. Er versammelte Künstler wie Donatello, Brunelleschi, Fra Angelico und Botticelli um sich. Um 1462 gründete er in Careggi nahe Florenz auf Rat des byzantinischen Gelehrten Georgios Gemistos Plethon aus Mistra die platonische Akademie neu. Cosimo ließ den erst sechsjährigen Marsilio Ficino, Sohn seines Leibarztes, nach Lehrvorschlägen Plethons zum Humanisten ausbilden und machte ihn zum ersten Leiter der Akademie. Plethon war ein hervorragender Kenner persischer, osmanischer und islamischer Kultur und ein scharfer Gegner des Aristoteles. Er war im Tross des oströmischen Kaisers zum Konzil von Ferrara in den Westen gekommen, vielleicht sogar auf dem gleichen Schiff, mit dem auch Cusanus gereist war. Ob bereits Ficino von einer Akademie sprach, ist umstritten. Nach anderer Auffassung ging es bei der Akademie weniger um eine regelrechte Gründung, sondern um einen länger existierenden Gesprächskreis von Philosophen, Dichtern und Künstlern mit platonischer Ausrichtung, der erst im 17. Jh. als Platonische Akademie von Florenz bezeichnet wurde. Cosimo stellte Ficino für diesen Zweck eine der noch von Bicci erworbenen Medici-Villen in Careggi zur Verfügung. Solche Gründungen im Geiste Platons lagen in der Luft. Schon der Humanist Poggio Bracciolini, von 1453 bis zu seinem Tod Kanzler in Florenz, machte sein Landhaus in Valdarno nach dem Vorbild Ciceros zur academia valdarnina. Ähnliches unternahm auch Johannes Argyropoulos in seinem Florentiner Wohnhaus, der freilich Aristoteles bevorzugte. Auch andernorts entstanden ähnliche akademieartige Vereinigungen. Die Gonzaga in Mantua etwa bauten dem Vittorino da Feltre, einem Schüler des Humanisten und Griechischlehrers Guarino da Verona, die Villa La Giocosa zur Lehre der humaniora. Nach Cosimos schwerkrankem Sohn Piero, dessen Leidenschaft das Sammeln von Münzen und Handschriften war, stieg dessen Sohn Lorenzo de’ Medici zum klassischen Renaissancefürsten auf. Kaum zwanzigjährig musste er die Nachfolge seines Vaters antreten und gilt als der große Förderer der Kunst in Florenz. Seine Liebe zur Pracht trug ihm den Beinamen il Magnifico (der Prächtige) ein. Er machte aus Florenz ein zweites Athen. Als in der Weltgeschichte seltene kulturelle und wissenschaftliche Sternstunde war die Stadt ein äußerst kreativer Umschlagplatz von östlichen, sowohl byzantinischen als auch arabischen, und lateinisch-westlichen Ideen. Erstmals gab es den gesamten Platon und Plotin in lateinischer Sprache. Die Stadt wurde ein Magnet für Künstler, Mediziner, Mathematiker, Politiker, Philosophen und Literaten. Inzwischen ist auch auf die Schattenseiten der Herrschaft il Magnificos hingewiesen worden. Lorenzo überlebte einen Mordanschlag der rivalisierenden Pazzi im Dom, dem sein Bruder zum Opfer fiel, einen Krieg des Papstes gegen Florenz, weil die Stadt die Exkommunikation Lorenzos ignorierte, und das Kräfteringen mit dem fanatischen Bußprediger Girolamo Savonarola. Mit dem Tod Lorenzos endete die große Zeit von Florenz und auch die große Zeit der Medici. Savonarolas Hass auf Aufklärung, Humanismus und Kapitalismus entlud sich in einem regelrechten Kreuzzug, den der begnadete Redner gegen die Medici führte. Über die Eskapaden aufgehetzter Jugendlicher wurde bereits berichtet. Als sich Savonarola auch noch

387

Philosophie und Humanismus

mit Kirche und Papst anlegte, war der Bogen überspannt, er wurde gehängt und seine Leiche verbrannt. Der Einmarsch Karls VIII. von Frankreich in Italien kam zu Savonarolas Wüten noch dazu. Die Medici, in Gestalt von Lorenzos Sohn Piero II., verließen 1494 vorübergehend die Stadt. Piero war eine politisch schwache Figur, dafür versuchte er sich als Sammler von Handschriften und förderte die Dichtung. Die Unterbrechung des Mäzenatentums der Medici überbrückte Piero Soderini, 1502 zum Stadtoberhaupt (gonfaloniere) gewählt. Er war es, der Michelangelo einen riesigen Marmorblock schenkte, aus dem der Künstler drei Jahre später seinen David schlug. Das Mäzenatentum flammte unter Cosimo I., der sich auf Giovanni di Bicci zurückführte, neuerlich auf. Wirtschaftliche Gesundung und kulturelle Blüte gingen wieder Hand in Hand. Unter Cosimo I. entstand die Gemäldegalerie im Palazzo Pitti und er ließ von Giorgio Vasari die Uffizien bauen, das erste Museum der Welt. Sosehr Florenz zum Brennpunkt einer neuen Kultur wurde, so zurückhaltend erschienen die oberitalienischen Städte, die noch geraume Zeit der Gotik verbunden blieben. Insbesondere in Venedig malte man noch auf Goldgrund byzantinische Andachtsbilder. Die letzten Mosaiken der Markuskirche wurden erst um 1350 vollendet. Die Alpentransversale lieferte gotische Vorlagen aus dem Norden und dem Alpenraum, wo noch im 15. und sogar im frühen 16. Jh. Altäre mit überwiegend gotischem Formenrepertoire entstanden, nach Süden. Das nach der spätmittelalterlichen Blüte nun kulturell wieder unbedeutende nördliche Europa haftete noch lange am Mittelalter. Zudem fehlte eine humanistische Gesellschaft mit einschlägigen Schriftstellern. Erst mit Erasmus von Rotterdam, Hans Holbein d. Jüngere und Martin Luther, der zwar kein Humanist im klassischen Sinne war, aber mit großer und humanistischer Bildung aufwarten konnte, gelangte humanistisches Gedankengut auch dort zum Durchbruch und mit Albrecht Dürer die Renaissance.

4.0. Philosophie und Humanismus Jacob Burckhardt würdigte die Renaissance zwar als eine große Kulturepoche, sprach ihr aber weitgehend eine philosophische Gestaltung ab. Die Philosophiegeschichtsschreibung ist ihm bei diesem Befund mehrheitlich gefolgt. Demgegenüber sind die philosophischen Inhalte dieser Zeit jedoch keineswegs unbedeutend. Die Philosophie gedieh auf dem Substrat des Humanismus, aber auch neben diesem. Wenn Philosophie und Humanismus nun in einem Abschnitt behandelt werden, bedeutet das nicht, dass sich die Renaissancephilosophie im Humanismus erschöpft. Paul Oskar Kristeller hob sogar den Renaissanceplatonismus nochmals als eigenständige Bewegung heraus. Sicherlich gab es elitäre Platonikerzirkel und – wie schon erwähnt – blühte die Mysterienverehrung, sodass man im Renaissance-Neuplatonismus sogar ein Lehrgebäude sehen könnte, das sich nur Eingeweihten wirklich erschloss. Es geht hier aber nicht darum, den Platonismus als intellektuelle Strömung zu isolieren, sondern seine flächendeckende intellektuelle Dominanz als eine Art Leitkultur

Kristeller 1986, 33 Kristeller 1974, 58ff Bialostocki 1972, 129

388

Die Renaissance

zu dokumentieren. Zudem ist eine Abgrenzung eines reinen Platonismus von einem Aristotelismus gar nicht so einfach, weil dieser in der Renaissance vorwiegend in der platonisierenden arabischen Tradition rezipiert wurde. Die Renaissancephilosophie zeichnete sich über weite Strecken eher dadurch aus, dass ein Platonismus sozusagen aristotelisch »geerdet« erschien. Insofern sollte man diese Form des Platonismus im Rahmen der Renaissancephilosophie als wichtiges Kapitel der Geschichte des Platonismus lesen

4.1. Der Humanismus

III.2.4.3.f.

IX.3.6.

Der Humanismus der Renaissance erhielt kulturgeschichtlich sein Profil vor allem als vermeintliche Abkehr von der religiösen Gestimmtheit des Mittelalters. Auch beim Humanismus gibt es Anknüpfungsmöglichkeiten an die Antike, namentlich an den Humanismus der sophistischen Moderne. Humanistische Tendenzen finden sich bereits im späten Mittelalter und die Frage nach einem zureichenden Humanismus wird bis zur Gegenwart nicht mehr abreißen. Einen von mehreren Höhepunkten erreicht die Humanismus-Frage in der Gegenüberstellung der Positionen von Sartre und Heidegger. Für alle späteren Humanismuskonzepte bleibt indes die Gestalt des Renaissancehumanismus ein Maßstab. Nicht zu Unrecht verbindet man den Humanismus gewöhnlich mit dem Aufblühen von Florenz. Aber es war nicht nur eine italienische Angelegenheit mit den Zentren Florenz und Rom, sondern eine europäische.

4.1.1. Begriff und Bedeutung Der Ausdruck Humanismus stammt vom Philosophen und Theologen Friedrich Immanuel Niethammer. Er machte damit 1808 Werbung für die klassische Philologie als Antrieb für eine Bildung, die nicht auf praktische Verwertbarkeit ausgerichtet ist, sondern der geistigen Selbstbereicherung dient. Im engeren Sinn bezeichnet Humanismus eine Bewegung der Nachahmung und Wiederherstellung der klassischen, in erster Linie lateinischen, Literatur. Als Vorbilder galten für die Prosa Cicero und für die gebundene Form Vergil. Demgegenüber hielt man das Latein des Mittelalters für barbarisch. Als sich im 16. Jh. der Humanismus über ganz Europa auszubreiten begann und mit der Idealisierung des Griechischen durch Winckelmann im 18. Jh. verstärkte, rückten Griechisch und Hebräisch gegenüber dem Lateinischen in den Vordergrund. Die enge philologische Bedeutung hob auf den schon von Cicero definierten Menschen als ein Wesen der Sprache ab. Darin sah man gleichsam (pars pro toto) die intellektuelle Bildungsidee der Renaissance. Der Humanismus stützte sich auf die schon in der Antike (im Sinn einer freien literarischen Bildung) so genannten studia humaniora (vermutlich erstmals von Coluccio Salutati verwandt), jetzt das alte Trivium, das um Dichtung, Geschichte, Moralphilosophie und die bildenden Künste (im Sinne der Antike) erweitert worden war. Die Humanisten waren Universalgelehrte und Liebhaber von Literatur, Rhetorik, Architektur, Kunst und Wissenschaft: »Es ging nicht nur darum, schreiben zu können wie Cicero. Man wollte auch bauen wie Vitruv, man wollte die Physik kennen wie Archimedes; man wollte die Ge-

389

Philosophie und Humanismus

schichte ansehen wie Thukydides sie zu analysieren gelehrt hatte.« Baldassare Castiglione, Literat und Politiker an verschiedenen Höfen, formulierte in seinem Libro del Cortegiano (Buch vom Höfling) das Ideal des umfassend gebildeten Menschen, des uomo universale, und des idealen Lebens am Hof (wie er es bei den Montefeltro in Urbino vorfand). Er empfahl den Fürsten, statt Silbergeschirr zu horten, Marmorund Bronzestatuen zu sammeln. Das von Castiglione beschriebene gesellschaftliche Benehmen ließ sich »von den Bildern Raffaels ablesen.« Dieses in Büchern niedergelegte Bildungswissen füllte die Bibliotheken. Eine der größten besaß Pico della Mirandola. Sie ging zum überwiegenden Teil verloren. Sogar im Typus der Druckschrift (seit 1447 verbreitete sich der Buchdruck) gab es eine humanistische Wende. Die gotische Schrift wurde durch die leichter lesbare und elegantere littera antiqua ersetzt, eine sogenannte »humanistische Kursive«, an deren Anfang vermutlich Niccolò Niccoli stand und die von Salutati und vor allem von Poccio Bracciolini (dessen wunderbare Handschrift überall gelobt wurde) weiterentwickelt wurde. Das Zentrum der neuen Schrift wurde Venedig. Eine entwickelte Form kreierte der bereits erwähnte Aldus Manutius. Sie lehnte sich an die karolingische Minuskel an, die man für einen antik-römischen Typus hielt und sie deshalb imitierte. Der mit der griechischen Kursive berühmt gewordene Letternschneider im Atelier des Manutius hieß Griffo de Bologna (eigentl. Francesco de Bologna), dessen berühmtester Schüler wiederum Raffael war. Nach einem Urheberrechtsstreit um diese Kursive mit Manutius wechselte Griffo zu einem Konkurrenten. Wie schon gesagt, blieb der Humanismus kein »italienisches Idyll«, sondern wurde ein europäisches Phänomen mit fließenden Grenzen zwischen den Genres. Die Hochburg des Humanismus blieb dabei jedoch Italien und Studenten aus ganz Europa kamen zum Studium an die humanistischen Akademien. Mitte des 15. Jh.s waren mehrere Dutzend Schotten und Engländer in Italien, ebenso wie Deutsche, Franzosen, Ungarn und Polen. Beim Humanismus lassen sich lokale Eigenheiten feststellen und man kann von einem intellektuell ausgefeilten Humanismus der Florentiner, einem literarisch-ästhetischen, lateinisch orientierten Humanismus Roms und dem mehr sinnlichen, weniger reflektierten Humanismus Venedigs sprechen. In solch phänomenologischen Beschreibungen ist man erinnert an die Gestaltung der Kunst, wo Florenz das disegno, Venedig das colorire bevorzugte. Oder an die Architektur, wo Florenz durch klare Gliederung, Pisa durch reiche Skulptur und Venedig und Siena durch byzantinischen Geist charakterisiert werden. Der südliche Humanismus wiederum hebt sich generell vom Humanismus des Nordens ab. Im Hinblick auf die Kunst wurde bereits auf die spannungsvolle Beziehung zwischen Humanismus und Reformation hingewiesen, was dazu führte, dass im Norden kaum erwähnenswerte kunstphilosophische oder ästhetische Theorieentwürfe entstanden, vielmehr die Praxis im Vordergrund stand. Man darf nicht übersehen, dass die Reformation nicht für einen toleranten religiösen Pluralismus eintrat, sondern mit ähnlicher dogmatischer Verve wie die römische Kirche gegen Andersdenkende zu Felde zog. Volker Reinhardt hat seiner Untersuchung über Calvins Wirken in Genf den sprechenden Titel gegeben: Tyrannei der Tugend.

Flasch 2004, 12

Eser 2007, 459 Zeitler 1966, 49

Grafton 2002; Kristeller 1986, 19

Reinhardt 2009

390

Die Renaissance

Thomson 1983, 246f

Ebd., 247

V.7.1.

Der deutsche Humanismus war deutlich christlicher gesinnt als jener in Italien. Man suchte in den antiken Schriften Anknüpfungspunkte zum Christentum. Auf den großen humanistischen König Ungarns, Matthias Corvinus, und die engen Beziehung zu Italien wurde bereits hingewiesen. Auch Böhmen und Polen blickten nach Italien und beide Länder waren dem Humanismus gegenüber aufgeschlossen. In Spanien und Frankreich dauerte es länger, bis der Humanismus Fuß fasste. Mit Blick auf Frankreich sprechen Kulturhistoriker sogar von »Rückständigkeit«. Ursachen dafür waren wohl einerseits die einmalige Stellung, die Paris mit seiner Universität im Hochmittelalter besaß, und die starke Verwurzelung der Gotik in jenem Land, in dem sie entstanden war. Man kann die Überlegungen Harrison Thomsons gut nachvollziehen, der glaubte, dass erst die harte Konfrontation mit dem kulturell blühenden und geistig so frei gewordenen Italien in den Feldzügen um die Wende vom 15. ins 16. Jh. Frankreich »einen Stoß« versetzt habe. Die aufgeklärten Ideen des Humanismus boten auch Frauen eine Gelegenheit, in die männliche Dominanz einzubrechen. Christine de Pizan, die Biographin Karls V., wurde bereits im Mittelalter-Abschnitt erwähnt. Pernette du Guillet schrieb Poesie vor neuplatonischem Hintergrund. Die emanzipierte und mehrsprachige Luise Labé versammelte in ihrem Salon Literaten und vertrat ebenso humanistische Positionen wie Isabella Whitney, eine Erzählerin im Elisabethanischen England. Die venezianische Kourtesane Veronica Franco konterkarierte in ihren erst 1775 erschienenen Gedichten die idealen Vorstellungen der Liebe bei Petrarca.

4.1.2. Humanistische Positionen und die Spannung zwischen N­ aturnachahmung und Genie

Francesco Petrarca

V.8.1.

Stierle 2003

Italien, das am »nördlichen Mittelalter« kaum teilgenommen hatte, war der ideale Boden, um am schnellsten an der Antike anzuknüpfen. Meist wird der 1304 in Arezzo geborene Francesco Petrarca mit dem Titel eines ersten Humanisten ausgezeichnet. Von 1326 bis 1353 wirkte er am päpstlichen Hof in Avignon. Dort verfasste er noch antilateinische Traktate in griechischer Sprache. Später wandelte sich seine Einstellung zu einer freundlichen Haltung gegenüber dem Lateinischen. Er zog sich in den Vierzigerjahren des Jahrhunderts auf ein Landgut nach Fontaine de Vaucluse in der Nähe Avignons zurück und praktizierte dort die freie Lebensweise des Gelehrten und Dichters, fern von gesellschaftlichen Zwängen, aber eingebunden in eine jeder mittelalterlichen Askese abgeneigten Lebenspraxis. Die für ein solches Leben notwendige Bibliothek versuchte er stetig zu vermehren, indem er Klöstern nicht mehr gebrauchte Bücher abkaufte. Es war die erste Gelehrtenbibliothek im Westen. Auch in Italien, wohin er 1353 auf Drängen der Visconti ging, um als Diplomat in ihren Dienst zu treten, liebte er abgeschiedene Orte, hielt aber Kontakte zu den Intellektuellen Europas und inszenierte Auftritte bei Herrschern, wo er sich als poeta laureatus feiern ließ, zu dem er am 8. April 1341 auf dem Kapitol in Rom (am gleichen Tag hatte ihm auch die Universität von Paris den Dichterlorbeer angeboten) bekränzt worden war. Die Geschichte erinnert ihn als großen Dichter der Nationalsprache, er war aber ein ebenso bedeutender Gelehrter, der in der lateinischen Literatur, vor allem

391

Philosophie und Humanismus

bei Vergil, Cicero und Seneca, seine Maßstäbe fand. Wie schon erwähnt, war er ein heftiger Kritiker der scholastischen Methode, der er ein subjektiv getöntes antisystematisches Werk entgegensetzte. Petrarca verehrte Platon, den »Fürsten der Philosophie«, würdigte aber auch Aristoteles. Dieser beeindruckte ihn mit seinem Anliegen, dass bei aller Wissenschaft der Mensch im Vordergrund zu stehen habe, in diesem Punkt sogar mehr als Platon: »Denn was würde es mir nützen, die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen zu kennen und die Natur der Menschen zu verkennen oder zu missachten, das Ziel, zu dem wir geboren sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.« Gerne wird an ein kulturgeschichtliches Schlüsselereignis im Leben Petrarcas erinnert: die angebliche Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 zusammen mit seinem Bruder, die der Dichter in einem Brief an den Augustinermönch Dionigi im Kloster Borgo San Sepolcro hymnisch schildert. Auf dem Gipfel, dessen Besteigung er (anders als der an der Wissenschaft interessierte Gelehrte des Mittelalters Buridan, der bereits vor ihm auf dem Berg war) aus reiner Lust am Genuss in Angriff genommen hatte und wo er staunend (obstupui) innehielt, schlug er Augustinus’ Confessiones – ein Taschenexemplar davon hatte er von Dionigi geschenkt bekommen – auf und erwischte – welch ein Zufall – die passende Stelle, die nicht nur von großem Pathos getragen ist, sondern an die ästhetische Kategorie des Erhabenen erinnert: »Die Menschen gehen dahin und bewundern die Höhe der Berge, die großen Fluten des Meeres, die Küsten des Ozeans, die Bahn der Gestirne, und lassen sich selber außer acht.« Ob Petrarca den Berg tatsächlich bestiegen hat – den Brief kann er jedenfalls nicht zeitnah, sondern erst Jahre später geschrieben haben –, darüber rätseln bis heute die Philologen und Historiker. Das ist freilich eine ganz nebensächliche Frage gegenüber der literarischen Inszenierung, in die der Dichter das Ereignis kleidete. Es steht weniger für die von Petrarca angekündigte Hinwendung zum Christentum, sondern für seinen Zugang zur Natur als Inspirationsquelle und den neuen und ungewöhnlichen Wunsch nach einer Aussicht vom Gipfel, also nach nichts Geringerem als einer neuen Wahrnehmung. Jacob Burckhardt, Hans Blumenberg, Hans Robert Jauß feiern ihn dafür als ersten modernen Menschen mit ästhetischer Natur- und Weltsicht. Es gab übrigens in der Antike ein berühmtes Vorbild: Hadrian, der wegen der schönen Aussicht Berge bestieg, darunter den Ätna und den Keldag in Syrien, oder der Makedone Philipp V., der auf dem Haimos in Thessalien stand, was wiederum Livius in seiner Geschichte erzählte und Petrarca direkt angeregt haben könnte. Man könnte die Spekulation in beide Richtungen weiter treiben. Petrarcas Hinwendung zur Natur verfolgte die alte Symbolik von Arkadien als Ort der Kunst. Der Name seiner sagenumwobenen Muse Laura entspringt dem lateinischen Wort für Lorbeerbaum, auf Griechisch: Daphne. Daphne ist eine Nymphe und Schutzgöttin der Dichtkunst (mit dem Dichterlorbeer war er selbst bekrönt worden). Sie taucht immer wieder in den Arkadiendarstellungen auf, um den Garten zu einem Hort der Kunst

Kristeller 1986, 6f

Petrarca, zit. nach Ebd., 13

408 Der Mont Ventoux,­vorne: Pont ­St-­Bénézet; Avignon

Augustinus Conf. X,8

Roeck 2017, 374

392

Die Renaissance

7.3.4. Ritter 1963

Carrillo 1999, 71

Stierle 2006

Ebd. 2003

Carrillo 1999, 58

5.1.

die Akademien

zu verwandeln. Ansatzweise wird dieses Arkadien in der villeggiatura der Renaissance zu realisieren versucht. Der Gedanke, dass die Landschaft (die Joachim Ritter ausdrücklich von der Natur unterschied) ein Produkt des Geistes sei, wurde offensichtlich in der vom Rationalismus geprägten Gartenarchitektur. Die zwischen der Bergtour und Petrarcas brieflicher Reflexion verstrichene Zeit könnte als ein Aspekt für diese These fruchtbar gemacht werden. Der Vergleich von Petrarcas zweckfreier Schau auf die weite Landschaft mit der antiken theoria hinkt, denn Petrarca sah vom Gipfel des Berges aus weit und er sah eine konkrete Natur. Seine Expedition wäre daher eher eine stupende Symbolik für die Bemühung für »a more global view of the world.« Dass Joachim Ritter den Aufsatz zu diesem Thema in einen Sammelband mit dem Titel Subjektivität einordnete, zeigt, dass er durchaus an einen konstruktivistischen Zungenschlag denkt. Karlheinz Stierle gibt dem noch eine andere Wendung. Er gibt zu bedenken, dass Petrarca seiner Äußerung nach nicht mehr das Ganze, sondern eine Fülle von Einzelheiten sah, und schlägt eine Verbindung des philosophiekundigen Dichters zum Nominalismus: »Petrarcas Welt ist nicht ein wohlgeordneter Kosmos, sondern ein Meer der Kontingenz.« Damit wäre Petrarca aus dem bergenden Kosmos des Mittelalters herausgefallen in eine Kontingenzerfahrung, wo eine Ordnung erst hergestellt werden muss, also eine subjektive Anstrengung erfordert. Auch in dem ausdrücklich zur Schau gestellten mühsamen Mäandern beim Aufstieg (während sein Bruder den geraden Weg nahm), das gemeinhin als Metapher für das antisystematische und fragmentarische Werk Petrarcas im Speziellen und den narrativen Charakter der modernen Literatur gilt, läge ein klares Gegenmotiv zum geradlinigen mystischen und anagogischen Aufstiegsweg des Mittelalters vor uns, damit natürlich auch eine unterschwellige Abwendung von der Theologie des Augustinus. Mit einer solchen historischen Kontextualisierung lässt sich an der Mont Ventoux-Geschichte eine Wende vom Mittelalter zur Renaissance festmachen. Landschaft/Natur als Kultur entsteht im Blick des Subjekts, man erhält sie nie als fertig Gegebenes. Dies ist ein schönes Bild für die Kulturtechnik der Perspektive, die stets einer Konstruktion von Wirklichkeit entspricht und die dabei philosophische Ordnungsraster wie eben dann den Rationalismus dafür verwandte. Petrarca brachte den Humanismus nach Neapel, indem er den dortigen König Robert von Anjou zu Bildungsanstrengungen animierte. Alfons V. von Aragon, der als Alfons I. ab 1442 Neapel regierte, war ein großer Mäzen und bot vielen Humanisten, die mit der Kirche Probleme hatten, Schutz, darunter Lorenzo Valla. Der Humanismus blieb jedoch kein Vergnügen von Privatiers, sondern erhielt den Rahmen einer Institution. Die Rezeption dieses universellen Bildungswissens geschah – ähnlich wie jene der Philosophie – über die Akademien. Beginnend mit der Akademie in Florenz, deren Leiter, neben Marsilius Ficino dann Cristoforo Landino und Pico della Mirandola, in erster Linie Philosophen waren, gab es bald auch mehrere Akademien in Rom (ab 1464), Neapel und Venedig. Dort gründete Aldus Manutius 1502 eine Akademie, die sich dem Gedankenaustausch der Humanisten (in griechischer Sprache!) und der Verbreitung des (griechischen) Schrifttums widmete. Die neuen Einrichtungen waren zunächst für Humanismus und Philosophie wichtig und we-

393

Philosophie und Humanismus

niger für die künstlerische Tätigkeit, denn Aufgaben der Zünfte oder gar der Werkstätten übernahmen sie anfangs nicht. 1563 regte Giorgio Vasari schließlich in Florenz die Gründung der Accademia del Disegno an. Absicht war, die bildende Kunst und Architektur unter dem Kriterium des disegno zu betreiben. Kunst sollte unter die Fittiche einer geistigen Wissenschaftlichkeit genommen werden. Das disegno galt Vasari als Vater der drei Künste (padre delle tre arti), Palladio wiederum bezeichnete später die Geometrie als Mutter des disegno, womit der Stammbaum der Künste gut platonisch auf die Mathematik zurückgeführt wäre. Die Philosophenakademien entstanden aus freien Zusammenschlüssen von Gelehrten, die ganz bewusst gegen die in der scholastischen Methode erstarrten Universitäten eine neue freie Bildung vermitteln wollten. Noch ein Philipp Melanch­ thon im weit von Italien entfernten Norden dankte Florenz für das Zerbrechen der Scholastik. Die im mittelalterlichen Geist verharrenden Universitäten standen den Humanisten mit ihrem Hang zur Rhetorik, die im 16. Jh. sogar über die Philosophie gestellt wurde, naturgemäß sehr zurückhaltend gegenüber. Die Humanisten an den Universitäten – unter dem Titel humanista waren sie vorwiegend Latein- und Griechischlehrer – hatten kein Promotionsrecht und waren schlechter bezahlt als ihre Kollegen. Im 17. Jh. vereinigten die Akademien dann die Aufgaben der Zünfte mit jenen der Universitäten. Die europäischen Akademien der Neuzeit folgten nicht sosehr dem italienischen Vorbild, sondern dem der 1648 in Paris gegründeten Académie Royale de Peinture et de Sculpture, die zum Vorbild für die neuen Kunstakademien und dann Horte des Klassizismus wurden. Das Menschenbild, das hinter dem Curriculum der neuen studia humaniora stand, die der Verbesserung des Menschen dienten, skizzierte Giovanni Boccaccio in seiner genealogia deorum gentilium. Darin schildert er, wie die Menschen nach der alten Prometheus-Geschichte erst durch die Erfindung des Feuers zu ihrer Kultur kamen. Boccaccio lehnte die in der Antike verbreitete Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter am Anfang ab. Kultur sei vielmehr ein offener Prozess und der freie Mensch müsse sich die Kultur mit Hilfe der Technik mühsam erarbeiten. Ähnliches sagte auch Erasmus von Rotterdam, wenn er meinte, dass Menschen nicht als Kulturwesen zur Welt kämen, sondern zu solchen erzogen werden müssten. Basilius Bessarion (fälschlicherweise oft Johannes genannt) war der Kopf der griechischen Humanisten in Italien. Bessarion wurde 1403 in Trapezunt (heute Türkei) geboren, war einige Jahre in Mystras auf der Peloponnes, wo er bei Plethon studierte. Er nahm aktiv am Unionskonzil von Ferrara-Florenz teil und blieb dann – gefördert von den Päpsten – in Italien. Der Platoniker Bessarion war ein großer Brückenbauer zwischen Ost und West, auch in seiner Funktion als lateinischer Titularpatriarch von Konstantinopel, ein Amt, das er 1463 erhielt. Zudem förderte er die griechische Kultur in Italien und gründete in Messina eine griechische Schule. Sein Haus in Rom war ein humanistischer Debattierzirkel. Die umfangreiche Büchersammlung schenkte er 1468 der Bibliothek von San Marco in Venedig.

Conti 1987, 182f

Ebd., 184 VII.1.5.3.

Basilius Bessarion

409 Bibliothek von San Marco an der Piazzetta, gebaut v. Sansovino und Scamozzi (1588); Venedig

394

Die Renaissance

Johannes Reuchlin

Erasmus von ­Rotterdam

410 Erasmus v. ­Rotterdam, Porträt von Hans Holbein; LP

Naturnachahmung

Heller 1982, 455

Johannes Reuchlin, der vielsprachige Historiker und Philologe, wurde nach einem noch scholastisch geprägten Studium einer der ersten deutschsprachigen Humanisten. Auf drei Romreisen knüpfte er Kontakte zu Pico und Ficino und hinterließ ein reiches Schrifttum, in dem sich Magisches und Okkultes mit philologischen Methoden vermischten. Bekannt wurde seine große Toleranz vor allem in Glaubensfragen. Zu den bedeutendsten Humanisten nördlich der Alpen gehörte Erasmus von Rotterdam. Er war Priester und ein weltläufiger Gelehrter, der in Paris studierte und an den Höfen Englands und Burgunds verkehrte. Zu seinem Ruf trug nicht zuletzt ein berühmt gewordener, von Erasmus selbst gewünschter Kupferstich Dürers von 1526 bei (übrigens der letzte Stich vor dem Tod des Künstlers), ein eindrucksvolles Porträt des Humanisten inmitten seiner gedruckten Bücher, das große Verbreitung fand. Erasmus bediente sich der neuen Technik des Buchdrucks, um seine Botschaft zu verbreiten. Zwischen 1506 und 1509 besuchte er Italien und ließ in Venedig bei Aldus Manutius einige seiner insgesamt über 150 überwiegend in Latein und Griechisch geschriebenen Werke drucken. Mit dem Kniff ironischer Lobrede konnte er die schärfsten Gesellschaftskritiken, darunter Plädoyers gegen jeden Krieg, vor allem gegen den Glaubenskrieg, tarnen. Sein Meisterwerk dazu war das Lob der Torheit (1509), in dem er mit beißender Ironie der mit Torheit durchsetzten Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Eine delikate Frage ist jene über das Verhältnis des Erasmus zu Luther. Persönlich lernten sie sich nie kennen, sie standen aber im Briefwechsel. Erasmus, selbst scharfer Kritiker und Spötter der Missstände in der Kirche und Anhänger der Religionsfreiheit – weshalb Werke von ihm auf den Index kamen –, hegte höchste Sympathie für das Anliegen Luthers, wollte aber seine Unabhängigkeit bewahren und kam deshalb von beiden Seiten unter Druck. Er war kein Atheist und mahnte zu einem Reformkurs innerhalb der bestehenden Kirche. Darüber und über theologische Fragen, etwa die Freiheit des Willens betreffend (wo Erasmus gegen Luthers Gnadenlehre den freien Menschen vertrat), kam es zu einer Entfremdung zwischen den beiden. Ein zentrales Diskursfeld der italienischen Humanisten war die komplexe Frage der Naturnachahmung. Nehmen wir dazu nochmals den Grundgedanken der geschilderten Petrarca-Episode am Mont Ventoux auf: Der Triumph der Kultur über die Natur. Der Florentiner Humanist Angelo Poliziano, der in Florenz die klassischen Sprachen lehrte und die Söhne Lorenzo de’ Medicis erzog, trug Wesentliches zu diesem Fragenkomplex bei. Ähnlich wie Erasmus von Rotterdam sah er die Aufgabe der studia humaniora in der Befreiung des Geistes von der Natur. Auf dieser Grundlage meint der Begriff der imitatio zwar keine Befreiung hin zum Genie – vor der Renaissance gab es schlichtweg »keine Genietheorie« –, aber auch keine Nachahmung der Natur mehr, sondern die Nachahmung der (antiken) idealen Vorbilder. Auf dem langen Weg zur Hochrüstung zum Genie trat zuerst die klassische Skulptur an die Stelle der rohen Natur. Es oblag dem ingenium des Künstlers, die idealen Vorgaben der Naturveredelung zu erkennen und umzusetzen. Auch der große Philologe Lorenzo Valla bekannte sich in seinem Hauptwerk Elegantiarum linguae Latinae

395

Philosophie und Humanismus

libri sex (1444), mit dem der für seinen Sarkasmus bekannte Gelehrte die Schönheit der klassischen lateinischen Sprache nach der »Zerstörung« durch die »Barbarei« der Scholastiker wieder herstellen wollte, zu diesem Prinzip und akzeptierte als Gesetz, was bereits bedeutenden Autoren gefiel. Dabei ist nicht sklavische Vorgabe gemeint, sondern die Verwirklichung einer befreiten Kreativität angesichts der Herausforderungen der Zeit. Das Werk blieb bis gegen 1800 ein verbreitetes Lehrbuch der lateinischen Stilistik. Die Frage nach dem Gleichgewicht von Regel und künstlerischer Kreativität war ein Dauerbrenner in den Kunsttraktaten der Zeit und naturgemäß von den kulturellen Erzählungen der hohen Ausstattung des Individuums her angestoßen. War denn die Kunst nur der Affe der Natur (ars simia naturae)? Solche demagogischen Anfragen richteten sich gegen klassikverliebte Schüler Ciceros wie Paolo Cortese, die in der Imitation der Natur nach klassischen Regeln das einzige Rezept gegen Dekadenz und Barbarei sahen. Der Streit spiegelt den Verlauf der Renaissance wider. Die Epoche begann mit der aus der Antike inspirierten möglichst exakten Wiedergabe der Natur, die durch die Regulierung einer mathematischen Harmonie überhöht und wie in der Literatur gegen die »Unproportioniertheit« der barbarischen Gotik gestellt wurde. Später wurde die mathematische Regel idealisiert und im Geist von Ficinos Platonismus verstand sich die Nachahmung als künstlerdemiurgische Korrektur der unvollkommenen Natur. An diesem Scharnier klappt sozusagen eine regelgeleitete Kunst (ars) in das von Ideen geleitete Genie (ingenium) um. Der Chevalier Louis de Jaucourt warf später der Kunst vor Raffael Ungeschliffenheit vor, weil sie die Natur skrupulös nachgeahmt habe, ohne sie zu veredeln. Die Künstler hätten »nicht das geringste Feuer gehabt, der Funken ihres Genies habe sich nicht entzünden können.« Im Sinne der späten dynamischen Kunstphilosophie Platons galt es nämlich, die Idee anstelle der bloßen Natur nachzuahmen. Die Tendenz zur Befreiung von der strengen Naturnachahmung (manchmal wie bei Poliziano unter Berufung auf die Inspiration), welche die Freiheit des Künstlers beschnitt, wurde unübersehbar. Es war ein schmaler Grat, auf dem sich das künstlerische Genie zu emanzipieren begann. Erwin Panofsky umschrieb dies sorgfältig in folgender Weise: »Die Gültigkeit dieser überobjektiven und übersubjektiven Regeln mußte der Begriff der künstlerischen Idee allmählich beschränken: der künstlerische Geist, dem die Fähigkeit beigemessen wird, von sich aus intuitiv die Wirklichkeit zur Idee umzubilden, von sich aus eine Synthesis des objektiv Gegebenen zu vollziehen, bedarf im Grunde nicht mehr jener a priori gültigen oder empirisch begründeten Regulative, wie mathematische Gesetze, Zustimmung der öffentlichen Meinung, Zeugnisse antiker Schriftsteller, sondern es ist sein Recht und seine Pflicht, aus eigener Kraft die ›perfetta cognizione dell’obietto intelligibile‹ zu erwerben, als die der Sprachgebrauch des 16. und 17. Jahrhunderts nunmehr die Idea bezeichnete: […].« Giordano Bruno sprach so etwas ausdrücklich an. Am Beginn des 16. Jh.s – darin waren sich alle zeitgenössischen Beobachter einig – hatte die Kunst mit Michelangelo, Raffael, Leonardo und Tizian ihren Höhepunkt erreicht. Alle Probleme der malerischen Darstellung hatte man im Griff. Die-

Regel und ­Kreativität

Pochat 1996, 264f

Conti 1987, 228

Panofsky 1924, 112f

396

Die Renaissance

8.0. VII.4.2.2.

Gerl 1989, 158

IV.8.2.ff.

Panofsky 1924, 92

Kantorowicz 1998

Pico della Mirandola, De hom, 7

se Sättigung stimulierte den Funken der Originalität und führte zum Manierismus, welcher als Undiszipliniertheit und Abweichung von der Regel denunziert wurde. Der eigentliche Streit zwischen (regellosem) Genie und den antiken Vorgaben fand erst später in der Klassizismus-Kontroverse statt, aber alle diese Autoren schrieben ein Kapitel zum Geniebegriff: »Es gibt kein ›an sich‹ eines Gegenstandes, der sich ›als solcher‹ darstellen ließe. Es gibt vielmehr den durch das Ingenium vermittelten Gegenstand.« Naturgemäß war es der Humanismus, der das Entstehen des kreativen Genies in der Renaissance stützte. Der mittelalterliche Künstler war demgegenüber an die Vorgaben der göttlichen Harmonie gebunden, jener im byzantinischen Osten sogar an das Muster des ohne Hand gemalten Christusbildes. Er blieb ein Handwerker, der diese Vorgaben ohne Ambition einer künstlerischen Originalität umsetzen musste, auch wenn er seine Arbeit mit einer Signatur dokumentierte, sei es aus Stolz über die erreichte Qualität, sei es, um sich als Diener eines göttlichen Auftrags kenntlich zu machen. Der verbreitete Platonismus der Renaissance-Philosophie hat den Gedanken des furor poeticus gefördert und ihn zugleich in die neue humanistische Form des Genies übersetzt. Ist Dichtung eine Fertigkeit, gar eine Wissenschaft von Regeln oder eine Eingebung? Diese Frage gilt in Verlängerung ebenso für den Maler. Dichter wie Künstler tauchten als Inspirierte und als vom göttlichen Wahnsinn durchdrungene Visionäre ebenso auf, wie als Rhetoren und Gelehrte. Dichter wie Künstler waren demnach Teile des demiurgischen Weltumbaus, ihre Legitimation als göttlich Inspirierte oder bloß als begabte Menschen schwankte, wie eben die Renaissance in die Neuzeit kippte und wie sich zum Humanismus die Aufklärung gesellte. Diesen Kontext stützte eine reiche Literatur zur Würde des Menschen, darunter Pico della Mirandolas De hominis dignitate oder Giannozzo Manettis De dignitate et excellentia hominis. Der Mensch hat die Möglichkeit, die von Gott geschaffenen Dinge noch schöner zu machen. Dabei kann man sich Gott selbst als Künstler und Architekten vorstellen, auch als größten Dichter, und sein bedeutendstes Gedicht sei die Welt. Diese ist nach Manetti aber nur ein Rohentwurf und es bedürfe des Menschen als Zweitschöpfer, um das Schöpfungswerk Gottes zu vollenden. Letztlich ging dem Nachahmungsgedanken »in der Kunstliteratur der Renaissance von Anfang an der Gedanke der Naturüberwindung parallel […].« Nicht nur im Vergleich mit dem Mittelalter, sondern auch im Vergleich mit dem Islam ist das eine ganz andere kulturelle Erzählung. Nicht vom Menschen als Plagiator ist hier die Rede, sondern vom Vollender des (offenbar unbefriedigt gebliebenen) Schöpfungswerks. Ernst Kantorowicz sah in der Dichterkrönung Petrarcas durch den römischen Senat die Eroberung der Stellung des mittelalterlichen göttlichen Schöpfers durch den Renaissance-Künstler. In manchen Bemerkungen lässt Pico della Mirandola durchaus die Originalität des Künstlers über das vermeintliche Vorbild triumphieren: »Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.« Die Zuschreibungen zu diesem Thema sind in der humanistischen Philosophie ebenso vielfältig wie die Beschreibungen

397

Philosophie und Humanismus

ästhetischer Charakteristiken. Schönheit wurde unisono als hohes Gut anerkannt. »Wer die Schönheit nicht lobt, muss an der Seele oder am Körper blind sein«, sagte Lorenzo Valla. All das impliziert jedenfalls die Aufforderung an den Menschen, sich dieser neuen Kräfte zu bedienen, sich also in der Gestaltung von Politik, Kunst und Wissenschaft an der Natur abzuarbeiten. Vallas freimütige Kritik am mittelalterlichen Latein und sein befreiender Humanismus brachten ihm die Inquisition an den Hals und zwangen ihn zu mehreren Ortswechseln. Er konnte die Anfeindungen jedoch souverän parieren, weil er auch ein hervorragender Kenner der Scholastik und des Thomas von Aquin war. Seine Fähigkeiten waren unbestritten und Nikolaus von Kues empfahl ihn dem ersten humanistischen Papst und Förderer von Literatur und Wissenschaft, Nikolaus V. Er holte ihn schließlich als Übersetzer und Philologen in seine Geburtsstadt Rom. Dies hinderte den Unbestechlichen jedoch nicht, mit seinen kritischen philologischen Studien gegen die weltliche Macht des Papsttums zu kämpfen und die Konstantinische Schenkung als Fälschung zu entlarven.

4.1.3. Der Paragone zwischen Literatur und Kunst Der Humanismus begann, wie dargestellt, mit der Verehrung der Literatur. Cristoforo Landino hob die Literatur über alle anderen freien Künste hinaus. Die Kurzformel für den Paragone zwischen Literatur und Kunst, das Horazsche ut pictura poesis, war stets präsent. Die rhetorische Kunst der Ekphrasis, also der Evokation von Bildern im dichterischen Wort, wurde hoch gepriesen. Umgekehrt galt die Malerei als Sprache einer kulturellen Botschaft. Schöne Beispiele dafür sind die Holzschnitte und die perfekt beherrschten Kupferstiche Dürers, die vor allem ein analphabetisches Publikum in ihren Bann zogen. Sie ließen sich lesen wie ein Buch. Ein besonders reizvolles Kapitel dieses Wettbewerbs war die Emblematik, wo Wort und Bild gleichwertig waren oder es sogar zu einem Medienwechsel vom Wort zum Bild kam. Die schönen Künste in unserem modernen Sinn waren zu Beginn der Renaissance als Fertigkeiten immer noch Teil der artes mechanicae. Allerdings war inzwischen die Zunftordnung der italienischen Stadtstaaten dazugekommen. Die Zünfte förderten die Kunst, freilich nicht uneigennützig, was die Vergabe von Aufträgen betraf. Die Maler in Florenz gehörten (als nicht vollberechtigte Mitglieder) zu den Ärzten und Apothekern, in Bologna zu den Papiermachern. Bei den bildenden Künstlern wuchs zwischen der frühen und der späten Renaissance ein Bewusstsein von der Ebenbürtigkeit mit den Dichtern, ja mit zunehmender Sicht der Kunst als Wissenschaft ließ sich die Malerei sogar über die Dichtung stellen. Insbesondere in der Spätrenaissance gewann der bildende Künstler erheblich an Statur. Für Leonardo waren der theoretische Gehalt und die Wissenschaftlichkeit der Malerei so selbstverständlich, dass sie aus seiner Sicht nichts mit Handwerk zu tun hatte. Der Praktiker Michelangelo spöttelte zwar über solche Theorieverliebtheit, das tat aber dem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. Auf die Gründung der Accademia del Disegno 1563 in Florenz wurde bereits hingewiesen. Dort sollten nach den drei Vorbildern, Raffael, Leonardo und dem »göttlichen« Michelangelo die drei »Töchter« des (»Va-

Conti 1987, 137 6.1.

398

Die Renaissance

Kemp 1997, 296 Conti 1987, 96

Steinemann 2006, 289

7.3.4.

ters«) disegno, Malerei, Bildhauerei und Architektur, unterrichtet werden. Dies verbesserte die Stellung der späteren schönen Künste weiter. Die Künstler des 16. Jh.s schauten hochmütig auf ihre Kollegen des 15. Jh.s. Sie hatten den Paragone gegen die Literatur gewonnen. Eigenartigerweise ging das in Italien mit einem Rückgang von Künstlersignaturen einher. Ob das nur religiöse Gründe hatte – der Bologneser Kardinal Gabriele Paleotti sah in seinem Discorso intorno alle imagini sacre e profane (1582) im Anschluss an das Konzil von Trient in der Signatur nur einen Ruhm der Künstler und eine schädliche Wirkung auf das gegenreformatorische Bild – oder ob ästhetische Gründe dafür maßgeblich waren, ist nicht klar. Manchmal wird in der Forschungsliteratur von einem Ende des Humanismus in der Spätrenaissance gesprochen. Einer solch engen Humanismusauffassung ist entgegenzuhalten, dass gerade zu dieser Zeit ein aristokratischer Humanismus bei den Eliten blühte, die das antike Lob des Landlebens anstimmten. In den Bibliotheken ihrer von Palladio gebauten Landhäuser studierten sie das antike Wissen und diskutierten die mythologischen Inhalte der nach zeitgenössischer Mode verrätselten Bilder auf den Wänden ihrer Villen.

4.2. Die Philosophie der Renaissance und ihre kunstphilosophischen Gehalte

Platonismus und Aristotelismus

In der Philosophie der Renaissance spiegeln sich die Umbruchsbewegungen wider. Einerseits wird die flächendeckende »Grundwissenschaft« einer prima philosophia, also die Seinsmetaphysik, zugunsten einer in alle Richtungen offenen Wissenschaft verdrängt. Die Aufgabe war es dann, eine passende philosophische Vernunft zu finden. Denn andererseits – als Folge dieser tastenden Suche – kristallisierte sich aus dem plötzlich so offenen Konglomerat von Magie und Empirie erst allmählich eine wissenschaftliche Methode heraus, deren genauere Konturen als Rationalismus und Empirismus die Tore in die Neuzeit abgaben. Dass die Philosophie der Renaissance in erster Linie platonisch inspiriert war, ergibt sich konsequent aus dem Rückgriff auf die ganze Breite der antiken Wissenskultur. Aristoteles war weniger attraktiv, zu sehr war er mit der mittelalterlichen Scholastik verknüpft. Allerdings war in Italien die Instrumentalisierung des Aristoteles für die Theologie weniger ausgeprägt als in Frankreich und an den deutschen Universitäten. Daher gab es auch Aristoteliker in der Renaissance, deren Aristotelismus mehr oder weniger platonisch überformt war und die sich nicht vor Kritik vor allem an der aristotelischen Naturphilosophie und der Poetik scheuten und in kritischer Distanz zu Aristoteles den Weg in die Wissenschaften der Neuzeit wiesen. Der Aristotelismus entfaltete seine Wirkung ausgerechnet als impliziter Anteil am Platonismus: Zum Unterschied von der neuplatonischen Platonrezeption des Mittelalters, die im Osten wie im Westen die spirituelle und anagogische Seite in den Vordergrund stellte, rezipierte man nun Platon in einer humanistischen Leseart. Die Plotinsche Emanations- und Ausstrahlungsfigur wurde auf Platon zurückgedeutet und mit Aristoteles geerdet. Das führte zu einer naturalistischen Wende der Lichtphilosophie. Die Kraft des den Kosmos durchleuchtenden Lichtes macht das Diesseits kostbar, verleiht ihm einen Wert an sich und nimmt es nicht mehr nur als

399

Philosophie und Humanismus

Absprung für das Entschwinden ins Jenseits. Der Naturalismus, der im Mittelalter durch die Aristoteles-Rezeption eingeleitet worden war, wurde nun mit dem Platonismus aus seiner scholastischen Enge befreit und mit der antiken Kultur neu buchstabiert. Der im Averroismus platonisierend interpretierte Aristoteles, jener des Themistios, Alexander von Aphrodisias, Simplikios und eben des Averroës, war kaum ein Widerspruch zu Platon, vielmehr ließ er sich mit diesem – insbesondere dem der späten Schriften – arrangieren. Wenn man von der nicht unwahrscheinlichen Annahme ausgeht, dass Platons späte Einlassung zur Naturfrage im Timaios nicht zuletzt von kritischen Mitgliedern der Akademie, die »aristotelisch« dachten, veranlasst worden war, wäre die Naturalisierung Platons in der Renaissance eine späte Genugtuung für Aristoteles. Die Universität von Padua, durch den Anschluss Paduas an Venedig 1405 eine venezianische Einrichtung, war eine Hochburg dieser Rezeption. An ihr studierten zahlreiche Studenten aus Nord- und Osteuropa. Bisweilen schoben sich freilich auch die Differenzen zwischen Platonismus und Aristotelismus in den Vordergrund. Leonardo frönte in seinen Schriften dem Kult des Auges. Er sah in ihm ein Fenster, »durch das wir die Schönheit der Natur genießen«. Das Auge stand für ein empirisches Interesse und wurde für die Platoniker zu einer negativen Metapher. Der portugiesische Philosoph und Dichter Jehuda ben Isaak Abravanel, auch Leone Ebreo genannt, wollte in seinen Dialoghi d’amore die Liebe nicht auf sinnliche, sondern auf geistige Objekte, auf Ideenbilder, ausgerichtet wissen. Der Platon nachempfundene Dialog gewinnt seinen Reiz von da her, dass die Gesprächspartner Sofia (allegorisch für Weisheit) und Filone (allegorisch für Begehren) symbolisch für die platonische und aristotelische Philosophie stehen. So achtet Filone manchmal nicht auf Sofia, weil er ein körperloses Idealbild liebt und nicht ihren schönen realen Körper. Kunstphilosophisch gesprochen könne – so der Platoniker Ebreo, der gegen den aristotelischen Kult sinnlicher Schönheit polemisiert – die Schönheit der Idee eines Künstlers durch die Umsetzung in den Stoff nur verlieren. Ebreo vertrat gut platonisch eine objektive Schönheit, jede Relativierung liege allein beim Rezipienten, bei dessen (durch die Sinne verminderter) Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung. Genau besehen spiegelt sich in solchen Kontroversen ein anderer Konflikt, nämlich jener über den Stellenwert des Menschen als Individuum. Sind Künstler und Dichter gestaltende Individuen oder sind sie, wenn sie die schlechte Natur durch ihre Inspiration verbessern, Werkzeuge des göttlichen Eros? Das ist eine jener Fragen, die einen langen Klärungsprozess durchlaufen und im Sinne unserer Renaissance-Charakterisierung klären, wie sich die Kultur Europas verändert. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass mit der Wiedergewinnung der Antike auch ein Aufschwung des Paganismus und Hermetismus einherging. In dieser, teilweise als Konkurrenz zum Humanismus entworfenen, Tradition könnte man ein delikates Spezifikum der Renaissance sehen. Die heidnischen Götter und ihre Botschaften waren nicht nur Dekor für Bilder und Mosaiken, ihnen zu Ehren wurden Tempel errichtet. Die alten kabbalistischen Mysterien und Chaldäischen Orakel erlebten eine neue Blüte. Ficino förderte die Lehre des Hermes Trismegistos gerade-

V.3.3.

Leonardo, zit. nach Belting 1990, 234

400

Die Renaissance

II.2.7. IV.6.1.

411 Nikolaus von Kues, Hochaltarbild; ­Bernkastel-Kues

Nik. v. Kues, Con cath lib.2, c.19,168

Hempel 1953 Baum 1983, 287f Gerl 1989, 42 Boehm 1969, 137

wegs gegen die Scholastik und den Aristotelismus. Er hatte das Textcorpus zur Übersetzung von Cosimo erhalten, dem es 1460 von Leonardo da Pistoia aus Makedonien gebracht worden war. 1471 erschien Ficinos Übersetzung in Treviso. Bereits Michael Psellos hatte das Corpus entdeckt.

4.2.1. Nikolaus von Kues Niklas Kryffts (Krebs), 1401 geboren, stammte aus einer wohlhabenden Familie in Bernkastel-Kues an der Mosel, dem damaligen Wasserweg zwischen Nord und Süd. Er schlug eine erfolgreiche kirchliche Laufbahn ein. In Padua lernte er nicht nur den italienischen Humanismus kennen, sondern legte auch den Grundstein für seine umfangreichen europäischen Netzwerke. 1433 spielte er als Sekretär des zeitlebens um seine Anerkennung kämpfenden Erzbischofs von Trier Ulrich von Manderscheid mit der Reformschrift De concordantia catholica eine wichtige Rolle beim Konzil von Basel. Ganz im Geiste des Marsilius von Padua formulierte er demokratische Sätze, dass alle Gewalt vom Volk komme, die geistliche ebenso wie die weltliche und körperliche (»quomodo in populo omnes potestates tam spirituales in potentia latent quam etiam temporales et corporales […]«). Er wuchs inmitten der Gotik auf. Im aufreibenden Amt des Fürstbischofs von Brixen (1452) war Cusanus von gotischen Meisterwerken des Alpenraums umgeben. Man sagt ihm einen guten Geschmack und Beziehungen zu Künstlern nach. In Padua soll er zusammen mit Paolo Toscanelli Experimente zur Perspektive durchgeführt haben. Anregungen seiner Philosophie auf Künstler, wie sie einige Zeit für die Malerei von Michael Pacher kolportiert wurden, sind inzwischen eher umstritten. Trotz dieser Nähe zur Gotik ist Cusanus kein Mann des Mittelalters mehr, sondern eine »Ursprungsgestalt des neuzeitlichen Denkens.« In seiner Philosophie »blickt uns das Janus-gesicht Mittelalter-Neuzeit an […].« Er war ein großer Erneuerer mit Rückgriffen auf die Antike. In Rom lernte er, inzwischen zum Kardinal ernannt, die Renaissance kennen. Man vermutet eine Begegnung mit seinem Zeitgenossen Alberti. Die Gedanken des Cusaners erreichten Giordano Bruno, Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und Leonardo da Vinci. Möglicherweise waren es die tiefen Spaltungen, mit denen er als päpstlicher Legat konfrontiert war, die ihn zur Reflexion über das Wesen von Einheit und Gegensatz anregten. 1437 reiste er nach Konstantinopel, ein nachhaltiges Erlebnis, auf das er sich in seinem Leben immer wieder berief. Er bewog die dortigen Kirchenvertreter zur Teilnahme am Unionskonzil in Ferrara (1438–1439). Angesichts der prekären Lage, in der sich Konstantinopel befand, blieb ihnen nicht viel anderes übrig, als sich dem Drängen zu fügen. Das Konzil wurde nach stockendem Beginn in Ferrara durch großzügiges Sponsoring Cosimo de Medicis in Florenz fortgesetzt. Die Medici, die gute Geschäftsbeziehungen zu Konstantinopel pflegten, setzten mit dem Auftrag an Benozzo Gozzoli, das Fresko Die Anbetung der Magier zu malen, ein Zeichen für die Versöhnung der Kirchen. Schließlich war das Konzil für die Medici (und für die Kultur!) ein größerer Erfolg als für die Sache der Kirche. Abseits von den offiziellen Verhandlungen bot das Konzil eine Plattform der gegenseitigen Bewunderung

401

Philosophie und Humanismus

für die jeweiligen künstlerischen Leistungen. Die orientalischen Delegationen bestaunten die Bauten in Ferrara und Florenz und präsentierten ihrerseits stolz syrische, äthiopische, ägyptische Manuskripte, darunter solche in arabischer Sprache. Dass die mittelalterliche scholastische Methode für die Unübersichtlichkeit der modernen Zeiten kaum ein Instrument besaß, hatte der fortschrittlich denkende Cusanus sehr schnell gesehen und sich aus dieser Tradition gelöst. 1440 legte er ein erstes Ergebnis dieser Reflexion vor: De docta ignorantia (Über die gelehrte Unwissenheit). Der Titel spiegelt die Tatsache wider, dass sich die letzte göttliche Wahrheit unserem Wissen entzieht, und er setzt eine andere Pointe als das scholastische fides quaerens intellectum. Die endliche Vernunft kann den Einheitsgrund allen Denkens, das Unendliche, nicht denken, allenfalls seine Andersheit. Die Vernunft erfährt daher ihr Nicht-Wissen als gelehrte Unwissenheit. Die auf das Nichtwiderspruchsprinzip fixierte Scholastik wurde überboten durch den Grundsatz der coincidentia oppositorum (Zusammenfall der Gegensätze). Eigentlich war dieser Gedanke keine Überbietung, er war mehr: Er war ein Schlag gegen die Scholastik, die allen Eifer daran gesetzt hatte, »die Prädikate zu sortieren«, während diese bei Cusanus in Gott, der »ein unendliches Meer« sei, schlicht ertranken. Das wiederum koloriert den Gedanken von der Unbegreifbarkeit des Unendlichen und den negativen Weg zu Gott. »Entsprechend dieser negativen Theologie, der gemäß Gott nur der Unendliche ist, gibt es weder den Vater noch den Sohn noch den Heiliger Geist.« Jede endliche Erkenntnis ist ein Gleichnis des Unendlichen, zugleich eine Teilhabe des Endlichen am Unendlichen. Endlichkeit und Unendlichkeit bleiben dialektisch verknüpft. Es ist eine Indifferenz, die jeder Differenz vorhergeht. Sie setzt einen Gott voraus, der nicht über oder neben den Dingen, sondern in ihnen ist. Er findet seine Wirklichkeit »nur im unendlichen Durchgang durch alle Explikationen, d.h. aber faktisch defizient.« Jahrhunderte vor Hegel fällt bereits die dialektische Zauberformel von der Identität von Differenz und Indifferenz: »[…] vor dem Unterschied von Unterschiedslosigkeit und Unterschiedenheit« (»ante differentiam indifferentiae et differentiae«). Der Grundgedanke, an dem sich Cusanus ein Leben lang abarbeiten wird, soll ihm nach eigenem Bericht während der langen Überfahrt von Konstantinopel nach Venedig gekommen sein. Es ist auch ein Gedanke der Relativierung von vielen Dingen, die bisher als Fixpunkte betrachtet wurden: die Sterne, das Weltall, die Bewegung. Aber es ist auch eine Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Angesichts des vielen Wissens könne das Nichtwissen zu einem kreativen Geschäft und zur Auszeichnung von Gelehrtheit werden – wem fällt bei solchen Reflexionen nicht das berühmte Diktum des Sokrates vom Wissen um das eigene Nichtwissen ein? Cusanus denkt diese Zusammenhänge nicht empirisch, sondern philosophisch, wozu auch die Mathematik gehörte. Um im Sinne eines »Berührens« der Unendlichkeit zum Unerkennbaren zu gelangen, müssen wir so vorgehen, als übertrügen wir die Eigenschaften von endlichen mathematischen Figuren auf unendliche. Bei unendlichen Figuren fallen alle Gegensätze des Endlichen, wie z.B. gerade und krumm, in eine Einheit zusammen. Das Endliche erscheint als Abbild des Unendlichen und ist

Brotton 2002, 98ff

De docta ­ignorantia

Flasch 2004, 40

Nik. v. Kues, De docta 1,26

Boehm 1969, 155 Nik. v. Kues, De ven sap c.XIII

Flasch 2004, 29

Gott

402

Die Renaissance

Nik. v. Kues, De beryllo 6

Zweitschöpfer

V.3.3.2.

