Kunstphilosophie und Ästhetik: Band I: Von der Vor- und Frühgeschichte bis zur antiken Welt und Rom 3534745167, 9783534745166


116 25 23MB

German Pages [460] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Title
Copyright
Inhalt
0. Einleitung
1.0. Projekt und Motivation
2.0. Inhaltliche Vorbemerkung
2.1. Kunstphilosophie und Ästhetik
2.2. Interdependenz kultureller Erzählungen
2.3. Über die Macht der Dinge und das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe
3.0. Methodische Vorbemerkung
4.0. Varia
4.1. Leseanleitung
4.2. Epochenabgrenzung und Kapiteleinteilung
4.3. Schreibweisen, Abkürzungen, Gender.
4.4. Europa – der Nabel der Welt?
I. Ur- und Frühgeschichte
1.0. Out of Africa – Kontexte
2.0. Die Anfänge der Kunst
3.0. Die Kunst des Paläolithikums
3.1. Kontexte
3.2. Das Weltbild des Paläolithikums
3.3. Der Kultort Höhle
3.4. Zeichen der Polarität
3.5. Ein kunstphilosophisches Resümee und das Ende derpaläolithischen Kunstepoche
4.0. Die Neolithische Revolution
4.1. Kontexte
4.2. Das Weltbild des Neolithikums
4.3. Vom Mythos des Ortes – Der Beginn der Architektur
4.3.1. Offene und geschlossene Form.
4.3.2. Zwischen Architektur und Skulptur
4.3.3. Vom Haus zur Siedlung
4.3.4. Das Anheben der Stadt
5.0. Die Tempelkultur auf dem maltesischen Archipel
II. Frühe Hochkulturen
1.0. Alter Orient
1.1. Kontexte
1.2. Die Kulturen des Alten Orients
1.2.1. Frühgeschichte
1.2.2. Die elamische und sumerische Kultur
1.2.2.1. Uruk/Gaura- und Dschemdet-Nasr-Zeit
1.2.2.1.1. Mythos und Religion
1.2.2.1.2. Kunst und Architektur
1.2.2.2. Frühdynastische Zeit
1.2.3. Akkad-Zeit
1.2.4. Ur III-Zeit – Neusumerische Zeit
1.2.5. Babylonische Zeit
1.2.6. Das Reich der Assyrer
1.2.7. Spätbabylonische Zeit
1.2.8. Von den Achämeniden bis zu Alexander dem Großen
2.0. Ägypten
2.1. Kontexte
2.1.1. Topografie und kulturelles Selbstverständnis
2.1.2. Eine Geschichte nach Königsdynastien
2.2. Mythos
2.2.1. Cheper als Chiffre für Entfaltung
2.2.2. Ma'at als Chiffre für Bestand
2.3. Religion
2.3.1. Polytheismus – Monotheismus
2.3.2. Ein und Alles – Eine Formel für Religion und Kunst
2.3.3. Kult des Todes – Kult des Lebens
2.4. Chthonisches und Sonnenkult – Pyramide und Obelisk
2.5. Der Tempel – Symbol kultureller Erinnerung
2.6. Kunst und Architektur – Spiel von Organischem und Kristall
2.6.1. Entwicklung der bildenden Kunst
2.6.2. Profanarchitektur
2.7. Die Hermetik, die Hieroglyphen und das Erbe Ägyptens
3.0. Israel und der judäische Monotheismus
3.1. Kontexte
3.2. Die Entstehung des Monotheismus
3.2.1. Jerusalem
3.2.2. David und JHWH
3.2.3. JHWH zwischen Immanenz und Transzendenz.
3.2.4. JHWH, der Gott des Volkes Israel
3.2.5. Die Zuspitzung des nationalen Monotheismus im Streit umdie Hellenisierung
3.2.6. Die ikonographischen Konsequenzen in Architekturund Kunst
3.2.6.1. Kunst
3.2.6.2. Der Tempel- und Synagogenbau
4.0. Der Alte Orient – Ein kultur- und kunstphilosophisches Resümee
5.0. Die Theorie der »Achsenzeit«
III. Die antike Welt – Griechenland und Rom
1.0. Auf dem Weg zum Griechischen
1.1. Kontexte
1.2. Kreta und die Ägäis: Die minoische Kultur
1.2.1. Kontexte
1.2.2. Religions- und Sozialgeschichte
1.2.3. Die Palastarchitektur und die Kunst.
1.2.4. Der minoische Dynamismus
2.0. Griechenland
2.1. Mykene
2.1.1. Mykenische Religion
2.1.2. Zyklische Dynamik, Mysterion und Harmonie – die Quellender Mysterienkulte als Quellen der Philosophie.
2.1.3. Die Orphik
2.1.3.1. Urzustand und die Spaltung der Welt
2.1.3.2. Zeus und Eros als Chiffren für das Ringen um Statikund Prozess
2.2. Griechenland nach den Dunklen Jahrhunderten
2.2.1. Kontexte
2.2.2. Homer und Hesiod
2.2.3. Die Pythagoreer
2.2.4. Das Anheben der Kunstepochen – Der geometrische Stil
2.3. Das archaische Griechenland
2.3.1. Bildende Kunst
2.3.2. Die Anfänge des Tempelbaus und die Architektur
2.3.3. Der Beginn der europäischen Philosophie
2.3.3.1. Die ionische Philosophie
2.3.3.2. Parmenides und Heraklit
2.3.3.3. Dialektik
2.4. Griechenland in der Klassik
2.4.1. Bildende Kunst
2.4.2. Architektur
2.4.3. Athen in der »Moderne«.
2.4.3.1. Die Geisteshaltung der Sophisten
2.4.3.2. Platon
2.4.3.2.1. Kontexte
2.4.3.2.2. Ontologie und Kunstphilosophie Platons
2.4.3.2.3. Das Frühwerk
2.4.3.2.4. Platons Ideenlehre und ihr doppeltes Scheitern
2.4.3.2.5. Platons Eros-Philosophie und die Konzeption des Schönen
2.4.3.2.6. Platons Ontologie des Bildes
2.4.3.3. Aristoteles
2.4.3.3.1. Kontexte
2.4.3.3.2. Die philosophische Position des Aristoteles
2.4.3.3.3. Kunstphilosophie und Ästhetik
2.5. Hellenismus
2.5.1. Kontexte
2.5.2. Die kunstphilosophischen Positionen der hellenistischenSchulen.
2.5.3. Die Religion des Hellenismus
2.5.4. Kunst und Ästhetik im Hellenismus.
3.0. Rom
3.1. Kontexte
3.1.1. Das Auftreten der Italiker
3.1.2. Die Etrusker und das Ringen mit Rom
3.1.3. Von der Gründung Roms bis zum Ende der Republik
3.1.4. Die Kaiserzeit
3.2. Römische Religion
3.3. Kunstphilosophische Aspekte der römischen Kunst undArchitektur
3.3.1. Charakteristika römischer Kunst
3.3.2. Architektur
3.3.2.1. Der römische Tempel
3.3.2.2. Öffentliche und private Bauten
3.3.2.3. Die Basilika
3.3.3. Skulptur und Malerei
3.4. Konzepte der Kunstphilosophie und Ästhetik
3.4.1. Cicero
3.4.2. Horaz und Ovid
3.4.3. Vitruv
3.4.4. Pseudo-Longinos
Back Cover
Recommend Papers

Kunstphilosophie und Ästhetik: Band I: Von der Vor- und Frühgeschichte bis zur antiken Welt und Rom
 3534745167, 9783534745166

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik

Bernhard Braun

Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik Band 1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede ­Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für ­Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch dieVereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt Einbandabbildung: © akg-images / François Guénet Innenlayout: schreiberVIS, Seeheim Satz: Dorit Wolf-Schwarz, Innsbruck Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27070-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74512-8 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74516-6

5

Inhalt  0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.0. Projekt und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.0. Inhaltliche Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1. Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2. Interdependenz kultureller Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3. Über die Macht der Dinge und das selbstgesponnene ­Bedeutungsgewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.0. Methodische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.0. Varia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.1. Leseanleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.2. Epochenabgrenzung und Kapiteleinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.3. Schreibweisen, Abkürzungen, Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.4. Europa – der Nabel der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

I. Ur- und Frühgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1.0. Out of Africa – Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.0. Die Anfänge der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.0. Die Kunst des Paläolithikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.2. Das Weltbild des Paläolithikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3. Der Kultort Höhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4. Zeichen der Polarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.5. Ein kunstphilosophisches Resümee und das Ende der paläolithischen Kunstepoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.0. Die Neolithische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.2. Das Weltbild des Neolithikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3. Vom Mythos des Ortes – Der Beginn der Architektur . . . . . . . . . 82 4.3.1. Offene und geschlossene Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.3.2. Zwischen Architektur und Skulptur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.3.3. Vom Haus zur Siedlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.3.4. Das Anheben der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.0. Die Tempelkultur auf dem maltesischen Archipel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

II. Frühe Hochkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1.0. Alter Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.2. Die Kulturen des Alten Orients . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1.2.1. Frühgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.2.2. Die elamische und sumerische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Band 1

6

Inhalt







1.2.2.1. Uruk/Gaura- und Dschemdet-Nasr-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1.2.2.1.1. Mythos und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1.2.2.1.2. Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1.2.2.2. Frühdynastische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1.2.3. Akkad-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1.2.4. Ur III-Zeit – Neusumerische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.2.5. Babylonische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1.2.6. Das Reich der Assyrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1.2.7. Spätbabylonische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1.2.8. Von den Achämeniden bis zu Alexander dem Großen . . . . . . . . 158 2.0. Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2.1.1. Topografie und kulturelles Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . 162 2.1.2. Eine Geschichte nach Königsdynastien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2.2. Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2.2.1. Cheper als Chiffre für Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2.2.2. Ma’at als Chiffre für Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2.3. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.3.1. Polytheismus – Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.3.2. Ein und Alles – Eine Formel für Religion und Kunst . . . . . . . . . 181 2.3.3. Kult des Todes – Kult des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2.4. Chthonisches und Sonnenkult – Pyramide und Obelisk . . . . . . . . 188 2.5. Der Tempel – Symbol kultureller Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . 193 2.6. Kunst und Architektur – Spiel von Organischem und Kristall . . . . 200 2.6.1. Entwicklung der bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.6.2. Profanarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2.7. Die Hermetik, die Hieroglyphen und das Erbe Ägyptens . . . . . . . 210 3.0. Israel und der judäische Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3.2. Die Entstehung des Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.2.1. Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.2.2. David und JHWH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.2.3. JHWH zwischen Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . . . 223 3.2.4. JHWH, der Gott des Volkes Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.2.5. Die Zuspitzung des nationalen Monotheismus im Streit um die Hellenisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.2.6. Die ikonographischen Konsequenzen in Architektur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3.2.6.1. Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.2.6.2. Der Tempel- und Synagogenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4.0. Der Alte Orient – Ein kultur- und kunstphilosophisches Resümee . . . . . . . . . . 246 5.0. Die Theorie der »Achsenzeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Inhalt

III. Die antike Welt – Griechenland und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1.0. Auf dem Weg zum Griechischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1.2. Kreta und die Ägäis: Die minoische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1.2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1.2.2. Religions- und Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1.2.3. Die Palastarchitektur und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1.2.4. Der minoische Dynamismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.0. Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2.1. Mykene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2.1.1. Mykenische Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2.1.2. Zyklische Dynamik, Mysterion und Harmonie – die Quellen der Mysterienkulte als Quellen der Philosophie . . . . . . . . . . . . 278 2.1.3. Die Orphik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2.1.3.1. Urzustand und die Spaltung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2.1.3.2. Zeus und Eros als Chiffren für das Ringen um Statik und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2.2. Griechenland nach den Dunklen Jahrhunderten . . . . . . . . . . . . . 291 2.2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.2.2. Homer und Hesiod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2.2.3. Die Pythagoreer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 2.2.4. Das Anheben der Kunstepochen – Der geometrische Stil . . . . . . 308 2.3. Das archaische Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2.3.1. Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2.3.2. Die Anfänge des Tempelbaus und die Architektur . . . . . . . . . . . 317 2.3.3. Der Beginn der europäischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2.3.3.1. Die ionische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2.3.3.2. Parmenides und Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2.3.3.3. Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2.4. Griechenland in der Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 2.4.1. Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2.4.2. Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2.4.3. Athen in der »Moderne« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2.4.3.1. Die Geisteshaltung der Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2.4.3.2. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2.4.3.2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2.4.3.2.2. Ontologie und Kunstphilosophie Platons . . . . . . . . . . . . . . . 347 2.4.3.2.3. Das Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2.4.3.2.4. Platons Ideenlehre und ihr doppeltes Scheitern . . . . . . . . . . . 349 2.4.3.2.5. Platons Eros-Philosophie und die Konzeption des Schönen . . 354 2.4.3.2.6. Platons Ontologie des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2.4.3.3. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 2.4.3.3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

7

8

Inhalt

2.4.3.3.2. Die philosophische Position des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . 364 2.4.3.3.3. Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2.5. Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 2.5.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 2.5.2. Die kunstphilosophischen Positionen der hellenistischen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 2.5.3. Die Religion des Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2.5.4. Kunst und Ästhetik im Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 3.0. Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 3.1.1. Das Auftreten der Italiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 3.1.2. Die Etrusker und das Ringen mit Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 3.1.3. Von der Gründung Roms bis zum Ende der Republik . . . . . . . . 403 3.1.4. Die Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 3.2. Römische Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 3.3. Kunstphilosophische Aspekte der römischen Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 3.3.1. Charakteristika römischer Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 3.3.2. Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 3.3.2.1. Der römische Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 3.3.2.2. Öffentliche und private Bauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 3.3.2.3. Die Basilika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 3.3.3. Skulptur und Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 3.4. Konzepte der Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . 449 3.4.1. Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 3.4.2. Horaz und Ovid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 3.4.3. Vitruv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 3.4.4. Pseudo-Longinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

9

Inhalt

IV. Die Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1. Vom Heidentum zum Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2. Die neuen Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.0. Von der antiken zur spätantiken Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.0. Das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.2. Jesus von Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.3. Die Theologisierung des historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.4. Kunstphilosophische Impulse des Christentums . . . . . . . . . . . . . 42 3.5. Inkarnation versus Pneumatologie – ein gegenkulturelles Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.0. Philosophie und Ästhetik der griechischen und lateinischen Väter . . . . . . . . . . 45 4.1. Frühe Apologeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.2. Der Streit um die Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.2.1. Die Orientalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.2.2. Die Okzidentalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.3. Augustinus von Hippo und die Ästhetik der Zahl . . . . . . . . . . . . 56 4.4. Das Mönchtum des Ostens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.0. Spätantike und frühchristliche Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.1. Die christliche Neucodierung antiker Kunst – Zeit und Themen der frühchristlichen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.1.1. Von der heidnischen zur christlichen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1.2. Themen der frühchristlichen Kunst am Beispiel der Grab und Sarkophagkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.1.3. Motive der Christusdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5.1.4. Die Sonnenkonnotation in der Konkurrenz mit dem Mithras-Kult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.2. Die Basilika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2.1. Frühe Hauskirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.2.2. Die Basilika und das Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.0. Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 6.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6.2. Byzantinische Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6.2.1. Zentralbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.2.2. Die Bauten Justinians I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6.2.3. Die kunsttheoretische Bedeutung der Narration in den ­spätantiken ­Sakralbauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7.0. Der Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7.1. Die Rezeption Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7.2. Der neuplatonische Dynamismus und seine Autoren . . . . . . . . . . 115 7.3. Der Neuplatonismus als Paradigma für Anagogie und die Darstellung des Undarstellbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Band 2

10

Inhalt

8.0. Das Kultbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Das christliche Bild . . . . . . . . . . . 8.2. Das Acheiropoieton und die Ikone 8.3. Der Streit um das Bild . . . . . . . . . 8.4. Die Philosophie des Bildes . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

124 126 . 128 132 138

V. Das Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.0. Zwischen Konstantin und Karl dem Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2.1. Boëthius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.2. Andere Autoren neben Boëthius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.0. Die Kultur des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.1. Der arabische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3.2. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.3. Philosophie und Wissenschaft im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3.3.1. Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.3.2. Das Bilderverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.3.3. Arabeske und Ornament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3.4. Islamische Architektur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.4.1. Grundlage der Architektur der Sakralräume . . . . . . . . . . . . . . 190 3.4.2. Zwischen Spätantike und dem Motivschatz Chinas – Die Kunst der islamischen Dynastien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.4.2.1. Die Umaiyaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.4.2.2. Die Abbasiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3.4.2.3. Die Fatimiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.2.4. Die Seldschuken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3.4.2.5. Die Osmanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4.0. Die Karolingische Renaissance und die Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.1. Vorkarolingische Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4.2. Die Zeit Karls des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.2.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.2.2. Klöster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.2.3. Die Intellektuellen zur Zeit Karls und die Stellungnahme des Westens im Bilderstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.2.4. Johannes Scotus Eriugena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.2.5. Architektur und bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5.0. Der Umbruch der Jahrtausendwende und das 11. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 240 5.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5.2. Die Reform von Cluny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5.3. Ästhetik und Kunst im lateinischen Mittelalter nach der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5.3.1. Methodische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Inhalt









5.3.2. Inhaltliche Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.4. Romanische Architektur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.4.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5.4.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der romanischen bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.0. Das 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.2. Die Domschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.2.1. Die Schule von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 6.2.2. Die Schule von St. Viktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.2.3. St. Denis und der Beginn der gotischen Architektur . . . . . . . . . 281 6.2.4. Cîteaux und die asketische Architektur der Zisterzienser . . . . . . 286 7.0. Das 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.2. Die Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 7.2.1. Die Form der scholastischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 7.2.2. Die scholastische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.2.2.1 Abaelard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.2.2.2. Die Franziskaner und Dominikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 7.2.2.3. Robert Grosseteste und die Lichtmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . 306 7.2.2.4. Bonaventura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 7.2.2.5. Albert der Große und seine Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 7.2.2.6. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.2.2.6.1. Ontologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.2.2.6.2. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 7.2.2.6.3. Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7.3. Die Gotik in Architektur und bildender Kunst . . . . . . . . . . . . . . 320 7.3.1. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 7.3.2. Formale und kunstphilosophische Aspekte der gotischen Skulptur und Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7.4. Gibt es eine Philosophie der gotischen Kathedrale? . . . . . . . . . . . 332 8.0. Das 14. Jahrhundert und der Herbst des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.2. Architektur und Kunst im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 8.3. Philosophie und Ästhetik der Spätscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . 347 9.0. Das Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

VI. Die Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1.0. Der Begriff der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2.0. Das 15. und 16. Jahrhundert – Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

11

12

Inhalt

3.0. Die Kultur der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 3.1. Die Entdeckung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 3.2. Magie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3.3. Das neue Sozialgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3.4. Der Brennpunkt Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 4.0. Philosophie und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 4.1. Der Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4.1.1. Begriff und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4.1.2. Humanistische Positionen und die Spannung zwischen Naturnachahmung und Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 4.1.3. Der Paragone zwischen Literatur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 397 4.2. Die Philosophie der Renaissance und ihre kunstphilosophischen Gehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4.2.1. Nikolaus von Kues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 4.2.2. Marsilio Ficino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4.2.3. Giordano Bruno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 4.2.4. Weitere Philosophen der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 4.2.5. Philosophische Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 4.2.6. Die Staatsutopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 5.0. Die Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 5.1. Voraussetzungen der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 5.2. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 5.3. Theorie der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 6.0. Bildende Kunst und Ästhetik der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 6.1. Dichtung und bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 6.2. Die Wende in der bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 6.3. Die Bestimmungsmodi der Renaissancekunst . . . . . . . . . . . . . . . 444 6.4. Die Künstler und ihre Traktate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 6.4.1. Kunst als Wissenschaft: Cennini, Ghiberti, della Francesca, Dürer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 6.4.2. Albertis Traktate zur bildenden Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 6.4.3. Kunst zwischen Theorie und Praxis: Leonardo, Michelangelo, Cellini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 7.0. Die Architektur der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 7.1. Traktate zur Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 7.2. Der Sakralbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 7.3. Die großen Renaissance-Architekten und ihre kunstphilosophischen Fundamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 7.3.1. Filippo Brunelleschi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 7.3.2. Leon Battista Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.3.2.1. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.3.2.2. Albertis Architekturtraktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

Inhalt

7.3.3. Donato Bramante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 7.3.4. Andrea Palladio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 8.0. Der Ausklang der Renaissance im Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 8.1. Manierismus in der bildenden Kunst und der Streit um die Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 8.2. Manierismus in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 8.3. Vasari, Lomazzo, Zuccaro und die Theorie des Manierismus . . . . . 507

13

14

Band 3

Inhalt

VII. Von der Neuzeit bis zur Französischen Revolution – das 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1. Der Zerfall des totum – politische Implikationen . . . . . . . . . . . . . 11 1.2. Das Unendliche und das Dynamische – die neue Wissenschaft und die endgültige Entdeckung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3. Mystik und der »Körper« der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4. Klassik und Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.5. Die Kunstlandschaften Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5.1. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5.2. Spanien und Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.5.3. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.5.4. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.5.5. Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.5.6. Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.5.7. Russland und Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.0. Die Legitimität der Neuzeit und die Philosophie des Rationalismus . . . . . . . . . 46 2.1. Zur Legitimitätsfrage der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2. Der Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.1. Die Vertreter des Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.2. Gracián und der bon goût . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.0. Struktur des Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2. Der Begriff barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.3. Dynamik und System – eine Philosophie des Barock . . . . . . . . . . 74 3.4. Die Motive barocker Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.5. »Autoren« barocker Universalsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.6. Ermüdung des Barock und das Rokoko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.0. Theorie und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Streit um die Klassizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1. Die ästhetischen Theorien des Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2. Barock und Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2.1. Die Nachahmung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.2. Die Querelle des Anciens et des Modernes . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.2.3. Die Grand Tour als Voraussetzung des Klassizismus . . . . . . . . . 114 4.2.4. Positionen des Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.2.4.1. Die Verschiebung des Demiurgischen zur Vernunft in den bildenden Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.2.4.2. Johann Joachim Winckelmann, Johann Georg Sulzer, Gotthold Ephraim Lessing und der Streit um die Griechenverehrung . . . . 125 4.2.4.3. Vom Barock zum Klassizismus in der Architektur . . . . . . . . . . 132 4.2.4.3.1. Höhepunkt und Erosion des Klassizismus in Frankreich und England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Inhalt

4.2.4.3.2. Die Rückkehr des Klassizismus nach Italien und Spanien . . . . 145 5.0. Der Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.1. Philosophische Positionen des Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.2. Kunstphilosophische Positionen zwischen Empirismus und Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.2.1. Auf dem Weg zur Begründung einer philosophischen Ästhetik . . 154 5.2.2. Denis Diderot und der Beginn der Kunstkritik . . . . . . . . . . . . . 161 5.2.3. Alexander Baumgarten und der Beginn der Ästhetik . . . . . . . . . 165 5.2.4. Edmund Burke und das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.2.5. Das Pittoreske und die Architektur des Gartens . . . . . . . . . . . . 171 5.2.6. Kunst und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.0. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.1. Das Subjekt als Basis der kritischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 177 6.2. Kants kritische praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.3. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.3.1. Das Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.3.2. Das ästhetische Urteil und das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6.3.3. Das Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.3.4. Die Kunst und das Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 7.0. Die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.1. Jean Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7.2. Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

VIII. Aufklärung und Moderne – das lange 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 207 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1.1. Die Französische Revolution und der Aufstieg Napoleons . . . . . . 209 1.2. Die Befreiung von Napoleon und die Revolutionen von 1848 . . . . 214 1.3. Die Idee des Nationalismus in der Politik Europas . . . . . . . . . . . . 218 2.0. Signaturen des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2.1. Die neue Welt der Maschine und die ersten Global Players . . . . . . 224 2.2. Beschleunigung und Konservierung – Aufbegehren und Rückzug . . 229 2.2.1. Dynamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2.2.2. Der Hygiene-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.0. Beharrung und Befreiung – Die Ästhetisierung von Kunst und Architektur . . . . 241 3.1. Die bildenden Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.1.1. Die traditionellen Genres der bildenden Künste . . . . . . . . . . . . 244 3.1.2. Die Anfänge der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3.2. Die Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3.2.1. Das Ende des Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3.2.1.1. Die Erosion der Regelästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.2.1.2. Die neue Sicht des antiken Erbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.2.2. »In welchem Style sollen wir bauen?« – Stile im 19. Jahrhundert . 267 3.2.2.1. Die Pluralisierung der Stile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

15

16

Inhalt









3.2.2.2. Die Neugotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3.2.2.3. Die Debatte um die Pluralisierung der Stile . . . . . . . . . . . . . . . 276 3.2.3. Von der Revolutionsarchitektur zum Funktionalismus . . . . . . . . 277 3.2.3.1. Zwischen Philosophie und Ingenieurstechnik . . . . . . . . . . . . . 277 3.2.3.2. Material und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.2.3.2.1. John Ruskin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3.2.3.2.2. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3.2.3.2.3. Zwischen Denkmalschutz und Modernisierung . . . . . . . . . . 289 4.0. Zwischen Aufklärung, Romantik und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4.1. Friedrich Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.2. Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5.0. Der Deutsche Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 5.1. Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 5.2. Friedrich Wilhelm Josef Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 5.2.1. Schellings philosophische Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.2.2. Schellings Kunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 5.2.3. Das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus . . . . . . . . 316 5.3. Georg Friedrich Wilhelm Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5.3.1. Hegels philosophisches Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5.3.2. Die Ästhetik Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 5.3.2.1. Kunst als Vergeistigung des Sinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.3.2.2. Kunstschönheit versus Naturschönheit – Philosophie überflügelt die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.3.2.3. Die Freiheit der Kunst und ihr »Ende« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.3.3. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.0. Die Ästhetikdiskussion nach Hegel und das Ringen um den Ästhetikbegriff . . . . 333 6.1. Ästhetische Positionen im Umfeld des Deutschen Idealismus . . . . 334 6.1.1. Ästhetik im Liberalismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts . 334 6.1.2. Die Hegel- und Marxrezeption in Russland: Westler gegen Slawophile und die neue Rolle der Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 6.1.3. Karl Friedrich Rosenkranz und die Ästhetik des Hässlichen . . . . 340 6.1.4. Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.1.5. Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 6.1.6. Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 6.1.7. Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 6.2. Ästhetik zwischen Idealismus und Empirismus . . . . . . . . . . . . . . 352 6.2.1. Gustav Theodor Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 6.2.2. Das Konzept der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 7.0. Die Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 7.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 7.1.1. Der Begriff Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 7.1.2. Das Genie, die Inspiration und die Revolution . . . . . . . . . . . . . 363 7.2. Romantik als ästhetischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

Inhalt

7.3. Friedrich und August Wilhelm Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 7.4. Romantik in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 7.4.1. Das Subjekt in der Spannung von Entmächtigung und Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 7.4.2. Die Natur als Chiffre der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 7.4.3. Die romantische Kunst und Architektur als Wegbereiter der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 7.5. Vormärz und Biedermeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 8.0. Das Ringen um die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 8.1. Nazarener und Präraffaeliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 8.2. Die katholische Kirche und ihr Kampf gegen die Moderne . . . . . . 389 9.0. Die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 9.1. Topografie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 9.1.1. Das Transitorische gegen das Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 9.1.2. Charles Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 9.1.3. Hippolyte-Adolphe Taine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 9.1.4. Paul Valéry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 9.2. Die Wege in die Moderne der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 9.2.1. Der Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 9.2.2. Der Impressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 9.2.3. Der Jugendstil – ein Weg in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 9.2.3.1. Höhepunkt und Ende der Akademieästhetik . . . . . . . . . . . . . . 417 9.2.3.2. Das neue Gesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 9.2.3.3. Der Jugendstil in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 10.0. Kunstphilosophische Positionen des Übergangs in ein neues Jahrhundert . . . . 433 10.1. Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 10.2. Konrad Fiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 10.3. Jacob Burckhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

17

18

Band 4

Inhalt

IX. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.0. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1. Beschleunigung – Produktion – Relativität . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.2. Die Künstler in der »Urkatastrophe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3. Russlands Weg in die Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.4. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.0. Malerei und Bildhauerei am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert . . . . . . . . . 26 2.1. Der Gang in die Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.1. Abstraktion, Gegenstandslosigkeit und Selbstreferentialität der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.2. Die Wege in die ungegenständliche Kunst und ihre Motive . . . . 34 2.1.3. Die Ambivalenz der Moderne – kunstphilosophische Programmatik und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2. Eine Geographie der »Ismen« der ersten Jahrhunderthälfte . . . . . 50 2.2.1. Fauvismus – Expressionismus – Kubismus . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.2. Der Monte Verità . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.3. Dadaismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2.4. Symbolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.5. Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.2.6. Futurismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.2.7. Die russische Avantgarde: Konstruktivismus und Suprematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.2.8. Werkbund und Bauhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2.9. De Stijl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2.2.10. Marcel Duchamp und das Ready-Made . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.3. Die neue »Sprache« der Moderne in der Architektur . . . . . . . . . . 99 2.3.1. Das Ende des Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.3.2. Positionen der Architektur in der ersten Jahrhunderthälfte . . . . 101 2.3.3. Frank Lloyd Wright . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.3.4. Ludwig Mies van der Rohe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.3.5. Le Corbusier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.0. Die philosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts in ihrer kunstphilosophischen ­Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.1. Theosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.2. Einzelpositionen um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.1. Georg Lukács . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.2. John Dewey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.2.3. Theodor Lipps und das Konzept der Einfühlung . . . . . . . . . . . . 126 3.2.4. Benedetto Croce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.2.5. Robin George Collingwood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.3. Der Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.3.1. Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.3.2. Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Inhalt

3.4. Kunstgeschichte als Geistesgeschichte – Von der Ikonographie zur ­Ikonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.4.1. Aby Warburg und der Warburg-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.4.2. Die Ikonologie Erwin Panofskys und die Ikonik Max Imdahls . . . 142 3.5. Die Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.5.1. Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.5.1.1. Biographie und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.5.1.2. Prolegomena zu einer Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.5.2. Maurice Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.6. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.6.1. Fundamentalontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.6.2. Die Kehre zur »Seinsgeschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3.6.3. Philosophie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3.7. Hans Georg Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.8. Die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . 176 3.8.1. Theodor Wiesengrund Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3.8.1.1. Die kunstphilosophische Ambition von Adornos Philosophie . . 183 3.8.1.2. Die Ästhetische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.8.2. Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.9. Sprachphilosophie und Analytische Philosophie . . . . . . . . . . . . . 192 3.9.1. Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3.9.2. Nelson Goodman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3.9.3. Arthur C. Danto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.9.4. Richard Arthur Wollheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.9.5. Morris Weitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3.9.6. George Dickie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.9.7. Monroe C. Beardsley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3.9.8. Weitere kunstphilosophische Positionen der Analytischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.0. Moderne und Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4.1. Die Architektur der modernen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.2. Die Wege in die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.3. Die Avantgarde zwischen Moderne und Postmoderne . . . . . . . . . 229 4.4. Der Strukturalismus – Ferdinand de Saussure . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.4.1. Claude Lévi-Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.4.2. Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.5. Der Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4.5.1. Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4.5.2. Jean-François Lyotard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.5.3. Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.5.4. Georges Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.5.5. Jacques Lacan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4.5.6. Gilles Deleuze und Félix Guattari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

19

20

Inhalt

4.6. Die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 4.6.1. Die Theorie der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4.6.2. Postmoderne Kunst und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.7. Die Thematisierung der Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4.7.1. Marshall McLuhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4.7.2. Vilém Flusser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.7.3. Paul Virilio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.7.4. Jean Baudrillard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.7.5. Das göttliche Google und eine neue Aufklärung . . . . . . . . . . . . 277 5.0. Die Entwicklung von bildender Kunst und Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5.1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 5.1.1. Die Revolutionen der Sechzigerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5.1.2. Zwischen Technikeuphorie und Zukunftsangst – Apollo 11 und Club of Rome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5.1.3. Das Friedens- und Aufklärungsprojekt der Europäischen Union und die Bedrohung durch den Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . 291 5.2. Die Kunst zwischen Adornos moralischem Moratorium und D11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 5.2.1. Abstrakter Expressionismus und Informel . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5.2.2. Pop Art – Funk Art – Nouveau Réalisme . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 5.2.3. Minimal Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 5.2.4. Concept Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.2.5. Zero und Land Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.2.6. Aktionskünste: Performance – Happening – Fluxus – Body Art . . 331 5.2.6.1. Der performative Charakter der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 5.2.6.2. get involved! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 5.2.6.3. Performance und Fluxus – die Auflösung der Kunstgenres . . . . 335 5.2.6.4. Gegen den Körper – mit dem Körper: Body Art . . . . . . . . . . . 340 5.2.6.5. Soziale Plastik und die Heteronomie der Kunst . . . . . . . . . . . . 345 5.2.7. Zwischen Videokamera und Spam Bots: Medienkunst . . . . . . . . 348 5.3. Strömungen der Nachkriegsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 5.3.1. Die Kritik am Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 5.3.2. Die »Ismen« in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 6.0. Contemporary – Tendenzen der Gegenwart in Architektur und Kunst . . . . . . . . 367 6.1. Die Architektur zwischen Funktionalismus und Crossover . . . . . . 371 6.1.1. Maschine und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 6.1.2. Biomorphie und Metabolismus – physical vs. digital . . . . . . . . . 374 6.1.3. Blasen – Blobs – Schäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 6.1.4. Sustainability und Co-Working. Der social- und ecological turn in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 6.2. Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 6.2.1. Crossover: Sampling – Switching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Inhalt

6.2.2. Street Art – Space Invading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 6.2.3. Post-Digital – Post-Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 6.2.4. Kunst – Event – Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

X. Kunstphilosophie und Ästhetik –eine systematische Sichtung . . . . . . . . . 403 1.0. Kunstphilosophie und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 1.1. Kunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 1.2. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 1.2.1. Die historischen Wurzeln und ihre gegenwärtige Revitalisierung . 415 1.2.2. Ästhetik als Perspektive auf Kunst und Wahrnehmung . . . . . . . 422 1.3. Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 1.3.1. Der Schönheitsbegriffs in der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 1.3.2. Systematische Anmerkungen zum Schönheitsbegriff . . . . . . . . . 428 1.3.2.1. Charakteristika des Schönheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 1.3.2.2. Begründungsversuche von Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 1.3.2.3. Schönheit als Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 1.4. Ästhetische Erfahrung statt Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 1.4.1. Ästhetische Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 1.4.2. Ästhetische Eigenschaften und ästhetische Gegenstände . . . . . . 446 1.4.3. Ästhetik zwischen ästhetisch und künstlerisch . . . . . . . . . . . . . . 449 2.0. Was ist Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2.1. Kunstbegriff und Essentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 2.2. Kunst – Nachahmung oder Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2.2.1. Mimesis als Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 2.2.2. Mimesis und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 2.2.3. Religiöse und profane Expression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 2.3. Wahrheit und Unwahrheit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 2.4. Deskriptiver und normativer Kunst- und Kunstwerkbegriff . . . . . 475 2.5. Zweckfreiheit und Selbstreferentialität der Kunst . . . . . . . . . . . . . 479 2.6. Die Vielfalt der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 2.6.1. Ist Architektur eine Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 2.6.2. Die Rangordnung der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 2.6.3. Die Interaktion der Künste – ihre Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 2.7. Kunst als ästhetische Kommunikation und das Verstehen von Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 2.8. Kunst als Kunstpraxis und als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 3.0. Was ist ein Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 3.1. Produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Kunstwerkbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 3.2. Kunstwerk als Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 3.3. Das offene Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 3.4. Das Kunstwerk als Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 3.5. Die Frage nach dem ontologischen Status des Kunstwerks . . . . . . 524

21

22

Inhalt

3.5.1. Was für ein Gegenstand ist ein Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . 527 3.5.1.1. Das Kunstwerk als materieller Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . 529 3.5.1.2. Das Kunstwerk als mentaler Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 534 3.5.1.3. Das Kunstwerk als abstrakter Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 540 3.5.1.4. Die Type-Token-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 3.5.1.5. Das Kunstwerk zwischen Original und Vorkommnis . . . . . . . . 546 3.5.2. Artefakte – Kunstwerke – Kunstgegenstände . . . . . . . . . . . . . . 555 3.5.3. Kunst ohne Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 4.0. Bild und Bildtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 4.1. Vom linguistic zum iconic turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 4.2. The power of image – Das Bild zwischen Magie und Nachahmung . 562 4.2.1. Materialität und Bildobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 4.2.2. Oberfläche und Raumtiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 4.2.3. Bildträger und Bildobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 5.0. Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik – ein Resümee in systematischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

XI. Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 1.0. Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 2.0. Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 3.0. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 3.1. Lexika, Nachschlagwerke, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 3.2. Konsultierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 4.0. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 4.1. Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 4.2. Verwendete Abkürzungen der Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 5.0. Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722

Einleitung

0

Ich schreibe, um mich selbst zu verändern und um nicht mehr dasselbe zu denken wie vorher. Michel Foucault

Mega biblion, mega kakon (ein großes Buch ist ein großes Übel) Kallimachos von Kyrene

1.0. Projekt und Motivation ◀ 1 Besucher des Archäologischen Museums in Athen bewundern die Bronze­ figur des Poseidon vom Kap Artemision (um 460a); AMA

Welsch/Pries 1991, 1 Bubner 1989, 131; im Orig. kursiv

Jean Paul 1804, XVIII

Wer einen Blick auf den philosophischen Buchmarkt wirft, macht eine widersprüchliche Beobachtung. Einerseits fällt ins Auge, dass philosophische Publikationen zur Ästhetik seit einigen Jahren einen regelrechten Boom erleben. Beinahe könnte man meinen, ein gut dokumentiertes und beackertes Modethema des philosophischen Diskurses vor sich zu haben. Andererseits lehrt eine genaue Betrachtung der philosophischen Szene, dass Kunstphilosophie und Ästhetik nach wie vor wie Stiefkinder behandelt werden. Eine solche genaue Betrachtung wurde indes selten angestellt. Vielmehr ist der Eindruck eines boomenden Ästhetikdiskurses ein seit langem gepflegtes Narrativ. Wolfgang Welsch und Christine Pries konstatierten bereits vor dreißig Jahren: »Ästhetik hat Konjunktur«, nicht ohne zugleich vor der Kehrseite dieses Tatbestandes zu warnen: »[…] die Licht- und Schattenseiten dieser Ästhetisierung liegen so dicht beieinander, daß sie oft kaum zu unterscheiden sind.« Zu solch ambivalentem Urteil war zur gleichen Zeit auch Rüdiger Bubner gekommen, nach dem »die Ästhetisierung der Lebenswelt ein Kennzeichen der gegenwärtigen Epoche ist.« Blickt man noch weiter zurück, wird man endgültig unsicher, ob diese vermeintliche Liebe zur Ästhetik tatsächlich eine Sache der Gegenwart ist. Denn bereits 1804 hat Jean Paul den berühmten Satz zu Papier gebracht: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Aesthetikern.« Ist die Philosophenszene tatsächlich seit 200 Jahren verliebt in Kunstphilosophie und Ästhetik? Oder ist es eher so, dass hier ein eigenes, aus dem breiten Strom der Philosophie ausgelagertes Diskursfeld beackert und angesichts der verbreiteten Ästhetisierung der Lebenswelt auf publizistischen Erfolg geschielt wird? Unstrittig ist jedenfalls, dass bildende Kunst und Architektur ein Mega­trend der modernen Welt sind. Galerien, Kunsthäuser, Contemporary-Abteilungen der Museen und junge Kunstinitiativen schießen aus dem Boden. Galerien operieren wie globale Konzerne mit weltweiten Niederlassungen. Für die potentesten Hot-Spots haben sich Ausdrücke wie Galerien-Hub (gemeint ist neuerdings das in dieser Hinsicht boomende Hongkong) eingebürgert. Mit bekannten Künstlernamen der europäischen Kunstgeschichte lassen sich Blockbuster-Ausstellungen bespielen, die Men-

25

Projekt und Motivation

2 Guggenheim-­ Museum, Bilbao von Frank Gehry

schenmassen in die Häuser locken. Vor den Eingangsbereichen berühmter Museen von Rom über Florenz, Paris bis Berlin und London sind nicht nur in der touristischen Hochsaison geduldig hunderte Meter lange Schlangen zu überwinden, um zu den Schätzen der Kunst- und Kulturgeschichte zu gelangen. Eine Statistik weist für die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2016 über 110 Millionen Museumseintritte (aller Museen, nicht nur der Kunstmuseen) aus. Dagegen erscheinen die schlappen 14 Millionen Tickets für die Spiele der 1. Fußball-Bundesliga in der Saison 2017/18 nun doch höchst bescheiden. Ähnlich eindrucksvoll sind die astronomischen Summen, die – meist anonyme – Kunstsammler für einzelne Meisterwerke auf den Tisch zu legen bereit sind, zuletzt 2017 die 450 Millionen Dollar für den Salvator Mundi von Leonardo da Vinci (wobei die Zuschreibung nicht einmal sicher ist) bei Christie’s in New York (in diesem Fall war der Käufer nicht anonym, sondern eine Institution: das Kultur- und Tourismusministerium Abu Dhabis). Einen ähnlichen Hype gibt es um die zeitgenössische Architektur. Es lassen sich architektonische Landmarken neuer Museums- und Konzerthausbauten identifizieren, die dem »Bilbao-Effekt« folgen, also der Absicht, durch spektakuläre Kulturbauten wie das Guggenheim-Museum von Frank Gehry in Bilbao über die angelockten Besuchermassen die Stadtentwicklung anzutreiben. Das Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin zählte bereits tausende Besucher, noch bevor das erste Ausstellungstück im Haus war. Abu Dhabi ließ sich mit dem berückenden Museumsbau von Jean Nouvel allein die Benützung des Namens des Musée du Louvre samt Ausleihoptionen und Kuratorenberatung über eine Milliarde Euro kosten (die Baukosten und die erwähnten 450 Millionen für den Salvator Mundi kommen noch obendrauf). Insofern klingt es schlüssig, wenn auch Philosophinnen auf diesen Trend reagieren und Arbeiten zum Thema auf den Markt werfen. Trotzdem: Die Sorge vor den »wimmelnden Aestheten« ist ein Fehlalarm. Nicht nur zeigt eine genauere Prüfung der Titel dieser publizistischen Flut – meist handelt es sich um einführende Überblicke zu den üblichen Themen der Ästhetik –, dass die

de.statista.com

26

Einleitung

Bubner 1989, 11

Ebd., 9

Adorno 1970, 344

einschlägigen Abhandlungen in einem hohen Grad von Redundanzen geprägt sind. Wer zudem den gesamten Diskurs der Philosophie in den Blick nimmt, stellt rasch fest, dass Kunstphilosophie und Ästhetik sowohl in der Philosophie- und Kulturgeschichtsschreibung als auch in systematischen Darstellungen kaum mehr als das geblieben sind, was sie immer waren: ungeliebte Stiefkinder! Unübersehbar ist das Angebot an Philosophiegeschichten. Es reicht von traditionsreichen vielbändigen gelehrten Ausgaben bis zu populär geschriebenen Paperbacks, wo man Aristoteles gleichsam im Kaffeehaus treffen und die großen Philosophen über die Hintertreppe erreichen kann. Es gibt Philosophie für kleinere und größere Berenikes und natürlich auch für Dummies. In der Spezialliteratur der Philosophie ist die Fülle des erarbeiteten Materials schier erdrückend: uferlos die Abhandlungen über erkenntnistheoretische Fragen, über die Ansätze der Metaphysik, über anthropologische und ethische Probleme, über Logik und Handlungstheorie, Psychologie und Philosophie des Geistes, Medien- und Genderphilosophie. Spärlicher werden schon kulturtheoretische Aspekte und in den meisten Fällen sucht man kunstphilosophische und ästhetische Beiträge vergeblich oder diese werden der Vollständigkeit halber in wenigen Sätzen abgetan. Ähnliches gilt übrigens auch für viele kulturgeschichtlich ambitionierte historische Arbeiten. Zudem ist dort, wo eine ausdrückliche Kunstphilosophie entfaltet wird, nochmals genau hinzusehen, ob wirklich das Interesse an der Kunst im Vordergrund steht oder ob nicht eher eine philosophische Theorie ihren universellen Anspruch dadurch untermauern will, dass ihr Funktionieren neben vielem anderen auch im Bereich der Kunst gezeigt wird. »Die Kunst ist nicht so sehr ein Gegenstand, an dem eine selbstbewußte Philosophie die Kräfte der begrifflichen Bewältigung mißt, vielmehr dient die Kunst als ein Medium, in dem die Philosophie Vergewisserung über ihren eigenen theoretischen Status sucht.« Das Konstatierte gilt nicht nur für die sogenannte sekundäre Ebene des Diskurses, also die kommentierende Forschungsliteratur. Noch ausgeprägter ist das Fehlen von ausdrücklichen ästhetischen Entwürfen seit den Zeiten der deutschen Romantik. Es gibt tatsächlich ein »Verstummen der Philosophie vor der Kunst«. Warum dies so ist – darüber kann man lange räsonieren. Vielleicht stimmt immer noch, was Theodor Adorno konstatierte, als er die Unsicherheit der Geisteswissenschaften gegenüber der so schwer in den Begriff zu bekommenden Kunst ansprach: »Was etwa den gegenwärtigen Geisteswissenschaften als ihre immanente Unzulänglichkeit: ihr Mangel an Geist vorzuwerfen ist, das ist stets fast zugleich Mangel an ästhetischem Sinn. Nicht umsonst wird die approbierte Wissenschaft zur Wut gereizt, wann immer in ihrem Umkreis sich regt, was sie der Kunst attribuiert, um in ihrem eigenen Betrieb ungeschoren zu bleiben; daß einer schreiben kann, macht ihn wissenschaftlich suspekt.« Das jeden Philosophen Herausfordernde ist ja, dass die zeitgenössische Kunst der philosophischen Bewältigung ständig davoneilt: »Angesichts von Flaschentrocknern und (echten und kopierten) Suppendosen nehmen sich überkommene Vorstellungen des sinnlichen Scheinens der Idee im Schönen oder im Erhabenen, des

27

Projekt und Motivation

dionysischen Rausches oder auch des versöhnenden Trostes samt und sonders ungereimt aus, inkommensurabel.« Diese Inkommensurabilität ergibt sich aus der Eigenart der Philosophie, ihrer Rationalitäts-, Schrift- und Sprachorientiertheit: »Denn Orientierung am Logos hat sie [die Philosophie; BB] lange daran gehindert, dem Bild die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie der Sprache.« Dass sich Kunst ganz offenbar rationaler Argumentation und Letztbegründung entzieht, verhindert letztlich, dass es zu einer allgemein akzeptierten Bestimmung dessen kommt, was Ästhetik und Kunstphilosophie überhaupt sein soll. Deshalb gibt es zwar Versuche, die Kunst philosophisch zu domestizieren, aber nur selten wird auf ihr erhebliches Explorationspotenzial eingegangen. Eine intensive Beschäftigung mit den philosophischen Kontexten der Künste lehrt, dass es häufiger als vermutet die Kunst war, welche die Formung von kulturellen Erzählungen geprägt und Einsichten vorweggenommen hat, die erst einige Zeit später in philosophischer Sprache nachgereicht wurden. In diesem Sinn könnte man in der Kunstphilosophie (als eigenständigem Fach) nichts weniger sehen als die Avantgarde der Philosophie. Wer sich für die Kunst-, Architektur- und Kulturgeschichte entflammen lässt, wird nicht zögern, einer selbstbewussten These zuzustimmen, die in charmanter Form Ruth Saw formulierte: »Still I wish to make a positive – and more controversial – claim. It is that the study of aesthetics is of the utmost human utility. At this point I laid down my pen and asked myself seriously whether I was being perverse or would really stand by this opinion.« Ruth Saw hat nach einigem Nachsinnen ihren pen wieder in die Hand genommen und ihr reizvolles Buch fertig geschrieben. Ich gebe gerne zu, dass auch ich für meine jahrelange Arbeit an diesem Werk dadurch motiviert wurde, dass ich die Künste für jene menschliche Kulturtechnik halte, in denen sich alle Kreativität versammelt. Denn nirgendwo sonst sind kulturelle Erzählungen in ihrer schriftlichen und in ihrer bildlichen Form darstellbar. Die Geschichten auf den folgenden Seiten sollten keineswegs als Abstraktionen betrachtet werden. Sie sind existenzieller Ausdruck einer bewegten Geschichte des Menschlichen-Allzumenschlichen. Wer über philosophische Erzählungen schreibt, schreibt daher auch automatisch an Kapiteln einer Anthropologie und man gelangt dabei unversehens zu einigen anthropologischen Konstanten – gleichsam auf empirischer Grundlage. Solches ausdifferenziert darzustellen, hätte den ohnehin weiten Rahmen dieses Werks vollends gesprengt. Ein paar wenige Hinweise dazu mögen in der resümierenden Schlussbetrachtung erlaubt sein. Der Kunstphilosophie käme demnach nicht nur innerhalb der Philosophie der Status einer explorierenden Avantgarde zu, sondern mit Blick auf die Eigenart der kulturellen Erzählungen der Künste ließe sich überdies eine überzeugende Legitimation der Geisteswissenschaft ganz allgemein formulieren, die eher kopfschüttelnd auf den erstaunlich abstrakten und komplexen einschlägigen Diskurs blickt. Es geht bei diesem Diskurs letztlich um die Deutungsmacht jener von den Geisteswissenschaften verwalteten Erzählungen im Vergleich zu den narrativen

Koppe 1991, 7f

Boehm 1994, 11

Saw 1972, 20

28

Einleitung

3 Ausmeißelungen von Gesichtern auf den Kapitellen der Säulen des Dendera-Tempels in Ägypten

4 Abgehackte Köpfe an der Kathe­ drale von Auxerre

Konstruktionen anderer Wissenschaften. Machtbewusste und Kunst und Kultur schätzende Renaissancehumanisten sahen in dieser Hinsicht klarer als der Machtpolitiker Stalin, sollte der von ihm kolportierte Spruch auf der Konferenz in Jalta tatsächlich so gefallen sein: »Wie viele Divisionen hat der Papst?« Der Fürst Mailands, Gian Galeazzo Visconti, bemerkte zu den Briefen an Staatsmänner und Regierungen des erfolgreichen Humanisten, Kanzlers und Außenpolitikers von Florenz, Coluccio Salutati, sie seien gefährlicher als eine ganze Reiterabteilung. In der Tat werden keine Kriege ge­führt, um zwischen den Methoden Werner Heisenbergs und Erwin Schrödingers zur Formulierung der Quantentheorie zu entscheiden und auch nicht deswegen, ob es nun vier elementare Kräfte in der Natur gibt oder ob man mit weniger auszukommen glaubt. Aber es wurden und werden Kriege geführt um Geschichtsdeutungen und Staatsmodelle, um Gesellschaftsideologien und – vor allem – um religiöse Erzählungen und deren Sedimentierungen im Bild und in Bauwerken. Man kann das bedauern und vielleicht zynisch auf die fehlende empirische Basis solcher Erzählungen hinweisen, die letztlich als anerkanntes Falsifikationskriterium dient. Aber da das Leben von Menschen nun einmal von kulturellen Erzählungen geprägt wird, erübrigt dieser Tatbestand allein eigentlich jede abgehobene Diskussion um die Bedeutung der Geisteswissenschaften. Die einschlägigen Abteilungen bergen unzählige Divisionen auf ihren Bücherborden und jeder, der gelernt hat, damit umzugehen, wird gleichsam zu einem Oberbefehlshaber, der seine Bataillone in Schach hält oder in die Schlacht schickt. Schon allein der Umgang mit solch explosiven Stoffen, wie sie kulturelle Erzählungen sind, hat mein bisheriges wissenschaftliches Arbeiten höchst aufregend gemacht. Zurückkommend auf die erwähnten Fehlstellen von Kunstphilosophie und Ästhetik kann es nicht verwundern, dass, der vermeintlichen Publikationsflut von Arbeiten zur Kunstphilosophie zum Trotz, Überblicke über die Geschichte der Kunstphilosophie zum Unterschied von Philosophiegeschichten auf der einen und Kunstgeschichten auf der anderen Seite, die es in jedem wünschbaren Umfang und Format gibt – vorsichtig ausgedrückt –, rar sind. Das stellte vor 160 Jahren bereits Robert Zimmermann fest, der damals eine Geschichte der Ästhetik verfasste. Er schrieb: »Eine Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft jedoch, wie es dergleichen für die Rechtsphilosophie […], für die Moralphilosophie […], für die Logik […], für die Psychologie gibt, ist in der philosophischen Literatur der

29

Projekt und Motivation

Deutschen bisher noch nicht vorhanden gewesen. Aber auch nicht in der französischen und englischen.« In den Sechzigerjahren erschien das dreibändige Werk von Wladyslaw Tatarkiewicz, neben Monroe Beardsleys schmalem Bändchen Aesthetics from Classical Greece to the Present (1966), die bislang letzte Gesamtdarstellung aus philosophischer Sicht, die bei allen Verdiensten in manchen Teilen zwangsläufig nicht mehr den aktuellen Diskussionsstand widerspiegelt. Dazu beginnt Tatarkiewiczs Darstellung in der klassischen Antike und endet in jener Zeit, in der die Ästhetik als philosophische Disziplin erst inauguriert wurde. Gleiches gilt für die 1996 von Götz Pochat vorgelegte Geschichte der Kunsttheorie, die den Fragen aus der Perspektive des Kunsthistorikers nachgeht. Beide Arbeiten sparen leider das 20. Jahrhundert aus, das aus Sicht einer philosophischen Ästhetik das produktivste war. Daneben gibt es etliche und sehr qualitätvolle Untersuchungen zu einzelnen Perioden. Dass diese Darstellungen in der Regel die Fachgebiete der Autorinnen abbilden, liegt auf der Hand und diese Bemerkung bringt mich zu einem heiklen Punkt: Darf ein einzelner Autor sich eine solche Aufgabe, die Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik von den Anfängen bis zur Gegenwart zu beschreiben, überhaupt aufbürden? Diese Frage bleibt auch dann kritisch zu stellen, wenn man eine bewusst gewählte Einschränkung auf Europa (inklusive der historischen Herkunft) und auf die Genres der Architektur und der bildenden Kunst gewählt hat, also neben der geographischen Einschränkung Literatur, Musik, Theater, Tanz aus der Betrachtung ausspart. Ist es nicht vielmehr heute gängige Praxis, ein solches Projekt einem Autorenkollektiv zu überantworten? Eine solche Meinung hat sehr viel Berechtigung und wenn ich hier einen anderen Weg gewählt habe, bedeutet das nicht, dass ich eine solche Vorgehensweise grundsätzlich für verfehlt hielte. Aber es gibt zumindest drei Argumente, mit denen man aus meiner Sicht ein solches Vorgehen eher kritisch sehen und – vice versa – eine »Einzeltäterschaft« stützen könnte: (1) Die vorliegende Arbeit will eine ausdrückliche Ideengeschichte entfalten, wo sich aus der Betrachtung der geschichtlichen Zusammenhänge und Entwicklung kultureller Erzählungen und Ideen ein systematischer Mehrwert ergibt. Ein solcher Anspruch ist mit einer größeren Zahl von Autorinnen mit ihren jeweils unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen auch bei bester Moderation durch den Herausgeber kaum einzulösen. Im Zweifel war mir die Entwicklung der kulturellen Erzählungen wichtiger als eine erschöpfende Rekonstruktion von Einzelpositionen. Das Buch trägt deshalb auch nicht einen Titel wie etwa: Ästhetische Positionen in der Philosophiegeschichte. (2) Es ist ein übliches Faktum, dass sich in der scientific community laufend Spezialistinnen für bestimmte Themen und Sachgebiete etablieren, deren Sichtweisen im besten Fall als neuester Stand der Forschung zu würdigen sind. Auf die Namen dieser Expertinnen stößt man in der Regel in verschiedenen einschlägigen Philosophiegeschichtebüchern und Lexika immer wieder, was zwangsläufig zu inhaltlichen und methodischen Redundanzen führt. Zudem stellt sich in solchem Zusammenhang die diskussionswürdige Frage, ob globale Darstellungen der Philosophiegeschichte (und

Zimmermann 1858, VI

30

Einleitung

damit eben auch solche einer Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik) überhaupt der richtige Ort sind, die neuesten Thesen zu einzelnen Positionen zu präsentieren oder ob dies nicht der einschlägigen monographischen Fachliteratur vorbehalten bleiben sollte. Dort hat sich diese jeweilige Sicht vor dem Diskurs der scientific community zu bewähren, ehe sie in Überblickswerke eingeht, die sich meinem Dafürhalten nach eine gewisse Offenheit gegenüber jeweils anderen Ansätzen bewahren sollten. (3) Das bringt mich zum wichtigsten Argument. Es ergibt sich aus der Tatsache, dass systematische Fächer, wie die Philosophie eines ist, zu Schulbildung und Methodenverengung neigen. Im schlechtesten Fall zerfallen Sammelwerke nicht nur durch die isolierte Darstellung einzelner Philosophen, sondern auch noch durch verschiedene methodische Zugänge. Das verunmöglicht den Blick auf einen größeren, sich über historische Epochen hinweg erstreckenden Sinnzusammenhang, was nicht nur ein Problem jeder historischen Erzählung ist, sondern auch eines der systematischen Entfaltung. Daher habe ich versucht, aus einer übergeordneten Sicht nicht nur die verschiedenen inhaltlichen Deutungen, sondern auch die Vielfalt der methodischen Zugänge im Auge zu behalten und diese so weit wie im gesteckten Rahmen möglich zu dokumentieren. Neben diesen drei Überlegungen, die mich leiten, muss ich einräumen, dass ich das Dirigat über Fragestellungen und Organisation dieser Arbeit nicht gerne aus der Hand geben wollte. Denn meine wichtigste Motivation war das Vergnügen daran, die Geschichte, die ich mir zu erzählen vorgenommen habe, als Ganze zu erzählen und nicht nur einen kleinen Beitrag beizusteuern, den andere vielleicht durch eine ganz andere Wendung wieder konterkarieren. Vergnügen zu haben mag für wissenschaftliches Arbeiten keine erlaubte Grundlage sein, sehr wohl aber ist es eine (starke und aus meiner Sicht mit Blick auf das akademische Leben auch ziemlich ehrliche) Motivation für die vielen Lebensjahre, die für die Durchführung eines solchen Projekts notwendig sind. Ich bin, das ist meinem nun leider schon lange zurückliegenden Geburtsjahr geschuldet, ein Wissenschaftler der alten Schule, der sich nie von einem Forschungsprojekt-Schnellschuss zu einem anderen hangeln musste, sondern an der Universität Innsbruck den selten gewordenen Luxus erlauben konnte, sich (neben den üblichen Verpflichtungen von Lehre und Verwaltung) weitgehend ungestört in seinen Forschungsgegenstand, die Sichtung der schönsten Seiten menschlicher Kreativität, zu vertiefen. Ich habe keine Projektanträge geschrieben, keine Drittmittel akquiriert, sondern habe zwei Jahrzehnte lang mit Neugierde und Begeisterung an allen möglichen echten und provisorischen Schreibtischen, zuhause, am Institut, in Zugabteilen, in diversen Hotels und auf Campingplätzen, an Meeresküsten und Seeufern, selbst in schwankenden Kajüten von Yachten über dem Manuskript gebrütet. Da mit diesem sehr persönlichen Projekt auch keine Karriereabsichten verbunden waren, hätte ich die Arbeit unverzüglich beendet, hätte der Spaß an der Sache irgendwann aufgehört. Das Fazit aus den drei aufgezählten Argumenten ist, dass mir meine Vorbehalte gegenüber dem Genre von Teamprojekten automatisch die Latte ziemlich hoch legen, die die vorliegende Untersuchung überspringen muss. Es geht um den »roten

31

Inhaltliche Vorbemerkung

Faden«, also den systematischen Anspruch und es geht um kreative Darstellung. Auf diesen »roten Faden« werde ich gleich zurückkommen. Die kreative Darstellung wiederum könnte man mit einigem Humor schon deshalb erwarten, weil sich der Autor in diesem Fall tief in Gebiete wagt, die weit von seinem eigentlichen Forschungspfad entfernt liegen. Das ist mir auch bewusst und es geht mir hier keinesfalls anders als den vielen Autoren, welche die Mühe des Verfassens von Profangeschichten, Philosophiegeschichten oder Kunstgeschichten auf sich genommen haben. Um dieses Problem einigermaßen in den Griff zu bekommen, habe ich zu allen Abschnitten und zu vielen einzelnen Kapiteln die rege Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen gesucht, sie um Rat und Kritik gebeten und kleinere oder größere Teile gegenlesen lassen. Schon an dieser Stelle sei ihnen allen herzlich gedankt. Die vielen Diskussionen waren erhellend, spannend und sie haben mir neue Horizonte erschlossen. Wie das in solchen Fällen immer ist, habe ich viele Anregungen aufgenommen, manchen Rat jedoch auch in den Wind geschlagen und bei widersprechenden Empfehlungen mich für die mich überzeugendere Variante entschieden. Unnötig zu erwähnen, dass die Verantwortung für alles, was in den folgenden Seiten geschrieben steht, daher selbstverständlich alleine bei mir liegt.

2.0.

XI.5.0.

2.0. Inhaltliche Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit ist ein erzählender Überblick über die Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik anhand der bildenden Kunst und Architektur Europas. Die postmoderne Beendigung der großen philosophischen Systemerzählungen, die mein philosophisches Koordinatensystem nicht unwesentlich geprägt hat, destruiert universelle Sinn-, System- und Wahrheitsansprüche, aber nicht eine narrative Herangehensweise an ein Thema. Im Gegenteil: Diese postmoderne Intervention ist eine Aufforderung, kulturelle Entwürfe als das zu nehmen, was sie sind: kulturelle Erzählungen. Ihre Wechselwirkungen und ihre Zusammenschau transportieren naturgemäß auch systematische Thesen. Sie sind kulturtheoretischer und anthropologischer Art.

2.1. Kunstphilosophie und Ästhetik Was ist nun dieses Niemandsland zwischen Philosophie und Kunstgeschichte, um das es in den kommenden vielen Seiten gehen soll? Ästhetik und Kunstphilosophie sind nirgendwo verbindlich definierte Begriffe, aber in ihnen sind jene künstlerischen Genres heimisch, die aus der Philosophie bereits im 19. Jh. ausgezogen sind. Aus Gründen, die ich im systematischen Abschnitt ausführlicher darlegen werde, trete ich für eine Unterscheidung von Kunstphilosophie und Ästhetik ein. Das Ergebnis der dortigen Ausführungen vorwegnehmend, plädiere ich für die umstandslose Etablierung des Fachs Kunstphilosophie in Analogie zu anderen speziellen Genres der Philosophie wie Metaphysik oder Wissenschaftsphilosophie. Der häufig vorgebrachte Einwand einer fehlenden exakten Bestimmung eines solchen Fachgebie-

X.1.0.ff.

32

Einleitung

2.2.

X.1.2./X.1.4.ff.

tes relativiert sich schon dadurch, dass das auch für andere Genres der Philosophie gilt. Wenn man darauf blickt, welch unterschiedliche inhaltliche und methodische Zugänge sich unter den Titeln Metaphysik und Ontologie versammeln, dürfte das Gemeinte klar sein. Kunstphilosophie wäre dann jene philosophische Disziplin, in der die Fragen um die Kunst im weitesten Sinn abgehandelt werden, vom Wesen der Kunst über den Sinn von Schönheit, über Rezeptionsfragen und die Eigenart ästhetischer Urteile bis hin zu den kulturellen Kontexten, mit denen Kunst kommuniziert. Selbstverständliche methodische Voraussetzung einer solchen Auffassung von Kunstphilosophie ist die gleich zu beschreibende Interdependenz kultureller Erzählungen. Nur so lässt sich eine Transversalität des Begriffs der Kunstphilosophie aufrechterhalten, bei der die ausgewählten Genres, bildende Künste und Architektur, in Verbindung mit der Kulturgeschichte gebracht werden können. Ästhetik demgegenüber hätte zu tun mit sinnlicher Erfahrung. Denn am Beginn jeder ästhetischen Äußerung steht eine sinnliche Wahrnehmung in irgendeiner Form. Ästhetik wird sich dann – abseits von den alten Vorstellungen einer Theorie des Schönen oder des sinnlichen Erscheinens – definieren lassen als Theorie ästhetischer Erfahrung. Ich habe bereits mehrmals auf die Einschränkung des vorliegenden Werks auf bildende Kunst und Architektur verwiesen. Nun wird diese Begrifflichkeit in der einschlägigen Literatur verschieden verwandt. Der Ausdruck bildende Kunst, der Ende des 18., Anfang des 19. Jh.s aufkam, umfasst meist alle gestaltenden Künste, also neben Malerei, Bildhauerei, Grafik, Fotografie, Film auch die Baukunst. Wenn ich im Folgenden zwischen bildender Kunst und Architektur unterscheide, entspringt das keiner begriffstheoretisch ausgefeilten These, sondern dient einfach dazu, einen sprachlichen Unterschied der beiden hauptsächlich besprochenen Genres, Malerei und Skulptur auf der einen, Architektur auf der anderen Seite, machen zu können.

2.2. Interdependenz kultureller Erzählungen

Muthesius 1902, 12

Für das von mir gewählte und dieser Arbeit zugrundeliegende Vorgehen gibt es eine zentrale Voraussetzung: Jede Beschreibung einer Kultur-, Ideen- oder Philosophiegeschichte lebt (jedenfalls verstehe ich das so) aus der Rekonstruktion von kulturellen Erzählungen, von Entfaltung, Entwicklung, Veränderung und Wirkung solcher Erzählungen und der damit verbundenen Ideen. Dabei steht man nicht vielen isolierten Erzählungen gegenüber, sondern einem Zusammenspiel verschiedener Genres der menschlichen Kultur. Die Grundlage dafür ist, dass es einen Austausch zwischen beispielsweise Philosophie, Architektur, Kunst, Ökonomie und Wissenschaft in irgendeiner Form auch gibt. Zu einer solchen Art einer kulturellen Interdependenz, die natürlich nicht kausal verstanden werden darf, bekenne ich mich ausdrücklich, ähnlich wie das Hermann Muthesius vor hundert Jahren formulierte, für den alles in einer Kulturperiode, »[V]on der Tabakdose des einfachen Bürgers bis zum vollendetsten Kunstmöbel der fürstlichen Zimmerausstattung, von der kleinstädtischen Bürgerhausfaçade bis zur prunkenden Jesuitenkirche […] denselben Geist«, atmet.

33

Inhaltliche Vorbemerkung

Ich stehe mit dieser Sicht in völligem Widerspruch zu Meinungen, wie sie ebenso kompromisslos wie plakativ von Paul Veyne vertreten werden (auf dessen vielfältige spannende Forschungsergebnisse ich an anderer Stelle öfters verweisen werde), der eine solche Beziehung strikt leugnet: »Der Impressionismus ist zwangsläufig mit der Zeit um 1870 verbunden, ebenso wie die Pariser Börse und die Reifröcke. Daran, dass hier ein notwendiger Zusammenhang besteht, werde ich allerdings erst glauben, wenn jemand die Verbindung zwischen dem Impressionismus und dem Börsenkapitalismus überzeugend nachgewiesen hat.« Die Frage solcher Interdependenzen war immer umstritten. In aller wünschbaren Ausgewogenheit hat Heinrich Wölfflin bereits 1888 das Thema angesprochen: »Man findet recht viel Lächerliches in den sogenannten kulturhistorischen Einleitungen, die jeweilen einem Stil in den Handbüchern vorausgeschickt zu werden pflegen. Sie fassen den Inhalt großer Zeiträume unter sehr allgemeinen Begriffen zusammen, die dann ein Bild der öffentlichen und privaten Zustände […] geben sollen. Gewinnt das Ganze dadurch schon einen blassen Charakter, so fühlt man sich vollends verlassen, wenn man nach den vermittelnden Fäden sucht, die diese allgemeinen Thatsachen mit der fraglichen Stilform verbinden sollen.« Trotz solcher Vorbehalte steht die Existenz von etwas, was er Zeitgeist nannte, für Wölfflin außer Frage, sodass »die Technik niemals einen Stil schafft, sondern wo man von Kunst spricht, ein bestimmtes Formgefühl immer das Primäre ist.« Ein neuer Stil basiert auf einem veränderten Zeitgeist: »Der Stilwandel von der Renaissance zum Barock ist ein rechtes Schulbeispiel, wie ein neuer Zeitgeist sich eine neue Form erzwingt.« Und als Antwort sei Veynes pointierter Ablehnung solcher Zusammenhänge ein ähnlich pointiertes Zitat Wölfflins entgegengestellt: »Man vergleiche etwa einen Schuh der Gothik mit dem der Renaissance. Es ist ein ganz anderes Gefühl des Auftretens: dort schmal, spitz, in langem Schnabel auslaufend, hier breit, bequem, mit ruhiger Sicherheit am Boden haftend u.s.w.« Es geht hier keineswegs um irgendeine Form von Widerspiegelungstheorie oder um eine marxistisch angehauchte Basis-Überbau-Lehre, es geht auch nicht um den Optimismus Hegels, den Geist der Zeit wahrhaftig auf den einen Begriff zu bringen. Das haben kluge Köpfe immer zu bedenken gegeben: »Leicht und kühn zitiert ihr den Geist der Zeit […] Da die Zeit in Zeiten zerspringt, wie der Regenbogen in fallende Tropfen: so gebt die Grösse der Zeit an, von deren inwohnendem Geist ihr sprecht! […] da dieselbe Zeit einen andern Geist heute entwickelt […] so frag’ ich, wo erscheint euch denn der zitierte Zeitgeist deutlich, in Deutschland, Frankreich, oder wo?« Es geht vielmehr um die schlichte Tatsache, dass Kunst und Architektur keine blickdichten Blasen in der Welt bilden und dass die im 20. Jh. aufgekommene Vorstellung einer radikalen Selbstreferentialität der Kunst eine idealisierte Vorstellung ist, die sich so in der Realität kaum je findet. Das Anliegen der meisten Künstlerinnen trifft eher der Architekt Jean Nouvel, wenn er die Aufgabe der Architektur in der Erzeugung von Orten der Geschichte sieht. Dies könne indes nur gelingen, wenn sie kontextuell arbeitet. Aufgrund solcher Ambitionen kann Beat Wyss feststellen:

Veyne 2009a, 161

Wölfflin 1915, 9

Wölfflin 1888, 84f

Jean Paul 1806, 65f

34

Einleitung

Wyss 1993a, 8

Schlegel 1797, 148 Adorno 1970, 532

»Texte, welche die Künstler interessieren, haben in der Regel nicht mit Kunst zu tun: sondern mit Mystik, Naturwissenschaft oder Philosophie; darin wird die Verankerung ästhetischer Konzepte gesucht und nicht etwa in Geschichte.« In dieser Frage weiß ich mich also in einen weit gespannten Konsens in Theorie und Praxis eingebunden und es gibt für viele Abschnitte der Kulturgeschichte schöne Belege für eine solche Interdependenz. Eine solche Interdependenz nicht nur gleichsam horizontal als Zusammenklang einer bestimmten Periode, sondern auch vertikal über die europäische Kulturgeschichte hinweg zu rekonstruieren und ein Stück weit kommentierend fruchtbar zu machen, ist das Anliegen dieses Werks und das eigentliche Faszinosum für den an der Ideengeschichte interessierten Philosophen. Der »rote Faden«, von dem oben die Rede war, spannt sich erst dann durch diese Bücher, wenn die Leserin und der Leser ein Sensorium für einen solchen genius temporum entwickelt und sich eine Neugierde für den Austausch solcher kultureller Erzählungen bewahrt. Bei der langen Arbeit an diesem Projekt war ich immer wieder aufs Neue von kniffligen Fragen umzingelt. Die meisten dieser Fragen mache ich mit mir selbst aus. Einige wenige tangieren jedoch die Leserin und den Leser. Eine besonders heikle war jene nach dem Kurshalten zwischen der Skylla einer reinen Philosophiegeschichte und der Charybdis der Kunstgeschichte. Friedrich Schlegel hat das im Lyceums-Fragment 12 prägnant auf den Punkt gebracht: »In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden: entweder die Philosophie oder die Kunst.« Auch Adorno, der die Schlegel-Stelle zitierte, hat angemahnt, die Geschichtlichkeit der Ästhetik nicht zu übersehen. »Geschichte ist der ästhetischen Theorie inhärent. Ihre Kategorien sind radikal geschichtlich; […].« Es war für mich von Anfang an klar, dass eine Geschichte der Kunstphilosophie und Ästhetik nicht anders als im Gespräch mit der Kunstgeschichte durchgeführt werden kann. Ein solches Vorgehen scheint einleuchtend. In jedem Fall ergibt es sich schon aus folgender Sachlage: Wenn man die Aufgabe angeht, einen Überblick über theoretische Positionen zur Kunst zu rekonstruieren, stößt man naturgemäß sehr schnell auf das Problem, dass über viele Jahrhunderte dafür die Textgrundlage fehlt. Kunstphilosophie, will sie darauf nicht einfach mit Schweigen reagieren, darf sich daher schon zwangsläufig nicht der Betrachtung der Werke der Kunst selbst verschließen. Zur Kunstphilosophie gehören nicht nur ästhetische Theorien und Explikationen von Künstlern und Architekten, sondern auch die Kunst- und Baupraxis selbst. Zeitweise bevorzugte die Kulturwissenschaft, namentlich die Völkerkunde, die materielle Kultur, weil sie sie für objektiver hielt als die in Texten niedergelegten Reflexionen. Das mag heute nicht mehr so gesehen werden, aber dass eine Beachtung materieller kultureller Produkte einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der jeweiligen kulturellen Erzählungen leistet, sollte außer Frage stehen. Selbstredend muss man sich stets der Fallstricke der Verführung von Projektionen und nötigen spekulativen Anmutungen bei solchen Rekonstruktionen aus (womöglich nur fragmentarisch erhaltenen) Artefakten bewusst bleiben.

35

Inhaltliche Vorbemerkung

Zugleich ist es ein Faktum, dass solche Rekonstruktionen aus materiellen Werken nicht nur für theorielose oder gar schriftlose Zeiten notwendig sind, sondern auch für Epochen, die beides anbieten – bis zur Gegenwart. Dabei tauchen noch ganz andere, gegenläufige Aspekte auf. Es begegnen sich in jedem einzelnen Werk kulturelle Standardisierungen und individuelle Eigenheiten, also Kollektiv und Individuum. »Ein Riemenschneider Altar ist zwar Dokument einer bestimmten mittelalterlichen Kultur, aber auch ein Riemenschneider, der sich von anderen Altären derselben Epoche durch individuelle Besonderheiten unterscheidet.« Dabei gilt es stets, den Spielraum des Individuums gegenüber kollektiven Standardisierungen im Auge zu behalten. Theoretische Reflexionen erhalten ihr »Fleisch« (mit Kants Worten: ihre Anschauung) einzig und allein aus der Praxis des Kunsttreibens selbst. Philosophische Ästhetiken, wo im Namensverzeichnis nicht eine einzige Künstlerin aufscheint, sind eher Ausdruck eines akademischen Autismus als ein ernsthaftes Anpacken der Sache. Ich sage das, auch wenn ich weiß, dass es Vorbehalte zu beiden Standpunkten gibt: einer zu großen Ferne und einer zu großen Nähe zur Kunstgeschichte bzw. zur Kunst. Bei letzterer befürchtet man, dass über der emotionalen Bindung an einzelne Werke das Ganze der Kunst und der Kunstphilosophie aus dem Blick gerät. Auf solche Fragen wird im Abschnitt über die Systematik zurückzukommen sein. Für den Moment soll nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Abgrenzungsfragen keineswegs trivial waren und auch nicht überall ideal gelungen sein mögen. Die Grenzziehung wurde dabei naturgemäß durch die unterschiedlichen Arten beeinflusst, wie Kunstgeschichte betrieben wird. Dort, wo sich die kunstgeschichtliche Methode auf eine (bisweilen ins Positivistische kippende) isolierte Betrachtung von Kunstwerken erschöpft, ist die Distanz größer. Dort, wo sie kontextorientiert arbeitet, kunsttheoretische und kulturgeschichtliche Aspekte berücksichtigt, ist die Überlappung größer. Eine solche kunstgeschichtliche Methode, wie die von mir als Philosoph sehr geschätzte Ikonologie von Erwin Panofsky, ist konsequenterweise sogar Untersuchungsgegenstand in dieser Arbeit.

Hansen 2011, 138

2.3. Über die Macht der Dinge und das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe Dieses Bekenntnis zum materiellen Werk als legitimen Untersuchungsgegenstand auch einer Kunstphilosophie darf selbstredend nicht übersehen lassen, dass Kunstphilosophie nicht primär von isolierten materiellen Dingen handelt, sondern von dem, was Autorinnen »the power of things« genannt haben. Gegenstände sind nie nur Materie, sie sind immer auch Bedeutung. Sie haben eine Aura, wirken Wunder, stehen für etwas anderes als das, was sie darstellen, oder sie werden von derartigem Mehrwert ausdrücklich auf ihre technisch-industrielle Natur hin »befreit«. Die folgende Geschichte ist keine von materiellen Kunst- und Architekturwerken, sondern von ihren Bedeutungen und den an sie geknüpften Erzählungen. Sie basiert auf dem Wunder, wie es überhaupt möglich ist, »mit bloßem Stoff (Pigmenten und Pinsel) appliziert auf einen materiellen Träger (Holz, Putz, Leinwand, Blech etc.), die höchsten Geheimnisse der Religion, des Geistes, oder eines aesthetischen Entzückens [zu] repräsentieren? […] Woher nehmen Bilder ihre Macht?«

Saurma-Jeltsch 2010

Boehm 1994, 327

36

Einleitung

Füssel 2017, 34

Kistler/Ulf 2012

Geertz 1983, 9

Ebd.