Schmidt-Biggemann 2004, 24

Flasch 2004, 386

zugleich dessen Erscheinung. Dieses platonisierende Denken des Cusanus kennt einen emanativen Aspekt, insofern sich Gott – als kreis- oder punktförmige Einheit vorgestellt – als »Einfaltung« (complicatio) in die Vielheit »ausfaltet« (explicatio). Die Präsenz des Unendlichen im Endlichen, die Abbildhaftigkeit des menschlichen Geistes vom göttlichen, ermöglicht es Cusanus, die aufklärerisch-sophistische Bedeutung vom Protagoras-Satz, der im Menschen das Maß aller Dinge sah, abzuschütteln und ihn so zu deuten, dass dem Menschen die Rolle eines zweiten Gottes als Zweitschöpfer und als Mikrokosmos zukommt: »An vierter Stelle beachte den Ausspruch des Hermes Trismegistos zu: der Mensch ist ein zweiter Gott. Denn so wie Gott der Schöpfer der wirklichen Seienden und der natürlichen Formen ist, ist der Mensch der Schöpfer der Verstandesdinge und der künstlichen Formen. Diese sind nichts anderes als Ähnlichkeiten seines Denkens so wie die Geschöpfe Gottes Ähnlichkeiten des göttlichen Denkens sind.« Solche angesichts von Platons Polemik gegen den Protagoras-Satz (ähnlich jener der mittelalterlichen Philosophen) ziemlich gewagten Aussagen fallen im Werk De beryllo (Der Beryll, manchmal auch: Über die Brille; aus dem Beryll fertigte man Brillen). Man müsse die alten Ideengebäude mit neuer Brille sehen. Was ist das für eine Brille? Ist sie schon eine der Neuzeit? Sie ist jedenfalls keine mehr des Mittelalters! Kunstphilosophisch ist diese avancierte Zweitschöpfer-Theorie ein wichtiger Gegensatz zum Islam. Der Künstler stieg dort nie in diese Rolle auf, dies wäre als Plagiierung der Schöpfungstat Gottes äußerster Frevel gewesen. Daher durfte der Künstler auch keine beseelten Wesen im sakralen Bereich gestalten. Denkbar wurden solche Gedanken nur durch die Idee der Inkarnation. Trotz dieser Präsenz des Göttlichen im Endlichen bleibt das Göttliche entzogen und unerkennbar. Der Zusammenfall aller Gegensätze in der coincidentia oppositorum ist daher keine Beschreibung Gottes, sondern eine Annäherung an ihn. Cusanus spielt mit den vier Zahlen der Tetraktys, ordnet ihnen Wahrheiten, Einheiten des Geistes und metaphysische Entitäten zu: Gott, Intelligenzen, Seele, Körper. Je größer der Abstand von Gott, die Andersheit gegenüber dem Einen (alteritas), umso mehr nimmt die Gegensätzlichkeit zu, am größten ist sie im Bereich des Körperlichen (De coniecturis). Mit dem neuplatonischen und pythagoreischen Hintergrund ist dies hier eine »Mathematik, die nicht operational denkt, sondern prozessual.« Der letztlich auch kabbalistische Gehalt dieser Lehre situiert Cusanus durchaus in die Renaissance. Das zutiefst dialektische Verhältnis von Gott und Mensch zeigt sich in den Werken De quaerendo deum (1445) und De visione dei (1453). Um Gott zu erfahren, müssen das Licht der göttlichen Gnade und das menschliche Verlangen zusammenwirken, denn er kann nur erfahren werden, wenn er sich offenbart. Der dem neuplatonischen Verhältnis entspringende Offenbarungsakt bringt Gott und Mensch in ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis und stiftet die Bildphilosophie, wie wir sie bei der Ikone kennen gelernt haben. Insbesondere das mystische Werk De visione dei (Das Sehen Gottes) – nie »hat Cusanus weniger ›scholastisch‹ geschrieben als hier« – bringt dies mit faszinierender Kraft zum Ausdruck und buchstabiert

403

Philosophie und Humanismus

die alte Ikonenphilosophie völlig neu. Nikolaus beschreibt eine Christus-Ikone mit wanderndem Blick, die er den Adressaten der Schrift, den Benediktiner-Mönchen des Klosters Tegernsee, geschickt hatte. Es interessiert ihn nicht das Kunstwerk als solches, vielmehr exemplifiziert er daran seine ontologische Überzeugung. Der Blick der Ikone folgt dem Betrachter, auch wenn dieser den Standort wechselt. In dieser Erzählung sprengt Cusanus die herkömmliche Bedeutung der Ikone, die statuarisch den Bezug zum Subjekt über einen Akt der Meditation, aber keinesfalls über den Blick, herstellte. Hier aber geht es um den Tausch von Blicken. Dabei geht es nicht um den in der Ikonentradition durchaus verwandten, das Allsehen Gottes symbolisierenden Blick, vielmehr gibt es ein definiertes Subjekt, das diesen Blick aus verschiedenen Perspektiven erwidert. Hans Belting strich diesen Aspekt einer Kontrastierung des unendlichen Blicks mit dem endlichen Blick seiner Geschöpfe heraus: »Das Monopol von Gottes Blick durfte nicht von einem Betrachter annektiert werden, der seinen eigenen Blick ikonisch machen wollte.« Mit Belting könnte man in Cusanus den Konflikt zwischen dem Theologen und dem Humanisten erkennen, ein Konflikt, der zeigt, »was für ein Problem es war, zwischen dem perspektivischen Blick und der theozentrischen Ikone eine Balance zu halten.« Cusanus denkt bereits im Rahmen der neuen Revolution der Perspektive. Sein Zeitgenosse Alberti gab sich das Emblem eines geflügelten Auges. Es erinnert an die Höhenflüge des Ikarus, ist doch das Auge am Himmel das Vorrecht Gottes, das der Mensch nun für sich reklamiert und seine Standortwechsel geflügelt durchführt. Cusanus’ Ikonengeschichte steht symbolisch für einen Gott, dessen Schauen zugleich Erschaffen ist. Dies entspricht dem Explikations- und Implikationsgang. So wird der Betrachter selbst im Augenblick der Schau, seiner eigenen, die mit jener Gottes verschmilzt, geschaffen. Cusanus beschreibt jene neue Wirklichkeit einer gott-menschlichen Symbiose, wie sie sich aus der kinesis erotike, der erotischen Austauschbewegung, ergibt. Gott ist nicht das Andere, sondern er ist immanentes Selbst (Cusanus sagt: ein Non-Aliud). Walter Schulz beschrieb die Struktur des vorliegenden Gottesbildes treffend: »Der Gott des Cusanus ist nicht ohne Welt […] Gott kommt so wenig ohne das Seiende vor, wie das Sehende ohne Gesehenes […].« Man kann aus solchen Zeilen das Konstatieren eines verborgenen Atheismus herauslesen, der auftritt, wenn sich das von Cusanus geschilderte Verhältnis umkehrt und die Epiphanie des Göttlichen gleichsam zum Ergebnis menschlicher Verursachung wird: »Wenn Cusanus erklärt, dass der Mensch sich seinen eigenen Weltzusammenhang durch den messenden Vergleich aufbaut, wird dann nicht Gott unwesentlich?« Ein solch numinos-dialektischer Hintergrund lässt sich auch nach der Bedeutung für die Perspektive befragen. Immerhin entwirft Cusanus das Szenario unübersehbar entlang einer perspektivischen Sehachse und stellt den Augenpunkt, der bei den Künstlern ein mathematisch berechneter Fluchtpunkt war, in den Vordergrund. Aus seiner Sicht ist es ein Einbruch des Göttlichen in das Endliche, aber man kann die Verhältnisse eben auch anders entschlüsseln: als das Zusammentreffen zweier Aspekte von Perspektive. Zum einen erscheint der standpunktgebundene Mensch

Ikonenphilosophie

Belting 2008, 240/242

IV.7.2.

Schulz 1957, 17

Ebd., 18f Perspektive

404

Die Renaissance

Schönheit

Herold Norbert in ÄKPh, 586

Kunst und ­Künstler

Boehm 1969, 166

Nik. v. Kues, Comp. VIII

als Funktionär göttlicher Selbstdarstellung. Zum anderen kippt das Verhältnis in die Gegenrichtung: Der Mensch kann sich Gott immer nur als Bild nach seinem eigenen Bilde gestalten. Er erfährt sich daher als emanzipiert und souverän. Die Ontologie des Cusaners, basierend auf der Schau und der Dialektisierung des Gott-Mensch-Verhältnisses, ist demnach zugleich eine kunstphilosophische Position. Letztlich ist Schönheit wiederum Ausdruck der demiurgischen Kraft, Ordnung und Proportion in den sinnlichen Dingen als deren eigentliche Qualität zu entdecken und freizulegen. Diese Harmonie des Kosmos ist von Gott nach Maß, Zahl und Gewicht gefertigt worden. Schönheit ist dann die consonantia diversorum und die proportio. Sie sammelt und einigt. Schönheit ist im Letzten etwas Geistiges im Sinnlichen und seine Quelle das Absolute selbst. In einer Predigt von 1456 zum Fest der Geburt Marias meinte er, dass der Zugang zum Schönen über die Sinne läuft, Gehör und Gesichtssinn werden bevorzugt. Mit ihnen lässt sich Harmonie und Einklang erkennen. Schönheit vereinigt und übt dabei eine Anziehung aus. Der Prozess des Eros (amor) zieht den Menschen von der sinnlichen Natur über die dort im Sinne des Teilhabemotivs vorhandene Schönheit zur geistigen Schönheit des göttlichen harmonischen Kosmos. Dieser mehrfache Demiurggedanke spielt in der Kunstphilosophie der Renaissance generell eine große Rolle. Die ideale Harmonie, der Kreis, war in der Architektur die anzustrebende Norm. Aus der Bestimmung der Schönheit ergibt sich jene der Kunst und des Künstlers. Kunst ist ein schöpferisches Tun, das von Ideen geleitet ist. Es ist – wie gesagt – der demiurgische Vorgang, Harmonie im ungeordneten Chaos der sinnlichen Welt zu entdecken und freizulegen. Hier ist der oben angesprochene Ort des Künstlers als göttlicher Mensch (humanus deus) oder als Zweitschöpfer (secundus deus). Aber der Künstler unterliegt einer Kraft, die mit mathematischer Zwangsläufigkeit zur idealen Proportion führt. »Die Selbstdarstellung der mens bringt Schönes hervor, indem die innere Formidee eines Dinges in die Sichtbarkeit entfaltet wird.« Der Mensch wird geradezu zum Kosmographen, der die sinnliche Welt nach den Kriterien der Harmonie und Symmetrie gestaltet: »Wenn er [der Kosmograph] schließlich in seiner Stadt die ganze Beschreibung der sinnlichen Welt fertig hat, dann legt er sie wohlgeordnet und im Verhältnis abgemessen auf einer Karte nieder und wendet sich ihr zu. […] Er schließt die Tore und wendet sich nun mit seinem inneren Schauen dem Gründer der Welt zu, der nichts von alledem ist, was er über die Boten verstanden und festgehalten hat, sondern der der Künstler und der Grund aller dieser Dinge ist.« Nur in solchem Sinn, nämlich in jenem von Platons Demiurgen, dem die Idee des Ganzen zugrunde liegt, ist der Ausdruck der Nachahmung der Natur, zu der sich Nikolaus bekennt, zu verstehen. Keineswegs ist damit bloße Imitatio der sinnlichen Welt gemeint, sondern die Nachahmung bezieht sich auf das geistige Ideal dieser sinnlichen Natur. Die mimesis ist idealistisch und konstruktiv, oder demiurgisch-technisch. Insofern geraten diese traditionellen und platonischen Aspekte scheinbar in Widerspruch zu einer ansatzweise erkennbaren wirklichen Emanzipation des Künstlers. Im Werk Idiota (Der Laie) beschreibt er, wie sich der Löffel schnitzende Handwerker brüstet, seine Arbeit stünde über derjenigen der Künstler, weil er

405

Philosophie und Humanismus

überhaupt kein Vorbild in der Natur habe, sondern ein geistiges Konzept realisiere (coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar). Das ist ein frühes Kapitel zur Theorie des Mentalismus, zugleich eine ungewöhnlich deutliche Nobilitierung des Technischen gegenüber dem Künstlerischen, das üblicherweise den Bereich des Kreativen exklusiv beanspruchte. Ähnliches lässt er zur Erfindung des Brettspiels (De ludo globi; um 1462) vernehmen. Hans Blumenberg fixierte an solchen Stellen gerne die anhebende Neuzeit: Die Erfindung des Neuen fände zur »Möglichkeit der Selbsterfahrung, die die Seele mit sich macht, um sich ihrer Kraft als Selbstbewegung zu versichern.« In der Tat diente der Laie im Mittelalter, der – der lateinischen Sprache unkundig – sein (v.a. theologisches) Wissen über Bilder und aus der Natur, dem »Buch Gottes«, erfuhr, als reizvolle neue Form der Intellektualität. Hans Blumenberg analysierte die Gestalt des Laien, der in einem schon demokratischen Stil »ohne Rücksicht auf die Ungleichheit der Voraussetzungen mitzureden beansprucht«, und sah einen neuen Menschentypus heraufziehen, »der sich selbst aus dem heraus versteht und seine Geltung rechtfertigt, was er tut und kann – aus seiner ›Leistung‹, würden wir sagen.« Diesem neuzeitlichen Optimismus könnte man entgegenhalten, dass bei Cusanus eine latente Anthropozentrik von der Teilhabeontologie überformt wird und nichts weiter als eine Selbstmanifestation des göttlichen Geistes im verstehenden menschlichen Geist (= Genie) am Werk ist. Dies würde sich lückenlos in den Geniekult späterer Jahrhunderte einfügen, der stets ein rückwärtsgewandtes idealistisches Konstrukt war. Kunst wäre demnach ein Geschäft der Veredelung einer unzulänglichen Welt und Natur nach den wahren geistigen Gesetzen, die in dieser liegen. Dazu passt auch, und dies führt uns bereits zu einem Barockmotiv, dass Cusanus vom Menschen stets als einem lebendigen Spiegel Gottes spricht. Nicht nur der tätige Mensch ist ein solcher Spiegel, sondern die Menschen schlechthin sind reflektierende Spiegel der göttlichen Größe.

X.3.5.1.2.

Blumenberg, zit. nach Werner Reinold in MPL, 574

Blumenberg 1957, 58

412 Marsilio Ficino, ­Cristoforo Landino, Angolo Poliziano, Porträt von Domenico Ghirlandaio (um 1486)

4.2.2. Marsilio Ficino Der 1433 in Figline nahe Florenz geborene Marsilio Ficino steht als erster Leiter der platonischen Akademie in Florenz, als Übersetzer und Kommentator Platons, Plotins, des Dionysios Pseudo-Areopagites, Jamblichos sowie Hermes Trismegistos für die oben beschriebene Wandlung eines Aristoteles einbeziehenden Neuplatonismus. Denn Ficino setzte sich an der Universität in Florenz auch mit Aristoteles und mit Schriften der Scholastik auseinander. Viele seiner Übersetzungen ins Lateinische waren die ersten, die es gab. »Dieses geballte platonisch-neuplatonische Erbe wird innerhalb von 30 Jahren in Florenz vorgestellt, interpretiert und von dort aus Gemeingut der europäischen wissenschaftlichen Welt.« Okkultes und Rationales standen im Werk Ficinos gleichberechtigt nebeneinander. Dazu gehörte ein ausführlicher Melancholie-Diskurs, in dem der »Saturnmensch« Ficino – so seine Selbsteinschätzung, die auf die Melancholie als typischen Gemütszustand des Künstlers abhob – mitmischte und etwa

Kristeller 1986, 35

Gerl 1989, 55

406

Die Renaissance

Klibansky u.a. 1964

Bastl 2002, 78

Panofsky 1924, 101

Seele als ­Künstlerin

Albertini Tamara in ÄKPh, 271

Dürers Melancholia beeinflusste und zur vielfältigen Rezeption von mystischen und okkulten Geschichten in der Renaissance beitrug. Ficino gab auch Anweisungen zum Tragen von Talismanen, zu gesunder Diät und dem Bemühen, »den Geist des Menschen vom Schmutz zu reinigen, um ihn dem Weltgeist ähnlicher und damit himmlischer zu machen.« Der Kommentar zu Platons Symposion, De amore sive In convivium Platonis (1469), steht am Beginn einer die Renaissance – insbesondere ihre Literatur – durchziehenden Eros-Spekulation. Der Eros hebt nicht nur – wie bei Platon – das Sinnliche zum Geistigen, sondern – typisch für die mit aristotelischer Naturspekulation durchsetzte Renaissance – er durchdringt als Leben spendendes Prinzip von oben her das Sinnliche und wertet es auf. Die aristotelische Trennung von Form und Materie ist platonisch durchkreuzt. Die Form wird in die Materie aufgesogen, ein Gedanke, der sich auch bei Giordano Bruno findet. Gott ist Mittelpunkt eines Kreises, um den sich konzentrisch die neuplatonischen Sphären der Emanation (Geist, Seele, Naturdinge, Materie) entfalten. Bei dieser Durchdringung des gesamten Kosmos mit dem Göttlichen tritt eine hierarchisch-vertikale Ordnung zugunsten der Kreisform zurück. Auch die Erkenntnis ist ein erotischer Akt im Sinne einer Einswerdung von Erkennen und Erkanntem. Eine Absicht Ficinos, der sich 1473 zum Priester weihen ließ, war es, aus diesem Verschnitt von Platonismus, Hermetik und alter orphischer Weisheit eine philosophische Religion des Christentums zu formulieren. Dazu legte er 1474 in seinem Hauptwerk Theologia platonica (Theologia platonica de immortalitate animorum XVIII libris comprehensa) Spekulationen über die Unsterblichkeit der Seele vor, sowie – ähnlich dem schon von Cusanus bekannten Versuch – den Gedanken einer differenzierten All-Einheit. Die (dynamische) Möglichkeitsbedingung einer solchen Einheit ist die Seele, die als Weltseele verstanden wird und den Zusammenhalt des Kosmos aufgrund ihrer göttlichen Dignität ermöglicht. Sie trägt »die Bilder von allem in sich«, die wie Brennspiegel das materiell Zerstreute sammeln. Neben Briefen und verloren gegangenen Traktaten zur Optik ist sein Platonkommentar De amore eine Quelle von Bemerkungen zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ficinos Blick auf Platon ist durchaus differenziert, aber grundsätzlich getragen vom platonischen Verhältnis von Idee und Abbild (imago) in der materiellen Welt. Solche Abbilder sind gar Urbilder im Geiste Gottes (exempla rerum in mente divina). Unserer Seele sind solche exempla wie Funken eines göttlichen Urlichts – durch langen Nicht-Gebrauch beinahe schon erloschen – immanent. Zu dieser Idee-Ausstattung gehört auch die Idee des Schönen, welches sich in abgeschwächter Form in der materiellen Welt zeigt. Mit dieser Ausstattung tritt die Seele als formende Kraft des Körpers auf, sie ist gleichsam dessen Künstlerin (artifex corporis). Sie gibt dem Körper Ordnung (ordo), Maß (modus) und Gestalt (speties). Das zentrale Element dabei ist die Linie. Mit ihr spielt Ficino alle wichtigen Zusammenhänge durch. Die Linie steht für die Seele, die den Körper nach allen Seiten hin gestaltet und ihm den im Lichtglanz strahlenden Geist mitteilt. Und eben dies ist die Schönheit. Sie ist nicht nur Proportion al-

407

Philosophie und Humanismus

lein, sonst könnten einfache Dinge nicht schön sein. Sie ist im Sinne der alten Lichtmystik auch heller Glanz, zugleich – an anderer Stelle – unsichtbares Licht, das den Gegenständen Sichtbarkeit, Strahlkraft und Schönheit verleiht, selbst aber in guter platonischer transzendentalisierender Manier unsichtbar bleibt. Damit die Schönheit an einem Körper sichtbar wird – sie selbst ist ja keine Eigenschaft des Körpers, sondern er hat an ihr teil – müssen Ordnung und Maß herrschen. Denn überragende Bedeutung für das ästhetische Urteilen kommt den Zahlenverhältnissen zu. In diese platonische Tradition mischt sich ein Bekenntnis zum Körper. Ficino bezieht solche Urteilsgründe auf den lebendigen Körper, auf dessen Anmut und Lebendigkeit (actus, vivacitas, gratia). Die göttliche Seele gestaltet einen lebendigen Körper wie in einem künstlerischen Akt. Dies kann kaum anders denn als kongeniale kunstphilosophische Umsetzung der demiurgischen Bewegung in Platons Timaios angesehen werden, die sich bis zu Albertis Behauptung spannt, die Malerei berge »eine göttliche Kraft […]«. Die durch die ordnende Tätigkeit der Seele erreichte Schönheit ist über eine emanativ-hierarchische Struktur an die Urschönheit Gottes zurückgebunden. Einerseits adelt sie den schönen Körper und bewahrt ihn vor völliger Abwertung. Andererseits dient die Schönheit umgekehrt geradezu als Gottesbeweis, indem sie – wieder ein paraphrasierendes Demiurgenmotiv – auf Gott, den idealen Baumeister der Welt, zurückverweist. Die Kunst kann daher nur eine Nachahmung der göttlichen Schönheit in der Natur sein. Mehr noch: Der Künstler korrigiert bei seinem Tun die Unzulänglichkeit der Natur! Dazu arbeitet er mit Regeln der idealen Proportion, also mit Mathematik. Kunst ist wahrhaft Wissenschaft der Analyse und eine Technik der Umgestaltung nach idealen Vorbildern geworden. Wissenschaftlichkeit der Kunst sollte gleichwohl nicht in Widerspruch treten mit göttlicher Inspiriertheit. In der Akademie stand ursprünglich die Dichtung im Vordergrund, die eine Sache der Inspiration war, wenngleich schon Petrarca und Boccaccio zusätzlich dazu ein einzuhaltendes objektives Regelwerk einmahnten. Dies erweiterte sich schließlich auch auf die bildenden Künste. Auch für sie gilt zunehmend die göttliche Inspiration, die eine Urharmonie des Kosmos, einen musikalischen Wohlklang, offenbart. Nicht nur schreibt Ficino, der selbst praktizierender Musiker und ein Liebhaber von Literatur war, ausführlich zu musikalischen Konsonanzen – die Seele kann nur in »unsichtbaren Konsonanzen« dargestellt werden –, sondern er entwickelt für diesen Lichtglanz eine ganze Farbenlehre. Die Farben – nach Helligkeit geordnet – sind für die Belebung der Wirklichkeit eine Voraussetzung. Marsilio Ficino hat neben den philosophischen Wirkungen auch einige in der Kunstgeschichte gut belegte Motive auf den Weg gebracht, etwa einen übergeordneten Sinn in Sandro Botticellis rätselhaftem Bild Primavera (um 1482) oder in den Fresken seines Lehrmeisters Filippo Lippi. Auch in Luca Signorellis Pan (um 1490) wird ein neuplatonisch-christlicher Kontext mit Bezügen zur Philosophie Ficinos vermutet. Die Motivforschungen sind naturgemäß ausufernd. Für Botticelli könnte auch Lukrez eine Rolle gespielt haben. Das verrät ein Blick auf die ersten Verse seines De rerum natura, wo ein Anruf der Venus das alte Motiv der Fruchtbarkeit von

Alberti 1436, 101 6.4.2. Schönheit

408

Die Renaissance

Lukrez, De rer. nat., Vorrede

Gottheiten in Erinnerung bringt: »Mutter der Aeneaden, der Menschen und der Götter Wonne, Venus, Spenderin des Lebens, du bist es, die unter den ruhig gleitenden Zeichen des Himmels das schiffetragende Meer, das fruchttragende Land belebt. Dir verdankt alles Belebte Empfängnis, den ersten Blick auf der Sonne Licht. Dich, sobald du nahest, Göttin, fliehen die Winde, die Wolken des Himmels, dir sendet die vielgestaltig schöpferische Erde liebliche Blumen empor […].«

4.2.3. Giordano Bruno

Bloch 1977a, 189

Kristeller 1986, 113

Selbstgenügsam­ keit der Materie

Giordano Bruno, 1548 in Nola bei Neapel geboren, markiert den Höhepunkt der Philosophie der Renaissance, zugleich bereits dessen Überschreiten. Ernst Bloch nannte ihn den »großen Minnesänger kosmischer Unendlichkeit«, »der die Immanenz so aufregend, so interessant, so geheimnisvoll, so niederwerfend und so aufnehmend zugleich zu machen versucht hat, wie in der mittelalterlichen Welt einzig das Jenseits war.« Bruno hatte als Dominikaner, also als Angehöriger des Ordens des Thomas von Aquin (sogar im gleichen Kloster wie dieser), der inzwischen zum Inquisitionsorden geworden war, angefangen. Nach dem baldigen Austritt aus dieser Gemeinschaft und einem drohenden Häresieverfahren begann ein Wanderleben, das ihn zuerst quer durch Italien, dann nach Frankreich, England, die Schweiz und Deutschland führte. An allen führenden Universitäten hielt er Vorlesungen und sorgte mit seinem provozierenden Stil und seinen unkonventionellen Botschaften für Aufruhr. Daneben brachte er sich mit Kunststücken der Mnemotechnik durch, eine Kenntnis, die ihn in die Nähe von Raimundus Lulls Kombinatorik und zur Magie führte. Nach Italien zurückgelockt, wurde er von der Inquisition inhaftiert und erlitt nach einem langen Prozess, in dem sich Bruno durch sein prinzipienfestes Auftreten die Sympathie der Nachwelt verdiente, am 17. Februar 1600 den Feuertod am Campo de Fiori. Im Jahr 1889 wurde ihm durch den Bildhauer und Freimaurer Ettore Ferrari als Antwort auf die Enzyklika Leo XIII. Humanum genus, die sich scharf gegen die Freimaurerei wandte, ein Denkmal errichtet. Man ehrte Giordano Bruno als Märtyrer für die Freiheit des Denkens. Sein Hauptwerk Dialoghi della causa, principio ed uno (Dialoge über die Ursache, das Prinzip und das Eine; 1584) war den platonischen Dialogen nachempfunden und führt bereits im Titel die Themen an. Bruno war Platoniker und ließ seiner Verachtung gegenüber dem Aristotelismus freien Lauf. Insbesondere lehnte er die für Aristoteles so zentrale und unabdingbare Trennung von Materie und Form ab. Die Materie selbst sei bereits mit Formen durchsetzt, »etwas Göttliches«. Man kann auch sagen: Gott ist die einzige Substanz, alle seine Wirkungen, also die Einzeldinge, sind Akzidenzen dieser Substanz. Die Materie wird aus sich selbst heraus schöpferisch, geradezu eine immanente Künstlerin. Sie erzeugt die Natur genauso wie die Produkte der Kunst. Diese, Platonismus, Kabbala, Averroismus und Mystik verbindende Idee, gehört zu den brillantesten Beschreibungen der renaissancehaften Selbstgenügsamkeit der Materie, die gegen die mittelalterliche Autorität von causa formalis und causa efficiens in Stellung gebracht wurde.

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Philosophie und Humanismus

Wir stehen hier bereits in der Welt Spinozas und der Welt von Goethes Faust, wir rühren an das schöpferische und utopische Prinzip des späteren dialektischen Materialismus, dem Schelling mit seinem Dialog Bruno eine wichtige Wegmarke gesetzt hat. Der Einheitspunkt der coincidentia oppositorum (des Cusanus) liegt nicht in einem transzendenten Jenseits, sondern in der Natur selbst. Transzendenz ist in die Immanenz aufgelöst, die Welt ist »erlösungsunabhängig« geworden. Dies scheint die leitende Intention Brunos gewesen zu sein, wenngleich es in seinem Werk auch dualistische Aussagen gibt, was die Bruno-Forschung vor ein nicht leicht aufzulösendes Dilemma stellt. Insbesondere in seiner Eroslehre beschreibt er die übliche Geschichte vom Aufstieg aus der Materie in den Geist. In seinem Werk Eroici furori (Die heroische Liebe) unterscheidet er die heroische von der gewöhnlichen Liebe. Nur in der heroischen Liebe erreicht die Seele einen Aufstieg aus der sinnlichen Welt zur Vereinigung mit dem Göttlichen. Dieses Ziel bleibt allerdings im diesseitigen Leben unerreichbar, die heroische Liebe stiftet deshalb für jeden Philosophen ein ständiges Leiden. Wie bei Ficino gehört auch für Bruno zum Philosophen der Charakterzug der Melancholie. Brunos Ablehnung des Aristotelismus, für ihn die Philosophie des scholastischen Mittelalters, implizierte in der Naturphilosophie die Übernahme des kopernikanischen Weltbildes. Er tat dies als erster bedeutender Philosoph und wusste zu gut, was er seinen Zuhörern und Gesprächspartnern zumutete. Das Plädoyer für die Unendlichkeit des Alls geschah in literarischer Einkleidung (La cena de le ceneri/ Das Aschermittwochsmahl; 1584), gleichzeitig mit einer scholastisch anmutenden Methode (De l’infinito universo e mondi/Über das Unendliche, das Universum und die Welten; 1584). Der platonisch-hermetische Gehalt seiner Schriften äußerte sich überdies in einer ausgedehnten Beschäftigung mit Zahlen, denen er spekulativ geometrische Figuren und entsprechende Bedeutungen wie Götternamen oder philosophische Prinzipien zuschrieb. »Zahl wird schöpferisches Prinzip und Ton, ebenso wie Bruno die Seele ›die sich bewegende Zahl‹ nennt.« Wie im platonischen Kontext üblich, gab es bei Bruno, der seine Werke mit Holzschnitten illustrieren ließ, einen Zusammenhang von Metaphysik und Theorie der Kunst bzw. der Ästhetik. Im Platonismus der Renaissance kam das zur realen Umsetzung, was bereits bei Platon beschrieben worden war: Die Natur in ihrer Produktivität und schöpferischen Gestaltungskraft ist selbst schon eine Figur der Kunst und diese Figur der Kunst ist jetzt – anders als bei Platons kosmischem Denken – auf den Menschen bezogen. Bruno spricht sogar von der technischen Mutter Natur (technica mater natura), was einen großen Bogen zum mittelalterlichen Werk des Johannes Scotus Eriugena mit der von ihm formulierten natura naturans spannte. Natur steht hier nicht, wie so oft in philosophischen Überlegungen, der Kultur und Geschichte gegenüber, sondern sie ist geradezu das produktive Agens der Kultur, detaillierter dargestellt in den Werken der bildenden Kunst. »Kunst«, man könnte ergänzen: die gesamte Kultur (einschließlich der Technik), »entsteht durch den Umschlag von Natur in inszenierte und simulierte oder performierte Natur in der Welt des Menschen.« Ein solches Verhältnis ist nur in der dialektischen Tradition einer

VII.5.2.ff. Gerl 1989, 203

Ebd., 198

technische Mutter Natur

V.4.2.4.

von Samsonow Elisabeth in ÄKPh, 147

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Die Renaissance

Ebd., 146f

Bruno Eroici I,1

Naturphilosophie möglich. Jene geistgetragenen Perioden, in denen eine negative Bewertung der Materie im Vordergrund stand, wie es vor allem im byzantinischen Osten der Fall war, sind für eine solche Reformulierung von Naturphilosophie naturgemäß ungeeignet. Zwischen Natur und Mensch besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Göttlichem und Menschlichem bei Cusanus. Im Tätigwerden an der Natur korrigiert der Mensch die Natur und erzeugt zugleich sich selbst. Kunst wird so »eine Art Selbst-Herstellung des Menschen […] Kunst bedeutet also immer die Summe der Strategien, mit deren Hilfe der Mensch sich der differenzierten Bedingungen allgemeiner Produktivität bemächtigt und sich damit zugleich selbst in bestimmter Weise generiert.« Im Sinne des unter 4.1.2. Gesagten erklärte Bruno den Künstler als denjenigen, der die Regeln gibt: »[…] die Poesie wird nicht aus den Regeln geboren […], sondern die Regeln werden aus der Poesie genommen. Deshalb gibt es soviele Gattungen und Arten wahrer Regeln wie es Gattungen und Arten wahrer Dichter gibt.« Muster für die schöpferische Produktivität der Kunst bildet dabei die Natur. Die Kunst entspricht der Produktivität der Natur, aber in der sinnlichen Sphäre des Menschen. Die Regeln gehören in diesem weiten Sinn zu den Künstlern. Schönheit wiederum ergibt sich konsequent als die ideal gefügte Ordnung, die durch die Kunst erzeugt wird. Die Kunst bildet Kategorien über der Natur. In der Kunst treffen sich die (später exakter definierten Vorstellungen) einer rational-erkenntnistheoretischen Konzeption einerseits und einer Kunstkreativität andererseits. Die potentiell atheistische Sprengkraft bei Cusanus wird hier gleichsam zu einer anaturalistischen Sprengkraft. Brunos Kunstphilosophie als Pointierung seiner Kosmologie ist ein kulturgeschichtlicher Meilenstein auf dem Weg zu den utopischen Gehalten idealistischer wie materialistischer Technikphilosophie bei Hegel und Marx.

4.2.4. Weitere Philosophen der Renaissance Pico della ­Mirandola

Bloch 1977a, 181

Einen noch stärker humanistischen Platon vertrat der in der Nähe von Modena 1463 geborene Giovanni Pico della Mirandola. Nach Ernst Bloch, diesem feinfühligen Seismographen, erhält Picos Mensch seine »aufrechte griechische Würde« zurück anstelle »des Zerknirschtseins, statt des Kniens, statt der gebogenen, gebrochenen Linie der gotischen Figuren.« In diesem universell gebildeten Polyhistor konturiert sich in besonderer Weise die Eigenart der Renaissance und des Humanismus. In der Fachliteratur wird Pico bisweilen als wichtigerer Vertreter des Florentiner Akademiedenkens angesehen als Marsilio Ficino. Diese Einschätzung mag zwar auch Geschmackssache sein, sie lässt sich jedoch mit guten Gründen relativieren. Pico trat in eine seit zwei Jahrzehnten existierende Akademie ein und setzte in seinem kurzen Leben etliche Kontrapunkte zu seinem Lehrer und Freund Ficino. Man kann Pico deshalb nicht unbedingt als typischen Vertreter der Akademie ansehen. Kunstphilosophisch bleibt Ficino jedenfalls der interessantere. Obwohl Pico unter dem Schutz Lorenzo de’Medicis stand, erlag er, gerade einmal 31jährig, einem Giftanschlag, vermutlich aus dem eigenen

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Philosophie und Humanismus

Umfeld. In einer Programmschrift Rede über die Würde des Menschen (Oratio de hominis dignitate), ursprünglich entworfen als Eröffnungsrede einer für 1487 geplanten internationalen philosophischen Disputation, die dann auf Grund kirchlichen Drucks nicht stattfand, preist er den Menschen als ein unabhängiges, freies Wesen. Der Mensch kann nach Gottähnlichkeit streben (durch beschauliches oder aktives Leben) oder sich schlicht den Begierden hingeben. Der Mensch ist ein »Chamäleon der Schöpfung«. In diesem Text steckt übrigens eine gute Portion Cusanus, der Ähnliches formuliert hatte und zum Bekanntenkreis Picos gehörte. Pico, der nach Studien in Bologna und Ferrara in Padua den averroistischen Aristoteles und die arabische und jüdische Tradition kennen gelernt hatte und mit hermetischen und kabbalistischen Lehren vertraut war (Conclusiones philosophicae, cabalisticae et theologicae; 1486), geriet wegen dieses humanistischen Platonismus in Konflikt mit der Kirche. Sein Engagement für Freiheit und Würde des Menschen ist durchaus ernst zu nehmen und keine bloß rhetorische Floskel, wie man dies manchmal in der Fachliteratur liest. Die Kommentierung von Picos Humanismus durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz erinnert an die Unterschiede in der Humanismusdebatte des 20. Jh.s zwischen Heidegger und Sartre – wenn auch mit anderem kulturgeschichtlichen Hintergrund: »Weit weniger als in der mittelalterlichen Anthropologie ist dieser Mensch Hörender und Gehorchender als vielmehr Denker und Werkmeister selbst.« Pico bemüht sich – und hier ging er deutlich über Ficino hinaus –, Platon und (den platonisch interpretierten) Aristoteles nicht als Gegensätze erscheinen zu lassen. In seinem De ente et uno (Über das Seiende und das Eine) geht es genau um dies. Es sollte die Frage klären helfen, ob das Eine über den Seienden steht. Pico versuchte sich als Harmonisierer und konsequenter Verfechter der coincidentia oppositorum, der Harmonie als discordia concors. Die Versöhnung all der erwähnten philosophischen und mystischen Gedanken – Freunde nannten ihn einen princeps concordiae, einen Fürsten der Eintracht – ist Folge der Methode, die letztlich eine Wissenschaft von den Zahlen sein sollte. Scholastik, der »asiatische Stil« der Neuplatoniker, die Sprechweise der Platoniker, die Sprachfiguren der Kabbala, die Wahrheiten des Christentums, all diese sich scheinbar widersprechenden Lehren müssten zu einem mehrstimmigen, aber eben harmonischen Chor gebündelt werden. Alles sei unmittelbarer Ausdruck einer Metaphysik. Das Sinnliche hält Pico für wertvoller als die platonischen Ideen, allerdings nicht in sich selbst, sondern weil – ganz gemäß des schon bekannten Emanationsmotivs – die Himmelskräfte im Diesseits wirken. Wieder gibt es hier das Motiv der Natur als Reservoir menschlicher Kultur, das nicht zuletzt von der Esoterik gespeist wurde. Gegen Ende seines Lebens näherte er sich Savonarolas antihumanistischen Eskapaden an und ging auf kritische Distanz zur (heidnischen) platonischen Tradition. In einer für den Humanismus typischen (brieflichen) Kontroverse mit dem venezianischen Humanisten Ermolao Barbaro verteidigte Pico in den Epistula de generi dicendi philosophorum den Sprachstil der Philosophen gegen den Einwand der Hu-

Gerl 1989, 68

Kristeller 1986, 54

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Die Renaissance

Toussaint Stéphane in ÄKPh, 625 Pietro Pomponazzi

Giacomo Zabarella

Bernardino Telesio

manisten, dieser sei unkultiviert und barbarisch. Pico verwies auf das genus litterarium der Philosophie. Er meinte damit durchaus die scholastische Philosophie, die er bei einem Aufenthalt 1485 in Paris, dessen Universität nach wie vor eine Hochburg aristotelischer Scholastik war, kennen gelernt hatte. Sie erfordere einen sachlichen Stil – entgegen der aus gesuchten sprachlichen Kunstfertigkeit des Humanismus. Für den Begriff der Schönheit unterschied er eine dreifache Bedeutung, die er aus Platons Phaidros und Ficinos De amore ableitete: Die Venus vulgaris steht für Sinnlichkeit, die aus dem Saturn geborene Venus für Rationalität und die aus dem Caelius geborene Venus für Geist. Die Geburt dieser himmlischen Venus entspricht der Geburt des Geistigen im Menschen. Kunstphilosophisch lässt sich die Vereinigung des Vielen als ästhetische Kategorie des Schönen deuten. Mit Pietro Pomponazzi aus Mantua betreten wir aristotelischen Boden der Renaissance. Aber Aristoteles war jetzt ein averroistischer Aristoteles, ein Aristoteles der Artistenfakultät, der als Naturphilosoph für die Medizin Anwendung fand, nicht jener der Theologischen Fakultät! Der 1462 geborene Pomponazzi, der gegen die griechischen Humanisten kämpfte, obwohl er Vieles von ihnen übernahm und sowohl Ficino als auch Pico sehr verehrte, rühmte sich, kein Griechisch zu können. Einundzwanzig Jahre lang hatte Pomponazzi an der Universität von Padua gelehrt und kannte daher die Aristoteles-Interpretation des Alexander von Aphrodisias und den Averroismus gut. Pomponazzi kämpfte in seinem Tractatus de immortale animae in einer sehr rigorosen Auslegung von Aristoteles’ De anima gegen die Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele. Das war angetan, die gesamte auf individuelle Schuld ausgelegte Theologie der Kirche mit Buße und Ablasshandel und der Schlüsselgewalt der Priester auszuhebeln. Pomponazzi beendete endgültig den zaghaften Versuch der Hochscholastik, Glaube und Wissen zu versöhnen. Philosophie und Theologie passten ebensowenig zusammen wie Haifisch und Löwe, meinte er. Beide hätten ihre je eigenen Reiche und es könne in der Philosophie durchaus etwas falsch sein, was in der Theologie wahr sei und umgekehrt. Den zwangsläufig einsetzenden Nachstellungen konnte er sich entziehen, indem er seine Thesen ausdrücklich nur als philosophische Wahrheiten gelten ließ. In den Fünfzigerjahren des 16. Jh.s erschienen seine astrologischen Schriften, die er am Ende seines Lebens verfasst hatte. Darin entwarf er Erde und Himmel als Maschinen. Die Bewegung der Sterne, aus denen sich die Phänomene der Welt erklären ließen, prägen Körper wie Seele der Menschen »wie ein heißes Siegel das Wachs«. Zum Paduaner Aristotelismus gehörte auch Giacomo Zabarella. Er schrieb naturphilosophische (De rebus naturalibus) und logische (De natura logicae libri duo) Traktate. Zu seinem Wissenschaftsverständnis gehörte – gut aristotelisch – die Hinwendung zum Experiment. Er unterstrich den Unterschied von Dichtung und Wissenschaft. Dichtung sei zwar induktiv wie die Wissenschaft, aber sie bleibe beim Einzelfall und führe nicht über diesen hinaus, außerdem entsprächen die Beispiele der Dichtung nicht den Tatsachen, sondern sie seien erfunden. Bernardino Telesio war neben Girolamo Cardano und Paracelsus ein Naturphilosoph, der einen von mittelalterlichen und antiken Vorgaben unabhängigen, eigen-

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Philosophie und Humanismus

ständigen Weg einschlug. Er hatte in seiner Heimatstadt Cosenza eine Gesellschaft für Naturforschung gegründet, die – bei aller Verehrung der Lichtmystik – die sinnliche Naturforschung förderte. Dass dies in diesen Zeiten nicht unbedingt zu einem bloß empiristischen Methodenideal wurde, hat mit dem verbreiteten Platonismus zu tun. Telesio stand deshalb mit seinem Weg zur exakten Naturwissenschaft in einer Zweifrontensituation, sowohl in Gegnerschaft zur Kirche als auch zum Aristotelismus der Paduaner Universität, wo er sein Studium absolviert hatte. Die Korrekturen an Aristoteles bleiben kulturgeschichtlich ein wichtiges Erbe. Telesio befreite etwa die Zeit von der Bewegung (als deren Maß), an die sie Aristoteles gekoppelt hatte und wies in die Richtung einer absoluten Zeit und eines absoluten Raums, wie sie später von Newton als moderne Auffassung vertreten wurde. Francesco Patrizi (urspr. Frane Petrić), 1529 auf der Insel Cres im Kvarner geboren, kam viel in Europa herum und hinterließ ein umfangreiches Werk, das alle möglichen Fragen, mit denen sich humanistische Intellektuelle auseinandersetzten, behandelte. Er formulierte in seiner Nova de universis philosophia (Neue Philosophie von allem; 1591) einen antiaristotelisch ausgerichteten Pantheismus erster Güte. Das alte Hen kai Pan übertrug er ins Lateinische: unomnia. Dieses »Einalles«, das er mit dem dreieinen Gott des Christentums identifizierte, ist All-Licht, All-Urgrund, All-Seele und All-Ordnung. Im sich in hierarchischer Lichtemanation entfaltenden numinos-göttlichen Kosmos, in dem sich der Schöpfer, der »Vater des Lichts«, manifestiert, dominiert die qualitative Seite über der quantitativen. Ganz im neuplatonischen Geist wird jede Andersheit überformt von einer zugrunde liegenden Einheit einer immer schon vorhergehenden Identität. Die Faszination dieses Einheitsdenkens liegt unter anderem im aktiven Widerstand gegenüber den auseinander treibenden Kräften, die den Abschied vom Mittelalter ausmachten. Bereits bei Cusanus gab es diesen Gedanken und – in anderer Variante – bei den Staatsutopien. Der Pantheismus Patrizis war vom hermetischen Denken geprägt. Sein Werk enthält sowohl eine Übersetzung der Chaldäischen Orakel als auch eine des Corpus Hermeticum. Gewidmet hat Patrizi sein Werk dem nur kurze Zeit regierenden Papst Gregor XIV. Er war der festen Überzeugung, dass die neue platonische Philosophie mit ihrem Aufstiegsschema der christlichen Tradition, vor allem dem Werk des Augustinus und der Theologie der Väter, eher entspreche als dem »Atheismus« des Aristoteles. In der antiaristotelisch gestimmten Della poetica, von der er zwei von sieben geplanten Teilen 1586 veröffentlichte, stand er gegen das Prinzip der Nachahmung. Kunst sei nämlich mehr als bloße Mimesis. Vor allem der Dichter erschaffe Dinge, die es nicht gibt. Der Künstler gestaltet dank seinem furor poeticus die Naturformen in das Wunderbare um. In einem Buch über den Staat doppelte er nach, man möge Architekten für ein Bauwerk beschäftigen und nicht nach irgendwelchen Theorien bauen. Patrizis Poetik wurde deshalb so bedeutend, weil es die flächendeckende Vorherrschaft der aristotelischen Poetik durchkreuzte.

Francesco Patrizi

Günther 2009, 35

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Die Renaissance

4.2.5. Philosophische Mystik

van Dülmen 2004

Bloch 1977a, 218 Agrippa von ­Nettesheim

Gerl 1989, 74–78

Paracelsus

Die magischen Seiten der Renaissance, die Vermischung von Rationalem, das im Mittelalter teilweise exakter gepflegt wurde als jetzt, mit Alchemie und Quacksalberei, zeigte sich bei Agrippa von Nettesheim, Paracelsus und Jakob Böhme. Ernst Bloch zeichnete die Stimmung dieser frühneuzeitlichen deutschen Mystik nach: »Wir fahren jetzt nach Deutschland. Da ist es feucht, da ist Nebel, sind Wolken. […] Eine andere Natur breitet sich da aus als in Italien, eben eine sozusagen raunende, und selbstverständlich der deutsche Mondschein und darunter viel Abend, das Haus, das Gemüt. […] Die warme, tiefe, gotische Stube, die Schusterstube Jakob Böhmes wird ein Rahmen spekulativer Inwendigkeit und setzt sich dem Draußen entgegen […].« Agrippa von Nettesheim, 1486 in Köln geboren, stand genau in diesem Geflecht von okkulten (darunter war von der Orphik bis zur Kabbala alles vertreten), rationalen, antiken und zeitgenössisch-humanistischen Stoffen. Er reiste kreuz und quer durch Europa, hatte überall seine Netzwerke, sprach angeblich acht Sprachen. Er arbeitete als Philosoph, Arzt, Advokat (als solcher verteidigte er in Metz erfolgreich eine »Hexe«), Schriftsteller und kaiserlicher Historiograph. Auch für ihn war eine unspezifizierte »Naturphilosophie« eine Basis für all diese bunten Spekulationen, die ein nahezu typisches Bild eines Renaissancegelehrten zeichnen. Seine Unstetigkeit könnte symbolisch für die nach Orientierung suchende Zeit des Übergangs stehen. Paracelsus (Philipp Theophrast von Hohenheim) war eine ähnliche Renaissancefigur, kein klarer Rationalist, sondern ein ruheloser Wanderer quer durch Europa: Alchemist, Arzt, Empiriker und zugleich magischer Spekulant. Wiederum ein Arzt – ist man versucht zu sagen und erinnert sich an die platonisierenden Aristoteliker des Islam, die als Erste die formdurchtränkte Materie, aus der die Renaissance anscheinend unentwegt schöpfte, formuliert hatten. Ausgangspunkt für Paracelsus blieb die erste Materie, keine Emanation, sondern von Gott geschaffen und von Gottes Geist, der Urmutter, befruchtet. Aus ihr »separieren« (separatio) sich die einzelnen Elemente. Gegenüber einer eher geistgetragenen Mystik eines Böhme, Tauler, Eckhart entwickelte sich die Mystik des Paracelsus aus der intensiven Beobachtung des verbreiteten medizinischen Wissens, das philosophisch aufgeladen wird. Krankheit war für Paracelsus die Störung des Gesamtkosmos durch ein individuelles Parasitentum. Dies erinnert an die Klage Platons, dass die Absonderung des Einzelnen, das Virtuosentum, eine Krankheit sei. Anthropologie ist eine Kosmologie. Das heißt, dass das Innen immer die Entsprechung des Außen ist. Krankheit ist dann konsequent die verlorene Übereinstimmung mit dem Ganzen. Philosophieren und Heilen gehen in eins. So wie Platon der Seelenheiler war, Boëthius in der Philosophie eine Seelentröstung sah, ist für Paracelsus der Philosoph der ideale Heiler. Geheilt wird also immer das Ganze, das sich in der ersten Materie in zumindest drei Grundkräften manifestiert: Mercurius, Sulphur und Sal. Das Salz (Sal steht für Körper) bedeutet – so wie die Gemahlin Lots zur Salzsäule erstarrt war – das Stockende, Konservierende. Quecksilber (Mercurius steht für Geist) und Schwefel (Sulphur steht für die Seele) hingegen bedeuten dynamische Gestaltung. Sie dienen dem Abscheiden schädlicher Stoffe. Alchemie ist hier das Geschäft, alles Erstarrte zu verflüssigen und umzugestalten.

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Philosophie und Humanismus

Der 1575 geborene Jakob Böhme bildete ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Mystik, der Philosophie des Nikolaus von Kues und dem Deutschen Idealismus. Der Schuhmacher aus Görlitz in Schlesien kam durch mystische Visionen zu seinen Antworten auf die Fragen nach dem Grund der Welt und er legte diese Antworten in mehreren Werken nieder. Das 1612 in Teilen veröffentlichte theosophische Werk Aurora oder Morgenröte im Aufgang war die erste Frucht. Das Werk, das ihm sogleich ein Publikationsverbot einbrachte, war ein großer Entwurf der Vergöttlichung einer dynamischen Schöpfung. Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sondern sie ist ein ständiges Gebären, das Himmel wie Hölle erzeugt. Böhmes bildhafte Chiffren sind solche der kreativen produzierenden Materie. Sie verweisen selbst dann noch auf ein originelles Konzept, wenn sie vermutlich auf eine schlechte Lateinkenntnis zurückzuführen sind. Qualität – er schreibt Quallität – leitet er von Quelle ab und meint das untergründig Quellende, die formdurchtränkte Materie eben, den qualitativen Weltprozess, den Böhme manchmal mit einer gebärenden Frau vergleicht und der aus sich heraus Gestaltung schafft. Diese Gestaltung umschließt die dialektischen Gegensätze. »Es ist jeder Mensch sein eigener Gott und auch sein eigener Teufel. Zu welcher Qual er sich neigt und einergibt, die treibt und führt ihn, derselben Werkmeister wird er.« Der Teufel steckt in Gott, die Hölle im Himmel. Die Dialektik der Gegensätze treibt das produzierende Agens, das Böhme unter Materie versteht. Hegel feierte Böhme später dafür, dass er das Prinzip der Vermittlung so gut erkannt habe wie kaum jemand vor ihm. Die Entwicklung komme aus einem kreativen »Ungrund«, in dem wie im Chaos alles vermittelt liegt. Es ist eine Vermittlung von Geist und Materie im Kontext des Göttlichen und zwar unter christlichem Vorzeichen. Die Heilstat Christi wird völlig in diesen dialektischen Selbstbewegungsgang des materiellen Substrats aufgesogen. Christus ist es letztlich, der den in die dunkle Materie gefallenen Menschen heilt, indem er ihm die heilende Dynamik des Aufstiegs zum lichten Geist ermöglicht. Das Göttliche fällt mit dem Menschlichen in eins, »der Makrokosmos wird bei Böhme noch mehr als bei Paracelsus der Makanthropos […].«

Jakob Böhme

Böhme, zit. nach Bloch 1977a, 233

Bloch 1977a, 239

413 Idealstadt­ vedute (Piero della ­Francesca?); GNM

4.2.6. Die Staatsutopien Um 1470 entstanden die drei berühmten Idealstadt-Veduten (Baltimore, Berlin, Urbino), von denen nur eine eine einigermaßen gesicherte Provenienz hat und Alberti zugeschrieben wird (bei den anderen vermutet man Giuliano di Sangallo, Domenico Ghirlandaio, Francesco di Giorgio oder den Umkreis von Piero della Francesca). Die

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Die Renaissance

Krautheimer 1948

Abels 1985, 149 Belting 2008, 217 Idealstadt Grafton 2002, 376f

Tönnesmann2013, 50

414 Stadtplatz von Pienza Chastel 1966, 6 7.0. Tönnesmann 2013, 153

Buck 1969, 3

Toman 2007b, 20

detaillierten Deutungen der Ansichten, die an moderne computergestützte Architektur-Renderings erinnern, gehen weit auseinander. Sie reichen von Richard Krautheimers (der sie für Bühnenentwürfe hielt) Markthalle über die Meinung, es handle sich um ideale Entwürfe von Kirchen, bis hin zur Vermutung einer idealen Umsetzung der platonischen Polis-Utopie. Der Zentralbau auf dem Tafelbild aus Urbino sei demnach eine »imaginäre Zusammenfassung der religiös-mystischen, spekulativ-philosophischen und wissenschaftlich-pragmatischen Momente der Platonischen Akademie.« Hans Belting deutete die Veduten von der perspektivischen Bildkultur der Renaissance her und sah in ihnen die Inszenierung des Blicks des Subjekts. Faktum ist, dass Alberti in der Rolle als utopischer Idealist eine Idealstadt wie eine Bühne entwarf, während er als empirisch handelnder Architekt am Bau einer solchen beteiligt war. Es war Pius II., der seine Heimatstadt Corsignano abreißen ließ, um sie unter dem Namen Pienza vom Florentiner Bernardo Rossellino (Bernardo di Matteo Gamberelli) als Idealstadt wieder aufbauen zu lassen. Das unvollständige Resultat der wegen des schlechten Gesundheitszustands Pius II. schnell und eher schlampig gebauten Anlage – es wurde nur die Kathedrale mit den umgebenden Gebäuden ausgeführt – lässt sich noch heute betrachten. Der Innenraum des Doms ist übrigens – ungewöhnlich genug – deutsch-österreichischen spätgotischen Hallenkirchen nachgeahmt, die Pius bei einem Aufenthalt in Deutschland (besonders angetan war er vom Straßburger Münster) kennengelernt hatte. Im Auftrag der Sforza verfolgte auch Filarete die Idee einer Idealstadt. Sie war als achteckiger Stern aus zwei übereinandergelegten Quadraten (ein wenig der vitruvianischen Figur nachgeahmt) mit einem radialen Straßensystem angelegt und sollte Sforzinda heißen, blieb aber ein nicht realisiertes Projekt. Die Idee der Idealstadt war in der Renaissance weit verbreitet – »die Renaissance ist das Zeitalter der Phantsiestädte« – und inspiriert von den alten Vorstellungen vom himmlischen Jerusalem, den mittelalterlichen Klosterplänen und von Platons Politeia. »Erstmals seit der Antike hatten Humanisten des Quattrocento theoretische Stadtkonzepte entwickelt […].« Schon grundsätzlich legte die Leitkultur des Platonismus eine solche Idee nahe, war doch die griechische Polis die Umsetzung der kosmischen Harmonie. Gut möglich, dass zudem die starke Metaphorik der Wiederund Neugeburt hier ebenfalls eine politische Realisierung erfuhr. Wenn schon eine Gesamtgründung – abgesehen von Pienza – versagt blieb, bemühte man sich zumindest darum, Teilbereiche in bestehenden Städten nach den Vorstellungen des Ideals neu zu gestalten: Plätze, Kirchen- und Rathausfassaden, das – schon für Platon zentrale – Waisenhaus als Nabel der Stadt. Der Friedhof (campo santo) von Pisa soll in der Kreuzfahrerzeit aus Erde von der Hinrichtungsstätte Golgata aufgeschüttet worden sein – Zeichen eines in Pisa neu geschaffenen Jerusalem. Solche konkreten Bemühungen spiegeln die von Renaissancephilosophen entworfenen theoretischen Idealstaatsutopien. Ein Grund für die Häufung von solchen Utopien mag in der Individualisierung liegen, auf die man im sozialen Kontext eine

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Philosophie und Humanismus

Antwort suchen musste. Philosophisch überzeugend wird die Bindung des Individuums an eine staatliche Ordnung erst mit den Vertragstheorien im neuzeitlichen Empirismus gelöst. Thomas Morus war Humanist, Theologe und Politiker – als Lordkanzler von England ließ er Anhänger Luthers gnadenlos verfolgen. Er verfasste zahlreiche Schriften, darunter welche zur Bekämpfung Luthers und zur Stützung Heinrichs VIII. Seine Loyalität war allerdings rasch beendet, als Heinrich um die Annulierung seiner Ehe und die Anerkennung der Kinder bat, die er mit der im Volk verhassten Anne Boleyn haben würde. Morus wurde nach seiner brüsken Ablehnung dieses Ansuchens 1534 kurzerhand inhaftiert und ein Jahr später hingerichtet. Neurologen der Yale Universität vermuten neuerdings eine hirntraumatische Kopfverletzung durch Ritterturniere beim König und erklären damit seine Verhaltensänderung zum Tyrannen. 1935 setzte die katholische Kirche mit der Heiligsprechung von Morus ein Zeichen der Wertschätzung des Widerstandes gegen ein autoritäres Regime. Dem Herrscher aus dem Haus der Tudors wurde übrigens, obwohl er drei Dutzend Paläste bauen und ausstatten ließ, ein eher geringer Sinn für Kunst nachgesagt und als er Kirchenoberhaupt wurde, folgte eine Stagnation religiöser Kunst. Das bekannteste Werk des Thomas Morus blieb seine 1516 erschienene Utopie (De optimo republicae statu, deque nova insula Utopia/Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia). Im Ersten Buch wird die zeitgenössisch-aktuelle, sich ständig verschlechternde Lage in England beschrieben. Das Zweite Buch ist ein fiktiver Reisebericht eines mit Amerigo Vespucci reisenden Portugiesen über die Insel Utopia, die als England identifiziert werden kann. Der Anspruch ist freilich nicht einfach der eines Reiseabenteuers, vielmehr sollte es sich eine vorbildliche Lehrschrift handeln. Die Geschichte erzählt von 54 Städten mit gleichem Aussehen auf der Insel. Die Menschen lebten ein Leben ohne privaten Bereich, sogar die Häuser wurden alle zehn Jahre in einem Losverfahren gewechselt. Der Gründer namens Utopos war auch der Architekt der Anlage. Die Beschreibung des dortigen Idealzustandes, in der sich reale Vorschläge und Satire (dazu gehört schon der Name des Berichterstatters: Hythlodaeus, in dem das griech. Wort hythlos/Unsinn steckt) treffen, basiert auf der Grundlage einer etatistischen Subsistenzwirtschaft. Dieses Modell suggeriert, dass die Unzulänglichkeiten des zeitgenössischen England auf die kapitalistische Privateigentumsordnung zurückzuführen seien. François Rabelais war Franziskaner, dann Benediktiner, schließlich Weltgeistlicher und beschrieb in seinem fünfbändigen Roman Gargantua und Pantagruel (1532–1564) das »Antikloster« Thelema (Wille) im Land Utopia. Rabelais, der die Schriften Vitruvs, Albertis, Francesco Colonnas und de l’Ormes kannte, zog die Konsequenzen aus dem Humanismus und entwarf für seine Abtei die Vision einer idea­ len höfischen Gesellschaft mit idealer Architektur. »Gesellschaftsutopie und Idealarchitektur werden in Frankreich von Rabelais erstmals miteinander verbunden.« Dazu kam ein Bildungsideal für die dort anzusiedelnden Bewohner. Der Name Thelema wird im Weiteren geradezu eine Metapher für eine sechseckige symmetrische Idealarchitektur schlechthin.