Die folgende Geschichte ist eine »Kultur-Geschichte« im besten Sinn des Wortes. Dieser Anspruch wiederum bringt es zwangsläufig mit sich, mit Blick auf den Kulturbegriff ein neues Fass zu öffnen. Dies schon deshalb, weil ich im Folgenden den Kulturbegriff angesichts von mehreren Dutzend Definitionsvorschlägen eher pragmatisch verwenden werde und damit Gefahr laufe, einem »Feuilleton-Kulturbegriff« zu verfallen. Es ist trotzdem völlig aussichtslos, diese Fragen trotz der nicht geringen Anzahl von Druckseiten hier in einem wünschenswerten Umfang zu behandeln. Wenigstens Absicht und methodische Option sollen aber in einem kurzen Stakkato offengelegt werden. Vorweg gilt es daher festzuhalten, dass ich im Sinne der neueren Kulturtheorie und unter Berücksichtigung des »kulturellen Wandels«, dem auch der Kulturbegriff unterliegt, (1) den Kulturbegriff nicht an bestimmte Träger binde, sondern an bestimmte Praktiken (oder, wie Christoph Ulf und Erich Kistler vorschlagen, an kulturelle Akteure) – ohne dabei eine gruppenspezifische Färbung solcher Praktiken zu leugnen – und dass ich (2) dem großen Konsens folge, den Clifford Geertz, mit Max Weber im Hintergrund und Ernst Cassirer paraphrasierend, in seiner bekannten Definition abgesteckt hat. Demnach ist der Mensch ein Wesen, »das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.« Unter Aufnahme eines Ausdrucks von Gilbert Ryle spricht Geertz von einer dichten Beschreibung. Diese semiotische Bestimmung impliziert auch eine konstruktivistische Komponente. Es geht um eine (immer schon durch das Subjekt strukturierte) Beschreibung und eine Deutung gegebener Daten. Das heißt: Um die erwähnten Gegenstände (und Naturereignisse!) herum spinnen Menschen ein Bedeutungsgewebe, indem sie diese als Zeichen auffassen. Aus solchen mit Erzählungen aufgeladenen Gegenständen werden soziale Körper gebaut, welche Körper wieder neue Erzählungen generieren. So wie sich um Gegenstände oder Produkte und Ereignisse der Natur Erzählungen bilden, verdichtet sich umgekehrt das Gewebe der Erzählungen zu Artefakten. Man steht bei der Analyse vor einem hochdynamischen Geschehen, wenn sich solche Gegenstände und damit die mit ihnen verbundenen Erzählungen geographisch bewegen, oder andersherum: wenn Akteure sich in Gegenden begeben, wo Dinge mit anderen Erzählungen aufgeladen sind. Auch die Wechselbeziehungen zwischen Erzählungen und Gegenständen, sowie Gegenständen und Rezipientinnen, Konsumentinnen und Nutzern, verweisen auf ein dynamisches Geschehen. Die Zusammenhänge machen klar, wie sehr die bekannten Bilderstürme und Zerstörungen von Werken der Kunst und Architektur Zerstörungen der mit ihnen verbundenen Geschichten sind. Umgekehrt ließen sich politische Machtansprüche durch den Einsatz von ein paar Obelisken aus Ägypten oder antiken Säulen, aus alten Bauwerken entwendet und oft über weite Strecken verfrachtet, untermauern. Die Untersuchung solcher Zusammenhänge »ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« Diese Fragen zu behandeln wäre ein eigenes Thema, aber sie werden im Folgenden hier und da in passenden Kontexten auftauchen und kurz angesprochen werden.

Methodische Vorbemerkung

Einer Kunstphilosophie ließe sich derart die Aufgabe zuweisen, die aus Naturgegenständen und Artefakten (die selbst bereits als »philosophische Aussagen« gedeutet werden können) entstehenden kulturellen Erzählungen zu sondieren, während andere philosophische Genres die Beziehungen dieser Erzählungen untereinander ordnen.

3.0. Methodische Vorbemerkung Das Verhältnis zwischen historischem (Abschnitte I–X) und systematischem Teil (Abschnitt X) scheint bei Betrachtung des Inhaltsverzeichnisses völlig unausgewogen. Sollte dieser Eindruck aufkommen, handelte es sich allerdings um ein Missverständnis. Geschichte und Systematik sind in meinem Verständnis kein Gegensatz. Die ideengeschichtliche Sicht auf die Geschichte ist stets von systematischen Inter­essen geleitet, während eine Systematik ohne historisches Fundament eigenartig abgehoben bleibt. Im Folgenden werden daher im geschichtlichen Teil unentwegt systematische Fragen abgearbeitet. Im Abschnitt X geht es um eine resümierende Zusammenführung der zahlreichen Positionen unter systematischen Gesichtspunkten und um die Aufarbeitung von Fragen, die bis dahin keinen rechten Ort der Darstellung gefunden haben, wie allgemeine Fragen nach der Kunst, dem Kunstwerk, dem Schönen oder nach den Begriffen Kunstphilosophie und Ästhetik generell. Zu den methodischen Bemerkungen gehört, ähnlich wie beim Impressum von Druckwerken, die Offenlegung der eigenen methodischen Position sowie der präferierten Schulrichtung. Gehört Erstgenanntes zum Standard, ist die Offenlegung der philosophischen Ausrichtung keineswegs selbstverständlich. In aller Regel operieren Kolleginnen und Kollegen nämlich meist unreflektiert im Rahmen ihrer methodischen Position, sei es eine phänomenologische, hermeneutische, idealistische, materialistische, existentialistische, strukturalistische, poststrukturalistische, positivistische, analytisch-sprachphilosophische etc., und erwecken dabei den Eindruck, ihre Position entspreche dem gängigen philosophischen Tagesgeschäft. Das Problem dabei ist, dass die eingenommene Position auch das Ergebnis mitbestimmt. Zum Unterschied von vielen meiner Kolleginnen konnte ich mich nie exklusiv für eine bestimmte philosophische Schule erwärmen. Mein Problem dabei waren die zwangsläufigen Engführungen, in die jede Position früher oder später führt, was letztlich, etwas geschwollen ausgedrückt, zu einem Verlust der Lesbarkeit von Welt führt. Bei der vorliegenden Darstellung empfand ich diese Einstellung als Vorteil. Denn es ist mein Anliegen, soweit das im gegebenen Rahmen möglich ist, die verschiedenen methodischen und philosophischen Positionen in ihren Eigenarten, ihre Stärken und Schwächen zu würdigen. Die Darstellung der verschiedenen Inhalte umfasst daher auch die Darstellung der verschiedenen Methoden, mit denen die jeweiligen Inhalte eine unterschiedliche Bewertung erfahren. Wie einem das oft passiert im Leben eines Wissenschaftlers, habe ich diesen Gedanken bei einem anderen in so pointierter Formulierung gefunden, dass ich es selbst nicht besser zu

37

38

Einleitung

Connelly 2007, 276

X.2.1.

sagen vermöchte: »Like tools in a tool kit, different methods can be used to achieve different results. The multimethodological approach allows for checks an balances, as well as for surprises, opening up new possibilities that could never have been anticipated in advance.« Auch wenn ich mich keiner philosophischen Schule im engeren Sinn zugehörig fühle, bedeutet das nicht, dass ich nicht für bestimmte Methoden mehr und für andere weniger Sympathie bekunde und von ihnen in verschiedener Intensität angeregt worden bin. In der Philosophie haben Ideen der Poststrukturalisten manch heilsames Erweckungserlebnis im Schlummer eines scheinbar sicheren Koordinatensystems ausgelöst. Gleichwohl bin ich einem rudimentären Idealismus dort verhaftetet geblieben, wo es schlicht um den Sprachgebrauch geht. Ich werde im Folgenden von der bildenden Kunst, der Architektur und den Kunstwerken sprechen, wenngleich ich natürlich um die Problematik solcher Verallgemeinerungen weiß und mich mit dieser an entsprechender Stelle auseinandersetzen werde. Und die Ausrichtung auf kulturelle Erzählungen impliziert, dass man die Augen vor konstruktivistischen Aspekten bei deren Formulierung nicht verschließt. Nach dem bisher Gesagten bündelt sich mein methodisches Vorgehen in fünf Punkten: (1) Es geht um die Akzeptanz von Interdependenzen kultureller Erzählungen, also der Verstrickung von Kunst und Architektur in die Kulturgeschichte, als notwendige Voraussetzung für eine ideengeschichtliche Betrachtung von Kunstphilosophie und Ästhetik. (2) Solche Interdependenzen basieren auf dem im letzten Kapitel beschriebenen Kulturbegriff als ein Gewebe selbstgesponnener (damit eben auch konstruierter) Erzählungen. Er vermeidet einen Essentialismus und ist für die vorliegende Untersuchung leitend, auch wenn der Ausdruck Kultur im Folgenden (letztlich aus Gründen der Bequemlichkeit und besseren Kommunizierbarkeit) eher pragmatisch verwandt wird. Dabei steht (3) bei allen zu konstatierenden Diskontinuitäten und Brüchen die Kontinuität der europäischen Kulturgeschichte im Vordergrund. (4) Die Untersuchung wahrt, wie gerade festgestellt, Abstand von einer methodischen Monokultur und versucht die Vielfalt der philosophischen und methodischen Positionen, wenn schon nicht darzustellen, dann jedenfalls möglichst fair im Blick zu behalten. Schließlich sei (5) darauf hingewiesen, dass es, wie das bei allen großen Überblickswerken aus einer Hand so ist, nur in jenen Fällen um eigene Quellenforschung geht, die gerade auf dem Weg meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Philosophiegeschichte lagen. Über weite Strecken stand die Literaturforschung im Vordergrund. In beiden Fällen war es mir wichtig, verschiedene Forschungsergebnisse möglichst unvoreingenommen zu einer Synthese zu führen, aber sie dann doch im Lichte der großen Erzählung auch aus eigener Urteilskraft zu bewerten.

39

Varia

4.0. Varia »Jeder Versuch, auf wenigen Seiten eine Geschichte der Ästhetik und Kunstphilosophie zu entwickeln, müßte notwendig scheitern. Das kärgliche Ergebnis wäre ein Leichenfeld von Namen und Befunden, deren eigentlicher Sinn dunkel bliebe.« Emil Utitz, der 1932 mit diesen Zeilen sein schmales Bändchen einer Geschichte der Ästhetik, reduziert auf einige Leitthemen, begann, hatte völlig Recht. Für eine einigermaßen stimmige Geschichte der Kunstphilosophie kommt man nicht mit wenigen Seiten aus. Um aber dieses vorliegende mega biblion (großes Buch) nicht allzu sehr zu einem mega kakon (großes Übel) ausufern zu lassen, seien hier einige Hinweise für die Lektüre beigesteuert.

4.1. Leseanleitung Die vorliegende Arbeit ist eine Erzählung, die als solche gelesen werden kann. Auch wenn bisweilen unabdingbare Auflistungen von Positionen einen enzyklopädischen Eindruck erwecken mögen, erzählen die folgenden Seiten eine Geschichte. Es ist keine Geschichte der Schlachten, Gemetzel und Kriege, sondern eine Geschichte der anregenden und kreativen Seiten des Menschen. Freilich sind diese nicht in Reinform zu haben. Das Gewaltpotenzial des Menschen macht bekanntlich auch vor der Kultur nicht Halt – im Sinne des oben erwähnten explosiven Potenzials von kulturellen Erzählungen. Berichte von Gewalt gegen das Bild und gegen Bauwerke, wie sie sich durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart ziehen, können daher nicht gänzlich ausgespart bleiben. Angesichts des Umfangs des Werks habe ich mich bemüht, diese Erzählung so zu gestalten, dass man grundsätzlich je nach Interesse an verschiedenen Stellen in diese Geschichte einsteigen kann. Zahlreiche Verweise führen die Leserin und den Leser jeweils zu den entsprechenden inhaltlichen und historischen Voraus- und Fortsetzungen. Ein besonderes Augenmerk empfehle ich in diesem Zusammenhang dem Sachverzeichnis. Es ist so konzipiert, dass nicht einfach die Seitenzahlen von Nennungen bestimmter Begriffe verzeichnet sind, sondern Angaben von Kapiteln, in denen ausführlicher über Stichworte berichtet wird. Man kann daher als Einstieg in gewisse Themenbereiche auch das Sachverzeichnis benützen. Im Text wird man zu benachbarten Thematiken weitergeführt. Bei manchen Stichworten gibt das Sachverzeichnis geradezu Leseanleitungen durch die Geschichte. Man kann etwa die Entwicklung der Stadt von der Gründungsidee über das Selbstverständnis der antiken Stadt, diverse Stadtutopien, Stadterneuerungen in Barock und Neuzeit, bis zu gegenwärtiger Stadtarchitektur verfolgen. Ähnliches gelingt mit den Stichwörtern Ästhetik, Kunst, Architektur, Genie, Gott/Götter, Schönheit und viele mehr. Aufgrund dieser Anordnung funktioniert das Sachverzeichnis auch als Glossar. Auf diese Weise hoffe ich, den oben angesprochenen roten Faden dieses Werks sichtbar werden zu lassen. Bei Verweisen, die sich auf Kapitel des jeweils gleichen Abschnittes beziehen, wird auf die römische Zahl, mit der die Abschnitte unterteilt werden, verzichtet. Bei

Utitz 1932, 1

40

Einleitung

Verweisen auf andere der insgesamt elf Abschnitte wird das römische Zahlzeichen vorangestellt. Besonders im Abschnitt X, dem systematischen Teil, sind die Verweise häufig. Sie ergänzen die historische Dimension der systematischen Fragestellungen, sodass sich mit Hilfe dieser Hinweise dieser Abschnitt auch eigenständig mit einigem Gewinn lesen lassen sollte. Die vorliegende Arbeit ist streckenweise mit vielen Anmerkungen versehen. Diese sind weniger als Unterstützung für vorgetragene Thesen zu verstehen, sondern vor allem als Lektürehinweise zur Vertiefung und Ergänzung von beschriebenen Themen, die andere ausführlicher und tiefschürfender dargestellt haben.

4.2. Epochenabgrenzung und Kapiteleinteilung

Füssel 2017, 22

Le Goff 2016

Bauer 2018

»Epochenbezeichnungen und Periodisierungsfragen wirken in der modernen, sich als historische Kulturwissenschaft verstehenden Geschichtswissenschaft merkwürdig antiquiert und unzeitgemäß, […].« Diese stupende Äußerung ist Ausdruck einer zeitgenössischen Mode, die historischen Epochen, weil sie meist Konstruktionen des 19. Jh.s sind, auch gleich zu eliminieren. Einer der bedenkenswertesten neueren Essays dazu stammt aus der prominenten Feder von Jacques Le Goff. Er formuliert die vielleicht radikalste Antwort auf die Tatsache, dass Epochen bisweilen durch einzelne Historiker in die Welt gebracht wurden. Ohne Johann Gustav Droysen kein Hellenismus, ohne Alois Riegl keine Spätantike, ohne Jan Huizinga kein Spätmittelalter, ohne Jules Michelet und Jacob Burckhardt keine Renaissance? Man pflegt in der Historiographie inzwischen aufwendige Metadiskurse über die Benützung von Epochenbezeichnungen und für jeden Epochenbegriff jeweils lebhafte Binnendiskurse. Darf man noch von der Klassik in der Antike sprechen, welcher Begriff durch den Wust des Normativen verunstaltet wurde? Gab es eine Renaissance, die als Epoche im Süden Europas bereits wieder zu Ende war, noch bevor sie im Norden richtig begonnen hatte? Ist der Barock nicht so eng mit dem Absolutismus verstrickt, dass man am besten jenen Begriff gleich durch diesen ersetzt? Ich werde auf viele dieser Fragen am gegebenen Ort kurz eingehen, geschichtsphilosophischen Reflexionen, die letztlich jede Epochenabgrenzung mit sich führt, habe ich mich allerdings nicht gestellt. Mir klingen solche Vorschläge allzu sehr nach einem Austausch der einen durch eine andere Bezeichnung. Für überzeugender halte ich Hinweise, die solche Epochenbezeichnungen in einen größeren kulturellen Rahmen einpassen und Transformationen gegenüber Bruchkanten in den Vordergrund rücken. Ob man dann gleich alle Epochenbezeichnungen sistieren muss, ist freilich eine andere Frage, zumal man sich eines Instruments beraubt, faktische Gliederungen begrifflich zu fassen. Ich sehe deshalb – mit diesen ausdrücklichen Einschränkungen – nicht wirklich eine überzeugende Notwendigkeit, und bei dem vorliegenden Projekt schon gar keine Veranlassung, die übliche Einteilung zugunsten einer neuen, noch nicht bewährten Gruppierung über den Haufen zu werfen. Vielmehr denke ich, dass der üblichen Einteilung nach wie vor große Zweckmäßigkeit zukommt, etwa im Sinn einer Definition von Franz J. Bauer: »Wir definieren daher für unsere Zwecke den Begriff der Epoche als einen Abschnitt der historischen Ent-

41

Varia

wicklung, der durch bestimmte durchgängige und vorherrschende Erscheinungen, Tendenzen oder Strukturen als ein relativ Einheitliches und Zusammenhängendes gekennzeichnet und dadurch vom allgemeinen Strom des Geschehens oder von anderen Abschnitten desselben deutlich unterschieden ist.« Natürlich ist eine solche Definition nicht sklavisch durchzuhalten. Immer steht das systematisch-ideengeschichtliche Interesse im Vordergrund. So behandle ich beispielsweise die Spätantike in einem eigenen Abschnitt, weil sich in dieser »Epoche« mehrere kunstphilosophisch bedeutende Umwälzungen ergeben haben, wie das Christentum oder die Kultur von Byzanz. Die inhaltlich zusammengehörige islamische Kultur von den Anfängen bis in die Neuzeit wiederum wird in die zeitliche Epoche des Mittelalters eingebaut. Der Übergang vom 19. in das 20. Jh. ist besonders unscharf und die Abgrenzung, die der Erste Weltkrieg markiert, nicht viel mehr als eine schnell ergriffene Gelegenheit, nach dem »langen 19. Jahrhundert« endlich einen neuen Abschnitt beginnen zu können. Das vorliegende Werk ist keine Philosophiegeschichte. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil es viele Darstellungen von Einzelpositionen gibt, die manchmal – bei kunstphilosophisch wichtig scheinenden Philosophen – auch mehrere Kapitel umfassen. In diesen Fällen wird stets auch eine komprimierte Darstellung der philosophischen Position versucht. Dabei geht es einzig darum, eine Position im Hinblick auf ein kunstphilosophisches Interesse zu beschreiben. Keinesfalls ist damit auch nur ansatzweise der Anspruch verknüpft, das philosophische Anliegen von beispielsweise Cusanus, Leibniz oder Wittgenstein in seiner Gesamtheit vorzustellen. Ähnliches gilt vice versa auch für kunstgeschichtlich orientierte Kapitel, die lediglich grobe Umrisse der Aktivitäten in bildender Kunst und Architektur einer Zeit abstecken und diese der Leserin und dem Leser in Erinnerung rufen wollen.

Bauer 2004, 11

4.3. Schreibweisen, Abkürzungen, Gender Bei den fremdsprachigen Wörtern, vor allem bei den Kulturen Mesopotamiens, Alt­ ägyptens, des arabischen und hebräischen Raums sowie slawischer Gebiete, wurde weitgehend auf diakritische Zeichen verzichtet und eine jeweils einheitliche Schreibweise angestrebt. Dennoch gibt es dabei eine Reihe von Inkonsequenzen, die in Kauf genommen wurden und für die ich um Nachsicht bitte. Die griechischen Ausdrücke sind ohne Akzent und Vokalzeichen transkribiert. Auch das sollte der Lesbarkeit eines Buches, das für allgemein interessierte Leserinnen und Leser geschrieben wurde, dienen. Wie sagte Oleg Grabar in seinem Buch über die Entstehung der islamischen Kunst so schön: Es gilt aufzupassen, dass nicht »die Magie arbiträrer Zeichen eine nutzlose Pedanterie in relativ allgemein orientierende Bücher hineinträgt.« Für die Datumsangaben verwende ich wegen der leichteren Lesbarkeit die Abkürzungen a für ante Christum natum (lat. vor der Geburt Christi) und p für post Christum natum (lat. nach der Geburt Christi). Ich setze diese Hinweise aber nur bei nicht von vorneherein unzweifelhaften Zeitangaben. Wenn vom antiken Athen die Rede ist, ist klar, dass wir uns einige Jahrhunderte vor der Geburt Christi befinden, und wenn eine Zeitspanne 356–323 lautet, weiß die Leserin, dass eine sol-

Grabar 1977a, 10

42

Einleitung

5 Die Geschichte ­Europas – auf ­Geldscheinen erzählt XI.3.1./XI.4.2.

che Lebensspanne, nämlich jene Alexanders des Großen, vor der Zeitenwende liegen muss. Abkürzungen zu den Literaturangaben sind am Beginn des Literaturverzeichnisses aufgeführt, jene bei den Bildtexten im Abbildungsverzeichnis. Die Genderfrage ist ein heilloses Thema. Ich konnte mich weder für Binnen-I, Gender_Gap, Gender*sternchen oder den ausnahmslosen Gebrauch der weiblichen Form, wie manche Kollegen das praktizieren, erwärmen. Mir ist es auch zuwider, eine feierliche Erklärung für eine Selbstverständlichkeit abzugeben, nämlich einer stets intendierten Gleichbehandlung der Geschlechter. Ich verwende vielmehr feminine wie maskuline Formen möglichst gleichverteilt, allerdings mit ein wenig Rücksicht auf die jeweilige Zeit. Baumeisterinnen waren – nach allem, was wir bisher wissen – im Mittelalter seltener als Kunsthistorikerinnen in der Gegenwart.

4.4. Europa – der Nabel der Welt? Als Max Hollein 2018 die Leitung des Vielsparten- und Weltmuseums Metropolitan Museum in New York übernahm, äußerte er in mehreren Interviews die Meinung, dass die alte historische Abfolge der Kunstgeschichte von Mesopotamien über Antike, Mittelalter und Renaissance bis zur Gegenwart überholt sei, weshalb er seine Aufgabe unter anderem darin sehe, diesen eurozentrischen Blickwinkel zu überwinden. Als konkrete praktische Konsequenz ergebe sich daraus die Stärkung außereuropäischer Sammlungen, von Südamerika über Ozeanien, den Fernen Osten bis Afrika. Eine solche Sicht eines über riesige Sammlungsbestände aus aller Welt verfügenden Museumsdirektors ist angesichts der in Abschnitt IX als Eigenart der Contemporary Art geschilderten Situation naheliegend und problemlos nachvollziehbar und geht auch am Autor der vorliegenden Arbeit nicht spurlos vorüber. Denn die Begrenzung einer solch umfangreichen Arbeit auf die Genres der bildenden Kunst und Architektur sollte kaum auf Widerworte stoßen. Ganz anders ist es mit der Begrenzung auf Europa, ein Unterfangen, das automatisch unter Eurozentrismusverdacht steht. Davon gilt es sich hier ausdrücklich zu distanzieren. Die Begrenzung ergibt sich schlicht aus der Einsicht in eine beklagenswerte Inkongruenz von grenzenloser Neugierde und jener vermutlich von Hippokrates formulierten Wahrheit, die der römische Philosoph Seneca überlieferte: vita brevis, ars longa (die Kunst ist lang,

Varia

aber das Leben kurz). Es geht aber auch um die Einsicht in die Grenzen von Kompetenz, die bereits bei der Darstellung der europäischen Sicht auf das Äußerste strapaziert werden. Es kommt, das räume ich unumwunden ein, noch etwas hinzu: nämlich eine Begeisterung für den faszinierend reichen, vielfältigen und alten Kulturraum Europa. Aus dieser Begeisterung mag auch ein Gefühl der Dankbarkeit sprechen, dass es mir als einem Mitte der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts Geborenen gegeben war, was noch keine Generation vor mir erleben durfte, nämlich mitten in diesem seit Jahrhunderten von Kriegen, Nöten und Schlachten heimgesuchten Kontinent ein Leben in Frieden, Prosperität und wachsender Aufklärung zu leben. Insofern hat es mich gefesselt, an dessen kultureller Erzählung mitzuschreiben. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Europa in unseren Tagen angesichts der Geißel eines neu entfachten Nationalismus vor seiner größten Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg steht. Wir erleben eine erschreckende Rückabwicklung der Nachkriegs-Aussöhnung der verfeindeten Staaten durch die Gesellschaft spaltende Parolen, die mutwillige Zerstörung der hart und erfolgreich erkämpften liberalen Rechtsstaatlichkeit durch Verhöhnung und Ausschaltung der Gewaltenteilung, Presse-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit. Umso wichtiger ist es, von diesem faszinierenden einheitlichen Kulturraum zu berichten, von der Entstehung Europas aus den orientalischen Erzählungen, dem kreativen Umgang damit und den Impulsen dieser Ideen, namentlich natürlich jener der Kunst, für die anderen Gegenden des Globus. Der Blick erinnert gleichsam an einen doppelten Trichter. Saugte Europa seine kulturellen Erzählungen aus einem riesigen geographischen Raum an, um sie über Jahrhunderte zu verwalten und dabei mit kreativem Mehrwert auszustatten, verbreiteten sich die nunmehr europäischen Erzählungen ab dem 19. Jh. über den gesamten Globus und forderten die jeweils autochthon entstandene lokale Prägung heraus. Europas kulturelle Erzählungen waren stets gesamteuropäisch und nie auf willkürlich entstandene Nationalstaaten begrenzt. Eine führende Rolle nahmen dabei die Kunststile ein, die diese gesamteuropäische Verbundenheit einmalig widerspiegelten, zugleich aber immer auch die reizvollen lokalen Prägungen transportierten. Insofern hat der frühere Designer der Österreichischen Nationalbank, Robert Kalina, beim Entwurf der Geldscheine der europäischen Gemeinschaftswährung eine großartige Symbolik für dieses in Kultur, Kunst und Architektur längst vereinigte Europa gefunden. Vor die Frage gestellt, was das Schwierigste an dem ganzen Projekt war, würde ich spontan antworten: das Aufhören! Beim Flanieren durch die unüberschaubaren Stellagen in den philosophischen und kunsthistorischen Bibliotheken, stieg in mir immer wieder das Bild hoch, wie im Film Der Name der Rose der von Sean Connery verkörperte William von Baskerville abgekämpft mit rußigem Gesicht und einigen geretteten Büchern in den Armen aus der brennenden Klosterbibliothek kommt. In der Tat fiel es schwer, die lockenden Titel, die einen auf der Wanderung über die vielen Wegen, die man neu entdeckt hat, und denen man gerne noch in ihren Abzwei-

43

44

Einleitung

gungen nachgespürt hätte, auf den Bücherborden stehen zu lassen. Zwar nicht mit rußigem Gesicht, aber doch einigermaßen abgekämpft hoffe ich, dass dieses Buch trotz der zwangsläufigen Beschränkungen einen nützlichen Überblick ermöglicht, das Verständnis für Europas Kultur fördert und neugierig macht für die Sachen der Kunst und der Philosophie.

Ur- und Frühgeschichte

I

46

Ur- und Frühgeschichte

Der römische Architekturtheoretiker Vitruv erzählt in der Einleitung zum 6. Buch seines epochalen Architekturtraktats die antike Wanderanekdote über einen schiffbrüchigen Philosophen. Aristippos, der Begründer einer Philosophenschule in KyIII.3.4.3 rene, geht an der Küste von Rhodos nach erlittenem Unglück an Land und kommentiert in den Sand geritzte geometrische Figuren, die er dort entdeckt: »Bene speremus! Hominum enim vestigia video« (»Lasst uns guter Hoffnung sein! Ich sehe Vitruv 1981, 157f nämlich Spuren von Menschen!«). Aristipp tritt sozusagen aus der Unsicherheit des Liquiden auf das feste Land – und was gibt es Festeres als Geometrie! In der Renaissance feierte der Humanist Daniele Barbaro, ohne auf die DaseinsBlumenberg 1979 metapher des Schiffbruchs zurückzugreifen, in seinem Vitruv-Kommentar diese geometrica schemata ebenfalls als ausdrückliche Zeichen menschlicher Kultur (»cioè Barbaro 1556, 265 non d’animali brutti, perché non hanno discorso […]«). VI.7.3.4 Die Metaphorik von den Zeichen des Menschen steht hier geradezu programmatisch für die Absicht dieses Werks über die Geschichte der Kunstphilosophie, das sich für die Ideen hinter den Zeichen interessiert. Erwin Panofsky unterschied mit diesem Kriterium Kunstdinge von Naturdingen: »Die Zeichen und Gebilde des Menschen sind Zeugnisse, weil, oder eigentlich: insofern sie Ideen artikulieren, die vom Panofsky 1955, 11 Vorgang des Zeichengebens und Bildens, auch wenn sie dadurch realisiert werden, IX.3.4.2 doch unterschieden sind.« Es geht im Folgenden also einmal darum, die Spuren des Menschen in der Welt zu identifizieren und zum anderen darum, die Intentionen und Ideen hinter diesen Spuren zu rekonstruieren. Besonders treffend passt dieses Bild als Einstieg in die Urgeschichte. Denn nicht anders als Aristipp in der Geschichte Vitruvs stoßen auch heutige Paläoanthropologen auf Spuren, die der Mensch auf seinem Weg aus dem Dunkel der Vergangenheit in das Licht der historischen Fassbarkeit zurückgelegt hat. Solche Spuren des Menschen sind neben geometrischen Figuren auch Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke. Denn auch diese »gehören nicht zur Ausstattung der von Menschen unberührten Welt. Sie bilden einen Teil der Ausstattung unserer Welt – der Welt, in der wir in vielfältiger Weise zu Verständnissen und SelbstBertram 2005, 295 verständnissen kommen.« Über das bloß Faktische hinaus dürfen wir hoffen, dass der Mensch mit Ernst Cassirer ein animal symbolicum ist und dass diese Spuren SeIX.3.3.1 dimente einer wie immer gearteten Deutung von Welt sind. Solche Deutungen von Welt in einer schriftlosen Zeit aus den blanken menschlichen Artefakten zu erschließen, ist das Hauptinteresse eines kunstphilosophischen Blicks. Doch dieser Blick ist 7 Zeichen des ­Menschen. Prä­ schwierig, denn er funktioniert nie ohne Rezeptionshorizont. Die Kommentierung historische Bilder in der erwähnten Anekdote in der Renaissance verrät jene Hochschätzung der Mender Wüste Jordaniens schen, welche die geometrica schemata hinterlassen haben, die man in der Hochzeit des Humanismus und der Antikenverehrung erwarten durfte. Wir werden im Folgenden sehen, dass sich beispielsweise das 19. Jh. mit seinem selbstbewussten Fortschrittsdenken der Geschichte weitaus zurückhaltender näherte und dem Menschen ◀ 6 Höhlenmalereien aus der Höhle von Lascaux



47

Out of Africa – Kontexte

früher Epochen wenig Kreativität in Weltdeutung, Kunst und Architektur zutraute. In das Bild einer langsamen Kulturwerdung passten keine geometrica schemata bereits am Anfang. Der Aufstieg zum ersten Geschichtswesen konnte nur aus einer kulturellen Wüste erfolgt sein. Die bewusste Verwendung der Kapitelüberschrift Ur- und Frühgeschichte, die den in dieser Hinsicht problematischen Terminus Vorgeschichte vermeidet, ist nicht zuletzt auch der Vorsicht gegenüber der hermeneutischen Falle einer Rückprojektion moderner Vorstellungen auf die frühe Geschichte geschuldet. Die Reflexion darüber muss die Methodendiskussion permanent begleiten. Damit soll auch klar sein, dass im Folgenden die Geschichte eines Kontinuums erzählt wird und dass es nicht zwei oder mehrere Geschichten nebeneinander gibt, in denen der Mensch mit seinen kulturellen Äußerungen betrachtet werden soll. Es ist klar, dass bei einem solchen Unternehmen, bei dem es um die Betrachtung einer Zeit ohne schriftliche Reflexionen der Weltdeutung geht, die Rekonstruktionsversuche zwangsläufig spekulativ bleiben müssen. Freilich gibt es dieses Problem für den an kunstphilosophischen Fragen Interessierten auch in der geschichtlichen Zeit – wenn man die übliche Grenzziehung zwischen (nach der älteren Nomenklatur: Vorgeschichte) Frühgeschichte und Geschichte an der Entstehung der Schriftlichkeit akzeptiert. Zum einen sind kunstphilosophische und ästhetische Reflexionen gegenüber anderen Fragen über viele Jahrhunderte marginal geblieben oder in anderen Diskursen verborgen, zum anderen sind auch dort, wo solche Reflexionen ausdrücklich durchgeführt werden, manche hermeneutischen Hürden zu überwinden, die Spielraum für verschiedene Deutungen offen lassen. Ein nicht geringes Maß einer Rekonstruktionsbreite von Artefakten verschwindet keineswegs, auch wenn gute Textquellen diese begleiten. Immerhin ist richtig, dass die Auswertung schriftlicher Quellen das ausschließliche Operieren mit archäologischem Material beendet. Dieses Material, um das es in diesem ersten Kapitel geht, reicht nach neueren Nachrichten bis zu 6 Mio. Jahre zurück und ist extrem umfangreich. An etwa 70 000 Fundplätzen sind an die 80 Millionen prähistorische Bildwerke bekannt, davon 70% aus Jäger- und Sammlerkulturen, der Rest aus Bauernkulturen. Von der prähistorischen Kunst entfällt der Löwenanteil (95%) auf Felskunst und nur 5% auf mobile Kunst. Die Altertumswissenschaft, die sich auf schriftliche Quellen stützt, beginnt demgemäß im vierten und dritten Jahrtausend im Vorderen Orient und in Ägypten. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Quellen, die in Keilschrift oder Hieroglyphenschrift verfasst sind.

1.0. Out of Africa – Kontexte Es mag überraschen, aber die Paläoanthropologie ist durch reiche Funde, die immer wieder zu weltweit angeregten Diskussionen Anlass geben und scheinbar bewährte Hypothesen in Frage stellen, eine außerordentlich dynamische Wissenschaft. Viele

Lieberman 2001 Leakey et al. 2001 Anati/Anati 2015, 220

48

Ur- und Frühgeschichte

der einschlägigen Theorien haben zwar eine kurze Verfallszeit, dennoch erfahren einige durch die ständigen neuen archäologischen Befunde von verschiedenen Seiten eine bemerkenswerte Bestätigung. Nach der gängigen Theorie ist der anatomisch moderne Mensch (Homo sapiens) aus (Ost-)afrika nach Asien und Europa gewandert (Out-of-Africa-Theorie). Damit bestätigt die neuere Forschung eine Mutmaßung, die bereits Charles Darwin angestellt hatte. Für die Entstehung dieses Menschentyps in Ost- und Südafrika wird aufgrund von Funden in Äthiopien und Messungen mit der sogenannten molekularen Uhr (Mutationsrate einer Population) meist der Zeitraum vor etwa 200 000 Jahren angegeben (manche postulieren noch einen einige hunderttausend Jahre älteren früharchaischen Homo sapiens als Vorgänger). Neuere Funde von Fossilien mutmaßlich eines Homo sapiens in Marokko (Jebel Irhoud) haben die Diskussion um das Alter des Homo sapiens neuerlich in Bewegung gebracht. Sowohl das Alter von etwa 300 000 Jahren als auch der Fundort Nordafrika passt schlecht in das bisher gängige Schema. Der Stammbaum dieses modernen Menschen ist durch zahlreiche Arten sehr komplex und dementsprechend umstritten. Die Stammesgeschichte des Menschen begann mit der Trennung der Homini von den Schimpansen, die dann eine jeweils eigenständige Evolution durchlaufen haben. Die heute bevorzugte Terminologie unterscheidet die Homini (Menschen) von den Hominiden (Menschenaffen; früher Ponginae). Von etwa zwei Dutzend Menschenaffenarten sind heute nur mehr vier (Schimpanse, die davon unterschiedenen Bonobos, Gorilla, Orang-Utan) übrig geblieben. Als Zeitpunkt der (dauerhaften!) Trennung gilt nach mehreren neuen Funden, Berechnungs- und Messmethoden etwa 6 bis 7 Mio. Jahre, allerdings mit großen Unsicherheiten. Die meisten Forscher gehen von einer langen Parallelexistenz verschiedener Arten aus und halten lineare Stammbäume für überholt. Sie sprechen lieber von einem »Stammbusch« als von einem Stammbaum. Aus diesem Stammbusch wurden in den vergangenen Jahrzehnten von spek­ takulären Entdeckungen berichtet. Besonderes Aufsehen erregten die Funde des rund 6 Mio. Jahre alten »Millennium-Man« Orrorin tugenensis im Jahr 2000 in Ke­nia und jene von Sahelanthropus tchadensis und Ardipithecus kadabba im Jahr 2001 mit ähnlichem Alter. Auch die Entdeckungen im Afar-Dreieck Äthiopiens wurden populär. Darunter war der 4,4 Mio. alte »Ardi« (Ardipithecus ramidus), der vielleicht ein Vorfahre der nach einem Beatles-Song benannten 3 Mio. ­Jahre alten »Lucy« war (Typ des Australopithecus afarensis). 2013 fand man in einer Höhle in Südafrika Knochenreste des Homo naledi. Es handelt sich um eine (zur Abfassungszeit dieser Zeilen) noch nicht datierte Mischform aus Hominiden und modernem Menschen. Bei den erwähnten Funden handelt es sich um aufrecht gehende Vorfahren, die aber noch große Teile der Zeit auf Bäumen gelebt haben dürften. Von ihnen sind die Australopithecinen (4 bis 2 Mio. Jahre), denen man erste Steinbearbeitung zuschreibt, mit vielen Unterformen, die bedeutendsten. Als erster Feuerbenützer gilt der Homo erectus (ab etwa 2 Mio. bis 90 000 Jahre), der in den Stammbaum sowohl des euro-

49

Out of Africa – Kontexte

päischen Neandertalers als auch des Homo sapiens gehört. Die Vorgänger des Homo sapiens wurden letztlich alle deutlich älter, als es der moderne Mensch bislang ist. Erste handwerkliche, künstlerische und damit kulturelle Tätigkeiten begannen weit vor dem derzeit lebenden Menschentyp. Die Feuernutzung wurde jüngst nach Funden in der Wonderwerk-Höhle und in der Swartkrans-Höhle in Südafrika auf etwa 1 Mio. Jahre zurückdatiert. Zu diesem Thema gibt es lebhafte Debatten. Viele Autoren erliegen der magischen Anziehung des Feuers und können sich nicht vorstellen, dass nicht auch Menschen in sehr frühen Zeiten diesem Zauber erlegen sind. Der erste technische Umgang mit dem Feuer ist schwierig nachzuweisen, er wird aber mit großem Konsens jedenfalls in die Zeit des Altpaläolithikums, also etwa vor 2 bis 2,5 Millionen Jahren bis etwa 300 000 Jahren, datiert. Aus dieser Zeit stammen auch erste Steinwerkzeuge. Viele Anthropologen, unter ihnen André Leroi-Gourhan, sehen einen Zusammenhang von Werkzeug- und Sprachentwicklung: »Der organische Zusammenhang erscheint stark genug, um dem Australopithecus und dem Archanthropus eine Sprache zuzugestehen, die dem Niveau ihrer Werkzeuge entspricht.« In der Tat dürfte die Entwicklung der Sprache einige Millionen Jahre zurückliegen und sowohl der Homo erectus als auch der Neandertaler werden über Sprache verfügt haben, wenngleich diese nicht so effizient war wie unsere. In mehreren Wanderungsschüben gelangten die Homini nach Eurasien. Der Homo erectus war offenbar der erste Wanderer. Er lässt sich vor 1,5 Mio. Jahren in China und Indonesien nachweisen und ab 800 000 in Europa. Vor etwa 1 Mio. Jahren dürften der neu entdeckte Denisova-Mensch, vermutlich ein entfernter Vorläufer des Neandertalers, und wenig später eine andere Vorform des Neandertalers (der sich nur in Europa entwickelt hat) gewandert sein. Diese Ordnung der »vormodernen« Vorgänger, die weitaus länger existierten als der heute lebende Homo sapiens und die in mehreren Schüben schon weit vor der Besiedlung durch den modernen Menschen aus Afrika nach Europa vorgestoßen waren, wird durch neuere Funde nochmals komplexer. Der im Atapuercas-Höhlensystem in der Nähe von Burgos gefundene Homo antecessor lässt sich bis auf 1,2 Mio. Jahre zurückdatieren. Im Burghügel von Dmanisi in Georgien stieß man gar auf zwei Millionen Jahre alte Erectus-Fossilien, der bislang älteste Nachweis einer ersten Auswanderungswelle aus Afrika, wobei die genaue Zuordnung unklar ist. Diese vielfältige globale Besiedlung hat bislang die (alte) These eines multiregionalen Ursprungs des Homo sapiens nicht gestützt, sie verliert gegenüber Out of Africa deutlich an Boden. Offenbar zwischen 95 000 und 60 000 wanderte der moderne Mensch nach Asien und Europa. Hans-Peter Uerpmann hat neuerdings diese Wanderung auf 125 000 vorverlegt und auf Grund von Funden menschlicher »Spuren« in Form von Steinwerkzeugen zudem eine zweite Wanderungsroute vorgeschlagen. Demnach sei die Einwanderung nicht nur über den üblichen Korridor Sinai-Israel (»levantinischer Korridor«) verlaufen, sondern auch durch den angesichts der globalen Eiszeit (von etwa 200 000 bis 130 000) nur schmalen und passierbaren Bab al-Mandab, also durch

Beaumont 2011

Frazier 1930

Leroi-Gourhan 1988, 150

Gabunia et al. 2000

Armitage et al. 2011

50

Ur- und Frühgeschichte

Mellars 2006 Macaulay 2005

Kuckenburg 2001, 160f Puta 2015, 50 vorsichtiger Leitner 2015, 104

das Rote Meer auf die damals fruchtbare arabische Halbinsel. Bisweilen erscheint in der neueren Forschung dieser Zugang zu Eurasien sogar plausibler zu sein. Über das mögliche Zeitfenster einer solchen Meeresdurchquerung und die Herkunft der gefundenen Werkzeuge gibt es eine angeregte Diskussion. Funde von Schädelteilen eines Homo sapiens in Israel (Misliya-Höhle), dessen Alter 2018 auf etwa 180 000 Jahre eingegrenzt werden konnte, hat die Datierungsfrage neuerlich durcheinandergewirbelt und jenen Forschern Auftrieb gegeben, die von mehreren Wellen einer Auswanderung aus Afrika ausgehen. In Europa ist der moderne Mensch jedenfalls seit etwa 45 000 – später als in Asien und Australien – nachweisbar. Er lebte dort parallel mit unabhängig entstandenen aufrecht gehenden Homini wie dem Neandertaler, der vor etwa 30 000 Jahren ausstarb. Stoff für angeregte Debatten liefert die Frage nach dem kulturellen Niveau dieser Homini. Inzwischen vermutet man – anders als früher – beim Neandertaler Sprechfähigkeit und im Sinne der oben erwähnten Kongruenz auch erhebliche technische und künstlerische Fertigkeiten. Man konnte die Benützung von Farbe und die anspruchsvolle Handhabung des Birkenpechs, des ältesten Klebe- und »Kunststoffs«, nachweisen. Eine 1995 in einer Höhle Divje Babe beim slowenischen Cerkno gefundene Flöte wird Neandertalern zugeschrieben. Vermutlich stellten sie Schmuck her und führten Körperbemalung durch. »[…] Neanderthals stood at the very threshold of creating a symbolic culture.« Diskutiert wird allenfalls noch, ob das autochthone Leistungen waren oder durch die Begegnung mit dem modernen Menschen ausgelöst wurden. Eine Verbesserung der Fundsituation aus einer Zeit vor dem Auftreten des modernen Menschen wird helfen, diese Frage zu entscheiden.

2.0. Die Anfänge der Kunst

Puta 2015, 45

Der Beginn der Kunst liegt wie jener der Kulturgeschichte insgesamt im Dunkeln. Das ist sowohl unter historischen als auch unter systematischen Gesichtspunkten so. Denn es gibt keinen fixierten Kanon von Kennzeichen, mit denen man entscheiden könnte, was exakt als Kunst anzusprechen ist. Braucht es dazu Artefakte, genügen bewusst ausgewählte objets trouvés oder kann bereits ein Niederwerfen aus Schreck vor einem Donnergrollen oder der sengenden Hitze der Mittagssonne als Kunst angesprochen werden? Das Sprechen von Kunst hat immer mit geographischen, historischen und kulturellen Kontexten zu tun. Kunst ist in dieser frühen Zeit ein sehr weiter Begriff und man richtet unter diesem Titel den Blick mit einiger Großzügigkeit bereits auf die ersten Steinwerkzeuge in Form von »Geröllgeräten« (Chopper), also Steinabschlägen (vor etwa 2,5 Mio. Jahren), und die etwas späteren Knochenwerkzeuge. Eine strenge Unterscheidung von solchen Artefakten und Objekten, die jenseits der Nutz- und Gebrauchbarkeit angesiedelt sind, ist in diesen Zeiten nur schwer möglich und daher wenig sinnvoll. Auch wenn Werkzeuge dem Überleben dienten und kaum als Kunst in engerem Sinn anzusprechen sind, verweisen solche Gegenstände auf einen Kultur-Kontext. Steinwerkzeuge haben zu tun mit der Er-

51

Die Anfänge der Kunst

schließung der anfangs kaum genützten Nahrungsressource Fleisch. Das eröffnete in einer noch weitgehend undifferenzierten Gesellschaft jedenfalls das große Kapitel Kultur: »Indem die frühen Vertreter der Gattung Homo ihre natürliche Körperausstattung durch selbstgefertigte technische Hilfsmittel zu erweitern begannen, […] schlug mit anderen Worten die Geburtsstunde der Kultur, und indem sich unsere Vorfahren seitdem kulturell und nicht mehr nur körperlich und genetisch an ihre Umwelt anpaßten, beschritten sie einen völlig neuen evolutionären Weg.« Das erste »Werkzeug« des Menschen war die Hand. An ihr arbeitete die Evolution. Schließlich stand der Mensch vor der Aufgabe, die Hand zu »verlängern«, um die sich stellenden Herausforderungen zu bewältigen. »Menschlich ist die menschliche Hand durch das, was sich von ihr löst […]«, bemerkte André Leroi-Gourhan treffend. Die erste überragende Verlängerung der Hand in diesem Sinn war der Faustkeil, der von etwa 1,7 Mio. bis 50 000 in Einsatz war. Bei der Produktion dieses Instruments kam es zu einem deutlichen künstlerischen Mehrwert, sodass viele Forscher bereits von einer ausdrücklichen Handwerkskunst sprechen. »Prehistoric art can be proof of the fact that in the final phase of anthropogenesis people crossed over the utilitarian threshold of ›cultural reality‹ and began to create ›value culture‹.« Kunst im engeren Sinn sei entstanden, so diese Meinung, als Artefakte keine rein utilitaristische Funktion mehr hatten, sondern einen Mehrwert, der bereits als kulturelles Symbolsystem fungierte, wenn »modes of behaviour« auftauchten, »that went beyond the use of tools and other subsistence processes […].« Doch solches ist naturgemäß schwer feststellbar, denn zu diesem Mehrwert gehört bereits ein einfaches Ornament. Noch aussichtsloser erscheint in solchem Kontext eine exakte Datierung. Lässt man Kunst in einem engeren Sinn mit der Ornamentierung beginnen, führen Funde einen bis auf etwa 250 000 Jahre zurück zu den Produzenten von Jagdwaffen, geschlagenen Feuersteinwerkzeugen, Knochen­ pfriemen: dem Homo erectus und dem Neandertaler. Inwieweit solche Ornamente symbolisch zu lesen sind oder gar als Manifestation einer »spezifisch geistigen Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt« gedeutet werden dürfen, ist eine schwierige Frage. Lässt sich in so früher Zeit in den schöpferischen Mehrwert ein ausdrückliches geistiges Programm hineindeuten, gar der Niederschlag eines Weltbildes? Oder stand am Anfang der Kunst ausschließlich der Zufall? Hat der Steinzeitmensch spielerisch Linien in den Sand gezeichnet, nur um dann – erstaunt über das »Ergebnis« – dieses Experiment weiter zu verfolgen? Gilt für den Beginn von Kunst und Kultur das homo-ludens-Konzept von Johan Huizinga, wonach der »Kultur in ihren ursprünglichen Phasen etwas Spielmäßiges eigen ist […]«? Ist es so, dass »menschliche Kultur ohne ein Spielelement überhaupt nicht denkbar ist.« Das sind alles Fragen, für deren Beantwortung das Datenmaterial bei weitem nicht ausreicht. Manche Autorinnen sprechen angesichts der Schwierigkeiten lieber von Proto-Kunst als von Kunst: »Proto-art covers the non-utilitarian expressions of creativity that were made even before the onset of the Upper Paleolithic revolution and of the creative explosion that occurred outside the territory of what is now E ­ urope.«

Kuckenburg 2001, 31

Leroi-Gourhan 1988, 301

Puta 2015, 45

Floss 2015, 123

Feustel 1987, 61 ähnlich Pochat 1996, 11

Huizinga 1939, 51 Gadamer 1974, 113

Puta 2015, 46

52

Ur- und Frühgeschichte

Wynn 1985, 41 Pringle 2013, 40

Figurstein

Der Vorteil einer solchen Unterscheidung ist, dass sich die große Periode der Kunst des Paläolithikums (3.) von den Vorläufern absetzen lässt. Trotzdem ist die Unterscheidung nicht ohne Willkür, denn natürlich ist schon das Werkzeug als solches Ausdruck einer spezifischen geistig-kulturellen Situation. Insofern erscheint es nicht unklug, im Sinne des oben vorgeschlagenen weiten Kunstbegriffs, Kunst- und Handwerk ungetrennt zu lassen. Dies gilt unter gewissen Hinsichten für jede Zeit bis zur Gegenwart. Eine künstlerische Gestaltung (allgemeiner: Form) – heute spricht man von Design – kann einen solchen Ausdruck der Zeit zu einem eigenständigen Ausdruck einer Kulturphase (Stil) verdichten. Ornamentik hatte in der Kunstgeschichte oft einen symbolischen Gehalt und war nicht nur eine belanglose Spielerei. Geht man mit einem solchen methodischen Besteck an diese frühe Kunst heran, müsste man auch die Frage nach der ästhetischen Sensibilität in dieser Zeit stellen. Wie hat sich in der Evolution eine solche (also in erster Linie sinnliche) Sensibilität entwickelt? Dass die Anthropologen von einer parallelen Entwicklung von Sprache und Werkzeug ausgehen, wurde bereits oben erwähnt. Daher verweist die Handwerkskunst auch auf eine Intelligenzentwicklung bereits ab 1,5 Mio. Jahren hin. Das deckt sich mit der verbreiteten Meinung, dass die »Wurzeln der Schöpferkraft [scheinen] sogar schon […] vor dem Auftritt des Homo sapiens vor knapp 200 000 Jahren« zu liegen scheinen. Dieses Thema ist naturgemäß hoch umstritten, wird kontrovers diskutiert und durch neue Funde immer wieder aktualisiert. In El Greifa in der libyschen Sahara fanden deutsche Wissenschaftler vor kurzem 200 000 Jahre alte Perlen aus Straußen­ eierschalen. Solche waren bisher allenfalls mit einem Alter von 50 000 Jahren bekannt. Wenn im älteren Paläolithikum bereits Schmuck hergestellt wurde, könnte man daraus schließen, dass es zu dieser Zeit bereits eine Form sozialer Hierarchie der Gesellschaft und/oder ein (je nach Deutung des Sinnes dieses Fundes) religiös-magisches Denken (Talisman) gegeben hat. Wegen der Bedeutung solcher Artefakte bedarf es auch einer Kennzeichnung dessen, was als Artefakt gelten kann. 1981 wurde auf den Golanhöhen die etwa 250 000 Jahre alte sogenannte »Proto-Venus« (Venus von Berekhat Ram) ausgegraben. Es handelt sich um einen 3,5 cm großen Tuffstein, der einer venusartigen Frauenfigur ähnlich ist. Zahlreiche Untersuchungen ergaben, dass es sich um einen von Menschen nachbearbeiteten Stein handelt. Die Auszeichnung des bislang ältesten »Kunstwerks« der Geschichte für diesen »Figurstein« kann freilich nur bedingt vergeben werden. Denn über die Bedeutung oder die Symbolik dieses Fundstücks sind keine seriösen Aussagen möglich. Trotzdem sollte zumindest der Kandidatenstatus erhalten bleiben. Das Alter passt größenordnungsmäßig zu Funden von Ornamentierungen. So gesehen hätte der Zeitraum vor etwa 250 000 Jahren für den Beginn der Kunst beim heutigen Stand der Kenntnisse einiges für sich. Keinen Konsens gibt es hingegen darüber, ob bloß von Menschen aufgelesene, von der Natur geformte figurale Steine (die aus solchen Zeiträumen in größerer Zahl bekannt sind) bereits als Kunstwerke zu betrachten sind. Martin Kuckenburg schlägt durchaus nachvollziehbar zumindest die Einordnung als Objekte der Kultur

53

Die Anfänge der Kunst

vor: »Dieser ›Gebrauch‹ und die darin zum Ausdruck kommende Wertschätzung verwandelte sie von reinen Natur- in vollwertige ›Kulturobjekte‹ […].« Derartige Funde reichen weit in die Geschichte zurück. Das Gesicht von Makapansgat (vielleicht vom Australopithecus africanus) wird auf das unglaubliche Alter von 3 Millionen Jahren geschätzt und die in der marokkanischen Sahara gefundene, 5,9 cm große Sandstein-Figur eines menschlichen Körpers (Steinfigur von Tan-Tan) ist vielleicht eine halbe Million Jahre alt und stammt vermutlich vom Homo erectus. In beiden Fällen ist eine menschliche Nachbearbeitung nicht festzustellen. Aber die Bewunderung von objets trouvés, ihre Einordnung in einen mentalen Kosmos, ist eine Tätigkeit der Kultur und vielleicht auch eine der Kunst. Diese Einordnung hängt nun eher an systematischen Fragen nach dem Wesen der Kunst. Wenige Probleme, solche objets trouvés als Kunstwerke zu betrachten, hat die Intentionstheorie der Kunst. Für den Philosophen erregend ist der Gedanke, dass zu diesen ersten Kulturwerken die Sphäroide gehören, die bis auf 300 000 Jahre zurückreichen, ebenfalls Fundstücke, aber meist durch Abschläge in ihrer Form perfektioniert. Wie schon beim Feuer ist auch bei der Geometrie des Kreises und der Kugel, die von den Gestirnen Sonne und Mond dominant vorgegeben ist, die Verführung groß, den frühesten Vorfahren Welt- und Kosmosdeutungen zu unterstellen: »Sollten wir mit ihnen die früheste Objektivierung der weltinterpretativen Grunderfahrung gefunden haben?«, fragt sich Marie König. Sphäroide tauchen auch im Neolithikum in großer Fülle auf und werden dort als »Ursprungszeichen des Lebens« interpretiert. Folgte man solchen Mutmaßungen, dann hätte es schon an der Wiege der Menschheit eine Verehrung der Vollkommenheit der Kugel gegeben, die uns über die gesamte Kulturgeschichte begleitet, über frühgeschichtliche Schädelkulte, frühe philosophische und kosmologische Erzählungen bis zur neueren Architekturgeschichte, von der sogenannten Revolutionsarchitektur des 19. Jh.s bis zu den Sphäroiden Richard Buckminster Fullers. Zudem wäre dies, einige Jahrhunderttausende vor unserer Zeit, die einzige wirklich »authentische« Verehrung der Kugel. Alle späteren Kulte könnte man als reflektierte kulturelle Erzählungen werten in einer Zeit, die bereits zwischen Oben und Unten, Diesseits und Jenseits differenziert hat. Diese frühen Kunstwerke samt ihren dahinter liegenden Weltbildern stammen aus einer Zeit vor dem Auftreten des Homo sapiens. Das macht die Funde so außergewöhnlich und ihre Bewertung zusätzlich brisant. Die Fragen der paläoanthropologischen Forschung führen nicht zuletzt in das philosophische Unterholz der Naturalismusdebatte. Unbestritten scheint, dass die Evolution mit der Bevorzugung von Gesichts- und Gehörsinn die Weichen für die künftigen Kunstformen gestellt hat. »Man stelle sich nur einmal vor, wie die Ästhetik beschaffen wäre, wenn der Tastsinn […] oder der Geruchssinn die primären Sinne geworden wären; ›Syntaktien‹ oder ›Olfaktien‹ wären möglich geworden, Gemälde aus Gerüchen und Symphonien aus Berührungen, Bauwerke aus harmonischen Schwingungen, Gedichte aus Salzen und Säuren […].« Was André Leroi-Gourhan hier mit viel Phantasie ausmalte, fand in der späteren Metaphorik durchaus einen gewissen Raum in Architektur und

Kuckenburg 2001, 128

X.3.2. Sphäroid

König 1973, 32 Mahlstedt 2004, 106

VIII.3.2.3./IX.6.1.1.f.

Leroi-Gourhan 1988, 351

54

Ur- und Frühgeschichte

VII.3.4.

IX.5.2.6.1.

Leroi-Gourhan 1988, 146

Conard 2011

Kunst. Eine Barockkirche kann als gebaute Schwingung und materialisierter Klang angesprochen werden. Trotz dieser unüberwindbar scheinenden Schwierigkeiten sollten Fragen nach dem Antrieb künstlerischer Tätigkeit und nach dem dahinter liegenden »Weltbild« nicht aus methodischer Vorsicht vollkommen ausgeblendet werden, so spekulativ die Antworten auch bleiben mögen. Ähnlich wie in der Archäologie aus dem Fundkontext gerissene Stücke wenig Aussagekraft besitzen, sind Kunst- und Bauwerke nichts weiter als materialisierte Screenshots einer performativen Situation. Kunst war über weite Strecken immer performativ. Erhalten geblieben sind indes lediglich die materiellen Teile. Aber diese sind nichts weniger als Zeichen von Weltdeutung, damit Teile von Kultur und erst für ein so interpretiertes vestigium hominum ist es letztlich Wert, irgendwo »an Land zu gehen«. Daher werden in der einschlägigen Literatur solche Fragen zu Recht beherzt angegangen. André Leroi-Gourhan vermutet im Angesicht nur spärlicher archäologischer Daten den Eintritt in »die Welt des symbolischen Denkens« bei den Neandertalern. Künstlerische Äußerungen setzen wohl Gefühle und die Fähigkeit zur Artikulation von Gefühlen voraus. Dass es nach dem Erlegen eines großen Tieres zu Ausbrüchen von Freude kam und man dies vielleicht in Tänzen zum Ausdruck brachte, ist ebenso plausibel wie die Nachahmung von Geräuschen und Formen der Natur, die man als angenehm empfand. Wann der Mensch als animal symbolicum begann, diese realen Erscheinungen der Natur symbolisch zu überhöhen, das heißt dann auch, wann Menschen begannen, ihre Existenzängste durch eine frühe Form der Religion zu kompensieren, bleibt Gegenstand der Diskussion um die Interpretation der Funde. Ganz generell ist dem Ausgräber der bislang ältesten plastischen Kunstwerke der Welt in der Schwäbischen Alb, Nicholas Conard, zuzustimmen, wenn er meint, dass es keinen plausiblen Grund gibt, »warum die Intensität der religiösen Wahrnehmung und der damit verbundenen Gefühlswelt wesentlich anders gewesen sein soll als unsere heutige.« Immerhin gab es in dieser frühen Zeit Bestattungsrituale, die zumindest mit einem gewissen Maß an Affektivität, wenn nicht sogar mit einer religiösen Gefühlswelt in Verbindung gebracht werden könnten. Die Ansicht Conards entspricht einer Korrektur der fortschrittsaffinen Entwicklungstheorien des 19. Jh.s und sie wird von vielen Forschern geteilt.

3.0. Die Kunst des Paläolithikums Das Paläolithikum (Altsteinzeit) ist die längste Kunstepoche der Geschichte. In dieser langen Zeit kristallisierte sich das heraus, was man überhaupt als Kunstwerk bezeichnen kann. Ihre künstlerische Blütezeit erreichte die Epoche in der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum), aus der wir ein reichhaltiges archäologisches Material besitzen. Das Jungpaläolithikum gilt als ein erster Höhepunkt der Kunstproduktion der Menschheit. Dazu gehört an ihrem Ende namentlich die Höhlenkunst.

55

Die Kunst des Paläolithikums

3.1. Kontexte Das Paläolithikum wird definiert durch das Auftreten erster geschlagener Steinwerkzeuge, die sich in Afrika bis zu zweieinhalb Millionen Jahre zurückverfolgen lassen. Sie dauerte bis zum Beginn des Neolithikums um 10 000. Wie erwähnt gibt es aus dem Mittelpaläolithikum zahlreiche Waffen- und Werkzeugfunde, zudem sind Bestattungen belegt, die wenigstens einen reflektierenden Umgang mit Leben und Tod nahe legen. Inzwischen setzt sich in der Wissenschaft, angeregt durch aktuelles archäologisches Material, eher die Auffassung eines kontinuierlichen Überganges von der Altin die Jungsteinzeit durch, während man bisher geradezu von einer jungpaläolithischen Revolution ausging. Noch 1929 konnte Herbert Kühn schreiben: »Das Altpaläolithikum […] ist ohne Kunst […] es ist nicht zu erwarten, daß man aus diesen Epochen jemals Kunstwerke finden wird.« Hermann Müller-Karpe, der einer Anerkennung von bewusst aufgelesenen oder nachbearbeiteten Formsteinen als Kunst skeptisch gegenüberstand, schloss ebenfalls aus, dass es vor dem Jungpaläolithikum »eine Kunst im Vollsinn des Wortes« gab. Nur bei einer solch strengen Auffassung von Kunst kann man sie ausschließlich dem Homo sapiens zuschreiben. Erst mit der Ankunft des Homo sapiens in Europa sei die Kunst explosionsartig aufgetreten: »It all started when he arrived. There were no preliminary signs, no primitive beginnings. Art arrived like a deus ex machina – an intellectual explosion without precedent […].« Heute sieht man das in aller Regel anders, insbesondere weil, wie oben bereits angesprochen, um diesen »Vollsinn des Wortes« diskutiert wird. Wann kann etwas als Kunst gelten? Dies hat sich erheblich verschoben, sodass heute eher angemessen zu formulieren wäre: »Die entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung des Menschen zum ›Kulturwesen‹ erfolgte mit anderen Worten nicht erst vor 40 000 Jahren beim frühmodernen Homo sapiens, wie dies oft behauptet wird, sondern bereits vor mehr als 400 000 Jahren beim Homo erectus […].« Abseits dieser Uneinigkeit über den Beginn der Kunst (was an der Definition dessen liegt, was als Kunst gilt) ist unbestritten, dass Technik und Kunst im Jungpaläolithikum mit einem innovativen Schub einen ersten Höhepunkt erreichten. Für das Jungpaläolithikum (welches das Mittelpaläolithikum von ca. 200 000 bis 40 000, genauer, dessen letzte Phase, das Moustérien ab ca. 120 000 ablöste) hat sich deshalb eine weitere Unterteilung eingebürgert, die Archäologen an der Kunstentwicklung festmachen: Dem Aurignacien (40 000–28 000) mit einer neuen Herstellungstechnik von Steinklingen, Pfeil und Bogen, erster Kleinkunst und ersten Felsbildern, folgt das Gravettien (28 000–22 000) mit dem Beginn von Kleinplastiken und Venusfiguren, das Solutréen (22 000–18 000) und das Magdalénien (18 000–12 000) mit der Mehrzahl der bebilderten Höhlen. In dieser Periode der Menschheitsgeschichte vollzogen sich nicht nur technische und soziale Umwälzungen, sondern es ist eine bemerkenswerte Zeit künstlerischer Entwicklung, in der sich vermutlich Weltbilder und Religionen widerspiegeln, die ebenfalls zu dieser Zeit entstanden sind. Es ist legitim, von einer Kunst des

Kühn 1929, 216

Müller-Karpe 1966, 190

Leitner 2015, 105

2.0.

Kuckenburg 2001, 185

paläolithische Kunst

56

Ur- und Frühgeschichte

8 Steinabschläge, Silex und Quarz; MPC Schmidt Klaus 2006, 205

Nunn 2012, 50

Paläolithikums zu sprechen, ja diese Zeit ist – angesichts der Akzeleration menschlicher Kulturen vielleicht nicht überraschend – die längste Kunstperiode der Menschheitsgeschichte. Die paläolithische Kunst im engeren Sinn (die Zeit des Jungpaläolithikums umfassend) dauerte etwa 30 000 Jahre und umfasste das gesamte Europa. Auffallend ist dabei die Vergleichbarkeit von Sujets, sowohl die mobile als auch die Parietalkunst (Felsmalerei) betreffend. Vielleicht kann man von einer über einige Jahrtausende intakten kulturellen Erinnerung sprechen, die in der Kunst ihr materielles Medium der Speicherung fand. »Spätestens im Jungpaläolithikum […] können wir an den Lagerplätzen der Eiszeitjäger und in ihren Höhlenheiligtümern die Existenz differenzierter, im Ergebnis mnemotechnischer (Bild-)Systeme erkennen.« Die unübersehbare Veränderung der Kultur ging Hand in Hand mit Veränderungen der äußeren Verhältnisse an der Schwelle um 30 000. Nach dem Ende der großen Vereisung im Würm, der letzten Eiszeit im Alpenraum (115 000–10 000), begann der bis heute andauernde Klimazyklus. Es zogen Jäger und Sammler, die weder gezähmte Tiere noch Metalle kannten, durch das eisfreie Europa und schufen die frühesten Tiermalereien und plastische Skulpturen vom Venustyp. Die Steinzeit dauerte (bei lokalen Unterschieden) etwa bis gegen 10 000 oder etwas später. Dieses Ende ist in Europa durch einen weiteren Wärmeschub und den Rückzug des Rentiers nach Norden gekennzeichnet. Diese äußeren Umstände markierten die Zeitenwende vom Paläolithikum zum Neolithikum und von der Kultur der Jäger und Sammler zur Kultur der Ackerbauern und Viehzüchter. Mit dieser Zeitenwende ging ein Verfall des künstlerischen Niveaus einher. Es scheint, dass der frühe Ackerbauer und Viehzüchter weniger Zeit für die Kunst erübrigen konnte als der Jäger. »Drei Arbeitsstunden täglich reichen einem Jäger und Sammler, um seine Familie zu ernähren. Der Bauer hingegen muss ununterbrochen arbeiten und kämpft gegen zahlreiche Unwägbarkeiten.« Auffallend an der großen Zeit der eiszeitlichen Kunst ist die Konzentration der Funde sowohl von mobiler Kunst als auch der ausgeschmückten Höhlen (Parietalkunst) auf Europa. Diese Aufsehen erregenden Entdeckungen begannen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Im Vordergrund des Interesses stand damals die ältere mobile Kunst. Als die ersten prächtig bemalten Höhlen entdeckt wurden, war die Überraschung so groß, dass man anfangs ihre Echtheit bezweifelte. 1879 wurde das Juwel der franko-kantabrischen Höhlenkunst, die Höhle von Altamira, entdeckt, aber erst nach der Jahrhundertwende in ihrer Bedeutung gewürdigt. Jeder Überblick einschlägiger Funde eiszeitlicher Kunst steht vor dem Problem, dass wir bei den archäologischen Befunden auf jene Artefakte angewiesen sind, die aus dauerhaftem Material wie Knochen, Elfenbein und Stein bestehen und sich deshalb bis heute erhalten haben. Es ist aber davon auszugehen, dass der Großteil der Kunst aus Holz, Tierhäuten, Federn, Stoffen für Kleidung (die ab dem Gravettien

57

Die Kunst des Paläolithikums

passgenau war) bestand, wiewohl davon nur wenige Spuren auf uns gekommen sind. Noch schwieriger zu gewinnen sind Hinweise auf Musik, Körperbemalung, rituelle Gebärden, Spiele, Tänze, wie sie in rezenten »primitiven« Kulturen beobachtet werden können. Die Fundlage ist in ständiger Bewegung. Hinweise auf die Kunstobjekte des Paläolithikums sind daher immer vorläufig und exemplarisch. Aus der Zeit des europäischen Homo sapiens ist uns eine große Zahl von Steinwerkzeugen überliefert. Wir wissen, dass er Hütten und Zelte baute, Lederhäute vernähte und Schmuck aus Tierzähnen, Knochen und Muscheln anfertigte. Er dürfte ein geschickter Handwerker gewesen sein. Häuser, »bei denen Dach und Wand selbständige tektonische Elemente sind«, dürfte es erst ab dem Jungpaläolithikum gegeben haben. Die mobile bildende Kunst ist – wie oben bereits gesagt – grundsätzlich älter als die Parietalkunst. Sie reicht (bei vereinzelten noch älteren Fundstücken) in das Aurignacien zurück. Wichtigste Themen waren Tiere, dabei weniger Raubtiere als vielmehr Pferd, Bison, Mammut, Hirsch, Rentier, Steinbock, Vögel und Fische. Pflanzen und abstrakte Zeichen sind eher selten. Im frankokantabrischen Bereich tauchen erste Menschendarstellungen auf. Die ältesten – zugleich besonders reizvollen – Artefakte stammen nach heutiger Fundlage aus der Schwäbischen Alb. Es handelt sich um Skulpturen mit etlichen Tierdarstellungen (darunter ein eindrucksvoller Mammut und ein besonders reizvoller Vogel im Flug!) aus der Vogelherdhöhle, der sogenannte Löwenmensch aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle, beides im Lonetal in der östlichen Schwäbischen Alb, und die aus Mammut-Elfenbein geschnitzte, etwa 40 000 Jahre alte Venus vom Hohlefels. Zudem wurden an diesen Fundorten alte Flöten (aus Geierknochen und Elfenbein) entdeckt, die auf eine pentatonische Tonfolge gestimmt sind. Man kann also auf eine frühe Musik- und (schamanistische?) Tanzpraxis schließen. Am reichhaltigen archäologischen Fundplatz Gönnersdorf in Rheinland-Pfalz ließen sich Venusdarstellungen auf einer Schieferplatte auch als Tänzerinnen identifizieren. Flöten, Ratschen und Schwirrhölzer mit einem ähnlichen Alter tauchten auch in Frankreich auf. Bildende Kunst, Musik, Bestattungsriten – angesichts eines solchen Befundes kann man auf die Existenz von entwickelten Kult-Erzählungen schließen. Neben realistische Tierdarstellungen traten abstrakte Zeichen, häufig in Form von Ornamentik. Am Beginn des 20. Jh.s glaubten viele Forscher mit ihrem durch die ägyptische und griechische Kunst geschulten Blick, dass die früheste Kunst geometrisch sein müsse. Das musste bald korrigiert werden: »Die älteste Kunst, die wir auf der Erde kennen, ist keineswegs geometrisch, sondern naturalistisch.« Die Vollplastik entwickelte sich wohl – wie erwähnt – aus den Figursteinen oder den Contours découpés, Knochenstücken, die bereits Silhouetten von Tieren und Tierköpfen haben und durch Schleifen und Ritzen weiter bearbeitet wurden. Die Plastiken wurden aus Ton, Lehm, Kalk- und Speckstein, Elfenbein, Knochen und aus Geweihstücken gefertigt. Hauptsächlich aus dem Gravettien kennt man die über ganz Europa verbreiteten Venusfigurinen, über deren Bedeutung es eine ausgedehnte Diskussion gibt. Der

Müller-Karpe 1966, 139 mobile Kunst

Kühn 1929, 216

Venusfiguren

58

Ur­ und Frühgeschichte

9 Venus vom Hohlefels Hansen 2000/2001, 93 Marshack 1972, 81ff Varagnac André in Grimal 1963, I, 29

10 Venus von Willen­ dorf (ca. 20 000a); NHM

Höckmann 2000/2001, v.a. 84 Mellink/Filip 1974, 80

Ausdruck wurde 1864 vom Marquis Paul de Vibraye beim ersten Fund einer solchen paläolithischen Figur geprägt (vénus impudique/unzüchtige Venus), deren Nacktheit er poetisch (oder erschreckt?) umschreiben wollte. Heute bevorzugt man in der Wissenschaft den Ausdruck Frauenstatuette, der sich jedoch im üblichen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt hat. Vielleicht ist angesichts des uferlosen Schwalls von Erklärungsversuchen die alte und vordergründigste These von einer dargestellten magisch-religiösen Macht weiblicher Sakralität nicht die unplausibelste Erklärung, auch wenn es anscheinend einen Wettbewerb unter den Archäologen und Historikern gibt, diese These abzulösen und der Vorschlag im Raum steht, »sich vom Fruchtbarkeitsparadigma zu lösen, um neue Perspektiven für die Interpretation der Figuralplastik entwickeln zu können.« Schon Jahrtausende vor der Neolithischen Revolution waren Wachstumsund Mondphasen bekannt. Es ist eine naheliegende Überlegung, dass in Zeiten, wo das Überleben des Menschen noch mit einem mühsamen Kampf verbunden war, die freigiebig schenkende Fruchtbarkeit idealisiert und numinos überhöht wurde. Der moderne Mensch durchquerte, aus Afrika kommend, das Donautal und auf seinem Weg sind unzählige Fundstücke liegen geblieben, unter ihnen zwei besonders exquisite: Am Stratzinger Galgenberg bei Krems fand man eine Tänzerinnenfigur aus grünem Serpentin. Die Fanny vom Galgenberg genannte Figur gilt zusammen mit der Venus vom Hohlefels als älteste Venusfigur weltweit. Sie ist 10 000 Jahre älter als die 1908 im nahe gelegenen Willendorf gefundene Venus. Das Alter dieser aus Oolith-Kalkstein (Mähren) geschnittenen Venus von Willendorf mit ihren Resten einer Rötelbemalung wird (inzwischen) auf 30 000 Jahre geschätzt und sie zählt wegen ihres Detailreichtums zu den besonders kostbaren Stücken aus dieser Zeit. Die Figuren waren aus Stein (Venus von Willendorf), Elfenbein (Venus vom Hohlefels), Zahn (Venus von Lespugue) oder aus Ton (Venus von Dolní Vestonice von etwa 30 000) gefertigt. Letztere stellt eine der ältesten Keramikarbeiten dar. Die Keramik erlebte zwar erst im Neolithikum ihre große Zeit als gebrannte Gebrauchskeramik, ihre Anfänge reichen jedoch in die Altsteinzeit. Die zwischen wenigen und 22,5 Zentimeter (Venus von Savignano, die bislang größte Figur) messenden überwiegend weiblichen Figuren zeichnen sich durch ähnliche Kennzeichen aus: übertrieben betonte Geschlechtsmerkmale, breite Hüften, dicke Oberschenkel und meist nur angedeutete oder überhaupt fehlende Beine, Arme und Gesicht. Es handelt sich um eine stereotypische Kunst. Angesichts der generellen und bekannten Einförmigkeit darf der Hinweis nicht fehlen, dass es auch dünne und bekleidete Frauenfiguren gibt. Wie gesagt, gehen die Deutungen weit auseinander. Neben der üblichen Leseart, hier sei Fruchtbarkeit, Naturzyklus und Weiblichkeit stereotypisch dargestellt, gibt es Vorschläge, die Skulpturen als Ahnen- oder Ritualfiguren zu deuten. Dabei stützt man sich auf Funde von zerbrochenen Figuren, die auf ein mögliches rituelles Geschehen hindeuten, beispielsweise die Verwendung als Substitute für Menschenopfer. Ob sie auch »Bestandteile des Mutterkults, des Urkults des europäischen Menschen«, waren, ist umstritten. Der Innsbrucker Altorientalist Karl Oberhuber machte den Vor-