Thomas Morus

Kauffmann 1970, 96

François Rabelais

Kruft 1985, 138

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Die Renaissance

Tommaso ­Campanella

415 Statue ­Campanellas in Stilo

Der Kalabrese aus Stilo in Kalabrien, Tommaso Campanella, Angehöriger des Dominikanerordens, war ein eigenständiger Kopf, inspiriert von Telesio. Ständig vor Verfolgung auf der Flucht durch norditalienische Städte, wo er teilweise von Stadtfürsten beschützt wurde, gelang es der Inquisition schließlich, seiner habhaft zu werden. Man brachte ihn nach Rom, wo er Haft und Folterungen über sich ergehen lassen musste. Nachdem er entnervt seinen Thesen öffentlich abgeschworen hatte, kehrte er wieder nach Stilo zurück, verhedderte sich aber in einer Verschwörung chiliastischer Träumer, die die Gründung einer neuen kommunistischen Brüdergemeinschaft anstrebten. In den weiteren Jahren wechselten Kerker, Folter, Hausarrest, was ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Trotzdem verfasste er in dieser Zeit eine Reihe von Schriften. Die letzten Lebensjahre waren geprägt von gleichzeitiger teilweiser Rehabilitation und neuen Verleumdungen und Exilsaufenthalten in Frankreich. Von Telesio griff Campanella den Gedanken einer neuen, von Aristoteles unabhängigen Wissenschaftskonzeption auf, aber er verwischte die dort durchgeführte Trennung von Wissenschaft und Magie wieder. Campanellas Schriften sind durchsetzt von magischem und okkultem Material, was ihm viele der geschilderten Probleme einbrachte. Der Rest, in der Kirche ähnlich umstritten, war moderne Wissenschaft, die Verteidigung des heliozentrischen Weltbildes und der Einsichten seines befreundeten Briefpartners Galileo Galilei sowie Kritik am alten Aristotelismus scholastischer Prägung. Trotzdem sollte es seiner Meinung nach keinen Bruch zwischen Bibel und Naturwissenschaft geben. Denn das Buch der Natur wurde von Gott geschrieben und kann ihm folglich nicht widersprechen. An seinem Hauptwerk Universalis philosophiae, seu metaphysicarum rerum arbeitete Campanella sein Leben lang und erstellte mehrere Varianten, weil jede wieder auf das Neue Anstoß erregte. Es entstand zur gleichen Zeit, in der Descartes mit seinen Schriften philosophisch die Neuzeit einleitete. Das originelle Werk bietet eine Ontologie, eine Erkenntnistheorie und eine Kosmologie. Der Aristotelismus der Gegenreformation und der Cartesianismus, der sich von Frankreich aus über Europa verbreitete, ließen diesen Beitrag der späten Renaissance zur modernen Welt schnell in Vergessenheit geraten. Die 1602 entstandene Vision eines Sonnenstaats bzw. einer philosophischen Republik (Civitas solis Idea republicae philosophiae; ursprünglich Anhang einer weiteren philosophischen Schrift) steht in der Tradition der Utopia des Thomas Morus und von Platons Politeia, ja ist geradezu eine Renaissance-Übersetzung der totalitären Struktur von Platons Politeia. Das Buch ist die fiktive Schilderung eines Seefahrers aus Genua – Reiseberichte waren zur Zeit der Weltentdeckung eine beliebte literarische Form –, der am Äquator einen Sonnenstaat gesehen haben wollte. Dieser Staat bestand aus sieben Kreisen, denen sieben Bereiche der Wissenschaften und Künste zugeordnet waren. In der Mitte residierte in einem Tempel – Anleihe an den Sonnenkult – der Sonnen- und Philosophenkönig »Metaphysicus« oder »Sol«. Die Beschreibung des Tempels ist außerordentlich bemerkenswert. Sie hebt nämlich ab auf das von den meisten Renaissancearchitekten vertretene ideale Haus Gottes: »Der

419

Philosophie und Humanismus

Tempel ist ganz rund, frei sichtbar von allen Seiten, getragen von mächtigen, schlanken Säulen. Die Kuppel in der Mitte oder ›Axe‹ des Tempels, ein Wunderwerk, … hat in ihrem Scheitel ein Stirnlicht gerade über dem einzigen Altar […] In der Kuppelwölbung sind die Sterne des Himmels gemalt.« Ein pythagoreisch-neuplatonischer Geist durchzieht das Werk und trifft sich mit den philosophisch-theoretischen Grundlagen der zeitgenössischen Architektur. Zum Unterschied vom Egalitarismus bei Giordano Bruno ist dieser Staat hier­ archisch aufgebaut. An der Spitze steht ein Hohepriester, seine Minister heißen Macht, Weisheit und Liebe, was nicht nur Strukturen einer Ontologie, sondern den Bereichen des Staates, dem Krieg, der Propaganda bzw. Pädagogik und der Moral, entspricht. Trotz der hierarchischen Organisation basiert der Staat auf einem kommunistischen Eigentums- und Erziehungsideal und regelt das Leben der Bürger ohne jede Freiheit bis ins Detail. Wissenschaft und Technik spielen eine große Rolle. Es gibt Visionen von technischen Dingen, die zur Zeit der Abfassung noch gar nicht erfunden worden waren. Ernst Bloch behauptete einen Zusammenhang der Schrift mit dem Pariser Hof. Demnach wollte Campanella in dem jungen Thronerben (und späteren Ludwig XIV.) den wahren König des Sonnenstaats begrüßen, was zu seinem Titel le roi soleil geführt haben soll. Mit Francis Bacon, Baron von Verulam, ist eine philosophische und politische Figur benannt, die zwar noch aus dem Geist des Renaissance-Humanismus zu verstehen ist, die aber die Weichen hin zu einer neuzeitlichen Wissenschaftskultur stellte und die Liaison von Okkultem und Wissenschaftlichem beendete. Bacon setzte dem Fortschritt der Wissenschaften in seiner Instauratio magna (Große Erneuerung der Wissenschaften) ein publizistisches Plädoyer. Darin redete er der empirischen Methode das Wort und warnte vor einer Überschätzung der spekulativen Kräfte des Geistes. Das ist Thema der beginnenden Neuzeit und wird an anderer Stelle noch einmal aufgenommen werden. Auch seine Staatsutopie stand unter diesem Vorzeichen. Er legte sie im Werk Nova Atlantis um 1614 (erschienen 1626) nieder. Der Titel suggeriert eine Aktualisierung des von Platon geschilderten Atlantismythos. Hatte Morus politische Interessen, das zeitgenössische England betreffend, ging es Bacon vor allem um die Entwicklung einer neuen Wissenschaft auf der Grundlage des Empirismus, dem Experiment und der Beobachtung. Mit diesem Bemühen stellt er eine ideale Figur des Übergangs von der Renaissance in die Neuzeit dar. Nova Atlantis entwirft eine neue Gesellschaftsordnung, die sich aus dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik ergibt. Wiederum sind es zurückgekehrte Seefahrer, die von einer phantastischen selbstverwalteten Wissenschafts-Polis erzählen, in der sich die Wissenschaft unabhängig entwickelt. Die Religion, die auf einer wissenschaftlich überprüften Offenbarung basiert, sticht durch Toleranz hervor. Es ist das Ziel der Wissenschaft, die Natur zu erforschen und Gottes Schöpfung fortzusetzen.

Campanella, zit. nach Wittkower 1949, 31f

Bloch 1977a, 206 Francis Bacon

VII.5.1.

420

Die Renaissance

5.0. Die Perspektive

Belting 2008, 23 Schulte-Sasse Jochen in ÄGB 4, 759 Giedion 1965, 50

III.3.3.2.2.

Hub 2008, 100

Bühring 2014, 22f

König Gert in HWBPh 7, 363

Abels 1985, 41

Die oben angesprochenen Veduten von Urbino um 1470 sind nicht nur (mögliche) Dokumente einer städtischen Idealordnung, sie sind auch Darstellungen in perfekter Perspektive. Sie sind damit eine passende Illustration für ein zentrales Element der Kultur der Renaissance. Die Perspektive gilt als »Revolution in der Geschichte des Sehens«, als »Manifestation eines langzeitlichen kulturrevolutionären Prozesses«, als »völlige Umwälzung« und nicht zu Unrecht als Markenzeichen der Renaissance. Inwieweit die Perspektive eine Neuerfindung der Renaissance oder eine Wiederaufnahme und Fortentwicklung der Antike ist, darüber gibt es einen ebenso langen wie kontroversen Disput. Die These einer bloßen Wiederaufnahme vertraten vor allem die Entdecker der Villen in den Vesuv-Städten. Sie sahen in den Fresken des Zweiten Pompejanischen Stils bereits die Linearperspektive verwirklicht. Solche Überlegungen werden allerdings regelmäßig von anderen Forschern bestritten. Der Streit wurde von Berthold Hub sowohl in seinen mathematischen als auch in seinen kulturphilosophischen Aspekten eindrucksvoll dokumentiert. Beide Argumentationen reichen indes – vor allem wegen der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs »Perspektive« – nicht hin, um die Frage eindeutig zu entscheiden, auch wenn für Hub das Resümee nur sein kann, »dass in keinem der erhaltenen antiken Werke […] die Anwendung eines geometrisch kohärenten perspektivischen Systems nachweisbar ist, das ein Analogon dessen wäre, was in der Kunst der Renaissance die Linearperspektive war.« Beim Zweiten Pompejanischen Stil gibt es zwar reichlich Trompe-l’œil-Effekte, aber keinen einheitlichen Fluchtpunkt. Die »echte« Perspektive« der Renaissance unterscheidet sich daher von der Dreidimensionalität der Antike. Sie ist auf einen Fluchtpunkt ausgerichtet und löst das Problem der Projektion eines dreidimensionalen Raumes auf einer zweidimensionalen Fläche mathematisch. Man spricht im Fall der Antike daher auch eher von Raumperspektive und nicht von einer (mathematisch exakten) Zentralperspektive. Die mathematische Hochrüstung verdankte die Renaissance (auf der Grundlage der arabischen Quellen) vor allem Alberti. Ausgehend von Euklids Sehstrahlen-Lehre konstruierte er eine »Sehpyramide« mit Zentralstrahl und peripheren Strahlen. Dieser gedachte Sehkegel hat die Spitze im Auge der Betrachterin und die Basis im dargestellten Gegenstand. Alberti spricht auch von einem offenen Fenster (fenestra aperta), das den Blick auf einen Ausschnitt der Welt zulässt. Der Begriff selbst kam über Boethius als Übersetzung des griechischen Ausdrucks ta optika ins Lateinische und hatte ursprünglich nichts mit der modernen Bedeutung zu tun. Das lateinische per-spicere bedeutet soviel wie durch-schauen durch einen Rahmen oder einen Bildschirm. Im italienischen prospettiva schwingt noch die Bedeutung einer »Ansicht« mit. Im Quattrocento bezeichnete man mit ars perspectiva »die konstruierte, wissenschaftliche Perspektive, die, auf dem Malgrund als Vorzeichnung angelegt, die zweidimensionale Bildfläche in einen scheinhaft dreidimensionalen Raum strukturiert.« Die visio perspectiva ist die »perspektivische Bildordnung im visuellen Feld des Betrachters« und die scientia perspectiva ist die Wis-

421

Die Perspektive

senschaft der Perspektive als Spezialfach der Optik. In solchem Kontext wird die Perspektivenlehre eine Leitwissenschaft der Renaissance: »Die Lehre von der Perspektive, die als Errungenschaft der theoretischen Begriffsbildung des Quattrocento aus den physikalisch-optischen Einsichten Brunelleschis, den mathematisch-geometrischen Vorschriften Piero della Francescas und den Traktaten Albertis angesehen wird, ist als wissenschaftliche Disziplin im Quattrocento unbestritten.« Dante, der mit den philosophischen Positionen von Platon und Aristoteles über Thomas von Aquin bis zu den arabischen Kommentatoren vertraut war, verherrlichte die Reinheit der Mathematik: »Die Geometrie ist lilienweiß, unbefleckt von Irrtum und höchst gewiß, sowohl sie selbst als auch ihre Dienerin, die Perspektive genannt wird.« In seinen Überlegungen zu ästhetischen Fragen in dem philosophischen Werk Convivio (Gastmahl), aus dem dieser hymnische Satz stammt, erscheint Schönheit stets als Harmonie und ideale Proportion. Fra Luca Pacioli nannte die Perspektive in seinem De divina proportione eine achte freie Kunst. Sie war damit ein Abgrenzungskriterium der »echten« Kunst von einer nur unzureichenden des Mittelalters geworden. Die Künstler waren sich der Bedeutung der Perspektive durchaus bewusst und zelebrierten sie geradezu, sodass gelehrte perspektivische Konstruktionen bisweilen zum artistischen Selbstzweck wurden. Wer primär die philosophische und kulturgeschichtliche Pointe der Perspektive in den Blick nimmt, fragt nach Humanismus und Subjektivierung. Unter einem solchen Interesse war zweifellos bereits die antike Dreidimensionalität, der schließlich ein perspektivischer Aspekt zukam, Ausdruck von Humanismus und Subjektivierung. Die Ägyptologin Emma Brunner-Traut machte an der Dreidimensionalität der Griechen ab etwa dem 6. Jh.a. als einer Form von Perspektive gegenüber den flächigen aperspektivischen archaischen Kunstformen – besonders ausgeprägt in der Skia- und Skenografie des 5. und 4. Jh.s – die Achsenzeit-Wende fest. Sie stilisierte die Frage von Perspektive und aperspektivischem Verhalten zu einem achsenzeitlichen Epochenbruch. Zur Darstellung eines Gegenstandes derart, dass auf einer zweidimensionalen Ebene eine dreidimensionale Raumtiefe illusioniert wird, gehören die Verkürzungen von Gegenständen, Körper und Schatten, sowie das, was Brunner-Traut Multilateralität nannte. Sie meinte damit, dass »kein Glied eines (lebenden) Körpers bewegt werden kann, ohne daß die zugehörigen Glieder betroffen sind, da alle mit allen zusammenhängen und ein einheitliches Ganzes, ein Beziehungsgefüge, bilden.« Durchaus ähnlich sah Erwin Panofsky die Zusammenhänge, wenn er von einem Übergang vom Aggregatraum zum Systemraum und – noch spezifischer für die Renaissance – vom psychologischen zum mathematischen Raum sprach. Es scheint aus diesem Grund angemessen, statt von Perspektive von Perspektivität zu sprechen. Damit geraten die Voraussetzungen einer Wende zum Perspektivischen, Humanismus und Aufklärung, in den Blick. So gesehen ist Perspektivität und Perspektive nicht nur eine Errungenschaft der bildenden Kunst, auch »die Literatur, die Wissenschaft und schließlich auch die Philosophie der frühen Neuzeit« weisen »perspektivische Strukturen« auf.

Ebd., 109

Dante, zit. nach ­Baxandall 1984, 166

III.2.4.1. II.5.0.

Brunner-Traut 1992, 8

Panofsky 1962, 131–140

Boehm 1969, 7

422

Die Renaissance

5.1. Voraussetzungen der Perspektive

Raum

3.1.

Belting 2008, 258

Subjekt

Giedion 1965, 50

Bellosi 1987b, 234

4.1.2.

Stierle 2006

Geometrie

Kulturgeschichtlich gesehen kann die Kulturtechnik der Perspektive als eine Verdichtung der in 3.0. erwähnten drei Kennzeichen der Renaissance gesehen werden: Perspektive ist unabdingbar verbunden (1) mit einer Raumvorstellung, sie ist (2) gekoppelt an das gestaltende Subjekt und eine ihrer zentralen Voraussetzungen ist (3) die Geometrisierung der Natur als Botschaft des antiken Platonismus. (ad 1) Zur Perspektive gehört ein neues Raumverständnis samt der Entdeckung des Horizonts. Es sind der Raum und der Horizont, mit dem man inzwischen – nach den Eplorationen der Welt, die mit fremden Kulturen bevölkert und von diesem gestaltet ist – vertraut geworden war. Man hatte dabei gelernt, den Horizont in den immanenten Blickraum des Menschen zu holen und hatte ihn nicht mehr wie im Mittelalter »auf einen außerweltlichen Blick« bezogen, »der sich ›von oben‹ auf die Welt richtet.« Es ist zwar der Raum eines unendlichen Kosmos, der sich aber dem menschlichen Blick, inzwischen verstärkt mit den ersten Teleskopen, erschließt. Das war eine empirische erforschbare Unendlichkeit und nicht mehr der Blick in eine Unendlichkeit als Attribut Gottes. (ad 2) Der souveräne Umgang mit dem Raum setzte einen selbstbewussten Menschen voraus. Er hatte sich von den dogmatischen Weltbildern des Mittelalters befreit und unterzog seine Natur mehr und mehr einer experimentellen wissenschaftlichen Ergründung. »In der Erfindung der Perspektive fand der moderne Begriff des Individualismus sein künstlerisches Äquivalent.« Denn der Blick des Menschen ist kein passiver. In der Perspektive »feiert sich […] der Mensch selbst: Seine körperliche Realität und die Welt, in der er lebt, werden in die unveränderliche Rationalität der geometrischen Formen übertragen.« Luciano Bellosi greift bei dieser Beschreibung unwillkürlich auf Platons demiurgischen Prozess zurück, der nun kein göttlicher mehr ist, sondern ein Prozess subjektiver Aneignung und Arretierung der Welt in der Geometrie. Es geht – wenn wir an die bezwingende Mont-Ventoux-Geschichte Petrarcas denken – um jenen Menschen, der beim Blick in die Landschaft nicht automatisch eine göttliche Ordnung sieht, sondern eine ungeordnete Vielheit, die er einem Ordnungsvorgang unterzieht: »Es ist die zusammenhangsetzende, raumkonstituierende Macht des Blicks vom erhabenen Standort, die dem Erblickten eine Selbstbezüglichkeit neuer Art verleiht.« Abgesehen von der kunstgeschichtlichen Wurzel für die Landschaftsmalerei des 15. Jh.s ist mit der Betonung des gestaltenden Subjekts zugleich das kunstphilosophisch ergiebigste Diskursfeld im Umkreis der Kulturtechnik Perspektive eröffnet. Es reicht bis zur Vorwegnahme der transzendentalphilosophischen Wende in der neuzeitlichen Philosophie. (ad 3) In der Perspektive feiert sich eben jener Mensch, der die Repräsentation des Raums und der darin abgebildeten Natur rational und effizient organisieren kann. Erst in den geometrisch konstruierten Raum passen sich die Szenen logisch und gleichsam von selbst ein. Es geht um eine Beherrschung des Raums durch den Menschen, während bisher der Raum den Menschen beherrscht hat. Zunächst ist dabei wichtig festzuhalten, dass dem Zugang zur Natur und der materiellen Welt, so wie sie »wirklich« ist, kein Hindernis mehr im Wege stand. War

423

Die Perspektive

im Mittelalter das Sichtbare noch unvollkommener Ausdruck einer vollkommenen Idee im Materiellen, wurden nun das Sichtbare und das Materielle – nicht zuletzt vorbereitet durch die Dignität als Schöpfung Gottes – selbst wertvoll. Durch die unterschwellige Präsenz des Aristoteles im Platonismus und die damit einhergehende Umkehrung der metaphysischen Betrachtungsweise war der Platonismus nicht mehr ein Paradigma anagogischer Weltflucht, sondern jetzt stand die emanative Bewegung im Vordergrund, wo die Anwesenheit vermeintlich göttlicher Dignität das Hier und Jetzt adelte. Daher ist die möglichst naturgetreue Wiedergabe der sichtbaren Erscheinungswelt grundsätzlich legitim. Wenn die Naturwiedergabe dennoch kritisch betrachtet wurde, dann unter anderem deshalb, weil man der Kunst einen höheren Rang zusprach. Sie durfte nicht bloß Handwerk geschickter Kopisten sein, sondern der Genius des Künstlers sollte die Natur dort verbessern, wo sie von der (nun doch wieder platonischen) Idee abwich. Hier erhielt das demiurgische Element eine Umsetzung sowohl in der Kunst als auch in einer Art technischem Prozess. Denn hier ist Kunst letztlich als Chiffre für die Kulturkompetenz des Menschen zu verstehen, die sich in ihrer Funktion nicht mehr weit vom technischen Prozess unterscheidet. Ein Gedanke, der bei Hegel und Marx philosophisch umgesetzt wird. Um die Geometrisierung des Raums und der Natur durchzuführen, war eine weitere Voraussetzung nötig: die arabische Theorie der Optik. In seiner Studie Florenz und Bagdad beschreibt Hans Belting minutiös den kulturbedingten Übergang von einer seit dem 13. Jh. bekannten arabischen Sehtheorie in die Bildtheorie der Renaissance. Belting behält den großen Zusammenhang im Auge und dechiffriert die Entstehung der Bildkultur der Renaissance als kulturellen und philosophischen Vorgang. Er reichte zurück in die spätmittelalterliche Schärfung der Empirie und war eine konsequente Fortsetzung des neuen Kunstverständnisses, wie es auf der Grundlage von Witelo, Roger Bacon, John Peckham und anderen unter dem Einfluss von Alhazen umgesetzt wurde. Diese Sehtheorie gewann erst als Bildtheorie der Renaissance »ihre kulturelle Dimension«. Alhazen war der Erfinder der camera obscura, die letztlich mit einem perspektivischen Bild-Entwurf funktionierte. Jonathan Crary sah die Popularität der camera obscura im 16. und 17. Jh. bedingt durch den Subjektivitätsaspekt und der Entkörperlichung des Sehens. Das mathematische Rüstzeug für die Konstruktion der Perspektive, wie es der um 965 in Basra geborenen und im neu gegründeten Kairo arbeitende Alhazen (al-Hasan ibn al-Haitham) in seinem Kitab al-Manazir (Buch der Sehtheorie) vorlegte, wurde erst durch Newton überholt. Vermutlich wurde dieser wissenschaftliche Bestseller um 1200 unter den beiden Titeln De aspectibus und Perspectiva in Spanien übersetzt. Ein weiterer Kenner der optischen Theorien Alhazens war der Aristoteliker Biagio Pelacani aus Parma. Pelacani schrieb einen Traktat über die Perspektive (Questiones Perspectivae) und setzte dabei auf die geometrische Konstruktion. In diesem Punkt ging der Renaissancephilosoph weit über die spätmittelalterliche Oxforder Schule hinaus und war ein kaum zu überschätzender Vermittler zu einer mathematisch konstruierten Perspektive, aber auch zu einem greifbaren Bildbegriff. Inwieweit Pelacani Brunelleschi beeinflusste, ist unklar. Man weiß aber, dass er sich zur

VIII.5.3.3./VIII.6.1.1.f.

V.3.3.1./V.7.2.2.3. Belting 2008, 10

Crary 1990, 39f, 60

V.7.2.2.3.

424

Die Renaissance

Belting 2008, 162f Borsi 1981, 298

Gerl 1989, 130

McLuhan 1962, 18ff 2.0./IX.4.7.1.

Zeit der Entstehung der Perspektive in Florenz aufhielt. Jedenfalls dürfte Alberti das Werk Pelacanis gekannt haben. Besonders eindrucksvoll kommt der Unterschied zwischen arabischer Sehtheorie und der Bildkultur der Renaissance in der Funktion der Geometrie zum Ausdruck. Blieb die Geometrie in ihrer Rolle für die Ornamentik im Islam ein – mit Belting gesprochen – »Thema der Kunst mit eigenem Recht«, wurde die Geometrie jetzt für die Perspektive funktionalisiert. Sie wurde sozusagen zur Möglichkeitsbedingung, um ein Bild möglichst realistisch zu entwerfen. Oder, um an Luciano Bellosis Feststellung zu erinnern: Die materielle Welt wurde in die Unveränderlichkeit der Geometrie übertragen. Mit Blick auf den Stand der Geometrie weist Belting Überlegungen einer Perspektive in der Antike mit dem Hinweis zurück, dass die Antike noch nicht über die für die Konstruktion der Perspektive nötigen mathematischen Mittel verfügt habe. Die Frage nach der kulturphilosophischen Bedeutung tangiert das freilich nur am Rande, denn der antiken Dreidimensionalität kann man, wie schon gesagt, durchaus eine ähnliche humanistische Motivation unterstellen wie der Perspektive der Renaissance. Als weiterer Hintergrund für die Revolution der Bildkultur in der Renaissance kann man die Aufwertung des Visuellen gegenüber dem Text im Mittelalter ausmachen (was eben auch für die Abgrenzung zum Islam gilt). Dazu gehörte die üppige religiöse Kunst mitsamt den szenischen, farbenfrohen Aufführungen bei Prozessionen und vor den Kathedralen. Letztlich handelt es sich hier um einen frühen pictural turn, eine neue visuelle Kultur, die – wie erwähnt – durch den Buchdruck und das »Überholen des Auditiven durch das Visuelle« einen Impuls erhielt. Der Wechsel zur Perspektive als medienphilosophische Revolution wurde an verschiedenen Stellen untersucht. Der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan deutete die Perspektive als eine Folge des Medienumbruchs bereits durch die Alphabetisierung. Damals sei die magische Welt des Ohres durch die neutrale Welt des Auges abgelöst worden. Durch den Buchdruck habe sich das noch verstärkt. Nach dem Motto the medium is the message sah McLuhan neben einem wissenschaftstheoretischen, politischen und sozialen Paradigmenwechsel mit dem Wechsel des Leitmediums die Wende zur Perspektive verbunden. Die Perspektive sei gekennzeichnet durch eine unnatürliche Fixierung von subjektivem Blick und den dargestellten Gegenständen. Derart sei sie ein Abbild der neuzeitlichen Wissenschaft mit ihrem starren, hierarchischen und geometrischen Theoriekonzept. Diese neue visuelle Kultur lässt sich verbinden mit der Abkehr von einem trockenen sprachphilosophisch-scholastischen Unternehmen und der Lust der Renaissance an der Rhetorik, die stets mit der Ekphrasis verbunden ist, dem Auslösen von Bildern im Text und in der rhetorischen Figur.

5.2. Kontexte Filippo Brunelleschi wird von seinem Biographen Antonio di Tuccio Manetti Anfang des 15. Jh.s als Erfinder der Perspektive in die Geschichte eingeführt. Er machte am Baptisterium in Florenz seine Experimente, um die neue Theorie empirisch

425

Die Perspektive

zu überprüfen. Kaum zufällig war Brunelleschi auch Bühnenbauer. Die Perspektive wurde im Weiteren von Alberti in seinen Malereitraktaten und von Piero della Francesca, der sie als antikes Wissen verstand, theoretisch aufgearbeitet (De prospectiva pingendi; 1474), von Pacioli verbreitet und von Filarete und Ghiberti weiter beschrieben und angewandt. Der Begriff Perspektive, als Ausdruck der arabischen Sehtheorie bereits im Mittelalter geläufig, wurde jetzt einer der Kunst. Die Bild-Perspektive brauchte – wie schon gesagt – als notwendige Voraussetzung die arabische Sehtheorie samt ihrem mathematisch-geometrischen Know How. Immer wieder nannte man die Geometrie göttlich. Bei Fra Luca Pacioli galt das, wie oben kurz erwähnt, auch für die Perspektive. Er und eine ganze Reihe von Mathematikern standen am Anfang der wissenschaftlichen Bearbeitung der Perspektive. Unter dem Titel einer Verbindung von Wissenschaft und Kunst bzw. von Baupraxis und Theorie (dem alten ars sine scientia nihil est/scientia sine arte nihil est, formuliert z.B. als Programm der Dombauhütte in Mailand 1399, verfasste der britische Kunsthistoriker Martin Kemp darüber eine ausführliche Studie. Der Vergleich mit der byzantinischen Ablehnung der Perspektive, die der göttlichen Ordnung geradewegs entgegengesetzt erschien, zeigt die gewaltige kulturelle Verschiebung, die hier stattgefunden hat. In beiden Fällen liegt ein platonisierender Kontext vor. Im Falle von Byzanz ein spiritueller, im Falle der Renaissance ein durch aristotelische Einflüsse geerdeter. Auch für die islamische Kunst gilt der platonische Hintergrund und in stilistischer Hinsicht war sie, wie in V.3.3.2. angesprochen, der byzantinischen nicht unähnlich: kein Naturalismus, kein Illusionismus wie Perspektive, Licht-Schatten, Proportion, keine individuellen Züge der abgebildeten Personen. Das war keineswegs ein Unvermögen der Künstler, wie dies anfangs gelegentlich in der Kunstgeschichte kolportiert wurde, sondern eine bewusste Option, die mit der eingelernten Üblichkeit der an der byzantinischen Malerei geschulten Künstler einherging. Bei Ghiberti kam die Perspektive mit Bezug auf arabische Traktate noch in beiden Bedeutungen, der spirituellen und »geerdeten«, vor. Der Umgang mit dem Raum wurde jedenfalls zum entscheidenden Stilbruch gegenüber der maniera greca. Die Vermeidung der Perspektive hatte dort einen vertikalen Raum vor einem horizontalen gesichert. Pietro Lorenzetti, der ältere Bruder des Ambrogio Lorenzetti, malte in den Fresken im hinteren Querschiff der Unterkirche in Assisi einen wirklichen Nachthimmel mit Schattenwurf und keinen symbolischen Goldgrund mehr. Mit dem Gang in die Perspektive war der Wechsel vom Eigenlicht zum Beleuchtungslicht verbunden. Die maniera graeca kannte kein Licht, das von außen die Bildgegenstände beleuchtete, damit auch keinen Schattenwurf. Das Licht kam im Sinne der neuplatonischen Lichtmystik von innen. Im 15. Jh. kippte dieses Verhältnis. »Zum historischen Vorgang ist zu sagen, daß die Dominanz im 14. Jahrhundert beim Eigenlicht liegt und sich im 15. Jahrhundert auf das Beleuchtungslicht verlagert, […] erst um das Jahr 1500 setzt sich das Beleuchtungslicht endgültig und rein durch.« Die Fresken Masaccios (von Filippino Lippi in seinem Stil vollendet) in der Brancacci-Kapelle (Santa Maria del Carmine) in Florenz – sie galten als »Geburts-

6.4.2.

Begriff Perspektive

Saliba 2007

Ackermann 1949 Kemp 1990

maniera graeca

Schöne 1954, 82

426

Die Renaissance

Borngässer Barbara in Toman 2010, 454

Piero della Francesca, zit. nach Bellosi 1987b, 229 Porträtkunst

stunde der Reanissancemalerei« und als Neubeginn, »der bereits von den Zeitgenossen als einschneidend empfunden wurde« –, haben alle einen atmosphärischen Himmel und perspektivische Konstruktionen. Den rigorosesten perspektivischen Durchbruch, jenen im Dreifaltigkeitsfresko von Santa Maria Novella, erwähnte ich bereits. Giovanni da Milano schnitt die Figuren am Rand ab, als wollte er andeuten, dass der Raum sich über den Rahmen hinaus ausdehnt. Alles war, so schien es, Perspektive: »Die Malerei ist nichts anderes als die Demonstration von Flächen und Körpern, welche verkleinert oder vergrößert werden, je nachdem wie die wirklichen vom Auge wahrgenommenen Dinge unter verschiedenen Winkeln sich darstellen.« Neben der Auszeichnung des Blicks kam das Subjekt in der Porträtkunst ins Spiel, die ebenfalls in der Renaissance wiederentdeckt und zu großer Meisterschaft gebracht wurde. Noch Petrarca hatte festgestellt, dass manche Porträtdarstellungen

416–418 San Nicolò, Mönche in ihren Zellen (ganz links: Albert d. Große); Treviso

Schütz Karl in Kat. 2011a, 14

zwar echt wirkten, aber dass das Porträt dem Betrachter nicht antworte. Im 15. Jh. begannen die Porträtierten, mit den Betrachtern in Blickkontakt zu treten. Der Blicktausch befriedigte beim Porträt die Forderung nach Naturnachahmung, zudem wurde es als Kunstwerk gewürdigt. Das Porträt von ehrenwerten Mitgliedern der zeitgenössischen Gesellschaft fand im Laufe der Renaissance sogar Eingang in das sakrale Bild. Ein einzigartiges Monument sind die von Tommaso da Modena bereits um 1352 im Kloster San Nicolò in Treviso gemalten vierzig Dominkanerporträt-Fresken. Sie waren im Sinne der Erwartung des Plinius gemalt, wonach Porträts auch Bilder der Seele (imagines animorum) sein müssten. Alle Dargestellten werden psychologisch charakterisiert und sitzen jeweils in einem kleinen, annähernd perspektivisch dargestellten Raum. Am Anfang der Porträtmalerei wurden die dargestellten Figuren durch Kleidung, Wappen oder Inschriften identifizierbar. Erst allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass zur Individualität auch die physiognomische Identität gehört. Albrecht Dürer erwähnt das in vielen Porträts ausdrücklich. Auf seinem berühmten Kupferstich des Erasmus von Rotterdam (1526) steht zu lesen: »ad vivam effigiem deliniata« (als lebenstreues Abbild gezeichnet). Alberti hob in seinem Malereitraktat neben der Funktion der Memoria hervor, dass das Porträt auch den Ruhm der Maler mehre. Er hat damit das Porträt zu einem Werk ästhetischer Bewunderung gemacht. Das erste Porträt eines Dichters deutscher Sprache ist jenes des Oswald von Wolkenstein, des Barden aus dem Südtiroler Pustertal, der in ganz Europa anzutref-

427

Die Perspektive

fen war (auch beim Konzil in Konstanz, wo er die »schönen Weiber« besang und die Wucherpreise für sie beklagte). Er ließ sich um 1432 in einer Liederhandschrift von einem unbekannten Künstler »nach der Natur« mit allen Insignien eines zu Geld gekommenen Wohlhabenden abbilden. Das dreidimensionale Standbild muss, verglichen mit dem zaghaften Herausschälen figuraler Formen aus dem Stein der Fassade an den romanischen Kirchen, geradezu als ein Fest des Humanismus verstanden werden. Jetzt scheut sich der Mensch nicht mehr, den Logenplatz einzunehmen und ein Geschehen im Raum auf sich als Zuschauer und Rezipienten zu beziehen. Bei der spätmittelalterlichen Skulptur war der Raum noch Teil dieser Skulptur, jetzt ist er neutral, unendlich und unabhängig von den Darstellungen – so wie ihn Cusanus und Giordano Bruno zu beschreiben begonnen hatten. Ein gutes Stück empirischer Arbeit der Physik und der Optik stand hinter dieser Konzeption, ebenso wie ein Stück aufklärerischer und humanistischer Philosophie. Was hier als Aufklärung und Humanismus gelobt wird, erfuhr im 19. Jh. beim Anheben der Moderne, verstärkt dann im 20. Jh., eine erstaunliche Umkehr. Anna C. Chave beschrieb eine solche »Befreiung« (von der Perspektive), wie sie die Künstler des Abstrakten Expressionismus erlebten: »Whereas representational painters must generally create some illusion of depth to contain their semblances of three-dimensional objects, abstract painters have the freedom to cover their flat canvases with forms just as flat.« Mark Rothko empfahl diese flachen Formen, weil »they destroy illusion and reveal truth.« Oberflächlich betrachtet scheint dies eine Rückwendung zur alten maniera greca zu sein, aber es war – jedenfalls im Abstrakten Expressionismus – die Bemühung um das Gelingen einer Ausdruckskunst, was durch exakte Mimesis eher behindert wird. Noch weiter ging Clement Greenberg, der jede Illusion einer Dreidimensionalität auf einer zweidimensionalen Fläche als »Widerspruch und Verstoß gegen die Natur des Mediums«, als »nichtssagend, belanglos, unkonkret« abqualifiziert und an Stelle dessen die Selbstreferentialität der Kunst beschwört.

Skulptur

VIII.9.0.f.

Chave 1989, 28

IX.5.2.1./X.2.2.ff. Greenberg 1949, 166 X.2.5.

5.3. Theorie der Perspektive Wenn man sich den theoretischen Aspekten der Perspektive zuwendet, kann man grob zwei methodische Zugänge unterscheiden: Einmal einen an der mathematischen Konstruktion orientierten, der den Formalismus untersucht und den Ehrgeiz entwickelt, Fehler in perspektivischen Konstruktionen aufzuspüren. Zum anderen jenen Zugang, der im Gefolge von Cassirer und Panofsky die Perspektive als symbolische Form, also als Kulturtechnik, interpretiert. Dabei werden in dem in den letzten Kapiteln diskutierten Sinn sowohl das Subjekt als auch der Anschauungsraum thematisiert. Unter kulturphilosophischen Vorzeichen kommt bald die epochale Bedeutung dessen, was sich beim Thema Perspektive abgespielt hat, in den Blick. Es geht eben, wie oben bereits festgestellt, weniger um Perspektive, sondern um Perspektivität. Perspektivität bringt den kulturellen Umbruch mit den oben dafür in Anwendung gebrachten drei Kennzeichen (Raum, Subjekt, Natur/Geometrie) griffig auf

Perspektive – ­Perspektivität

428

Die Renaissance

Boehm 1969 Belting 1990 Kemp 1990, 1

IX.3.4.2.

Boehm 1969, 14

Belting 2008, 229 Konvention oder Geometrie

IV.8.4.

IX.2.3.7.

Florenskij 1989, 70

den Punkt. Gottfried Boehm widmete diesem Komplex eine nach wie vor aktuelle Studie und vertiefte den Gedanken in weiteren Werken. Andere, wie Hans Belting, folgten. Martin Kemp hingegen äußerte sich skeptisch gegenüber einem Gleichklang zwischen Perspektive in der bildenden Kunst und einem kulturellen Paradigmenwechsel zur Perspektivität. An dieser Stelle mögen Hinweise auf diesen Wandel und auf die an anderen Orten ausführlicher dargestellten Konsequenzen genügen. Um die Dimension dieses Umbruchs zur Perspektivität, die konstruktivistische und transzendentalphilosophische Aspekte enthält, zu erfassen, hat Erwin Panofsky die Perspektive in Fortführung eines Gedankens von Ernst Cassirer eine »symbolische Form« genannt. »Panofsky’s ›Perspektive als symbolische Form‹ begreift die Geschichte der Perspektive von der Antike bis zur Gegenwart, indem sie […] die Raumbehandlung in den Künsten mit einer allgemeinen Weltanschauung in Beziehung setzt.« Dieses von Boehm beschriebene methodische Vorgehen ist zugleich ein Anwendungsbeispiel von Panofskys Methode der Ikonologie. Hans Belting sah in dieser symbolischen Form der Perspektive ein prägnantes kulturelles Unterscheidungsmerkmal der Kunst der Renaissance an der Schwelle der Neuzeit sowohl zu anderen Kulturen, namentlich der islamischen, als auch zur Kunst des Mittelalters. Perspektive als symbolische Form bedeute dann, »dass die Kunst, als sie perspektivisch wurde, zum Symbol für die Kultur der Neuzeit wurde.« Ist die Perspektive nun eine kulturphilosophische Konvention oder folgt sie dem vorgegebenen Formalismus der Geometrie? Darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander. Panofsky versuchte, beiden Aspekten Genüge zu tun, und sah in der Perspektive keineswegs nur eine reine Konvention oder eine bloß subjektive Seherfahrung. Für ihn stellte die Linearperspektive ein objektives Verhältnis von Sichtbarem zum Abbildenden her. Auch Ernst Gombrich verwehrte sich mit Berufung auf die Geometrie gegen jede nur konventionelle Sicht der Perspektive. Allerdings scheint ein konventionelles Moment dort schwer zu bestreiten, wo es um die bewusste Wahl der angewandten Perspektive geht. Es geht um die Entscheidung, ob man eine solche objektive Abbildung auch wolle oder ob man nicht – wie etwa im Fall der Ikone – eine ganz andere »Perspektive« anstrebt, beispielsweise mit den Worten Pavel Florenskijs, eine »umgekehrte Perspektive«. Florenskij war ein heftiger Kritiker der Kunstentwicklung seit der Renaissance und ein glühender slawophiler Anhänger der religiös gestimmten Ikone, bei der sich aus seiner (noch im 20. Jh. vertretenen) Sicht jede Perspektive verbietet. Sein polemischer Blick führte ihn knapp vor Panofsky zur Einsicht, dass die Perspektive eine symbolische Form sei und dass die Perspektive der Renaissance konsequenterweise die spätere Transzendentalphilosophie Kants vorweg entworfen hatte: »Auf diese Weise kam auf dem Boden der Renaissance die Weltanschauung Leonardos – Descartes – Kants auf; […] Die Perspektive ist ein Verfahren, welches mit Notwendigkeit aus einer Weltanschauung hervorgehen mußte, in welcher irgendeine Subjektivität als die wahre Grundlage einer halbrealen Vorstellung von den Dingen fungiert, der Realität selbst verlustig gegangen.«

429

Die Perspektive

Für den konservativ-religiös gestimmten Florenskij war das ein Fanal. Aus genau entgegengesetzten Gründen, nämlich um einer gelingenden subjektiven Selbsterfahrung willen, lehnte, wie bereits angemerkt, der Abstrakte Expressionismus die Perspektive ab. Selbstverständlich setzte die Option für die Zentralperspektive in der Renaissance die Ausbildung der Selbstreflexion voraus, die spätestens am Beginn der Neuzeit an Kontur gewonnen hatte. Wieder liefert uns hier die Renaissance eine Antwort auf die Frage, wie aus dem Mittelalter Neuzeit wurde. Etwa wenn man die Selbstbesinnung des Subjekts bei Augustinus, wo dies noch ein Weg zur freien Gotteserkenntnis war, vergleicht mit der auf das menschliche Subjekt begrenzten Selbstreflexion bei Michel de Montaigne, der durch seine Essais, die im 17. Jh. ständige Neuauflagen erlebten, zu einer »Galionsfigur der Neuzeit« wurde. »Die Essais sind […] ein Versuch zur Gewinnung des Selbstseins als gleichzeitig allgemeinste und konkreteste Weise, wie sich der Mensch in der Welt zu bestimmen vermag.« Für Rudolf Arnheim ging die perspektivische Mimesis des Realen zu Lasten des Schöpferischen und er stellte die Perspektive der Renaissance neben vergleichbare Bemühungen zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen. Sie sei »nur die neue Lösung eines Problems […]. Sie ist nicht besser oder schlechter als der zweidimensionale Raum der Ägypter oder das System der Parallelen in einem schrägen Kubus bei den Japanern.« Einer solchen Sicht könnte man Ungeschichtlichkeit vorhalten, die übersieht, dass die Geometrisierung des Raums, die Darstellung des dreidimensionalen Raums, wie er »wirklich« ist, gemessen an den Konventionen der alten maniera graeca sehr wohl eine emanzipatorische und schöpferische Leistung darstellte. Eine Verschärfung der konventionalistischen Sicht taucht bei Paul Feyerabend und Nelson Goodman auf. Goodman verweist auf Entscheidungen und Auswahlprozesse, die Künstlerinnen zu treffen haben, und hält die Perspektive weitgehend für konventionell. Die Welt gibt es auf so viele Weisen (man könnte sagen: in so vielen Perspektiven), wie sie sich beschreiben lässt. Für Goodman gibt es einen Kernbestand jeder Repräsentation. Er spricht von Denotation, was schlicht die Bezugnahme des Beschreibenden (Bild, Text) auf das zu Beschreibende meint. Diese Denotation habe nichts mit bildlicher Ähnlichkeit zu tun. Aus seiner Sicht bringt jede Beschreibung als Akt der Repräsentation unwillkürlich einen Vorentwurf in die Beschreibung ein: »Das Auge […] wählt aus, weist ab, organisiert, unterscheidet, assoziiert, klassifiziert, analysiert, konstruiert.« Es ist der für Goodman typische konstruktivistische Zungenschlag, wenn er das Erzeugen eines Bildes an der Erzeugung des Gegenstandes beteiligt sieht: »Darüberhinaus ist das Objekt selbst […] das Resultat unserer Sehweise der Welt. Das Herstellen eines Bildes ist gewöhnlich an der Herstellung dessen, was es darstellt, beteiligt.« Eine echte Repräsentation scheitere bereits daran, dass die Wirklichkeit von der Rezeption abhängt und durch diese (vergleichbar mit der Beobachtung mikrophysikalischer Vorgänge) sofort verändert wird. Jede Zeit und jede Kultur beschreibt die Wirklichkeit jeweils anders und macht sie zu ihrer Wirklichkeit. Zu dieser Gestaltung von Wirklichkeit gehört die jeweils angewandte Perspektive – besser: Allein deren Auswahl kann man als schöpferischen Akt bezeichnen.

Boehm 1969, 96/97

Arnheim 1965, 245

IX.3.9.2. Goodman 1968, 24ff X.2.2.2.

Ebd., 19

Ebd., 43

430

Die Renaissance

Transzendental­ philosophie – Zu den Sachen selbst

Boehm 1969, 100–112, hier 100 IX.3.5.1.

Merleau-Ponty 1964b, 28 IX.3.5.2.

VII.6.0.ff.

Belting 2008, 230

Ebd., 23f/40

Schulte-Sasse Jochen in ÄGB 4, 769

Wenn man auf die philosophische Schule der Phänomenologie blickt, kann man dazu zwei Positionen ausmachen: Dort, wo Husserl der transzendentalphilosophischen Linie folgte, lässt er sich vom Perspektivitätsaspekt her lesen: »Das ›Aufspannen‹ des Anschauungsraumes, die Unbetretbarkeit der je eigenen Tiefe der Anschauung, die sich in der Einzigkeit eines Hier gegenüber den mannigfaltigen Dort anzeigte, findet in Husserls Theorie der Wahrnehmungsabschattung im Zusammenhang einer transzendentalen Phänomenologie ihre vertiefte Ausdeutung.« Dinge liegen nach Husserl außerhalb des Bewusstseins, bilden sich also nur abgeschattet ab. Wer dem früheren Motto des »Zu den Sachen selbst« folgte, beharrte jedoch auf einer ursprünglichen Wahrnehmung, unabhängig von jeweiligen kulturellen Konstruktionen. Es war geradezu zwingend, jede Perspektivität zu durchbrechen. Merleau-Ponty spricht von einer vorperspektivischen Wahrnehmung. Die Perspektive der Renaissance war für Merleau-Ponty daher »kein unfehlbarer ›Trick‹: sie ist nur ein Einzelfall, ein Datum, ein Moment in einer poetischen Ausformung der Welt, die nach ihr fortwirkt.« Vertrat der junge Merleau-Ponty noch eine klassische, an der Fenstermetapher orientierte Auffassung einer passiven Anschauung, rang er sich später im Sinne Konrad Fiedlers zu einer aktiven Auffassung von Sehen durch. Die Neuzeit schlug jedoch klar den (philosophisch letztlich unvermeidbaren) Weg einer Perspektivität ein. In der neuzeitlichen Philosophie wurde die Perspektivität des Bewusstseinsraums zu einer zentralen philosophischen Architektur. Am prägnantesten geschah dies sicherlich in Kants Transzendentalphilosophie. Hans Beltings Theorie einer Transformation der arabischen (mathematischen) Sehtheorie in eine westliche Bildtheorie bewegt sich denn auch im Kontext der Kantschen Transzendentalphilosophie und des Neukantianismus. Hatte Panofsky im Sinne Kants den Raum in den Vordergrund gestellt, baut Belting seine Theorie auf dem subjektiven Blick auf. Der Blick emanzipiert sich aus einer dienenden Funktion im Mittelalter, wo das Auge noch das Auge Gottes war, zu einem souveränen Blick des Subjekts. Belting verweist dafür auf das in der Tat äußerst sprechende Wappen Albertis, das ein geflügeltes Auge zeigt: »Bei Alberti ist das geflügelte Auge das Wappenzeichen eines Subjekts, das im Blick souverän werden will.« Belting kann sich auf die vorsichtige Umdeutung des göttlichen Blicks auf einen Blickwechsel mit dem Subjekt bei Cusanus stützen, dessen De visione dei achtzehn Jahre nach Albertis De pictura erschienen war, und destilliert daraus einen Blick, der die Welt strukturiert. »Das perspektivische Bild stellte erstmals den Blick dar, den ein Betrachter auf die Welt wirft, und verwandelte dabei die Welt in einen Blick auf die Welt.« Und dieses Bild bildet den Blick ab und lehrt den Betrachter, »die Welt als Bild zu verstehen oder zum eigenen Bild zu machen.« Wenn man den Fluchtpunkt als unendlich fernen Punkt versteht, dem ein bildexterner Augenpunkt zugeordnet ist, dann kann man das Verhältnis so beschreiben: »So wie der Fluchtpunkt das Bild objektiv zu organisieren scheint, so erweckt der Augenpunkt im Betrachter den Eindruck, daß er über das Gesehene verfügt.« Das erwähnt prägnant den Unterschied der neuzeitlichen Sicht gegenüber dem Mittelalter, das noch glaubte, die Welt abbilden zu können, wie sie wirklich ist (also wie sie von Gott geschaffen wurde). In die-

431

Die Perspektive

sem Blick und der damit erreichten Artikulation des Mediums selbst liegt ein aufklärerisches Element: Als sich die Bilder »mit dem Blick verbündeten«, konnte die Betrachterin einen eigenen Blick auf die Welt werfen und war nicht mehr dem von Autoritäten (wie der Kirche) vorgegebenen Blick ausgeliefert. Der Blick, von dem hier die Rede ist, der einen Raum aufspannt und ordnet, gehört in das Feld der aisthesis, also in jenes des empirischen Blicks. Man kann die Bedeutung der theoria als geistiger Schau davon abheben. Diese kann schwerlich mit einer Linearperspektive vermittelt werden, eher noch mit einer Bedeutungsperspektive. Dieser Blick ist nicht mehr passives Rezipieren, sondern weist in die Richtung einer aktiven Konstruktion. »Umso größer war der Schritt, den der Westen unternahm, als er die Aufmerksamkeit vom täuschbaren, passiven Auge auf einen aktiven Blick verschob, der sich nicht täuschen ließ, sondern seine Wahrnehmung durch Messung kontrollierte.« Der dreidimensionale Raum, der auf einer zweidimensionalen Fläche dargestellt wird, »lässt sich nicht vom Blick trennen und über den Blick stellen, denn er ist in unserem Fall eine Funktion des Blicks und nicht umgekehrt. Der perspektivische Raum wird nur im Blick und für den Blick erzeugt, […].« Gottfried Boehm spricht das im Kontext von Cassirers Kantrezeption unverblümt an: Der Augenpunkt wird zu einem »Kraftpunkt«, der »sich eine ›Welt‹ entwirft, mitsamt der ihr zugehörigen Gegenstände.« Boehm stellt ähnlich wie Belting hier eine epochale Wende im Kunstverständnis fest: »Die Zentralperspektive bezeichnet in der Geschichte des Bildbewußtseins jene entscheidende Stelle, an der das Bild als ›Seinsvorgang‹, in dem ›Sein zur sinnvoll-sichtbaren Erscheinung‹ (Gadamer) kommt, grundsätzlich entmächtigt wird, was nicht heißt, daß das auch faktisch augenblicklich geschieht.« Nein, augenblicklich geschah das nicht! Die Kulturgeschichte hat einen langen Atem und auch perspektivische Bilder hatten noch ein anagogisches Nachleben, wenngleich die Kraft des anagogischen Moments deutlich und sukzessive verloren ging. Es dauerte bis ins 18. und 19. Jh., bis das Ende dieses Kunstverständnisses etwa im Rokoko oder bei Hegel konstatiert wurde. Für die Renaissance aber gilt, dass Kunst sich damit vom Sprachrohr des Absoluten zum Medium der Selbstdarstellung des Menschen wandelte. »[…] die bildnerische Ordnung gründet im Menschen. Mit dieser metaphorischen Verkündung seiner schöpferischen Macht stellte sich der Künstler ebenbürtig neben Gott.« Das passt zur offensichtlichen Veränderung des Bildcharakters in der Erkenntnismetaphysik. Das in der Renaissance aufbrechende Raumverständnis gründet den neuzeitlichen Bewusstseinsraum. Kannte das Mittelalter die Abbildtheorie des Bildes auch in der Erkenntnis, bildete sich im neuzeitlichen Denken ein ausdrücklicher geistiger Raum aus, der durch die Reflexionsbewegung strukturiert und bewältigt werden musste. Das eindruckvollste Kapitel dazu schrieb Immanuel Kant, der die Erkenntnis endgültig auf das Subjekt gründete. Er blickte auf die Gegenstände möglicher Erkenntnis vom Subjekt aus. Dort lag die Autorität der Erkenntnisleistung. Was in solchem Zusammenhang nicht mehr passte, war der vom erkennenden Subjekt unabhängige Substanzcharakter des Ge-

Ebd., 761f Konstruktion

Belting 2008, 39/25

Boehm 1969, 18/28

VII.3.6./VIII.5.3.2.3.

Bocola 1994, 38

432

Die Renaissance

VIII.5.1./VIII.5.2.1./ VIII.5.3.1.

Tyrannei der ­Perspektive

Weibel 1990, 171

Ebd.

Boehm 1969, 87

Judd Donald in ­Stemmrich 1995, 68

genstandes (An-sich-Sein). Das war die Grundlage der Abbildtheorie mittelalterlichen Denkens gewesen. Die Aufhebung dieses Substanzcharakters durch Fichte und die nachfolgenden Philosophen des Deutschen Idealismus war, von da her gesehen, ein konsequenter Schritt. Nimmt man die Perspektive als Kulturtechnik, die metaphorisch die konstruierende Anwesenheit der Betrachterin ausdrückt, erhält sie einen Eigenwert gegenüber jeder anderen in der Geschichte vorliegenden Dreidimensionalität. Sie war einerseits ein aufklärerischer Schritt, ihre mathematische Regulierung schuf jedoch ihrerseits ein Potential, sich von der Perspektive neuerlich aufklärerisch befreien zu müssen. Geradezu grimmig formuliert Peter Weibel diesen Befreiungsakt in der Moderne und rückt das Ende der konstruierten Perspektive in die Nähe der Dynamik und Bewegung, wie sie im 19. und 20. Jh. zur Signatur der Zeit wurde: »Der bewegte Betrachter, der multiple Blick eines um das darzustellende statische Objekt sich bewegenden Betrachters hat zur multiplen Perspektive des Kubismus geführt, zur Abschaffung der Tyrannei der Perspektive in der Malerei.« Und Weibel bringt den Abschied von der Perspektive zudem in Verbindung mit der am Beginn der 20. Jh.s (z.B. von Ernst Mach) durchgeführten Destruktion des absoluten Ichs: »Das cyclopische Ich verschwindet mit der Tyrannei der Zentralperspektive.« Vermutlich meint Gottfried Boehm Ähnliches, wenn er formuliert: »Perspektivisches Selbstsein ist zugleich mächtig, insofern es seine Welt monadologisch hat, und unmächtig, insofern seine Welt als mathematischer Horizont (Hypothese) zwar perspektivischem Entwurf entstammt, aber durch die mathematische Übereinstimmung der Horizonte untereinander […] nicht des ausdrücklichen Rückbezuges in das Selbstsein eines Betrachters bzw. eines Erkennenden bedarf.« Auf die bewusste Wahl des Perspektive-Konzepts bei Kunstströmungen der Moderne wurde in 5.2. bereits hingewiesen. Die Destruktion des Illusionismus der Perspektive war bereits im Impressionismus ein Thema und für die Kunst des 20. Jh.s von Ready-Made, Suprematismus über Pop Art bis zum Informel selbstverständlich. Man artikulierte ein neues Verständnis von Raum, indem die Skulptur sich in den vorhandenen Raum einfügt: »Drei Dimensionen sind wirklicher Raum«, sagt Donald Judd. Darin wurde die Neuzeit von der Moderne überboten. Man könnte zum Schluss kommen, dass sich die Perspektive am Höhepunkt der Vergeistigung, wo sie mit Zirkel und Lineal nach mathematischen Regeln konstruiert wurde, als Menschenraum, in den man blickt, zugunsten eines objektiven formalen Raums wieder aufhob. Einerseits galt die egalitäre-humanistische Perspektive der Würde und Absolutheit heiliger Personen für nicht angemessen, was für Brunelleschi und Masaccio ein Problem war – hier bewegen wir uns noch im Kontext eines religiösen Diskurses. Andererseits sah später die Moderne mitsamt der Transzendentalisierung der Gnoseologie erst in der bewussten Verletzung des strengen mathematischen Regelwerks die Einlösung der Souveränität des Subjekts. In diesem Punkt sind – allen strukturellen Unterschieden zum Trotz – kontextuell die antike Dreidimensionalität und die Zentralperspektive der Renaissance durchaus vergleichbar.