59

Die Kunst des Paläolithikums

schlag, die (meist weiblichen) Figurinen als Manifestationen unpersönlicher Mächte zu sehen: »Diese Figurinen sind vielmehr als Manifestationen der unpersönlich vorgestellten ›Macht‹ zu verstehen, als ›magicamenta‹, um ›Macht‹ zu binden. Der Prozeß der Individuation der Gesellschaft, der zum Begriff Person und Person-Eigenem (Eigentum) führt, findet seinen Reflex in der Aufspaltung der unpersönlich vorgestellten numinosen Macht, […] in orts- und wirksamkeitsgebundene Numina und in der Ausprägung dieser Lokalnumina zu personhaft vorgestellten anthropomorphen Gottheiten mit für sie charakteristischem Wirkunsgbereich (Ressort).« Abwegig dürften Deutungen sein wie jene des Wiener Prähistorikers Moritz Hoernes, die in diesen Statuetten rein erotische Darstellungen sehen wollte. Eine solche These ist schon deshalb wenig überzeugend, weil Vorstellungen des Erotischen keine historische Konstante darstellen. Einigermaßen abenteuerlich sind auch die kosmologischen Deutungen, welche die Frauen als Ansammlung von Sphäroiden, also komischen Symbolen, sehen wollen. Die ausgeprägten Vulven wurden dabei als Symbole des Universums und des gebärenden Schoßes interpretiert. Ähnliche Projektionen betreiben Theorien, die (inspiriert von Michel Foucault) Parallelen zur neueren Geschichte der Kunst (bis hin zum Dadaismus) ziehen und auf analoge Verfremdungen von Körpern in den Darstellungen hinweisen. Besonders faszinierend ist die Parietalkunst des Paläolithikums. Tausende von Fundstellen sind inzwischen erforscht. Gravuren oder Malereien erfolgten auf Felsen im Freiland, auf Abris (Felsüberhänge) und in Höhlen. Geometrische Ritzmuster sowie Ocker-Malreste in der Blombos-Höhle an der Südspitze Afrikas gelten als älteste Kunstwerke der Parietalkunst. Sie reichen 100 000 Jahre zurück. Die Farbe Rot ist häufig und es legt sich (im Vergleich mit dem Rot des Blutes) eine kultische Bedeutung nahe, zumal sie vor allem bei Grabfunden dominiert und Tote regelrecht in einem »Ockerbett« beigesetzt wurden. Die Höhlenkunst, inzwischen an mehreren hundert Höhlen dokumentiert, ist zweifellos der Höhepunkt der paläolithischen Kunst. Als älteste gilt die 1903 entdeckte, 40 000 Jahre alte, mit Malereien reich versehene Cueva de El Castillo im spanischen Kantabrien am Golf von Biscaya. Sie gründet die nordspanische und südfranzösische franko-kantabrische (früher auch als hispano-aquitanisch bezeichnete) Höhlenkunst mit über einhundert Fundstellen in Spanien und Portugal und etwa einhundertfünfzig in Frankreich. Als die Höhlen mit den schönsten Kunstwerken gelten Altamira, Chauvet, Font-de-Gaume, Lascaux, Les Combarelles, Niaux und Trois Frères. Die Elogen auf das, was in diesem Zentrum der eiszeitlichen Höhlenmalerei ans Tageslicht trat, sind entsprechend. André Glory nannte die (erst 1940 entdeckte) etwa 18 000 Jahre alte Höhle von Lascaux das »Versailles der Prähistorie« und Henri Breuil bezeichnete die große Halle von Altamira (etwa 14 000 Jahre), den sogenannten »Bildersaal«, als »Sixtinische Kapelle der Urgeschichte«. An dieser Stelle darf der berühmte, Picasso zugeschriebene Satz nicht fehlen: »Nach Altamira ist alles Dekadenz!« Die künstlerische Eroberung der Höhle begann vom oberen Graviettien bis ins Solutréen, zuerst im Tagbereich. Später, mit dem Höhepunkt der Höhlenkunst

Oberhuber 1972, 120f Hoernes 1925, 168f

Bailey 2005 Parietalkunst

Jacobs/Roberts 2013 Leroi-Gourhan 1965, 47f; Leitner 2016

60

Ur- und Frühgeschichte

11 Wisentdarstellung in der Höhle von Altamira

Bosinski 2009, 38ff

im Magdalénien, erfolgte das Eindringen in den mühsam mit Fettlicht und Holzspan beleuchteten dunklen Teil. Im fortgeschrittenen Zustand eroberten die Künstler sogar die dritte Dimension durch Ausnützung der natürlichen Topologie des Felsens. Vielleicht wurden die Felsen und Höhlen sogar nach den beabsichtigten Malereien ausgewählt. Sie wären dann sozusagen als Malgrund zu verstehen. Der große Pionier der Forschung an den prähistorischen Höhlen, Henri Breuil, unterschied zwei Stile in der paläolithischen Höhlenkunst. Sie dokumentieren seiner Meinung nach – grob gesprochen – eine Entwicklung von einfacheren, statischen und eher monochromen Entwürfen hin zu dynamischen und polychrom-malerischen Darstellungen. Dieses Schema erwies sich allerdings nicht als generell anwendbar. André Leroi-Gourhan machte demgegenüber die Unterschiede in den Stilen an einer geographischen Differenzierung fest, welche die zeitliche überlagert. Motive der Höhlenkunst waren die teilweise bereits aus der mobilen Kunst bekannten Tierfiguren. Meist sind die Tiere in Seitenansicht dargestellt, Details mit großer Meisterschaft herausgearbeitet oder aber nur schematisch angedeutet. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, es hätte einen Mustervorrat gegeben, der immer wieder zur Anwendung kam. Die Größe der Malereien reicht von einigen Zentimetern bis zu Monumen­ talgemälden wie die Urrinder in der Höhle von Lascaux, die mehr als fünf Meter messen. Da die Höhlen gewöhnlich über einen langen Zeitraum benützt wurden, veränderte sich die Gestaltung immer wieder, sodass sich verschiedene Stile unterscheiden lassen. In Lascaux wurden an manchen Stellen mehr als ein Dutzend Übermalungsschichten festgestellt. Technisch war die Gestaltung der Höhlen ein aufwendiges Unterfangen. Als Farben wurden Metalloxide, Ruß, Gesteinspulver verwandt, zum Auftrag dienten

61

Die Kunst des Paläolithikums

Pinsel, Zweige, Stempel, scharfe Klingen für Gravuren, sowie röhrenförmige Hilfsmittel zum Versprühen von Farbe. Zum Einsatz kamen auch Schablonen. Weitere technische Hilfsmittel waren zur Beleuchtung sowie für den Gerüstbau notwendig. Viele der Malereien sind erstaunlich gut erhalten. Das hat damit zu tun, dass die Pigmentfarben ohne jedes Bindemittel auf Kalkschichten aufgetragen wurden und durch das Kohlendioxid der Umgebungsluft karbonisierten, also eine schützende Sinterschicht bildeten. Künstlerisch sticht der Fortschritt in der Fertigkeit von der reinen Kontur zur durchmodellierten Körperlichkeit und Plastizität vom Gravettien zum Magdalénien hervor. Forscher der Eötvös-Universität in Budapest bestätigten in Studien die erstaunliche Genauigkeit der Maler von Lascaux. Die Bewegungsabläufe wurden demnach exakter dargestellt als bei Künstlern in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. »Im Teyjat-Stil, so benannt nach einer 1903 entdeckten Bilderhöhle in der Dordogne, erreicht die jungpaläolithische Felsbildkunst ihren Höhepunkt. Auf den Tropfsteingebilden dieser Höhle finden sich gravierte Tierbilder, meisterhaft in der Zeichnung und lebendig in der Form. Sie zeigen das Wild in natürlicher Bewegung, verraten eine erstaunliche Beobachtungsgabe, tiefes Einfühlungsvermögen und großes handwerkliches Geschick.« Zwischen den Abbildungen in der erst 1994 entdeckten Chauvet-Höhle an der Rhone, die mit knapp 500 Tier- und Symboldarstellungen die nach der El-Castillo-Höhle zweitältesten Malereien beherbergt, und den Fundstücken aus der Schwäbischen Alb, den Meisterwerken paläolithischer Kunst aus derselben Zeit, gibt es eine überraschend große Übereinstimmung in den Motiven. Forscher, welche die Höhle betreten konnten, wie der Prähistoriker Harald Floss, berichten begeistert von der eindrucksvollen Komposition, Detailtreue und Harmonie der Malereien und der Vielfalt der Motive. Es sind nicht die üblichen Jagdtiere dargestellt, sondern eher Tiere, die für den Menschen eine Gefahr darstellen. Daneben Mischwesen und abstrakte Zeichen, sexuelle Symbole und Handnegative. Solche Handsilhouetten finden sich nahezu überall, Breuil zählte allein in El Castillo 44 davon. Zur Erzeugung wurden Hände mit roter Farbe umblasen. Trotzdem ist die Malerei generell nicht unbedingt als mimetisch-naturalistisch zu bezeichnen. Eher sollte man von Repräsentation sprechen. Auch hier hat sich, wie in der mobilen Kunst, trotz zahlreicher Genredarstellungen, die es auch gibt, die Theorie von einfachen Bilderzählungen nie durchsetzen können. Dagegen spricht etwa, dass Malereien an bestimmten (künstlerisch komplizierten) Orten, meist Nischen und Überhängen, konzentriert auftreten, obwohl in der leichter erreichbaren Umgebung reichlich Platz für Bemalungen gewesen wäre. Das, wie auch die Tatsache von »Restaurierungen« durch eiszeitliche Künstler selbst, stärkt eher Theorien, die bei den Höhlen von Kultplätzen und magischen Orten ausgehen: »Dies alles legt die Vermutung nahe, daß wir es nicht einfach mit Bildberichten über zeitgenössische Geschehnisse zu tun haben. Man bekommt vielmehr den Eindruck, daß sich mindestens hinter einzelnen Szenen mythische Ereignisse oder Vorstellungen aus dem Bereich des totemistischen Denkens verbergen.«

Mellink/Filip 1974, 89

12 Handsilhouetten in der Höhle Pech Merle

X.2.2.2.

3.3. Bandi 1964, 81f

62

Ur- und Frühgeschichte

Neben dem franko-kantabrischen Bereich kennen wir offene Felsbildanlagen zwischen den Pyrenäen und der Sierra Nevada (ostspanische Levante) und an vielen anderen Orten in Europa von Italien über den Ural bis Skandinavien. In Skandinavien zog sich die Felsbildkunst entlang der gesamten Atlantikküste. Dabei handelt es sich überwiegend um offene Malereien an schwer zugänglichen Stellen. Die Altersbestimmung dieser Felskunst macht den Forschern einige Mühe. Mit guten Gründen geht man eher von einer mesolithischen oder gar neolithischen Entstehungszeit aus. Schon aus klimatischen Gründen dürfte die Bemalung kaum vor dem 8. oder 7. Jt. möglich gewesen sein. Allerdings handelte es sich bei den Gestaltern jedenfalls noch um Jägerkulturen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass vereinzelt domestizierte Tiere dargestellt wurden. In Jordanien gibt es ein Zentrum in der Kilwa-Senke, vor allem am Horsfieldberg, ein Sandsteinkegel, an dem 1932 eine Fülle von Malereien vermutlich aus dem Mesolithikum entdeckt wurde. In Afrika sind die Felsmalereien und -gravierungen häufig und über den gesamten Sahararaum, aber auch im Süden des Kontinents verteilt. Sie stammen aus mesolithischer und neolithischer Periode.

3.2. Das Weltbild des Paläolithikums

Holm Erik in Bandi 1964, 211

Leroi-Gourhan 1965, 209 Leitner 2015, 107

Jeder Zweifel darüber ist berechtigt, ob sich die Kunst des Paläolithikums überhaupt für eine kunstphilosophische Untersuchung eignet. Anders gesagt: Ist es möglich, über eine reine Bestandsaufnahme samt kunstgeschichtlicher Klassifizierungen hinaus für diese Zeit so etwas wie ein »Weltbild« zu fassen, das den künstlerischen Äußerungen zugrunde liegt? Wohlgemerkt: Das Problem ist die Erfolgsaussicht einer solchen Rekonstruktion. Denn ebenso wie Nicholas Conard sind sich die meisten der erwähnten Forscherinnen einig, dass – wie Erik Holm dies mit Blick auf die Felskunst Südafrikas sehr allgemein ausdrückte – auch diese frühe Kunst »von ihrem geistigen Gehalt und von ihrem Nährboden her zu begreifen […]« ist. Leroi-Gourhan fasste diese Meinung folgendermaßen zusammen: »Wir können, ohne das Material zu überfordern, die Gesamtheit der figurativen Kunst des Paläolithikums als Ausdruck von Vorstellungen über die natürliche und übernatürliche Ordnung (die im steinzeitlichen Denken nur eine Einheit bilden konnten) der lebendigen Welt auffassen.« Namentlich für die Höhlenkunst scheint zu gelten: »With its continuity and scope, it provides the clearest evidence of the spiritual thought and behavior of Homo sapiens.« Scheint es also mittlerweile nicht mehr um die Frage zu gehen, ob solche Weltbilder vorhanden waren und in der Kunst ihren Ausdruck fanden, hält die Diskussion um Rekonstruktionsmöglichkeit von Weltbildern und ihres möglichen Komplexitätsgrades angesichts der nicht abreißenden Menge an Fundmaterial an. Dass ihre Ergebnisse spekulativ und umstritten bleiben, liegt also in der Natur der Sache. Für verlässlichere Beurteilungen wäre ein umfangreiches Datenmaterial nötig, auch um die anthropologischen Grundlagen zu klären, die für einen solchen Anspruch stets eine Voraussetzung bilden. Kann man beispielsweise beim Drängen zur künst-

63

Die Kunst des Paläolithikums

lerischen Darstellung von einer Reifung von Verstand und Emotionalem ausgehen und von der Umsetzung eines Gefühls in die Kunstform? Alle diese Überlegungen machen nur Sinn, wenn man den Menschen dieser Zeit jene hohe Ausstattung zubilligt, die es ihnen ermöglichte, aus geistigem Antrieb Kunst zu schaffen. Dies wurde nicht immer so gesehen. Vielmehr gingen Generationen von Forschern vom »Apriori eines unintelligenten Menschen aus, der in den Bildern nur das wiedergab, was er haben wollte, das Wild.« Damit hatte man die Diskussion um das Weltbild der Eiszeitkünstler verkürzt und man hatte sich gleichzeitig der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk entzogen, weil es bestenfalls um kunstfertige Nachahmung der Realität ging. Eine ganze Reihe von entwicklungstheoretischen Urteilen wurde dabei zur Anwendung gebracht. Der Sozialist und Reformer Max Hermann Baege konstatierte vor dem Hintergrund der Fortschrittseuphorie des Positivismus des 19. Jh.s eine Entwicklung aus völliger Unreflektiertheit über den jungpaläolithischen Zauber zum neolithischen Geisterglauben. Erst der geschichtliche Mensch habe sich auf die Höhe eines Götterglaubens hochgeschwungen. Solche Reifungstheorien wiederholen sich in der Debatte um die Achsenzeit. Zweifellos bildete sich irgendwann in diesen frühen Gestaltungen (wobei zwischen den ersten ästhetischen Spuren und den gefeierten Höhepunkten der Höhlenkunst viele Jahrtausende liegen) die Fähigkeit des Menschen heraus, zweckfrei und ästhetisch zu betrachten und in der Folge davon Kunstwerke als Ausdrucksmittel von Gefühlen und Gedanken einzusetzen. Vielleicht war auch die Entwicklung der Sprache hin zu einem Instrument begrifflicher Präzisierung und zu einer elaborierten Kommunikationstechnik ein Anstoß, für den emotionalen Ausdruck andere Medien zu entwickeln. Zum Unterschied von der analytischen, zergliedernden Sprache bleibt in den »Sprachen der Kunst« Ganzheit und Geschlossenheit mit ihrer suggestiven Kraft gewahrt. Wenn man Urgeschichtlerinnen folgt, dann darf man sich der Hypothese nähern, dass man jedenfalls dem Menschen des Jungpaläolithikums, in dem die Kunst einen ersten Höhepunkt erreichte, eine dem modernen Menschen entsprechende emotionale Ausstattung zusprechen kann. Das bedeutet wohl auch, diesen Menschen einen reflektierenden Sinn für erste kulturelle Erzählungen zuzubilligen. Was genau hier erzählt werden sollte, darüber gehen die Meinungen naturgemäß weit auseinander. Im 19. Jh. vertraten Édouard Armand Lartet und Henry Christy die These, die prähistorischen Menschen hätten ein unbeschwertes Leben im Überfluss geführt und dies in ihren verschwenderischen Kunstproduktionen gezeigt. Auch Forscher, die jede religiöse Konnotation dieser frühen Kunst ablehnten, schlossen sich solchen Auffassungen an. Der bereits erwähnte Moritz Hoernes brachte es so auf den Punkt: »Sinnliche Liebe und das Nachahmungsbedürfnis sind die Genien dieser Kunst; noch steht, wie es scheint, keinerlei religiöse Bedeutung hinter ihren Darstellungen.« Solche sogenannten »L’art pour l’art-Thesen« kamen spätestens mit der Entdeckung der Höhlenmalerei unter Druck. Die Höhlen (und auch manche Felsbildanlage) lagen weit von den Siedlungsgebieten entfernt und ließen sich

König 1973, 16

Baege 1929, 41 II.5.0.

Pochat 1996, 11

Hoernes 1898, 184

64

Ur- und Frühgeschichte

Breuil Henri/­BergerKirchner Lilo in Bandi 1964, 21 Kühn 1929, 462

Conard 2011

Kühn 1954, 37

Holm Erik in Bandi 1964, 213

Bataille 1955, 7 IV.7.0./VIII.5.0.

Ebd., 129 Müller-Karpe 1966, 224–229, hier 228

kaum als Ausdruck eines unbeschwerten Vergnügens und bloßer Lust am Schmuck deuten. Ästhetisierende Deutungen gelten den meisten Forschern heute eher als Ausdruck einer Hilflosigkeit gegenüber dem Material. Auch wenn man sich mit anderen Zugängen einem erheblichen Druck nach Deutungsnotwendigkeit aussetzt, was einen zwangsläufig auf dünnes Eis führt, geht man überwiegend doch von komplexeren Weltbildern aus, die hinter der paläolithischen Kunst standen. Viele sehen in ihr den Ausdruck »der sozialen und religiösen Struktur der endeiszeitlichen Jägerkultur.« Oder wie Herbert Kühn mit Blick auf die spanische Valltorta-Schlucht bereits 1929 einräumte: »Der Gedanke läßt sich nicht abweisen: diese Schlucht muß einen besonderen Sinn gehabt haben, einen besonderen Charakter, sie muß eine abgetrennte, heilige Stätte gewesen sein.« Kühn zweifelte nicht daran, dass es sich bei den Höhlen, jedenfalls deren abgelegenen Teilen, um Kultstätten gehandelt habe. Es gibt also die Überlegung, dass sich (zumindest auch) robustere Weltbilder hinter der Kunst verbergen und dass diese einen gedanklichen Komplexionsgrad aufweisen. Erik Holm deutet die Felskunst als eine Kunst, die sich von der konkreten historischen Verwurzelung abgesetzt hat und wie später der Mythos das zeitlos Typische darstellte. Schon früher sah man die Felskunst statuarisch, »auf das Dauernde und Bleibende berechnet.« Gälte das, setzte das Abstraktionsfähigkeit der damaligen Menschen voraus. In der Tat wird diese Schlussfolgerung aus der Struktur der Kunst gezogen, wie ich weiter unten darstellen werde. Holm kann sich die Übertragung eines Kultaktes in das Kunstwerk vorstellen: »Unsere Kunstwerke sind also bewußte Verewigungen, die auch technisch ihren Ursprung direkt aus einem Kultakt herleiten.« Vor solchem Erklärungsmuster deutete er die Bisonkühe auf der Höhlendecke von Altamira als einen Kulttanz. Dafür, dass sich solche Rituale tatsächlich abgespielt haben, sprechen etliche, über den ganzen Kontinent verstreute Funde, die man als Tieropfer und die Fundorte als Kultplätze identifizierte. Dazu kommt ein vor allem im Jungpaläolithikum verbreiteter Totenkult. Sowohl Grabbeigaben als Bestattungsart belegen einen bewussten Umgang mit dem Tod. Georges Bataille schwärmt über die Kunst der Höhle von Lascaux, dass sie »in der Urgeschichte keinen anderen Ausdruck haben konnte als Versinnlichung des Geistigen.« Mag auch die an Neuplatonismus und Idealismus erinnernde Formulierung waghalsig erscheinen, ist die Botschaft klar. Demnach gäbe es für diese Kunst ein weltanschauliches Hinterland. Für Bataille war die Kunst der Höhle eine willkommene Gelegenheit, das Primitivitätsparadigma zu relativieren. Geradezu provokant verlegte er die aus europäischer Perspektive in die griechische Antike projizierte Kulturwerdung des Menschen in das Paläolithikum. Die Malereien seien Teil einer religiösen und magischen Handlung gewesen und »ohne Zweifel nicht als dauerhafter Schmuck gedacht.« Demnach gehörte »das Innewerden der eigenen Geschöpflichkeit und Abhängigkeit von einer transzendenten Macht« zu den Einsichten der Urmenschen.

65

Die Kunst des Paläolithikums

Einen anderen Schwerpunkt legte Marie König, für die der Mensch dieser Zeit weniger von einem abstrakten Transzendenten her bestimmt war. Sie vermutete ein astronomisches Interesse, das zweifellos nahe lag: »Das Lehrbuch der Menschheit ist der Himmel gewesen.« Die Höhlenforscherin bekämpfte vehement die alten Magie-Theorien und unterstellte den Eiszeitkünstlern einen reflektierten Umgang mit Mondzyklen und Sonnenlauf. Die frühen Menschen, die von kreisförmigem Horizont und halbkugelförmigem Himmel umgeben waren, hätten in ihren künstlerischen Äußerungen Raum und Zeit artikuliert und seien zu einem Glauben an die Wiedergeburt gelangt. Ihre Theorie pflegte König mit Untersuchungen an Felsbildern, Höhlenkunstwerken, an mobiler Kunst, namentlich an Venusfiguren, und an der frühen Architektur (Malta, Anatolien) zu belegen. König fand Anregungen bei den Arbeiten von Karl Jaspers. Ihr einseitiger Blick auf das astronomische Thema ließ sie nie zu einer Mitstreiterin der Thesen vom mediterranen Kult der Großen Mutter werden. 1964 fand man in Tata in Ungarn einen Nummulites perforatus (Kalkstein aus runden Einzellern) aus dem Mesolithikum (vermutlich von Neandertalern) mit einem Durchmesser von gut 2 cm, auf dem sich zwei eingravierte Linien in rechtem Winkel schneiden. Sollte es sich tatsächlich um eine Andeutung der Himmelsrichtungen, also um geometrica schemata im vollen Wortsinn handeln, wäre es in der Tat »ein schöpferischer Einfall, der die für alle Zeiten bindende Grundstruktur der geordneten, kultivierten Welt finden ließ.« Dass die Himmelsrichtungen schon in der frühesten Menschheitsgeschichte eine Rolle spielten, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Sie gehören nach Ausbildung von konkreten Gottheiten zur Beschreibung der Allgottheit und sie gehören bei den altorientalischen Königen zur Königstitulatur. Marie König suchte für ihre Theorie einer paläolithischen Kosmologie auch Belege in den Höhlen der Île-de-France. Dort vermutete sie das grafische Grundkonzept, das noch nicht durch überreiche Bebilderung überdeckt wurde. Sie glaubte, dort immer wieder die Grundgrafik von Schalen und Linien zu finden, wobei die Linien Achsen und die Schalen polare Hälften, also etwa Oben und Unten symbolisieren. In diese Schalen ist nicht selten das Linienkreuz eingraviert. »Zu der symbolischen Schale, der Abseite der Welt, gehörte die Wölbung der Oberseite, des Himmels.« / »Sowohl der Kreis als auch das Linienkreuz waren Ausdruck der Weltordnung und konnten sich in diesem Sinne zum ›Ringkreuz‹ verbinden.« Auch Marija Gimbutas sah im Kreuz ein kosmisches Symbol: »Its purpose is to promote and assure the continuance of the cosmic cycle […].« Zwischen dem kosmischen Zyklus und jenem des sich immer wieder erneuernden Lebens besteht ein enger Zusammenhang. Solches fand König nicht nur in den Höhlen rund um Paris, sondern auch in jenen Sardiniens, in Tempeln auf Kreta, in Irland, im sumerischen Lagasch und auf Malta. Derartige Schalen kommen praktisch überall vor, dienten sie doch auch als Opferschalen. Ihnen eine ausdrücklich astronomisch-kosmische Funktion zuzusprechen, bleibt aller Bemühungen um empirische Grundierung zum Trotz sehr speku-

König 1973, 290

Ebd., 42

II.1.2.3.

Ebd., 83/114 Gimbutas 1974, 89

66

Ur- und Frühgeschichte

Thom 1970

III.1.2.2.

lativ. Ihre Plausibilität erhält diese Theorie eher aus den späteren kosmischen Reflexionen in den ersten Hochkulturen. Das gilt auch für ein weiteres kosmisch deutbares Motiv: das Gitternetz, das über den gesamten Globus verbreitet war und das alte sumerische Texte mit Himmel und Erde in Verbindung bringen. Kaum bestreitbar ist auch, dass in der ersten Architektur ebenso wie in den frühesten Siedlungen neben die Grundgeometrie des Kreises jene des Rechtecks trat und auch verschiedentlich zur Anwendung kam (Çatal Hüyük). Dass sich die Vorstellung einer kosmischen Ordnung in den alten Hochkulturen durchsetzte, ist wahr. Die Zikkurat als Schnittpunkt von Erd- und Himmelsachse in Babylonien, der Omphalos in Griechenland und der Schnitt von Decumanus und Cardo in Rom waren zentrale Motive, die auch in der Philosophie ihren Niederschlag fanden. Mit einer solchen Zurüstung lassen sich Bilder in einen kosmischen Kontext stellen, die vordergründig andere Motive abbilden. Wenn Darstellungen von »Erdtieren« wie Fische und »Himmelstieren« wie Hirsche oder Adler zusammen mit kosmischen Kennzeichnungen auftreten, kann man sie eventuell als Ideogramme einer Weltsymbolik deuten. Königs Thesen stießen in der wissenschaftlichen Welt auf herbe Kritik und ihre monokausale Anwendung ist in der Tat schwer zu vermitteln. Reizvoll bleiben ihre Überlegungen deshalb, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit (und bei den ersten großen Architekturanlagen mit Sicherheit) astronomische Themen eine Rolle gespielt haben. Solche Zusammenhänge sind durch den schottischen Ingenieur Alexander Thom und andere gut untersucht. Zudem zeichnet König großzügige Querverbindungen, die für die Zeit des Neolithikums eine gewisse Bedeutung haben. Der Mondkult etwa ist mit der Geometrie des Dreiecks und dem Ideogramm Horn (wie beim Apisstier und der ägyptischen Mondgöttin Hathor) verbunden. Im Vorderen Orient gehörte der Stier zum Mond, zusätzlich trat er auf Kreta als Wassertier auf. Darin traf sich seine Himmels- mit der Erdkompetenz. Alle diese Bildmotive können als Ausdruck einer vermuteten unsichtbaren Macht gesehen werden, die den Kosmos durchwaltet. Damit wäre auch das später so wichtige Motiv des Verhältnisses von unsichtbarer Macht und ihrer realen Darstellung bereits in dieser frühen Zeit vorhanden gewesen und es hilft bei der Erklärung der (v.a. im Orient rasch einsetzenden) Entstehung der Götter, die Personifikationen der Kosmos-Ideogramme darstellen. Ideogramme bekamen Beine und Hände und wurden damit sozusagen handlungsmächtig.

3.3. Der Kultort Höhle Das Phänomen der Höhle ist ein Spezialfall des europäischen Paläolithikums. Außerhalb dieses Bereichs gibt es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Felskunst im Freien und im Tageslichtbereich. Die Entdeckung der eiszeitlichen Höhlenkunst brachte einen neuen Schub in die Überlegungen zum Weltbild der frühen Menschen. Es herrscht in der wissenschaftlichen Diskussion ein weit reichender Konsens in

67

Die Kunst des Paläolithikums

der Annahme, dass die Höhle im Zusammenhang mit Kulten zu verstehen ist. Diese Deutung der Höhle als Kultort begann bereits kurz nach den Entdeckungen am Beginn des 20. Jh.s. Einer der Gründe für diese Zuschreibung, der unvermittelt in das Auge sticht, ist (abgesehen von den divergierenden Lesearten der künstlerischen Darstellungen) die schwierige Zugänglichkeit. »Manche Höhlen sind so unzugänglich, so unwegsam, daß nur ein tieferer, im Geistigen wurzelnder Grund Menschen an diese unwirtlichen Stellen gebracht haben kann: der Gedanke an Schmückung ist zu absurd für den, der die Höhlen kennt, als daß er auch nur diskutiert werden könnte.« Vielleicht entstand hier das reale Urbild einer sakralen Höhle, das in metaphorisch-literarischer Form eine große Karriere in der Kulturgeschichte machte und uns von den frühen Hochkulturen über die Mysterienkulte bis in die zahlreichen philosophischen Erzählungen begleitet. Jedenfalls war der Impuls, die Abbildungen der Höhle zum Ausgangspunkt der Deutungsversuche zu nehmen, wie er von Max Raphael ausging und von Annette Laming-Emperaire und Andrè Leroi-Gourhan strukturalistisch weiterentwickelt wurde, ein wesentlicher Antrieb für neue Zugänge zum Thema. Angesichts solcher Deutungen darf nicht übersehen werden, dass die Höhle ursprünglich auch als Wohnplatz diente, wie Untersuchungen von Kulturschichten belegen. Wohnsituationen wurden aber nicht immer und wenn, dann nur in den vorderen Bereichen gefunden. Die schwer zugänglichen hinteren Bereiche, aber auch Höhlen, die von größeren Lagerplätzen oft weit entfernt lagen, scheinen vorwiegend oder ausschließlich kultische Funktion gehabt zu haben. Wegen der schwierigen Erreichbarkeit wurden diese Höhlenteile vermutlich selten besucht. Das bedeutet, dass die reichen Malereien vermutlich nicht für menschliche Betrachter geschaffen wurden, sondern entweder für höhere Wesen oder aber der Akt des Kunstschaffens war selbst bereits Teil eines Rituals. »Manchmal drängt sich die Vermutung auf, daß diese Figuren gar nicht von zahlreichen Menschen gesehen werden sollten. Offenkundig war der Schöpfungsakt wichtiger als die Wirkung […].« Erhalten gebliebene Fußspuren und Handabdrücke – jene der Höhle von El Castillo mit einem Alter von 26 000 Jahren sind die ältesten – weisen auf Kinder und jugendliche Besucher hin, sodass der Schluss auf einen Initiationsritus (mit Vorbereitungs- und Hauptritus), auf ein rituelles Beschreiten des Heiligtums, näher liegt als jener auf einen von Massen (z.B. von magisch handelnden Jägern) besuchten Wallfahrtsort. Wenngleich die Übertragung von Ergebnissen ethnologischer Forschungen an rezenten »Primitivkulturen« auf jene des Paläolithikums problematisch ist, könnte man vermuten, dass die Rolle eines Rituals auch für so frühe Kulturen wichtig war. Dies impliziert ritualisierte Tänze, Begehungen, das »Um-Einverständnis-Bitten« des Jägers beim zu jagenden Tier – nach Walter Burkert Folge einer mystischen Solidarität von Jäger und Opfer –, welches Ritual sich bis ins 20. Jh. bei Bauern und Holzfällern fand, bis hin zu Ritualen um jene Körperteile, die mutmaßlich als Sitz der Seele angesehen wurden, wie die Schädelrituale. Wie genau die Botschaft der Fels- und Höhlenbilder zu verstehen ist, dazu gibt es mehrere Zugänge. Eine der beliebtesten Erklärungen war die von Henri Breuil fa-

Kühn 1929, 465

3.4.

Clottes/Lewis-Williams 1996, 57

Burkert 1972, 29

68

Ur- und Frühgeschichte

Jagdmagie

Kühn 1954, 69f; Kühn 1929, 503 Kühn 1929, 503

van Scheltema 1950, 35f BSG I, 182

kosmologische Theorie

König 1973, 216f

Ebd., 217

Animismus

vorisierte These einer dargestellten Jagdmagie, die metaphysische Vorstellungen beinhaltete. Sie war lange Zeit der präferierte Zugang zur Eiszeitkunst, während man für das Neolithikum den Animismus als beliebtes Erklärungsmuster wählte. Kühn verwandte den Ausdruck Magie allerdings als eine Sammelbezeichnung für jede geistig-spirituelle Deutung, wenn er resümierte: »So ergibt sich abschließend das Bild einer magischen Welt, in die die Kunst der Eiszeit eingebettet ruht.« In einem so weiten Sinn genommen bedeutet Magie nichts anderes als eine religiös-spirituelle Komponente ganz allgemein. Das ist wenig strittig, während die Magie-Theorie im engeren Sinn, also etwa die Idee der Jagdmagie, seit längerer Zeit an Boden verliert. Der Jagdzauber gilt daher nicht mehr als »vorwiegende Verständnismöglichkeit«. Allenfalls als Teiltheorie können sich solche Ansätze behaupten. Grundsätzlich gingen die Magie-Theorien nicht nur – in exakt gegenteiliger Einschätzung von Christy und Lartet – von einem Überlebenskampf der Menschen in einer feindlichen Umwelt aus, sondern basierten auf einem eher primitiven Menschenbild, wie die Gegner der These nicht müde werden, darauf hinzuweisen: Magie als eine – nicht besonders hoch reflektierte – Überlebenshilfe! Ein anderer Einwand gegen diese Theorie bezieht sich auf die Fundsituation: So gibt es – gemessen an der Gesamtzahl – eher wenige eindeutig als »verletzt« identifizierbare Tiere. Zudem gibt es auch ganz andere Erklärungen für die Verletzung oder Tötung von Tieren durch Pfeile als jene einer magischen Handlung – wenn auch nicht minder abenteuerliche. Im Kontext ihrer kosmologischen Theorie sah etwa Marie König in den Pfeilen ein Sinnbild von Tod und Regeneration. Wie die Sonne gab auch der Mond »dem Zeitlichen des Menschen Ziel und Grenze. Aber wie er das Gesetz des Sterbens vorlebte, so verhieß er zugleich die Aussicht auf einen neuen Anfang. Tod und Leben waren unlösbar verknüpft, und im Überdenken des kosmischen Geschehens könnte der Mensch Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode geschöpft haben.« Marie König versuchte, das Gemeinte am Beispiel des großen Stiers in der Höhle von Lascaux zu demonstrieren: »In den Nüstern steckt der tödliche Pfeil, aber dem Maul des Tieres entströmt der Atem des neuen Lebens. Das Ohr steht senkrecht am Halse. Das Sterben des Stieres ist kein natürlicher Vorgang, dieser Stier ist kein irdisches Wesen, er ist der bildhafte Ausdruck der Weltordnung.« Neigen Theorien des Jagdzaubers zur intellektuellen Abwertung des eiszeitlichen Menschen, legte Marie König die Latte sehr hoch. Ließen sich ihre Spekulationen erhärten, hätten wir eine kulturelle Erzählung im Spätpaläolithikum vor uns, die spätere Weltbilder und Religionen vorwegnimmt. Gleichsam eine Zwischenlösung böte die Erklärung eines Animismus im weitesten Sinn. Gemeint ist eine vage Vorstellung von Seelenwanderung, von beseelten Tieren, die ihrerseits als Schutzgeister auftreten konnten. Symbole dafür wären Zwischenwesen, die auch in Tierfelle gehüllte Schamanen in rituellen Tänzen mit Tiermasken sein könnten, die wiederum als Medien dienen. Mag sein, dass der paläolithische Mensch in der Höhle einen Ort der Götter und Geister gesehen hat, so wie nach Vorstellung der Schamanen der himmlische

69

Die Kunst des Paläolithikums

und der unterirdische Ort von »besonderen Geistwesen und Tiergeistern« bewohnt werden. Jean Clottes plädiert in diesem Zusammenhang für eine von Schamanen geleitete Religion im Paläolithikum. Grundlage dafür war ihm, dass er alle Stadien der Trance in den Malereien zu finden glaubte. Die Schamanismustheorie von Jean Clottes und David Lewis-Williams erregte einige Aufmerksamkeit. Die beiden Wissenschaftler erforschten nicht nur rezente Praktiken des Schamanismus, sondern berücksichtigten auch den Stand der neurophysiologischen Forschung zum Thema. Demnach gibt es drei Phasen einer durch Tanz und Rhythmus oder durch Rauschmittel ausgelösten Trance. In einem ersten Schritt erscheinen dem Mysten dynamische abstrakt-geometrische Formen, Zickzackstreifen, Mäander, Gitter und Punkte, geradewegs so wie sie Motive der Felsmalerei sind. In einem zweiten Schritt werden diesen abstrakten Gebilden Bedeutungen zugesprochen. Sie können die Gestalt von Tieren oder Gegenständen annehmen. In einer dritten Phase findet man sich in Trichtern oder Strudeln wieder. Man gewahrt ein Licht am Ende dieser tunnelförmigen Gebilde und erlebt erste echte Halluzinationen mit Ungeheuern und Mensch-Tier-Mischwesen, in die man sich selbst zu verwandeln scheint. Dies wird als Vision gedeutet, als angestrebtes Ziel des Schamanen. Die Spuren solchen Erlebens sind nach den Autoren in der Felsmalerei dargestellt. In allen diesen Zugängen wird versucht, das Dargestellte inhaltlich zu deuten. Es gibt aber auch einen zeichentheoretischen Vorschlag. Demnach wären die Mythogramme als Zeichen und als Urformen der Mythenproduktion anzusehen. Emmanuel Anati setzt die Felskunst mit dem Ursprung des begrifflichen Denkens im Rahmen der Herausbildung des menschlichen Geistes gleich. Anati argumentiert auf der oben angesprochenen Basis der Voraussetzung von Abstraktionsfähigkeit des damaligen Menschen. Die Symbole gelten ihm als Zeugnis der wachsenden Fähigkeit zur Abstraktion, zur Synthese und Assoziation. Voraussetzung dafür ist die erstaunliche Einheitlichkeit der paläolithischen Kunst, von der auf die Einheitlichkeit ihrer Schöpfer geschlossen werden darf. Vieles von diesen Theorien mag auf unsicheren Beinen stehen, dennoch bleiben manche Betrachtungen anregend und werden im Folgenden immer wieder beigezogen werden.

Clottes/Lewis-Williams 1996, 29 Schamanismus­ theorie

Zeichentheorie

Anati 1997 3.2.

3.4. Zeichen der Polarität In den letzten Jahrzehnten sorgte die Theorie der Polarität im Zusammenhang mit der Höhlenkunst für einiges Aufsehen. Die Basis dafür bildeten die gründlichen Untersuchungen und statistischen Auswertungen von etwa 60 Höhlen durch André Leroi-Gourhan. Der Archäologe und Paläontologe plädierte für eine religiöse Deutung, spricht im Zusammenhang mit der Höhle sogar vom »paläolithischen Heiligtum« und sah einen gemeinsamen Beginn von Religion und Kunst. Er beschäftigte sich bei seinen Untersuchungen nicht nur mit abbildhaften Darstellungen, sondern auch mit den abstrakten Zeichen als einem besonders aufregenden Kapitel der Kunst.