433

Die Perspektive

Schon im 16. Jh. begann das subversive Aufbegehren gegenüber den Vorschriften. Die Schule von Athen (1510) Raffaels in der Stanza della Segnatura im Vatikanspalast gilt manchen vor diesem Hintergrund als »Schwanengesang der italienischen Konzeption der Perspektive.« Überspitzt könnte man formulieren: Zum Zeitpunkt der weitesten Verbreitung in Europa wird die Renaissance in Italien – wenn man sie denn mit der perfekten Perspektive charakterisiert – insbesondere unter dem Polarstern Michelangelo aufgegeben. Neben der hier favorisierten Theorie Beltings hat die Perspektive eine ganze Reihe von Überlegungen ausgelöst. Brian Rotman beschrieb in seiner Untersuchung zur Null (Signifying Nothing; 1987) auch die Gleichsetzung der Null mit dem Fluchtpunkt in der Perspektivenkonstruktion. Rotman verweist – ähnlich wie Baxandall und Belting – auf die Beendigung der dominierenden göttlichen Transzendenz im Monopol des göttlichen Blicks, der zugleich Raum und Zeit in die Unendlichkeit aufhob. Das mathematische Rüst­zeug stamme aus anderen Zusammenhängen: »The importance of such problems, if not their origin, stemmed from the exigency of mercantile capitalisme: […].« Mit der Perspektive rückt die Unendlichkeit gleichsam in die Welt des Menschen, als ortbarer Fluchtpunkt am Horizont. Sowohl der Augenpunkt konnotiert eine Rolle des Subjekts, als auch der Fluchtpunkt dieser neuen Unendlichkeit, auf den das Subjekt hingerichtet ist. In der Tat liegt der Fluchtpunkt außerhalb des Bildes im Unendlichen. Aus diesem Grund akzentuiert für Peter Weibel »der Fluchtpunkt der Perspektive auch den Beginn einer Geometrie des Imaginären.« Die Null, die lange als ein teuflisches Zeichen für das Nichts angesehen wurde, wird so zur Handhabung des Unendlichen durch den Menschen. »In short, where medieval painted images make God’s invisible prior world manifest through ›natural‹ icons, Renaissance images represent an anterior visual world through a convention if signs, artificially produced by a humanly imposed system of perspective.« Nach Rotmans These ermöglicht das perspektivische Bild »es dem Subjekt folglich, der Unendlichkeit der raumzeitlichen Dimension zum Trotz, sich als einheitlicher, ausgezeichneter Betrachter zu erleben, der eine Perspektive, einen point of view, eine Meinung hat; er erlebt sich als Individuum.« Der Kunstphilosoph Hubert Damisch stellt einen auf mehreren Säulen ruhenden Ansatz vor. Dazu gehören Merleau-Ponty, Panofsky, Lacan, der Strukturalismus und Kants Transzendentalphilosophie. Damisch macht mit Hilfe eines semiologischen Paradigmas das System der Zentralperspektive zu einem Denkmodell der gesamten Kunstgeschichte, ja zum Ausgangspunkt eines Denkens in Bildern, das die Neuzeit prägt. Perspektive ist aus dieser Sicht weder bloß »ein simples graphisches Verfahren« , noch »das Produkt einer Geschichte«. Mit Anleihen beim Strukturalismus sieht Damisch in der Perspektive vielmehr ein Ordnungssystem, vergleichbar der Deklinations- oder Konjugationsregeln in der Sprache und – darüberhinaus – ein Gründungsdokument der okzidentalen Kultur. Mit diesem Wort zeichnet er Albertis Malereitraktat aus. Damisch nimmt Ferdinand de Saussures Unternehmung einer Gleichwertigkeit der kulturellen Systeme ernst und bestreitet die bisweilen

Bellosi 1987b, 238

Ebd., 239

Brian Rotman

Rotman 1987, 16

Weibel 1990, 170

Rotman 1987, 22

Schulte-Sasse Jochen in ÄGB 4, 770 Hubert Damisch

Damisch 1987, 14/17

434

Die Renaissance

Ebd., 139

Wiesing 2013, 174

vorgetragene Meinung, man benötige auch für die Kunst eine metasprachliche Ebene. Bilder vermögen nach Damisch einen visuellen Diskurs über sich selbst zu führen. Weil die Perspektive einen ordnenden und reflexiven Effekt beinhaltet, ist sie gleichsam ein Muster der Perspektivierung als universell gültige Kulturleistung der Neuzeit. Dies entspricht letztlich einer Selbstermächtigung des Subjekts. Das Subjekt verdichtet sich gleichsam in den Experimenten Brunelleschis vor dem Baptisterium in Florenz, wo die Betrachter eine perspektivische Darstellung des Baptisteriums in einem Spiegel wahrnehmen konnten. In diesem Spiegel treffen sich Fluchtpunkt und die Sehstrahlen (Augpunkt). Es ist sozusagen der Ort des Subjekts, besser: der Konstruktion des Subjekts. Denn die Ermächtigung bleibt genau deshalb unbefriedigend, weil sie auf Konvention einer konstruierten Perspektive basiert. An dieser Stelle einer nachhaltigen Kränkung kommt die Psychoanalyse Lacans ins Spiel. Geht man noch weiter als Damisch, könnte man Kants Transzendentalphilosophie ebenfalls als Konvention und das konstruktive Subjekt entsprechend deuten. Man könnte nicht nur von einer Rückseite der Malerei, sondern auch von der Rückseite Kants sprechen, dies umso mehr, als für Damisch die Perspektive eine weitgehend ahistorische Größe ist. Das Spiel mit der Rückseite passt zudem, weil in einer solchen Sicht das Subjekt »ein Effekt der Perspektive« wäre und nicht umgekehrt, was freilich eine Überlegung nicht ohne Kühnheit ist. Schließlich sei noch ein weiterer Aspekt erwähnt, den Lambert Wiesing in seinem Buch Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens (2013) entfaltet, jener der Kommunikation. Wiesing verweist auf den weltweiten Erfolg der perspektivischen Darstellung und vermutet dahinter die Standpunktbezogenheit dessen, was man zeigen will, also eine Ambition von Kommunikation. Perspektive wird bei Wiesing zu einer »Praxis des Zeigens«. Diese Sicht ist dort zu hinterfragen, wo er den Erfolg der Perspektive – ohne jede Rücksicht auf kulturelle Rahmenbedingungen – schlicht auf ihr erfolgreiches Funktionieren zurückführt.

6.0. Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance Die Renaissance ist eine Epoche, in der, anders als in der Romanik oder Gotik, die Kultur im Vordergrund steht und die einen Kulturbruch umfasst. Aber die Renaissance ist selbstredend auch eine kunstgeschichtliche Epoche, deren Grenzen vornehmlich durch die Kunst fixiert werden können. Gerade aus dieser Sicht ist Italien der logische Geburtsort der Renaissance. Während des Mittelalters hatte es seinen Blick in Kunstangelegenheiten nach Osten und weniger nach Frankreich oder Deutschland gerichtet. Daher bewirkte die Gotik in Italien kaum mehr als die Beseelung und Naturalisierung der Figuren. Dies ließ Italien nahezu auf direktem Weg vom Hellenismus und Byzantinismus in die Renaissance gleiten. Die verschiedenen Geschwindigkeiten dieser Transformationen zeigen sich an Florenz, das für die Neuerungen stand, während Siena noch lange in der byzantinischen Tradition verharrte.

435

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

6.1. Dichtung und bildende Kunst In dieser Untersuchung bleibt die Eroberung des Raums in der bildenden Kunst die entscheidende Wende in die Renaissance, weshalb sich auch das Entstehungsjahr von Masaccios Trinitätsfresko 1427 (vielleicht entstand es bereits 1426) als symbolisches Datum anbietet. Man könnte allerdings mit guten Argumenten einwenden, dass am Beginn der Renaissance nicht die Kunst, sondern die Dichtung stand. Denn der Humanismus gründete auf der Entdeckung der klassischen lateinischen Literatur und sah in dieser eine ideale Verbindung von Inspiration und Regel. Der vom (göttlichen) Geist (divinus spiritus) erfüllte Dichter trat jetzt als prägnantes Individuum hervor, dem auch ein individueller Spielraum in seinem Gestalten einzuräumen war. Dabei verschob sich die Ästhetik mehr und mehr in die Richtung der Rezeption, die der Vorstellung einer objektiven Schönheit im Gegenstand den Rang ablief. Der Kunstbegriff schwankte zwischen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungswelt. Einerseits war Kunst Nachahmung der Natur, andererseits abhängig vom Urteil des Rezipienten. Zudem umfasste Kunst jedes produktive Können, nicht nur Bild und Vers. In einem der 122 Dialoge zwischen allegorischen Figuren, die Petrarca unter dem Titel Heilmittel gegen Glück und Unglück (De remediis utriusque fortunae) 1366 abschloss, legt die (personifizierte) Vernunft genau darauf das Augenmerk, »dass er nicht die Sache selbst, sondern das Urteil des Betrachters im Auge hat.« Regeln und Prinzipien traten an die Stelle der toten Natur und verhinderten, dass ein Subjektivismus zum alleine bestimmenden Element des ästhetischen Urteils wurde. Erst mit Kant wurde dieser zum Kennzeichen einer Epoche, zum Signum der Moderne. Auch in der Dichtung blieb ein Objektivismus führend. Auf die Veränderung dieser Einschätzung von Dichtung und bildender Kunst sowie auf die Spannung zwischen Regelwerk und Inspiration wurde bereits hingewiesen. Eine Reihe von Charakterisierungen wurden der Dichtung zugesprochen: Dichter erfinden Dinge, wahre wie falsche, sie drücken die Wahrheit stets nur verhüllt aus und bemühen sich um eine schöne Gestalt dieser Verhüllung. Weil die Dichtung die Dinge indirekt, in sprachlichen Bildern (obliquis figurationibus) beschreibt, unterstreicht dies den wichtigen Stellenwert der Metaphorik, die schon im Mittelalter eine große Rolle gespielt hatte. Wladyslaw Tatarkiewicz sah in der Metapher – sich auf Petrarcas Vertrauliche Briefe (Epistolae familiares) stützend – im Unterschied zum Mittelalter nun nur noch einen Schmuck. Damit wäre aus einer echten Verhüllung von Wahrheit ein ästhetisches Geschäft oder gar ein Spiel geworden, nämlich ein »Schleier der schönen Erdichtung«, wie Petrarca in seinen Altersbriefen sagte. Die Verhüllung der Wahrheit in »schönen Gewändern« sei geradezu ein Schutz vor dem Zugriff des geschmacksfreien Pöbels. Die Dichtung, in erster Linie die Allegorie, setzte fort, was in ähnlicher Weise schon im antiken Epigramm und in den mittelalterlichen tituli durchgeführt werden sollte: Gedanken oder Begriffe durch ein Bild oder eine Bild-Wort-Kombination wiederzugeben. Am Übergang der Renaissance zum Barock führte das zu einer eigenständigen Gattung, der Emblematik. 1531 veröffentlichte Andreas Alciatus seinen Emblematum liber. Das Buch wurde zu einem Standardwerk, dem etwa 3000 weitere

Petrarca, zit. nach Tatarkiewicz 1987, 27

Ebd., 21 Petrarca, zit. nach Ebd., 26

Emblematik

436

Die Renaissance

Scholz Oliver in ÄGB 1, 651 3.2.

Bässler 2012

Zöllner 2007, 108

Bücher von über 1000 Autoren zu diesem Thema zwischen dem 16. und 18. Jh. folgten. Das Emblem, das aus einem schriftlichen Motto (inscriptio) und einem Bild (pictura) besteht, (es wurde schon im 17. Jh. mit Sinn[en]bild ins Dt. übertragen), war eine Erfindung des Humanismus mit seiner Vorliebe für Verrätselungen. Man griff dafür auf die Epigrammatik der klassischen Antike und auf die Symbolik des Mittelalters, aber auch auf die ägyptische Hieroglyphik zurück. »Während im 16. Jh. eine durch Antike und Renaissance geprägte oft esoterische Kombination von Epigramm und Bild typisch war, entwickelt sich das Emblem im 17. Jh. zu einer populären Gebrauchsgattung, die zu mannigfaltigen didaktischen und katechetischen Zwecken eingesetzt wird.« Die vom Florentiner Cristoforo de Buondelmonti 1419 auf Andros gefundenen Texte des Horapollon wurden 1505 in Venedig gedruckt. Auch eine Handschrift des Corpus Hermeticum gelangte auf Betreiben Cosimos nach Florenz. Das Emblem bestand in der Regel aus einem programmatischen Wahlspruch (lemma), einem Bild (icon) und einem poetischen Text (epigramm), der den Sinn des Emblems umschrieb, ohne ihn völlig aufzulösen. Stand in der Renaissance der Rätselcharakter, welcher einer gebildeten Elite zum Wettbewerb diente, im Vordergrund, hatte das Emblem ab dem 17. Jh. eine didaktische Funktion zur Verbreitung moralisierender Botschaften, weshalb die Komplexität geringer sein musste. In der Wissenschaft wird die Emblematik als eine Kunstform mit einem ausgewogenen Verhältnis von Bild und Text beschrieben. Andreas Bässler vertrat neuerdings mit Bezug auf Alciatus die interessante These von einem Medienwechsel vom Text zum Bild in der Emblematik. Diese Embleme seien eine Wiedergewinnung von verschollenen antiken Kunstwerken, die nur in der Form von ekphrastischen Texten überliefert worden seien. Jedenfalls war in der Renaissance, deren Humanismus bei der Literatur der Antike anknüpfte, der Paragone zwischen der Dichtung und der bildenden Kunst eröffnet. Francesco Puteolano, der eine Lobschrift auf Francesco Sforza verfasst hatte, wies voller Selbstbewusstsein auf den höheren Rang der Dichtung hin. Die großen Herrscher und Feldherren der Vergangenheit seien nicht durch Kunstwerke, sondern durch Dichter und Geschichtsschreiber unsterblich gemacht worden. Doch die bildende Kunst verstand sich zunehmend nicht zuletzt wegen der Kulturtechnik der Perspektive mit den zu ihrer Konstruktion notwendigen Kenntnissen in Geometrie, Anatomie, Optik als Wissenschaft. Dies machte die bildende Kunst in der Renaissance zu einer anerkannten Disziplin. Die Kunst- und Architekturtraktate waren gefüllt mit wissenschaftlichem Wissen. Der Künstler musste ein Wissenschaftler sein und die Malerei wurde als achte Kunst in den Kanon der alten freien Künste aufgenommen. Leonardo da Vinci verkündete schließlich die Überlegenheit der Malerei gegenüber der Dichtung, des Sehens vor den anderen Sinnen, und brachte den raschen Aufstieg der Kunst in eine führende Rolle in dieser Epoche des Umbruchs prägnant zum Ausdruck.

437

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

6.2. Die Wende in der bildenden Kunst Auf die Schwierigkeit, aus kunsthistorischer Sicht einen Anfang der Renaissance zu definieren, wurde bereits hingewiesen. Der Autor des fünften Bandes der bei Reclam erschienenen Reihe Kunst-Epochen, Norbert Wolf, rechtfertigt dort ausführlich, weshalb man einen eigenen Band für das italienische Trecento (14. Jh.) und die altniederländische Malerei in die sonst nach Epochen geordnete Kunstgeschichte einfügte. Er sieht dort – wie es der üblichen Einordnung entspricht – zwar eine gotische Charakteristik, die aber bereits deutlich in Richtung eines neuen Paradigmas durchbrochen wird. »Unterhalb dieser oberflächlichen Übereinstimmungen sprengt jedoch die Organik, die Tiefenschärfe beider hier zur Diskussion stehenden Perioden alle gebräuchlichen Modelle und Normen gotischer Kunst. Sowohl das italienische Trecento […] als auch die altniederländische Malerei […] stimmen ja in einem überein: Sie legen dermaßen innovative, vielfach revolutionäre Strukturen und Zielsetzungen an den Tag, dass es angebracht ist, sie aus der Jahrhunderte übergreifenden Großepoche des Gotischen analytisch herauszunehmen […].« Wolf argumentiert dabei ähnlich wie Katharina Krause in ihrer Begründung dafür, warum auch in der Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland beim vierten Band von der üblichen Epocheneinteilung abgegangen und »Unvereinbares« zusammengenommen wird, nämlich Spätgotik und Renaissance. Beide Überlegungen fassen die erwähnten Schwierigkeiten zusammen und sind ein Gradmesser für den lebhaften Diskussionsstand in der Wissenschaft zu diesem Thema. Wichtig erscheint mir, dass man auch aus kunstgeschichtlicher Sicht nicht in die Irre geht, wenn man die Geburt der Renaissance (in Italien) bereits im 14. Jh. ansetzt und dieses nicht zur Gänze dem Mittelalter überlässt. Es ist legitim, »die Trecentokunst als mehr oder weniger unmittelbares Vorspiel – nach einigen Autoren sogar als integralen Bestandteil – der in Italien geborenen Renaissance des 15. Jahrhunderts zu verstehen und zu beschreiben.« Für unseren Zweck kann man, was die bildende Kunst betrifft, von den spätmittelalterlichen Weichenstellungen ausgehen, welche die Kunst aus dem Mittelalter an die Schwelle zur Neuzeit führten. Ich orientiere mich dabei am Vorgehen Alexander Perrigs, der den Umschwung in die Renaissance bei der Bildtheorie Roger Bacons ansiedelt. Dessen zusammen mit John Peckham und Witelo geforderter Einsatz von Geometrie und Perspektive in der Kunst führte zu der bereits erwähnten Auswirkung bei der Ausmalung der Palastkapelle von Viterbo. Perrig spricht von einem Postulat der Bilderreform, das in der Entstehung eines »Naturstils« Schule machte, so bei den monumentalen Bilderzyklen in Alt-Sankt Peter (nicht mehr erhalten) und in Assisi. Als Künstler der Palastkapelle der Oberkirche von San Francesco in Assisi sind neben vielen unbekannten Meistern die Franziskaner Jacopo Torriti und sein Zeitgenosse Jacopo da Camerino greifbar. Für Chor und Querhaus steht Cimabue (Cenni di Peppo) als Maler fest. Beiträge von Giotto gelten heute als sicher. Die Gestaltung der monumentalen, aus Unter- und Oberkirche bestehenden Anlage war eine für das 14. Jh. stilprägende Synthese aus römischer und florentinischer Maltradition. Für die Franziskuslegende (wo die Autorschaft von einer Mehrheit der Expertin-

Wolf 2002a, 9f

Krause 2007a, 6

Wolf 2002a, 10

V.7.2.2.3. Perrig Alexander in Toman 2007b, 50f

438

Die Renaissance

419 Franziskus sagt sich von seinem Vater los, Giotto di Bondone; Oberkirche Assisi Ebd., 58

Giotto di Bondone

Settis 1987, 71 Baxandall 1984, 43, 147

Previtali 1987, 120

nen Giotto zugeschrieben wird) musste eine neue Bildtradition geschaffen werden. Zum bodenständigen Heiligen passen irdische Farben, der Naturstil und eine diesseitige (Schein)architektur mit anhebender, aber noch nicht durchkomponierter Raumtiefe. Die um 1295 abgeschlossenen Fresken der Oberkirche von Assisi wurden wegweisend: »Den Gebildeten gaben sie alles an die Hand, wessen der Intellekt zu einer tiefsinnigen Textexegese bedurfte. Den Ungebildeten führten sie, was in den bisherigen Darstellungen irreal und unbegreiflich wirkte, quasi greifbar vor Augen. Den Künstlern schließlich gereichten sie allein aufgrund ihrer Schlüssigkeit und rhetorischen Überzeugungskraft zum Anlaß, die Grundlagen der eigenen Kunst zu überdenken und die überkommenen Muster und Werkstattverfahren durch die neuen, Ansehen und Gewinn versprechenden zu ersetzen.« Am Anfang der Renaissance dauerte die Bebilderung der süßlich-realistischen Dichtungen der Volksfrömmigkeit um den gequälten und erniedrigten Menschensohn und seiner Mutter an. Anders als in Siena setzten sich in Florenz allerdings bald entschieden ein internationaler Geist und der Wille zur Überwindung des weichen Stils durch die Härte des Natur-Vorbildes durch. Der raumlose Goldgrund wurde zu einem Vorhang, der als Hintergrund diente. Er wurde nach und nach zurückgezogen und der Blick auf eine Natur- und Architekturlandschaft freigegeben. Wir umkreisen hier ein Ereignis, für das immer noch die Einschätzung Vasaris in seinen Künstlerviten gilt. Demnach hatte Giotto di Bondone (Ambrogio Bondone), der die Menschen realistisch zeichnete, die strengen Regeln der Frontalansicht brach, ihnen mit Licht und Schatten Volumina gab und sie in einen Raum von Landschaft und Architektur stellte, die byzantinische Statik, die maniera greca, überwunden. Giotto, der bei Cimabue in die Schule gegangen war, wandte zwar noch nicht die konstruierte Perspektive an, aber seine Erkundung des Raums und die Orientierung am natürlichen Vorbild stellen ihn doch an die Schwelle eines kulturellen Umbruchs. Cennino Cennini feierte ihn als jenen, der die Kunst vom Griechischen (also der byzantinischen Art) ins Lateinische/Italienische zurückverwandelt und sie damit modern gemacht habe. Bis heute sieht man in ihm den Durchbruch zur Renaissance und zugleich die Ausbildung eines neuen Bewusstseins des Künstlers. Immerhin war er der erste finanziell unabhängige Künstler. Für Giovanni Previtali begann mit Giotto überhaupt erst das, was man als – freilich in zahlreiche Haupt- und Nebenschulen sich unterscheidende – italienische Kunst bezeichnen könne. Sie entstand südlich der Scheide des Apennin aus »der Synthese von klassisch-byzantinischer Kontinuität und barbarisch-gotischer Innovation«. Zwar blieb Duccio di Buoninsegna noch der maniera bizantina verpflichtet, aber mit ihm und Giotto begann »die

439

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

innere Dialektik von Idealismus und Naturalismus in der Gotik zu wirken« und sich »eine wesentliche Wandlung der Malerei anzubahnen.« Als Duccio seinen doppelseitig in ikonenhafter Manier bemalten Marienaltar, Maestà, fertiggestellt hatte, wurde klar, wie sehr ein Kunstwerk auch ein städtisches Repräsentationsobjekt war. Am 9. Juni 1311 ertönten in ganz Siena Glocken, Hörner, Flöten und Trompeten und der Altar wurde von der Geistlichkeit und Vertretern der Stadt vor einer jubelnden Menge im Atelier abgeholt und zum Dom getragen. Dem Ereignis schloss sich ein dreitägiges Volksfest an. Giotto, der 1334 capomaestro der Dombauhütte und Stadtbaumeister von Florenz wurde, taucht als einer der Maler in Assisi erst 1309 in den Quellen auf. Die Berichte über seine Rolle in Assisi sind durch florentinischen Lokalpatriotismus und später durch romantischen Geniekult vernebelt. Kunsthistorikerinnen haben zu dieser Frage epische Streitigkeiten ausgetragen. Greifbarer ist sein Wirken in Padua, zuerst im Kapitelsaal der Franziskaner von San Antonio (heute verloren), dann in der vom reichen Enrico mitfinanzierten, zwischen 1303 und 1310 ausgeführten Capella degli Scrovegni dell’Arena in Padua. Für diesen bislang größten Kunstauftrag, den eine Privatperson erteilte, war eine heikle Programmierung der Thematik nötig. Tugend und Lasterallegorien durften sich nicht gegen den »zwielichtigen Geschäftemacher« Scrovegni, den Dante in seiner Göttlichen Komödie in der Hölle schmoren ließ, richten. Also beispielsweise statt Habsucht lieber Neid, denn dann »war der Spieß umgedreht und fanden sich als lasterhaft diejenigen denunziert, die dem Kapellenbesitzer die Millionen mißgönnten.« Die Theologen, die solche Programmierungen vornahmen, waren besonders kreative Köpfe, in denen sich die Kultur der Renaissance verdichtete. Solche Mediation muss bei der Bewertung der Leistung Giottos im Auge behalten werden. Mehr noch als sein Umgang mit Figuren beeindruckte Giottos souveräne Gestaltung architektonischer Motive. Die Fresken in Giottos Arenakapelle, dieser »Meilenstein in der Entwicklung der abendländischen Kunst«, hatte eine reiche Rezeption zur Folge. Sie war die Realisation der neuen Ideen des Bildkreises, der Darstellung eines historischen Geschehens, in erster Linie der Geschichte um den erniedrigten Christus, dann auch der Geburt Christi. Die Erzählung, wie sie bereits im byzantinischen Bereich vorhanden war, ist zwar immer noch »durchlässig auf das Metaphysische«, wird aber zum eigentlich neuen Genre und führte im zunehmenden Naturalismus konsequent zur Perspektive. Sedlmayr bezeichnete die Bildkapelle der Renaissance ganz generell als »Gegenpol zur Kathedrale.« Dort Vertikalität, hier Horizontalität, dort unermesslicher, hier menschlich überschaubarer Raum, dort verklärte Edelsteinwände, hier die irdische Farbe des Freskos. Inwieweit Giotto, der in seinen Fresken Räume erzeugt hat, mit der Entwicklung der Perspektive in Verbindung gebracht werden muss, ist in der Literatur umstritten. Zwar malte Giotto im Stil der antiken Trompe-l’œil-Ma-

Abels 1985, 55

420 Flucht nach Ägypten, Arenakapelle; Padua

Perrig Alexander in Toman 2007b, 58

Ebd., 60

Klein Bruno in Toman 2010, 387

Wolf 2002a, 44 IV.6.2.3.

Sedlmayr 1950, 485

440

Die Renaissance

Belting 2008, 151

Wundram 1970, 23 Gombrich 1996, 198 Settis 1987, 64f

421 / 422 Kanzel des Giovanni Pisano im Dom von Pisa (1302/1311) 423 / 424 Kanzel­ relief von N­ iccolò Pisano (1255/60), ­Baptisterium; Pisa

Künstler als ­Gelehrter

Paolucci 2001 ­Krautheimer 1970, 148–253 Wundram 1970, 83

lerei – ebenfalls in der Arenakapelle – leere Räume mit atmosphärischem Himmel, damals eine Sensation, aber die mathematische Linearperspektive wurde erst hundert Jahre später von Brunelleschi erfunden. Sehr wohl scheint aber in der Zeit Giottos die Einsicht gereift zu sein, dass man die Welt nicht an sich, sondern stets nur als Bild wahrnehmen kann. Giottos Schüler Taddeo Gaddi führte diese ersten Ansätze fort. Manfred Wundram sieht die Einschätzung Vasaris, in Giotto den Wendepunkt vom Mittelalter in die Renaissance zu sehen, durch die Rezeptionsgeschichte bestätigt und verweist auf ein anderes Initialwerk der Renaissance, das 1260 von Niccolò Pisano geschaffene Kanzelrelief im Baptisterium von Pisa mit der Hervorhebung menschlicher Empfindungen und der Hinwendung zu detailliert nachweisbaren Vorbildern antiker Sarkophage. Pisano, der eine ganze Bildhauerschule begründete, galt Vasari deshalb als Gelehrter (doctus), weil er die Antike studiert hatte und sie nun als wahren Naturalismus anwenden konnte und dies gegen die byzantinische Vergeistigung stellte. Niccolos Sohn Giovanni gestaltete die Reliefs der sechseckigen Kanzeln in den Domen von Pisa und Pistoia.

Mit dem Trinitätsfresko in Santa Maria Novella von Masaccio begann – neben den Marmorreliefs Donatellos, dem Drachenkampf des Hl. Georg (um 1386–1466) und dem Gastmahl des Herodes auf dem Taufbecken von San Giovanni in Siena – mit perfekter Beherrschung der Perspektive die malerische und skulpturale Gestaltung der Illusion. Es ist zum Unterschied von der Räumlichkeit der hellenistischen Maler erstmals ein exakt berechnetes dreidimensionales Raumgebilde. Masaccio bezog vermutlich Anregungen dazu aus der Freundschaft mit Brunelleschi, dem eigentlichen Entdecker der Perspektive. Wenngleich die Renaissance eine fruchtbare philosophische Szene kannte, deren neuplatonische Hintergründe die Kunst beeinflussten, bleibt die Reflexion über die Kunst vor allem den Künstlern selbst vorbehalten. Die Werkstätte Lorenzo Ghibertis, der auch Paolo Uccello angehörte und in der die zweite – und später auch die dritte – Baptisteriumstür ausgeführt worden war, war geradezu eine Akademie, in der auch theoretische Reflexionen durchgeführt wurden. Der Künstler trat als Gelehrter auf und Ghiberti stellte klare Anforderungen an ihn: Grammatik, Geometrie, Philosophie, Medizin, Astrologie, Perspektive, Geschichte, Anatomie, Theorie der Zeichnung und Arithmetik sollte er beherrschen. Dieses Bild des Künstlers als Universalgelehrter schloss an Vitruvs Vorstellung der Ausbildung des Architekten an. Demgegenüber entwickelte Alberti weniger rigorose Anforderungen.

441

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

425 Lorenzo ­Ghiberti, Lukas, ­Nordportal des ­Baptisteriums; Florenz



Den von der Zunft der Tuchhändler (Arte dei Mercanti di Calimala) ausgeschriebenen Wettbewerb für das Nordportal – übrigens der erste Künstlerwettbewerb (paragone) seit der Antike – hatte der junge und noch unbekannte Ghiberti 1401 gegen starke Konkurrenz, darunter auch gegen den nur knapp älteren Brunelleschi, gewonnen. Den Auftrag für die erste, die südliche, Johannes dem Täufer gewidmete Tür, die 1333 fertig gestellt und 1336 montiert worden war, hatte Andrea Pisano, ein Schüler Giovanni Pisanos, erhalten, versehen mit der Auflage, das Bronzetor am rechten Querschiff des Domes in Pisa (San Ranieri-Tor) von Bonanno Pisano zu übertreffen. Nach Fertigstellung von Ghibertis Bronzetür (es mussten auch technische Probleme beim Guss bewältigt werden) hatte die Frührennaisance 1424 ein erstes Monumentalwerk. Es folgte der Auftrag an Ghiberti für die dritte Tür, die Paradiestür (1425–1452) mit Szenen aus dem Alten Testament, die Vasari und Michelangelo überaus bewunderten. Erst dieses Hauptportal schaffte den Sprung in die antikisierende Klassik. »Ghiberti fand die Leitlinien für seine klaren und ebenso eleganten Kompositionen in der Antike: das Wissen um die Perspektive, die Ausschmückung der Darstellung sowie die Rhetorik, die Beredsamkeit, ohne die eine Erzählung dem Betrachter nicht vermittelt werden konnte […] Ghibertis zweite Bronzetür zählt zu den bahnbrechenden Werken der europäischen Skulptur: Sie verkörpert den Stilwandel von der Spätgotik zur Renaissance und belegt zugleich den epochalen Umbruch, der den Bildhauer zum Bildschöpfer werden ließ.« Ghibertis erste Tür atmete immer noch den Geist der internationalen Gotik. Nur Brunelleschis Entwürfe, die nicht zum Zug kamen, so Giovanni Previtali, hätten echte Neuerungen (Tiefendimension und klassische Elemente) geboten. »[…] es ist die gotische Klassizität in Ghibertis Komposition, die den Sieg über Brunelleschis zwar ungefügte, aber in ihrem Pathos zukunftweisende Gebärdensprache davonträgt.« Die Jury dürfte hingegen die größere technische Meisterschaft der Ghiberti-Werkstätte überzeugt haben. Aber sie entschied in ihrem Urteil auch ausdrücklich für die Schönheit (la sua bellezza) und nicht sosehr für den Inhalt. Auch im Vergleich mit Donatellos dramatisch gefasstem Gastmahl des Herodes auf dem Taufbecken im Baptisterium des Doms von Siena (1414–1430) bleiben Ghibertis Taufe Christi und die Gefangennahme des Johannes auf demselben Becken eher traditionell: »Von Donatellos Arbeit konnten wir sagen, daß daran alles neu war.« Dennoch war die Intention Ghibertis ganz ähnlich wie jene Donatellos, nämlich: »[…] jede einzelne Figur zu charakterisieren und dem Beschauer ihre Rolle im Geschehen klarzumachen: […].« Die Skulptur, die insbesondere im Sakralbereich sich der Architektur unterordnen musste, befreite sich im öffentlichen Raum zu völliger Eigenständigkeit. Donatellos David war die erste lebensgroße und rundansichtige Aktfigur seit der Antike. Und Donatellos heiliger Markus am Or San Michele in Florenz (1411–1413) trat mit antikem Kontrapost so überzeugend auf, dass er als »Inbegriff einer Menschendarstellung der beginnenden Neuzeit« bezeichnet worden ist. Höhepunkt dieser Entwicklung ist das Reiterstandbild. Es schloss an die Antike an und benötigte überhaupt keine Architektur mehr.

Thomson 1983, 267ff

Kemp 1990, 24ff

Borngässer Barbara in Toman 2010, 444 Previtali 1987, 138

Heydenreich 1972, 133 Ceysson Bernard/ Bresc-Bautier Geneviève in Ceysson u.a. 1987, 22; ähnl. Borngässer Barbara in Toman 2010, 440

Gombrich 1996, 251f Skulptur

Geese Uwe in Toman 2007b, 189 Klotz 1997, 55

442

Die Renaissance

Kunstlandschaften

Sedlmayr 1950, 493 Tatarkiewicz 1980, 303 VIII.8.1.

6.4.1.

Timmers in Fischer/ Timmers 1971, 173

Gombrich 1996, 240

Die Renaissance bedeutete letztlich bis zu einem gewissen Grad auch ein Ende des Internationalismus. Gab es im Mittelalter noch einen regen internationalen Künstleraustausch, der nicht zuletzt durch die lateinische Sprache, die in Intellektuellenkreisen gesprochen wurde, erleichtert worden war, stand nun der Stadtstaat oder ein anderes sich herausbildendes nationales Gefüge im Vordergrund. Das Zunftwesen führte zudem zu einem geradezu gewerkschaftlichen Schutz der jeweils eigenen Künstler und setzte hohe Barrieren für »ausländische« Kollegen. Das ist der Grund, dass die Kunst der Renaissance in einzelne Landschaften zerfiel. In Deutschland war der Naturalismus weniger gefragt. Man hing noch lange einer späten Gotik an. Mitten in der Gotik war den Malern – ähnlich wie in Frankreich – durch die Lichtflächen der Kathedrale die Wand abhanden gekommen und die hieratische Strenge der Wandgemälde floss in die Tafelmalerei – in Frankreich auch in die Kunst der Wandteppiche – ein. Allerdings wurden im 16. Jh. überall, in Wien, Prag, Regensburg, Ulm, Köln, die Arbeiten an den Kathedralbauten eingestellt und es drangen Formvorstellungen der Renaissance in den Kirchenbau ein. Auch in der Malerei verzögerte sich der Paradigmenwechsel. Martin Schongauer, Stephan Lochner, Hans Multscher, Michael Pacher oder Hieronymus Bosch, der Maler eines »höllischen Weltbildes«, sind Beispiele dafür, dass »das Mittelalter noch weiter dauerte, während bereits die Renaissance begann.« Viele dieser Werke wurden später von den Präraffaeliten nostalgisch verehrt. Sie drückten eine reine und schlichte Frömmigkeit aus. Sie sind auch ein schöner Beleg dafür, wie in die Gotik Gefühl und Kenntnisse für die Darstellung des Raums eindrangen. Albrecht Dürer stand im Norden als Vertreter der Renaissance praktisch alleine auf weiter Flur. Dürer war ein religiös inspirierter Künstler ebenso wie Grünewald, Veit Stoß und Tilmann Riemenschneider. Ihre Bilder und Figuren sind voller Dramatik und religiöser In­brunst, sie verbanden äußere emotionale Aufgewühltheit mit Verinnerlichung. Dürers Apokalypse-Illustration gelangte zu europäischer Berühmtheit. Insbesondere Grünewald schuf die »Schlußapotheose der spätmittelalterlichen deutschen Malkunst« und übersteigerte den Realismus ins Irreale und Surreale. Der Naturbegriff, der hier zugrunde lag, hatte keine empirische Basis, sondern war eher Ausdruck spätmittelalterlicher Mystik und innerer Emotion. Die Augsburger Schule mit Hans Holbein dem Älteren gilt als Durchbruch in die neue Zeit. Holbein der Jüngere wurde als Hofmaler am englischen Hof Heinrichs VIII. zu einem der wichtigsten Porträtisten im Norden. Zum Unterschied von Italien waren die Arbeiten im Norden weniger theoretisch reflektiert, sondern entsprangen der künstlerischen Praxis. Damit war auch die Beherrschung der Naturwiedergabe weniger philosophisch überhöht als im Süden, wo der Künstler die Natur vollkommener darstellen konnte als sie war. Die Perspektive, die in der Mitte des 15. Jh.s die Niederlande erreichte, wurde mehr nach empirischer Beobachtung als nach mathematischer Konstruktion gemalt. Was die Florentiner durch die exakte Berechnung der Perspektive an Illusion erreichten, gelang im Norden durch Detailreichtum und Naturtreue. In den Niederlanden etablierte sich im 15. Jh. der zweite Pol der neuen Kunst neben Italien. Die Niederländer malten Natur und die Landschaft und sie schätz-

443

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

ten das Licht, das hier kein Selbstzweck mehr war, sondern dazu diente, die Stofflichkeit der verschiedenen Materialien hervorzuheben. Das Licht hatte keine anagogische Funktion mehr, es beleuchtete Materie und Natur. Ein erheblicher Teil der Kunst ging durch den protestantischen Bildersturm verloren, der neben der Schweiz die Niederlande am stärksten getroffen hatte. Die Herzöge von Burgund, die Ruhm und Reichtum des französischen Königshauses geerbt hatten, verlagerten ihren Lebensmittelpunkt nach Flandern und versammelten dort Künstler um sich. Es brach ein realistischer Stil durch, der die »Einzigartigkeit jedes einzelnen Gegenstandes« ganz nach dem Individuationsverständnis des Ockhamismus in den Vordergrund rückte. Es gibt eine spezielle Diskussion darüber, inwieweit man den Naturalismus dieser Malerei als Nominalismus deuten kann. Die Frage hat ihre Pointe darin, welche Bedeutung man einer Naturabbildung über eine reine mechanische Mimesis hinaus einräumt. Erwin Panofsky vertrat die Meinung, es handle sich nach wie vor um Symbolkunst wie im Mittelalter. Vermutlich wollte auch ein niederländischer Maler in der Tat etwas aussagen, was sich nicht unmittelbar im mimetischen Bild erschließt, sondern einen metaphorischen und symbolischen Mehrwert besitzt. Ein

Duby 1976, 481 V.8.3.

426 Altar der Heiligen und Märtyrer v. Jacques de Baerze (um 1390), Chartreuse de ­Champmol; MBA

religiöser und anagogischer Kontext für diesen Mehrwert lässt sich allerdings nur mehr schwerlich in Anspruch nehmen. Es handelt sich nicht mehr um die Darstellung eines Undarstellbaren (wie im Mittelalter), sondern verschiebt unsere Aufmerksamkeit auf eine andere Ebene, sei sie psychologisch oder sozial. Das machte letztlich den Weg frei für das Porträt und die Landschaft! Claus Sluter, der lange in der burgundischen Hauptstadt Dijon wirkte, befreite die Skulptur von der Bindung an die Architektur, die sich nun in ihrem feierlichen Naturalismus und ihrer Selbständigkeit vom Mittelalter deutlich abhob.

444

Die Renaissance

Ölmalerei

Jan van Eyck, ebenfalls in Burgund, aber in Verbindung mit dem heutigen Belgien wirkend, gehört zu den großen Meistern, die den in der Kathedrale vorliegenden Himmelsraum auf die Erde brachten und in den Mikrokosmos eines Bildes fassten. Wir finden bei ihm (und seinem weitgehend unbekannten älteren Bruder Hubert) aber auch noch die Klarheit des überirdischen Lichtes und die edelsteinhafte Aufhebung der Materie. Man sagt diesem Künstler die Erfindung der Ölmalerei nach. Öl anstelle der bei der Temperamalerei benützten Eier als Bindemittel ermöglichte das Ineinanderarbeiten der Farben und mehr Arbeit am Detail, weil Ölfarben langsamer trocknen als Temperafarben. Zudem sind Ölfarben kräftiger. Die Ursprünge der Ölmalerei gehen zwar ins Mittelalter zurück, wie bereits Lessing aufwies, aber diese Technik gewann ihren Reiz der Tiefenwirkung erst mit dem Siegeszug der Perspektive und wurde vor allem von den altniederländischen Meistern genützt. In Italien (Venedig) kam sie in den Siebzigerjahren des 15. Jh.s bei Antonello da Messina auf. Die Werkstätten gaben die neue Technik nach Möglichkeit nicht preis, dennoch setzte sie sich rasch durch. Im 16. Jh. gewann die italienische Manier (mit Ausnahme von Einzelgängern wie etwa Pieter Brueghel) auch im Norden Überhand. Die niederländischen Meister reisten eifrig in den Süden, nach Frankreich, Deutschland, Spanien und – mit besonderer Vorliebe – nach Italien und brachten die begeistert aufgenommenen Anregungen mit in den Norden.

6.3. Die Bestimmungsmodi der Renaissancekunst

Heydenreich 1972, 24

III.2.4.3.2.

Das Hervortreten der Künstlerpersönlichkeit, die Rolle der Werkstätten und die verbreitet anhebenden Reflexionen der Künstler über ihre Tätigkeit hatten zur Folge, dass die stilistischen Eigenheiten Aufmerksamkeit erregten und diskutiert wurden. Die Werkstätten wurden zu regelrechten Betrieben mit einem hohen Aufwand an Organisation, von Auftragsaquirierung über Beratung bis zur raschen und qualitätvollen Ausführung. Es gab Zusammenschlüsse von verschiedenen Werkstätten, sogenannte compagnie, wo die Aufträge zentral entgegengenommen und dann auf die Teilhaber verteilt wurden. »Im ganzen stellten sie in ihrer Anlage also höchst moderne kaufmännische Interessengemeinschaften dar, deren ›Ware‹ das Kunstwerk war.« Die Durchdringung der Gesellschaft mit künstlerisch gestalteten Artefakten bis hin zu Alltagsgegenständen ging einher mit dem Sozialprestige der Künstler und Kunsthandwerker, von denen viele hohe Auszeichnungen erhielten. Damit wurden auch die Qualitätskriterien und die Stil-Charakterisierungen in weiten Kreisen diskutiert. Es ist zum ersten Mal, dass in dieser Intensität die originelle Handschrift einzelner Künstler gefeiert wurde. Daraus entstanden regelrechte Bestimmungsmodi für die Bewertung von Kunstwerken und damit auch ihrer Hersteller. An erster Stelle stand der Grad der Perfektion der perspektivischen Darstellung. Die gelungene Naturnachahmung war dabei nur ein Ziel, es entstand ein Wettbewerb um Täuschung der Betrachterin durch waghalsige und verwirrende Konstruktionen. Ein solcher Wettbewerb um das Ausmaß an Täuschung konnte nur zu einer aufgeklärten Zeit gehören, die von der Geringschätzung eines solchen Kunstverständnisses, wie sie etwa Platon gegen die sophistische Aufklärung ins Treffen führte, weit entfernt war.

445

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

Eine ausgreifende Übersicht dieser Stilmerkmale ist uns von Cristoforo Landino, dem aus der Nähe von Arezzo stammenden Humanisten, erhalten. Landino war Lehrer Ficinos und Lorenzo de’ Medicis, Latinist, Rhetorik- und Poetiklehrer und Philosoph. Er übersetzte Plinius’ Naturalis Historia und war mit Alberti eng befreundet. Landino ging in der Frage einer möglichen Symbiose von Christentum und Platonismus sehr weit. Die in den hermetischen Schriften und in anderen esoterischen Traditionen verkündeten Weisheiten seien Ergänzungen zur Bibel. Der Mensch erscheine darin als Mittelpunkt des Kosmos und zugleich als Bindeglied zwischen Kosmos und Welt. Seine in geschliffener Sprache verfassten Kunstbeschreibungen (Fiorentini excellenti in pictura et sculptura; 1481) urteilen nicht über den Ausdruck der Kunst, sondern stellen die jeweilige Eigenheit der Künstler, sozusagen ihre Handschrift, in den Mittelpunkt. Neben der Perspektive wurde das relievo, die Reliefwirkung, Schattierung und Oberflächengestaltung, geschätzt. Die Darstellung tritt gleichsam plastisch aus dem zweidimensionalen Medium hervor. Beispiele sind Donatellos Drachenkampf oder Masaccios Dreifaltigkeit sowie seine Fresken in der Brancacci-Kapelle. Masaccio gilt überhaupt als Meister des relievo. Er vermochte als Erster echte Fresken (buon fresco), also solche auf feuchtem Kalk statt auf trockenem Putz (fresco secco), zu malen, wo es keine Änderungsmöglichkeiten mehr gibt und man vorher die Schattierung der Farbe abschätzen muss, die sie in Verbindung mit dem Kalk erhält. Auch Andrea Mantegna überzeugte durch hohe Plastizität. Das Gegenteil des scharfen relievo war das sfumato (verraucht), eine dunstige Atmosphäre, wie sie Leonardo in seiner Felsgrottenmadonna (1483–1485) unnachahmlich angewandt hatte. Daneben wurde die große Paarung disegno (Zeichnung, Idee, Entwurf) und colorire (Farbe) angesprochen, sicherlich die wichtigste Charakterisierung, die noch weit über die Renaissance hinaus in der Malerei eine Bedeutung hatte. »Die Dichotomie von disegno und colorire, Linien und Schattierungen – eine tendenziöse Vereinfachung der visuellen Erfahrung – ist nun schon seit langem tief in der europäischen Sehkultur verankert; […] Es war die Renaissance, die dieser analytischen Gewohnheit ihre systematische Formulierung gab, indem sie Zeichnen und Malen, Ränder und Flächen, Linien und Schattierungen zur ›Grundlage der Kunst der Malerei‹ machte, wie sie damals gelehrt wurde und noch gesehen wird.« Der Duftigkeit Masaccios oder Lippis, ihrem colorire, wurde die Betonung der Linie, das disegno, gegenübergestellt, etwa bei Andrea del Castagno oder Pisanello. Der disegno-Künstler schätzt die klaren Umrisse, die Ordnung im Raum, die formale Idee und weniger das Lichtspiel, die Schattierung und das Metaphorische der Figurenordnung. Disegno, die Zeichnung, steht für jenes Genre, das am wenigsten körperlichen, dafür mehr geistigen Einsatz widerspiegelt. Für Vasari war das disegno überhaupt das Fundament aller Kunst, wie berichtet der Vater der Künste, auch der Architektur. Noch die Avantgarde im 20. Jh. war sich dieser Traditionslinie bewusst. Donald Judd notierte etwa: »Ich kann mich nicht mehr an die vielen Male erinnern, wo die Priorität zwischen Rot und einer Idee wechselte.«

Cristoforo Landino

relievo – sfumato

disegno – colorire

Baxandall 1984, 184f

Günther 2009, 82 4.1.2. Judd Donald in ­Stemmrich 1995, 76

446

Die Renaissance

Gombrich 1996, 325

427 Bunter Marmor in Venedig, Porta della Carta, Dogenpalast (15. Jh.) Hills 1999

Jestaz 1985, 33

VII.4.2.ff.

von der Heyden-Rynsch 2014, 12f, 16

Braun 2012

Diese Paarung machte erst jetzt, vor dem Hintergrund der Naturwiedergabe, Sinn. Das Mittelalter hatte einen symbolischen Farb- und Formenkanon. Jetzt aber stand der Künstler vor der Frage, was ihn mehr interessierte: die Form oder die Farbe. Die Beobachtung Ernst Gombrichs ist reizvoll, dass die Bevorzugung der Farbe in Venedig neben der Nähe zur byzantinischen Tradition mit der »zitternden Luft über der Lagune« zu tun habe, die harte Konturen verschwimmen lässt. Paul Hills, der zwei Jahrzehnte lang für das Courtauld-Institut ein Kunstgeschichteprogramm in Venedig leitete, steuerte eine bezwingende Untersuchung zum colorire in Venedig bei. Das Wasser sorge nicht nur für ständige Spiegelungen, welche die Architektur sozusagen destabilisieren, sondern Venedig wurde über Jahrhunderte auf dem Weg über das Wasser mit farbenfrohen Gütern überschwemmt. Dieselben kräftigen Farben und polychromen Marmorinkrustationen hinterließ das byzantinische Erbe. Hills verweist auch auf die Techniken der Glasbläserkunst und führt in die verschiedenfarbigen Glasarten ein, die geradezu die Ölmalerei vorwegnahmen. Selbst in der Mode wurden in Venedig die Rottöne der Roben penibel unterschieden und mit verschiedenen Ausdrücken versehen (cremisino, scarlatto, sanguineo). Andere verstärkten diese Meinung mit Verweis auf die Bevorzugung der Ölmalerei auf großen Leinwänden in Venedig gegenüber der Vorherrschaft der luftigen al-fresco-Technik in den meisten übrigen Kunstlandschaften der Renaissance. »Die Verschiedenheit der beiden Techniken unterstreicht wie symbolisch den sinnlichen Charakter, der die venezianische Malerei von den anderen italienischen Schulen unterscheidet.« Hills’ Untersuchung als Teil der umfangreichen Beschäftigung der Kunstgeschichte mit dem Phänomen der Farbe in Venedig sei demnach deshalb so ergiebig, weil die Farbe Venedigs die Grundlage für den in der Neuzeit aufbrechenden Streit um Barock oder Klassik bildete. Ob man, was die Liebe zur Sinnlichkeit in Venedig betrifft, so weit ausholen mag und auch die dort berühmte Produktion einer erotischen Literatur in diesen Zusammenhang bringt, mag dahingestellt bleiben. Dieses Metier konnte sich vor allem entfalten, weil die Humanisten und nicht die Kirche die Kultur bestimmten und die Inquisition Venedig erst spät erreichte. Entsprechend umstritten war freilich auch die Einführung der Druckerpresse. Es mangelte nicht an Warnungen vor den verderblichen Folgen dieser Technik. Dass Florenz eher für das disegno berühmt geworden ist, hängt – so kann man ergänzen – wohl mit der dort eifrig betriebenen Wissenschaftlichkeit der Kunst samt der mathematischen Konstruktionsprinzipien der Perspektive zusammen. In der weiteren Rezeption, etwa im Streit zwischen Barock und Klassizismus, wurden der Paarung auch noch moralische Kategorien unterlegt. Disegno als Klarheit und Rationalität, colorire mit dem Unterton des Emotionalen und Trügerischen. Dies stiftete eine nachhaltige kulturtheoretische Paarung, die sich in die große Ambivalenz von Himmel und Erde bzw. Geist und Materie einschreibt.

447

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

Landino sprach in seinen Kunstbeschreibungen mit Rückgriff auf die (neben Plinius) von Cicero und Quintilian in der Rhetorik gebrauchten Epitheta von Einfachheit und Klarheit des Stils (purus). Der Grat war schmal, wo solche Schnörkellosigkeit, solcher angenehme Gegensatz zum Überladenen, in Armseligkeit und Phantasielosigkeit umschlug. In Masaccio lobte man denjenigen, der in dieser Hinsicht die richtige Mitte gefunden hatte. Filippo Lippi, dem Karmelitermönch von Santa Maria del Carmine, der außerhalb von Florenz in Prato und Spoleto malte, schrieb man Anmut und Reiz (gratiositas) zu, ähnlich wie dem Bildhauer Desiderio da Settignano. Diese Leichtigkeit stand im Gegensatz zum relievo-Prinzip. Wo das Relief, die Perspektive, im Vordergrund stand, dominierte eher das disegno, die Kontur. Ornatus war nach Quintilian in der Rhetorik jener Überschuss, der zu Klarheit und Genauigkeit dazukam, also Witz, Charme, Glanz, Fülle, Lebhaftigkeit. Es war eine Sache Filippo Lippis und Fra Angelicos. Ornatus bringt die dargestellten Figuren in ihrer lebhaften Pose näher an das Paradigma der klassischen Antike heran. Lippi (wie manchmal auch Giotto), Pisanello, Jacopo Bellini malten oft übervolle Szenen, also mit varietà im Sinne einer Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit (nicht so sehr eines Überflusses) von Elementen. Alberti empfahl eine solche Mannigfaltigkeit im Sinne einer Vielfalt von Gegenständen, aber auch Gebärden, Posen, Stellungen, was den Betrachter erfreut: »Jenen Vorgang wirst du loben und bewundern können, der seine Reize so schmuckreich und anmutig darbietet, dass Gelehrte wie Ungelehrte durch Vergnügen und Gemütsbewegung zur Betrachtung festgehalten werden. Was in einem Vorgang zuerst Genuss verschafft, sind die Fülle und Mannigfaltigkeit der Dinge. […] wenn darin – je an ihrem Ort – Greise, junge Männer, Knaben, Frauen, Mädchen, Kinder, Hühner, Hündchen, Vögel, Pferde, Schafe, Gebäude, Landschaften und viele ähnliche Dinge miteinander zu sehen sind: […].« Dieser Hinweis Albertis für die richtige Inszenierung dient dem überzeugenden Erzählen einer Geschichte (storia) wie es Masaccio mit seinem Fresko Christus und der Zinspfennig in der Brancacci-Kapelle gelungen war. Ähnliches ließe sich für die beschädigten Sintflut-Fresken Uccellos im Kreuzgang von Santa Maria Novella sagen. Das alles sind Eigenarten, die dem disegno eher widersprachen. Schließlich wurden die Meister gefeiert, die sich selbst schwierige Aufgaben stellten und sie bravourös bewältigten. Solche, die die scorci, Verkürzungen, beherrschten, wie Gentile da Fabriano, der im Auftrag des Bankiers Palla di Nofri Strozzi für dessen Familienkapelle in der Sakristei von Santa Trinità in Florenz 1423 die prunkvolle Anbetung der Könige malte und damit eine lebendige, (beinahe noch gotische) höfische Kunst schuf. Aber das selbstbewusste Auftreten der Stifterfiguren im Bild lässt keinen Zweifel aufkommen, dass man sich in einer neuen Zeit befand. Ähnliches sieht man in Benozzo Gozzolis Zug der Hl. Drei Könige nach Bethlehem für die Medici. Paolo Uccello war vernarrt in die neuen Möglichkeiten der Perspektive und seine Schlacht von San Romano (1450) ist geradezu ein Fest der Verkürzungen, die eine »surreale Körperlichkeit und eine unwirkliche Ordnung der Dinge« erzeugte, ja ein Werk der darstellenden Geometrie, das keine Entschärfung durch ein

ornatus

varietà

Alberti 1436, 129

Abels 1985, 112

448

Die Renaissance

Baxandall 1984, 26

Conti 1987, 112

vezzoso – devoto

Ahl 2008

Baxandall 1984, 201

Licht- und Schattenspiel kennt. Mit Bewunderung sprach man von der Mühelosigkeit, facilita, in der die großen Meister ihre Werke schufen. Im Lauf des 15. Jh.s fällt ein Rückgang des Prunks in den Gemälden auf. Michael Baxandall zeigte, wie die Bedeutung der teuersten Farben, Ultramarin und Gold, in den Verträgen abnahm. Diese zur Bekleidungsmode analoge Entwicklung kann mehrere Ursachen haben. Baxandall erwähnt die bewusste Abgrenzung gegenüber Neureichen, die ihren Reichtum auch in einer prunkvollen Kunst zur Schau stellten, aber auch die Knappheit der Mittel und eine neue christliche Askese. Die Zugehörigkeit der Maler zu den Zünften der Ärzte und Gewürzhändler hatte nicht zuletzt mit der Wichtigkeit qualitativ hochwertiger Farben zu tun. Der Dominikaner Fra Angelico (Guido di Pietro) mit den Fresken im (1436 den Dominikanern übergebenen) ursprünglichen Benediktinerkloster San Marco in Florenz und in der Kapelle Nikolaus’ V. in Rom war schon zu Lebzeiten der mit seiner engelhaften Pinselführung (angelico) ausgezeichnete Maler. Seine Kunst sei ebenso vezzoso (liebevoll kosend) wie devoto (andächtig). Vasari nannte ihn einen pictor christianus. Seine Fresken sind in der Tat bezaubernder und anmutiger Ausdruck einer tiefen Andacht, wenig relievo und wenig difficultà. Fra Angelico galt lange als dem Mittelalter verhaftet, doch inzwischen sind seine Neuerungen durchaus gewürdigt worden. Dieses aus der Rhetorik, aber auch aus Musik und Mode abgeleitete Begriffsregister könnte – wie es Landino vielleicht intendierte – zu einer Systematik der Renaissancemalerei dienen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass jede begriffliche Systematik immer hinter der Wirkung des Dargestellten zurückbleiben muss, weil sie niemals die gesamte gesellschaftliche Kontextualisierung auszudrücken erlaubt: »In dem Moment, wo wir bemerken, daß Piero della Francesca zu einer ausgemessenen, Fra Angelico zu einer gepredigten und Botticelli zu einer getanzten Art der Malerei neigt, erkennen wir nicht nur etwas über sie, sondern auch über ihre Gesellschaft.«

6.4. Die Künstler und ihre Traktate

Pfisterer 2002, 20

Kemp 1997, 224f

Traktate, in denen Künstler über ihre Kunst schrieben, sind ein neues Genre der Literatur und waren vor allem in Italien ein beliebtes Instrument des Diskurses, das den Ruhm der Künstler und ihrer Werke erhöhen konnte. »Kunst und Kunstliteratur […] gehen seit der Renaissance eine unauflösbare Symbiose ein.« Im Allgemeinen geht es darin weniger um kunstphilosophische Fragen, auch nicht um Begriffsbestimmungen und Qualitätsmerkmale. Eine Ausnahme sind die eben besprochenen Stilbeschreibungen des Cristoforo Landino. Wenn es um die Qualität der Kunstwerke ging, waren es meist drei Kriterien, nach denen dies abgehandelt wurde: (1) Einmal der Hinweis auf die Stellung der dargestellten Person (beim Porträt), (2) zum zweiten der Rang der Interpretation von bekannten Themen, wie beispielsweise bei einem Andachtsbild, und (3) drittens die Erwartungshaltung der Rezipienten. Aber in den Traktaten ging es meist um praktische Ratschläge und Hinweise, weiters um Informationen für die künstlerische und architektonische Arbeit und sie

449

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

waren prall gefüllt mit mathematischem Wissen, das für die Berechnung der Per­ spektive und der Proportion unabdingbar war. Mit Blick auf die anthropologischen und ontologischen Hintergründe zur Perspektive übersieht man oft, wie verbreitet in der Renaissance die Proportionsrechnerei, vor allem bei den Kaufleuten, war: »Zu den Proportionsproblemen zählten: Weideland, Maklergebühren, Diskont, Tara-Nachlaß, Verschnitt von Produkten, Tausch und Geldwechsel. Das alles war sehr viel wichtiger, als es heute ist.« Diese dem Kaufmann vertrauten Zahlenfolgen entsprechen der pythagoreischen Tonlehre. Es lagen dort nicht nur Grundlagen für die Musiktheorie vor, sondern auch entscheidende Impulse für die Architektur. Die Proportionsberechnungen des menschlichen Körpers waren demgegenüber vergleichsweise einfach. Andere immer wiederkehrende Themen waren Stellungnahmen zur Paarung disegno-colorire und zur Frage der Naturnachahmung. Gemeinsamer Nenner war das Wissen um diese Dinge. Kunst war Wissenschaft und das gab den Traktaten eine theoretische Komponente und eine kunstphilosophische Bedeutung. Die Traktate richteten sich vor allem an Gelehrte und den theorieinteressierten Handwerker. Sie fanden eher wenig Interesse bei den Zeitgenossen.

Baxandall 1984, 125

Kemp 1994, 129

6.4.1. Kunst als Wissenschaft: Cennini, Ghiberti, della Francesca, Dürer Eines der ersten Handbücher der Malerei mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Dimension der Kunst ist Cennino Cenninis Libro dell’arte (die älteste Abschrift wird nicht ganz unumstritten auf 1437 datiert, gedruckt erst 1821) über die italienische Kunst des 14. Jh.s. An die zweite Stelle nach der Wissenschaft tritt die Kunst: »Die würdigste Beschäftigung ist und bleibt die Pflege der Wissenschaft. Von dieser abstammend folgt dichtauf eine andere Betätigung […] Diese Kunst nennt man die Malerei.« Der Traktat, der in Form eines Lehrgangs für einen fiktiven Lehrling abgefasst wurde, ist trotz seiner Ambition, Literatur und Malerei aus dem Handwerkerstatus zu emanzipieren, noch im Stil eines Werkstatt-Handbuchs geschrieben. Er enthält viele technische Details, aber auch kunstgeschichtliche Würdigungen. Es gibt Mutmaßungen, dass der Autor für das technische Wissen auf etliche Quellen zurückgreifen konnte, für philosophische und kunsttheoretische Fragen jedoch auf mündliches Wissen angewiesen war. Cennini konnte sich nicht völlig aus den mittelalterlichen Proportionsregeln lösen, die gleichsam eine Verbindung von Mensch und (göttlichem) Universum herstellten. Die empirische Wende, die mit Albertis Vermessungen des Menschen später einsetzte, stellte diese Proportion in einen humanistischen Kontext. Zwei Dinge seien für die neue Kunst wichtig: die Nachahmung der Natur, die bestimmend bleiben muss, und das disegno, das hinter den Anweisungen stehende (geistige) Programm. Für die Nachahmung der Natur brauche es Wissen (scienza), Phantasie (fantasia) und Handarbeit (operazione di mano). Gemeint war hier zunächst eine treue Nachahmung und nicht eine Überbietung der Natur durch die Kunst. Aber neben die Nachahmung der Natur habe die Nachahmung der Meister zu treten. Ob diese Forderung der mittelalterlichen Werkstatttradition entsprang oder bereits der in der frühen Neuzeit aufkommenden Nachahmung antiker Meis-

Cennino Cenninis

Cennini, zit. nach Pfisterer 2002, 262f

Seiler 2012, 49

450

Die Renaissance

Ebd., 46f

Ebd., 58 Lorenzo Ghiberti

Krautheimer/­ Krautheimer-Hess 1970

Seiler 2012, 62f

Belting 2008, 167f Bergdolt 1988

6.2.

ter (imitatio auctorum) entsprach, wird in der Wissenschaft unterschiedlich gesehen. Zum Unterschied von Alberti, der bewusst den Anschluss an die Antike suchte, schwieg sich Cennini über die Antike aus. Die Freiheit des Künstlers zur Nachahmung seiner Phantasiebilder bleibt gering veranschlagt. Im Sinne einer antiken Meinung neigen künstlerische Begabungen dazu, Phantasten und Wahnsinnige zu werden. Daher müsse sich jeder Künstler an einem Meister ausrichten, um sich an dessen maniera zu üben. »An keiner Stelle fordert Cennini eine kreative Aneignung von Vorbildern.« Der florentinische Bildhauer Lorenzo Ghiberti, dem man nachsagte, dass er sich seines Ruhmes wohl bewusst war, prägte den Ausdruck einer theorica dell’arte. Seine in nur einer einzigen Handschrift überlieferten Commentarii (um 1450) sind freilich vor allem eine Stoffsammlung, die sich aus einem historischen Teil, einer Autobiographie und der besagten Kunsttheorie zusammensetzt. Die Autobiographie des 1378 Geborenen ist bemerkenswert, weil so etwas in dieser Zeit durchaus unüblich war. Sie zeigt das gestiegene Prestige der Künstler. Im historischen Teil brachte Ghiberti den Untergang der antiken Kultur mit der Bilderfeindschaft des frühen Christentums in Zusammenhang. Erst die Griechen hätten nach 600 Jahren Bilderlosigkeit wieder zu einer (wenngleich nur rohen) Form der (byzantinischen) Bilder gefunden, ehe mit Giotto (gegen die maniera greca seines Lehrers Cimabue) die Wiedergeburt der antiken Klassik auf den Weg gebracht worden sei. In diesem Punkt war Ghiberti klarer und schärfer als Cennini, bei dem der Stilbegriff vage blieb. Den eigentlichen Beginn der Renaissance verortete er bei Brunelleschi, Masaccio und Donatello. Ghiberti zitiert zahlreiche Autoren der Antike und des Mittelalters, besonders Plinius und Vitruv, sowie lange Textpassagen aus der italienischen Übersetzung von Alhazens Traktat zur Sehtheorie. Er unterstrich die etwa bei Vitruv geschilderte Bedeutung der verschiedenen Wissenschaften für den Künstler. In einer unterschwelligen Kritik an der zeitgenössischen Kunst zieh er Alberti eines ausufernden literarischen und rhetorischen Stils und der Schöngeistigkeit, anstelle strenger Wissenschaftlichkeit. In seiner Kunsttheorie ging es um optische Theorien, um Grundlegungen des Sehens und um die Lehre menschlicher Proportionen. Ghiberti hatte großen Anteil an der Einführung des optischen Wissens in die Kunsttheorie der Zeit und er schrieb damit einen nachhaltigen Beitrag zur neuen Bildkultur der Renaissance. Er formulierte die Perspektive sowohl als wissenschaftliche optische Theorie als auch als künstlerische Bildtheorie. Seinen Blick fest auf die Antike gerichtet, die er im eben freigelegten Pompeij studieren konnte (er beschrieb auch für Rom die genauen Orte, die sich für ein Antikenstudium eigneten), hielt er Alhazens Texte für antik und die Perspektive für eine antike Konstruktion, die es wiederzubeleben galt. Er sah (fälschlicherweise) in Vitruvs Bühnenkunst eine perspektivische Konstruktion. Seine Beschreibung der Baptisteriumstüren holte weit aus. Sie liest sich wie eine wissenschaftliche Abhandlung unter Verweis auf Positionen von Alhazen, Bacon, Peckham, Witelo und Vitruv. Und er vergaß auch nicht, sich als strahlenden Sieger des Wettbewerbs ausführlich ins rechte Licht zu rücken.

451

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

Piero della Francesca, einer der größten Maler seiner Zeit, dem wir unter anderem die Fresken von Arezzo mit ihrem Licht- und Schattenspiel und der ersten Nachtszene der europäischen Kunstgeschichte (Der Traum Konstantins) verdanken, gehört nicht zum inneren Florentiner Kreis, sondern in die Provinz, wo er für die dort ansässigen Fürstenhöfe (Ferrara, Rimini, Urbino, Ancona) arbeitete, nicht aber für die Medici. Piero überlagerte seine Bilder bisweilen mit politischen Botschaften. So wird in der Geißelung Christi (um 1460) meist ein Kommentar zur Situation der Kirche nach der Eroberung Konstantinopels, ja gar ein propagandistischer Aufruf zu einem Kreuzzug gegen die Türken gesehen. Zuschreibungs- und Datierungsfragen stellen die Forscher vor viele Rätsel. Piero wurde um 1420 im toskanischen Borgo San Sepolcro in der Nähe von Arezzo geboren. Er hatte Zugang zur humanistischen Schule La Giocosa in Mantua und zum mathematischen Wissen einer sogenannten Abakus-Schule. Sein frühes mathematisches Werk Trattato del abaco fasst dieses Wissen zusammen. Er, der auch Mathematik studiert hatte und eine Handschrift des Archimedes illustriert haben soll, verstand sich in seinem Federico da Montefeltro gewidmeten De prospectiva pingendi, dem ersten Werk über die Perspektive, mehr als Mathematiker denn als Künstler. Piero war von den idealen Formen und deren perspektivischer Gestaltung fasziniert. Die Mathematik dazu bezog er nicht zuletzt von Euklid, den er aus arabischen Übersetzungen kannte, und in der Umsetzung folgte er den Gedanken Biagio Pelacanis. Das perspektivische Gemälde sei etwas zwischen dem Auge und den Gegenständen. Angeblich soll Leonardo seinen Plan, einen Traktat zur Perspektive zu schreiben, nach der Lektüre von Pieros Schrift aufgegeben haben. Piero hielt sich streng an die Regeln Brunelleschis und schärfte – in vorsichtiger Kritik an Alberti – die klassischen, der antiken Rhetorik entlehnten Gesetze des Malers ein. Zugleich sollten die klassischen Begriffe in verwandelter Form eine neue Malerei begründen. Aus disegno, commensuratio, colorare (Gesetze der Kontur, wohlproportionierte Gesamtanlage, Ausmalen der Figur), sollen circoscrizione, composizione und ricezione di lumi (Umriss, Komposition, Beleuchtung/Farbgebung) werden. Den Unterschied prägt neben dem colorare, wo aus dem Helldunkel Albertis eine kolorierende Lichtführung wurde, vor allem der Begriff der composizione. Komposition geht weiter als Proportion. Manche Kunsttheoretiker sehen darin schlicht das Gesamt des perspektivischen Raums gemeint, wo Dinge durch Messung den rechten Platz erhalten. Denn Piero betont, dass die Malerei nichts Anderes sei als die Demonstration von verkürzten oder vergrößerten Oberflächen und Körpern. In seinem Traktat scheute er nicht vor sehr exakten Anleitungen zurück, die der Künstler für seine perspektivische Konstruktion zu befolgen habe. Für die (»metaphysische«) Lichtführung und die perspektivische Landschaftsdarstellung wurde Francesca schließlich besonders gerühmt. Piero kam an den Höfen der Este in Ferrara und Montefeltro in Urbino mit Beispielen der flämischen Malerei (Rogier van der Weyden) und der dortigen Licht- und Farbkunst in Berührung. Für den vom genialen Luciano Laurana erneuerten Palazzo Ducale mit seinem Thronsaal, dem »großartigste[n] Profanraum des Quattrocen-

Piero della ­Francesca

Kemp 1997, 145f

5.2.

Deimling Barbara in Toman 2007b, 267f Heydenreich 1972, 337, 340

452

Die Renaissance

Heydenreich 1972, 95

Luca Pacioli

Gerl 1989, 128f Kruft 1985, 70

Zöllner 2007, 106

Albrecht Dürer

428 Albrecht Dürer, Selbstporträt als Kind (1484); AW

Krause 2007b, 32 Pfisterer 2002, 325

Földényi 2016a, 23

to«, und den Hof des Herzogs von Urbino schuf er die berühmten, niederländisch beeinflussten Porträtbilder – auch in der neuen, in den Niederlanden entwickelten Technik der Ölmalerei (statt der bislang üblichen Temperamalerei). Einer der Schüler Pieros, der Franziskanermönch Luca Pacioli, Mathematiker ebenfalls aus dem Borgo San Sepolcro, beschäftigte sich im Libellus De Quinque Corporibus Regularibus, einem Teil seines De divina Proportione (1509), mit den idealen geometrischen (platonischen) Körpern (einschließlich des goldenen Schnitts), die er als Modelle herzustellen pflegte. Kunsthistorikerinnen sehen in ihm deswegen bisweilen – in sehr freier Assoziation – einen fernen Vorläufer des Kubismus. Der Euklidübersetzer wertete in seinem Werk, wie in 5.2. bereits berichtet, die Perspektive als eigenständige achte Kunst im Kontext der (sieben) freien Künste. Teile des Traktats übernahm er von seinem Lehrer Piero della Francesca, ohne die Quelle anzugeben. In einem anderen Traktat (Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita) lobte Fra Luca, der mit Leonardo da Vinci befreundet war und ihn bewunderte, die mathematische Exaktheit der Malerei, die mit Zirkel und Lineal, mit Geometrie, Arithmetik und Perspektive arbeitet. In der Proportion (damit in der Perspektive) liege das Göttliche! Es eröffnete sich geradezu eine neue Spiritualität in Volumen, Raum und der Harmonie der Proportionen, die sich von der Konkretheit des Religiösen im Mittelalter unterscheidet. Auf die aufregende kulturelle Verschiebung, die sich in dieser Sicht ausdrückt, habe ich bereits hingewiesen. Zum Kreis der Kunst als Wissenschaft interpretierenden Künstler gehört der 1471 in Nürnberg geborene Albrecht Dürer. Er war mit seinen Vier Büchern von menschlicher Proportion (1528) und der Unterweysung der Messung mit dem zirckel unn richtscheyt (1525) der wichtigste Kunsttheoretiker nördlich der Alpen, der unter anderem die Perspektive dort bekannt machte. Er hatte sie als bereits reifer Künstler in Italien erlernt und von dort wohl auch die verschiedenen Perspektivenapparate mitgebracht. Man kann Äußerungen Dürers entnehmen, dass er sich der Vermittlerrolle zwischen dem theorielastigen Süden und dem praktisch orientierten Norden bewusst war und dass er sich als Botschafter der Renaissance im Norden verstand. Einer seiner Hauptauftraggeber war Kaiser Maximilian, der große Selbstvermarkter. Dürers Frau kümmerte sich geschickt um den Vertrieb seiner Blätter in ganz Europa. In den zwei Italienreisen 1494/95 und 1506/7 befreite er sich von der spätgotischen Tradition und setzte Meilensteine der Landschaftsmalerei. In Venedig gab es Ärger, als er mit Marcantonio Raimondi, der dem Kupferstich in Italien eine neue Qualität verlieh, einen Urheberrechtsstreit ausfechten musste. Raimondi hatte Dürers Werke ebenso wie jene anderer inklusive der Signatur reproduziert. Vor allem um diese Signatur ging es. Tatsächlich gab es in Venedig die ersten Copyright-Gesetze. Der deutsche Künstler traf in Italien auf selbstbewusste Kollegen, die durch den lebendigen Humanismus eine deutlich höhere soziale Stellung genossen als die Künstler im Norden. Das kam indirekt auch Dürer zugute, der bei seiner zweiten Venedigreise seinerseits als Star empfangen und gefeiert wurde und dem man sogar eine Lebensrente anbot, wenn er sich in Venedig niederlassen würde.

453

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

Dürer kannte die Schriften Albertis und Leonardos, stand mit den Humanistenkreisen um Erasmus im Austausch und betrieb eine Vermittlung empirischer Naturstudien mit antiker Proportionslehre. Ihm ging es um einen eigenen, vom italienischen Vorbild abgesetzten Stil. Er war ein Maler des Wesens der Dinge, was vor allem die Rezeption in der Romantik als tiefe Religiosität gedeutet hat. Dürers geschickte Selbstdarstellung sowie der aus der Melancholie gewonnene Typus des in sich versunkenen Individuums sind passende Hinweise auf die erstarkte Rolle des Subjekts am Beginn der Neuzeit. Sie gipfelt in den drei berühmten Selbstbildnissen, in denen er sich als 22-, 26- und 28jähriger gemalt hat. Für Dürer war die Naturtreue ein zentraler Teil der Malerei. Denn es sei die Malerei, die Wahrheit und Wesen der Natur herausarbeiten könne. Mit strenger Anthropometrie, zwar mit empirischen Mitteln gewonnen, aber ohne jeden subjektivistischen Zungenschlag, ließ Dürer keinen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Malerei aufkommen, was auch in Deutschland zu einer Emanzipation der Malerei vom Handwerk führte, auch wenn seine eigene Handwerkskunst in der Grafik kaum überboten werden konnte. Der Zug zur Mathematik, den er sehr weit getrieben hat, könnte durch ein Treffen mit Luca Pacioli (oder Scipio Ferrens) oder zumindest mit dessen Umfeld ausgelöst worden sein. In der Praxis vermochte Dürer eine streng nach mathematischen Proportionsregeln entworfene Kunst zu realisieren, obwohl gleichzeitig seine Naturdarstellungen ins Magische weisende Symbolisierungen aufweisen. Das hatte bereits Erasmus zur Aussage veranlasst, Dürer vermöge das Undarstellbare darzustellen und er überträfe noch den antiken Maler Apelles. Dürer sah keine Garantie für das Erreichen eines objektiven Maßes. Deshalb blieb für ihn Schönheit außer den allgemeinen Charakteristika der Angemessenheit, Geeignetheit und Wohlproportioniertheit weitgehend unbestimmt. Öfters bemerkte er, trotz der Fähigkeit, Schönes von Nicht-Schönem zu unterscheiden, den eigentlichen Wesensgrund des Schönen nicht zu kennen. Klar sei nur, dass jedes Ding ein bestimmtes Maß habe, aber niemand wisse, wie dieses Maß zu finden sei. Wie noch zu berichten sein wird, verfasste Dürer auch eine Schrift zur Architektur, wo ihn vor allem der Festungsbau interessierte.

429 Albrecht Dürer, Maximilian I. (1519); KHM

Müller W. 2004, 120 Kemp 1990, 53–64

7.1.

6.4.2. Albertis Traktate zur bildenden Kunst Der wohl bedeutendste Verfasser von Kunsttraktaten war Leon Battista Alberti. Er schrieb als Erster in der Renaissance über Kunst und Architektur. Der Schrift De pictura kommt der Rang des ersten Kunsttraktats der Neuzeit zu. Der 1404 geborene uomo universale, zu dem weitere biographische Daten in einem eigenen Kapitel nachgetragen werden, widmete sich als Praktiker technischen Dingen und behandelte die Handhabung von Lasten ebenso wie das Thema der Anlage einer Stadt. Als Theoretiker schrieb er auch über Mathematik, über die Kunst und die Schönheit. 1435 erschien der epochale (lateinische) Text über die Malerei (De pictura), den er den Gonzaga (Giovanni Francesco, dem Marchese von Mantua) zueignete (die

7.3.2.1.

De pictura

454

Die Renaissance

Greenblatt 2011

Kruft 1985, 42 7.3.2.2.

7.2.

Locher 1995

Borsi 1981, 298 Alberti 1436, 151; Borsi 1981, 294,

italienische Ausgabe Della pittura 1436 widmete er seinem großen Vorbild Brunelleschi, dem »Architekten Pippo«), nicht ganz uneigennützig, weil verbunden mit der Hoffnung auf angemessene Förderung. Alberti wollte ganz bewusst etwas Neues schaffen, das es in der Antike so nicht gab, das aber in ihr wurzelte. Sein Hinweis, dass Architekten und bildende Künstler seiner Zeit keine Vorbilder hatten, bezieht sich auf das Mittelalter, wo in der Tat die wenigen erhaltenen Zeugnisse anonym waren oder aus zweifelhafter Quelle stammten. Aus der Antike war nur der Architekturtraktat des Vitruv überliefert. Er soll 1416 vom Florentiner Humanisten Gianfrancesco Poggio Bracciolini, der gerne in Bibliotheken nach alten Texten suchte als Abschriften in St. Gallen oder (nach anderer Quelle) in Montecassino entdeckt worden sein. Ob sich das tatsächlich so zugetragen hat, wissen wir nicht, denn der Traktat war auch im Mittelalter bekannt, allerdings eher in den Skriptorien der Klöster und nicht in den Werkstätten der Baumeister. Jetzt wurde der Traktat weit verbreitet. Der Einfluss auf Albertis Architekturtraktat De re aedificatoria (um 1452) ist sehr groß. Allerdings setzte sich Alberti von der Vorlage bewusst ab und versuchte, ein zeitgemäßes lateinisches Fachvokabular für die schwierige griechische Nomenklatur Vitruvs einzuführen. Dass Alberti die drei Gattungen, Malerei, Bildhauerei, Architektur, getrennt behandelte, ist Folge davon, dass sich in der Renaissance die Gattungen nur in Ausnahmefällen zu einem Gesamtkunstwerk vereinten, in der Regel jedoch getrennt blieben oder sich sogar ausschlossen. Alberti war ein bedeutender Architekt, hatte jedoch keine vergleichbaren Erfolge in der Malerei und Bildhauerei, er wurde auch schon als »malerischer Dilettant« bezeichnet. Ohne auf die eigene Vermarktung als Maler zu schielen (wozu solche Traktate nicht zuletzt auch dienten), war er voll des Lobes für die zeitgenössischen Künstler, bei denen sich Kunstgeschick und Fleiß (industria e diligentia) mit der schöpferischen Fähigkeit (ingenio) zur Tugend (virtù) verbinden. Es scheint, dass Alberti dem Gang der Kunst in die neue Zeit, wie sie sich um 1435 zaghaft abzeichnete, zusätzlichen Schwung verleihen wollte. In den ersten Büchern seines Traktats geht es um die Geometrie, welche die Voraussetzung für die perspektivische Darstellung der Natur im Bild ist. Ungeachtet der geometrischen Konstruktion gibt Alberti auch Anweisungen für eine empirische Bestimmung der Perspektive, ausgehend vom Faktum, dass das Bild den Blick auf den Raum vor ihm öffnet. Ziemlich sicher kannte Alberti die Sehtheorien von Alhazen und Pelacani. Die Geometrie wird – nicht überraschend – zur wichtigsten Wissenschaft für die Malerei. »Mir gefällt, wenn der Maler in allen freien Künsten gebildet ist, so gut er kann; vor allem aber möchte ich, dass er die Geometrie beherrsche.« Seine Motivation war aber nicht die reine Mathematik, sondern die Kunst und er verlangte nicht mehr ein solches Maß an Wissen für Künstler wie in der Antike Vitruv und zu seiner Zeit Ghiberti. Aber auch er zweifelte nicht daran, dass nur eine wissensbasierte Kunst eine Wissenschaft im Kanon der freien Künste sein und die Dichtung überholen könne. Kunst hatte nichts mehr zu tun mit einem apriorischen oder mystischen Ideal.

455

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

Der eigentlich malerische Anteil firmiert im Zweiten Buch unter dem Titel historia. Eine zentrale Rolle spielt dabei die compositio. Den Ausdruck kennen wir von Piero della Francesca. Er stammte aus der Rhetorik und meinte die sinnvolle Zusammensetzung. Er bezeichnet das, was die Perspektive in ihrer vollen Dimension leisten sollte, nämlich den Rahmen zu bilden für eine erzählte Geschichte. Es ist hier nichts Geringeres als eine Kompositionslehre der Malerei entwickelt, gleichsam als Höhepunkt der westlichen Bildkultur. Bereits Vitruv verwandte den Ausdruck der Komposition: »Denn kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung [compositio] haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zu einander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen.« Als Grundlage für die gesamte Geometrie definierte Alberti den braccio, die Elle, als Maßeinheit und konstituierte damit eine nachhaltige Anthropomorphie der Maßverhältnisse. Hubert Locher macht darauf aufmerksam, dass es bei Alberti neben praktischen Fragen um eine neue Theorie der Malerei und um ein neues Bildverständnis ging. Bilder waren nicht mehr wie im Mittelalter in einen Bilderzyklus eingebunden, sondern die historia (Erzählung) beschränkte sich auf das Einzelbild. Albertis Bild (also die historia) sei gleichsam wie ein Blick aus dem Fenster eine »Momentaufnahme der Welt.« Der Maler setzt bei der Realisierung der historia Bewegungen der Seele in solche des Körpers um. Dazu braucht er die Erfindung eines Themas (inventio), mit dem er im Betrachter eine emotionale Wirkung auslösen kann. Die inventio bleibt auch ohne Umsetzung in ein konkretes Gemälde der wichtigste Anteil. Dies ist eine deutliche Übernahme des Begriffs aus der Rhethorik. Aber neben die Belehrung und seelische Bewegung trat bei Alberti als Zweck der Malerei auch das Vergnügen (delectatio), ja der Genuss (voluptas). In diesen dem rhetorischen Vokabular entlehnten Beschreibungen der Malerei findet sich Albertis Vorliebe für die antike Rhetorik wieder. Ähnliches lässt sich auf die Bildhauerei übertragen, wenngleich Alberti darin im Wesentlichen nur die Konkretion eines ideellen Urbildes sah, nach dem der Bildhauer die im Stoff enthaltene Form freilegt. Es geht – wie im Architekturtraktat ausgeführt wird – um die Nachahmung der idealen Idee im Kunstwerk. Mit den Proportionen hängt der Schönheits begriff Albertis zusammen. Er war über sein Lebenswerk gesehen uneinheitlich. In den Malereitraktaten ist Schönheit eher etwas Erleb- und Begreifbares, in der Architektur ist Schönheit Ergebnis wohlproportionierter Verhältnisse und eine objektive Eigenschaft der Dinge. Jedenfalls ist die Grundlage der Schönheit das Reale, das freilich durch die Idee des Künstlers korrigiert wird. Mimesis richtete sich weniger auf die Natur in ihrer empirischen Gestalt, als auf die dieser Natur zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten. Erwin Panofsky erkannte darin das typische Schönheitsverständnis der Renaissance, die trotz der Hinwendung zum Realen das Konzept der Idee nicht aufgeben wollte. Philosophisch buchstabiert könnte man reformulieren, dass der Aristotelismus zwar einem aufklärerischen Fortschritt entsprach, aber nicht den platonischen Kontext verdrängen durfte. Im Mittelpunkt der Farbentheorie Albertis stand das berühmte chiaro-oscuro (Licht und Schatten). Schwarz und weiß bedeuteten die Abwesenheit und Anwesen-

Vitruv 1981, 137

Locher 1995

Vöhringer 2010, 40

7.3.2.2. Schönheit

Panofsky 1924, 93ff

Farbentheorie

456

Die Renaissance

Alberti 1436, 141

V.6.2.4.

Meier, zit. nach Taschen/ Taschen 2016, 425 De statua

Bätschmann 1999

7.3.2.

heit des Lichtes. Alberti verortete die Liebe zum Lichtspiel im Wesen des Menschen. »Aber ich verlange von den gelehrten [Malern] die Zustimmung, dass das höchste Streben und die höchste Kunst im überlegten Gebrauch von Weiß und Schwarz liegt […] Denn so wie Licht und Schatten die Dinge plastisch erscheinen lassen, bewirken Weiß und Schwarz die Erscheinung der gemalten Dinge im Relief […].« Daneben deutete er die Farben Blau, Rot, Grün, Grau als Elemente Himmel, Feuer, Wasser und Erde. Der Lobpreis auf das Weiß, das seinerzeit bereits Bernhard von Claiveaux angestimmt hatte (aus sehr spirituellen Gründen), erhielt jetzt, neben immer noch religiösen Aspekten bei manchen, auch den Bonus, die Plastizität von Bauwerken hervortreten zu lassen. Das überzeugt noch Architekten der Gegenwart. Der amerikanische Architekt Alan Richard Meier ist ein bedingungsloser Anhänger des Weiß und meint dazu: »Weiß ist für mich die schönste Farbe, weil man darin alle Farben des Regenbogens erkennt … Und vor einer weißen Oberfläche lässt sich das Spiel von Licht und Schatten, von Flächen und Einschnitten am besten verstehen.« Albertis unsicher, meist und eher überzeugend auf 1434 (es gibt aber auch Spätdatierungen bis 1464) datierte Schrift De statua ist weniger eine Abhandlung über die Skulptur als vielmehr eine Problematisierung von Messungen sowohl von Skulpturen als auch von Gebäuden und Landschaften, der Übertragung von Proportionen und ein Kanon der idealen menschlichen Proportion. Dieser Kanon ist der erste, der am plastischen Körper empirisch gewonnen worden war, wobei unklar bleibt, ob Alberti die Idealproportionen durch Vermessung antiker Statuen gewann oder sie an lebenden Menschen abnahm. Für die Vermessung von Körpern erfand er drei Instrumente, eine Hexempeda zur Längenvermessung des Körpers, eine Normae zur Bestimmung von Durchmessern von Körper und Körperteilen und das Finitorium, das der proportionalen Übertragung in andere Maßstäbe dient. Es soll die Handwerker, Bildhauer und Maler zu rationalisiertem Arbeiten aufrufen, sie zu mehr Arbeit nach dem belehrenden Diskurs animieren und sie davon abhalten, bloß ihrer Erfindungsgabe zu folgen. Albertis Kanon wurde durch die exaktere und ausführlichere Arbeit Leonardo da Vincis überboten. Die Aufmerksamkeit, welche die Renaissancekünstler den menschlichen Proportionen widmeten, zeigt, wie sehr der Mensch zum zentralen Paradigma der Kunst geworden war. Wichtiger noch als Albertis Beiträge zur bildenden Kunst waren jene zur Architektur, die an anderer Stelle gewürdigt werden sollen. Traktate zur Bildhauerei blieben selten. Einen weiteren neben Alberti verfasste Pomponius Gauricus, Philosoph und Humanist, Professor für Latein und Griechisch 1504: De sculptura. Er rechtfertigte seinen Traktat mit dem hohen Ansehen der Bildhauerei in der Antike. Daneben beschäftigten ihn auch Theorien der Dichtung und Fragen der Architektur und Alchemie.

6.4.3. Kunst zwischen Theorie und Praxis: Leonardo, Michelangelo, Cellini Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci, der Schöpfer des Abendmahls (1495–1497), der Mona Lisa (1503– 1506) und des Bildnis einer Dame mit Hermelin (1489/90), war für Ernst Gombrich die Verkörperung des Renaissancemenschen schlechthin. Schon Vasari hatte den 1452

457

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

geborenen Toskaner als Genius ins Übermenschliche (veramente mirabile e celeste) gehoben. In den in unseren Tagen beliebten Bestenlisten erhält Leonardo regelmäßig den Platz des Mannes des Jahrtausends. Eine Legende will wissen, dass Leonardos Lehrer Andrea del Verrocchio das Malen frustriert aufgab, als er die ersten Bilder seines genialen Schülers sah. Leonardo war 1452 als Sohn eines Notars und möglicherweise einer arabischen Sklavin in Anchiano bei Vinci zur Welt gekommen. Der als Lionardo getaufte junge Mann (der erst nach seinem Tod den Zusatz da Vinci erhielt) entdeckte früh sein Talent und bildete es in Florenz. Er studierte die antiken Wissenschaftstraktate, darunter mit besonderer Vorliebe die Mathematik bei Archimedes und Euklid. In Lorenzo de’ Medici gewann er einen einflussreichen Förderer. Eine feste Anstellung erhielt er erst 1483 in Mailand am Hof der mit den Medici eng verbundenen Sforza. Um 1500 gingen er und der mit ihm befreundete Luca Pacioli wieder nach Florenz, ständig auf der Suche nach Aufträgen, wobei Leonardo an solchen für technische Projekte mehr Interesse zu haben schien. Von Entwässerungsanlagen, Kanalisierungen, Straßen- und Brückenbauten bis zu Palastrenovierungen reichte die Palette, die ihn in verschiedenen oberitalienischen Städten beschäftigte. In Mailand organisierte er eine funktionierende Müllabfuhr, nicht zuletzt, weil er einen Zusammenhang zwischen Pest und fehlender Hygiene vermutete. Organisches und Mechanisches führte er zwanglos ineinander über und bot ein anschauliches Beispiel, wie man technische Entwicklungen der Natur abschauen konnte. Die späten Jahre in Rom (1513–1516) waren wenig ergiebig. Von Papst Leo X. wurde er nur widerwillig geduldet, von den Anhängern der eingesessenen Meister angefeindet und aufgrund seiner anatomischen Studien bespitzelt. Ob Leonardo überzeugter Christ war, darüber gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Fakt ist, dass er gegen alles Dogmatische und Konventionelle mit Lust rebellierte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Frankreich. Leonardo hinterließ ein überreiches künstlerisches Œuvre und zahllose Schriften, darunter auch Bücher über Vogelflug, Mechanik, Anatomie und Gewässerkunde. Die etwa 4000 Seiten Texte und Zeichnungen, Einzelblätter und Broschüren, zu ordnen, stellen die Forschung vor eine große Aufgabe. Nie berief sich Leonardo auf Tradition oder Autoritäten, sondern er erforschte die Natur und prüfte alles empirisch, bevor er seine Überlegungen dazu (in Spiegelschrift) in seine Notizbücher schrieb. Monatelang vermaß er junge Männer (deren Namen wir sogar kennen), Tiere, darunter vor allem Pferde, betrieb anatomische und anthropometrische Studien aller Art. Durch solch empirisches Studium konnte er die Proportionslehre Vitruvs korrigieren, damit dessen Autorität unterhöhlen. In seinem Trattato di pittura (entstanden um 1495; veröffentl. 1651) forderte er die echte Nachahmung und lehnte die idealisierende Nachahmung ab, aber auch er pflegte die in der Natur erforschte Bewegung idealisierend umzusetzen, der Natur also ideale Proportionen zu unterstellen. Von Naturalismus kann hier »nur insofern die Rede sein, als der Begriff auf einen Gegenwillen zur klassischen Form beschränkt bleibt.« Die als homo ad quadratum bezeichnete Proportionsstudie des in das Quadrat ein-

430 Leonardo da Vinci, Selbstporträt (?) (um 1512); BRT

Gerl 1989, 137

Rosci 1977, 59–66

Zöllner 2007, 104f

Kauffmann 1970, 25

458

Die Renaissance

Rattner/Danzer 2004, 124

Kruft 1985, 64ff

Zöllner 2007, 108–113

geschriebenen vitruvianischen Mannes könnte als Symbol gelten für den Umgang der Renaissance mit der Antike: Rückgriff, aber selbständige, durch die neuzeitlichen Methoden angereicherte Bearbeitung. Neben der Empirie galt ihm die Mathematik als wichtiges Gebiet. In ihr verlangte er auch vom Künstler große Kenntnisse, ganz im Sinne seiner Rolle als Wissenschaftler. Außer der Tatsache, dass Kunst Wissenschaft sein müsse, gab er keine Definition der Kunst an. Abgesehen von der Malerei – von den gerade einmal zwanzig fertig gestellten Gemälden sind noch rund fünfzehn erhalten –, der Zeichnung, in der dann Raffael sein großer Nachfolger wurde, und der Bildhauerei beschäftigte er sich als echter Universalgelehrter mit Meteorologie, Städtebau, Optik, Theater, mit technischen Disziplinen, von Waffentechnik, Flugmaschinen bis zur allgemeinen Mechanik und Hydraulik. Viele seiner Blätter technischer Gerätschaften erwecken eher den Eindruck, als hätte sich Leonardo über die Hybris technikgläubiger Menschen lustig gemacht. Trotz seiner bekannten Verachtung der Intellektuellen hält sich die Vermutung, dass Leonardo eine erste Enzyklopädie mit dem Wissen der Zeit schreiben wollte. Als Bildhauer und Architekt bleibt er schwieriger greifbar, man kann aber in seinem bildhauerischen Werk von einem souveränen Umgang mit der Antike ausgehen. Vasaris Bemerkung, seine Arbeiten würden jene der Alten übertreffen, kennzeichnet die Einstellung der Hoch- und Spätrenaissance, wo dem Künstler ingeniöse Freiheiten eingeräumt wurden. Es existiert ein Konvolut von Notizen, die man mit einem geplanten Architekturtraktat in Verbindung bringt, in dem es um praktische Fragen gehen sollte, aber auch um eine Systematik von Zentralbauideen, und es gibt Unterlagen zu einem äußerst funktionalistisch gedachten Städtebaukonzept. Das erwähnte Manuskript erschien posthum 1651 unter dem Titel Trattato della pittura. Dabei handelt es sich um kaum mehr als einen Zettelkasten mit etlichen Ideen und niedergelegten Gedanken zum Thema. Es ist ein Teil der Hinterlassenschaft einer großen Zahl von Notizen aus der Zeit ab 1490, die seine Erben zu ordnen begannen, welches Unternehmen aber unvollendet blieb. In einer rudimentären Farbenlehre beschrieb er die Komplementärfarben und fasste Gedanken zu Harmonie und Disharmonie der Farben. Er äußerte sich zu Licht- und Schattenwirkung, also dem berühmten chiaro-oscuro. Im Traktat übte der Liebhaber der Malerei ziemlich polemische Kritik an der Dichtung. Sie sei an eine zeitliche Abfolge gebunden, vergänglich, unselbständig und ermüdend. Die Dichter nennt er gar wilde Tiere (bestie). Man könnte das als Dokument des neuen Selbstbewusstseins der Künstler sehen. Allerdings klingen seine Invektiven sehr nach einer Revanche dafür, dass er beinahe den lukrativen und prestigeträchtigen Auftrag für ein Reiterstandbild der Sforza, in welches Projekt er viele Jahre Arbeit investiert hatte, aufgrund von Intrigen der Dichter am Mailänder Hof verloren hätte. Bei der Berechnung des Bronzegusses des sieben Meter hohen Gipsmodells half ihm Luca Pacioli. Allerdings wurde das Standbild nie ausgeführt, aus Mangel an Bronze, wie man meint, weil diese für Waffen benötigt wurde. Trotz dieser eigenen bildhauerischen Ambitionen kommt auch die Bildhauerei nicht gut weg. Sie sei schweißtreibend, geistloser als die Malerei und eines Herren

459

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

unwürdig. Die Malerei demgegenüber, die »Blutsverwandte Gottes«, berühre den Betrachter unmittelbarer (als die Dichtung). Nur die Malerei repräsentiere im Übrigen die Natur, das Werk Gottes, während die Dichtung nur menschliche Erfindung sei. Dieses Repräsentieren durch die Malerei sei Folge der Leben spendenden und Form verleihenden Kraft göttlichen Lichts, wie Leonardo im Geiste platonisierender Lichtmetaphysik festhält. Sein Plädoyer für den Vorrang der Malerei geschah in einer Zeit, in der die Stellung der Literatur des frühen Humanismus nicht mehr unangefochten war und die Kunst sich als wissenschaftliches Genre etabliert hatte. Die Kulturtechnik der Perspektive ließ zudem den Blick und das Auge wichtig werden. Ohne das Auge, so Leonardo, bliebe man in einem Grab eingeschlossen. Das war ganz im Sinne späterer Enzyklopädisten wie André Félibien und Jean-Baptiste Du Bos, die der Malerei gegenüber der Dichtung zustanden, die Seele mittels der Sinne zu berühren. Der Malerei komme eine ähnliche Harmonie zu wie der Musik. Aber sie sei dauerhafter als die Musik und verlange mehr Wissen. Der Künstler müsse einen Raum auf einer zweidimensionalen Fläche darstellen. Leonardo pflegte Umgang mit dem Musiktheoretiker Franchino Gaffurio, war also in Sachen musikalischer Harmonien informiert. Der Wert der Kunst ergab sich für Leonardo aus dem vielseitigen Erfassen der Wirklichkeit, der geistig-schöpferischen Umsetzung und der Dauerhaftigkeit des Werks. Er bekräftigte Albertis Gedanken von der Wirkung des Gesamtbildes, und verwandte dafür auch Albertis Begriff der historia. Vorbild der Nachahmung hat stets die Natur zu sein und nicht andere Künstler: »Ich sage zu den Malern, daß nie einer die Manier eines anderen nachahmen soll, denn er wird, was die Kunst betrifft, nicht ein Sohn, sondern ein Enkel der Natur genannt werden.« Das Verhältnis zwischen dem kühlen und analysierenden, aber stets freundlichen Leonardo und dem eher als reizbar und emotional geschilderten Michelangelo Buonarroti war nicht einfach. Michelangelos in den Porträts auffallende platte Nase verdankte er einer Schlägerei in der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz. Der angehende Bildhauer Pietro Torrigiani soll – so erzählt es jedenfalls Benvenuto Cellini – wegen des beißenden Spotts Michelangelos die Contenance verloren und ihm einen Faustschlag auf die Nase verabreicht haben, was sich anfühlte, »als wenn es eine Oblate gewesen wäre.« Michelangelo, trotz dieser äußerlichen Beeinträchtigung wieder ein divino (so der Zeitgenosse Ludovico Ariosto in seinem Orlando furioso), und wieder ein uomo universale, der in Malerei, Bildhauerei und Architektur eine Norm setzte, war ein langes Leben vergönnt. Er erlebte dreizehn Päpste, die Zeit der Medici mit ihren Höhen und Tiefen, den Sacco di Roma und das Tridentiner Konzil. Er musste sich nicht mehr mit der Dichtkunst messen lassen, er war selbst zum Maßstab geworden, an dem sich im 16. Jh. die gesamte Renaissance ausrichtete. Vasari hatte Michelangelo zum Höhepunkt der Kunstgeschichte erklärt und die Frage war dann nur noch, was nach einem Michelangelo noch kommen konnte. Michelangelo verkörperte in der Tat jenes Künstlerleben, in dem die Kunst der Renaissance mit ihrer schon göttlichen Verehrung der Proportion und Harmonie in den Manierismus kippte. Gelten

Conti 1987, 228

Leonardo, zit. nach Pfisterer 2002, 202 Michelangelo Buonarroti

Cellini, zit. nach Zöllner/ Thoenes 2007, 14

460

Die Renaissance

Hauser 1964, 161–175

Zöllner/Thoenes 2007, 12

Ceysson Bernard/BrescBautier Geneviève in Ceysson u.a. 1987, 69

Michelangelo, zit. nach Pfisterer 2002, 166 III.2.4.3.3.1.

Borngässer Barbara in Toman 2010, 517

der David und die Pietà als die Höhepunkte der Renaissance, wird eine solche Zuordnung in den Malereien der Sixtina bereits fragwürdig, während die späte Architektur des Meisters zum Manierismus zu zählen ist. Der 1475 in der Nähe von Arezzo (Caprese) in eine aristokratische Florentiner Familie hineingeborene Michelangelo war mit Leib und Seele Bildhauer und ließ sich nur zögernd auf die Malerei ein. Frühe bildhauerische Arbeiten wurden von den Medici, namentlich von Lorenzo, in Auftrag gegeben. Lorenzo kann als sein Entdecker und Förderer gelten. Dabei war das Verhältnis zu den Medici gar nicht einfach, weil Michelangelos guelfische Familie republikanischen Ideen anhing. Michelangelo griff als gebildeter Künstler gerne auf Vorlagen in der Literatur zurück. In seiner berühmten, vom Gesandten König Karls VIII., dem Kardinal Jean de Bilhères-Lagraulas, in Auftrag gegebenen, aus einem Marmorblock aus Carrara gehauenen Pietà (1498/99) ist Maria jünger als Jesus, was man auf Dantes Beschreibung Marias als Mutter und zugleich Tochter ihres Sohnes zurückführte. Kunstgeschichtlich ist das Werk des erst 24jährigen Künstlers von nordalpinen Vorlagen (Wunder wirkende Vesperbilder) beeinflusst. Michelangelo hat in poetisch-metaphorischer Weise immer wieder darauf hingewiesen, dass der Marmorblock alle Möglichkeiten enthält und es die Idee des Künstlers ist, die eine bestimmte Form entbirgt: »Es kann der beste Künstler nicht erdenken/was nicht der Marmor schon in sich enthielt,/und der allein erreicht, worauf er zielt,/dem Geist und Sinne seine Hände lenken.« Dies ist die am weitesten gehende Übereinstimmung eines Künstlers mit den aristotelischen Vorstellungen von Form und Materie und den vier Ursachen. Trotzdem war Michelangelo kein Aristoteliker. Er vertrat die anagogische Aufstiegsmetaphysik des Neuplatonismus, die eben in der praktischen Ausführung mit einem Aristotelismus verschmolz. Viele seiner Gedichte und Sonette gewähren Einblick in Seelenkämpfe über die Konflikte zwischen der ästhetischen und geistigen Faszination des Platonismus und den Vorgaben des Christentums, dem er anhing. Julius II. holte Michelangelo 1505 auf Empfehlung Giuliano da Sangallos neuerlich nach Rom. Den Rest seines Lebens erhielt er seine Aufträge vom päpstlichen Hof. Die harten Konflikte mit Julius (Zeitgenossen sprachen von terribilità) bieten bis heute Stoff für Legenden. Die Raubeinigkeit Michelangelos wurde in der Rezeption gerne betont (und dem angeblich sanftmütigen Raffael gegenübergestellt), zu attraktiv war das Bild des gegen die Oberen aufbegehrenden Genies. Aber der Künstler engagierte sich in gigantischen Projekten, vom Grab für Julius über die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle bis zur Umgestaltung des Platzes vor dem Kapitol und der Leitung des Neubaus von St. Peter (ab 1506). Die Gestaltung der Sixtinischen Kapelle (1508–1512) war sein erster großer malerischer Auftrag (den er, folgt man vereinzelten Briefäußerungen, nur widerwillig angenommen hat) und es wurde gleich eines der größten Werke der Kunstgeschichte, eine »künstlerische Sensation«. Die athletischen nackten Körper erinnern an die Antike und die alle Dimensionen sprengende, ein gewaltiges Architektursystem imaginierende Darstellung verweist auf den anbrechenden Manierismus, ja auf die Deckenmalerei des Barock. Die neueste Restaurierung von 1980 bis 1989 unter der Lei-

461

Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance

tung von Gianluigi Colalucci brachte gegenüber älteren Urteilen, die von »dunkler Farbgebung« (Wölfflin) sprachen, die ursprüngliche heftige Farbigkeit des Werks ans Licht, auch eine Eigenheit, die man im folgenden Manierismus fand. Über die (politische) Botschaft, die der päpstliche Auftraggeber (oder war es doch eher Michelangelo selbst) mit der Verflechtung antiker und christlicher Themen verband, wird bis heute diskutiert. Die Ausmalung der Sixtina erklärte Michelangelo des Öfteren mit dem biblia pauperum-Argument. Besonders imposant geriet das Jüngste Gericht (1534–1541) im Auftrag von Paul III., das etliche antike Elemente enthält. Es ist ein erschütternder Ausdruck des dies irae, des Tages des Zornes, und verfehlte bei der Fertigstellung 1541 seine Wirkung auf die Zeitgenossen nicht. In späterer Zeit drängte Michelangelo das verbindliche Regelwerk, Mathematisierung und Wissenschaftlichkeit, wieder zurück zugunsten sinnlicher Erfahrungen und Urteilskriterien. Die exakten Proportionsstudien Dürers seien eine »Zeitverschwendung.«. Michelangelos Augenmerk liegt wieder auf der alten Aufgabe der Kunst, Natur in ihrer Idealgestalt nachzuahmen und dabei (demiurgisch) Schönheit zu erzeugen, denn jede materielle Gestalt dient nur zur Verwirklichung der geistigen Vorstellung. Diese Schönheit steht als Widerspiegelung der göttlichen Schönheit im Medium der geistigen Idee des Künstlers über jener der Natur. Schönheit ist nun ein Kriterium für die Kunst. Entscheidend für sie ist das Urteil der Augen (giudizio dell’occhio). Dieses steht gegenüber der mathematischen Proportion im Vordergrund. Auch Donatello hatte sich dazu bekannt, im Zweifel wie in der Antike gegen die berechnete Proportion und für das Auge zu entscheiden. Das ist nicht im Sinne eines Subjektivismus zu verstehen, sondern die Konsequenz aus der Nachahmung der Natur. Ziemlich pointiert brachte das Georg Kauffmann zum Ausdruck und sprach gar von Zertrümmerung der Form: »Als Bildhauer überwand Michelangelo das Streben nach hellenistischer Perfektion. Nicht mehr im Geglätteten, sondern im Zertrümmerten erfahren wir die ideale Bedeutung des Plastischen. Sie appelliert nun an die synthetischen Kräfte des Auges.« Diese Sinnlichkeit entfaltet ihre ganze poetische Kraft im Gedichtzyklus (rime), der überwiegend zwischen 1530 und 1550 in Rom entstand und in dem er in einem an Petrarca anschließenden hymnischen Ton die Schönheit (der oder des Geliebten) preist, die den Wunsch weckt, ganz schauendes Auge zu sein. Der Primat des sinnlichen Urteils lässt Schönheit nicht mehr als statische Ausgewogenheit erscheinen, sondern im Unterschied etwa zu Raffael beginnen Michelangelos Figuren mit leidenschaftlicher Bewegung. Ernst Gombrich hat die ideale, ausgewogene Bewegt-

Rauch Alexander in Toman 2007b, 318f

Michelangelo, zit. nach Pochat 1996, 269

431 Michelangelo, Jüngstes Gericht; Sixtinische Kapelle

Kauffmann 1970, 35

462

Die Renaissance

Gombrich 1996, 320

Benvenuto Cellini

Pfisterer 2002, 82

Eser 2007, 457

heit in Raffaels Werken schön beschrieben: »[…] so galt Raffael als der Künstler, der erreicht hatte, was die vorhergegangenen Generationen so leidenschaftlich erstrebten: die vollendete Harmonie in der Gruppierung bewegter Gestalten.« Ohne diese grundsätzliche Beurteilung in Frage stellen zu wollen, sei doch darauf hingewiesen, dass auch Raffael heftige Anmerkungen zum Zeitgeschehen gemacht hat. Der Racheengel in der Stanza d’Eliodoro im Vatikan, der sich dem Tempelräuber Heliodor in den Weg stellt, ist kein friedvolles Sujet. Es erinnert eher an die blutigen Gemetzel, die Julius II. anstellte, um das von Frankreich okkupierte Oberitalien wieder in seine Hand zu bekommen. Bleiben wir bei dem von Gombrich festgestellten Befund, dann haben wir wieder einen Konflikt von harmonischer und einer aus dem Lot geratenden emotionalen Bewegung. In Michelangelos Werk wächst das Bedürfnis nach Freiheit und der Künstler verstößt zunehmend gegen das klassische Schönheitsideal. Nur im Abweichen von der mathematischen Proportion kann emotionaler Ausdruck dargestellt werden. Das Bild Venus und Cupido, das Jacopo (Carrucci) Pontormo um 1533 nach einer Vorlage von Michelangelo malte, wurde zu einem Skandal, weniger der Nacktheit willen (es wurde später mehrmals mit Verhüllungen übermalt), sondern der manieristischen Sinnlichkeit wegen. Der Maler, der sich auch von Dürers Grafik inspirieren ließ, hatte sich dem neuen, ins Barocke weisenden Schönheitsideal zugewandt. Benvenuto Cellinis um 1560 geschriebene und erst 1728 gedruckte Lebensbeschreibungen (Vita) gelten als ein Höhepunkt der damaligen künstlerischen Selbstdarstellungen. Goethe übertrug sie 1803 aus einer englischen Version ins Deutsche. Cellini, der bedeutende Goldschmied, beschreibt sich selbst mit großer Eitelkeit als jemand, der zu sich gefunden hat, und reflektiert das Erleben des Individuums in bewegter Zeit. Die Autobiographie Cellinis war deshalb delikat, weil er darin sogar einen Mord an einem rivalisierenden Goldschmied offen legte. Die Tat selbst leugnete er nicht, verteidigte sich aber damit, den Totschlag nicht absichtlich ausgeführt zu haben. Tatsächlich wurde er begnadigt. Auch diese Geschichte zeigt die inzwischen starke und angesehene Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Hector Berlioz verarbeitete später den Stoff dieser widersprüchlichen Künstlerpersönlichkeit in einer Oper. Cellini war einer der ersten, der die Allansichtigkeit der Skulptur neben der üblichen Bewertung der Ausführung, der Naturnähe und der Anlehnung an die Antike für ein wichtiges Qualitätsmerkmal hielt. Eine Skulptur solle »von allen Seiten schön sein.«

7.0. Die Architektur der Renaissance Die Architektur der Renaissance ist eine besonders interessante Fortentwicklung der Antike. Denn die Architekten übernahmen nicht etwa antike Baukomplexe in toto, vielmehr wurden einzelne Bausteine antiker Architektur wie Säulen, Bögen, Balkenwerke im Rahmen des neuen Weltbildes zu neuen Lösungen synthetisiert. Ein genauer Blick wird sogar ergeben, dass in der Architektur außerordentlich wenig aus

463

Die Architektur der Renaissance

der Antike den Weg in die Renaissance gefunden hat. Interessanterweise schien dies den Renaissancearchitekten nicht ganz verborgen geblieben zu sein: »Als allerdings die Gewölbe der Biblioteca Marciana in Venedig 1545 einstürzten, entdeckte der wortgewandte Publizist Pietro Aretino zur Verteidigung seines Freundes Sansovino auf einmal: ›Ich würde mich nicht wundern, wenn alle die Gebäude, die man heute nach den Regeln Vitruvs errichtet, zusammenbrechen würden, denn die Kleider der antiken Bauten passen nicht zu den Körpern der modernen.‹« Hintergrund dafür war einerseits eine außerordentlich schlechte Kenntnis der antiken Architektur im späten Mittelalter. Zwar gab es in Rom wesentlich mehr antike Relikte als heute – ausgerechnet in der Renaissance ging ein großer Teil davon unwiederbringlich verloren –, aber man wusste kaum etwas damit anzufangen. Thermen wurden als Paläste angesehen, das Kolosseum als Sonnentempel, für das Forum Romanum hatte man keine Erklärung. Die Arena von Verona hielt man für einen Palast des Theoderich, die Gebildeteren erkannten das Bauwerk zwar als Arena, vermuteten aber wegen der derben Rustizierung einen deutschen Architekten. Dafür hielt man manche frühchristlichen und romanischen Bauten für antik, das im 4. Jh. entstandene San Lorenzo in Mailand für einen Herkulestempel und selbst das Baptisterium in Florenz galt als alter Tempel des Kriegsgottes Mars. Vom Typus des säulenumschlossenen Tempels, den Vitruv beschrieb, hatte man kein einziges Beispiel vor Augen. Während man Rom (und mit weniger Interesse Konstantinopel – auch in der osmanischen Zeit) immer besser kennen lernte, blieb Athen und Griechenland terra incognita. Von da her muss man die Leistungen der Renaissance einschätzen: die systematische Bauaufnahme der antiken Relikte und die Entwicklung eigener Ordnungsprinzipien, sodass man schließlich darangehen konnte, die antiken Bauten nach den Idealproportionen »zu korrigieren«. Die lebhafte Platon-Rezeption verlief also vor der Folie einer schlechten Kenntnis der architektonischen Vorlagen. Daher konnte die Renaissance ein geistiges Ordnungsprinzip für die Architektur anbieten, das noch immer auf der Basis einer ontologisierenden Ästhetik aufbaute. Die neuen Lösungen folgten einer durchgängigen Idee: An die Stelle der Kompliziertheit der Gotik trat wieder eine luzide Einfachheit. »Die ästhetische Entmaterialisierung des Steins […] wurde ersetzt durch eine funktionale Logik des Lastens und Tragens.« Dahinter stand die alte Harmonievorstellung. In dem Moment, in dem dieses Konzept brüchig wurde, begann die Architektur, spielerisch und kreativ mit den Formen umzugehen. Das war der Moment, an dem am Beginn der Neuzeit mit ihren philosophischen Schulen des Rationalismus und Empirismus der Umschlag in den Barock erfolgte. Jedenfalls im Süden war der antike Formenschatz bei allem Unverständnis zumindest präsent, sodass man von »offen zutage tretenden Renaissance-Tendenzen« schon im Mittelalter sprechen kann. Der gotische Kirchenbau in Italien behielt häufig die Wände als Bildträger. Die Auflösung der Wände wie bei der Skelettbauweise in Frankreich und Deutschland zu großen Lichtflächen fand hier nicht statt. Insofern hatte im Norden die Architektur eine andere Charakteristik, welche die Identifikation einer ausdrücklichen Renaissance-Architektur erschwerte. Nicht nur vermischte

Günther 2012, 101f

Günther 2009, 180–189

Bialostocki 1972, 78

Wundram 2004, 27

464

Die Renaissance

432 Blick auf ­Dubrovnik 433 Onofrio-Brunnen (1438) und Sv. Spas (1520)

434 /435 Sponza-­ Palast (um 1520) und Rektoren-Palast (um 1450)

Meier 2007

Albrecht 2007, 211ff

Müller 2007

sich die fest verwurzelte gotische Tradition mit den neuen Stilformen, sondern die fragmentierten Einflüsse (der zahlreichen sich regional ausbildenden Fürstentümer) überformten zudem noch die stilistische Charakterisierung, sodass sich bei der Untersuchung der Bauten des 15. bis ins 17. Jh. für die Kunsthistorikerinnen ein weites Feld auftut. Das Vorbild für die Architektur ebenso wie für die bildende Kunst der Renaissance blieb sowohl am Balkan als auch nördlich der Alpen die Entwicklung in Italien.