13 Abstrakte Zeichen in der Höhle von El Castillo (Nach­ zeichnung) Leroi-Gourhan 1971, 170–182

70

Ur- und Frühgeschichte

Ravilious 2013

Leroi-Gourhan 1971, 172

Berger-Kirchner Lilo in Bandi 1964, 120

Naturgemäß löste kaum etwas so viele spekulative und einander widersprechende Deutungen aus wie solche gegenstandslosen »Kritzeleien«. Die Deutungen – vieles scheint blühender Phantasie entsprungen – reichen von dargestellten Häusern, Tierfallen, Wurfwaffen bis hin zu Wappenschilden oder Warnschildern und Wegweisern in den Höhlen. Eine andere Meinung sieht darin einen prähistorischen Code, der als ferner Vorläufer von Schriftsystemen gelten darf. Es gibt mehrere Hinweise auf piktogrammartige Bilderschriften, etwa in den Höhlen La Pasiega im Berg El Castillo in Nordspanien und in jener von Mas d’Azil in den Pyrenäen, die im Hinblick auf die Schriftentwicklung Aufmerksamkeit erregen. Leroi-Gourhan hält die Zeichen für einen Ausdruck einer Gedankenwelt, die »sich auf Opposition und Ergänzung der männlichen und weiblichen Werte gründete, die symbolisch durch Tierfiguren und mehr oder weniger abstrakte Zeichen ausgedrückt wurden.« Sowohl aus der Untersuchung mobiler Kunst wie Speere, Harpunen, Lochstäbe, Statuetten, Knochen- und Steinblättchen als auch der Höhlenmalereien zog er Rückschlüsse auf ein Weltbild des Steinzeitmenschen. Es beruhte seiner Meinung nach auf der Vorstellung einer Polarität oder Ambivalenz der Wirklichkeit. Zentral dabei bleibt die sexuelle Polarität. Besonders die Lochstäbe, Geweihstücke des Rentiers mit einem gebohrten Loch – sie dienten vermutlich als Werkzeug –, tragen häufig solche Markierungen oder sind als Penis mit vaginalem Loch gestaltet. Auffallend bei der Durchsicht der Höhlen war, dass die Maler nicht einfach beliebige, sondern ausgesuchte Tiere malten und dies in einer Häufigkeit, die der Normalverteilung der damaligen Fauna durchaus widersprach. Insekten, Nagetiere, Vögel, Schlangen oder Fische kommen kaum vor, die abgebildeten Tiere schweben ohne Umwelt und in realitätsfernen Größenverhältnissen an der Wand. Die Auflistung der Tiere ermöglicht nach Meinung Leroi-Gourhans die Auswertung im Hinblick auf sexuelle Korrelationen. Signifikant sind Beziehungen von Tier-Mann (Pferd, Bär, Rentier u.a.) und Tier-Frau (Bison, Mammut u.a.). Trotz der sexuellen Belegung solcher Abbildungen sind aus dem Paläolithikum kaum unstrittig identifizierbare Kopulationsdarstellung (wie die vermutlich aus dem Mesolithikum stammende Felsgravierung am Horsfieldberg in der Kilwasenke in Jordanien und möglicherweise die Darstellung der Kopulation von Hengst und Stute im Abri Chaire-à-Calvin) bekannt. Erst im Neolithikum wird dieses Sujet zu einem verbreiteten Bildelement. Sehr wohl kommen allerdings neben Vulva- (als älteste Vulva-Darstellung gilt zur Zeit eine 37 000 Jahre alte Gravur im Abri Castanet in Périgord) und Phallusdarstellungen einander zugeordnete abstrakte Zeichen vor, die als sexuelle Symbole interpretiert werden können. Darunter fallen abstrakte grafische Stilisierungen und Umrisszeichnungen (Lascaux), eigenartige Polychromie, ebenfalls in hoher Abstraktion, bis hin zu schwer deutbaren geschwungenen Linien (Altamira). Auch Marie König stürzte sich auf diesen Zeichenvorrat und entwarf im Rahmen der von ihr präferierten kosmologischen Deutung ein anderes Bild. Demnach hätten wir es mit kalendarischen Zeichen zu tun, die sich vor allem auf die

71

Die Kunst des Paläolithikums

vom Mond geprägte Zeit beziehen. Königs Deutung mündet in die Ansicht, dass es sich bei vielen der weltweit verbreiteten und berühmten Symbole um Zeichen der Wiedergeburt handelt. Das vielleicht berühmteste einschlägige Zeichen dazu ist die Spirale. Ihre Herkunft ist nicht mehr zu bestimmen. Dazu ist ihr Auftreten zu häufig und zu verbreitet. Die meisten Forscher wollen die Spirale nicht nur als Ornament sehen, sondern als Zeichen, das »schon sehr früh einen besonderen Sinnund Bedeutungsgehalt in sich aufgenommen hatte, der als Wasser oder genauer als Kreislauf des Wassers angegeben werden kann und den Gedanken von Leben und Tod und deren ewige Wiederkehr mit enthalten zu haben scheint […].« Auf den Kykladen – in der Ägäis wurde die Spirale häufiger verwandt als anderswo – war die Spirale manchmal zusammen mit Fischen oder Schiffen dargestellt. In Newgrange finden sich gegenläufige Spiralen, die König nicht uninterpretiert lässt: »Die eine Spirale drehte sich nach oben, führte also hinauf zum Licht, zum Himmel, die andere versank im Gegensinn ins Jenseits, ins Dunkel. Es wurde das Problem von Tod und Leben ausgedrückt. Die beiden im Gegensinn laufenden Spiralen setzen den Begriff der beiden polaren Halbkugeln voraus, auf denen sich der Weg abrollt.« Die Spirale, die stets das »ewige Kommen und Gehen« demonstriere, stünde dann für eine Auferstehungshoffnung und determiniere mit dieser Bedeutung noch das von ihr abgeleitete Labyrinth. Ein Labyrinth, »durch das nur die Eingeweihten hindurchgehen und das die Eindringlinge abhält. Diesen Sinn zeigt sie in der Umrahmung der Investiturszene in Mari (18. Jahrhundert v. Chr.), und ihn besaß sie schon in Kreta.« Die Spirale hatte eine lange Karriere in der Kunstgeschichte vor sich. Sie spielte auch eine Rolle in der islamischen Ästhetik, sowohl im formalen Bildaufbau als auch als Symbol eines esoterischen Wissens.

14 Spiralverzierung im Tempel Tarxien, Malta

Thimme Jürgen in Thimme u.a. 1968, 18 Hood 1978, 234

König 1973, 249 Mahlstedt 2004, 124 III.1.2.2. Papadopoulo 1977, 192 II.1.2.5. V.3.4.1.1.

3.5. Ein kunstphilosophisches Resümee und das Ende der paläolithischen Kunstepoche Stand anfänglich die Frage im Raum, ob die Kunst der Eiszeit überhaupt in einer kunstphilosophischen Untersuchung einen berechtigten Platz hat, scheint nun eine Fülle von Antworten die kunstphilosophische Kommentierung zu überfordern. Die verbindende Motivation solcher Unternehmen ist die Parallelisierung der archäologisch greifbaren frühen Kunst mit der Entwicklung des menschlichen Intellekts. »Prehistoric art, and in particular rock art, appears to be a paramount source for reconstructing the intellectual history of Homo sapiens.« Wenn nun zusammenfassend einige Motive herausgegriffen werden, geschieht dies mit dem klaren Interesse des Philosophen an den vorliegenden Dokumenten. Aber es ist keinesfalls die Absicht, das komplexe und in seiner Deutung sehr umstrittene Material auf nur wenige Aspekte reduzieren zu wollen. Zudem soll es tunlichst vermieden werden, allzu viele Projektionen späterer philosophischer Konzepte in

Anati/Anati 2015, 230

72

Ur- und Frühgeschichte

Eliade 1976, I, 18

Clottes 2015, 117; im Orig. kursiv

Müller-Karpe 1966, 192

Leroi-Gourhan 1971, 172

diese frühe Zeit zu tragen, ohne gleichzeitig aber ein mögliches Labor der Entstehung solcher Konzepte von vorneherein auszuschließen. Die mit Weltbild-Theorien aufgeladene Rekonstruktion der paläolithischen Kunst, wie sie auf den letzten Seiten dargestellt wurde, darf nicht übersehen, dass es auch Sujets gibt, die – vorbehaltlich einer noch möglichen Einordnung in andere Zusammenhänge – schlicht genrehaften Charakter haben und ein scheinbar bezauberndes ästhetisches und narratives Spiel zeigen. Berühmt sind der seine Flanke leckende Bison (La Magdelein), der von einem Bienenschwarm angegriffene Honigsammler (Cuevas de la Araña) oder der von einem angeschossenen Wildrind verfolgte Jäger (Cueva Remigia) sowie viele Jagdszenen. Letztere Beispiele stammen allerdings aus späterer Zeit. Trotz dieser Einwände ist der religiös-kultische Aspekt paläolithischer Kunst – prinzipiell gesprochen – bei aller »semantischen Undurchsichtigkeit« prähistorischer Dokumente wenig bestritten. Es ist diese Tatsache, dass viele Autorinnen die frühe Kunst als Ausdruck eines Weltbildes sehen, die für den Kunstphilosophen bemerkenswert ist. Stellvertretend dazu kann die Bemerkung von Jean Clottes stehen: »Art will be the projection upon the world around the artist of a strong mental image which will infuse reality before transfiguring it and recreating it into a different form.« Der auf empirische Befunde bedachte, gegenüber den ins Kraut schießenden Spekulationen durchaus kritische Hermann Müller-Karpe beschwört eine »Einmütigkeit darüber, daß es eine religiöse Erlebnis- und Vorstellungswelt ist, die in dieser Kunst ihren Ausdruck gefunden hat.« Auch, wenn damit nicht geklärt sei, »wie aus einem solchen allgemeinen Ur-Grund der konkrete Ur-Sprung erfolgte […].« Ebenso selbstverständlich geht André Leroi-Gourhan von einer religiösen Bedeutung der paläolithischen Kunst aus, bedauert allenfalls, »keine Synthese des religiösen Denkens der Altsteinzeitmenschen« zu schaffen, bleibt jedoch optimistisch, dass es einmal möglich sein wird, »die Grundlagen der Religion des oberen Paläolithikums ein wenig zu präzisieren; […].« In der vorliegenden Untersuchung geht es zurückhaltender zur Sache und ich zögere, die Geburt von Religion an dieser Stelle festzumachen. Trotzdem geht es um Hinweise auf im Schoß der Frühzeit entstandene Motive – und es sind Motive eines ursprünglichen und authentischen Erlebens und Empfindens des Menschen –, die – so die These – sowohl die nachfolgende Rationalisierung in der frühen Religion/ Philosophie, als auch die Kunstentwicklung geprägt haben. Am Beispiel der Theorie des Jagdzaubers wurde gezeigt, wie dieser durch die grundlegendere Symbolik der geschlechtlichen Polarität überlagert sein und der Speer als Penis, die Wunde als Vulva gedeutet werden könnte. Zudem könnte man aus der ambivalenten Spannung, aus Gruppierung und Anordnung der Werke, aus dem rituellen Beschreiten der Höhle sowie aus ethnologischen Beobachtungen rezenter »Primitivkulturen« auf ein dynamisches Verständnis dieser Polarität der Wirklichkeit schließen. Von Curt Sachs wurde diese rituelle Dynamik in origineller Weise in die Geschichte des Tanzes verbaut, was der oben geäußerten Meinung, dass Kunst

73

Die Kunst des Paläolithikums

in dieser Zeit performativ zu lesen ist, entgegen kommt. Philosophisch wäre es verführerisch, von einer gerichteten Prozessualität zu sprechen, also von einem bewussten und steuernden Umgang mit dem Prozess. Die Deutung von Speer und Wunde als Symbole geschlechtlicher Vereinigung ließe sich auf die Symbolik von Leben und Tod und deren dynamischen Ablauf erweitern. »Jedenfalls handelt es sich nicht um eine Tötung des Tieres im Bild mit dem Ziel, Beute zu erlangen, sondern um eine sakrale Sicherung der eigenen Vitalität vor jenseitigen Einflüssen; und gerade dies weist darauf hin, daß in diesen Tierbildern jenseitige Mächte symbolisiert wurden.« Ob man so weit gehen will, von diesem Material bereits auf Vorstellungen zur Seelenwanderung und auf die Formulierung von Ursprungsmythen zu schließen, lasse ich offen. Jedenfalls dürfte die verbreitete Praxis schamanischer Suche nach Visionen, die stets mit einer gestuften Kosmosvorstellung verbunden blieb (für Jean Clottes und David Lewis-Williams entspricht der gegliederte Kultraum Höhle diesem Bild), Deutungen in diese Richtung nicht völlig unzulässig erscheinen lassen. Aus rezenten ethnologischen Forschungen wollen Clottes und Lewis-Williams sogar einen Unterschied in der inhaltlichen Deutung der Trance zwischen Ackerbauern und Nomaden ausgemacht haben. Die Deutung der Trance bei den Nomaden ginge demnach in Richtung einer Seelenwanderung oder unterirdischen Reise, bei den Ackerbauern in jene eines Glaubens an einen guten oder bösen Geist, der von außen herantritt und von der Person Besitz ergreift. Erik Holm fand für solche Folgerungen in späteren Felsmalereien in Südafrika einige Hinweise, die er mit den franko-kantabrischen Felsbildern in Übereinstimmung bringt. Bei diesen viel später noch existierenden Steinzeitkulturen im südlichen Afrika gibt es Märchen vom Tod der Göttin, der einzig dazu dient, sie in neuem Glanz wieder ins Leben auferstehen zu lassen. Es scheint demnach die These zumindest nicht abwegig zu sein, dass bereits in dieser Nomaden- und Jägerkultur noch vor der Neolithischen Revolution reflektierte zyklisch-dynamische Daseinsvorstellungen, verbunden mit Fortlebensvisionen, entwickelt wurden. Das alles ist zunächst brisantes philosophisches Material. Inwieweit es Brücken gibt, die in die nachfolgenden Mysterienkulte und damit in die beginnende (griechische) Philosophie reichen, bleibt im Bereich der Spekulation. Es gilt ganz allgemein, dass die Ex­ trapolation der europäisch-griechischen Philosophiekonzeption nach hinten die hier präferierte Deutung der paläolithischen Kunst an vielen Stellen stützen könnte. Über die methodische Kraft dieses Arguments kann man freilich geteilter Auffassung sein. Die Entwicklung der Heiligtümer endet etwa um 10 000. Zugleich lösen sich die bisherigen Formen der Kunst auf. Es entstand eine neue künstlerische Form. Das Ende des Paläolithikums ging, wie bereits erwähnt, Hand in Hand mit einer klimatischen Erwärmung im Holozän. Während in Europa die Waldgebiete dichter wurden und sich durch die großen Mengen von Schmelzwasser Sumpflandschaften ausbreiteten, was den Lebensraum von Mensch und Tier einschränkte, die Jagd erschwerte und das Überleben insgesamt mühsamer machte, entstanden im Nahen Osten und in Nordafrika gute Bedingungen für Ackerbau und Viehzucht.

Sachs 1937, 124

Holm Erik in Bandi 1964, 203

Clottes/Lewis-Williams 1996, 23

Holm Erik in Bandi 1964, 192

III.2.1.2.

74

15 Kopffigur aus Lepenski Vir (Serbien um 6000a)

Ur­ und Frühgeschichte

Kulturell scheint es in dieser Übergangszeit, die in Europa Mesolithikum genannt wird (sonst spricht man vom Epipaläolithikum) und etwa die Zeit zwischen 10 000 und 5000 umfasste, unbeschadet einiger bemerkenswerter Funde wie der Steinskulpturen von Lepenski Vir im östlichen Serbien, eine deutliche Unterbrechung gegeben zu haben. Insofern sind für das Mesolithikum trotz einiger Bestattungsriten die dahinter liegenden Weltbilder ganz unklar. Die Parietalkunst verschwand weitgehend, Felsmalereien in Ost- und Südspanien sind aus dieser Zeit jedoch bekannt. Werkzeuge und Jagdgeräte, deren Einsätze (Mikrolithen, kleine Projektile aus Feuerstein) die Zeit bestimmten, traten nun vermehrt auch an den Küsten auf, wohin die Menschen offenbar der Nahrungssuche wegen zogen. Sie sind künstlerisch kaum ambitioniert gestaltet. Immerhin besitzen wir aus dieser Zeit zahlreiche organische Artefakte, die durch Konservierung in Torfmooren überliefert wurden: Holzbogen und Pfeile, Angelhaken und Fischernetze, Holzgeräte und -schüsseln, Einbäume und Paddel. Töpferwaren in Spiralwulsttechnik begründen die im Neolithikum aufkommende Keramik. Die Ursprünge der Keramik dürften nach heutigem Wissensstand in China liegen, wo man Tonscherben mit einem Alter von 18 000 Jahren fand. Im Norden Europas hielten sich die mesolithischen Kulturformen der Jägerund Sammlertätigkeit, allenfalls mit saisonal wechselnden festen Wohnsitzen, noch bis gegen 4000, während im mediterranen Bereich bereits um 5800 Bauernkulturen entstanden waren. In Südeuropa wiederum scheint durch die Einflüsse aus Vorderasien eine raschere Wandlung eingetreten zu sein. Die meisten Forscher nehmen an, dass damit auch die religiösen Vorstellungen des Paläolithikums verschwanden und durch die neuen Weltbilder des Neolithikums ersetzt wurden.

4.0. Die Neolithische Revolution Ein ganz entscheidender kulturgeschichtlicher Einschnitt war die 1936 vom australischen Historiker Vere Gordon Childe so genannte Neolithische Revolution, die sich frühestens vom 10. Jahrtausend an (jedenfalls zwischen 8000 und 4000) im Raum zwischen Himalaja und dem Mittelmeer vollzog. Auf den Ausdruck dürfte der am Marxismus orientierte Archäologe in Anlehnung an den zeitgenössischen Begriff von der Industriellen Revolution gekommen sein. Er orientierte sich bei dem Paradigmenwechsel primär an der in der Ackerbaukultur aufkommenden neuen Wirtschaftsweise.

4.1. Kontexte Die Begriffe Paläolithikum (Altsteinzeit) und Neolithikum (Jungsteinzeit) wurden vom britischen Anthropologen John Lubbock geprägt. Lubbock richtete sein Augenmerk auf die Werkzeuge und unterschied das paläolithische Zeitalter der geschlagenen Steinwerkzeuge von jenem der geschliffenen Werkzeuge, die für Lubbock die Jungsteinzeit charakterisierten. Die Begriffe sind in das übliche Vokabular eingeflos-

75

Die Neolithische Revolution

sen, ihre ursprünglichen Charakterisierungen sind hingegen überholt. Neuere Einzelfunde von geschliffenen Beilen sind allerdings deutlich älter. Zudem versteht es sich von selbst, dass es sich bei diesem Übergang zur bäuerlichen Wirtschaft und der Anlage fester Siedlungen um einen lange dauernden Prozess handelte, auch wenn der von Childe geprägte Ausdruck »Revolution« einen abrupten Paradigmenwechsel suggeriert. Die Jäger und Sammler wurden zu nomadisierenden Viehhaltern (eine Lebensform, die es bis heute in vergleichbarer Form der »Transhumanz« immer noch gibt) und schließlich zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern. Erstmals nachgewiesen und untersucht wurde diese Transformation am Wadi Natuf, knapp 30 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Im Vordergrund des neolithischen Pflanzenanbaus stand das (vermutlich aus Vorderasien stammende) Getreide (israelische Forscher haben jüngst als erste domestizierte Frucht die vor 11 400 Jahren angebaute Feige identifiziert), erst in zweiter Linie folgten Hülsenfrüchte und andere Nutzpflanzen. Das Getreide wurde mit einer Steinsichel geerntet und im Mörser zerrieben. Gleichzeitig mit der Pflanzendomestikation erfolgte die Zähmung der Tiere. Der Hund dürfte das älteste gezähmte Tier gewesen sein. Um 12 000 fand man in einem Grab in Israel ein Hundeskelett. Neuere aus DNA-Analysen gewonnene Einsichten datieren die Domestikation des Hundes gar auf 15 000 in China. Die Domestizierung von Ziege (Bezoar-Ziege) und Schaf (asiatisches Mufflon), Rind (das europäische Rind stammt aus Anatolien) und Schwein könnte um 8000 erfolgt sein, des Bocks um 7000 (Jericho), des Pferdes um 4000 (Zentralasien). Die Daten zu diesen Domestikationen ändern sich laufend. Um 5000 hatte sich die Levante völlig verändert: »Die Basisökonomie hat sich noch vor der Entwicklung der Töpferei (zwischen 6000 und 5000) durch die Verbindung von Weizen und Gerste mit dem Schaf, der Ziege und dem Schwein herausgebildet, und es erscheinen die ersten ständig bewohnten Dörfer.« Die neue Kultur der Bauern und Viehzüchter war begleitet von einer Reihe technischer Innovationen und sozialer Umbrüche: Pflug, Wagenrad, Bogen, Fischernetz, Angelhaken, Boot, Töpferscheibe, Bewässerung, Maße, Gewichte waren die wichtigsten technischen Neuerungen. Schließlich beendete um 3500 die Metallverarbeitung die Steinzeit endgültig – zu gleichen Zeit etwa, in der die Schrift entstand. Zu den technischen Neuerungen gehören die entsprechenden sozialen Umwälzungen: Die Zentralisierung des wirtschaftlichen, politischen und religiösen Lebens, Differenzierung des Handels und Gewerbes mit den entsprechenden Innovationen und Erfindungen, Bildungssysteme, bürokratische und politische Institutionen, zentrale religiöse Autoritäten. Letztlich war das alles eine Folge der intensiven Nutzung begrenzter Räume, welche Organisationsformen verlangte, um Überschussproduktion und die jetzt anhebende Arbeitsteilung, aber auch die sich daraus bildenden verschiedenen sozialen Schichten zu koordinieren. Die Forschungen um das Neolithikum sind heute äußerst lebendig und nach spektakulären Funden in Zentralanatolien gibt es ständige Revisionen im Gesamt-

Müller-Karpe 1968, 244f

Savolainen et. al. 2002

Leroi-Gourhan 1988, 211

76

Ur­ und Frühgeschichte

Lichardus-Itten/ Lichardus 2003, 61

II.1.1. ◀

16 Der fruchtbare Halbmond auf der Karte von Henry Breasted (1916)

Kühn 1954, 105

bild. Umstritten ist nach wie vor die Frage, warum und wie es zur Sesshaftwerdung kam. Denn die neue Lebensweise in Siedlungen brachte anfangs viele Nachteile. Das durchschnittliche Lebensalter sank signifikant. Es gab große Probleme mit der Hygiene durch das enge Zusammenleben von Tier und Mensch. Ähnlich lebhaft wie die Diskussion um die zeitliche Entstehung ist jene nach der Geographie. Zwar gibt es mehrere Entstehungsorte der neolithischen Lebensweise auf der Welt, aber bislang wiesen die ältesten diesbezüglichen Spuren in den Vorderen Orient: »[…] es sieht so aus, als wären die frühesten Prozesse der Neolithisierung am mittleren Euphrat und in Jordanien schon in der Zeit um 9000 BC fassbar.« Der für uns relevante Ursprung des Neolithikums dürfte demnach in dem vom Ägyptologen James Henry Breasted 1916 »fruchtbarer Halbmond« (fertile crescent) genannten Bogen liegen, der vom westlichen Iran über das Zwischenstromland (zwischen Euphrat und Tigris) über Anatolien, Syrien nach Palästina reicht. Dort häufen sich neolithische Fundplätze. Die Ausgrabungen im anatolischen Raum vor allem durch James Mellaart, die türkische Archäologin Halet Çambel und Robert J. Braidwood lassen mit Çatal Hüyük und Çayönü die Neolithisierung auf das 7. Jt. fixieren. Auch ließen sich enge Beziehungen nach Mesopotamien nachweisen. Inzwischen sind zahlreiche weitere Fundstellen (Nevali Çori, Göbekli Tepe, Hallan Çemi, Asikli Hüyük) dazugekommen. Über die Ausbreitung konkurrieren mehrere Thesen, die von lokalen Entwicklungen ausgehen, eine Verbreitung vom Vorderen Orient her thematisieren oder eine lokale Entwicklung mit Anteilen eines Kulturtransfers aus dem fruchtbaren Halbmond annehmen. Die Diskussion ist heute neu befeuert durch einen spektakulären Fund von genetisch aus dem Fruchtbaren Halbmond stammenden Einkorn am Bouldnor Cliff vor der Isle of Wight, das deutlich älter ist, als es die Ausbreitungsthese bislang vorsah. In der Tat kam es von Kleinasien und der Levante aus zu einem regen Kulturtransfer nach Mitteleuropa. Umstritten bleibt das Ausmaß. Die Ausbreitungsströme werden in der Wissenschaft verschieden dokumentiert. Herbert Kühn sah in Europa im 2. Jt. vier Kreise: den Mittelmeerkreis, den bandkeramischen Kreis (beides Ackerbau), den megalithischen Kreis im Norden und den kammkeramischen Kreis in Osteuropa. Die Balkan-Kultur bildete dabei ein Bindeglied von Süd- nach Nordeuropa. Die nach den bandartigen Verzierungen benannte Keramik (Bandkeramik, manchmal auch Linearband, Spiralmäander) gab der ersten neolithischen Kultur Mitteleuropas ihren Namen. In ihrem Gefolge trat eine spezifische Hausform auf, ein Rechteckbau mit Pfostenreihen und Flechtwerkwänden, der weite Verbreitung fand. Im Jungneolithikum standen verschiedene Hausformen nebeneinander. Seit der Entdeckung von Schichten eines »keramiklosen Neolithikums« in Jericho bereits um das 11. Jt. (John Garstang, später Kathleen Kenyon) unterscheidet man ein präkeramisches (prepottery Neolithic) von einem ab dem 8. Jt. anheben-

77

Die Neolithische Revolution

den keramischen Neolithikum. Das sind Feinheiten der Frühgeschichte. Für unseren Zweck kann gelten, das Neolithikum mit der Keramik zu verbinden: »Sehr bald aber wird die Töpferkunst zum charakteristischen Merkmal aller jungsteinzeitlichen Kulturen.« Dabei ging es um die Gefäßkeramik. Keramische Idole gab es bereits in präkeramischer Zeit und im Paläolithikum. Das Speichern und Aufbewahren ist das Kennzeichen einer Bauernkultur. Die andere Seite ist die Beschwörung der Fruchtbarkeit, wie sie die Venus-Figuren möglicherweise zum Ausdruck brachten. Daher setzte sich die Produktion von weiblichen Tonstatuetten im Neolithikum gehäuft fort. Sie sind deutlich vom Vorderen Orient abhängig. Der Vordere Orient sendet »mit der Bandkeramik Ströme durch das Donautal nach Mitteleuropa und auch auf ihnen verbreitet sich die Magna-Mater-Idee, das stilisierte Idol.« Wiederum wird das Donaubecken zum Einfallstor aus dem Nahen Osten nach Europa, diesmal für die Bauernkultur. Marija Gimbutas definierte dieses Gebiet mit den zahlreichen, meist nach den Fundorten benannten neolithischen Kulturen als »Altes Europa«. Es ist das »älteste Europa« in der Geschichte dieser häufig gebrauchten Metapher. Die kleinformatigen neolithischen anthropo- und zoomorphen Figurinen aus Ton und Stein sind zum großen Teil in primitiver Manier stark schematisch gearbeitet. Aber es befinden sich auch eindrucksvoll ausgearbeitete Exemplare darunter. Eine Besonderheit war ein reiches Reservoir an Verzierung – in der Regel abstrakt-geometrische Formen. Anhand dieser Verzierungen und Bemalungen von Töpferware und Statuetten ließen sich die einzelnen neolithischen Keramikkulturen charakterisieren und unterscheiden. Vor allem auf dem afrikanischen Kontinent traten im Neolithikum immer noch Felsgravierungen und -malereien auf.

17 Lady of Lempa aus dem Neolithikum (6000a); CMN Mellink/Filip 1974, 96

Kühn 1954, 83

Gimbutas 1974

Müller-Karpe 1968, 72–85 cf. Überblick in Müller-Karpe 1968

18 Cairn von Barnenez. Zwei Anlagen mit insges. 12 Grabkammern (4500– 3900); Bretagne

4.2. Das Weltbild des Neolithikums Auch für das Neolithikum ist eine Rekonstruktion der Weltbilder hoch spekulativ. Wir sind hier kaum in einer besseren Situation als mit Weltdeutungen im zeitlich noch weiter entfernten Paläolithikum. Immerhin steht ein hohes Maß an Reflexionsund Abstraktionsfähigkeit des neolithischen Menschen außer Frage. Damit kann man davon ausgehen, dass über die neue Lebensweise und über die technischen und sozi-

78

Ur- und Frühgeschichte

Lichardus-Itten/­ Lichardus 2003, 61 Maier 2005, 49

IX.4.4.ff.

X.3.4.

Röder/Hummel/Kunz 1996, 262

Ebd., 266

alen Umbrüche reflektiert worden ist. Und es ist ebenso wahrscheinlich, dass in dieser Zeit regelrechte Weltbilder und Religionen entstanden. Insofern ist die Mahnung richtig, über den einschlägigen (meist empirischen) Forschungen zu technischen Geräten und zur Ausbreitung der Ackerbaukulturen nicht zu vergessen, dass »die Definition des Neolithikums auf strukturellen Grundlagen im Bereich von Gesellschaft, Wirtschaft und Religion beruht […].« Es scheint plausibel zu sein, dass »die archäologische Hinterlassenschaft – Gräber, Kult- und Opferplätze – eindeutig für den Gemeinschaftscharakter vieler religiös motivierter Handlungen« steht. Dennoch bleibt es auch hier schwierig, die Gestalt solch kultureller Erzählung abzubilden. Es mag verführerisch sein, für die Rekonstruktion des neolithischen Weltbildes den Mythenschatz am und nach dem Übergang in die Zeit der Schrift heranzuziehen. Diese Mythen, schriftlich aufgezeichnete alte oral poetry, sind zu weiten Teilen Reflexionen und Projektionen über und auf eine Zeit, in der die Autoren ihre Geschichten gründen und sie in ferne Vergangenheit projizieren. Man kann mit einiger Plausibilität davon ausgehen, dass sich solche Reflexionen auf historisch Erlebtes beziehen. In der Tat bildet das Neolithikum eine Art Labor für die Entstehung der ersten großen kulturellen Erzählungen, die wiederum einen Übergang in das darstellen, was ausdrücklich als Religion und Philosophie gelten kann. Die komplexe Rekonstruktion der Anfangsbedingungen solcher Erzählungen ist nun nicht das vordringliche Interesse dieser Untersuchung. Es soll darauf nur so weit Bezug genommen werden, als es in einer Zeit ohne Schrift für das Verständnis der künstlerischen Äußerungen notwendig ist. Zudem darf der Hinweis als Vorschlag gelesen werden, die vielfältigen Bemühungen der Archäologie durch Expertisen über Mythen und kulturelle Erzählungen zu unterstützen. In der Archäologie gab und gibt es mehrere Ansätze, die sich konkurrenzieren und ergänzen: Klimatologische Erklärungen haben genauso Platz wie sozial-religiöse Theorien. Ein von Ian Hodder mit Anleihen im Strukturalismus entwickelter Zugang (contextual archeology) bemüht sich, materielle Objekte aus einem zeitgenössischen sozial-symbolischen Kontext zu verstehen. Archäologische Fundstücke werden dieser Theorie zufolge als Symbole und Zeichen gelesen. Voraussetzung dabei sind tadellose archäologische Befunde, die zudem so reich sein müssen, dass sich ein Netzwerk von Symbolen ergibt, »dessen Sinn dann durch die Aufstellung von Gegensatz- bzw. Übereinstimmungspaaren entschlüsselt werden sollte.« Freilich bleibt dieser Ansatz genauso der Hermeneutik unterworfen, wie dies bei vielen anderen Theorien der Fall ist. Beim »Lesen« der archäologischen Befunde ist man stets mit der Gefahr der Projektion heutiger Vorstellungen konfrontiert. Hodder gelangt zu verschiedenen Netzwerken wie Frau–das Wilde–Tod/Geburt oder: aufwendig verziert–wild–männlich–innen–Norden–Tod und dergleichen, Assoziationen, die sich teilweise widersprechen. Man gelangt auf diese Weise nicht zu einem eindeutigen Code und es bleibt auch hier nichts anderes übrig, als Sinndeutungen zu rekonstruieren, die für die gefundenen Symboliken plausibel erscheinen. Anregend an Hodders Theorie bleibt die methodische Basis für eine Fokussierung auf weltanschauliche Kontexte, in die man die soziale, aber auch künstle-

79

Die Neolithische Revolution

rische Situation einordnen kann. Ein Thema in solchem Kontext, zu dem eine weit ausholende an dieser Stelle aber nicht angebrachte Erörterung notwendig wäre, ist Aggression und Krieg. Mancherorts wird die Darstellung wilder Tiere als Thematisierung einer grundlegenden Aggression angesehen. Andere sehen darin Handlungen von Schamanen, ohne eine bedrohliche Absicht. Abseits der Frage nach der Ursache des Aggressionstriebes im Menschen liegt es nahe, den Krieg mit den neuen Institutionen von Besitz, sozialer Hierarchie und des eigenen, abgegrenzten Territoriums zu verbinden. »Die Ausbildung und das Umsichgreifen einer kriegerischen Gesinnung konnte demgegenüber insofern ein Novum sein, als die Erwerbung, Vermehrung und Verteidigung des Besitzes und des Ansehens in einer vorher unbekannten Weise Anliegen des Sozialverbandes wurde, wobei auch Gewalt und deren Abwehr in die Planung mit einbezogen wurde.« Der Krieg schuf folgerichtig seinerseits eigene soziale Hierarchien, wie sie sich an Grabanlagen von Kriegsherren ablesen lassen. Auch in den späteren Mythenerzählungen sind solche Konflikte zuhauf geschildert. Generell wird in altorientalischen Mythen bis herauf zu griechischen Erzählungen die Sesshaftwerdung zumeist mit dem Beginn der Kultur verbunden, wobei positive wie negative Seiten, Gewinn und Verlust, aufgerechnet werden. Die alttestamentliche Erzählung sieht darin einen Sündenfall und den Beginn eines Lebens voll von Mühsal und Arbeit. Mit anderen Worten: Das bis heute aktuelle Thema der technischen Verwandlung der Welt begann im Neolithikum. Mit den technischen Neuerungen und Domestikationen richtete der sesshaft gewordene Mensch ganz generell die Natur technisch auf sich zu. Er domestizierte nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Zeit und Raum. Die nomadische Gruppe »wandert im Rhythmus des Entstehens und Verschwindens ihrer Ressourcen und beutet ihr Territorium in einem Zyklus aus, der in den meisten Fällen von den Jahreszeiten abhängt.« Bei den Ackerbauern und Viehzüchtern hingegen wurde der Rhythmus der Naturzyklen auf den Gebrauch durch den Menschen zugerichtet. Der Vorschlag ist nicht ohne Reiz, in der jetzt verschiedentlich aufkommenden Kreuzsymbolik ein Zeichen dieser spezifischen Domestikation zu sehen: »Es symbolisiert die Ordnung, die sich das sesshafte Leben geschaffen hat.« Noch ein Gedanke legt sich hier nahe: Gleichsam um diesen gewaltigen technischen Eingriff zu kaschieren, wird die Sphäre der kosmischen Zyklen in einen religiösen Raum ausgelagert und zur Erinnerungsarbeit sichergestellt. Das könnte ein Impuls für die Erklärung sakraler Materialisierung (in Kunst und Architektur) genauso sein wie es gleichzeitig erklärt, weshalb dieses Narrativ kosmischer Ordnung so viele Jahrhunderte ein bestimmendes metaphysisches Konzept blieb und eine so nachhaltige Rolle für Kunst und Architektur (auch für die »Architektur« religiöser und philosophischer Erzählungen) spielte. Dem Ackerbauern werden die Vorgänge der Natur zum Symbol und zum Gleichnis: Werden und Vergehen, Wachstum und Untergang. Zweifellos liegt hier ein großer Schritt der Abstraktion vor. Es kann bestenfalls ein motivisches Aperçu

Hodder 1986 Hodder/Meskell 2011, 241–244 Özdogan Mehmet in Hodder/Meskell 2011, 256

Müller-Karpe 1968, 258

Leroi-Gourhan 1988, 195 Mahlstedt 2004, 129

80

Ur- und Frühgeschichte

Kühn 1954, 71ff

19 Neolithische Idole; CMN

Jensen 1948, 35ff

Eliade 1976, I, 42

sein, in solchem Zusammenhang einen frühen Kubismus in der neolithischen Kunst zu konstatieren. Die wichtigste Neuerung der neolithischen Menschen war das, was die Epoche auszeichnete: die Entscheidung zur Sesshaftigkeit. Dass diese Entscheidung wegen ihrer Nachteile keineswegs selbstverständlich war, wurde gesagt. Vielleicht war das den Menschen vorher nicht bewusst. Aus philosophischer Sicht ließe sich allenfalls ein Argument für diese Entscheidung ins Treffen führen: die Entdeckung der Geborgenheit gewährenden Statik in der Erscheinungen Flucht. Es dürfte eine besonders spannende Erfahrung gewesen sein, angesichts der dynamischen Form des Lebens und der Natur, des jährlichen Klimazyklus, des Tag- und Nacht-Wechsels, die Stabilität dieses Zyklus und damit die sich darin bietende Geborgenheit zu entdecken. Dieser Zyklus musste geradezu als Einladung aufgefasst werden, über die ständigen Verlustanzeigen des scheinbar Flüchtigen in der Stabilität dieser Dynamik einen wertvollen Schatz bewahren zu können. Bewegung und Dynamik werden stets in einem größeren Ganzen aufgefangen, der Prozess in einer übergeordneten Ganzheit und Totalität aufgehoben. Es gibt zwei Erlebnispole: den Wandel und das im Wandel Bleibende. Waren diese beiden Pole als Grunderfahrungen des Lebens damals im Bewusstsein der Menschen im Gleichgewicht? Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt in der Kunst sowohl die Darstellung des dynamischen Spiels des Seins als auch die Abstraktion des Denkbildes als Gerinnung des Unveränderlichen am Veränderlichen. Das Verhältnis von dynamischem und statischem Aspekt des Seins durchzieht die Kultur- und Philosophiegeschichte bis zur Gegenwart. Jedenfalls finden diese Einsichten in künstlerischer Tätigkeit und vermutlich auch in Mythen vielfältigen Niederschlag, beispielsweise als kultische Beschwörung der Polarität des Fruchtbarkeitszyklus. Der Sesshaftigkeit gehen also die Einsicht in Kausalzusammenhänge von Aussaat und Wachstum und die erwähnte Übereinstimmung mit den Zyklen der Natur voraus. Dass man solche Zusammenhänge mit religiösen Konnotationen versah, dürfte naheliegend sein. Das speiste besonders Erzählungen von der Erde als nährender Frau und bildete die Basis für zahlreiche Erd- und Getreidegottheiten. Spätere Mythen handeln vom Wachsen der Kulturpflanzen aus dem Leib einer Gottheit. Getreidepflanzen werden als Ergebnis einer heiligen Hochzeit dargestellt. Insbesondere die Getreidebearbeitung und die Feuerbereitung erinnern als archaische Kulturtechniken an die geschlechtliche Polarität und die sich daraus ergebende Fruchtbarkeit. Für Mircea Eliade ist die » sexuelle Symbolik der in Phallusform geschnitzten Stampfer [ist] so ›evident‹, daß an ihrer magisch-religiösen Bedeutung nicht gezweifelt werden kann.« Hier lagen unblutige Opfer der Ackerbauern vor. Das exponiert die interessante, unser Thema jedoch übersteigende Frage nach den Opferriten der Religionen. Spätere Kulte, die der neolithischen Innovation der Pflanzergesellschaft nahe standen,

81

Die Neolithische Revolution

wie der Pythagoreismus und die Orphik, lehnten blutige Menschen- und Tier­opfer ab. Trotzdem setzten sich unblutige Opferriten in der beginnenden Antike niemals lückenlos durch. Die bekannte These Walter Burkerts dazu war, dass der Mensch seine biologische Evolution überwiegend in der paläolithischen Jägerzeit durchlaufen hat, der gegenüber die wenigen Jahrtausende der Ackerbaukultur nicht ins Gewicht fielen. »Von hier aus ergibt sich eine Perspektive, die die erschreckende Gewalttätigkeit des Menschen verstehen läßt aus dem Raubtierverhalten, das er bei seiner Menschwerdung angenommen hat.« Das Jägerverhalten habe sich dann durch die einsetzende Ritualisierung erhalten. Das Thema der Fruchtbarkeit der Erde hat mit ihrer großen phantastischen These einer neolithischen Muttergottheit Marija Gimbutas offensiv vertreten. Ihre Spurensuche nach Göttinnen in dem von ihr Altes Europa genannten Raum, der das Donaubecken und Süd-Ost-Europa umfasste, ist eine eindrucksvolle Beschreibung einer möglichen neolithischen Weltbild-Erzählung. Gimbutas sah den Höhepunkt um etwa 5000. Ihre These erfreute sich einer bereitwilligen Rezeption, die sich zur Vorstellung eines ausdrücklichen Matriarchats verdichtete, das durch indogermanische Einwanderer zerstört worden sei. Im Lichte aktueller Faktenlage findet diese These allerdings keine Unterstützung mehr. »Gimbutas’ Vorstellung vom Gang der Urgeschichte wirkt wie ein phantastisches Historiengemälde. Durch die Bilder von Kampf, Blut und Eroberung erhält es eine Dynamik, die eher der Dramaturgie eines Abenteuerromans als der Urgeschichte selbst entnommen scheint.« Nicht einmal die feministische Archäologie konnte sich für Gimbutas’ Geschichten erwärmen, witterte man doch hinter der Großen Göttin die »bloße Reproduktion eines Frauenideals aus dem 19. Jahrhundert«, abseits der eigentlichen Komplexität der Geschlechterbeziehungen. Neuere Funde in Anatolien zerzausten das einstmals so starke Narrativ von der großen Muttergöttin des Neolithikums nachhaltig. Viele Fundstücke müssen im Gegenteil als phallisch angesehen werden. Ian Hodder und Lynn Meskell sprachen in einem eindrucksvollen und die Debatte neuerlich belebenden Beitrag sogar von einem »Neolithic Phallocentrism […] current data present a picture of animality and phallic masculinity that downplays female centrality.« Dabei geht es keineswegs um den Austausch von Metaerzählungen, sondern um Korrektur und um Angleichung der Deutung an das empirische Material. »We do not argue that the representation of the female is insignificant in the Neolithic of the region, only that it has frequently been overemphasized at the expense of clear and sometimes predominant male imagery.« Abgesehen von dem universellen Anspruch einer solchen These bleibt sie vielleicht hilfreich für die Deutung einzelner Kunstobjekte. Dass die neolithische Muttergottheit (prehistoric Great Goddess) als Symbol der ständigen Regeneration aus sich selbst schöpfte und sich damit von der indoeuropäischen Erdmutter unterschied, die zur Fruchtbarkeit den männlichen Himmelsgott brauchte, wäre eine Möglichkeit, mit den zahlreichen bisexuell (breiter Körper mit phallusähnlichem Hals) geformten Bildwerken umzugehen.