Rasch setzte sich die Renaissance in der Stadtrepublik Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, durch, wo viele italienische Baumeister wirkten. Nach der Verstärkung der Befestigungsanlagen durch den Florentiner Michelozzo di Bartolommeo und dem Bau einer Wasserleitung zur Versorgung des Onofrio-Brunnens baute der aus Neapel stammende Onofrio di Giordano della Cava den Rektorenpalast. Nach einer Explosion wurde der Bau von einem Mitarbeiter Michelozzos erneuert. Er rekonstruierte – vielleicht aus Respekt vor den alten Formen – den im gotischen Stil gehaltenen piano nobile und baute nur den Eingangsbereich im neuen Renaissance-Stil. Ähnliches gilt für das Zollamt (Fassade 1516–1522). Im Norden war nicht nur in den großen Zentren, etwa in Moskau (die Kreml­ mauer, Paläste und viele Kirchen stammen von italienischen Künstlern), der Austausch mit italienischen Künstlern lebhaft, auch in kleineren Orten wirkten viele Künstler und Architekten aus dem Süden. Die Zitadelle von Jülich (ab 1547) stammte von dem Bologneser Architekten Alessandro Pasqualini, die Stadtresidenz von Landshut (1536–1543) vereinigte die Vorlage des Fugger-Wohnhauses in Augsburg mit der des Palazzo del Tè in Mantua. Das Residenzschloss von Güstrow in Mecklenburg baute der italienischstämmige Baumeister Franz Parr. In einem 1508 publizierten Reiseführer erwähnt Andreas Meinhard bei seiner Beschreibung von Wittenberg das Projekt einer Bildausstattung für das kurfürstliche Schloss, das Themen der griechisch-römischen Mythologie, der römischen Geschichte und des sächsischen Kurfürstenhauses nach italienischen Vorbildern verbunden habe. Matthias Müller sieht darin einen ersten Rückgriff auf italienische Vorbilder nördlich der Alpen. Die Entwicklung der Architektur der Renaissance in Italien wird gerne an vier großen Künstlerarchitekten zeitlich und geographisch fokussiert: an Brunelleschi und Alberti in Florenz, an Bramante in Rom und an Palladio in Oberitalien. An diesen Figuren lässt sich in der Tat die Eigenart der Architektur dieser Zeit illustrieren. Theoretischen Stoff bot die Aktualisierung der Schriften Vitruvs. Um 1486 wurde das Werk erstmals gedruckt, 1521 und 1556 erschien es in italienischen Übersetzun-

465

Die Architektur der Renaissance

gen durch Cesare Cesariano und Daniele Barbaro. Übersetzungen ins Spanische, Französische, Deutsche folgten. 1542 entstand in Rom am Hof Pauls III. die Accademia Vitruviana, eine erste Architekturakademie. Sie unterstrich das Bestreben, die Architektur auf eine gleichberechtigte Stufe neben die Philologie und die anderen Künste zu stellen. Der Humanist Claudio Tolomei forderte als Grundlage eine philologisch kritische und bebilderte Ausgabe Vitruvs. Darüber hinaus solle Vitruv an den Bauwerken der Antike überprüft werden. Tolomei erneuerte ein Unbehagen, das bereits Antonio da Sangallo mit Hinweis auf die unzulängliche Textgrundlage geäußert hatte. Sangallo plante deshalb eine Neuübersetzung, die allerdings nicht über das Vorwort hinauskam. Das Werk Vitruvs, das Bramante 1514 ein gran luce nannte, ist in seiner Bedeutung für die Renaissance (und die beginnende Neuzeit) nicht zu überschätzen. Es verhalf der Architektur, die wegen ihres hohen Anteils an mathematischem Wissen von alters her den artes liberales näher stand, nun aber von der bildenden Kunst überflügelt zu werden schien, zu neuem Ansehen. Am Werk dieser vier bedeutenden Baumeister lassen sich insbesondere die drei Probleme für die Architektur der Renaissance abarbeiten, die Rudolf Wittkower als zentral erachtet hat: (1) das Umgehen mit der Tradition, insbesondere die schon oben angedeutete Spannung von Rückgriff auf die Antike und den zeitgenössischen Bedürfnissen, (2) die Hierarchie der Baugattungen samt ihrer ideengeschichtlichen und philosophischen Deutung, und schließlich (3) die Rolle von Proportion und Mathematik. Darauf soll nun zuerst eingegangen und dann die Absichten des Architektenquartetts etwas detaillierter vorgestellt werden. (ad 1) Die Eigenart des kreativen Umgangs mit der Antike wurde bereits angesprochen. Dass die Renaissance nicht einfach eine sklavische Nachahmung der Antike darstellte, wird besonders in der Architektur deutlich. Die antiken Muster wurden sehr frei interpretiert. Alberti übernahm den Triumphbogen, Bramante zerschnitt die antiken Giebelfelder und Palladio konstruierte Fassaden aus zwei sich durchdringenden Säulenordnungen. Der bewusst vorgenommene Ausstieg aus der perfektionierten Form der Antike führte unvermeidlich zu vielen formalen Detailproblemen, die vor allem die Kunsthistorikerin interessieren. Wie lässt sich eine Tempelfront samt rechteckiger Cella im Kirchenbau mit der Front einer Basilika, hohes Mittelschiff und niedere Seitenschiffe, verbinden? Die Baumeister der Renaissance kreierten dazu verschiedene Lösungen: Man verdeckte die Schiffe durch eine gemeinsame Tempelfront (Sant’Andrea von Alberti), man schob zwei Tempelfronten ineinander (San Francesco della Vigna von Palladio), man gab dem Hauptschiff eine Haupt- und den Seitenschiffen eine sekundäre Ordnung (Santa Maria in Castello in Carpi von Baldassarre Peruzzi) oder man bevorzugte gleich die eigentliche Form der Renaissancekirche, den Zentralbau. Einen ähnlich freien Umgang gab es mit allen anderen Architekturelementen: Pilaster als abgeflachte Säulen oder die Verbindung von Säulen und Bögen, beides gab es in der Antike nicht. Der Grieche legte das Gebälk waagrecht auf die Säulen, der Römer spannte Bogen über Pfeiler, aber nicht über Säulen. Brunelleschis Pazzikapelle in Florenz ist in dieser Hinsicht ein frühes Beispiel eines solch offensiven Umgangs mit den alten Elementen. Kunstphilosophisch

Wittkower 1949, 7 Umgang mit der Antike

466

Die Renaissance

Engelberg 2004, 245f

Hierarchie der Bauten

4.2.6.

ist die Architektur der Renaissance ein herausragendes Beispiel dafür, dass Kunst Problemlösen heißt und dass man ohne Kontexutalisierung auf solche Probleme hin ein Kunstwerk kaum würdigen kann. Es wäre lohnend, diese Neuordnungen nicht nur auf historische und technische, sondern auch auf philosophische Kontexte zu beziehen. Denn ausschließlich technische und formale Entwicklungen reichen für eine Erklärung der Architekturent­ wicklung kaum aus. Eine Erklärung in einem solchen Kontext wäre etwa, dass die Leitkultur des Platonismus einen formalen Ordnungsrahmen für die Architektur zur Folge hatte, der sich mit der Erosion des Platonismus in der anhebenden Neuzeit abschwächte und den Umgang mit den Elementen weiter von Regel und vorgegebenem Muster »befreite« – eine Entwicklung, die schließlich zum Barock führte. Auch spielerische Elemente waren der Renaissance nicht fremd. Die Säule etwa diente nicht mehr statischen Aufgaben, sondern – wie erstmals bereits beim kaiserzeitlichen Bauen in Rom – der Dekoration. Die Präferenz für die dorische Säulenordnung in der Hochrenaissance legt nahe, in ihrem archaischen und ernsten Charakter einen Ausdruck von politischer Macht und Wohlstand des Bauherrn zu vermuten. Zum Unterschied von Vitruv widmete Alberti der Säule in seinem Traktat kein eigenes Kapitel. Er verstand sie als Rest einer aufgelösten Wand und sie war für ihn vor allem ein Element der Ästhetik. Vielleicht war es auch einfach ein kluger Schachzug, denn Vitruv hatte die drei klassischen griechischen Säulenordnungen dorisch, ionisch, korinthisch (mit Rückgriff auf Mythen) historisch gelistet, während man in der Renaissance damit eine Hierarchie der Bauten verband. Zudem fügte die Renaissance noch zwei weitere Ordnungen dazu, die einfache toskanische und die reiche komposite Kapitellordnung. Diese Säulenordnungen wurden ein wichtiges Thema im nachfolgenden Barock und Klassizismus. Außerhalb Italiens setzte sich der neue Stil zögernd, meist auf Drängen von Fürsten, die die Renaissance in Italien kennen gelernt hatten, durch. Häufig ging es lediglich um oberflächliche Applikationen von Renaissancelementen. Es gab Fenster mit gotischem Maßwerk und Rundbögen oder Gebäude mit spitzen Türmen und Wimpergen, daneben Renaissancepilaster und antikisierende Friese. (ad 2) Als zweites Element sah Wittkower die Hierarchie der Bauten, die implizit auch eine Hierarchie der Kunstgattungen zur Folge hatte. Eine solche Überlegung setzt voraus, dass der Sakralbau sein Alleinstellungsmerkmal verloren hatte. Er war zu einem Teil einer umfangreichen Architekturpalette geworden. Dazu gehörte ausdrücklich der Städtebau. Die Renaissancephilosophen formulierten unter dem Eindruck des Platonismus Staatsutopien und diese schlugen sich nieder in Städtevisionen: Leonardo da Vinci, Leon Battista Alberti, Filarete, Francesco di Giorgio Martini, Dürer, sie alle entwarfen Pläne für eine Idealstadt. Funktion, Ästhetik, Einrichtungen der Hygiene, alles musste als Lebenskosmos auf die Benützung durch den Menschen abgestimmt sein. Dazu gehörte die Ausrichtung der harmonischen Maßverhältnisse nach dem Idealmodell des Menschen. Von Francesco di Giorgio existiert eine Zeichnung Chorpo de la Città, in der der Mensch als Maß der Idealstadt dargestellt ist. Die Ideal-

467

Die Architektur der Renaissance

stadtidee wurde im Kleid fortgeschrittener Mathematisierung in der frühen Neuzeit aufgenommen und weiterentwickelt. Einen besonders originellen Beitrag lieferte der französische Illusionskünstler und Naturforscher Bernard Palissy, ein wahrer Renaissancegeist, der, als ferner Vorläufer Le Corbusiers von den Schneckenhäusern fasziniert, eine ideale Festungsstadt entwarf. Durch eine spiralförmige Straße gelangt man zum innenliegenden viereckigen Platz der Stadt. Die Wände dieser endlos scheinenden Straße bilden die Häuser für die dort lebenden Menschen. Dieser Lebenskosmos fand sich im Kleinen auch in der Idee des Landhauses des Humanisten, das sich von der Toskana aus verbreitete und vor allem in Oberitalien in köstlichen Beispielen realisiert wurde. Was von den großen Gesten übrigblieb, war eine politische Neuordnung und architektonische Neugestaltung. Ferrara wurde ebenso erneuert wie Vigevano, Mailand, Venedig, Urbino und Rom. »Man geht daran, die ideale moderne Stadt über der antiken zu gestalten mit weiten Plätzen, Säulenhallen und tempelartigen Kirchen, die wirkungsvolle Blickpunkte bilden.« Die Renaissance war keineswegs eine rein profane, nur einem autonomen oder einem platonisch-metaphysischen Schönheitsideal verpflichtete Epoche. Die einfache Formel, dass ein ans Transzendente gebundenes Mittelalter durch eine das autonome Individuum verherrlichende Renaissance abgelöst wurde, stimmt so nicht. Besonders heftige Verfechter dieser Ansicht waren John Ruskin und einen Teil seines Lebens Jacob Burckhardt. Aber Burckhardt warnt davor, sich auf eine »geringere Religiosität des damaligen Italiens im Vergleich mit der gotischen Blütezeit des Nordens zu berufen, […]«, denn so konstatierte er: »Im Süden ist das Große und Schöne von selber heilig. Jeder mag entscheiden, ob dabei der Begriff des Heiligen niedrig oder der der Kunst hoch genommen sei.« Es gab in der Renaissance eine klare Hierarchie der Bauten, an deren Spitze die sakrale Architektur stand. Die Renaissancekirche hat eine sehr überlegte symbolische Bedeutung und sie ist Trägerin eines spezifischen Sinnes. Ihre besondere Form ist der Rundbau. Im Laufe des 15. Jh.s endete der klassische Grundriss des lateinischen Kreuzes und wurde durch den Rundbau ersetzt. Dieser Wandel verrät schon bei oberflächlicher Betrachtung eine platonisch-neuplatonische Konnotation. Weil er unter liturgischen Gesichtspunkten ungünstig ist, sahen nicht nur orthodoxe Zeitgenossen, sondern eben auch Kunsthistoriker des 19. Jh.s darin ein profanes, ja heidnisches Forminteresse der Architekten. Für Jacob Burckhardt war die Renaissance eine Bewegung, die sich vom »rituellen Langbau« trennte und »ihrem freien Schönheitssinn überließ«. Weniger dezidiert, beinahe wie eine Korrektur dieser Aussage, liest es sich in seiner Geschichte der Renaissance in Italien: »Wohl aber hat die Renaissance die höchste, allem Gotischen wesentlich überlegene kirchliche Bauform, den Zentralbau, bis nahe an die absolute Vollendung ausgebildet und einer künftigen Religiosität zum Vermächtnis hinterlassen.« Aus den erwähnten Gründen waren die Baumeister inzwischen selbstbewusst und standen den bildenden Künsten reserviert gegenüber. Terminologisch präziser müsste man zwischen dem in der Theorie bewanderten Künstlerarchitekten, der nun – nicht zuletzt dank der Bindung an Vitruv – die hohe Stellung einnahm, und dem

Hoppe 2003, 108–119

Battisti 1970, 31

Burckhardt 1860, 114

Rundbau

Burckhardt 1855, 178

Burckhardt 1860, 114

468

Die Renaissance

Günther 2012, 84

Engelberg 2004, 262f

Maurer 2002, 53

Ebd., 54 Proportion und Geometrie

Wittkower 1949, 8

Illmer 1991, 21

Baumeister im engeren Sinn unterscheiden. Der Architekt trat als Entwickler des Baukonzepts und als Leiter des Baus auf, er war »von einer Aura des Wissenschaftlers und Künstlers umgeben.« Dieses Berufsbild reichte bis zu reinen Theoretikern, die schon eher in die Kategorie der Philosophen oder aber der Mathematiker gehören und die keine Bauerfahrung hatten. Meinrad von Engelberg rechnet Antonio Averlino (Filarete) (und die späteren, in der Neuzeit tätigen Revolutionsarchitekten mit ihren phantastischen, unausführbaren Entwürfen) zu dieser Kategorie. Der Baumeister demgegenüber war Zimmermann, Steinmetz oder Stuckateur und war mit ausführenden Arbeiten betraut. In aller Regel dürften sich in der Praxis die beiden Berufsbilder zu jenem des Baumeister-Architekten vermischt haben. Schließlich traten vor allem in der beginnenden Neuzeit starke Bauherren an die Seite der Architekten, ihnen kam manchmal mehr Gestaltungseinfluß zu als den eigentlichen Fachleuten. Auf einer klaren Trennung von den Handwerkern beharrten die italienischen Architekten. Hier ging es besonders um das soziale Prestige. Weniger aufgeregt war dies im Norden. Manche Traktate waren durchaus auch für den Handwerker geschrieben. Wir sind unterrichtet von einem Zerwürfnis zwischen Brunelleschi und Donatello beim Bau der Alten Sakristei von San Lorenzo. Der Bildhauer hatte sich dem Architekten unterzuordnen. Brunelleschi gestand ihm nur Reliefs zu, denn ein allzu eigenständiger bildhauerischer Auftritt bedrohte das architektonische Gesamtgefüge. Noch konsequenter wurde die Malerei ausgeschlossen. Die Wände dienten als weiße Lichtflächen, aber nicht als Malgrund. Dieses Vorgehen galt als von der Antike »beglaubigt«. Dort, wo Wände Malgründe für große Renaissancemeister abgaben, stammten sie in der Regel nicht aus der Renaissance, sondern aus dem Mittelalter. Die Ausnahmen von dieser Regel finden sich an Fassaden und in der Malerei in den Palazzi (Mantua, San Gimignano) und bei den oben erwähnten Ausnahmen vieler gotischer Kirchen in Italien. Sie finden sich auch in architektonisch zurückhaltenden Kirchenbauten wie in der Sixtina, wo allein die Malerei für die gesamte, auch architektonische Kraft sorgen musste. Ähnlich erwächst die Architektur der Strozzi-Kapelle von Santa Maria Novella aus der schon in den Manierismus weisenden Malerei des Filippino Lippi genannten Sohnes von Filippo Lippi. Emil Maurer resümiert: »Viele Begegnungen also zwischen den Gattungen. Doch die große Dreieinigkeit wird sich im Quattrocento nicht einstellen.« (ad 3) Der letzte von Wittkower erwähnte Aspekt, jener der Proportion und Geometrie, versammelt mit seiner philosophischen Aufladung geradezu die anderen in sich. So wie schon die bildende Kunst wird auch und besonders die Architektur »als Abbild oder Spiegel einer pre-existenten mathematischen Weltharmonie« verstanden. Dieser Platonismus ist ein zentraler Topos der Ideengeschichte der Renaissance, der auch für die zeitgenössischen Naturwissenschaften die (ästhetische) Basis bildete. Johannes Kepler definierte Schönheit als Harmonie und Symmetrie, als Gleichförmigkeit (aequalitas) der Sphären. Seine »Weltharmonik« könnte man als ein Gesamtkunstwerk ansehen, ein »vom Denken seiner Zeit wohl kaum mehr überbotenes Wissenschafts-Kunstwerk.« In dem Buch feierte der Astronom immer noch den von Gott nach den Gesetzen der Harmonie konstruierten Kosmos. Die

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Die Architektur der Renaissance

inzwischen entdeckten elliptischen Planetenbahnen ließen ihn jedoch »die Engel als Beweger der Gestirne in den Ruhestand entlassen: […].« Denn diese hätten sicherlich vollkommene Kreise bevorzugt. Genauerhin wird durch die Verschränkung von Optik und Transzendentalphilosophie das Bild zum Sehensakt selbst, in dem eine Sache erscheint (imago est visio rei alicuius). Daher ist das Bild nach Kepler keine Sache, sondern ein Prozess (imago […] nihil est, imaginatio potius dicenda). Demnach ist der Hinweis konsequent, dass es bei Kepler keine causa efficiens gibt, keine Ursache, die von ihrer Wirkung getrennt ist. Die Auffassung der Baukunst als mathematischer Wissenschaft und die Eigenart, dass jeder Teil eines Gebäudes in ein einheitliches System mathematischer Beziehungen eingeordnet werden muss, »kann man recht eigentlich das zentrale Dogma der Renaissance-Architekten nennen.« Die objektive Gesetzmäßigkeit der Proportion, die durch die Perspektive nicht aufgehoben, sondern nur auf den Betrachter bezogen, auf ihn hin übersetzt wird, steht in solchem Zusammenhang nicht im Widerspruch mit dem jeweiligen subjektiven Sehbild. Auch in der Architektur wirkt die Perspektive. Sie verändert den umbauten Raum wie den Blickraum in einem Gemälde. Das alte göttliche Kosmosverständnis muss mit der Anthropozentrierung der Neuzeit nicht zwangsläufig in Widerspruch geraten. Aber das Spiel der Architektur als »Produzentin visuellen Raumes«, die ein betrachterbezogenes Bild lieferte, verweist doch auf ein labiles Verhältnis durch die Perspektivierung zwischen subjektivem Blick und objektiven Vorgaben, ein Verhältnis, das ein Kippen in den Barock signalisiert. Denn die Besonderheit der Architektur der Renaissance bleibt die Bezogenheit auf den Menschen. Wenn Alberti den braccio und Palladio den piedo als Maß vorschlägt, geben sie der Kunst und Architektur eine Norm, die sich vom Menschen ableitet. Der Körper, im Mittelalter eine zentrale Größe, geht auch in der Renaissance noch nicht verloren. Zwar wird die Frage in der Literatur kontrovers diskutiert, aber es gibt starke Plädoyers dafür, »solche seit alters her geübten, leiborientierten Raumzugriffe bis weit in das 16. Jh. hinein als in Mitteleuropa vorherrschendes Paradigma aufzufassen.« Freilich meldet sich hier ein Humanismus. Aber der »Anthropozentrismus« der Renaissance ist nicht automatisch eine Gefahr für eine Architekturauffassung, die Architektur darauf zurückführt, »Wohnsitz der Götter und nicht der Menschen zu sein.« Denn der Mensch galt nach den Gesetzen von Makro- und Mikrokosmos stets als Teil der göttlich-geometrischen Kosmosordnung. Der Theorie nach gab es bereits im gotischen Mittelalter solche philosophischen Überlegungen. Dennoch ist der Unterschied der Bauten der Renaissance zum schieren Himmelsstreben der Gotik augenscheinlich. Die für die Renaissancephilosophie typische Synthese von Platon und Aristoteles scheint die zeitgenössischen Bauten dem menschlichen Körper, der den Maßstab der Architektur abgab, so nahe gebracht zu haben, dass man sich »in den Bauwerken der Renaissance niemals bedrückt und überwältigt« fühlt, »auch dann nicht, wenn sie sehr groß sind.« Dies ist der augenscheinlichste Unterschied zur formal der Renaissance am nächsten stehenden Stilepoche, der Romanik. Diese humanistische Basis (ich nenne sie aristotelisch) steht in reizvoller Spannung zur

Roeck 2017, 992

von Samsonow 1986, 25 Ebd., 16f

Wittkower 1949, 83

Belting 2008, 190f Hoppe 2007a, 240

Ebd., 236

de Bruyn 2017, 180

Pevsner 1943, 198

470

Die Renaissance

z.B. Hipp 1996

alten, dem Platonismus entstammenden Vorstellung der göttlichen Harmonie des Universums, die sich in einem normativen Porportionsschema der mittelalterlichen Kathedralen niederschlug. In der Architekturtheorie schließt man manchmal von der (insbesondere nordalpinen) Architektur, die häufig als Abbild sozialer Verhältnisse entworfen wurde, (ein wenig schnell) auf einen Aristotelismus als Leitkultur.

7.1. Traktate zur Architektur

436 Sv. Jakov (15. Jh.); Sibenik Fürst 2007, 250

Leitstern Vitruv

Kruft 1985, 72–91

Engelberg 2004, 251

Waren im Mittelalter die Regeln des Bauens noch in Musterbüchern, Werkmeisterbücher, Hüttenordnungen und in aufgezeichneten Diskussionen um solche Regeln niedergelegt, begann in der Renaissance, wie bereits mehrfach betont, eine theoretische Reflexion über die künstlerische Tätigkeit. Durch die Wissenschaftlichkeit der Kunst hob sich der Künstler vom bloßen Handwerker ab. Diese zur Schau gestellte Ambition findet sich in der Architektur weniger, war der Architekt doch seit alters her eher mit planerischen oder gar mathematischen Aufgaben betraut. Trotzdem ist der nun in Mode kommende Architekturtraktat ein Ort dieser Theorielastigkeit. In diesem Punkt war der Süden dem Norden weit voraus. Eine Architekturtheorie im engeren Sinn nördlich der Alpen begann kaum vor der Mitte des 16. Jh.s. Am Beginn der Neuzeit setzte Alberti die große Ouvertüre der einschlägigen Literatur, sowohl die Kunst als auch die Architektur betreffend. Diese Ouvertüre war freilich in der Architektur stets geprägt von dem in der Renaissance zutiefst verehrten Leitstern Vitruv. Das ging so weit, dass zahlreiche Architekturtraktate im Grunde nur Kommentierungen der Decem libri Vitruvs waren. Im 16. Jh. verstärkte sich die Führung durch Vitruv noch weiter. Die Geschichte der Vitruvausgaben ist daher auch eine Geschichte der zunehmenden Normierung und teilweise Dogmatisierung seiner Ideen. Vielleicht ging es gar nicht primär um den komplizierten Inhalt dieses Traktats. Der Reiz lag eher darin, dass man mit ihm eine Brücke zur klassischen Antike bauen konnte, so wie die Humanisten mit ihrem Cicero. Zudem konnten sich die Architekten mit dem angebotenen Regelwerk aus dem Handwerkerstand befreien und die Weite der freien Künste erhalten, während die traditionellen Berufe, wie jener des Zimmermanns, an Ansehen verloren. Sie waren nicht traktatwürdig. Vitruvs Werk war vermutlich ursprünglich mit Abbildungen versehen, die jedoch nicht überliefert wurden. Mit Hilfe der neuen Drucktechniken erschienen in der Renaissance eine Reihe von illustrierten Vitruvausgaben, etwa 1511 jene des gebildeten Fra Giocondo da Verona mit 136 Holzschnitten, die der als Stadtplaner und Architekt tätige Franziskaner Julius II. widmete. Eine erste gedruckte Vitruvübersetzung war bereits um 1486 von Giovanni Sulpicio erschienen, die allerdings kaum Verbreitung fand. Viel diskutiert wird die Frage nach der Zielgruppe der Traktate. Einerseits waren Architekten, Bauherrn und – in vielen Fällen – auch Laien angesprochen, aber man darf nicht übersehen, dass solche Traktate auch der Selbstvergewisserung und dem Ansehen der Künstler dienten. Für die breitere Öffentlichkeit waren insbesondere illustrierte Traktate geeignet. Erst mit Palladio begann das Architekturbuch sich an eine breite Leserschaft zu wenden. »Der Architekt als ›Autor‹ war geboren.«

471

Die Architektur der Renaissance

Antonio Averlino, der sich Filarete (Freund der Tugend) nannte, schrieb zwischen 1457 und 1464 am Mailänder Hof einen illustrierten Trattato dell’architettura, in dem er im Auftrag der Sforza (nachdem er einige Jahre später bei den Sforza in Ungnade gefallen war, widmete er seinen Traktat kurzerhand den Medici) neben einigen architekturtheoretischen Überlegungen und Baubeschreibungen die in Dialogform (in platonischer Tradition) verfassten Idealstadtutopien Sforzinda und Zogalia (beide Phantasienamen spielen auf die Sforza an) ausbreitete. Einige angesehene Kollegen wie Leonardo, Bramante, Vasari und Scamozzi waren mit dem Werk vertraut. Die Überlegungen waren geradezu das Gegenparadigma des nach dem antiken Baumeister Hippodamos benannten hippodamischen Systems, das auf radikale Gleichheit der Häuser in einem geometrischen Rastersystem abhob. Demgegenüber sah es Filarete als Wille Gottes an, dass, der Vielfalt der Menschen entsprechend, die Häuser unterschiedlich sein müssten. Der ausgebildete Goldschmied und Bildhauer – der Traktat beschreibt in einigen Büchern (22–24) auch die bildende Kunst –, der erst in seiner Mailänder Zeit ab 1451 als Architekt wirkte, legte für diese »erste durchgeplante und zudem illustrierte Idealstadt der Renaissance« einen symmetrischen Plan einer achteckigen Stadt mit strahlenförmig verlaufenden Straßen zugrunde. Dieses Streben nach geometrischer Ordnung und Zentralisierung – im zentralen Platz wurden Palast und (Zentralbau-) Kirche angesiedelt – ist ein Zug der Neuzeit. Daneben gibt es allerhand Skurriles und an Science fiction Erinnerndes. Hanno-Walter Kruft hat diese Phantasiearchitektur oder, wenn man freundlicher und moderner spricht, diese architecture parlante, mit der Salinenstadt Chaux von Ledoux verglichen. Filarete folgte Alberti, den er außerordentlich verehrte, ebenso wie Brunelleschi. Von Alberti dürfte auch die Beschäftigung mit der Entstehung des Hauses angeregt worden sein. Vitruv hatte die Anfänge des Hauses mit der alttestamentarischen Geschichte verknüpft. Adam habe mit Ästen eine erste Urhütte – diese bereits nach den Maßen des Menschen – errichtet, die den Ausgang für jede Architektur bildete. Die bereits von Alberti eingeleitete Anthropometrie wird bei Filarete zur »reinen Anthropometrie« verstärkt. Das geht so weit, dass Architektur für ihn wie ein Mensch lebt, krank wird und stirbt. Dem in Siena geborenen Francesco di Giorgio Martini, ursprünglich ebenfalls Maler und Bildhauer, wurden in seiner Heimatstadt Tiefbauaufgaben übertragen. Als mit verschiedenen Projekten im Hochbau befasster Architekt wird Francesco erst am Hof von Urbino ab den Siebzigerjahren greifbar und machte sich dann einen Namen als Spezialist für Verteidigungsanlagen. In Urbino, dem »Humanistenhof in reinster Form« mit einer der reichsten Bibliotheken der Renaissance, schrieb er mehrere Werke. In seinem reich bebilderten, um 1480 entstandenen und in mehreren Fassungen erschienenen Trattato di Architettura civile e militare bewertete Francesco die humanistischen Bildungsideale angesichts der Fortschritte in der Wehrtechnik. Francesco di Giorgio war mehr ein experimentierfreudiger Praktiker als ein Theoretiker. Zitate Albertis fehlen in seinen Schriften, aber Vitruv blieb eine Autorität für ihn. Er versuchte sich sogar an einer (schlecht gelungenen) Übersetzung und er

Antonio Averlino

Biermann Veronica in ATh, 30 III.2.3.2.

Rosenau 1959, 51

Kruft 1985, 60 VIII.3.2.3.1.

Kruft 1985, 57 Francesco di ­Giorgio Martini

Roeck 2017, 565

472

Die Renaissance

IX.2.3.5. Francesco Giorgi

Tetraktis

Wittkower 1949, 84ff Jean Martin

Philibert de l’Orme

übernahm etliche Motive aus der Vorlage. Der Traktat, den er vermutlich 1490 eigenhändig in Mailand Leonardo da Vinci überrreicht hatte, birgt im Geiste von Vitruvs Anthropometrie eine Fülle von gezeichneten Geometrien, denen menschliche Proportionen eingeschrieben sind. Dabei nahm die Festung meist die Stelle des Kopfes ein. Francesco di Giorgio könnte geradezu als Vorläufer der Modularchitektur der Moderne angesehen werden, wie sie Le Corbusier später durchführte. Der Franziskaner Francesco Giorgi schrieb 1525 ein Werk über die Harmonie des Weltalls (De harmonia mundi totius), das in einem christlichen Pythagoreismus und Neuplatonismus der mystischen Bedeutung von (musikalischen) Zahlenverhältnissen nachspürt. Er deutete den in den Kreis eingeschriebenen Menschen Vitruvs als Bild der Welt (quod homo imitatur mundum in figura circulari). Im Mikrokosmos Mensch bricht sich der Makrokosmos. Wenn Meinrad von Engelberg warnend darauf hinweist, dass es hier nicht um ein Makrokosmos-Mikrokosmos-Verhältnis gehe, sondern dass Giorgi bloß eine Illustration der These Vitruvs durch Leonardo kommentiere, darf man dennoch nicht übersehen, dass dies eine ausdrückliche Deutungsarbeit von Humanisten aus ihrem Platonismus war. Die Figur demonstriert das Eingeschriebensein der menschlichen Seele im Kreis göttlicher Vollkommenheit. Besonders die pythagoreische Tetraktis (die Intervalle, auf die sich das griechische Tonsystem gründet, Oktave, Quinte, Quarte, können durch die Zahlenreihe 1:2:3:4, die heilige Zahl, deren Summe 10 ergibt, ausgedrückt werden) steht im Mittelpunkt seiner stark kabbalistischen Überlegungen. Die Tetraktis ist die Keimzelle der Harmonie des Weltalls, die auch die musikalischen Intervalle umfasst. Maßverhältnisse im Raum und der Klang von Intervallen waren für Giorgi dasselbe. Für diese ausdrücklich auf Pythagoras und Platon aufbauende kosmische Harmonielehre holte sich Giorgi Legitimation aus dem Alten Testament, namentlich mit Verweis auf den sich für einen solchen Zusammenhang immer eignenden Salomon. Gott selbst habe ja Salomon für den Bau seines Tempels diese himmlischen Proportionen eingegeben. Giorgi, der als Gutachter eingesetzt wurde, wandte die Proportionslehre auf die Architektur an und legte seine Gedanken einer Kommission vor, der Tizian, Serlio und der heute vergessene, damals als filosofo celeberrimo gefeierte Humanist Fortunio Spira angehörten. Die Bedeutung dieser drei zeigt letztlich auch den Rang, der den Überlegungen Giorgis zukam. Der aus Paris stammende Humanist Jean Martin übersetzte Vitruv, Serlio und Alberti ins Französische. Diese Übersetzung war mehr als nur eine Antikenrezeption. Sie rückte den französischen Raum beim Übergang von der Renaissance in den Barock in den Fokus des Geschehens. Die Feldzüge der französischen Könige mit ihren Ansprüchen auf Neapel und Mailand hatten zwischen Frankreich und Italien eine Kontaktzone eröffnet, die zu einem regen Künstleraustausch und zu einem originellen dekorationsreichen lombardischen Stil führte. Ob Martin selbst in Italien war, wissen wir nicht, aber er war mit dem lange in Frankreich lebenden Serlio bekannt. Der französische, mit Venedig und Rom in Verbindung stehende Architekt und Theoretiker Philibert de l’Orme orientierte sich bei seinen Arbeiten an den Lehren

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Die Architektur der Renaissance

der italienischen Architekturtheorie. Als Leiter des Bauamtes unter König Heinrich II. – den Posten verlor er nach dem Tod Heinrichs – prägte er einen französischen Stil (mode françois). Damit ist ein Stil gemeint, der auch gotische Formen enthielt. Der Ausdruck gotisch dürfte zur Zeit de l’Ormes bereits negativ besetzt gewesen sein, weshalb er den Ausdruck vermied. Die Inauguration eines eigenen, nationalen Stils entsprach einem Bedürfnis der Zeit. Der an Architekturfragen interessierte Publizist Jacques Androuet du Cerceau, der selbst prachtvolle, mit Kupferstichen ausgestattete Bücher über römische Architektur, eines über Triumphbögen (1549), ein anderes über Tempel (1550) verfasst hatte, klagte namentlich in seinem 1559 herausgebrachten De Architectura (zwei weitere Teile folgten 1561 und 1582) und einem späteren Traktat über den Schlossbau, über die vielen Anleihen aus dem Ausland und forderte eine Abgrenzung einer nationalen Bauweise vom Italienischen. De l’Orme führte eine sechste Säulenordnung ein, eine französische, die an eine neugotische Baummetapher erinnert. Er schrieb zwei Traktate. Einen mit praktischen Hinweisen und einen zweiten (Le premier tome de l’architecture; 1567), der auf Vitruvs Spuren die gesamte Architektur thematisierte. Er hielt die Wissenschaftlichkeit der Architektur auf der Grundlage der Geometrie hoch und sah den Architekten als Abbild des göttlichen Schöpfers. Niederschlag solcher Überlegungen war eine Ableitung der Idealproportionen aus dem Alten Testament. Auch in Spanien fasste der Vitruvianismus Fuß und es wurde die italienische Architekturtheorie rezipiert. Den Anfang macht eine 1526 in Toledo erschienene Schrift von Diego de Sagredo. Auf den Spuren Vitruvs und Albertis, aber auch des Pomponius Gauricus und Francesco di Giorgios, wird korrekte Proportion (nach dem menschlichen Körper) eingefordert und darauf hingewiesen, dass der Architekt nicht nur Künstler, sondern auch Philosoph sein sollte. Auch Sagredo versuchte (zeitlich wahrscheinlich vor de l’Orme) eine nationale Ergänzung der Säulenordnung, diesmal in einer spanischen Variante (des Granatapfelbaumes, vermutlich eine Anspielung auf Granada). Juan Bautista Villalpando aus Cordoba verbarg seinen Architekturtraktat in einem Ezechiel-Kommentar, »der einen dauernden Einfluß auf Architekten aller Länder ausüben sollte«, in dem er den salomonischen Tempel rekonstruierte. Villalpandos Rekonstruktion kommt zumindest ebenso viel Phantasie zu wie den frommen Überlieferungen, aber man entdeckt Ähnlichkeiten mit dem Escorial. Bis in die Renaissance war man an einer archäologischen Untersuchung nicht interessiert. Es hielt sich die Meinung, Gott habe dem Salomon die platonischen Harmonien geoffenbart. Am spanischen Hof gab es eine lebhafte Diskussion um diese Frage, und diese Diskussion hinterließ Spuren beim Bau des Escorials. Gegen das aufklärerische Unterfangen, die Ezechielvision als reine Spekulation zu diskreditieren, verteidigte Villalpando die Autorschaft Gottes und träumte von einem Zusammentreffen des Himmels und der Erde in der Himmelsstadt mit den Harmonien, welche den pythagoreischen Zahlenverhältnissen folgen. Bei dieser Überlegung und der daraus folgenden Rekonstruktion des Tempels flossen Exegese und Humanismus ineinander.

Diego de Sagredo

Juan Bautista Villalpando

Ebd., 99 Engelberg 2004, 251

VII.1.2.2. Borngässer Klein Barbara in ATh, 366

Schütt 2000, 408

474

Die Renaissance

Wittkower 1949, 107–114

Giacomo Barozzi da Vignola Borngässer Klein ­Barbara in ATh, 86 Engelberg 2004, 252 Kruft 1985, 88

VII.4.2.

Wölfflin 1888, 17

Borngässer Klein Barbara in ATh, 86

Villalpandos prachtvoller, mit klassischer Fassade ausgestatteter, auf mächtigen Stützmauern stehender Phantasietempel beeinflusste nicht nur die Repräsentationsarchitektur der folgenden Jahrhunderte. Durch die reichen Rückgriffe auf Harmonielehren wurde der Renaissancetempel (ähnlich der Kathedrale), jetzt unter den Bedingungen des menschlichen Maßes, gleichsam zur hörbaren Musik. Die Einteilung der Musik in das Quadrivium, also ihre Identifizierung als Mathematik, galt auch in der Renaissance noch ungebrochen. Es gab sogar Theoretiker (wie den Erbauer von Il Gesú, Giacomo Barozzi da Vignola, oder den Musiktheoretiker Gioseffo Zarlino), die eine Überlegenheit der Musik über die Architektur konstatierten und versuchten, die Architektur durch Übernahme der musikalischen Proportionen ihr ebenbürtig zu machen. Mit den wegweisenden Entwicklungen der Musiktheorie im 16. Jh. war auch ein Niederschlag in der (dann bereits barock inspirierten) Architekturtheorie verbunden. In der Renaissance haben wir den Vorteil, zur Rekonstruktion auf Texte zurückgreifen zu können. Das Fehlen solcher Reflexionen im Mittelalter führte dazu, dass in der Forschung die bewusste Ausrichtung von Kunst und Architektur an neuplatonischen Theorien für das Mittelalter umstritten ist. Die reiche und gut gesicherte Orientierung in der Renaissance bietet freilich auch eine gewisse Argumentationshilfe, was das Mittelalter betrifft. Warum sollten dort ähnliche Überlegungen völlig ausgeschlossen sein? Für die Renaissance galt dieser Zusammenhang jedenfalls nicht nur in Italien, auch in England, Frankreich und Spanien sind Theoretiker bekannt, die ähnliche Gedanken vertraten. Der gerade erwähnte Giacomo Barozzi da Vignola dürfte mit seinem 1562 in Rom erschienenen Traktat Regola delli cinque ordini d’architettura »eines der erfolgreichsten Lehrbücher der Architektur« geschrieben haben. Es handelt sich um das »bis ins 19., zum Teil ins 20. Jahrhundert [das] meistgebrauchte architektonische Lehrbuch überhaupt […].« Der Traktat war eigentlich eine erläuternde Kommentierung von Kupferstichen; der Textteil gegenüber den Abbildungen sehr zurückgenommen. Es ging darin um die fünf Säulenordnungen der Antike und um den Versuch, aus konkreten Messergebnissen an antiken Bauten Regeln abzuleiten. Im Zweifel führte Vignola Abweichungen von den geometrischen Vorgaben auf die Ungenauigkeit der Steinmetze zurück. Insofern war Vignolas Werk außerordentlich wichtig für die Diskussion um Barock und Klassik. Alles, was über diese Säulenordnung hinausging, sah er als frei gestaltbar an. Er lieferte von da her pragmatische Bauanleitungen, die sich nicht durch Regeln beengen lassen wollen. Heinrich Wölfflin mahnte, dass Vignola zu Unrecht als »der vollendete Regelmensch« bezeichnet wird. Diese Befreiung von den Regeln, die sich auch im Fehlen von Verweisen auf die klassischen Autoritäten ausdrückt, war ein Eintrittstor zum Barock. »Nicht mehr das Studium antiker Monumente steht im Mittelpunkt; was nun zählt, ist vielmehr deren Auslegung und Vermittlung durch den gelehrten Künstler.« Für die leichtere praktische Handhabung revolutionierte Vignola die bislang äußerst komplizierte Proportionslehre, die durch ihre irrationalen Zahlenverhältnisse den

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Die Architektur der Renaissance

Baumeister vor große Probleme stellte. Für die bessere Anwendung lieferte er fixe Tabellen, was manche als starres Korsett missverstanden. Der Komponist und Musiktheoretiker Franchino Gaffurio prägte auf der Titelseite seines De harmonia musicorum instrumentorum (1518) den Spruch harmonia est discordia concors, die Harmonie ergebe sich aus dem Zusammenklang von Dissonanzen. Gemeint ist die Interpretation der Harmonielehre des Pythagoras durch Philolaos, wonach Harmonie aus zwei ungleichen Konsonanzen entsteht, die von ungleichen Proportionen stammen (Quarte und Quinte ergeben die Oktave). Es ist eine Idee der coincidentia oppositorum, die in der Renaissance und später auch im Barock hoch im Kurs stand. Ähnliches zur Analogie von Proportionen und musikalischen Intervallen findet sich bei Alberti und bei Leonardo, der die Musik als Schwester der Malerei bezeichnete, während Palladio auf die Ursprünge nicht einging, die Proportionslehre jedoch zur selbstverständlichen Voraussetzung nahm. Auch Albrecht Dürer schrieb über Architektur, wenig theoretisch, sondern um praktische Hinweise bemüht. Das Anliegen des feinsinnigen Künstlers in der Architektur ist überraschenderweise die verteidigungstechnische Seite. Er schrieb über den Bau von Basteien und die Befestigung von Schlössern und Städten im Zeitalter der ersten Feuerwaffen. Hanno-Walter Kruft bezweifelt die verbreitete Meinung, er habe bei seinen Anleitungen zum Festungsbau Erfahrungen von seinen bei den Italienreisen studierten Vorbildern verarbeitet. Er vermutet hingegen, dass erst die Belagerung der Festung Hohenasperg 1519 durch Truppen des Schwäbischen Bundes und die Bedrohung durch die vordringenden Türken Dürers einschlägiges Interesse ausgelöst haben. Neben den Vorschlägen zum Bau von Festungen enthält Dürers einschlägiger Traktat (Etliche underricht, zu befestigung der Stett, Schloß und flecken, Nürnberg; 1527) eine Stadtutopie. Als theoretische Quellen werden Thomas Morus’ Utopia und die Idee des römischen Castrums, das Dürer aus den Schriften des römischen Historiker Polybius gekannt haben könnte, vermutet. Dürer griff auch auf Ideen Vitruvs zurück, insbesondere bei der Stadtplanung. 1548 legte der Apotheker Walther Ryff aus Straßburg (nach anderen Quellen aus Nürnberg) die erste deutsche (kommentierte) Übersetzung von Vitruvs Werk in enger Anlehnung an Cesare Cesarianos kommentierte Ausgabe von 1521 (auch mit vielen Nachbildungen der dort verwandten Holzschnitte) vor. Dies war ein wichtiger Schritt für den Durchbruch der Renaissance in der Architektur nördlich der Alpen. Der Humanist Ryff schloss sich zudem in einem Traktat Verstendliche Unterrichtung in den mathematischen und mechanischen Künsten (1547) dem Ideal des gelehrten Architekten an und zog eine Grenze zwischen diesem und dem ungelehrten Bauhandwerker. Der Holländer Hans Vredeman de Vries war als Festungsarchitekt und Dekorateur von Holland bis Prag unterwegs. Von ihm erschien (nach einem Werk über die Perspektive) 1577 in Antwerpen eine bebilderte theoretische Abhandlung Architectura. Auf dem Boden des Vitruvianismus plädierte er für den Mut zu neuen Formen (v.a. die Ornamentik betreffend) jenseits der Tradition bzw. deren Adaption an die zeitgenössische niederländische Ornamentik. Das Alte, gemeint ist die traditionelle

Albrecht Dürer

Kruft 1985, 123

Zimmer Jürgen in ATh, 474

Hans Vredeman de Vries

476

Die Renaissance

Säulenordnung, sollte sich mit dem Neuen verbinden. Weiters ging es ihm um die Ausrichtung der Architektur auf die ökonomische und soziale Stellung des Bauherrn und auf die klimatischen Verhältnisse. Joseph Furttenbach Eine ähnliche Verbindung von Altem und Neuem hatte auch der bereits er2.0. wähnte Joseph Furttenbach angestrebt, auch wenn er am italienischen Vorbild hing. Er hatte über so gut wie alle Bereiche der Architektur geschrieben. Seine Traktate Kruft 1985, 195 standen »in der Serlio-Tradition, indem sie für Architekten und Bauherren Vorbilder oder Anregungen für alle Bauaufgaben geben wollten.«

7.2. Der Sakralbau

Wittkower 1949, 21

Zentralbaukirche

Günther 2009, 118

Battisti 1979, 248 Pevsner 1943, 182ff

Es wurde bereits auf die wichtige Rolle des Sakralbaus im Gesamt der Renaissancearchitektur hingewiesen. Ganz gegen eine verbreitete Meinung der Wissenschaft im 19. und 20. Jh., die eine pagane Renaissancekultur postulierte, wurde die Kirche von den meisten Zeitgenossen als edelster Schmuck der Stadt verstanden. Ihre Schönheit sollte alle Begriffe übersteigen. Die Exklusivität des sakralen Baus brachte Alberti, Leonardo und Palladio zur Forderung, dass dieser Bau aus dem Getriebe der Welt hinausgehoben, frei und von allen Seiten einsehbar, zweckmäßigerweise auf einem Sockel, stehen sollte. Leonardo arbeitete an konkreten Plänen, das Baptisterium von Florenz in einen anderen Stadtteil zu verschieben und es dort auf ein Podest zu stellen. Dass die griechischen und römischen Tempel dafür das Vorbild waren, darf angenommen werden. Es gab Vorschläge, die Fenster so hoch anzusetzen, dass sie keine störende Verbindung zum betriebsamen Außenraum zulassen, sondern den Blick auf das Licht des Himmels freigeben. Die Kirche musste auf der planvollen Anordnung und dem ausgewogenen Verhältnis aller Teile des Gebäudes basieren, sodass jedem dieser Teile sein fester Ort zukam und ein organisches Ganzes entstand, wo nichts mehr hinzugefügt und nichts weggenommen werden kann, ohne diese Ordnung zu stören. Seit dem frühen griechischen Philosophieren erfüllte diese Forderung in optimaler Weise der Kreis. Erst in dieser vollkommenen Harmonie kann sich nach Meinung der meisten Renaissancearchitekten Gott darstellen. Da die göttliche Geometrie auch der Geometrie der Musik entspricht, sollte die Architektur der Kirche gleichsam synästhetisch auch hörbar werden. Tatsächlich gab es in der Renaissance die Wiederbelebung der Zentralbau- und Kreuzkuppelkirche, die im späten Mittelalter nahezu völlig verschwunden war. Filarete hat in seinem Architekturtraktat diese Idee nachdrücklich vertreten und sie »zum Leitmotiv der sakralen Architektur in der Idealstadt Sforzinda« gemacht. Im allgemeinen wird die eigentlich »revolutionäre Anregung zum Zentralbau« in der der frühchristlichen Kirche Santa Costanza nachempfundenen, unvollendet gebliebenen Kirche Santa Maria degli Angeli in Florenz (1434–1437) von Brunelleschi gesehen, die außen 16seitig und innen als Oktogon ausgebildet war. Sie ist die erste Zentralbaukirche der Renaissance und sie ist römisch-antik und keine Nachahmung der Romanik. Eine Reihe von Zentralbaukirchen in Florenz (in unmittelbarer Fortführung der Form ab 1444 in der Rotunde von Santa Annunziata), Cortona, Todi,

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Die Architektur der Renaissance

Prato, Montepulciano sind bis heute Zeugen dieser Geistigkeit. Zentralbau und Kuppel in der Renaissance sind große Themen in der Architekturgeschichte. Sicher ist, dass der antike Kuppelbau, dabei in erster Linie das Pantheon, die Phantasie der Architekten angeregt hat. Man stellte die Kuppel schließlich über die Vierung und bewahrte dadurch auch das Querschiff, das ansonsten in der Renaissance an Reiz verlor. Durch diese Kon­ struktion rückte der Altar aus dem Zentrum der Kuppel. Mit den Kirchen in Mantua, Sant’Andrea und San Sebastiano (deren heutige Wiederherstellung wenig mit Albertis Entwurf zu tun hat) hat Leon Battista Alberti wichtige Muster mit Portikus und Cella samt angegliederten Apsiden geprägt. Sant’Andrea ist »vielleicht die vollständigste Botschaft, die Alberti uns von seinem Schaffen hinterlassen hat«, wenngleich auch bei dieser Kirche vieles nur mehr in entstellter Form erhalten ist. Albertis Traktat De re aedificatoria enthält das erste vollständige theoretisch-philosophische Programm der Renaissance-Kirche. Das vierte Kapitel des Siebten Buches, in dem es um den Tempel geht, beginnt mit einem Lob des Kreises. Er entspreche der Geometrie der Natur: »Daß sich die Natur vor allem am Runden erfreut […].« Neben dem Kreis selbst seien als Grundriss noch die vom Kreis abzuleitenden Vielecke möglich. Ganz ähnlich argumentierte Leonardo da Vinci. Er und Bramante beschworen die »utopische Vision eines Bauwerks, das einen Kompromiß zwischen Klassik und Christentum darstellte.« Auf die Diskussion zwischen den Kunsthistorikerinnen darüber, ob der antik-heidnische Charakter des Rundbaus, der ja liturgisch nachteilig war, Auftraggebern und Baumeistern bewusst war und gleich christlich überformt wurde oder ob sich Profanes als abstrakte Schönheitsnorm und Religiöses im Herzen die Waage hielten, habe ich bereits hingewiesen. Nikolaus Pevsner sah im Zentralbau eine transzendente Sinngebung durch einen menschlichen Gehalt ersetzt. Er zitierte ein Gedicht des Lorenzo il Magnifico: »Lebt und liebt in Jugendwonne! Bald vermodern wir im Grunde. Freue sich, wer kann, der Stunde! Keiner kennt die nächste Sonne.« Pevsners Kommentar dazu: »Die Menschen, die diese Verse sangen, wollten auch in ihren Gotteshäusern nicht an die Unsicherheit des Morgen gemahnt sein, nicht an das, was kommen mochte, wenn dieses Leben zu Ende geht. Sie suchten vielmehr in der Baukunst die Verewigung der Gegenwart, und so wurden ihre Kirchen zu Tempeln des eigenen glorreichen Daseins.« Faktum ist freilich auch, dass die Renaissance-Architekten fälschlicherweise viele frühchristliche Kirchen für umgestaltete römische Tempel hielten, obwohl es damals bereits Hinweise auf den richtigen Sachverhalt gab. Von da her sahen sie ihr Tun schon aus historischen Gründen für berechtigt. Alberti erwähnt in seinem Siebten Buch nur kurz die Basilika, wozu ihm vor allem ihre profane Vergangenheit einfällt, während allein der Tempel – gemeint der Rundbau – dem Göttlichen entspreche. Er bezeichnete die Franziskanerkirche in Rimini in Würdigung des Auftraggebers in einem ziemlich einmaligen Akt als Tempio (Malatestiano) und Palladio baute in Maser einen Tempietto. Donato Bramante war ebenfalls überzeugt von der

437 Madonna di San Biagio (1540); ­Montepulciano

Jestaz 1985, 23f

Borsi 1981, 232

7.3.2.2. Alberti 1975, 353

Rosci 1977, 76

Frey 1915, 89 IV.6.2.1.

Pevsner 1943, 186

Wittkower 1949, 14

Alberti 1975, 349f

478

Die Renaissance

438 Palladio, ­Tempietto; Maser

Ebd., 381

Ebd., 386

Schönheit als Zahl

Pacioli, zit. nach ­Wittkower 1949, 28

Rundform. Eines der wenigen noch in ursprünglicher Form erhaltenen Bauwerke ist der Tempietto San Pietro in Montorio in Rom (1502), eine kleine kollonadenumschlossene Kapelle mit Balustraden und Kuppel. Dazu passt der geradezu profan gehaltene Innenraum, zumal Schmuck nicht dazu führen durfte, von frommen Gedanken abzulenken. Bevorzugt wurde das schmucklose Weiß. In einer Reihe von Detailvorschlägen führte Alberti seine Vorstellungen dazu aus. Jeder Zierat soll »reinste Lebensanschauung« atmen! Das eröffnete eine Debatte über Licht oder Dunkel in der Kirche. Sie erinnert an das Mittelalter. Nach Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) sollte eine Kirche, wie in den Himmelsmetaphern der marianischen Antiphone beschrieben, hell wie ein Glashaus sein. Alberti plädierte demgegenüber ähnlich wie Brunelleschi für einen dunklen Raum, in dem man »durch nichts von der heiligen Handlung abgelenkt« werde und in dem die Flammen der Kerzen nicht vom äußeren Licht überstrahlt werden, »da es nichts gibt, das zum Gottesdienst und zum Schmucke göttlicher wäre […]«. Denn: »Der Schauer, welcher aus der Dunkelheit erregt wird, vermehrt seiner Natur nach die Frömmigkeit in den Herzen […].« Das Weiß dominierte in einem Teil der sakralen Architektur. Baldassare Longhenas makelloses Weiß seiner Kirche Santa Maria Salute im polychromen Venedig lässt den Baukörper als Skulptur im Licht der Sonne erscheinen. Die Tradition des Schönen als Zahl von den Pythagoreern über den Neuplatonismus bis zu Nikolaus von Kues wird besonders im Sakralbau gepflegt. Nach Alberti kann Architektur ein uns angeborenes Gefühl für das richtige Schwingen der Seelen nach der kosmischen Harmonie anregen. Luca Pacioli hielt in seiner Summa de Arithmetica alle Riten des Gottesdienstes für unwirksam, wenn die Kirche nicht in »den rechten Maßen« erbaut ist. Das heißt, dass über das Gelingen der Transsubstantiation die vollendete ästhetische (mathematische) Form entscheidet. Bereits für den Cusaner war Gott die punkt- und kreisförmige Einheit, die vollkommenste geometrische Figur. Die dominante Rolle des Kreises gibt es auch in der Astronomie. Im Commentarium de revolutionibus orbium coelestium von 1543 (gewidmet Papst Paul III. mit einem Hinweis auf den antiken Astronomen Aristarch) vertrat Kopernikus die Kreisform der Planeten, Kepler musste diese Vorstellung aufgrund der Fakten schweren Herzens revidieren und auch Galilei empfand dies als Verlust. Für die Ästhetik der Renaissance ist der Zusammenhang zwischen musikalischen Harmonien und Proportionen ein dominierendes Thema. Diese ästhetische Bestimmung gilt für Kosmos, menschlichen Körper, für Kunst und Architektur. Die Harmonie entspringt der platonisch-pythagoreischen Tradition und basiert zugleich auf der aristotelischen Bejahung des Sinnlichen. In den Worten Rudolf Wittkowers lebten die Quattrocento-Künstler im Beziehungsgefüge der Welt der Erscheinungen und jener des Geistes. Solches sei der aristotelischen Scholastik fremd gewesen. Wittkowers Beobachtung verdient Beachtung, wonach an die Stelle des mittelalterlichen Gekreuzigten, nach welcher Kreuzform die Baumeister die Kathedralen errichteten, jetzt erneut der Pantokratortypus trat, als »Inbegriff der Vollkommenheit und Har-

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Die Architektur der Renaissance

monie.« In der Tat überlagert die platonische Metaerzählung die pneumatologische Deutung des Christentums, bevor der Barock neuerlich Anschluss an die Fleischesmystik des Spätmittelalters fand. Viele der Zentralbauten sind Maria geweiht. Der Marienkult nahm im späten Mittelalter zu. Das Basler Konzil 1439 befürwortete die Doktrin der Unbefleckten Empfängnis und im gleichen Jahr wurde sie durch Papst Sixtus IV. bestätigt. Symbole von Krone oder Himmelswölbung passten gut zum Kreisbau. Alberti sprach ausdrücklich die Bedeutung der Kuppel an, die das Himmelsgewölbe symbolisiere. Auch Donato Bramante war ein überzeugter Anhänger der Zentralbauidee. Bramantes Architektenleben gipfelte im 1506 erfolgten Auftrag von Papst Julius II. an ihn zum Neubau der Peterskirche. Die alte fünfschiffige Basilika hatte der Papst niederreißen lassen, nachdem zuvor unter Nikolaus V. erste Renovierungen (vielleicht von Alberti) stattgefunden hatten, aber mit seinem Tod wieder eingestellt worden waren. Nach Bramante mussten einen solchen Bau höchste Symmetrie und Proportioniertheit auszeichnen. Er entwarf die Kirche quadratisch, bestehend aus einer gewaltigen kreuzförmigen Mittelhalle, die von Kapellen ringförmig umschlossen wurde. Die Krönung sollte eine riesige Kuppel inmitten kleinerer Kuppeln werden. Einer Anekdote nach sei Bramantes Vorbild die Bekrönung der Maxentius-Basilika mit dem Pantheon gewesen. Die genaue Idee ist kaum mehr zu rekonstruieren, weil viele Pläne verloren gegangen sind, aber man kann von einer großen Ähnlichkeit des Entwurfs zur Hagia Sophia ausgehen. Zudem könnte die im gleichen Jahr 1506 in Konstantinopel fertiggestellte Bayezid-Moschee eine Herausforderung für die Planer in Rom gewesen sein. Vermutlich kommt der derzeitige Kuppelraum den ursprünglichen Absichten Bramantes am nächsten. Die erhaltenen Planungsskizzen Bramantes sind ganz dem künstlerischen Flair geschuldet. Es sind Rötel- und Kohleskizzen auf Papier, was erst im 15. Jh. üblich geworden ist, ungenau, aber sehr schön anzusehen. Nach dem Tod von Julius 1513 und Bramantes 1514 war der Neubau ein Torso. Es standen die Triumphbögen der Vierung und eine notdürftig errichtete Hütte, welche das vermeintliche Petrusgrab schützte. Aus Geldmangel hielt sich dieser Torso viele Jahre. Zwar planten Fra Giocondo, der den Zentralbauplan in einen Längsbauplan änderte, und Raffael weiter, umgesetzt wurde jedoch nichts. 1511 hatte der deutsche Augustinermönch Martin Luther die Baustelle gesehen und sich über die Geldverschwendung empört. 1527 verschärfte der Sacco di Roma die Situation, die Baustelle lag lange brach. Mit dem Trienter Konzil und seinem Anspruch der großen Gegenreformation wuchs der Druck nach Weiterführung des Baus. 1547 beauftragte Paul III., nach Sanierung der Vatikanfinanzen und einer zwischenzeitlichen Planung sowie einiger Arbeiten von Baldassare Peruzzi und Antonio da Sangallo d. Jüngeren (ganz kurz auch von dessen Onkel Giuliano), den über einundsiebzigjährigen Michelangelo mit der Bauleitung. Dieser verzichtete für die Planung der Kuppel auf sein Honorar zur höheren Ehre Gottes. Michelangelo knüpfte bei Bramante (zu dem er zu Lebzeiten ein schlechtes

Wittkower 1949, 30

Peterskirche

Brotton 2002, 107 Günther 2009, 66f Kauffmann 1970, 50

439 Blick auf die ­Kuppel der ­Peterskirche; Rom

480

Die Renaissance

Muscheler 2009, 140 Pevsner 1943, 237 Günther 2009, 106

Le Corbusier 1923, 146f Muscheler 2009, 141

Heß-Kickert 1999

Hubala 1970, 100

440 Karlskirche (1654); Volders

Verhältnis hatte) an, baute den Dom wie eine Skulptur. Er plante eine kugelförmige, mit 42,30 m Durchmesser etwas kleinere Kuppel als jene des Pantheons, die bei der Ausführung durch die bereits dem Manierismus zuneigenden Giacomo della Porta und Domenico Fontana – wie man heute annimmt im Sinne Michelangelos und nicht gegen ihn – gestreckt wurde. Sie ruhte in manieristischer Manier auf gigantischen Säulen. Nikolaus Pevsner vermutet, dass Bramante sie »sicher als kolossalisch, d.h. aus dem Blickpunkt der Renaissance gesehen als unmenschlich, abgelehnt hätte.« Nach dem Tod des Genies setzte sich der heftig geführte Streit um Langhaus oder Zentralbau fort. Die Zentralbaufraktion wollte den überkuppelten Zentralbau Michelangelos frei stellen (»Michelangisten«). Die Langhausfraktion, toskanische Kardinäle mit Carlo Maderno, setzte sich schließlich durch. Im Jahr 1600 fügte Maderno, ein Neffe von Domenico Fontana, das Langhaus samt Fassade – der junge Le Corbusier nannte das eine Zerstörung der schöpferischen Gedanken Michelangelos – dem zentralen Raum hinzu. Sowohl bei der Fassade mit seiner Kolossalordnung als auch im Inneren erwies Maderno dem verehrten Michelangelo seine Reverenz. 1629 ging Gian Lorenzo Bernini an die Errichtung der Glockentürme, die nach dem Einsturz von einem davon nicht mehr ausgeführt wurden. Um 1667 vollendete er die Gesamtanlage mit dem kollonadenumsäumten ovalen Platz, der zum Inbegriff einer barocken Platzanlage wurde. Dass die Ambivalenz der christlichen Ausdeutung des Zentralbaus in der nachfolgenden Diskussion durchaus präsent war, zeigt der Einspruch der konservativen Linie in der Nachfolge des Konzils. Karl Borromäus sah in seinen primär für Mailand gedachten, aber in ganz Europa bekannt gewordenen Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae libri duo (Bestimmungen zum Bau und zur Ausstattung von Kirchen; 1577) in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Konzils die aus dem heidnischen Götzendienst stammende Kreisform als weniger geeignet (minus usitata in popolo christiano) als jene des lateinischen Kreuzes. Zudem befürwortete er eine starke Fassade mit einem Bildprogramm, das auf die Geschichte um Maria programmiert sein sollte. Der 1571 in Trient geborene spätere Stadtarzt von Hall in Tirol, Hippolyt Guarinoni, der als Jugendlicher am Hof Karls in Mailand war, baute ihm als »Baudilettant« in Volders nahe Innsbruck eine kleine Kirche. Es war paradoxerweise der erste barocke Zentralbau Tirols, Bramantes St. Peter-Entwurf nachempfunden. Der Geist der Gegenreformation, der den Zentralbau vermeiden wollte, weil er den Geruch des Heidnischen hatte, war für die Meister der Renaissance kein geringes Problem. Namentlich Palladio versuchte, die alte basilikale Form möglichst zu zentralisieren. Im Norden ging es mit dem katholischen Kirchenbau nach der Reformation insbesondere in den Gebieten, wo die Reformation Auswirkungen hatte, nur mehr zäh voran. Am Beginn der wiedergewonnenen Aufbruchsstimmung zur Gegenreformation steht die Jesuitenkirche St. Michael in München (1581–1597). Sie folgte weder den lokalen noch den römischen Vorbildern, vielmehr legte man dem Bau ein neu-

481

Die Architektur der Renaissance

es Prinzip zugrunde, eine »lichterfüllte und monumentale Architektur.« Der technische und finanzielle Aufwand für einen solchen Bau ließ nur einen Nachfolgebau zu, die Jesuitenkirche St. Ignatius in Landshut (1631–1641). Aber das Tonnengewölbe fand nun öfters Verwendung und deckte in der Regel einen italienischen Saalbau mit weißen Stukkaturen. Unter Kunsthistorikerinnen ist ganz grundsätzlich umstritten, ob man im Norden – auch in Frankreich, dem Land der Gotik, und Spanien – überhaupt von einer Renaissance im Sakralbau sprechen kann. Meist wurden antikische Motive mehr schlecht als recht übernommen und in ein gotisches Formenrepertoire eingebaut. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dadurch höchst originelle Lösungen entstanden, aber es gab kein mit Italien auch nur annähernd vergleichbares geschlossenes philosophisches Konzept. Nach Russland kam die Renaissance durch italienische Architekten, aber in den Aufträgen, die sie erhielten, namentlich beim Ausbau des Kreml sowie der zahlreichen Kathedralkirchen, mussten die Architekten auf die byzantinische Tradition des russischen Mittelalters Rücksicht nehmen und in diesem Geist bauen. Sie hatten dem orthodoxen Christentum zu dienen.

Lippmann 2007, 234

7.3. Die großen Renaissance-Architekten und ihre kunstphilosophischen ­Fundamente Wie schon gesagt, orientiert sich die Architektur der Renaissance an wenigen großen Meistern, die mehr oder weniger die philosophischen Aspekte der zeitgenössischen Architektur ideal verkörperten. Vier von ihnen werden im Folgenden näher gewürdigt.

7.3.1. Filippo Brunelleschi Das Leben des genialen Baumeisters, Bildhauers, Erfinders, Literaten, Goldschmieds Filippo Brunelleschi, wieder ein uomo universale, ist uns nur bruchstückhaft überliefert. Wir haben ihn als »Erfinder« der Perspektive kennen gelernt, der entsprechende Experimente vor dem Dom in Florenz machte. So haben es viele, unter ihnen Antonio di Tuccio Manetti, der vermutlich der Autor einer Biographie über Brunelleschi war, der ersten bekannten Künstlerbiographie, überliefert. Brunelleschi, 1377 in Florenz geboren, studierte in Rom ab 1401 sechs Jahre lang die antiken Ruinen und führte entsprechende Bauzeichnungen in perspektivischer Form aus. So bemerkenswert die Weichenstellungen in seiner architektonischen Praxis auch waren, theoretische Schriften hat er keine nennenswerten hinterlassen. Durch seine Modelle für den Wettbewerb um die Baptisteriumstür in Florenz sowie die Realisierung der mit einem Durchmesser von 42 Metern und einer Höhe von 86 Metern gewaltigen Kuppel von Santa Maria del Fiore, zu der die Planung einer Architektengemeinschaft 1367 begann und die unter inzwischen alleiniger Federführung Brunelleschis 1436 fertig gestellt war, wurde er zu einer zentralen Figur der Renaissance. Der Bau der Kuppel dokumentiert auch sehr sichtbar die technische, finanzielle und politische Vorherrschaft von Florenz zu dieser Zeit: »Im Um-

Santa Maria del Fiore

482

Die Renaissance

Flasch 2004, 101 Zangheri Luigi in Kat. 2013b, 74–79

Günther 2009, 44 Schäffner 2006

Bialostocki 1972, 77 Ospedale degli Innocenti

Platon Pol. 460c GE I, 71

Alte Sakristei

kreis von fünfhundert Meter rund um die Riesenkuppel ist im 15. Jahrhundert eine neue Welt entstanden.« Das Bauwerk wurde in vielen zeitgenössischen Quellen als Metapher für eine kulturelle Landschaft der Toskana schlechthin genommen. Hinter dem Bau der Kuppel in Florenz mit dem damit verbundenen gewaltigen logistischen Aufwand stand ein komplexes Kommunikationsgeschehen. Brunelleschi wird als diplomatisch, eloquent, geistig wendig und erfahren im Umgang mit Ausschüssen geschildert. Insbesondere die Überzeugungsarbeit für ein innovatives technisches Verfahren in der zuständigen Kommission war offensichtlich sehr aufreibend. Die Errichtung der Kuppel sollte nämlich ohne bisher übliches aufwendiges Baugerüst, selbsttragend, in einer auf die Antike und Byzanz zurückgehenden Mauertechnik mit einem Hohlraum zwischen den Schalen erfolgen. Das war äußerst umstritten. Brunelleschis Berater in den kniffligen statischen Fragen war Paolo Toscanelli. Die Kuppel krönte schließlich einen Dom, der um 1300 nach Plänen von Arnolfo di Cambio noch in italienisch-gotischer Manier geplant worden war und mit toskanisch-romanischen Fassaden-Inkrustationen (opus romanum) und einem Campanile von Giotto (1355) der Fertigstellung entgegen sah. Brunelleschis bereits erwähnte Beiträge bei San Lorenzo (mit alter Sakristei), Santa Maria degli Angeli und Santo Spirito sowie der Pazzi-Kapelle sind Gegenstand der Forschung. Daneben war der Baumeister auch Festungsbauer in Florenz, Viscopisano, Pisa und Mailand. Die einzig erhaltene Monumentalskulptur ist das Kruzifix in Santa Maria Novella. Im Städtebau scheint Brunelleschi von einer »Idealvorstellung einer Welt vollkommener Harmonie« erfüllt gewesen zu sein. Er suchte nach einem davon abgeleiteten universellen Konzept, das er in Florenz anwenden wollte. Das Findelhaus (Ospedale degli Innocenti; 1419) sollte ganz im Sinne der platonisierenden Städteutopien den Nukleus bilden. Die theoretischen Vorgaben dazu finden sich bei Alberti ebenso wie in der Staatsutopie des Platon, wo die öffentlichen Plätze für Ammen den Kern der Stadt bilden sollen. Bisweilen wird auch ein Einfluss von ottomanischen maristans (Hospital) für möglich gehalten. Im 14. Jh. war der Bedarf an Waisenhäusern vor allem wegen der Pest sehr groß. Der Auftrag für das Ospedale wurde von der Seidenhändlerzunft vergeben, die sich um Findlinge und Waisen kümmerte. Dieses erste wichtige Werk Brunelleschis markiert den endgültigen Abschied von der Gotik und wird hin und wieder in der Kunst- und Architekturgeschichte als Beginn der Renaissance angesehen. Rundbögen und Wandflächen bilden eine neue, klar organisierte und auf die Perspektive ausgerichtete Einheit. Immer wieder drängt sich in der Beschreibung von Brunelleschis Bauten der Vergleich mit dem menschlichen Körper in den Vordergrund. Brunelleschis Entwürfe gleiten trotz der Wende zum Perspektivischen und dem Menschenmaß gerade nicht in emotional übercodierte oder gar mystische Gefilde, sondern bleiben – im Sinne der schon erwähnten Verträglichkeit von menschlicher Proportion und der Geometrie – rational und klar. Ein weiteres Beispiel dafür ist die im Auftrag der Medici zwischen 1418 und 1428 gebaute Alte Sakristei von San Lorenzo. Der Auftrag umfasste auch den neuen

483

Die Architektur der Renaissance

Langbau. Es war der erste Kirchenbau der Renaissance, den dann allerdings Antonio Manetti fortsetzte. Die Fassade blieb unverkleidet. Bei der Alten Sakristei handelt sich um die präzise Stereometrie eines Zentralbaus mit zwölfgliedriger Kuppel, aufgebaut aus Elementarfiguren wie Quadrat, Kreis und Bogen. Die Wände sind weiß, die Baugliederung durch graue Steinbänder nachgezeichnet. Trotzdem trägt dieser erste überkuppelte Zentralbau der Renaissance eine ausgeprägte Zahlensymbolik im Sinne der pythagoreischen Harmoniespekulation. Oder – um den Unterschied zum nachfolgenden Barock hervorzustreichen: »Alles in allem will er durch Anwendung des ganzen Systems eine rationale und zurückhaltende Devotion anregen, die nicht ihrer symbolischen Motive beraubt wird, aber frei von mystischen Leidenschaften ist.« Erwähnenswert ist im Zusammenhang mit dem Architekten Brunelleschi die Tatsache, dass er auch ein begehrter Bühnenbildner war, »der die mittelalterliche Bühne revolutionierte.« Die Bühnenbildgestaltung der Renaissance, die noch keine während der Aufführung veränderbaren Kulissen kannte, ist ein eindrucksvolles Kapitel der Architektur. Es sind von ihm perspektivische Bühnengestaltungen überliefert, etwa jene für eine Aufführung der Himmelfahrt Christi, die den gesamten Kirchenraum von Santa Maria del Carmine in Florenz umfasste.

Battisti 1979, 84 Belting 2008, 205

7.3.2. Leon Battista Alberti Der aus einem wohlhabenden Florentiner Geschlecht stammende Leon Battista Alberti schrieb 1435 einen Malereitraktat und vermutlich 1434 einen Traktat zur Bildhauerei. Von beidem war bereits in 6.4.2. die Rede. Hier soll Alberti als Architekt und Autor eines bedeutenden Architekturtraktats vorgestellt werden. Damit hat er in allen Genres der Kunst epochale Theoriearbeit betrieben.

7.3.2.1. Leben und Werk Battista Alberti wurde 1404 in Genua, dem Verbannungsort der Kaufmannfamilie, als unehelicher Sohn geboren. Ausbildung und Tätigkeit führten ihn nach Venedig, Padua, Bologna, Florenz, Mantua, Rimini und Rom, wo er eine Anstellung als Sekretär, dann auch als Architekturberater am päpstlichen Hof (in Florenz, Bologna, Ferrara und Rom) unter Eugen IV., Nikolaus V. und dem Humanisten und Piccolomini-Papst Pius II. innehatte. Er war kein ausgebildeter Architekt, sondern ein vielseitig begabter Humanist, ein echter uomo universale, der in der Malerei, Bildhauerei und Architektur ebenso bewandert war wie in Literatur, Physik und im Sport (Speerwurf, Reiten, Bergsteigen). Neben seinen Kunsttraktaten schrieb er Satiren, Märchen, Dialoge und Abhandlungen über Literatur. Seinem Namen setzte er den Namen des Löwen, dem Symbol von Florenz, voraus. Die neuere Forschung holt ihn ein wenig aus der langen Verklärung und weist auf Schattenseiten hin, seinen Pessimismus und Zynismus. Ein eindrucksvolles Porträt widmete Anthony Grafton diesem faszinierenden Kopf der Renaissance. Zwanzig Jahre nach seinem Malereitraktat wurde Alberti auch in der Architektur zum führenden Theoretiker. Er beklagte den Verlust antiker Architekturtheorien und studierte in Rom die antiken Bauten. Bei seinen Grabungen wurde er von Do-

Grafton 2002

484

Die Renaissance

Belting 2008, 189

Heydenreich 1975, 70

441 / 442 Sant’Andrea von ­Alberti (1514), kassettierter Bogen; Mantua

Jestaz 1985, 47 Wundram 1970, 129 Wundram 2004, 77ff McLean Alick in Toman 2007b, 112 Kruft 1985, 54

Wittkower 1949, 50

Pevsner 1943, 190/191

natello begleitet. Die beiden betrieben ihre archäologischen Forschungen so intensiv, dass man sie als Schatzgräber verdächtigte. Alberti schrieb über diese Sondierungen 1433 eine Descriptio Urbis Romae. Es kommt ihm das Verdienst zu, mit seinen Beschreibungen der antiken Architektur in Rom (zusammen mit einschlägigen Zeichnungen von Zeitgenossen) eine Antikenliebe entfacht zu haben in einer Zeit, in der durch die Rückkehr der Päpste die antiken Bauwerke als Steinbrüche und der Marmor als Rohmaterial für die Kalkbrenner mißbraucht wurden. Bereits unter Martin V., der mit der Erneuerung des desolaten Rom begann, hub das Zerstörungswerk der antiken Stätten an. »So läuft der restauratio urbis eine Destruktion des antiken Rom parallel; ein tragischer Konflikt, der […] auch literarisch in vielen Klagen der Zeit Ausdruck fand, […].« Selbst zwar kein besonderer Platonverehrer, bewegte sich Alberti, als er 1428 zum ersten Mal und 1434 ein weiteres Mal (mit seinem früheren Studienkollegen Papst Eugen IV.) nach Florenz kam, doch vorwiegend in Humanistenkreisen. Er stand im Kontakt mit Nikolaus von Kues. Wir wissen nicht mit letzter Sicherheit, ob der Bericht über eine empfangene Priesterweihe stimmt. Spezifisch Christliches findet man in seinen Schriften nicht, wohl aber eine positive Einstellung zur Religion, der er eine wichtige gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zubilligte. In seiner architektonischen Arbeit, darunter zahlreiche Fassadengestaltungen von mittelalterlichen (häufig gotischen) Kirchen, spannt sich der Bogen von San Francesco (Rimini; 1450) Santa Maria Novella (Florenz; 1458) und San Sebastiano (Mantua; 1460/1470) zur schon erwähnten epochalen Kirche Sant’Andrea (Mantua; 1470), seinem letzten großen Werk. »S. Andrea ist das erste Bauwerk der Renaissance, das die monumentale Größe der Antike wiedergefunden hat.« Für Wundram ist sie einer der »Gründungsbauten der abendländischen Architektur« und Patrick McLean sieht in ihr eine »außergewöhnliche Mischform aus Narthex, Vorhalle, Triumphbogen und der Front eines antiken Tempelbaus.« Alberti selbst glaubte, einen etruskischen Tempel zu bauen. »Aus einem historischen Mißverständnis entstand eine Raumschöpfung, die den abendländischen Kirchenbau über Jahrhunderte entscheidend prägte.« Zum Unterschied von Palladio ein Jahrhundert später spielten sich die Innovationen bei Alberti noch in den Sakralbauten ab. »In der relativ kurzen Spanne von zwanzig Jahren durchlief Alberti alle der Renaissance nur erreichbaren Phasen der Neubelebung klassischer Formen.« In der unvollendet gebliebenen antikisierenden Franziskanerkirche, dem Tempio Malatestiano, in Rimini (begonnen nach diversen Vorarbeiten um 1450) wurde »zum ersten Male in der neueren europäischen Architektur eine Kirchenfassade der Gestalt des römischen Triumphbogens nachgebildet.« Die von Alberti durchgeführte äußerliche Gestaltung der ursprünglich mittelalterlichen Kirche sei dem »flavischen Rom näher als irgendein anderer Bau des fünfzehnten Jahrhunderts.« Der heidnische Charakter des Baus und seiner Ausstattung

485

Die Architektur der Renaissance

rief sogar die Kritik von Pius II. hervor, der zwar humanistisch gesinnt war, aber Sigismondo Malatesta exkommuniziert hatte. Wenn Rudolf Wittkower Albertis Einstellung zur Antike »eher gefühlsmäßig als orthodox« bezeichnete, sprach er gerade die Freiheit an, die sich Renaissancearchitekten in der Rezeption antiker Vorgaben nahmen. Bei Santa Maria Novella und San Sebastiano ging Alberti eher puristisch ans Werk, während er in Sant’ Andrea sehr frei agierte und bereits den Manierismus anklingen ließ. Alberti kann nicht anders denn als großer Experimentator angesehen werden, der in seinen Kirchenbauten viel riskierte: »[…] so erscheinen uns alle unter seiner Regie entstandenen Bauten wie ›Exempla‹, die in solcher Kühnheit kein praktischer Architekt der Zeit gewagt hätte.« Neben den großen Kirchenbauten entwarf er einige Palazzi. Der Palast für die mit den Pitti und Medici verwandte Familie der Rucellai in Florenz (1446–1451), seine erste Auftragsarbeit, war durch die vorgeblendete Pilastergliederung eine Revolution. Sie war würdevoller Ausdruck der Bewohner des Hauses. Und es war eine spektakuläre Anwendung dessen, was Alberti unter dem decor oder aptum (Angemessenheit) des Vitruv verstand. Damit wird auch der Vorteil offenbar, den das Befolgen des alten Regelwerks hatte: »Wer es beherrschte, war in der Lage, jede Gestaltungsaufgabe regelgerecht und wohl proportioniert zu lösen. Wer die Sprache der Ordnungen zu lesen verstand, würde nie einen Palast mit einer Kaserne verwechseln.« Auch im Villenbau hält man Alberti für einen Innovator. Die Forschung neigt dazu, die Villa der Medici in Fiesole ebenfalls Alberti (und nicht Michelozzo) zuzuschreiben. Die Unklarheit bei manchen Zuschreibungen im Fall Albertis ist die unbefriedigende Quellenlage sowie die Eigenheit, dass Alberti die von ihm konzipierten Bauten häufig von anderen Baumeistern ausführen oder fertig stellen ließ. In Rom engagierte er sich bei der Neugestaltung des Gebietes um die Peterskirche, der Gestaltung der ersten Fontana di Trevi, der Brücke von San Angelo und des Ponte Elio, bei der Bauaufnahme, Bewertung und teilweise (nach Franco Borsi: »unglücklichen«) den baulichen Veränderungen der spätantiken Basiliken und Rundkirchen, vor allem Santa Costanza und Santo Stefano Rotondo. In Ferrara, wo die Este feingeistige Humanisten förderten, baute er den Arco del Cavallo.

Wittkower 1949, 49

Heydenreich 1972, 58/61

III.3.4.3.

Engelberg 2004, 247

Borsi 1981, 49ff

7.3.2.2. Albertis Architekturtraktat Albertis Theorie-Arbeit kulminiert in seinem Architekturtraktat Decem libri de re aedificatoria (um 1452 vollendet, 1485 posthum in Florenz gedruckt; ab dieser Zeit erschienen auch einige Prachthandschriften für Herzöge), der eine erhebliche Wirkungsgeschichte aufweist. Der Traktat war ursprünglich nicht bebildert. 1550 erschien eine italienische Ausgabe erstmals mit Bildern. Alberti blieb in diesem Traktat dem antiken Erbe mehr verhaftet als in den Traktaten zur Malerei und Bildhauerkunst. Das ebenso wie Vitruvs Traktat aus zehn Büchern bestehende Werk blieb in ständigem Dialog mit Vitruv. Die gemeinsame, unter anderem auch die Dignität der Architektur als einer ars liberalis sichernde Klammer blieb für beide Auto-

6.4.2.

486

Die Renaissance

Biermann 1997, 96–124 III.3.4./III.3.4.1.

Kruft 1985, 47f

Biermann Veronica in ATh, 24 firmitas – utilitas – venustas

Herrmann 2006

Architekt und Handwerker

III.3.4.

ren die antike Rhetorik. Ganz grundsätzlich folgte die Entwurfslehre der Rhetorik in der Abfolge von inventio (Stofffindung), dispositio (Stoffgliederung) und elocutio (Stil). Diesen Gleichklang zwischen den rhetorischen Grundlagen bei Quintilian und Cicero und den Architekturtheorien von Vitruv und Alberti zeichnet Veronica Biermann detailliert nach. Alberti überreichte sein Lebenswerk 1452 Papst Nikolaus V., den er aus Studienzeiten kannte und der einen gewaltigen Masterplan für die Erneuerung Roms entworfen und für dieses Projekt Alberti um Rat gebeten hatte. Bei dieser Gelegenheit soll Alberti gegen den Neubau der Petersbasilika Stellung bezogen haben. Im Zehnten Buch finden sich Restaurierungsvorschläge für die alte Kirche. Die kurze Regierungszeit von nur neun Jahren ließ eine größere Umsetzung von Nikolaus’ Plänen nur rudimentär zu, die Projekte beschäftigten noch Sixtus IV., Julius II. und Sixtus V. Gut möglich, dass der Plan für die Schrift in Gesprächen mit Humanisten – nach Hanno-Walter Kruft speziell mit Lionello d’Este – entstanden war und das Ziel verfolgte, sowohl einen Gegenentwurf gegen den »barbarischen« gotischen Stil zu setzen als auch Vitruvs Gedanken und seine komplizierte griechische Fachterminologie zu adaptieren. Letztlich trat Alberti in einen Wettbewerb mit Vitruv mit dem Anspruch, dessen Materialsammlung transparent (perspicuitas) und in sauberer lateinischer Terminologie (latinitas) neu aufzusetzen. Die große Leitlinie des Traktats blieb Vitruvs Dreiklang von firmitas, utilitas und venustas. Über Virtuv hinausgehend diente Alberti dieser Dreiklang als Gliederungssystem seines Traktats und als Leitlinie der konkreten Umsetzung von Architektur. So sollte letztlich ein Platz im Kreise der artes liberales gesichert werden. Neben Vitruv erwähnt Alberti eine große Zahl weiterer antiker Autoren, darunter Platon, Aristoteles, Cicero, Plinius, Herodot, Thukydides. Zielpublikum des Traktats war die kulturelle und soziale Elite des Quattrocento. Der Traktat richtete sich mehr an Bauherren als an Architekten. Ausgehend von einem guten Einvernehmen zwischen Bauherr und Architekt ist mit der Bauaufgabe die konzeptuelle Beratung verbunden, ja das sei mit Blick auf das Gemeinwohl sogar die eigentliche Aufgabe eines Architekten. Von 1450 datiert ein satirisches Gegenstück zu seinem theorielastigen Konvolut: Momus. Darin geht es um die Frage der Nachahmung. Der griechische Momos war die Personifikation von Tadel und Spott. Bei Alberti avancierte er zum Korrektiv der Klarheit Jupiters, ganz so wie der Künstler, der die Natur nicht mehr sklavisch nachzuahmen bereit ist. Die Satire enthält auch Passagen, die man als Kritik einer abgehobenen und praxisfernen Philosophie deuten könnte. Alberti macht einen klaren Unterschied zwischen dem Handwerker, z.B. dem Zimmermann (»ein Werkzeug in der Hand des Architekten«), und dem Architekten (architectus) selbst, der eine Theorie in die Praxis überführt. Er arbeitet nach vernünftiger Regel (ratio) und Methode (via), etwas, das Quintilian seiner Rhethorik – ebenfalls eine ars – zugrundegelegt hatte. Die dortigen Argumente nahm Alberti auf und positionierte die Architektur klar als Wissenschaft (ars). Sie sei eine Kunst, die gleichermaßen durch das Studium von Wissenschaften und Praxis erlernt werden könne und die letzten Endes die Aufgabe einer moralischen und humanistischen

487

Die Architektur der Renaissance

Profilierung des Staates erfüllen soll. Dementsprechend hoch muss die Ausstattung des Architekten (artifex) an Kenntnissen in den verschiedenen Wissenschaften sein. Er müsse ein universell gebildeter Wissenschaftler sein, der vor allem in der Mathematik zuhause war. Insgesamt war Alberti beim Anforderungsprofil allerdings weniger streng als Vitruv. Astronom oder Musiker müsse er – so fügt er mit ironischer Spitze gegen sein großes Vorbild an – nicht sein. Im Werk wird eine Fülle sozialtheoretischer Überlegungen ausgebreitet. Alberti unterschied den Rang von Privathäusern, öffentlichen Bauten und Sakralbauten, denen er – wiederum in Analogie mit dem ornatus der Rhetorik – die Stillagen subtile (einfach), medium (mittlere) und grande (hoch) zuordnet. Diese Stillagen entsprachen auch musikalischen Relationen, die sich nun auf Typen von Bauwerken anwenden ließen. Der Wert eines Privathauses ergibt sich aus einem humanistischen Kontext. Er beschwor das Wohnen mit Kultur und sozialer Verantwortung und stellte der luxuriösen Pracht, welche die zu schnellem Reichtum Gekommenen in ihren Gebäuden haben wollten, den »Reichtum an Geist« gegenüber. Ein gewisses Maß an Luxus als Zeichen des Wohlstandes eines Bauherren und, in weiterer Folge, der Stadt bleibt aber legitim. Der Architekt kann damit einen bedeutenden Beitrag für den Staat leisten. »Endlich sei noch gesagt, daß die Beständigkeit, das Ansehen und die Zier eines Gemeinwesens am meisten des Architekten bedürfe […].« Dieses Gemeinwohl lag Alberti besonders am Herzen. Architektur war für ihn eine kulturelle, soziale und auch politische Tätigkeit, ja geradezu Kulturstiftung. Noch mehr als das Privathaus dienten öffentliche Bauten dem Wohl des Staates. Den Mittelpunkt markiert der Stadtpalast. Er repräsentiert die Stadt im Kleinen. Baldassare Castiglione bezeichnete den Palazzo Ducale von Urbino, dessen Bauherr Federico da Montefeltro war und an dessen Planung Alberti sich beteiligt hatte, in seinem Cortegiano als »Palast in Form einer Stadt«. So wie generell »der Staat, nach einem Grundsatze der Philosophen, ein großes Haus ist, und ein Haus hinwiederum ein kleiner Staat […].« Auch die einzelnen Teile werden in ein Bedeutungssystem eingegliedert. Der Hof erinnert an das antike Peristyl und konnotiert gleichzeitig den Platz. Vigevano, Faenza oder Ascoli Piceno sind besonders zutreffende Beispiele für die Charakterisierung eines Stadtplatzes gleichsam als Atrium. Gegenüber dem Charakter öffentlicher Bauaufgaben blieb Alberti auffallend neutral. Herrscherpaläste in demokratischen Systemen sollten sich im Zentrum der Stadt befinden, Paläste von Diktatoren hingegen müssten als Burgen entworfen werden und sollten »weder in der Stadt noch außerhalb der Stadt« liegen. Man kann aus Albertis Schriften keine Sympathie für Tyrannen ableiten. Er beschrieb die Aufgabe professionell und pragmatisch, indem er eine weise und väterliche Königsherrschaft von einer gegen den Willen der Allgemeinheit aufoktroyierten Tyrannis unterschied. Die Stadtpaläste der führenden Familien ebenso wie jene der Vertreter der päpstlichen Kurie hatten in dieser Zeit nahezu alle auch die Funktion von Festungen, um im Fall von Volksaufständen oder

Alberti 1975, 518

Privathaus

Ebd., 473

Ebd., 13

öffentliche Bauten

Castiglione, zit. nach Borsi 1981, 196 Alberti 1975, 47 Ebd., 224

443 Palazzo Ducale (um 1470); Urbino

Ebd., 228

488

Die Renaissance

Vitruv 1981, 21 Borsi 1981, 318

III.3.4.3.

Chastel 1966, 39 Stadt und Land

Wölfflin 1888, 149

Boenke Michaela in ÄKPh, 20 Biermann 1997, 61

concinnitas

kämpferischen Fehden gerüstet zu sein. Abgesehen vom Hinweis auf diese Festungsarchitektur erscheint Albertis Traktat humanistisch gestimmt. Vitruv sah es noch als Aufgabe der Architektur an, dass »der Staat […] die Würde des Reiches hervorragende, das Ansehn erhöhende öffentliche Bauten besitzen sollte […].« Dieser »Imperialismus« Vitruvs wird bei Alberti zu einem Humanismus. Architektur diene dem Menschen, meint er in der Vorrede. Und an die Stelle von Vitruvs eindrucksvollen archaischen Beginn der Architektur mit dem Feuer treten bei Alberti komplexere, fortgeschrittenere und vor allem sehr konkrete Lebensbedürfnisse. Die Stadtarchitektur spiegelt den Zustand des in der Stadt lebenden freien Bürgers wider, der sich nicht wie der Fürst in Festungen einmauern muss. Alberti entwickelte – ähnlich wie Vitruv – geradezu eine Stadtsoziologie. Sie liest sich empirisch und hat wenig gemein mit der Stadtideologie Platons. Alberti lehnte ein starres Schema einer Idealstadt ab und bot flexible Lösungen an. Die Kunstgeschichte belehrt uns, dass es um die Mitte des 15. Jh.s de facto in der Toskana kein fixiertes Muster eines Stadthauses gab. Hier stand die Stadt in Beziehung mit dem (sie versorgenden) Land als dem Erholungs- und Phantasieraum der Städter. Es ist dies das alte Verhältnis, das sich vom Orient durch die Kulturgeschichte zog und in der Renaissance mit den Villen, den intellektuellen Rückzugsorten der Humanisten, einen neuen Höhepunkt erreichte. Auf der anderen Seite bot die Stadt den Raum für Kommunikation und Güteraustausch. Die Spannung zwischen dem Leben in der Stadt und jenem im Landhaus, der Villa, war hier durchaus kreativ. Gemeint war die große Anlage am Land und nicht die eher bescheidene Villa suburbana vor der Stadt, die, wie Wölfflin so schön sagte, dazu diente, »auf kurze Zeit eine frohe Gesellschaft aufzunehmen.«. Die Entwicklung der Villa nahm gegen Ende des 15. Jh.s Fahrt auf. Im großen Landhaus zeigt sich eine Idee von Exklusivität und autarker freier Lebensform. Trotz der pragmatischen Zugänge durchzieht Albertis Traktat eine stringente kunstphilosophische Idee. Der Architekturtraktat ist »sowohl Theorie der Architektur als auch praktische Philosophie.« Architektur könne geradezu als »gebaute Philosophie« verstanden werden. Eine solche Auszeichnung entspricht der Aufwertung einer praktischen Disziplin zu einer ars liberalis und sie verdichtet sich in der Aussage, ein Gebäude bestehe aus Linien und Materie. Anders gesagt: Es besteht aus der durch die Formkraft des menschlichen Geistes gestalteten Natur. Hier wird in der Architektur das buchstabiert, was in der bildenden Kunst disegno und colorire meinte, und es wird im Sinne der demiurgisch-ordnenden Bewegung des Geistes, welche eine Harmonie in die Materie bringt, buchstabiert. Dies gilt für die Anlage der Stadt, aber auch für jedes einzelne Haus, auch für das Landhaus, das mit seiner Kultivierung der Natur ein dankbares Motiv war, die Frage nach dem Naturverständnis präsent zu halten: platonische Mathematisierung gegen den von Aristoteles formulierten Selbstwert der Natur? Dieser demiurgische Ordnungsvorgang findet seinen prägnantesten Ausdruck in der concinnitas. Concinnitas hat »die Bestimmung und Aufgabe, Teile, welche sonst von Natur aus unter einander verschieden sind, nach einem gewissen durch-

489

Die Architektur der Renaissance

dachten Plan so anzuordnen, daß sie durch ihre Wechselwirkung einen schönen Anblick gewähren.« Die völlige Harmonie der inneren Teile zueinander und ihr Verhältnis zur Umgebung werden zu einer Definition der Schönheit. Concinnitas ist gleichsam die innere ratio für die als Harmonie der Teile buchstabierte Schönheit. Sie ist, »noch ungebrochen als Schönheit und Zusammenstimmen der Teile«, ein zentrales Element seiner Kunstphilosophie. In der concinnitas und der darauf basierenden varietà (dem Reichtum des Bauens), könnte man geradezu die Leitbegriffe Albertis sehen. Im Sechsten Buch kommt eine entsprechende Schönheitsdefinition zum Tragen: Sie sei »eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache, [sei], die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen.« Diese Definition wiederholt er im Neunten Buch und unterstreicht, dass eine solche Schönheit Freude (voluptas) bereite und durch eine innere Bewegung als »Genosse von Seele und Vernunft« erscheine. Erwin Panofsky wies darauf hin, dass Alberti gegen die Priorität der reinen Idee durchaus das Naturstudium hoch hielt. »Denn eben der Begriff der Idee, […] dient hier dazu, dies künstlerische Ingenium vor einer Überschätzung seiner selbst zu warnen und zur Betrachtung der Natur zurückzurufen.« Das Erkennen der Idee ist für Alberti nicht völlig losgelöst von Übung und Erfahrung zu haben: »Es flieht den erfahrungslosen Geist jene Idee der Schönheit, die selbst die Wohlgeübtesten kaum zu erkennen vermögen.« Das wird nicht überraschen, denn die Idee benötigt naturgemäß stets die ordnende Realisierung im Materiellen durch den Künstler. »Die Beobachtung der verbesserungsfähigen Natur ist in Albertis Erklärungsversuch zu pulchritudo und ornamentum Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation: […].« Hier wird nicht auf die Ideenlehre Platons gesetzt, sondern auf das Demiurgische in seiner Spätphilosophie. Dieses platonische und ontologische Schönheitsverständnis nimmt die »Natur als beste Künstlerin« zum Vorbild. Schönheit macht einen Baukörper (wie einen »Redekörper«) erst vollständig. Ornamentum im Sinne Albertis reicht von Schmuck (der manchmal sogar Baufehler überdeckt) bis zum der jeweiligen Bauaufgabe angemessenen decorum. Im Vordergrund steht hier nicht eine soziale Hierarchie, sondern die Angemessenheit (aptum). »Es stehen sich Würde und Anmut, Ernst und Heiterkeit, nicht aber ›hoch‹ und ›niedrig‹ im sozialen Sinne gegenüber.« Das erinnert an den schon von Platon beschriebenen idealen Körper einer Rede, die seiner Meinung nach »wie ein lebendes Wesen gebaut sein und ihren eigentümlichen Körper haben muß […] das Ganze in einem schlichten Verhältnis gearbeitet [sind].« Die Metaphorik des Körpers spielt in Albertis Architekturtheorie eine große Rolle. Im Gebäude sieht er eine Art von Körper, der aus Linien und Materie bestehe, wobei die Linie aus dem Geist und die Materie aus der Natur stamme. Säulen begreift er als »Skelett einer Mauer, das sich in Gestalt von Pilastern auf der Wand abzeichnen kann wie Knochen unter der Haut.« Körper können der Abgrenzung dienen oder sich öffnen. Wenn Hans-Karl Lücke aus dieser Charakteristik eine Differenz zwischen Alberti und Palladio ableitet, darf man nicht übersehen, dass Stadtpaläs-

Alberti 1975, 492

Gerl 1989, 136 Heydenreich 1972, 85ff Alberti 1975, 293; im Orig. kursiv Ebd., 492

Panofsky 1924, 103 Alberti, zit. nach ­Panofsky 1924, 102 Biermann 1997, 137

Schönheit

Alberti 1975, 493

Biermann 1997, 187

Platon, Phaidr. 264c

Lücke 2008, 17

490

Die Renaissance

Alberti 1975, 492; im Orig. kursiv Hofmann 2004, 66

Kruft 1985, 51

Künstler als artifex divinus

Alberti 1975, 496

Boenke Michaela in ÄKPh, 18

te, wie jener für die Rucellai, sich aus den oben erwähnten sozialen und politischen Gründen schon zwangsläufig verschließen, während sich Villen im Landschaftskontext konsequent öffnen. Schönheit geht von objektiven Gegebenheiten aus. Diese lassen sich in der Kunst in ihrer Idealität, die sie in der Konkretheit teilweise verloren haben, wieder rekonstruieren. Darin, in der Herstellung der Schönheit bzw. des Ebenmaßes (concinnitas) als »[…] Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl (numerus), einer besonderen Beziehung (finitio) und Anordnung (collocatio) ausgeführt wurde, wie es das Ebenmaß, das heißt das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordert«, liegt der aktive und schöpferische Charakter der Kunst. Ob man in dieser Bezugnahme auf die Natur – wie Werner Hofmann postuliert – einen aufklärerischen Zungenschlag sehen soll, mag dahingestellt bleiben. Natur und Gott sind hier eher als Chiffren für einen objektiven Harmoniebegriff zu lesen, denn zweifellos sind die »Proportionen in Albertis Anschauung als Naturgesetze unwandelbar.« Allenfalls kann man mit Blick auf die Naturnachahmung bei Alberti einen geschmeidigeren Architekturbegriff gegenüber der starren Kodifizierung bei Vitruv sehen. Ob Alberti den Gedanken vom Künstler als artifex divinus, der das Geschäft der Götter auf Erden vollendet, vom jungen Ficino hat, in dessen Vorlesung er als reifer Mann gesessen ist, lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Jedenfalls kann die hintergründige Kraft, die den Künstler zur Vollendung im Schönen treibt, ohne weiteres als Eros interpretiert werden, wie ihn Ficino in seinem Kommentar zu Platons Symposion beschrieben hatte. Für die Architektur heißt das, dass die ontologische Bedeutung der Schönheit, die Anreicherung des Platonismus mit der Empirie des Aristoteles ein spannungsvolles Gleichgewicht zwischen künstlerischer Gestaltungsfreiheit und der objektiven Vorgabe idealer Proportionen schafft. Die seltsame Brechung der strengen Vorgaben in der Momus-Satire lässt hier doch Fragen offen. Bereits erwähnt wurde, dass Zahlenverhältnisse der Elemente eines Gebäudes in Analogie zu den Proportionen des menschlichen Körpers zu sehen sind. Diese Urgleichung der Renaissance macht die Gebäude, darunter auch ausdrücklich die Kirchenbauten, deswegen nicht etwa anthropomorph, man muss das eher umgekehrt ins Auge fassen: Mensch wie Kosmos sind Widerspiegelungen der göttlichen Harmonie. Hier spielt die antike Gleichung der Stadt als Abbild des göttlichen Kosmos eine Rolle. Sie ist in Arithmetik und Musik nachvollziehbar. Gerade die alte Zahlenharmonie kommt in der Musik am eindrucksvollsten zur Darstellung. »Die Zahlen aber, welche bewirken, daß jenes Ebenmaß der Stimmen erreicht wird, das den Ohren so angenehm ist, sind dieselben, welche es zustande bringen, daß unsere Augen und unser Inneres mit wunderbarem Wohlgefühle erfüllt werden.« Die pythagoreische und spätplatonische Zahlenmystik bleibt, aller anhebenden neuzeitlichen Profanierung zum Trotz, eine philosophische Grundlage der Architektur der Renaissance. »A.s Gleichsetzung musikalischer und räumlicher Verhältnisse ist wiederum in der Natur gegründet, deren harmonische Ordnung laut pythagoreisch-platonischer Lehre auf musikalischen Relationen beruht.«

491

Die Architektur der Renaissance

Die Fassade von Santa Maria Novella beruht auf der idealen Form des Kubus und dem Verhältnis der Oktav. Ähnliches lässt sich zum Umbau von San Francesco in Rimini sagen. In einem Brief an den Bauleiter Matteo de’ Pasti schrieb Alberti die berühmt gewordene Mahnung: »Die Maße der genannten Proportionen der Pilaster, Du siehst, wie sie entstehen. Was Du veränderst, zerstört die ganze Musik (Harmonie).« Die Sakralbauten nahmen denn auch den höchsten Rang in der Architektur ein: Der schön gestaltete Tempel ist »der größte und vorzüglichste Schmuck einer Stadt« (maximum et primarium [est] urbis ornamentum). Und die Basilika verknüpft er mit Ordnung und Recht und verlangt für sie einen erhöhten Platz auf einem Podium. Diese Ausgewogenheit hat neben der ontologischen Bedeutung ganz im Sinne der platonischen Einheit auch eine ethische Dimension. Gemäß der Polisutopien gibt es keine Differenz zwischen dem Nutzen und der Schönheit einer solchen Stadt; das Sozialgefüge ordnet sich dem ontologischen Schönheitsverständnis unter.

Alberti, zit. nach Borsi 1981, 144

Alberti 1975, 349/394

7.3.3. Donato Bramante Bramante, eigentlich Donato di Pascuccio d’Antonio, geboren 1444, stammte aus der Umgebung von Urbino. Seine Jugendzeit verbrachte er in Gesellschaft von Luciano Laurana, seinem Lehrer, Piero della Francesca und Francesco di Giorgio Martini. Gegen 1476 ging er nach Mailand an den Hof der Sforza und war wohl auch mit vielen Städten in der Lombardei vertraut. In Mailand baute er Santa Maria presso San Satiro (sein Anteil neben Giovanni Antonio Amadeo ist neuerdings umstritten). Kunsthistorikerinnen setzen eine Kenntnis der Pläne von Albertis Sant’Andrea voraus, an die sich seine Kirche anlehnte. Um trotz der topografischen Schwierigkeiten dennoch zu einer Zentralbau-Lösung zu kommen, griff Bramante zu einem Flachrelief mit perspektivischer Trompe-l’Œil-Illusion. Bramantes zweite Kirche in Mailand, Santa Maria delle Grazie war von Albertis zweiter Kirche in Mantua, San Sebastiano, beeinflusst. Zudem hatte Bramante eine gute Beziehung zu Leonardo da Vinci, der ab 1482 in Mailand war und sich mit Entwürfen von Zentralbaukirchen beschäftigte. Auf der Grundlage von über 1000 erhaltenen Handzeichnungen festigte sich bei Kunsthistorikerinnen der Ruf Bramantes als Klassikers ohne Ambition nach etwas gänzlich Neuem. Seine große Zeit erlebte Bramante, als er 1499 nach dem Sturz der Sforza in das immer noch verwahrloste Rom übersiedelte. Er widmete sich dort intensiv dem Studium der Antike. Der Kreuzgang von Santa Maria della Pace (zwischen 1500 und 1504) sowie der streng antikisierende Tempietto San Pietro (1504), ein »monumentaler Heiligenschrein« und »das erste Denkmal der Hochrenaissance«, eine »Inkunabel der ›klassischen‹ Renaissance«, waren ein Auftakt für das große Los, das der Baumeister in Rom zog: den Auftrag für den Neubau der Peterskirche und der Vatikanischen Paläste. 1506 wurde er von Julius II. dafür berufen. Bereits 1503 war er zum Leiter der päpstlichen Bauhütte ernannt worden. Das war die höchste Stellung, die ein Architekt damals erreichen konnte. Freilich hat der fertige Petersdom mit dem von Bramante entworfenen Projekt nicht mehr viel zu tun, denn die Baugeschichte von St. Peter ist

Pevsner 1943, 206 Borngässer Barbara in Toman 2010, 492

492

Die Renaissance

Kauffmann 1970, 47

Jestaz 1985, 91

gleichzeitig eine Kulturgeschichte, die den Übergang von der Renaissance in den Barock illustriert, und sie wurde bereits in 7.2. ausführlich berichtet. Der erste Entwurf für das Projekt, ein Holzmodell, wird in der Forschung zurückhaltend kommentiert und vor allem als Exposition von Ideen gesehen, die geradezu einer ersten Architekturschule entsprachen: »Nichts mehr von Quattrocento und der alten Auffassung von Wand als einer Schaufläche. Statt dessen sieht man sich von einer Reihe optischer Eindrücke umgeben, von wechselnden Durchblicken wie in der Thermenarchitektur.« An der Beobachtung Georg Kauffmanns, der in der Begegnung von Julius II. und Bramante den »Anfang des Aufstiegs der römischen Kunst« sah, verdient der Hinweis Beachtung, dass Julius von dem Unternehmen fasziniert war, »die Monumentalität der paganen antiken Architektur einer christlichen Gesellschaft verfügbar« zu machen. Eine Darstellung hat diese Idee in der Wallfahrtskirche Santa Maria della Consolazione (ab 1508) in Todi erhalten, die allerdings vermutlich nicht von Bramante, sondern von Cola da Caprarola, Baldassare Peruzzi oder gar Leonardo da Vinci stammt. Eine kunstphilosophische Theorie Bramantes ist nicht mehr rekonstruierbar, weil seine Schriften verloren gegangen sind. Zweifelhafte Quellen berichten von drei Traktaten zur Architektur. Böse Nachreden, etwa von Castiglione, er sei ungebildet gewesen, sollte man nicht zum Nennwert nehmen. Andere Zeitgenossen berichten von einem Traktat Practica mit architektonischen Proportionslehren. Man könnte resümieren, dass die Verbindung von theoretischen Überlegungen und praktischem Geschick zu einem für Mailand und Rom gleichlautenden Resultat führten: »Ein neuer Stil war geboren, und das Talent der Nachfolger Bramantes sicherte zusammen mit dem Prestige, das von Rom ausging, seinen Erfolg.«

7.3.4. Andrea Palladio

Pevsner 1943, 224

Andrea Palladio war ein eigenständiger und nachhaltig stilprägender Kopf. Sein Einfluss wirkte nicht nur in den romanischen Ländern, sondern auch im Norden – in England gab es im 17. und 18. Jh. einen glühenden Neopalladianismus bis hin zu Anregungen auf die englische Möbelkunst des 19. Jh.s – und in Osteuropa. Für Nikolaus Pevsner vereinigte Palladio in seiner Architektur »die Majestät des antiken Rom mit der strahlenden Heiterkeit Norditaliens und mit einer überlegenen Anmut, die ihm allein eigen ist und die kein anderer Baumeister seiner Zeit erreicht hat.« In Venedig löste erst die Tätigkeit Palladios den Paradigmenwechsel zur Renaissance aus. Er war unter anderem mit der Neuplanung des gesamten Handelsviertels am Rialto beauftragt worden. Erst nach der Mitte des 15. Jh.s wurde in Venedig, das lange an der Spätgotik hing, nach dem neuen Stil gebaut. Andrea di Pietro della Gondola, in Padua 1508 als Sohn eines Müllers in einfachen Verhältnissen geboren, wurde von seinem Mentor Giangiorgio Trissino nach humanistischer Gepflogenheit Palladio (nach Pallas Athene, der Schutzgöttin der Künste) genannt (der Name taucht ab 1540 auf). Er war ursprünglich Steinmetz. Trissino hatte den talentierten jungen Mann beim Bau seiner Villa suburbana in Cricoli bei Vicenza kennen gelernt. Trissino arbeitete sich nach eigener Aussage zwanzig Jahre lang durch die historischen Texte, um 1547 ein großes Heldenepos über

493

Die Architektur der Renaissance

die Vertreibung der Goten aus Italien zu veröffentlichen (L’Italia liberata dai Goti). Gerade so, als wollte er dem durch die Renaissance vertriebenen Spuk des barbarischen gotischen Mittelalters noch eins draufsetzen. Daneben schrieb er lateinische Gedichte und eine Ars poetica. Er war es, der Palladio zur Architektur gebracht und als privater Vitruvforscher das große Talent mit Vitruv und dem Platonismus vertraut gemacht hat. Der vornehme Giuseppe Gualdo aus Vicenza berichtet uns dies alles, auch, dass Trissino Palladio zu ausgedehnten Reisen nach Rom mitnahm, wo er sich mit den antiken Bauten befassen konnte. Palladios Auseinandersetzung mit der Antike war äußerst gründlich. Er sammelte alle greifbaren Berichte aus antiken Quellen und vermaß die Ruinen zudem teilweise eigenhändig neu. Als Frucht dieser Reisen verfasste er einen Führer zu den antiken Bauten Roms (L’antichità di Roma; 1554), der ein Bestseller wurde. Dem schloss er im selben Jahr einen Überblick über die römischen Kirchen samt ihrer liturgischen Bedeutung an. Dass Palladio angesichts seines an der Antike ausgerichteten Kompasses für die deutsche Architektur der Gotik nur wenig Sympathie empfand, wird kaum überraschen: Man könne sie »beim richtigen Namen nur konfus nennen.«

444 Andrea Palladio; Vicenza

Spätestens mit Palladio trat in der Renaissancearchitektur das profane Werk in den Vordergrund. Doch auch im Sakralbau setzte er Zeichen. Erstmals gelang es, einer christlichen Kirche eine antike Tempelfront zu geben. Zumindest zwei bedeutende Kirchenbauten gibt es von ihm in Venedig: die anlässlich der Pestepidemie 1576 vom Senat beschlossene Votivkirche Il Redentore, wo er zwei Tempelfronten miteinander verschmolz und sie mit einer Kuppel krönte, und San Giorgio Maggiore, beides mit dem Motiv des überkuppelten Zentralbaus. Dazu kommen mehrere Fassadengestaltungen. Berühmt geworden ist er neben öffentlichen Bauten (die Loggien des Palazzo della Ragione, auch: Basilica palladiana in Vicenza; 1549–1614; Loggia del Capitaniato; 1571), Theater (teatro olimpico in Vicenza) durch seine Villenbauten. Sein theoretisches Hauptwerk waren die Quattro libri dell´architettura (Venedig 1570), die das gesamte Gebiet der Baukunst umfassen. Der Traktat war mit Holzschnitten reich illustriert und gilt als eines der schönsten Bücher der Renaissance, wie bereits Goethe in einem Brief an die Frau von Stein aus Venedig feststellte. Palladio war nicht nur ein großer Architekt, sondern auch ein begnadeter Kommunikator, der das Genre des Architekturtraktats in neuer Weise nützte. Ob man über die Zahlen vier und zehn (vier Bücher/zehn Kapitel) Spekulationen anstellen soll, mag ebenso dahingestellt bleiben wie die Mutmaßung, die Anlage des Traktats auf zehn

445 /446 Palladio, Fassade S. Giorgio Maggiore (um 1570) und Gesamtansicht; Venedig

Palladio, zit. nach Puppi 1973, 69

447 Palladio, Il Reden­ tore (1592); Venedig ◀

448 Loggia del ­Capitaniato; Vicenza

Quattro libri

494

Die Renaissance

Lücke 2008, 11ff

449 / 450 Basilica Palladiana und Detail; Vicenca Engelberg 2004, 244 Puppi 1973, 22; Pevsner 1943, 222

Daniele Barbaro

Barbaro, zit. nach Puppi 1973, 44

VII.3.4./VII.4.2.4.3. Oechslin 2008, 9

Bücher sei dem Vorbild Vitruv geschuldet. Allerdings ist unzweifelhaft, dass auch er dem großen Vitruv die meiste Verehrung zollte. Eine verbreitete Meinung in der Palladio-Forschung geht davon aus, dass Vitruvs nicht einfacher Text nicht zuletzt deshalb eine so nachhaltige Wirkung entfaltete, weil er bei der Rezeption in der Renaissance zu vielen produktiven Missverständnissen geführt hat. In besonderer Weise gilt dies für die Rezeption durch Palladio. In der späteren klassizistischen Palladio-Rezeption wurde auf diese Abweichungen von den Vorgaben immer wieder der Finger gelegt. Dabei war es keine leichte Aufgabe für die Architekten, die in Rom vor den alten Ruinen standen, die dort empirisch gewonnenen Eindrücke mit dem Text Vitruvs in Einklang zu bringen. Im Zweifel stützte Palladio sich daher auf seine eigenen empirischen Befunde an den antiken Resten in Rom und auf das, was er als Kontinuität mit der Antike empfand. Neben Vitruv hatte Palladio auch Alberti intensiv studiert, wenngleich dieser es nur auf fünf Nennungen im Traktat brachte. Neben Trissino, der Palladio die ersten großen Bauaufträge für Vicenza vermittelte, wurde ab etwa 1550 Daniele Barbaro ein kongenialer Anreger und Gesprächspartner. Palladio baute in Maser eine Villa für ihn und seinen Bruder Marcantonio, der am Ende seines Lebens zum Patriarchen von Aquileia ernannt worden war. Diese Zusammenarbeit stiftete eine lange fruchtbare gemeinsame Zeit mit gegenseitiger Wertschätzung: Barbaro lobte an Palladio, dass er »die Architektur [sich] in ihrer antiken Form […] [in] großartiger, schöner und voller Pracht zeigt.« Manche Palladioforscher sprechen gar von einer Achse Barbaro-Palladio. Insbesondere für seinen Kommentar zu Vitruv waren Barbaro Palladios Bauaufnahmen in Rom eine unschätzbare Quelle. Nach der Verwüstung Roms 1527 (Sacco die Roma) gingen zahlreiche Künstler in den Norden, weshalb das Veneto nun zu einer Hochburg des Vitruvianismus wurde, wenngleich in einer sehr freien Form. Diese freie Form, in der die alte Theorie mit der Praxis des Bauens verbunden wurde, erregte später, im Klassizismus des 18. Jh.s, Anstoß. Aber genau diese Fortführung der Antike kann als Leistung Barbaros und Palladios betrachtet werden. Insofern ist Werner Oechslin beizupflichten, dass sich die Frage erübrige, »ob Palladianismus als eine (Sub-) Kategorie von Klassizismus zu begreifen sei.« Barbaro war ein bedeutender Humanist, Dichter, Philosoph, Mathematiker, Diplomat und Theologe und an allen möglichen Themen interessiert. Er verfasste eine sozialhistorische Studie über England, das er als Gesandter Venedigs bereist hatte, und schrieb über die Perspektive unter Verwendung von Traktaten Dürers. Methodisch eher der scholastisch-aristotelischen Form verpflichtet (er kommentierte auch Schriften des Aristoteles), blieb er inhaltlich stets Platoniker. Vor allem aber war er ein großer Kenner und Kommentator des Werkes von Vitruv. In seinem 1556 in Venedig erschienen Vitruvkommentar (I dieci libri dell’architettura di M. Vitruvio) ergänzte er die Vorlage durch unfangreiche Zahlen- und Proportionstheorien,

495

Die Architektur der Renaissance

die er für die Architektur fruchtbar machte – immer wieder mit dem Verweis auf die Musiktheorie. Anders als die anderen bedeutenden Vitruv-Kommentatoren Fra Giocondo und Cesare Cesariano war Barbaro kein Architekt, sondern ein Intellektueller und Humanist. Für Palladio blieb die Geometrie das Um und Auf der Architektur. Sie sei die Mutter aller Entwürfe (madre del disegno). Die Vollkommenheit der Welt liege in der Zahl. Mit solchem platonischen Denken folgte er den Fußstapfen Albertis, dessen theoretische Abhandlung nun schon hundert Jahre zurücklag. Zudem schätzte er die mathematisch-philosophischen Spekulationen von Francesco Giorgi. Die Mathematik adle die Kunst zur Wissenschaft. Der Architektur komme ein besonderes Maß an Würde zu wegen der »Kraft der Proportionen« als »wunderbare Kraft der richtig aufeinander bezogenen Zahlen«, was an die ewige Wahrheit rühre. Palladio scheint jenes geniale Scharnier gewesen zu sein, das diese theoretischen Vorgaben in der Praxis umsetzen konnte, also den Ausgleich zwischen theoretischen Proportionsbedürfnissen und der Naturvorgabe bewältigte. Schon für Barbaro war die Materie »bloßes Sein (lo essere)«, Architektur (il bene essere) hingegen »die Ordnung der Materie durch Vernunft, d.h. ihre Proportionalität.« Nur so könnten die Defekte der Materie (difetti della materia), die der Form unterworfen bleibt, behoben und die Materie für die Kunst aufbereitet werden. Palladio griff das auf und wollte in der Nachahmung quasi un’altra natura erreichen. Die scheinbare Symbiose von Platon und Aristoteles im Hinblick auf die Wichtigkeit der Natur ist durch das demiurgische Element platonisch überformt. Und genau aus dieser Konstellation leitet sich mit Hinblick auf die Proportion der Wissenschaftscharakter der Architektur ab. Man könnte kunstphilosophisch die oben erwähnte Symbiose von Vorgabe und Baupraxis als Symbiose der philosophischen Konzepte von Platon und Aristoteles buchstabieren! 1555 wurde in Vicenza die Accademia Olimpica gegründet. Sie war eine humanistische Akademie zur Förderung des uomo universale. Mathematische Studien gehörten ebenso zum Curriculum wie die Lesung und Diskussion der Werke Platons und die Kritik des Aristoteles. Die Akademie war fest in platonischer Hand. Neben theoretischen Diskussionen fanden Theateraufführungen statt. Dazu wurde 1580 der Grundstein eines eigenen Theaters, des teatro olimpico, das Palladio geplant hatte, gelegt. Es war der »erste feststehende, nachantike Theaterbau« und als Versuch, »to translate the spatial structure of the open-air-Roman theater into an enclosed architecture« eine Vermittlung der Antike an die Neuzeit. So wurde etwa diese Vorlage für die Hofoper im Schloss Versailles übernommen. Palladio starb sechs Monate nach Baubeginn. Palladios Œuvre, Kirchen, Palazzi, Loggien, Bögen, Brücken (Bassano), Theater, Städteplanungen, Villen, ist – wie schon gesagt – tief verwurzelt in der Tradition der Antike, im Geiste Vitruvs, Albertis und in den Erfahrungen der Humanisten. Für die Schönheit wiederum rekurrierte er auf Albertis Körpermetapher, die das Gebäude als Korrespondenz aller Teile definierte. Das bedeutete gleichzeitig, dass sie ein mathematisches Phänomen war: Sie »ergibt sich aus der schönen Form und

Geometrie

7.1.

Kruft 1985, 96

Accademia ­Olimpica

Kohl Jeanette in Toman 2007b, 159 Winton 2013, 115 Karn Peter Georg in Toman 2009, 64

7.3.2.2.