III.2.1.2./III.2.2.3.

Burkert 1972, 25

4.1.

Röder/Hummel/Kunz 1996, 280

Ebd. 1996, 297

Hodder/Meskell 2011, 236f

Ebd., 240

Gimbutas 1974, 195ff

82

Ur- und Frühgeschichte

Ohly 1986, 916

Wenn es die Einsichten in die Zusammenhänge der Fruchtbarkeit gab, könnte sich in der Folge eine Topographie der Teilung von Erde und Himmel verfestigt haben, der im Weiteren eine reiche Ikonographie zuwuchs. Inwieweit man die Form der heiligsten Orte in frühen Tempelanlagen und Hypogäen davon ableiten kann, ist schwer zu sagen. Dass es solche Zusammenhänge gibt, scheint aber nicht unplausibel. Im Alten Orient spiegeln die Mythen ein Schichtenmodell des Universums. Die Ebenen von Unterwelt/Wasser, Erde und Himmel waren für die Gottheiten über Treppen (Zikkurat, Pyramide) zu erreichen.

20 Architektur oder Skulptur; Menhire in Carnac

4.3. Vom Mythos des Ortes – Der Beginn der Architektur Mit der Neolithischen Revolution hat sich – wie oben dargelegt – das Verhältnis zwischen Mensch und Natur tiefschürfend verändert. Der sesshaft werdende Ackerbauer stand nicht nur real vor der Aufgabe, sich einen Raum aus der unwirtlichen Natur abzugrenzen, sondern auf diesen nunmehr begrenzten Raum musste er sein gesamtes Vertrauen zur Lebenserhaltung setzen. Es ist ein faszinierender Akt einer historisch erreichten Reife, darauf zu vertrauen, dass der Same, der in die Erde gesetzt wird, Frucht bringt und dass sich dieses Geschehen Jahr für Jahr wiederholt. Hier zeigt sich ein Rhythmus, der das stetige, lineare Vorwärtsschreiten der Zeit durch den Kreis der Wiederkehr des Immergleichen bricht. Es war bereits von der Domestikation von Raum und Zeit die Rede. Nun kann man spekulieren, ob und wie sich das in Formen widerspiegelt. Welche ikonographischen Zeichen auch immer eine solche Erfahrung abbilden, sei es die auf runde Steine geritzte Kreuzform, die Steinschale, die Spirale, bleibt dahingestellt. Es scheint aber nicht völlig abwegig zu sein, anzunehmen, dass dieses Bewusstwerden der Spannung von Linearität, Offenheit und Geschlossenheit in der Zeit räumlich umgesetzt wurde. Denn es hatte eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Raum gegeben, der für die Siedlung ausgesucht und markiert wurde. Darin kann man den Beginn der Architektur sehen. Gemeint ist nicht nur das Errichten von Hütten, sondern das gesamte Gründungsritual des Ortes des Hausens. Der Mensch lagert die kosmischen Zusammenhänge gleichsam in ein Stein gewordenes Manifest der Erinnerung aus. Christian Norberg-Schulz sprach von einem »existentiellen Raum« und meinte damit die »Grundbeziehung

83

Die Neolithische Revolution

zwischen dem Menschen und seiner Umwelt«, was auch und vor allem den psychischen Funktionen Orientierung und Identifikation entspricht. Denkt man sich das so, kann man Architektur (griech. arche und tekton/das von Anfängen und Ursprüngen geleitete Machen und Ausführen) in eine primäre Funktion, rein auf den Zweck geschützten Hausens, und eine sekundäre Funktion, eben die angesprochene Reflexion über Raum und Körper, einteilen. Dies verwandelte sich in Funktion und Form (welche die Geschichte des Gebäudes abbildet), die beiden Leitgedanken der Architektur. Zweckorientierte Bauaufgaben traten vermutlich von Anfang an neben die von kosmischer Orientierungssetzung überhöhte zeichenhafte Auseinandersetzung mit dem Raum. Erstgenanntes führte letztlich zur Agglomeration von Siedlungen und Städten, Zweitgenanntes zu faszinierenden Gestaltungen, wo Bildhauerkunst und Architektur miteinander verschwimmen. Auch eine scheinbar noch so sakral anmutende und zweckfreie Motivation für Architektur darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich darin eine technisch-wissenschaftliche Zurichtung von Raum und Zeit auf den Menschen hin verbirgt. Gottfried Semper nannte die Architektur eine »reine Kunst der Erfindung, denn für ihre Formen gibt es keine fertigen Prototypen in der Natur, sie sind Schöpfungen der menschlichen Phantasie und Vernunft«. Diese Sicht der Architektur, die dem Geist- und Fortschrittsglauben des 19. Jh.s entsprang und der Artifizialität des Klassizismus geschuldet war, ist wenig überzeugend. Überzeugender ist heute das, was sich aus langer Geschichte herleitet, nämlich dass der Mensch die Formen der Architektur aus der Natur generierte und sie dann auf seine Zwecke zurichtete. Le Corbusier war der Sache doch deutlich näher gekommen: »Architektur ist das kunstreiche, genaue und wundervolle Spiel der Körper, die unter dem Licht vereinigt werden. Unsere Augen sind dazu da, um die Formen im Licht zu sehen; Dunkel und Hell wecken die Formen; die Kuben, die Kegel, die Kugeln, die Zylinder oder die Pyramiden – dies sind die großen primären Formen, welche das Licht erstehen läßt. Ihre Erscheinung ist für uns rein und faßbar ohne Zweideutigkeit. Deswegen sind es schöne Formen, die schönsten Formen. Jedermann ist sich darüber einig, das Kind, der Wilde, der Metaphysiker.« Die Frage nach der Architektur als Kunst ist demnach berechtigt und sie wird unter systematischen Gesichtspunkten nochmals zu stellen sein. Ganz analog zur Philosophie hat das künstlerische Gestalten seine Urformen aus dem natürlich Vorgegebenen gewonnen und in einem Vorgang der Abstraktion und begrifflichen Symbolisierung weiter getrieben. In der Architektur im Besonderen umfasst diese Umsetzung auch noch die Bedingungen, die sich durch die Eigenheiten des Materials und die Gesetze der Schwerkraft ergeben. Auch der Baukörper selbst könnte so als den Raum schaffend oder als ihm unterworfen interpretiert werden. Mit Walter Gropius: »Das Hauptausdrucksmittel der Architektur jenseits aller technischen Belange ist der Raum.« Weil Raum immer mit Licht zu tun hat, könnte man diese Feststellung auf das Licht als wichtigstes »Material« der Architektur erweitern. Davon wird noch öfters die Rede sein.

Norberg-Schulz 1982, 5

4.3.2.

Semper, zit. nach Müller/ Vogel 1974, 15 VIII.3.2.1.2./VIII.3.2.2.1.

Le Corbusier, zit. nach Ebd., 21 IX.2.3.5. X.2.6.1.

Gropius, zit. nach Ebd.

84

Ur- und Frühgeschichte

4.3.1. Offene und geschlossene Form

21 Die Anlagen in Carnac sind linear angeordnet

Als Konsequenz der geschilderten Beobachtungen liegt der Schluss nahe, dass die Entdeckung des Raums mit einem bewussten Akt der Reflexion verbunden war. Der eroberte Raum wurde mit Markierungen angezeigt, die mit heute schwer zu rekonstruierenden Bedeutungen aufgeladen waren. Standen sie für einen Totenkult? Waren es astronomische Zeichensetzungen oder dienten sie irgendwelchen anderen Ritualen? Die Markierungen des Raums, die sich schließlich zu größeren Anlagen bündelten, stützten sich auf einige Grundelemente, die in einem großen Verbreitungsgebiet auftauchen. Solche Elemente der Anlagen sind: Menhire (keltisch men/Stein; hir/lang), Cromlechs (keltisch crom/Krümmung, Kreis; lech/Stein), halbkreisförmige Menhirgruppen, sowie Dolmen (keltisch dol/Tisch), große Decksteine, die von mehreren Tragsteinen (Orthostaten) getragen werden und in der Regel eine Grabkammer bilden.

22 / 23 Dolmen in ­Carnac (l.), Dolmen in Scusi, Apulien (r.)

Maier 2005, 34 Burl 1976

24 Nuraghe, Sardinien

Grundsätzlich gilt, dass megalithische Zeichensetzungen weltweit auftraten und aus ganz unterschiedlichen Zeiten, auch aus dem Paläolithikum, stammen. Allerdings sind größere Anlagen meist tatsächlich nur aus dem Neolithikum bekannt. Sie scheinen kaum von Jägern und Sammlern errichtet worden zu sein. Alle 700 bekannten Steinkreise in England entstanden im späteren Neolithikum. Eine ältere Theorie vertritt die Ausbreitung der Megalithanlagen ab 4000 vom Vorderen Orient aus über die iberische Halbinsel, der Atlantikküste entlang bis nach England und Irland. Diese Ansicht wird heute eher kritisch bewertet. Für plausibler gilt eine gleichzeitige Entwicklung an wenigen geographischen Orten. Grundlage bildete aber stets die vom Vorderen Orient ausgehende Neolithisierung. Demnach existierte eine Idee, die weit verbreitet war, deren Umsetzung aber wesentliche regionale Ausprägungen zeigte. Man könnte versucht sein, von lokalen Stilen zu sprechen. Megalithische Markierungen treten einzeln auf oder gruppieren sich zu großen Architekturanlagen: Steinreihen (Menhiranlagen), Megalithtempel sowie kegelförmige Turmbauten einer noch schlecht erforschten Kultur auf Sardinien (Nuraghen), auf Korsika und in Süditalien (Trulli). Ihre Funktion ist unklar. Eine Bestattungsfunktion dieser Turmbauten scheint unwahrscheinlich, weil es zusätzliche Megalithgräber gab. Zu den ältesten gehören die prunkvoll ausgestatteten vor-nuraghischen Grabanlagen von Anghelu Ruju in der Nähe von Alghero aus

85

Die Neolithische Revolution

dem Beginn des 3. Jt.s und die etwas später erstellte Anlage von Coddu Vecchiu bei Arzachena, beide im Norden Sardiniens. Dass es in der Bronzezeit jedenfalls regen Austausch zwischen Sardinien und dem östlichen Mittelmeer (Kreta, Mykene, Zypern) gab, ist ein Ergebnis neuerer Forschungen zu Nuraghen-Kultur. Zu den erwähnten Objekten tritt die Höhlenform der Hypogäen (aus dem Felsen gehauene Grabkammern). Die Urformen, die bei den großen überirdischen kombinierten Anlagen in aller Regel realisiert wurden, sind der Kreis und die Gerade. Diese beiden Formen konnotieren das richtungslose Umschreiten und das richtungsbezogene, offene Abschreiten. Es ist die geschlossene und die offene Form, die sich aus der Polarität von dynamischer Zielgerichtetheit und der scheinbar sich im Kreis erschöpfenden Ganzheit und Ruhe ableiten ließen. Vermutlich waren die Megalithanlagen mit der Heiligkeit des Ortes aufgeladen. Vielleicht symbolisierten sie den (stabilen) Ort des Zyklus der Natur. Dann stünden sie für eine Sakralisierung des Zyklus, den der Mensch auf sich und seine Bedürfnisse hin funktionalisiert hatte. Dazu passt ihre gut belegte Funktion als Grablege. Der Neolithiker erhob das Grab zu einer »hervorragend bezeichneten, spezifisch geistigen und geheiligten Mitte, auf welche die endlose Natur ringsum bezogen erscheint. […] Schon die Dolmen, die ältesten Steingräber unseres nordischen Kulturkreises, zeigen mit bemerkenswerter Reinheit den Baugedanken: auf einem niedrigen Hügel als Postament erhebt sich ein Steinkranz um die freistehende, aus vier bis fünf Tragsteinen und einem gewaltigen Deckstein erbaute Grabkammer.« Neben die Verwendung als Grabanlage treten in der Diskussion die astronomischen Bezüge. Solange diese sich auf Sonnen- oder Mondkulte beschränkt, besteht kaum ein Widerspruch zum Totenkult mit seinen Fortlebenserzählungen. Die Anordnungen bleiben auf vielfältige Bezüge offen, den Sonnen- und Lebenszyklus, aber auch auf phallische oder vaginale Symbolik. Der ungeheure Aufwand, der mit derart aufwendigen Steinbauten verbunden war, lässt auf eine intensive Motivation schließen, auch eine Motivation dafür, genau dieses Material zu wählen. Man darf vermuten, dass der Stein mit verschiedenen Narrativen ausgestattet war. Neben der Dauerhaftigkeit ging es vermutlich auch um die Symbolik von Tod und neuem Leben. Durch die Durchdringung der Steine mit den beigesetzten Toten werden sie zur Quelle unendlichen Lebens. In der später erzählten hethitisch-hurritischen Kumarbi-Theogonie erzeugt Kumarbi durch Schwängerung eines Felsens Steinmenschen. Die Zyklen des Lebens werden in die Unvergänglichkeit des Steins gebannt, der wiederum die Mitte des Kosmos zeigt. Stimmte das, wäre der Stein keineswegs nur für Dauerhaftigkeit und Statik gestanden, sondern auch für eine Dynamik, die sich durch ihre Kreisform als statisch erwies. Dies lehrt auch ein Blick auf die spätere Kunst Ägyptens mit ihrer Ambivalenz von dynamischem Naturgeschehen, das auf das Material der Dauer, den Stein, graviert war. Ina Mahlstedt interpretiert den Stein als Symbolik »des Nicht-Seins«

25 Grab in Coddu Vecchiu, Sardinien (um 2200a) Kreis und Gerade

van Scheltema 1950, 49

Stein

II.2.6.

86

Ur- und Frühgeschichte

Mahlstedt 2004, 68

Gimbutas 1974, 94

Mahlstedt 2004, 8

Zweite 1997, 230

26 Dolmen mit geritzten Fußumrissen (2900–2000); MPC

II.1.2.2.1.

Nunn 2012, 95

Stonehenge

und des Todes, freilich meint sie nicht »den Tod als endgültiges Verlöschen«, sondern »als Kreislauf des Lebens.« Sie kritisiert Mircea Eliades Deutung des Steins als ausschließliches Symbol von Dauer, Ewigkeit und majestätischer Allmacht. Dies entspräche nicht dem Wesensmerkmal zyklischer Ordnung. Davon, dass in dieser Zeit der dynamische Aspekt eine wichtige Rolle spielte, ist mit Blick auf Schlangenmotive und das allgegenwärtige Spiralsymbol auch Marija Gimbutas überzeugt: »[…] ›making the world roll‹ with the energy of their spiralling bodies.« Folgte man dem Vorschlag, in dieser zyklischen Ordnung die Sicherung von Stabilität zu sehen, löste sich dieser Widerspruch auf. Der Stein dürfte demnach eine hohe Symbolkraft besessen haben. »Die steinerne Mächtigkeit dieser frühen Kultanlagen ist weniger bautechnisch als vielmehr religiös begründet.« Dazu kam die Bedeutung der mit aufragendem und zeigendem Gestus ausgezeichneten Säule bzw. des Pfeilers: »Der senkrechte Pfahl hat immer auch die Bedeutung einer ›axis mundi‹ und gilt in vielen Kulturen als abstraktes Symbol der menschlichen Präsenz.« Manchmal scheint die Säule als Sitz der Seele zu fungieren, vor allem als Symbol der Weltachse, die Himmel und Erde verbindet. In Căscioarele, südlich von Bukarest, wurden zwei Säulen aus sehr früher Zeit (vielleicht 4000) entdeckt, in denen man einen derartigen Säulenkult vermutet. Über ganz Zentraleuropa zog sich eine große Zahl von monumentalen, streng kreisförmigen Kultstätten mit einem durch Erdwälle und Palisaden geschützten Innenbereich. Die Erbauer – vermutlich neolithische Viehzüchter – scheinen in der Umgebung in festen Häusern gewohnt zu haben. In dem inzwischen dem Kohlebergbau gewichenen Dorf Eythra nahe Leipzig wurde eine solche Anlage mit 200 Langhäusern ausgegraben. Ihre Benützung datiert auf einen Zeitraum zwischen 7000 und 4500 Jahren. Nach 4000 verschwanden sie. Die Bauwerke werfen aufgrund ihrer Besonderheiten viele Fragen auf. Man hat den Eindruck einer genormten Bauweise mit einheitlichen Größen und Volumina. Die Wälle waren für Verteidigungs- oder Schutzzwecke ungeeignet. Eher dienten sie der symbolischen Abschirmung eines heiligen Bereichs, eine Funktion, die später Mauern übernahmen. Schließlich ging eine solche Funktion auf die Mauer der Siedlung und der Stadt über. Ihre Mächtigkeit stand bisweilen in keinem Verhältnis zu der zu beschützenden Siedlung. Mit Blick auf die kleine urukzeitliche Siedlung Abu Salabikh und ihre 15 Meter hohe Mauer meint Astrid Nunn: »Offenbar stellten Mauern bereits sehr früh auch einen symbolischen Wert für Stärke und Macht dar.« Die polare Spannung von Kreis- und Linearform zeigt sich in Steinsetzungen, die als Allee ausgebildet waren. In Carnac, (Bretagne, ab ca. 4000) münden rund 3000 Menhire einer Anlage, die als offene Form angesprochen werden kann, in ein (geschlossenes) Halbrund. Ausdrücklich astronomisch-kosmische Deutungen ranken sich in der Rezeption um Anlagen wie jene von Stonehenge. Unbestritten sind kultische Funktionen, darunter die Benützung als Bestattungsort, wobei die Gräber im Reichtum ihrer Ausstattung sehr differieren. Die astronomische Bedeutung für die ab 3100 (Erdwall)

87

Die Neolithische Revolution

27 Stonehenge (um 2500a); ­Wiltshire

bis 2500/2000 (Megalithstruktur; es gibt Neudatierungen, welche die Anlage rund 500 Jahre älter schätzen) entstandene Anlage ist gut belegbar. Verschiedentlich wird Stonehenge als Werk kontinentaler Erbauer angesehen, nicht zuletzt deshalb, weil es sich von anderen Steinkreisen auf den Britischen Inseln unterscheidet. Das am reichsten ausgestattete Grab in der Nähe von Stonehenge enthielt einen Notabeln (Bogenschütze von Amesbury), der aus dem Alpenraum stammte und Geräte bei sich hatte, die in Spanien gefertigt worden waren. Schon angesichts der unvorstellbaren Strapazen und der komplexen Logistik des Baus solcher gigantischer Anlagen muss man von einer ausgesprochen starken Motivation der Erbauer ausgehen. Dreihundert Tonnen schwer sind die Blöcke, die man, teilweise aus knapp 400 km Entfernung herangeschafft, am Ort aufrichtete, und hundert Tonnen wiegen die Platten, die mit aus dem Stein gehauenen Zapfverbindungen darauf gelegt wurden. Die Steine sind bearbeitet (es gab noch keine Metallwerkzeuge!). Manche von ihnen tragen Abbildungen (Gravuren), deren Sinn kaum mehr entschlüsselt werden kann. Die Achse des gebildeten Kreises ist auf den Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnwende ausgerichtet. Stonehenge war – wie bei diesen Anlagen die Regel – zugleich Bestattungsort und damit Ausdruck eines gewaltigen Totenkults. Frederik Adama van Scheltema, der die Anlage als »Peterskirche unserer Vorzeit« bezeichnete, bestritt diese Funktion allerdings. Für ihn war Stonehenge »eine dem unlösbar miteinander verknüpften Sonnen- und Erdkult geweihte Stätte […].« Nach Gerald S. Hawkins umstrittener These wiederum war Stonehenge ein System der Kalenderbestimmung. Marie König verweist in ihrem ähnlich gelagerten Interesse auf sumerische Vorgaben, wonach die Beobachtung der Gestirne ein kultisches Gebot war. Solches konnte man von diesem »megalithischen Observatorium« aus durchführen. Zu Stonehenge gehört das gut drei Kilometer entfernte rund-ovale Erdwerk Durrington Walls mit einem Durchmesser von 400 Metern samt einer kreisrunden Kultanlage aus Holzpfählen gegenüber dem Eingangstor. Außer einer generellen Himmelsausrichtung tut man sich schwer, besondere astronomische Codes zu finden. Welche Formfindung auch immer die neolithischen Baumeister inspiriert und für welche Bedeutung sie Symbolkraft erlangt haben mag, ganz allgemein kann man jedenfalls von einem prägnanten Weltbild ausgehen. »Es ist der Gedanke der geordneten Kulturwelt, dem die Großsteinbauten Ausdruck verleihen. Dieser Plan ist im-

van Scheltema 1950, 50 Ebd., 58 Hawkins 1966

König 1973, 64

88

Ur- und Frühgeschichte

Ebd., 222

Zuntz 1971, 8, 25 König 1973, 205f

mer wieder in die großen Steinplatten eingeschlagen worden und kündet vom Sieg des Geistes über die Natur.« Dass Kreis und Gerade die Formen der Natur sind, liegt auf der Hand, insofern ist dieser »Sieg des Geistes über die Natur« zu relativieren. Die Kulturleistung besteht eher in einem höchst kreativen Entwerfen von kulturellen Erzählungen auf der Basis dessen, was die Natur dem Menschen vorlegte. Welche Erzählungen das gewesen sein könnten, wurde in 4.2. resümierend berichtet und es lässt sich zusammenfassen, dass die erste Architektur, namentlich Grabarchitektur, aus der formalen Umsetzung der Erfahrung des Zyklus von Leben und Tod geboren worden sein könnte. Dazu passten die in Europa und im Nahen und Mittleren Osten verbreiteten Spiralzeichnungen (auch als altes tantrisches Symbol bekannt), die als Wiedergeburtssymbolik gelten. Prägnant etwa im Umfeld des (ebenfalls auf den Sonnenlauf ausgerichteten) neolithischen Hügelgrabs von Newgrange (Irland, um 3000), wo sich in der Anlage die lineare Symbolik mit jener des Kreises trifft. In der dreidimensionalen Architektur lassen sich solche kulturelle Erzählungen performativ nachvollziehen. Nach Günther Zuntz vollzog der Myste durch die Gebärmutterform des Höhleneingangs ein Eindringen in den Schoß der Urmutter. »Vielleicht dachte man sich die ›Welthöhle‹ als Spiegelbild des Mutterschoßes. Der archaische Mensch fühlte sich noch im Kosmos geborgen ›wie das Kind im Mutterleib‹.« Kreis, Gerade und ihre Verschneidung, die Spirale, das Dynamische und dessen Bannung im Stein wären dann als zentrale Topoi der gestaltenden Kunst aus dieser Zeit festzuhalten.

4.3.2. Zwischen Architektur und Skulptur

X.2.6.ff.

Göbekli Tepe

II.2.4. Hauptmann Harald/ Özdoğan Mehmet in Kat. 2007a, 31

Die Dolmen- und Megalith-Anlagen sind ein Genre, dessen Einordnung – in kunstgeschichtlichen Begriffen gesprochen – zwischen Bildhauerei und Architektur ­changiert. Bereits am Beginn der Architektur muss man somit mit jenem Begriffspaar operieren, das den Architekturdiskurs bis zur Gegenwart begleitete. Grundsätzlich wird Architektur definiert als ein Schaffen eines durch Mauern und Dach geschützten Raumes, bei dem sich Außen und Innen unterscheiden lässt. Doch Architektur hat immer wieder versucht, diese einfache und funktionale Bestimmung zu unterlaufen. Schon das Licht, später das Glas, diente dazu, die Grenzen von Innen und Außen aufzuheben. Die Gründe dafür waren verschieden. Architektur begann nun nicht einfach mit der Urhütte, sondern mit dem Spiel mit Grenzen und deren Auflösung. Beispiele für dieses ambivalente Verhältnis sind die in den letzten Jahrzehnten ausgegrabenen Anlagen in Zentralanatolien. In Göbekli Tepe und Nevali Gori umrahmen kreisförmige Steinsäulen ein Pfeilerpaar in ihrer Mitte. Über diese bis zu zehn Tonnen schweren T-förmigen Monolithen gibt es angeregte Diskussionen. Vielleicht handelt es sich um Kultpfeiler ähnlich den späteren Techen-Pfeilern in Ägypten. Die künstlerischen Motive für Skulptur und Relief in Göbekli Tepe umfassen vor allem Raubtiere. Diese »Totemtiere« können als »›Pantheon‹ einer schamanistischen Vorstellungswelt« angesehen werden. Auch in den Kulträumen fanden sich Stelen und

89

Die Neolithische Revolution

Megalithen. Klaus Schmidt, einer der Ausgräber, hält eine anthropomorphe Deutung der T-Pfeiler für möglich. Ian Hodder und Lynn Meskell weisen auf die Phallosform der »stone pillar-beings« mit der erwähnten Bebilderung hin. Ebenso möglich wäre aber, dass »Menhire und Mazzeben am ehesten als Behausungen eines Numens – einer verehrten Gottheit oder eines Totengeistes – gedeutet werden können.« Damit beherbergte der Stein Geistwesen. Die Abbildungen auf den Steinen könnten Rituale darstellen. Die Frage, ob es sich um Pfeiler (Architektur) oder Statuen (Bildhauerei) handelt, hat auch deshalb große Relevanz, weil im Falle von Pfeilern eine Dachkonstruktion denkbar wäre, die dann wieder die These nach sich zöge, es handle sich bei Göbekli Tepe nicht nur um einen freien Kultplatz, sondern um einen Tempel oder gar einen Wohnplatz. Letzteres ist unwahrscheinlich, weil bislang keine Spuren gefunden wurden, die auf eine Siedlung sesshafter Bewohner hinweisen. Aus der Untersuchung von prähistorischen Felsmalereien in Latmos an der türkischen Westküste entstand eine andere Theorie für die Monolithen in Göbekli Tepe. Demnach wären die Figuren Wetter- und Berggottheiten, die Bergspitze des Latmos-Gebirges wiedergebend. Folgte man dieser Deutung, wäre Göbekli Tepe Architektur und die erste freistehende Kultanlage der Weltgeschichte – für einen Berg- und Wettergott. Auffallend ist, dass in der Anlage weibliche Abbildungen gänzlich zu fehlen scheinen. Aus dieser Tatsache zieht Schmidt den Schluss, dass Göbekli Tepe kein Ort einer Lebens- und Fruchtbarkeitssymbolik war, sondern ein Ort des Totenkults. Philosophisch könnte man das Fehlen ausdrücklicher weiblicher Gottheiten unter Umständen dadurch plausibel machen, dass diese Zeit noch keine Trennung von Prinzipien kannte, sondern im Verständnis von Ambivalenzen lebte. Das lässt sich ansatzweise in orphischen Texten noch nachvollziehen. Die Menschen von Göbekli Tepe waren Jäger. Streng genommen gehört der Ort noch nicht in die Zeit des Neolithikums. Trotzdem muss es ein Ort gewesen sein, der einen Fixpunkt im Leben der Menschen darstellte und an dem man sich immer wieder versammelte. Göbekli Tepe hatte keine Fortsetzung, der Ort verwaiste. Zurückkommend auf die Ausgangsfrage, gilt das, was im Fall von Göbekli Tepe die Wissenschaftler umtreibt, für zahlreiche neolithische Anlagen: Sind Menhire Zeichen kosmischer Ordnung und müssen figurativ und symbolisch gelesen werden oder sind sie Teil einer Architektur? Es ist sogar unklar, ob die Spuren der Bearbeitung an ihnen bildhauerischen Ambitionen entsprangen und ob erkennbare anthropomorphe Strukturen auch als solche gelesen werden sollten. Die Schwierigkeit dieser Fragen wird eindrucksvoll durch die Funde der schon kurz erwähnten Sandstein-Köpfe aus Lepenski Vir (Alter etwa 5000 Jahre) an der Donau im östlichen Serbien in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts unterstrichen. Von diesen ersten Großplastiken (bis 60 cm) gibt es naturalistische, abstrakte und anikonische Varianten. Wegen ihrer Anordnung im Haus, dort vor allem im Umkreis

Hodder/Meskell 2011, 237

Schmidt 2006, 117

28 Die Anlage von Göbekli Tepe

Ebd., 127ff

III.2.1.3.

90

Ur- und Frühgeschichte

3.1.

Burkert 1972, 92

III.2.1.3.1.

Eliade 1976, I, 49

des zentralen Herdes, kann man – nun umgekehrt gewendet – nicht ausschließen, dass sie eine architektonische Funktion hatten. Bislang wurden Großplastiken eher im östlichen Mittelmeerraum und weniger in Westeuropa gefunden. Figurenmenhire hingegen tauchen überall auf. Klar auf die Seite der bildhauerischen Tätigkeit gehört die aus Ton erzeugte Kleinplastik, die im Neolithikum große Bedeutung erhielt und weite Verbreitung erfuhr. Neben omnipräsenten Spezialkulten wie dem Schädelkult mit modellierten und bemalten Knochen- und Tonschädeln umfasste die kultische Kleinplastik vor allem das weibliche Idol. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es Träger der bereits angesprochenen Fruchtbarkeitskulte, die in der späteren Zeit durch Mythentexte entschlüsselt werden können. Auf die Schwierigkeiten, mit einer universalen Fruchtbarkeitstheorie zu operieren, wurde bereits hingewiesen. Dennoch bleibt eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die weibliche Sakralität für die Fruchtbarkeit der Erde stand. Walter Burkert sah in den Statuetten ein »bemerkenswertes Zeugnis der Kontinuität von der Jäger- in die Ackerbauernzeit hinein«. Der Erdkult war zu großen Teilen parthenogenetisch. Damit verweist ein zentrales Motiv namentlich der griechischen kulturellen Erzählungen auf frühe Zeit zurück. Allerdings dominiert etwa in den orphischen Mysterienkulten durchaus die geschlechtliche Beziehung von Erde und Himmel. Angewandt auf die Ackerbaukultur fand die Erde ihr phallisches Gegenstück im Pflug und zeigte ihre Fruchtbarkeit am Geschlechtsakt. Eine weitere Gruppe von Idolen repräsentiert das Motiv des sterbenden und wiederkommenden Gottes, ein Thema, das mit Eliade »zu den bedeutendsten überhaupt« gehört. Es ist Symbol für das Absterben der Natur im Herbst und dem Wiedererwachen des Lebens im Frühjahr. Vielleicht könnte man resümieren, dass in der neolithischen Plastik, in der figurative und architektonische Präferenz nicht mehr streng zu trennen sind, sich als wesentlichstes Symbol eine Verortung spiegelt, die zwischen kosmischen Zyklen und denen von Fruchtbarkeit und Leben oszilliert und Verbindungen herstellt.

4.3.3. Vom Haus zur Siedlung Dass Menschen bereits in der Zeit vor der Sesshaftwerdung Orte des Zusammentreffens und des Kultes hatten, ist trivial und am Beispiel der Höhle, deren Bemalung lange Zeit in Anspruch nahm und Aufenthalte vor Ort erforderte, bereits erwähnt worden. Man kann auch davon ausgehen, dass für solche Aufenthalte eine gewisse Infrastruktur und Logistik entwickelt werden musste. Dazu wurden Raumsetzungen erprobt, Markierungen in der Landschaft, die Menschen mit ihrem Zusammenleben verbanden und vermutlich in dem im vergangenen Kapitel beschriebenen Sinn mit Bedeutungen aufgeladen waren. Es ist gut möglich, dass die kultische Identitätsstiftung als Markierung eines Raums der profanen Gründung des Ortes des Wohnens stets voraus ging beziehungsweise dass dieser kultische Gestus dem Ort des Bleibens eine Legitimation gab. Jedenfalls begann im Neolithikum die Geschichte des Hau-

91

Die Neolithische Revolution

ses und jene der Siedlung. Das ist eine direkte Folge der Sesshaftwerdung und wohl auch ein diese charakterisierender Ausdruck. Vitruv hat an den Beginn seiner Decem Libri de Architectura zum Ursprung der Gebäude die schöne Geschichte erzählt, dass die Architektur mit dem Feuer begann. Menschen versammelten sich um das Feuer, Symbol der Getreidebearbeitung, wurden sesshaft und bauten Hütten: »Als also infolge der Entdeckung des Feuers zunächst bei den Menschen ein Zusammenlauf, ein Zusammenschluß und ein Zusammenleben entstanden war und mehr Menschen an eine Stelle zusammenkamen, die von der Natur aus dies vor den anderen Lebewesen als Auszeichnung hatten, daß sie nicht vornübergeneigt, sondern aufrecht gingen und die Herrlichkeit des Weltalls und der Gestirne anblickten, ferner mit ihren Händen und Gliedmaßen alles, was sie wollten, leicht bearbeiteten, begannen in dieser Gemeinschaft die einen, aus Laub Hütten zu bauen, andere, am Fuß von Bergen Höhlen zu graben […].« Vitruvs Urhüttenparadigma wird uns in der architekturtheoretischen Diskussion in vielfacher Variation in der Renaissance und der Neuzeit wieder begegnen. Es bietet dort einen Reibungspunkt für den Streit um die Regelästhetik. Interessanter beinahe noch ist Vitruvs Hinweis auf das Feuer, das in der Tat in Mythen- und Philosophie-Texten ein wesentliches Rezeptionsmotiv für die Identität des Ortes und darüber hinaus für eine statische Seinsauffassung wird. Wenngleich die sexuelle Einordnung eine schwierige und unter genderspezifischen Gesichtspunkten auch heikle Angelegenheit ist, bleibt dennoch die alte These nicht unplausibel, dass die Frau in den ersten Siedlungen mit der Aufzucht der Nachkommen und der Pflege des Ackers, also im weitesten Sinne des Hauses und der Reproduktion von Leben, beschäftigt war. Diese starke Stellung der Frau fand, will man diesem Vorschlag folgen, in der im Mediterran verbreiteten weiblichen Konnotationen der Erde und der Reproduktion ihren konsequenten Niederschlag. Ebenso konsequent wäre die starke Betonung von Sexualität und Fruchtbarkeit, sozusagen der wichtigste logistische Aspekt einer festen Siedlung. Nach solchen Deutungen wäre die Domestikation eine machtvolle Metapher für die Dominanz des Matriarchalischen über das Wilde. Domus hätte eine Nähe zum Haushalt, damit zum Bereich der Frau: »[…] there might be a strong link between women, food, production and storage.« Domus tritt als Ort des Lebens, Bewahrens und Pflegens in Gegensatz zum Agrios und wird zugleich das Muster für die neue Behandlung des Ackers. Lewis Mumford sah in der Jungsteinzeit eine Zeit der Behältnisse, also von Geräten für das Speichern und Sammeln, etwas, was noch für die frühe Stadt galt. Dazu passt die (mit den erwähnten Vorläufern in China) im 7. Jt. im Iran anhebende Entwicklung der gebrannten Gefäßkeramik, die zu jenen nach der Neolithischen Revolution veränderten Speise- und Vorratsgewohnheiten gehörte. Im übertragenen Sinn könnte man die Siedlung als Speicherbehälter auffassen. Das Motiv des Speicherns, das hier zum ersten Mal auftrat, kam an verschiedenen Stellen der Kulturgeschichte neuerlich zum Tragen. Praktisch jedes neue Medium, von der Schrift über den Buchdruck bis zur Digitalisierung der Information, hat auch einen Aspekt des Speicherns. »Die Entwicklung solcher sym-

III.3.4.3.