496

Die Renaissance

Palladio 1570, 33 III.3.4.3. Dekor

Wittkower 1949, 83–87

Palladio 1570, 285

kunst­ philosophische Theorie

Ebd., 283

Wittkower 1949, 25 Palladio 1570, 359

aus der Entsprechung des Ganzen zu den Teilen, der Teile untereinander und dieser zum Ganzen, sodass ein Bau wie ein ganzer, wohlgestalter Körper erscheint, in dem ein Glied dem anderen entspricht und alle Glieder notwendig dem entsprechen, was man vorhat.« Anders gesagt: Architektur erhält ihre Güte durch das Nützliche (utilità), das Beständige (perpetuità), Angenehme (commodità) und die Schönheit (bellezza). Das sind die vitruvianischen Charakteristika. Rudolf Wittkower wies an der Palladio-Fassade der vom Florentiner Jacopo Sansovino (er hieß eigentlich Jacopo Tatti, erbte den Künstlernamen von seinem Lehrer Andrea Contucci aus Monte San Savino, deshalb Sansovino genannt) gebauten Kirche San Francesco della Vigna (Venedig) eine pythagoreische Harmonie nach. Dieses Prinzip bedeutet auch, dass die inneren Raumvolumina jeweils dem äußeren Aufbau und dieser wiederum der Umgebung entsprechen müssen. Das Dekor ist dabei ein reines Schmuckelement und austauschbar. Palladio war der Verzierung gegenüber nicht abgeneigt, sie musste sich aber der Architektur unterordnen. Wo sie dominant die Architektur konkurrenzierte, lehnte er sie ab. Der Bauschmuck war dazu da, Würde und Ansehen des Besitzers auszudrücken. Im Übrigen fielen seine Kirchengestaltungen im farbfreudigen Venedig durch das klare Weiß auf. Es gibt keine angemessenere Farbe für den Tempel als das Weiß, dessen Reinheit Gott »wohlgefällig« sei. Vermutlich war das weniger ein Reflex auf die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils, als die Üblichkeit der gesamten Renaissancearchitektur. Auch für Profanbauten wurde die Klarheit der schlichten Farblosigkeit bevorzugt. Über die reiche illusionistische Ausmalung der Villa Barbaro in Maser durch den von Daniele Barbaro bewunderten Paolo Veronese schwieg er sich beredt aus. Noch unpassender müssen die Malereien der Villa Rotonda in Vicenza durch Alessandro Maganza, vor allem aber die illusionistischen (damit den Raum verändernden) barocken Fresken von Ludovico Dorigny erscheinen. Die Architekten wollten das klare Weiß der Wände, die Humanisten aber verlangten nach allegorischem Bildschmuck, der die Bildung des Besitzers anzeigte. Palladios kunstphilosophische Theorie basiert auf der Proportionslehre. Er beschrieb den Tempel hymnisch nach dem Vorbild Albertis. Auch er sah im Kreis und – nachgeordnet – im Quadrat jene vollkommenen Figuren, die »einfach, gleichförmig, ausgewogen, stark und geräumig« sind. Der Tempel ist daher rund zu bauen, er ist »ohne Anfang und Ende« und er veranschaulicht »das unendliche und unveränderliche (uniformità) Wesen Gottes und seine Gerechtigkeit […].« Hier wiederholt sich unter anderen Vorzeichen (jetzt auf den Zentralbau bezogen) die Makrokosmos-Mikrokosmos-Gleichung des Mittelalters. Rudolf Wittkower sah darin das »Credo der Kirchenbauer der Renaissance: für sie ist die Zentralbau-Kirche, dieses Gebilde aus Menschenhand, ein Abglanz und Widerhall von Gottes Weltall, […].« Der Tempietto Bramantes war für Palladio das Beispiel einer maßgerechten, schönen Architektur. Palladios einziger, allerdings durch die klassische Tempelfront stark fassadenorientierter sakraler Zentralbau ist der frei auf einem Sockel stehende Tempietto Barbaro in Maser. Dieser Kirchenbau, Palladios letzter Auftrag, hätte auch bei Alberti großes Lob gefunden. Allerdings ist, wie schon gesagt, bei Palladio die-

497

Die Architektur der Renaissance

se Verehrung der idealen Geometrie nicht nur eine Angelegenheit für den Kirchenbau, sondern genauso für die profane Architektur, insbesondere für den Villenbau. Kulturgeschichtlich reicht der Villenbau zurück in das 2. vorchristliche Jahrhundert und den römischen Patriziervillen, die in Vitruvs Werk ihren Niederschlag fanden. Die Wiederentdeckung Vitruvs lieferte auch die Vorlage für den Villenbau, den sowohl Alberti als auch später Vincenzo Scamozzi theoretisch reflektierten. Palladios großartige Wiederbelebung dieses Genres – es gilt gemeinhin als der Architekt der Villa – verdankt sich vielleicht auch einem historischen und kulturgeschichtlichen Schnittpunkt. Der Erfolg Vasco da Gamas, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben, war für Venedig nach dem Fall Konstantinopels an die Türken besonders fatal. Das Monopol der Gewürzimporte, Grundlage des Reichtums der Serenissima, war in Gefahr geraten. Die Geschäfte drohten nun andere zu machen. »Um 1500 brachte das Seereich keine Gewinne mehr: Die Kosten fraßen alle Erträge auf. Der Besitz auf dem Festland hingegen erwirtschaftete jährlich über 200 000 Dukaten Überschuß.« Dazu kam, dass die oberitalienischen Stadtrepubliken ihren Einflussbereich sukzessive ausweiteten, was schon seit einiger Zeit dazu geführt hatte, dass Venedig auf dem Festland energischer auftrat. Spätestens um 1500 wurde Venedig die Wichtigkeit der Terraferma zur Versorgungssicherheit endgültig bewusst. Die Stadt begann eine ehrgeizige Expansionspolitik, die wiederum den Papst sowie Frankreich, Spanien und Österreich aufschreckte. Die von Venedig beherrschten Städte wurden befestigt und mit massiven Stadtpalästen ausgestattet – viele von ihnen gehen auf Palladios Planungen zurück. Die Ent- und Bewässerung der gewaltigen Ackerbauflächen auf der Terraferma wurden unter dem Dogen Andrea Gritti in Angriff genommen. Er hatte vorher längere Zeit als Diplomat im osmanischen Konstantinopel gedient. Etliche Venezianer investierten auf dem Festland und legten dadurch »einen Grundstein für das Phänomen der Villeggiatura«. Wollte man die Villeggiatura mit Stadtflucht übertragen, wäre das Phänomen nur unzureichend beschrieben. Die Villeggiatura, zunächst aus Versorgungsnotwendigkeit geboren, erhielt durch Humanisten wie den venezianischen Adeligen Alvise Cornaro eine metaphysische Überhöhung. Er knüpfte in seinem eigenen Architekturtraktat (Trattato dell’Architettura; um 1555) bei den idealisierenden Darstellungen der Landwirtschaft antiker Autoren an und sprach von »heiliger Landwirtschaft« (santa agricoltura). Cornaro war an der Landmelioration beteiligt und er schrieb auch erstmals über die Sanierung alter Gebäude. Zwar gab es ältere Literatur zum Leben auf dem Lande, die Auswirkungen auf den Villenbau andernorts (Florenz, Rom, Dalmatien) hatten, etwa vom Bologneser Pietro de’Crescenzi, Jurist aus Bologna (De ruralium commodorum), von Agostino Gallo aus Cadignano (Le dieci giornate della vera agricoltura e piaceri della villa) oder bereits von Petrarca, aber für Palladio und die Eigenart der oberitalienischen Villen war die Diskussion im Umfeld der zeitgenössischen Humanisten wichtig. Die Villa suburbana und die Landhaus-Villa konnten der Landwirtschaft im engeren Sinn dienen oder sie waren – einem idealisierenden humanistischen Ideal verbunden –ländliche, arkadische Akademien. Trissinos Villa, bei der Palladio als Steinmetz gearbei-

Villenbau

Roeck 2017, 550

Wundram/Pape 1988, 50

Ebd., 126

Günther 2009, 168–178

498

Die Renaissance

451 Palladio, Villa Barbaro; Maser 4.1.

Pevsner 1943, 226

Wundram/Pape 1988, 88–97

Wundram/Pape 1988, 118–133; Puppi 1973, 41

Mitchell 1990

Oechslin 2008, 87ff, 92ff

Muscheler 2009, 148

tet hatte, wurde zur Accademia Trissiana hochgerüstet. Es war eine Verbindung von Klosterleben und griechischer Philosophenschule, wo den Schülern aus dem Studium der antiken Sprachen auch bürgerliche Tugenden vermittelt werden sollten. Sie entsprachen dem Bildungsanliegen des Humanismus und widerlegen auch die hin und wieder in der Forschungsliteratur vertretene Meinung, dass der Humanismus in der Spätrenaissance zu Ende gegangen sei. Für die Architektur stellte sich die Aufgabe, die Bauten harmonisch in die Landschaft einzufügen, ja die Landschaft zu einem Teil der gesamten Architektur zu machen. »In Palladios Landhäusern ist zum ersten Male die Architektur in ihrer engen Beziehung zur Landschaft verstanden und dementsprechend gestaltet worden.« Dabei galt (zum Unterschied zur eher unauffälligen Stadtvilla), dass nach Alberti die Villa auf einer Anhöhe sichtbar sein sollte (tota se facie videndam obtulerit laetam). Palladio übernahm das, denn eine solche Lage sei gesund und schön. Zwischen 1550 und 1560 baute Palladio eine (im Werkverzeichnis Palladios wichtige) Villa für einen Nachfahren des Alvise, Giorgio Cornaro, in Piombino Dese in der Nähe von Padua. Die Villa Cornaro, deren Eingangsfassade sich kaum von einer Kirchenfassade unterschied – Palladio hielt die antike Tempelfront für eine Weiterentwicklung der antiken Wohnhaus-Fassade, daher eignete sich diese seiner Meinung nach auch für die Villa – war grundsätzlich der vita activa und contemplativa gewidmet. Diese Version erhielt in der Anlage der Villa in Maser für Daniele und Marcantonio Barbaro einen grandiosen Ausdruck. Es ist außerdem eine Verwirklichung der Proportionsthese Barbaros und Albertis, nach der die Stadt einem großen Haus, und das Haus einer kleinen Stadt gleiche. Einige Aufregung in der Palladio-Forschung verursachte das Werk von William J. Mitchell und seine These, dass Palladio bei seinen Villen mit einem strengen Rastersystem gearbeitet habe. So wie später Nicolas-Louis Durand habe er sich einer computation bedient, die Villen nach grid construction rules entworfen. Für Palladio ist dieser These deutlich widersprochen worden. Werner Oechslin etwa parierte das mit dem Wort Husserls vom »geistigen Hantieren in der geometrischen Welt« und unterschied eine deutliche Differenz zwischen Palladio, seinem ars-und Sinnlichkeits-Verständnis, und Durands nun wirklicher Raster-Architektur. Die als Alterssitz für den humanistischen Prälaten Paolo Almerico, einen Diplomaten des päpstlichen Hofs, gebaute La Rotonda ist weniger eine Villa rusticana als eine Villa suburbana. Der freistehende erhöhte kompakte Zentralbau mit Tempelfront, Loggien und Kuppel hat eine Nähe zum Pantheon, das für Palladio eines der vollkommensten Gebäude war. Reichhaltiger figuraler Schmuck war eine gewünschte Visitenkarte für diesen »Wohntempel eines humanistisch gebildeten Edelmannes.« Die Rotonda dürfte das am häufigsten kopierte Haus der Architekturge-

499

Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

schichte sein und hat dementsprechend den Ruhm Palladios über die Geschichte hinweg gesichert. In vielen Eigenheiten seiner architektonischen Lösungen wie der Aufhebung definierter Raumgrenzen oder dem Auseinandertreten von realen und optischen Räumen erkennen Kunsthistoriker bei Palladio bereits den Weg in den Barock. Insbesondere der Villenbau steigerte seine Dimensionen im Barock nochmals beträchtlich. Aus Villen wurden Paläste.

8.0. Der Ausklang der Renaissance im Manierismus Die Epoche der Renaissance, die trotz der verbreiteten Ablehnung des Mittelalters doch vieles mit diesem gemein hatte, wenn man vom Mittelalter streng scholastischer Syllogistik absieht und jenes der mönchisch-klösterlichen, neuplatonisch gefärbten Tradition heranzieht, endete nicht abrupt. Die Renaissance glitt vielmehr in eine Landschaft differenzierter Stilformen, den Manierismus und den Barock. Der Manierismus wurde ein gesamteuropäisches Phänomen, er schloss die vielgestaltige Renaissance als eine nochmals verbindende Form ab. Der Begriff geht auf Vasari zurück, der ihn in mehrfachem Sinn benutzte. Er verband damit eine Periodenbezeichnung (maniera moderna), eine Stilbezeichnung (maniera tedesca, gemeint die Gotik) sowie individuelle Stilbezeichnungen von Künstlern, insbesondere für den Spätstil Michelangelos (maniera di Michelangelo). Der Gebrauch des Begriffs war ursprünglich neutral, kippte aber bei Vasari, noch stärker bei Bellori, ins Negative und meinte einen Niedergang der Kunst. Diese negative Bedeutung blieb vom 17. bis ins 19. Jh. vorherrschend. Als Epochenbezeichnung, die im Wesentlichen die Kunst der zweiten Hälfte des 16. Jh.s umfasste, soll der Begriff erstmals vom französischen Kunst- und Architekturtheoretiker Roland Fréart de Chambray in seinem Werk Idée de la perfection de la peinture (1662) benützt worden sein. 1792 wurde der Begriff von Luigi Lanzi für die Maler der Zeit nach Leo X. angewandt. In der kunsthistorischen Rezeption stand der Manierismus für die Krise einer hochstehenden Kunstepoche und wurde stets mit Anti-Klassik verbunden. Vor solchem Hintergrund war es wiederum die Wiener Schule, die neben der Spätantike auch den Manierismus vom Makel eines Verfallsbegriffs befreit hat. Namentlich Alois Riegl sah in der Abweichung von der Klassik, in der Störung eines harmonischen Systems, ein bewusstes Kunstwollen am Werk. Die Forscher des Warburg-Instituts setzten den Manierismus in den Plural und sahen manieristische Tendenzen nach jeder klassischen Periode, zumal klassischen Perioden zumeist nur kurze Dauer zukam: »Die Epochen der klassischen Kunst, der vollkommenen Beherrschung des Lebens durch die Disziplin der Formen, der vollständigen Durchdringung der Wirklichkeit mit Ordnungsprinzipien und des restlosen Aufgehens des Ausdrucks in Wohllaut und Schönheit, sind von verhältnismäßig kurzer Dauer.« Wie die Renaissance kann man demnach auch den Manierismus in den Plural setzen als die andere Seite jeder Klassik. Von einem Manierismus in der

Battisti 1970, 192

IV.1.0.

Hauser 1964, 4

500

Die Renaissance

IV.2.0.

III.2.1.3.2./III.2.4.3.2.5./ IX.3.4.1.

VIII.2.2.f.

Gombrich, zit. nach Hofmann 2004, 92

Wölfflin 1888, 79

Hauser 1964, 5

spätantiken Kunst war bereits die Rede. Aby Warburg und Ernst Gombrich fanden bereits in den vordergründig makellosen, dem Idealschönen verpflichteten Renaissancebildern Störungen des klassischen Kanons. Mit viel Nietzsche im Gepäck, deutete Warburg die Fruchtträgerin, die in Domenico Ghirlandaios Geburt Johannes des Täufers in das klassische Ensemble stürmt, als Einbruch eines »elementaren Lebenswillens« und als Verletzung der ausgewogenen Harmonie der Renaissance. Solche Beobachtungen lassen die Frage drängend erscheinen, wie statisch und von ruhiger Harmonie getragen die Renaissance wirklich war. Die Betrachtung des Paradigmas des demiurgischen Prozesses böte dafür Hilfen, insofern darin sowohl eine (zielgerichtete) Dynamik als auch das harmonische Ergebnis formuliert wurde. Der Manierismus wäre dann deutlich darüber hinausgegangen, zugunsten von Anleihen beim destruktiven Prozess des Phanes/Eros. Wer den Manierismus nicht mehr als Verfall, sondern als Ausdruck eines bewussten Kunstwollens interpretiert, muss erst recht den Künstlern der Spätrenaissance eine reflektierte Opposition zu einer ontologischen Schönheitsauffassung unterstellen. Diese Künstler seien sich der Relativität der Schönheit bewusst gewesen. Erst auf einer solchen Reflexionsstufe konnte über die Norm gestritten werden. So gesehen fanden die Renaissance im Klassizismus, der Manierismus hingegen dann spätestens im Bewegungsmuster des 19. Jh.s ihre Fortsetzungen. In der Tat legte man ausgerechnet jetzt den Grundstein für die Kunstakademien, die sich im Weiteren zu konservativen Wächtern des Idealschönen aufschwangen – genau im Moment von kalkulierten Regelverletzungen. Kunst und Gegenkunst lösten sich im Manierismus nicht in einer Harmonie auf, sondern führten zu einem erweiterten Kunstbegriff. Ernst Gombrich sprach in seinen umfangreichen Forschungen zum Raffael-Schüler Giulio Romano (Giulio Pippi) und dessen antikisierenden und humanistisch-rätselhaften Fresken im Palazzo del Tè (Mantua) von »gestörter Form«, die zur »Intensivierung des Ausdrucks« diente. Die Moderne war für Gombrich Glied eines Kontinuums, ähnlich wie Warburgs Bildatlas Geschichte als ständigen Palimpsest wahrnahm. Der Manierismus war jene Achsenzeit, in der ein Umkippen der idealen Proportion der Renaissance in die dynamische Sprengkraft des Barock geschah und er ist sicherlich nicht ohne Kontextualisierung zu verstehen. Einmal zeigte sich in ihm die konsequente Befreiung der Meister der Spätrenaissance aus den Fesseln der mathematischen Regeln. Was mit der konstruierten Perspektive als Befreiung aus der Starre der maniera greca begann, wurde nun selbst zum Fetisch, der abgestreift werden musste. Schließlich begann mit dem Manierismus eine Dynamisierung in der Kunst, ein Aspekt, unter dem sich Manierismus und Frühbarock kaum mehr unterscheiden lassen. »Die Renaissance musste absterben, weil sie den Pulsschlag der Zeit nicht mehr wiedergab, nicht mehr das aussprach, was die Zeit bewegte, was als das Wesentliche empfunden wurde.« Freilich kann man auch die Meinung nachvollziehen, dass erst auf dem Hintergrund einer dynamischen Kultur, die »alle Fermente des sich auflösenden Mittelalters und der bevorstehenden Krise des eben erst errungenen Gleichgewichts in sich trägt, eine eindeutige Klassik überhaupt möglich ist.« So gesehen

501

Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

8.1. Manierismus in der bildenden Kunst und der Streit um die Nachahmung Anders als nach Vasaris Dekadenzthese könnte man den Manierismus als Antwort der Künstler auf die Not sehen, jenseits des unbestrittenen Höhepunktes mit den großen Meistern der Renaissance, Michelangelo, Tizian, Leonardo, Raffael in der Zeit zwischen 1490 und 1530 etwas Neues zu tun. Die Perspektive war inzwischen Allgemeingut, die Kultur der Antike war gut bekannt und die Proportionen waren mit mathematischer Perfektion durchgearbeitet. Die Farbigkeit war zurückhaltender geworden und formal dominierte klare Gliederung. Die Hochrenaissance bedeutet einen Stil, der »sich als Erfüllung und Vollendung von den vorbereiten-

452 Maria Himmelfahrt von Tizian (1518), Frari­Kirche; Venedig



wäre die Kultur der Renaissance schon grundsätzlich eher Manierismus als ruhige Ausgewogenheit und Harmonie. Wie auch immer, jedenfalls war der Manierismus ein Scharnier von der Renaissance in den Barock. Er will »sowohl die Überwindung als die Fortführung der Renaissance […].« Und wenn die Renaissance als jenes »schöne Gleichgewicht« angesehen wird, »in dem für einen Augenblick die Welt den Atem angehalten zu haben schien […]«, dann musste diese Welt irgendwann wieder zu atmen und zu leben begonnen und sich damit aus der unnatürlichen Erstarrung wieder gelöst haben. Dem Ausdruck nach ist die Kunst des späten 16. Jh.s melancholisch und tiefgründig, sie zeigt eine »esoterische, zweideutige, phantastische, verderbte, obszöne Seite«. Die verborgene Symbolik entschlüsselt sich weniger aus der Luzidität des Lichts, sondern aus der Vielfältigkeit des Schattens. Man könnte darin eine Gegenbewegung zur Rationalität und Wissenschaftlichkeit, auf die man im Umkreis von Florenz so viel Wert gelegt hatte, sehen. Vielfach wird auf das politische Umfeld der heftigen zeitgenössischen Konflikte hingewiesen: 1527 verwüstete der Sacco di Roma die Stadt, viele Künstler flohen nach Oberitalien. Sie führten ein rastloses Wanderleben, immer auf der Suche nach Aufträgen. Besonders in Venedig gab es nach den Angaben von Vasari einen lebhaften Künstlerwettbewerb. In einer außergewöhnlichen Ausstellung im Museum of Fine Arts in Boston 2009 wurde eine solche (nicht nur mit sauberen Mitteln ausgetragene) Rivalität zwischen den drei bedeutendsten Malern des 16. Jh.s in Venedig, Tizian, Tintoretto und Paolo Veronese, eindrucksvoll dokumentiert. Reformation und beginnende Inquisition erschütterten die christliche Welt. Der Manierismus hat demnach auch etwas von einer Rebellion gegenüber der »ideal überhöhten reinen Welt.« Dazu kamen die neue Spiritualität eines Filippo Neri, Karl Borromäus, Johannes vom Kreuz und seiner geistlichen Freundin Teresa von Ávila, die so ganz der schwülen Inbrunst und der dramatischen Dynamik manieristischer Darstellungen entspricht. Vom Manierismus ist mehr in der Malerei als in der Architektur die Rede. Das hat einerseits mit der offensichtlichen Auffälligkeit der Veränderungen zu tun, andererseits aber auch mit der Forschungslage, die das Augenmerk bislang mehr auf die bildende Kunst gerichtet hat.

Panofsky 1924, 114 Wundram Manfred/ Hubala Erich in BSG V, 199 Battisti 1970, 10

Wundram 2004, 36

502

Die Renaissance

Rauch Alexander in Toman 2007b, 308

Jung Wolfgang in Toman 2007b, 137

453 Loggia Raffael, Villa Farnese (1511); Rom

Belting 2008, 254

1.0. Streit um die ­Nachahmung

Pochat 2009, 387

den Stufen der Proto- oder Frührenaissance absetzt und der – im Prinzip – kein ›Danach‹ mehr duldet.« Die Hochrenaissance war eine zwar kurze, aber mächtige Bewegung geworden. Sie war nicht mehr Sache einiger toskanischer Städte, sondern sie richtete sich von Rom aus an die »Welt«. Nach der endgültigen Rückkehr der Päpste aus Avignon 1417 gewann Rom vor allem unter dem der Prachtentfaltung zugeneigten Julius II. und dem Sohn des Lorenzo de’ Medici, Leo X., als dessen Wahlspruch hartnäckig kolportiert wurde: »Da Gott Uns das Papstamt verliehen hat, lass es Uns genießen«, wieder die alte imperiale Stellung zurück. Leo trieb Rom zu neuer Blüte, die vatikanischen Kassen jedoch zugleich in den Ruin. Die großen Meister hatten allerdings selbst bereits das klassische Schönheitsideal der Renaissance originell und kreativ durchbrochen. Michelangelos Deckengemälde der Sixtina sind emotional hoch aufgeladen, die Figuren brechen aus dem Bildraum aus. Er, der auch Bildhauer war, malte illusionistische Architektur, die in den Raum expandiert. Bei Jan van Eyck findet sich das erste Selbstbildnis der Kunstgeschichte – sozusagen der introspektive Blick der Renaissance. Parmigianino bildete sich selbst in einem Konvexspiegel ab und setzte damit einen Hinweis auf das Mitspielen des Subjekts bei der Imitation der Natur. Hans Belting nennt dieses Bild einen »Sieg des neuen Narziss über die einstige Quelle seines Irrtums«. Es ist ein Werk des anhebenden Manierismus. Tizian (Tiziano Vecelli) aus dem Cadore-Tal im Trentino, ein Künstler, dem höchste Bewunderung zuteil wurde, scherte sich nicht mehr um die strengen Regeln der Komposition und Perspektive. Er steht für den Übergang in den Barock und unterstreicht das, was Fernand Braudel gemeint hat, wenn er die Renaissance als Epoche sah, die erklärt, wie und warum sich die Kultur Europas veränderte. Die Quelle dieser Entwicklung war der Streit um die Nachahmung. Dieses Thema blieb von da an über Jahrhunderte Gegenstand an- und aufgeregter Debatten. Wir erlebten bereits mehrfach, wie die scheinbar widersprechenden Positionen aufeinander prallten. Einerseits sah man in der Nachahmung des idealen klassischen Vorbilds ein Bollwerk gegen die Barbarei. Das vertrat der bereits erwähnte Paolo Cortese. Demgegenüber stand Angelo Poliziano für die gegenteilige Meinung: Sklavische Imitation entspräche der passiven Reproduktion von Papageien. Dichter und Künstler stünden im Licht göttlicher Inspiration und daraus entspringe ihre Freiheit. Es sei der Geist, der die Malerei von einem Handwerk zu einer Kunst erhebe. Von Tintoretto wird berichtet, er habe sich Knetfiguren an die Decke gehängt, damit er sie von unten studieren konnte. An die Stelle der wahren Natur traten von Hand (manus) gemachte Knetfiguren! Der Streit um die Naturvorlage wiederholte sich

503

Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

mehrmals, so auch um 1513 in einem Briefwechsel zwischen dem venezianischen Humanisten und Kardinal Pietro Bembo und Gianfrancesco Pico della Mirandola, dem Neffen von Giovanni Pico della Mirandola. Während Gianfrancesco an die Stelle sklavischer Nachahmung die Inspiration setzte, ging es Bembo um den Stil. Dafür müsse man sich an den großen Vorbildern, Cicero und Vergil, orientieren. Das Vorbild diene als Auslöser dafür, das ingenium des Künstlers in Bewegung zu setzen, um das Vorbild zu übertreffen. Der Einfluss Bembos, dessen Brief an Pico 1530 unter dem Titel De imitatione erschienen war, ist durchaus hoch einzuschätzen und es drückte sich darin der Gestaltungswille eines dezidierten Stils (maniera) aus, der sich durch die Brillanz handwerklicher Sauberkeit auszeichnete. Gelegentlich sprachen Zeitgenossen im Hinblick auf seinen verfeinerten literarischen Stil von Bembismo. Schönheit hat in solcher Sicht (aristotelisch) eine empirische und sinnliche Basis, als Eigenschaft der Dinge der sichtbaren Welt. So war es bereits bei Michelangelo zu lesen. Als Beispiel wird gerne auf den Realismus der venezianischen Kunst verwiesen. In den Schülerkreisen der großen Meister verschrieb man sich zunächst der Treue zur »Manier« der Meister. Aber diese Manier war eben nicht so klar einzuordnen. Zudem gab es die Bestrebung, die Meister zu übertreffen. Dies, indem man das Thema akademischer und komplizierter machte und durch bewussten Bruch der Harmonie mit Überraschendem aufwartete. Der Begriff versammelte in dieser Weise die drei oben angedeuteten Bedeutungen, neutral als die jeweilige Art und Weise, wie man malte und meißelte, negativ als Klage eines Niedergangs und positiv als Würdigung einer Neuadjustierung. Gemeint war damit das überfällige kreative Aufbrechen der Erstarrung eines Formenkanons. Peter Burke sagt zu Giulio Romanos Malereien im Palazzo del Tè des Federico Gonzaga II. in Mantua: »Ein solcher bewußter Regelverstoß, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich ist, rechnet mit Betrachtern, die so gebildet sind, daß sie die Regeln kennen, entsprechende visuelle Erwartungen hegen und einen Schock erleben, wenn diese Erwartungen enttäuscht werden; mit Betrachtern, die diese Schockempfindung aber genießen, vielleicht weil sie der Regeln durch lange Vertrautheit mit ihnen überdrüssig geworden sind.« Heinrich Wölfflins Urteil über den Bau hingegen war deutlich negativ. Romano fehle jedes architektonische Gewissen, »alles weicht aus den Fugen und das Chaos beherrscht den Raum.« Der Übergang in den Manierismus kündigte sich an durch einen intellektualistischen Anti-Naturalismus, unnatürliche Proportionen, eigenwillige Posen, komplizierte, logisch nicht nachvollziehbare Bewegungen, auffällige Eigenständigkeit der Farben, Verschwimmen von Konturen und das Verschmelzen von Gestalten. Die Manieristen bevorzugten ungewöhnliche Themen und Motive und füllten die Bildflächen zu höchster Dichte. Das unkonventionelle Bild Maria mit Kind und dem Johannesknaben (Madonna mit Hl. Johannes) von Andrea del Sarto, Parmigianinos Madonna mit dem langen Hals oder Tintorettos (Jacopo Robusti) und Jacopo Pontormos dramatische Malerei mit grellen Farbkontrasten sind passende Beispiele. »Auf Tintorettos Bildern fliegen und schwingen alle: Gottvater während der Schöpfung

Burke 1972, 285

Wölfflin 1888, 48 Anti-Naturalismus

504

Die Renaissance

Hülk 2012, 111

Bürger 2012

454 Orkusrachen im »Sacro Bosco« von Bomarzo

Grotesken

3.1.

455 Moses von ­Michelangelo, S. Pietro in Vincoli; Rom

ebenso wie Augustinus bei einer Wunderheilung; der Erzengel Gabriel, der sich der Jungfrau Maria zumeist ehrfürchtig nähert oder demütig vor ihr niederkniet, auch er kommt zur Verkündigung geflogen und versetzt die Gottesmutter in Furcht und Erwartung; nie sah man bei der Ultima Cena zum Sprung ansetzende Füße und einen solchen Aufruhr wie auf Tintorettos Bildern des Letzten Abendmahls, und noch das Kreuz Christi wird durch die Luft herbeigetragen.« Im 19. Jh. entdeckte man (etwa Hippolyte Taine und Jean-Paul Sartre, der ihn als Erfinder des bewegten Sehens feierte) in solcher Kunst Bewegungsmuster, die man dort feierte und sie als Teil des eigenen Befindens okkupierte. Ähnliches ist bei El Greco (Domenikos Theotokopoulos) zu bewundern. Der aus dem noch immer mittelalterlichen Kreta stammende Mönch behielt diese Erfahrungen auch bei seinen Aufenthalten 1566 in Venedig, später in Rom und dem mittelalterlichen katholischen Toledo. Er malte in kühner Dramatik – an Tintoretto geschult – unter Missachtung der naturtreuen Formen diese Unproportioniertheit im Sinn eines mystischen, inbrünstigen Glaubens. Vielleicht tat er, der ehemalige Ikonenmaler, der nie der Zucht einer geometrisch konstruierten Perspektive unterlag, sich dabei sogar leichter. Die neu aufbrechende Mystik am Beginn der Neuzeit tat ein Übriges und war sicherlich eine der treibenden Kräfte des Manierismus. Ein beliebtes Architekturelement der ins Manieristische kippenden Renaissance waren Grotten. Palladio und die späteren Barockarchitekten fügten in die Gärten vieler Landhäuser und Ansitze solche Grotten ein mit skurrilen Malereien, die man dann Grotesken nannte. Sie erinnerten an die antiken Malereien, die man in den labyrinthartigen Gängen im Haus Neros gefunden hatte. Vicino Orsini schuf sich beim Felsenschloß Bomarzo eine phantasievolle Kunstlandschaft mit rätselhaften bizarren Monumentalfiguren und antikisierenden Architekturen aus vulkanischem Peperin-Gestein. Natur und Kunst wurden ununterscheidbar. Auf Giuseppe Arcimboldos allegorische Bilder des Kuriosen und Widernatürlichen wurde bereits hingewiesen. Viele Zeitgenossen waren ähnlich aufgebracht wie Kunsthistoriker des 19. Jh.s und klagten über »Entartung« und »kranke Gehirne«. Wie schon gesagt, bildete der Manierismus eine verbindende europäische Klammer. Nördlich der Alpen trat er in Deutschland mit Lucas Cranach oder Hans Baldung Grien hervor, in den Niederlanden mit Maarten van Heemskerck und Pieter Brueghel dem Älteren. Brueghel entwarf etwa in seinem Gleichnis von den Blinden eine harte Gegenthese zum Optimismus des Humanismus. Analoges gilt für die Skulptur. Auch hier war Michelangelo ein Wegbereiter. Die Erregung des Moses am Julius-Grab gab schon Freud Stoff für eine ausführliche Analyse. Neben der Dynamik und der Aufhebung einer Schauseite der Figur zugunsten einer Freistellung, welche die Skulptur von allen Seiten betrachten ließ (z.B. Giambolognas Raub der Sabinerin), entstand der Hang zum Preziösen (Cellinis Salzfass).

505

Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

8.2. Manierismus in der Architektur Neben der immer noch unbefriedigenden Forschungslage, den Manierismus in der Architektur betreffend, gibt es eine weitere Schwierigkeit. Anders als in der durch die Perspektive streng organisierten Malerei zeichnete sich die Architektur der Renaissance von Anfang an durch einen kreativen und freien Umgang mit den Bauelementen der Antike aus. Dabei kam es ständig zu Brüchen des klassischen Ideals. Wenn Alberti in seiner Paradekirche Sant’Andrea Tempelfront und Triumphbogen miteinander verschmolz, ist das eine Verletzung des klassischen Formenkanons und man könnte nicht zu Unrecht bereits hier, in einem der »Gründungsbauten der abendländischen Architektur«, von einem beginnenden Manierismus sprechen: »Albertis Verschmelzung von zwei Bautypen, die im Altertum immer getrennt auftreten, ist durchaus unklassisch und bereitet den Weg für den Manierismus […] vor.« Es ist daher zwar richtig, den Manierismus stets in Abhebung zu einer Klassizität zu definieren, aber schon viel schwieriger ist es, diese eindeutig festzumachen. »Die nachahmenden Künste haben in ihrem Objekt immer einen Standard, der sich verfremden lässt. Das Motiv dafür ist wesentlich rhetorisch.« Und: »So verfährt Ironie.« Neben solcher Kanonisierung und Verletzung von Form ist ein weiteres Motiv die Aufhebung der klassischen Statik der ausgewogenen Proportion zugunsten des Dynamischen. Im manieristischen Baustil, der in Rom und Florenz entstand, verlieren die Gebäude ihre klare Ordnung. Die einzelnen Bauteile oder Geschosse stehen nebeneinander, ohne auf ein gemeinsames Ganzes ausgerichtet zu bleiben. Mit Thomas von Aquin könnte man den Verlust der integritas konstatieren. Das dynamische Element, das später den Barock kennzeichnen wird, kommt durch gekrümmte Fassaden zum Ausdruck. Der Palazzo Massimo alle Colonne in Rom (1535) von Baldassare Peruzzi besticht durch Raffinesse, Kreativität und »intellektuelle[n] Witz«, ja durch Virtuosität, aber nicht mehr durch die würdevolle Ordnung und die »kraftvoll entschiedene Festigkeit«, welche die großen Renaissancepaläste auszeichneten. Der Stil wurde bereitwillig in Norditalien und nördlich der Alpen übernommen. Ausgehend von Gulio Romanos Meisterwerk, dem Palazzo del Tè in Mantua (1525– 1535), veränderte Michele Sanmicheli das Stadtbild Veronas und Sebastiano Serlio, ein wichtiger Theoretiker des Manierismus, baute in Bologna. Mit Serlio wanderte der Manierismus nach Frankreich. Daneben verbreitete er sich im gesamten Raum nördlich der Alpen. Insbesondere der Palazzo del Tè fand zahlreiche Nachahmer in Deutschland, Österreich, Böhmen. Besonders interessant und für den Stilanalytiker diffizil sind die manieristischen Architekturformen, die im Norden auf die Auflösung der Flächen eines spätgotischen Vokabulars treffen. Wie viele Architekten, die als Maler oder Bildhauer begonnen hatten, war auch Michelangelo spät zur Architektur gekommen. Sein erstes Bauwerk war das Familienmausoleum der Medici in der von Brunelleschi gebauten Kirche San Lorenzo. Diese Kapelle war auf reiche bildhauerische Ausstattung hin entworfen, während es in Lesesaal und Vorraum der Biblioteca Laurenziana in Florenz davon nichts gab. Die

456 Darstellung aus der Sala dei Cavalli, Palazzo del Tè; Mantua Wittkower 1949, 48

Lücke 2008, 19

V.7.2.2.6.2. Borsi Stefano in Bussagli 2007, 403 Pevsner 1943, 218 Palazzo del Tè

Eser 2007, 453f

506

Die Renaissance

Pevsner 1943, 229

VII.3.3.

Thematisierung des ­Prozesselements

Ebd., 231

VII.4.2 III.2.4.ff.

VIII.5.3.1./IX.3.8.1.

Pevsner 1943, 218

Architektur der Bibliothek verstößt gegen die klassischen Regeln und ist auf emotionale Empfindungen ausgelegt. Sie gilt als ein typisches Beispiel manieristischer Architektur. »Wir erkennen in ihr die Gestaltung einer Dissonanz ohne Ausweg, eines Ringens ohne Hoffnung auf Erlösung, eine Baukunst, die als ein Ausdruck vergeblichen Mühens weit tragischer ist als die der Barockzeit, welch letztere den Kampf zwischen Geist und Materie, zwischen Form und Unform stets mit dem triumphalen Sieg des geistigen und ordnenden Prinzips aufgelöst hat.« Nikolaus Pevsners Beschreibung ist eindrucksvoll. Er erkannte namentlich beim Barock einen philosophischen Aspekt, der auf den rationalistischen Hintergrund verweist, also auf die Systemgetragenheit der beständigen Dynamik. Und er sah, wie die Dynamik des Barock zum Unterschied vom Manierismus durch das System domestiziert wurde. Ist demnach der Manierismus eine Bewegung mit weniger Ernst? Ist er vorwiegend die Manifestation einer Befreiung von den strengen Kriterien des Klassischen? Wäre dem so, ließe sich der Manierismus mit mancher Spielart postmoderner Architektur und mit dem Abschied von Systemansprüchen vergleichen, wie sie der Poststrukturalismus vertreten hat, wenngleich die Ebenen der Reflexion unterschiedlich bleiben. Die Thematisierung des Prozesselements, besser gesagt: der Wirkung von Dynamik auf den Betrachter und Besucher ist dabei ein wesentliches Charakteristikum. Die Tendenz, »durch starke Einengung des Raumes Bewegung zu erzwingen«, ist eines der wichtigsten Stilmittel des Manierismus. Dafür sind Vasaris Uffizien (begonnen 1560) in Florenz berühmt. Die – wiederum mit regelwidrigen Details versehenen – Hausfronten bilden einen geradezu unendlichen Raumtrichter mit Sogwirkung und zugleich ein Spiel mit der Perspektive. Die Gebäude Giulio Romanos und Palladios bedeuteten das Ende der Renaissance. Zugleich hob mit ihnen als Gegenbewegung der Klassizismus an. Regelverletzung und Dogmatisierung der Regel gingen Hand in Hand. Klassik bedeutete den Ausgleich der dynamischen Kräfte in einer Harmonie. Bei gleichzeitiger Orientierung an den Formen der Antike stand allerdings der Gedanke der Harmonie im Vordergrund und machte eine Neuinterpretation dieser Formen möglich. Dieser harmonische Ausgleich der Kräfte durchzog die dialektische Tradition der Antike von Heraklit bis Platon. Philosophiegeschichtlich könnte man vom Ergebnis des demiurgischen Weltumbaus sprechen. Es ist der von Adorno so genannte affirmative Anteil der Dialektik, der bei Hegel das System bildete. Der Barock stellte sozusagen den Prozess vor dem Hintergrund einer Systemambition dar. Es wäre dann – kunstphilosophisch betrachtet – nur die Kehrseite des auf System angelegten Barock. Der Klassizismus wiederum ist eine restaurative Nachahmung der Antike, wo die formale Nachahmung wichtiger war als der Gedanke, der dahinter stand. Der Manierismus sprengte dieses Ergebnis durch den Prozess in einer Art von negativer Dialektik. Es ist eine Nachahmung »auf Kosten des eigenen unmittelbaren Ausdruckes und der selbständigen künstlerischen Aussage im entscheidenden Gegensatz zu der freien Rezeption, wie sie die Kunst der Renaissance kennzeichnet.« Der zweifelhafte Höhepunkt des Klassizismus wurde im 19. Jh. erreicht, als man zeitgenössische Gebäude beispielsweise als antike Tempel verkleidete.

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Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

8.3. Vasari, Lomazzo, Zuccaro und die Theorie des Manierismus Eine Reihe von Künstlern und Architekten verfasste Kunsttraktate, welche die Typik des Manierismus einfangen. Vasaris Viten sind davon ebenso geprägt wie Palladios Quattro Libri oder Barbaros Vitruvkommentar. In diesen Werken kommt die Spannung zwischen dem strengen Regel- und Proportionskanon auf der einen und der Befreiung der Künstler auf der anderen Seite zum Ausdruck, wie sie bereits bei den großen Künstlern der Spätrenaissance spürbar war. Letztlich kann man die Entwicklung zum Manierismus an die Frage nach der Naturnachahmung knüpfen. Daneben spielten andere Themen, wie etwa das Verhältnis von Inspiration und Können, eine Nebenrolle. Vasari sah die Kunst als Nachahmung der Natur, die freilich nicht immer ein Vorbild an Schönheit ist. Der Maler muss die Natur also nicht nur nachahmen, sondern sie übertreffen (Superatio), ja geradezu Neues erschaffen. Die Iconologia Cesare Ripas umfasste eine bemerkenswerte allegorische Darstellung des disegno. Ein Mann hält in einer Hand einen Zirkel und in der anderen einen Spiegel. Unschwer lässt sich ableiten, dass das disegno im Abbild der äußeren Welt einen inneren seelischen Zustand reflektiert und ihn nach Regeln der Proportion darstellt. Das führt zur Schönheit, die immer noch Ausdruck der Proportion und des Maßes sei, was eine objektive Gegebenheit ist, die in einem allgemeingültigen subjektiven Urteil nachvollzogen werden kann. Auf Giorgio Vasari, 1511 in Arezzo geboren, und seine unter Mithilfe von Mitarbeitern um 1546 entstandenen, 1550 erstmals (Torrentina) mit 123 und 1568 in einer erweiterten Fassung (Giuntina) mit 163 Viten erschienenen Lebensbeschreibungen der italienischen Künstler (Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti) wurde schon mehrfach Bezug genommen. Für dieses Werk, aus dem das Selbstbewusstsein eines Renaissancemenschen spricht und das ihn in der Rezeption zum ersten Kunsthistoriker der Geschichte gemacht hat, ist er berühmt, während seine künstlerischen Leistungen kaum gewürdigt werden. Neben zahlreichen Malereien wurden die Uffizien, die er für Cosimo de’Medici gebaut hatte, sein architektonisches Meisterwerk. Er selbst stand im Übergang zum Barock. Vasari (ital. vasaio/Töpfer), dessen Name sich aus der Tradition seiner Familie, dem Töpferhandwerk (wofür Arezzo damals berühmt war) ableitete (ursprünglich führte die Familie den Namen Taldi), wurde zum Schöpfer der Kunstgeschichtsschreibung. Grundsätzlich stehen in Vasaris Werk, das nicht nur reiche Anekdoten bietet, sondern auch für manch üble Nachrede berüchtigt ist, die Künstlerpersönlichkeiten im Vordergrund und

457 Fresken in der Villa Farnese; Rom

Giorgio Vasari

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Die Renaissance

Vasari, zit. nach Pfisterer 2002, 102

Panofsky 1924, 106f

nicht die Kunstwerke. Ergänzungen in diesem Sinn lieferte der Florentiner Filippo Baldinucci mit seinen Notizie dei professori del disegno da Cimabue 1624. Er schrieb eine Geschichte des Kupferstichs und der Radierung. Vasari indes ging es auch darum, den Leser durch Hinweise auf Kriterien für Malerei, Bildhauerei und Architektur zu befähigen, die Qualität der Werke zu beurteilen. Eingebettet in ein zyklisches Geschichtsmodell (Hochblüte Antike – Niedergang im Mittelalter – Wiedergeburt in der Renaissance) sah er die Wiedergeburt der Antike bei Cimabue und Giotto, wenngleich noch in unbeholfener Weise. Hier wiederholte sich das zyklische Modell: Auf die Kindheit mit Giotto folgte die Jugend mit Massacio, welche die Regeln und die mathematischen Hilfsmittel für eine echte Naturdarstellung brachten und schließlich die Reife bei Leonardo und Michelangelo mit der gegenüber den reinen Regeln erfolgten Verfeinerung der Darstellung. Ausgang bleibt die Zeichnung (disegno): »Die Zeichnung, der Vater unserer drei Künste, Architektur, Bildhauerei und Malerei, geht aus dem Intellekt hervor […].« Für Vasari zeigt sich die Zeichnung als »eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat, und von dem, was ein anderer sich im Geiste vorstellt und in der Idee hervorbracht hat.« Der wissenschaftliche disegno-Begriff erhielt hier eine Verankerung in der Empirie und der ordnende Geist verschob sich zum Künstlergenie. Erwin Panofsky sprach von einer »Umdeutung des Ideebegriffs im Sinne des Naturalismus […]« und verwies auf die Semantik des »Erworbenseins« oder des »Schöpfens aus der Wirklichkeit«, die bei Vasari auftrat. Das disegno ist gleichsam der Nukleus der weiteren künstlerischen Ausgestaltung, die über die Erfindung (inventione), Vielfalt (varietà) zur Leichtigkeit und Virtuosität der Ausführung reicht. Die Umsetzung des disegno sei geradezu das »Urteil der Seele« des Künstlers. Neben diesem Aspekt der Intellektualität der Kunst (als Wissenschaftlichkeit und als Quelle der Befreiung von Regeln) war Vasari – wie gerade gesagt – die Imitation der Natur wichtig, wobei er gleich hinzufügt, dass die Nachahmung die Natur überbieten könne. Erst die Kunst, also menschliches Handeln, erzeuge durch das richtige Maß die göttliche Anmut. Naturnachahmung sei ein zutiefst geistiger Akt, der in das Wesen und die Gesetzmäßigkeit der Natur einzudringen ermögliche. Disegno geriet hier in eine Rolle, geradezu den Gegenbegriff des klassischen disegno-Verständnisses stark zu machen: die Regelverletzung unter dem Titel einer Manier. Der Begriff der Manier (maniera) war für Vasari wichtig und er meinte damit sowohl den individuellen Stil des Künstlers als auch eine bestimmte Ausdrucksweise von Kunst. Ein ganz »neuer Stil« (la maniera moderna) trete am Beginn des 16. Jh.s auf. Leonardo, Giorgione, Raffael gingen über die Naturvorlage hinaus und schafften Leben, Anmut und eine beinahe erschreckende Bewegung (terribil movenzia). Insbesondere der »göttliche Michelangelo«, sein großes Vorbild als Künstler, mit dessen Todesjahr 1564 das Werk schließt, habe die alten Meister der Antike besiegt. Dass Vasari mit so viel Ambition das Übersteigen der Naturvorlage bemühte, entspricht dem Konzept des Manierismus mit seiner Befreiung aus dem strengen Regelwerk. Über sein eigenes Schaffen als Maler und Architekt legte der 1554 unter seinem Pro-

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Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

tektor Cosimo de’ Medici zum Hofkünstler avancierte Vasari in einem ausführlichen Anhang, einer Autobiographie, der zweiten neben jener Cellinis (Descrizione delle opere di Giorgio Vasari pittore ed architetto aretino), Rechenschaft ab. Mit Giovanni Paolo Lomazzo in Mailand und Federico Zuccaro in Rom traten zwei Künstler als die vermutlich bedeutendsten Theoretiker der manieristischen Wende auf. Von Giovanni Paolo Lomazzo wissen wir, dass er durch Reisen in den Norden die flämische Malerei gut kannte. Der 1538 in Mailand zur Welt gekommene Lomazzo erblindete mit 33 Jahren und widmete sich fortan der (neuplatonisch geprägten) Kunstphilosophie. 1584 erschien seine Abhandlung Trattato dell’arte della pittura, scultura ed architettura. Das Werk wurde als erster Kunstraktat 1598 ins Englische übersetzt. 1590 folgte die Schrift Idea del Tempio della Pittura, in der sieben große Maler, von Michelangelo bis Tizian, in ihrem Tun beurteilt werden. Der Malerei kam in seinen Augen die Priorität gegenüber den anderen Künsten zu. In seinem Traktat von 1584 geht Lomazzo ausführlich auf die Proportionslehre, die für ihn die Grundlage der Schönheit ist, aber auch auf andere, technische Fragen ein. Inwieweit die Ähnlichkeit mit der florentinischen Tradition der Kunsttraktate äußerlich bleibt und sich unterschwellig ein anderes Weltbild, jenes des Manierismus, in den Text schiebt, ist ein lebhaft diskutierter Topos der Kunsttheorie. Zwar gibt es eindringliche Beschreibungen der Idealfigur, die »einer lebenden, sich fortbewegenden Schlange, […] einer flackernden Flamme« entspreche, was das dynamische Moment vor die ausgewogene Ruhe stellte und die klassische Perspektive unterminierte. Ebenso breitete Lomazzo – durchaus entgegen der asketischen Linie der Hochrenaissance – eine üppige Farbenlehre aus, die für Ausdruck und Affekt, an anderer Stelle auch für astrologische Göttercharakteristiken, die Grundlage bildete. Aber Erwin Panofsky verweist unermüdlich auf die Relativierungen solcher exzessiven Freiheiten durch die klassische Harmonielehre, die auch bei Lomazzo letztlich Oberhand behielt, und erinnert an die Nähe Lomazzos zur Philosophie Ficinos: »[…] nun aber stehen wir vor der geistesgeschichtlich denkwürdigen Tatsache, daß die mystisch-pneumatologische Schönheitslehre des Florentiner Neuplatonismus, nach dem Verlauf eines vollen Jahrhunderts, als manieristische Kunstmetaphysik wiederaufersteht.« Die im 15. und 16. Jh. gängig gewordene Vorrangstellung der Malerei vor der Skulptur wird bei Lomazzo nochmals kognitiv überhöht. Malerei entspreche als Hervorbringung (poesis) dem Rang der Schrift, ja sie überrage die Buchstabenschrift sogar. Malerei ist Repräsentation im Sinne einer Nachahmung der Natur nach Regeln, die die objektiven Proportionen der idealen Schönheit erst herstellen. Die Ordnung der Natur und die Regeln des Intellekts verbinden sich im Prozess der Findung (inventio) im Kunstwerk. Dieser nun bewusst intellektgetragene Objektivismus stellte sich gegen die Affektbetontheit und wies in Richtung des Klassizismus. Aber Lomazzo sah in der Malerei eine Möglichkeit, die affektive und emotionale Natur des Menschen darzustellen. Affekte und Emotionen seien sogar die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Dieses Emotionale wird nicht gegen das Objektive ausgespielt, vielmehr diene die Malerei »der Systematisierung und der Diagnostik dieser Hal-

Giovanni Paolo Lomazzo

Lomazzo, zit. nach Pochat 1996, 298

Panofsky 1924, 137f

510

Die Renaissance

von Samsonow Elisabeth ÄKPh, 505

Wittkower 1949, 97

Federico Zuccaro

Prange 2008, 493

Zuccaro, zit. nach Panofsky 1924, 128

tungen, d.h. der ›affetti‹.« Gleichsam wie zur Entschuldigung der zeitgenössischen Regelverletzung sammelte Lomazzo in seinem Traktat Beispiele aus der Antike, wo es solche Verletzungen des Ideals gegeben habe. Lomazzo sah freilich auch – ganz traditionell – in der Geometrie die Basis aller Künste, neben der Malerei auch die Architektur, Skulptur, Astrologie, Astronomie, Musik. Allerdings wies er darauf hin, dass die richtigen Proportionen nicht nur der Sache, sondern auch dem Auge angemessen sein müssten. In seinem Werk Idea del Tempio berichtet Lomazzo, dass die großen Meister die Proportionslehre für Kunst und Architektur aus dem Studium der Musik gewonnen hätten. Der menschliche Körper sei ein Mikrokosmos, nach dem Vorbild des kosmischen Makrokosmos gebildet. Daher sei der Menschenkörper eine Norm für alle Bauwerke. Vor solchem Hintergrund glaubte sich Lomazzo berechtigt, die Malerei den artes liberales zuzuschlagen. Er griff dazu zurück auf die Hieroglyphenschrift, wo sich Bild und Text noch in einer Einheit befanden. Malerei könne daher die verloren gegangene ganzheitliche Funktion der Schrift, insbesondere ihre Erinnerungsfunktion, wiederherstellen. Federico Zuccaro, 1542 in den Marken geboren, war ein weit gereister Maler, Schüler und Mitarbeiter seines Bruders Taddeo. 1607 erschien sein Kunsttraktat L’Idea de’scultori, pittori ed architetti. Papst Gregor XIII. initiierte 1593 aus Sorge über den Verfall der Kunst die Accademia di San Luca (nach dem Evangelisten Lukas, dem Schutzpatron der Maler), deren Gründungspräsident Zuccaro wurde. Es war eine Akademie für Porträt- und Naturstudien und sie war so etwas wie die »französische Nationalakademie« in Rom. Als Maßstab wählte man die Harmonie Raffaels. Im manieristischen Theoriegebäude zeigte sich offenbar auch die klassische Harmonie­ lehre als geradezu kultische Konstante. Allerdings wehrte sich Zuccaro heftig gegen die Mathematik als Grundlage der Künste, was angesichts ihrer jahrhundertelangen Dominanz einer kleinen Revolution gleichkam. Auch Zuccaro war Platoniker, aber es gab bei ihm auch einen großen Einfluss des Aristoteles und sogar einen Niederschlag von scholastischem Gedankengut. Demnach kann der Intellekt die Naturdinge erkennen, die Ausführung der Kunstwerke ist davon nochmals abgetrennt. Folgerichtig unterschied Zuccaro ein disegno interno (die Idee) und ein disegno esterno (reale Umsetzung). Die geistige Idee wird durch einen göttlichen Funken (scintilla della divinità) ausgelöst. Das macht, dass die Idee vom realen Werk unabhängig ist. Es hat den Anschein, als wäre dies ein Rückfall in einen Platonismus streng dualistischer Gestalt. Hier ging es aber mehr um die freie, von Naturvorgabe und mathematischen Regeln unabhängige Phantasie, die nun zum Tragen kam. Zuccaro berief sich dabei ausdrücklich auf Thomas von Aquin. Er macht den Menschen zum Zweitschöpfer, wobei er aus disegno ein segno di dio in noi und eine »zweite schaffende Natur« formt und die Spannung offenbar wird, wie sich der Mensch vom Handeln Gottes emanzipiert. Die künstlerische Tätigkeit ist sinnlich induziert, aber es überwiegt der Ideen-Anteil. Zu Recht hat Erwin Panofsky unterstrichen, dass der Rückgriff auf scholastische Motive nur Symptom sei, »das eigentlich Neue besteht in einer Veränderung der

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Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

geistigen Einstellung, die jenes Zurückgreifen möglich und nötig gemacht hat: die Kluft zwischen Subjekt und Objekt […] wird dadurch überbrückt, daß eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen Ideenbildung und Sinneserfahrung versucht wird.« Zweifellos gilt das aristotelische Akt-Potenz-Schema vor allem dann für die Arbeit des Künstlers, wenn er gemäß seinem göttlichen Impuls aus der vorgegebenen Materie das Kunstwerk herausschält. Aber es bleibt eingebettet in einen platonischen Emanationsgang, denn die entscheidende und völlig unaristotelische Kategorie ist, dass das Göttliche als Substrat in der sinnlichen Natur anwesend ist. Diese innere Imagination ist entscheidender als Mathematik und die Regel. Die Malerei hat es nicht nötig, »auf die mathematische Wissenschaft zurückzugreifen, um Regeln und Verfahrensmuster (modi) für ihre Arbeit zu erlernen […] Der Geist des Künstlers soll nicht nur klar, sondern auch frei sein […].« Diese Freiheit lässt capricci e cose varie e fantastiche zu und vermag die Leidenschaften und Emotionen zu zeigen. Zuccaros Verständnis von Materie hatte aus seinem Aristotelismus durchaus positive Züge. Das ermöglichte es, die ohnehin bereits komplizierten Körperhaltungen, wie sie Michelangelo gestaltet hatte, ins Unnatürliche zu übersteigern, etwa eine figura serpentinata (Raub der Sabinerinnen von Giovanni da Bologna) daraus zu machen oder mit Farbeffekten und Überraschungen zu arbeiten. Erwin Panofsky zeigte in seiner Idea, wie stark die Künstler und Theoretiker des Manierismus, Carlo Ridolfi, Cesare Ripa, Francesco Scanelli, zwischen diesem Freiheitsdiskurs und einer positiven Würdigung der (aristotelisch gedachten) Materie und der platonischen Lehre der Erscheinung des Schönen aus dem Guten und der neuplatonischen Lichtmetaphysik samt negativer Beurteilung der Materie schwankten. Der nach seinem Geburtsort Correggio genannte Antonio Allegri erfand »als erster den geöffneten, mit schwebenden Figuren erfüllten Himmel«, den er als Lichterscheinung aufgefasst hat. Er wies mit seinen geöffneten Himmeln, die, wie man inzwischen sicher zu wissen glaubt, von Mantegnas Fresken im Palazzo Ducale von Mantua abgeleitet waren, voraus auf den Barock, ja – wie manche Kunsthistoriker meinen – auf das Rokoko. Auch seine faszinierende Lichtmalerei, etwa im Bild Die Heilige Nacht von 1522, und die Behandlung der nackten Haut (Zeus und Antiope; 1528) sind bereits barock. Etliche Architekturtheoretiker folgten den Vorgaben Vitruvs und Albertis. Der 1475 in Bologna geborene Maler und Architekt Sebastiano Serlio trug die Ideen, die er in seinen Werken, darunter die Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici (1537), formuliert hatte – es sind eher praktische, allerdings sehr systematische Anleitungen als philosophische Theorien –, nach Frankreich, wohin er von Franz I. gerufen worden war. Das Umfeld von Paris (Schule von Fontainebleau)

Panofsky 1924, 131

Zuccaro, zit. nach ­Tatarkiewicz 1987, 244

458 Palazzo Ducale (14.–17. Jh.); Mantua

Panofsky 1924, 133ff Antonio Allegri

Rauch Alexander in Toman 2007b, 383

Sebastiano Serlio

512

Die Renaissance

Jobst Christof in ATh, 76

Rykwert 1980, 5f Kruft 1985, 82f Oechslin 2008, 76f

Hoppe 2007a, 241; Fürst 2007, 252

Kruft 1985, 87 Pietro Cataneo

Jacopo Barozzi da Vignola Vincenzo ­Scamozzis

wurde zu einem manieristischen Zentrum außerhalb Italiens. Es handelt sich insgesamt um neun Schriften, die ab 1537 in lebenslanger Beschäftigung an verschiedenen Orten erschienen. Der gängigste Gesamttitel lautete: Tutte l’opere d’architettura et prospettiva di Sebastiano Serlio bolognese. Serlio lobte die Geometrie (certissima arte) und Euklid, der ihm ein Wegweiser sei. Aber Serlio war auch die Sinnlichkeit wichtig. Die abstrakte Linie (und das ist ein Unterschied zu Euklid) braucht Körperlichkeit, die architektonische Figur die Bildhaftigkeit. Er beanspruchte, erstmals die fünf Säulenordnungen (gegenüber Vitruv durch die toskanische, die dort kein genus, sondern eine dispositio war, und die komposite Ordnung erweitert) systematisch dargestellt zu haben. Allerdings sprachen bereits Alberti und Raffael von fünf Ordnungen. Mit Serlio begann ein – bei Palladio dann perfektionierter – Standard der Architekturzeichnung. Serlios erfolgreicher, vor allem im Norden durch Übersetzungen bekannter Traktat war so reich bebildert, dass man ihn schon für einen Begleittext zum Bildmaterial nehmen kann. Im Vierten Buch spricht er mit Blick auf Giulio Romano von der gebrochenen Form. Serlio verglich die Perspektive mit der Szenographie, wie er sie bei Vitruv gefunden hatte. Im Fünften Buch lobt er den Kreis als vollkommensten Grundriss einer Kirche. In seinen weiteren GrundrissTypen kommt neben Vielecken auch die ovale Form vor. Serlios Traktat brachte das strengere geometrische Bauprinzip in den Raum nördlich der Alpen und entfaltete eine nachhaltige Wirkung für den Klassizismus. Zugleich legte er Wert auf die Freiheit des Architekten gegenüber der Regel (insbesondere was Mischformen der Säulenordnungen betrifft), was ihn zugleich zu einem Theoretiker des Manierismus werden ließ. Das führt Hanno-Walter Kruft zu der salomonischen Zusammenfassung: »Serlio ist anregend und unverbindlich. Darin liegt seine Stärke und seine Schwäche.« Serlio war ein erfolgreicherer Schüler von Baldassare Peruzzi als Pietro Cataneo, von dem Schriften zur Architektur erhalten sind (I quattro primi libri di Architettura; 1554; in erweiterter Fassung: L’architettura; 1567). Darin steht Cataneo in Distanz zu den Idealen der Renaissance. Allerdings enthält seine Schrift Idealentwürfe von Städten und erinnert an das vergleichbare Unterfangen bei Filarete. Seine Entwürfe wurden unter anderem eine Vorlage für die kreisförmige Befestigung von Nikosia auf Zypern, die man in den Jahren von 1567 bis 1570 verstärkte, um dem Ansturm der Osmanen zu widerstehen. Die elf Bastionen tragen immer noch die Namen jener italienischen Familien, die den Bau finanzierten. Im Kirchenbau plädierte Cataneo für das lateinische Kreuz und stellte sich gegen den Rundbau. Vermutlich weniger ein Niederschlag der Gegenreformation als eine Verbindung von Anthropometrie mit christlichen Inhalten. Als führender Architekt seiner Zeit publizierte Jacopo Barozzi da Vignola seine Ideen in den Regole delle cinque ordini dell’architettura (1615). Von ihm war bereits in 7.1. die Rede. Vincenzo Scamozzis fragmentarisch und eklektizistisch anmutender Traktat L’idea dell’architettura universale (1615), an der er eigenen Aussagen zufolge 25 Jahre lang gearbeitet haben soll, öffnete unbeabsichtigt die Tore zum Barock (der Entwurf

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Der Ausklang der Renaissance im Manierismus

für den Dom in Salzburg (1604–1607) stammte von ihm), dessen Vorboten er heftig bekämpfte. Geschwungene Linien widersprächen der Natur und der Vernunft – so sein seltsam anmutendes Credo. Der hochgebildete Architekt aus Vicenza war nicht nur im humanistischen Bildungskanon bewandert, er schätzte auch die Werke Vitruvs, Albertis und Serlios und er zitierte ausführlich aus zeitgenössischen und historischen Architekturtraktaten. Eine solche umfangreiche Bildung mitsamt einem künstlerischen ingenium forderte er für den Architekten ganz allgemein. Die Traktate von Lomazzo und Zuccaro hatten ebenfalls großen Einfluss, aber ganz gegen Zuccaro bleibt für Scamozzi die Wissenschaft für die Architektur eine unverzichtbare Grundlage. »Der Entwurfsvorgang wird von Scamozzi völlig verwissenschaftlicht. Die Invention ist angewandte Mathematik, im disegno wird die Form festgelegt, der Architekt ist ein Enzyklopädist.« Zum Unterschied von der die Natur nachahmenden bildenden Kunst arbeite der Architekt mit seinem Intellekt. Diese dem neuplatonischen Kosmos-Polis-Verhältnis entstammende Idee, die in der Renaissance auf die Idealproportion des menschlichen Körpers ausgezogen wurde, verlor nun endgültig ihre Kraft. Trotzdem kamen auch hier noch Proportionsstudien über den Menschen und ein Idealstadtentwurf, der vermutlich für das 1593 gegründete Palmanova entwickelt wurde, zur Sprache. Die Stadt wurde nördlich von Aquileia nach solchen Vorgaben von mehreren Baumeistern sternförmig angelegt. Sogar der mittelalterliche Kanon der artes liberales – mit besonderem Verweis auf die Musik als Harmoniemuster –wird in dem eher schwerfälligen und scholastisch anmutenden Werk bemüht. Diese Ordnungsliebe stellte Scamozzi auf die Seite des barocken Klassizismus. Alexander Grönert sah darin den letzten Traktat der Renaissance, »in dem die Architektur als eine universelle, alle Lebensbereiche der Gesellschaft einschließende Wisssenschaft aufgefasst wird.« Und Hanno-Walter Kruft resümierte: »Scamozzi ist zugleich Endpunkt der Renaissance, Reaktion auf die ›manieristische‹ Kunsttheorie von Lomazzo und Zuccari, Absage an den Frühbarock und Ankündigung eines neuen Klassizismus.«

Kruft 1985, 110

Ebd., 111

Grönert Alexander in ATh, 118 Kruft 1985, 113

459 Giulio Romano, Sala dei Giganti, ­Palazzo del Tè; Mantua