Vitruv 1981, 79f

III.2.3.3.2.

Preziosi/Hitchcock 1999, 42 Speichern und Sammeln

Mumford 1961, 17f/114f

92

Ur- und Frühgeschichte

Ebd., 115 VIII.2.2. Siedlung

bolhaften Methoden des Aufbewahrens vervielfältigen die Fähigkeiten der Stadt als Behältnis.« Besondere Bedeutung hatte die Praxis des Speicherns und der Hygiene in der Stadt des 19. Jh.s. Informationen über die ersten Schritte zur Siedlung sind spärlich und hängen von Funderfolgen ab, die sich kaum zu einer Systematik ausbauen lassen. Wie gesagt, gab es bereits in der Jägerzeit feste Wohnsitze – vermutlich eher Wohnhäuser als Höhlen. Welche Impulse zum Zusammenleben in einer Siedlung führten, ist unklar. Es geht bei dieser umstrittenen Frage darum, ob der Beginn des Dorfes eher soziologisch-pragmatisch zu verstehen ist oder einem bewussten religiösen Ritual entsprang. Da frühe Orte gerne an Quellen oder Flüssen (Khirokitia, Jericho, Ras Shamra) lagen, umfasste ein solches Ritual auch die Heiligung solcher Orte.

29 / 30 ­Neolithische Siedlung von ­Chirokitia (7000–3500) auf Zypern; Reste und Rekonstruktion

Nunn 2012, 51

Müller-Karpe 1968, 200f

Der Kern jeder frühen Siedlung und der Ort des Wohnens ist das Haus. Noch erhaltene frühe Behausungen bestehen aus Steinfundamenten mit Lehm- oder Steinwänden mit Holz- und Schilfergänzungen (Wände, Dach). In den neolithischen Siedlungen fand man sowohl runde überkuppelte Häuser (heute geht man eher von einer Mehrzahl von Flachdächern aus) aus Lehmziegel (manchmal durch Holzkonstruktion gestützt) mit gebranntem Estrich als auch rechteckige Formen. In Tenta, Khirokitia und Klimonas auf Zypern in der Nähe von Limassol – diese neolithischen Siedlungen aus der ersten Hälfte des 9. Jt.s gehören zu den ältesten im Mittelmeerraum und zeigen unübersehbare mesopotamische Einflüsse – fand man Reste von Rundhäusern (ziemlich sicher mit Flachdächern). Im Inneren sticht an prominenter Stelle ein zentraler Herd ins Auge. Daneben scheinen die Häuser mit Getreidemörsern, sowie Silos zur Aufbewahrung des Getreides ausgestattet gewesen zu sein. Inwieweit Herd (Feuer) und Getreide eine religiöse Aufladung hatten, ist unklar. Auch hierzu gibt es freilich eindeutige und ausführliche spätere Mythentexte und dokumentierte Praktiken um den Kultherd des Hauses, des Palastes und der Stadt. Unter dem Fußboden ruhten die Verstorbenen. Im syrischen Mureybet und Jerf el-Ahmar wurden im 10. Jt. innere Unterteilungen eingeführt. »Die Hauseinteilung war der erste Schritt zur Rechteckigkeit, die bald danach zum Standard in der Architektur wurde.« Die rechteckige Bauweise ermöglichte das Aneinanderfügen der Häuser. Manchmal folgten auf eine Zeit der Rundbauten Rechteckhäuser, was in diesem Fall offenbar eine Entwicklung widerspiegelt. Ein frühes Beispiel dafür ist die um 8000 entstandene Siedlung Beidha im südlichen Jordanien. Nach 300 Jahren verließen die

93

Die Neolithische Revolution

Bewohner den Ort aus unbekannten Gründen und siedelten auf einem 1000 Meter hoch gelegenen und nur mühsam erreichbaren Plateau von Ba’ja, wo man wohl aus Platzmangel dreistöckig baute. In der Nähe entstand Basta, eine jungsteinzeitliche Metropole mit 2000 Einwohnern. Paläopathologische Untersuchungen zeigten gerade an diesem Ort exemplarisch die Nachteile des Wohnens in Siedlungen. Die frühen Orte waren eine Brutstätte von Krankheitserregern, die Lebenserwartung der Bewohner sank durch einseitige Belastung und durch die neue kohlenhydratreiche Nahrung. In Çatal Hüyük – nach den Kriterien Frank Kolbs eine Stadt und einer der Glanzpunkte neolithischer Siedlungen –, lag eine wabenförmige Siedlungsstruktur vor, wobei die Häuser teilweise über die Dächer begangen wurden. Die Wände waren verputzt und häufig reich bemalt. Neben Anatolien ist es der Nahen Osten, wo erste jungpaläolithische Wohnplätze zu finden sind, die die neolithische Lebensweise begleiteten. Jericho steht beinahe symbolisch für eine ganze Palette von Ereignissen, welche die Neolithische Revolution ermöglicht haben. Um das Ende des 9. Jt.s, der Gründungszeit Jerichos, blühte – wie erwähnt – die Kultur im fruchtbaren Halbmond auf. Es begannen erste Handelsflüsse (Obsidian) nach Anatolien und es war die Zeit des anhebenden Ackerbaus und der Keramikproduktion. »Bereits in der Frühzeit des neolithischen Entwicklungsprozesses treten geplante Großsiedlungen auf, in denen die Anlage von Wohnquartieren, Werkstattbereichen und monumentalen Gemeinschafts- und Sakralbauten auf eine sozial differenzierte und hierarchisch gegliederte Gesellschaft schließen lassen.« Andererseits kannte Jericho zwar eine fortgeschrittene Bautechnik, war aber in den Ausstattungen, gemessen an anderen Siedlungen der Zeit wie Beidha oder Çatal Hüyük, eher rückständig.

4.3.4.

31 Der Turm von Jericho aus dem präkeram. Neolithikum (ca. 8000a) Hauptmann Harald/ Özdoğan Mehmet in Kat. 2007a, 29

4.3.4. Das Anheben der Stadt Am Beginn seines Buches über die Geschichte der Stadt fasste Lewis Mumford die Entwicklung über die Zeitläufe, die sein Buch spiegeln will, treffend zusammen: »Am Anfang dieses Buches steht eine Stadt, die das Symbol einer Welt war. Es endet bei einer Welt, die in vieler Hinsicht eine Stadt geworden ist.« Die Entstehung der Stadt spielt an der Zeitenwende von der Neolithischen Revolution zur Metallzeit, in die auch die Erfindung der Schrift fiel. Die Entwicklung zur Stadt über die Siedlung und das Dorf dürfte zwar – mit zunehmender Komplexität der sozialen Verhältnisse – einigermaßen kontinuierlich geschehen sein, aber die Stadt hat gegenüber der neolithischen Siedlung eine eigene Identität und eigene Charaktereigenschaften ausgebildet und war nicht nur ein großes Dorf. Kriterien dafür, wann eine frühe Dauersiedlung als Stadt angesprochen werden kann, sind erst einem späteren Interesse an Schematisierung entsprungen. In der einschlägigen Literatur gibt es dazu verschiedene Vorschläge.

Mumford 1961, XV

94

Ur- und Frühgeschichte

Jankuhn Herbert in PWG II, 577

Kolb 1984, 15

Nunn 2012, 94f

Kolb 1984, 16 Schmidt 2006, 248

Heinz 1997, 1

II.1.2.2.1.

Für Herbert Jankuhn war die »Emanzipation arbeitsteiliger Gewerbe aus dem Verband einer bäuerlichen Gesellschaft« ein Schlüsselereignis. Sie führte zu gesteigerter Gütererzeugung und entwickelten Produktionstechniken und dann zu Handel mitsamt den dazu gehörigen Verwaltungsinstitutionen. Frank Kolb zählt sechs Kriterien auf (sie sind Teil der 10 Kriterien, mit denen bereits Gordon Childe Städte charakterisiert hat): (1) topografische und administrative Geschlossenheit, (2) eine Bevölkerungszahl von mehreren tausend Einwohnern, (3) Arbeitsteilung und soziale Differenzierung, (4) mannigfaltige Bausubstanz, (5) urbaner Lebensstil und (6) Funktion der Siedlung als Zentralort in der Umgebung. In aller Regel wird zusätzlich auf die Fläche verwiesen. Umfasste Jericho im 8. Jt. etwa 3 ha, kam Uruk um das Jahr 3000 auf 500 ha. In neubabylonischer Zeit wies Babylon bereits eine Fläche von knapp 1000 ha aus. Zweifellos gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Stadt und den soziologischen und technischen Umwälzungen. Ob das für die Begründungsgeschichte der Stadt eine hinreichende Erklärung bietet, ist umstritten. Es gibt daher durchaus alternative Theorien zur Stadtbildung, welche die Stadt einerseits als Speicherplatz agrarischer Produkte und ihrer technischen und bürokratischen Verarbeitung, andererseits aber als religiöse Keimzelle sehen. Die Frage ist freilich, ob man hier überhaupt einen so grundlegenden Unterschied machen darf. Das Agrarische und das Religiöse ließen sich gerade im Neolithikum kaum trennen, vielmehr bedingte das eine das andere. Daher dürfte doch vieles dafür sprechen, dass das Religiöse für die Gründung der Stadt eine zentrale Rolle spielte. Lewis Mumford hat sich für die These einer religiösen Stiftung stark gemacht. Die Stadt sei weniger eine Weiterentwicklung aus dem einfachen Dorf, sondern begann mit dem Kultplatz. Wie unversöhnlich die Meinungen in dieser Frage aufein­ anderprallen, zeigt, dass manche, unter ihnen Frank Kolb, die sich auf dem sicheren Grund archäologischen und schriftlichen Quellenmaterials wähnen, schon eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Mumford verweigern. Neuerdings hat Klaus Schmidt, der Ausgräber von Çatal Hüyük, wieder eine Lanze für Mumfords These gebrochen. Verdienstvoll hat Marlies Heinz die Stadt als »Teil der materiellen Kultur« verstanden, »in dem sich menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen dauerhaft verfestigen, […]« und angemahnt, die Stadt als »gesellschaftliche Entität« zu analysieren. Wenn sie nach Heinz ein »Produkt ökonomischer, sozialer und politischer Variablen« ist, sollte das auch die wichtige Konstante kulturell-mythischer Erzählungen einschließen. Die Frage wäre leichter zu klären, wenn man besser einschätzen könnte, inwieweit die in späteren Beschreibungen gut belegte kultische und religiöse Überhöhung der Stadt Projektion und Reflexion eines legitimierenden Gründungsmythos ist oder ob es solche Gründungsrituale samt dem entsprechenden Selbstverständnis wirklich gegeben hat. Aus solchen Legitimationserzählungen aus schriftlicher Zeit lassen sich einige Motive herauslesen. Sie umfassen sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte.

95

Die Neolithische Revolution

Erwähnung findet immer wieder die prominente Rolle des geschlossenen Kreises (auch im Zusammenhang mit der Städtegründung). Die Figur der Selbstgenügsamkeit des Kreises, der ins Kosmische projiziert wurde, spielte in den weiteren philosophischen Erzählungen bis über die Renaissance hinaus eine wichtige Rolle. Die Stadt markiert ein Innen, das durch eine selektiv permeable Membrane vom Außen abgeschlossen ist. Die Stadtmauern grenzen magisch den (um den Temenos geschaffenen) Kosmos vom Chaos ab, aber sie sind durchlässig. In diesem Außen versammelt sich genauso zerstörerisches wie kreativ-erneuerndes Potential. Was nach außen geht, schwächt die Ordnung und stärkt das Chaos, es wird zum Ungeheuer, zum Toten, zum Entrückten und Wahnsinnigen – ambivalent auch zum ekstatisch Heiligen. Wald, Berg, Wüste sind nicht nur Stätten des Chaos, sondern auch Begegnungsstätten mit Gott. Umgekehrt kann das Chaos mit Unwetter und Tod in die Ordnung der Stadt einbrechen und muss rituell bewältigt werden. Platon spielte mit diesen Vorstellungen in seinem Werk Phaidros in bemerkenswerter Weise. Außerhalb der Stadt bewegen wir uns im Uneigentlichen. Es ist dort aber auch der Ort für Inspiration und göttliche Nähe. Die steinerne Schwelle am Tor, die im Lehrgedicht des Parmenides Tag und Nacht trennt und als orphisches Motiv bekannt ist, wurde zusammen mit dem Tor zu einem symbolgeladenen Motiv der Stadtarchitektur. Bis ins hohe Mittelalter wird das Land den Reichtum der Stadt ermöglichen und ihr Überleben sichern, ein Tatbestand, der durchaus konfliktiv bewältigt werden musste. Dieses Konfliktpotential bei Städtegründungen erhielt in kulturellen Erzählungen einen Resonanzraum. In der Genesis wird geschildert, wie der Ackerbauer und Städtegründer Kain seinen Bruder, den Hirten Abel, tötet. War das schlicht ein narrativer Niederschlag der (drohenden oder erhofften?) Ablösung der Natur durch die Kultur? Meist hatten bei der Gründung einer Stadt Götter ihre Hände im Spiel. In Mesopotamien gewährten Götter den Schutz der Stadt und sicherten den Fortbestand. Der Stadtfürst von Lagasch schildert, wie die Stadtgottheit selbst ihm Auftrag und Grundriss seines Tempels im Traum mitteilte. Die Gesetze der Stadt teilte im Alten Orient der Ordnung stiftende Sonnengott dem Herrscher mit, der als Stellvertreter und Fortsetzer des Ordnung-Stifters fungierte. Die Metropole Athen legitimierte ihre Stellung durch die Versicherung der Göttin Athene. Ein auffälliger Aspekt in diesem ganzen Kontext ist die Verschiebung des Chtho­nischen hin zum Himmlischen. Der Alte Orient ist durchzogen von den zwei Polen Erde, dem alten Ort der Verwandlung vom Tod in neues Leben und Sonne, der Stifterin der Ordnung. Die Solarisierung des chthonischen Sturmdämons JHWH im Jerusalemer Tempel ist ein anschauliches Beispiel für das Gesagte. Besonders im griechischen Bereich gibt es eine auffällige Stärkung der Himmelssphäre. Homer inaugurierte Himmelsgötter, welche die alten erdgebundenen Mächte und Gewalten ablösten. Diese Entwicklung kann man auch in der Architektur verfolgen. Das Ringen zwischen Chthonischem und Himmlischem schildern die Erzählungen der Orphik, die Zeus als Himmelsgott in den Vordergrund rückten. Demgegenüber blie-

Hasenfratz Hans Peter in Kerber 1997, 17f

III.2.3.3.2.

II.1.2.2.1.2. II.1.3. Platon, Nomoi 624a

Chthonisches und Himmlisches

II.3.2.3.

III.1.0. III.2.1.3.2.

96

Ur- und Frühgeschichte

III.2.5.3.

Mumford 1961, 41

Veblen 1914 Owen 2000/2001

ben die meisten übrigen Mysterienkulte als Nachklang der neolithischen Kultur den Mutter- und Erdgöttinnenkulten verbunden. Ihre Bedeutung veränderte sich im modern gewordenen Athen dann allerdings nachhaltig. Eine aufgeklärte, intellektuelle Gesellschaft betrachtete die Vagina- und Phallos-Kulte nur mehr mit Argwohn. Die Renaissance manch chthonischer religiöser Riten in der Spätantike gehört in das Kapitel einer modischen Nostalgie. Die Stadt richtete sich in dieser frühen Zeit bereits auf den Himmel aus und nicht mehr – so könne man ergänzen – wie das Dorf auf die chthonische Sphäre der Erdverbundenheit. Lewis Mumford erkennt dies treffend, wenn er die Fundamente des Dorfes in der Erde versenkt, jene der Stadt hingegen in den Himmel verlegt sah. Mumfords reizvolle Metapher weiterführend könnte man sagen, dass in der Stadt sowohl die Götter wohnten als auch die Vernunft heimisch wurde, die sich früher oder später gegen die Geschichten um die Götter stellte. Das Selbstbewusstsein der Stadt basierte auf hoher Symbolkraft. Sie wurde von einer Barriere der Verteidigung umschlossen und hortete Getreide und einen Tempelschatz. Die rasche Ausbildung einer Hierarchie fragmentierte die städtische Gesellschaft und schuf Mechanismen für das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen. Der König mit seinem Umfeld sowie die Priester wurden vom Volk und von Sklaven bedient. Handwerker (Waffen- und Werkzeughersteller, Goldschmied, Zimmermann, Steinmetz) standen dazwischen und waren von der herrschenden Klasse abhängig. Es gab institutionelle Beziehungen zum Land, das in aller Regel die Stadt am Leben erhielt. Im Zusammenhang mit der Entstehung von Hierarchien kann man auf die 1914 publizierte Theorie des amerikanischen Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen verweisen. Demnach habe die Frau ihre Stärke nicht aus der Tätigkeit im Zusammenhang mit der Lebenserhaltung gewonnen und ihre Stellung durch den Verlust der Bedeutung dieser Funktion später verloren, sondern der Mann habe anfangs den wichtigeren Auftrag gehabt. Er habe in der Jäger- und Sammlergesellschaft den führenden Rang dadurch erobert, dass er die gehaltvollere fleischliche Nahrung gegenüber den von Frauen gesammelten Früchten und Beeren beisteuerte. Nach der Sesshaftwerdung mit Ackerbau und Landwirtschaft fiel die Priorität der Jagd zwar weg, aus kultureller Konstanz blieb das Prestige des Mannes jedoch erhalten. Solche Überlegungen setzten freilich Geschlechterrollen voraus, deren Existenz heute durchaus umstritten ist. Plausibler scheint die erwähnte Parallele zwischen Domestikation der Tiere und der Unterwerfung der Natur zu sein. Die technische Bearbeitung der Natur erlebte durch die neuen Werkzeuge einen enormen Sprung. Die Neolithische Revolution war eben auch eine technische Revolution. Und mit diesem technischen Fortschritt könnte die Frau in ihrer Rolle in Kollision geraten sein. Der (phallische) Pflug begegnet einer empfangenden (weiblichen) Erde. Das stützte auch die erwähnten kulturellen Erzählungen, in denen im mediterranen Raum die Erdgöttinnen durch Himmelsgötter abgelöst und die Schlüsselpositionen der Stadt in Politik und Religion mit Männern besetzt wurden. »In ihren Anfängen war die Stadt eine Verkörperung des

97

Die Neolithische Revolution

Kosmos, ein Mittel, den Himmel auf die Erde herabzubringen […].« Es bildeten sich Mittler zwischen Himmel und Erde heraus: Priester oder König. Die geistige Macht des Himmels erforderte auf Erden eine Reihe von Verwaltern. Die Stellung dieser zu den einfachen Menschen wurde mitunter zum Problem. Die Stadt zeigte immer ihr Janusgesicht zwischen Schutz und Aggression, Freiheit und Reglementierung. »Die Stadt hatte also eine despotische und eine göttliche Seite.« Am übersichtlichsten verläuft nach heutigem Wissensstand die Entwicklung der Städte in Anatolien und im mesopotamischen Raum, wo es für die Bestätigung der Korrelation mit den neuesten technischen Erfindungen und den daraus folgenden unmittelbaren Wechselwirkungen mit sozialen Umwälzungen erste schriftliche Urkunden gibt. Ein besonderes Exemplar einer neolithischen Siedlung war Çatal Hüyük in der Konya-Ebene in Anatolien. Sie datiert in das 7. bis 6. Jt. Das Dorf, das aus mehreren Schichten rekonstruiert werden musste, kannte noch keine Straßen. Man gelangte durch offene Dachausschnitte und über Leitern in die Haupträume der rechteckigen, mit Stroh armierten Lehmziegelhäuser und von dort durch niedrige Öffnungen in die zweitrangigen Räume. Die wabenartige Bauweise entsprach nicht der Üblichkeit und wird manchmal auf eine stark kollektivistisch organisierte Gesellschaft zurückgeführt. Çatal Hüyük war eine Kunstmetropole mit qualitätvollen (und vor allem außerordentlich farbenkräftigen) Malereien, Gipsreliefs, Stein- und Keramikfiguren, Bukranien (Rinderschädel als Schmuck- bzw. Kultmotiv) sowie Weberei und Metallverarbeitung. Die Rinderhörner, die teilweise auf modellierten Schädeln aufgesetzt wurden, standen für Walter Burkert in der Tradition der alten blutigen religiösen Opferkulte. Es lassen sich die Spezialisierung des Handwerks, Getreideanbau und die Existenz weiblicher und männlicher Götter, vor allem Fruchtbarkeitsgötter, sowie umfangreiche Totenkulte nachweisen. Ein tertiärer Sektor (Priester, Verwaltung) ist angesichts der zahlreichen künstlerisch aufwendig ausgeschmückten Kulträume wahrscheinlich. Inzwischen hat sich die Einzigartigkeit der Kunst durch die Funde in Anatolien ein wenig relativiert, aber es gilt immer noch, was der Ausgräber James Mellaart festhielt: »Die Leute von Çatal Hüyük bemalten, was sie konnten, und sie malten, wann immer sie konnten.« Die reichste Ausbeute sammelte man in den mittleren der zwölf ergrabenen Schichten aus der Zeit um 6500. Es fanden sich zahlreiche Tierdarstellungen und farbenprächtige Wandmalereien, die sowohl gegenständlich als auch abstrakt ausgeführt wurden und manchmal das Aussehen von Wandteppichen (Kelims) haben. Daneben gibt es Jagdszenen und Handabdrücke von Menschen. Man tut sich schwer mit der Unterscheidung von Wohn- von Kulthäusern und mit dem Verständnis der Malereien. James Mellaart berief sich ausdrücklich auf die Deutungen der paläolithischen Kunst durch Leroi-Gourhan und sah in Çatal Hüyük eine konsequente Fortsetzung: »Die sich daraus ergebende Deutung jungpaläolithischer Kunst, wonach deren Zentralthema eine komplexe, sich in Sinn- und Tierbildern ausdrückende Weib-Symbo-

Mumford 1961, 35

Ebd., 53

Çatal Hüyük

Bittel 1976, 26

Burkert 1972, 22

Mellaart 1967, 157

98

Ur- und Frühgeschichte

Ebd., 32

III.1.2.1.

Dietrich 1974

Röder/Hummel/Kunz 1996, 270

Schmidt Klaus 2006, 139

32 Muttergottheit ­(Terrakotta) aus Çatal Hüyük Hodder/Meskell 2011, 250 Nunn 2012, 154ff II.1.2.3./II.1.2.5.

Mellaart 1967, 95

lik darstellt, läßt weitgehende Übereinstimmungen mit den religiösen Bildwerken von Çatal Hüyük deutlich werden.« Jürgen Thimme spannte diesen Bogen weiter, indem er eine ungebrochene Linie von den hier dargestellten Fruchtbarkeitsgöttinnen zu den Idolen der Kykladen und zu den Gegebenheiten der weiteren griechischen Kunst behauptete. Thimme brachte eine Meinung zum Ausdruck, die in der Geschichtsschreibung der Antike weit verbreitet war und die namentlich die Kulttraditionen auf Kreta und im mykenischen Raum von Anatolien aus angeregt sah. Und er erinnert an eine große These, mit Çatal Hüyük habe eine Jahrtausende währende Zeit eines Matriarchats begonnen, die mit dem Zusammenbruch des minoischen Kreta an ihr Ende gekommen sei. Dass die Voraussetzung solch kühner Zusammenhänge, nämlich die flächendeckende weibliche Konnotation, heute als überholt anzusehen ist, wurde oben bereits erwähnt. »Berücksichtigt man die archäologischen Fakten, entpuppt sich das angeblich neolithische Matriarchat von Çatal Hüyük als ein hohles Wunschgebilde, das sich vor allem einer unkritischen Übernahme von Mellaarts Spekulationen verdankt.« Besonders die »große Mutter« oder »gebärende Göttin« genannte Abbildung ist mittlerweile ins Gerede gekommen. Nach den Funden von Göbekli Tepe betrachtet man die Darstellungen mit neuen Augen und mutmaßt, ob es sich nicht eher um eine Tierdarstellung handelt. »[…] vorausgesetzt, die ehemals ›gebärende Göttin‹ entpuppte sich als Tierdarstellung, wofür einiges spricht, so bleibt zur Deutung des Ritualbereichs auch von Çatal Höyük vor allem der Totenkult.« Nun geht es in Çatal Hüyük nicht alleine um diese eine berühmte Figur. Es gibt eine ganze Reihe von Figuren, die eine weibliche Konnotation tragen, darunter der Typus der Herrin der Tiere, jener der Herrin der Jagd und Göttinnen, die man in Getreidespeichern fand, wo sich eine Getreidekonnotation nahelegt. Darunter befand sich eine nicht minder berühmte und kaum anders denn als gebärende Frau zu interpretierende Sitzfigur, die von zwei Raubkatzen flankiert wird. Jedenfalls fraglich bleibt, ob es sich um Gottheiten oder um dargestellte unpersönliche Kräfte handelt. Eine andere Eigenheit hingegen ist auffällig: die Dominanz der Farbe Rot (wie im Paläolithikum). Das wird in Zusammenhang gebracht mit der Manipulation an Körpern von Verstorbenen: »Taken together, we might suggest that the piercing and manipulation of human bodies, as well as the depiction of dangerous animals, was connected to the colour red and possibly the representation of blood at Çatalhöyük.« Bei der Deutung der Wandmalereien in verschiedenen Palästen (Mari, im nordsyrischen Til Barsip) und berühmter Stelen (Geierstele Eannatums von Lagasch, Sargon-Stele) in Mesopotamien berufen sich Forscherinnen auf das Vorbild Çatal Hüyüks. Für den Ausgräber des Ortes James Mellaart vermitteln die gefundenen Kultstätten »ein lebhaftes Bild vom Verhältnis des neolithischen Menschen zu Religion und Glauben […].« Auffallend sind die zahlreichen Tierköpfe von Rindern, Widdern, Stieren und (selten) Hirschen, jeweils mit echtem Gehörn. Dazwischen breiten sich die teppichartigen Ornamente aus. Die Darstellungen in den Kulträumen haben

99

Die Neolithische Revolution

durchaus monumentale Ausmaße, das größte bisher gefundene Relief, eine stilisierte Doppelfigur einer Göttin (?) mit zwei Körpern und Köpfen, hat eine Höhe von 220 cm. Die zahlreichen Handabdrücke nährten viele Spekulationen. James Mellaart assoziiert eine Verehrung der Hand, die in Zeiten des Ackerbaus ein unverzichtbares Werkzeug gewesen ist. Grundsätzlich wurden für die Erklärung der Kunst dieses Ortes viele Interpretationen aufgeboten, von der Geschlechter-Dichotomie, dem Kult der Muttergöttin samt der dazugehörigen Zeremonien, bis zur Verbindung von Erdgöttin und Himmelsgott. Andere sehen in der Kunst die Schilderung von Götter-Genealogien oder ein Tagebuch der Domestikationsfortschritte. In Göbekli Tepe sind nährende Muttergottheiten nicht vorhanden, in Çatal Hüyük vermutlich sehr wohl. Bei den Darstellungen von domestizierten Tieren und Pflanzen ist es gerade umgekehrt. In diesem Zusammenhang verdient die Beobachtung James Mellaarts Beachtung, dass das Geschlecht der Götter und Göttinnen nicht über die sekundären Merkmale (Vulva, Phallus) gezeigt wurde, sondern durch eine »andere Symbolsprache« wie Brust und Schwangerschaft für die weibliche und Hörner bzw. Köpfe gehörnter Tiere für die männliche Seite. Damit wurden Rollen zugeschrieben, welche der Ackerbaugesellschaft entsprachen. Die Darstellungen nährender weiblicher Brüste an den Wänden wurden mit der Idee von Tod und Wiedergeburt in Verbindung gebracht. »This was a wide-spread and well-known practice of Stone and Bronze Age cultures to denote rebirth from death.« Auch die Mauernische, die in der Architektur als Symbol einer Höhle galt, konnotierte die Neugeburt. Das ist deshalb erwähnenswert, weil sich darin eine tiefere Sinngebung der Nische in den Kulträumen der monotheistischen Religionen (Thoranische, Apsis, Mihrab) abzeichnet. Möglicherweise ist die endgültige Lösung dieser Intentionen nicht mehr zu finden. Interessant ist, dass die Wandmalereien immer wieder übermalt wurden. Das und die Tatsache der Wiederholung von Motiven könnten auf einen besonderen kultischen Anlass bei der Herstellung durch spezialisierte Künstler deuten. Malereien wären dann nur temporär zu sehen gewesen und nach Erfüllung ihrer Funktion wieder übermalt worden. Spannend ist eine Vulkandarstellung, die früheste, die wir kennen. Vermutlich war sie durch den damals aktiven Vulkan Hasan Dağı in Sichtweite Çatal Hüyüks inspiriert, der zudem wertvolles Material wie den Obsidian an die Oberfläche brachte. Man kann davon ausgehen, dass vulkanische Aktivität mit einem chthonischen Kontext verbunden und vermutlich der Erdgöttin zugewiesen wurde. Ob man Çatal Hüyük als Stadt bezeichnen soll, ist unklar. James Mellaart spricht von einer »neolithic town«, dann aber wieder von einem »stadtähnlichen Gebilde«. Nach den Kriterien Kolbs kann man wohl von einer Stadt sprechen, zumal auf eine städtische Prägung auch der Luxus verweist, den sich die Gesellschaft von Çatal Hüyük leistete, sowie die Tatsache, dass es bereits ein so spezialisiertes Kunsthandwerk gab, dass man von einer Arbeitsteilung ausgehen muss. Die vielen technischen und sozialen Entwicklungen um die Stadt im engeren Sinn dürften in relativ knapper Zeit um 3000 entstanden sein. Zusätzlich wurde die

Ebd., 145 Ebd., 193ff

Gimbutas 1982, 116, 186 Hodder 1990

Mellaart 1967, 237

Dietrich 1974, 105

III.1.2.2.

100

Ur- und Frühgeschichte

Mumford 1961, 38

II.1.1.

menschliche Arbeitskraft geradezu maschinell gebündelt. »Zehntausende von Menschen wurden unter einheitlichem Kommando wie eine Maschine in Bewegung gesetzt und bauten Bewässerungsgräben, Kanäle, Stadtwälle, Zikkurats, Tempel, Paläste und Pyramiden in Ausmaßen, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren.« Sprachen wir hier immer noch von den neolithischen Vorläufern der Stadt, setzte im angrenzenden Mesopotamien die Stadtentwicklung in einer fortgeschrittenen Form endgültig ein. Frank Kolb bringt klimatische und soziologische Gründe für die Entwicklung der Stadt in Mesopotamien und Ägypten in die Diskussion. Aus seiner Sicht waren die Bedingungen für die Entstehung einer Hochkultur in Ägypten durch die Fruchtbarkeit des Nils und das stabile Klima besonders günstig, während Mesopotamien mit wechselnden klimatischen Bedingungen zu kämpfen hatte. Zwischen dem 6. und 4. Jt. entstand im Zwischenstromland eine neolithische Kultur und ab dem 4. Jt. bildeten sich urbane Zentren. Das ist eine Zeit, wo die Stadt­entstehung von schriftlichen Quellen begleitet wurde. Daher sind das religiöse Selbstverständnis und der in die Sesshaftwerdung reichende Wurzelgrund besser sichtbar. Mit der Entstehung dieser Städte konstituierten sich die ersten Hochkulturen. Bevor diese Entwicklung im nächsten Abschnitt geschildert wird, sei noch ein Blick auf eine der faszinierendsten und geheimnisvollsten urgeschichtlichen Kulturen geworfen, deren architektonische Hinterlassenschaft in erstaunlich gutem Zustand auf uns gekommen ist: die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel.

33 Tempel Hagar Qim, Malta

5.0. Die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel Bei der Tempelkultur des Archipels, der die Inseln Malta mit 247 Quadratkilometern und Gozo mit 67 Quadratkilometern (sowie die reizvolle kleine, kulturgeschichtlich jedoch unbedeutende Insel Comino) umfasst, handelt es sich immerhin um die ältesten Steintempel der Geschichte, wenn man von den Funden in Anatolien absieht, deren Einordnung als Architektur – wie soeben berichtet – alles andere als unbestritten ist. Die maltesische Tempelkultur fand ihren Abschluss, als in der zweiten Dynastie die ägyptischen Herrscher mit den Pyramidenbauten begannen. Malta war damals noch nicht so erodiert wie heute, sondern weitgehend bewaldet. Kleinere Landverluste durch Abbrüche im Süden und Westen und durch einen

101

Die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel

Anstieg des Meeresniveaus (Änderung der Küstenlinie vor allem im Norden und Osten) gaben dem Archipel die heutige Form. Bereits aus dem Paläolithikum ist Höhlenkunst erhalten (Ghar Hassan), ebenso eine paläolithische Silexproduktion (Clactonian) sowie Pfeilspitzen aus dieser Zeit an verschiedenen Orten. Im Paläolithikum dürfte es eine feste Landverbindung zu Sizilien (aber nicht wie früher vermutet nach Afrika) gegeben haben. Zwischen Malta und Sizilien beträgt die heutige Meerestiefe nicht über 180 Meter, meist weniger. Die erste feste neolithische Besiedelung lässt sich um 5000 in Ghar Dalam im Süden Maltas nachweisen, wo sich Tonscherben einer Ackerbaukultur fanden, die identisch mit solchen aus Sizilien sind (sich jedoch von nordafrikanischen völlig unterscheiden). Sie gehören zur sogenannten Eindruckkeramik (impressed wares), wo die Verzierungen mit Fingernägeln, Holzstäbchen oder Muscheln eingedrückt wurden. Diese Technik kennt ein weites Verbreitungsgebiet, das von Dalmatien bis Spanien reichte. Von da an wurde die Kultur der vermutlich aus Sizilien eingewanderten Bewohner eigenständig und die weitere Keramik der Skorba-Phase (um 4300) war eine lokale Entwicklung. Aus dieser Zeit stammen weibliche Figurinen, die im unter 3.1. beschriebenen Sinn auf die Verehrung einer Muttergottheit oder zumindest auf einen Fruchtbarkeitskult schließen lassen. Aus der Zebbug-Phase (um 4000) stammen die ersten aus dem Fels gehauenen Gräber (Mgarr), was neue Bestattungsriten anzeigt. Man begann, die Toten in unterirdischen Gräbern und Katakomben beizusetzen. Manche Forscher schließen von da her und einer deutlichen Veränderung der Keramik auf einen neuen Besiedlungsschub. Das bleibt allerdings spekulativ. Jedenfalls ordnete sich Malta mit diesen Bestattungsformen in den mediterranen Kulturbogen ein mit den mykenischen Schachtgräbern, den ägyptischen Felsgräbern, den Megalithgräbern auf Sardinien. Die Felsgräber waren dauerhaft und ließen sich öffnen, um weitere Mitglieder der Sippe zu bestatten. Etwa ein halbes Jahrtausend später bauten die Bewohner mit riesigen Steinblöcken den Felsgräbern analoge Anlagen über dem Boden. Die Tempelkultur dauerte nach neuerer Datierung von 3500 (Mgarr, Ggantija auf Gozo) bis 2500 (Tarxien). John Evans hatte noch mit einer 1000 Jahre jüngeren Datierung gearbeitet. Nach dem plötzlichen Zusammenbruch der Tempelkultur um 2500 erfuhr Malta eine rätselhafte Neuausrichtung mit neuen Siedlern am Beginn der Bronzezeit. Die neue Keramik ähnelt jener des helladischen Westgriechenlands und Dalmatiens, aber unstrittige Importe gab es nur aus Sizilien (Castelluccio und Torre d’Ognina bei Syrakus). Die neuen Siedler hinterließen, gemessen an der untergegangenen Kultur, wenig beeindruckende Denkmäler, Dolmen und monolithische Gräber, wie wir sie auch aus der Gegend von Otranto in Apulien kennen. Malta bog erst mit der Ankunft der Phönizier um 1000 in den mediterranen Mainstream ein. Vorher, von 3500, der Entstehungszeit von Mgarr und Ggantija, an hob sich diese Kultur von der allgemeinen mediterranen neolithischen Kultur (abgesehen von der Grabarchitektur) deutlich ab. Die große Zeit scheint die maltesische Kultur völlig isoliert absolviert zu haben und niemand weiß, weshalb man auf dem kleinen

Trump 2002, 25

Trump 2002, 28 ­Müller-Karpe 1968, 108ff

102

Ur- und Frühgeschichte

von Freeden 1993, 49

Evans 1963, 133

Ebd., 72ff

Ebd., 85

Archipel zwei Dutzend Tempelanlagen errichtete. Dieses Rätsel motivierte viele Forscher, nach Einflüssen Ausschau zu halten, und sie glaubten, solche in einer gewissen formalen Ähnlichkeit der Bauten Maltas mit jenen Ägyptens zu finden. Joachim von Freeden baute darauf seine Theorie von Beziehungen der maltesischen Tempelbauer nach außen auf: »Die Baukunst selbst ist damit […] das wichtigste – Indiz für Beziehungen der Tempelkultur zur Außenwelt.« Das steht freilich auf wackeligen Beinen. Nicht nur ist die behauptete formale Ähnlichkeit kaum restlos überzeugend, es gibt schon Probleme einer eindeutigen Datierung. Die spätere strategische Bedeutung der kleinen Inselgruppe an dieser Stelle des Mittelmeeres kann damals noch nicht der Grund für die außergewöhnlichen Tätigkeiten gewesen sein. Diese Leistung in einer Zeit ohne Schrift, Rad und Metall setzt eine hoch entwickelte soziale Organisation und eine enorme religiös-weltanschauliche Motivation voraus. Irritierend ist weiters, dass man aus der Zeit der Tempelbauten bislang keine Siedlungsreste entdecken konnte. Dies könnte mit der dichten Überbauung der jetzigen Städte zu tun haben oder damit, dass die Tempelbauer nur in Zelten und losen Unterkünften gelebt haben und ihre ganze Energie in die Arbeit auf den Großbaustellen gesteckt haben. Auch Kriegs- und Jagdwaffen sind bisher nirgends aufgetaucht. »Nach den Funden erscheinen sie uns als eine ›lotos-essende‹ Bevölkerung, mit sich selber beschäftigt, in bizarren Kulten gefangen und in der Technik zurückgeblieben, auf ihren winzigen Inseln inmitten der weindunklen See, abgeschnitten von dem sie allseitig umgebenden Hauptstrom der Kultur.« Es standen zwei Steinarten zur Verfügung: der weiche gelb schimmernde (seit römischer Zeit auf Malta als Baumaterial dienende) Globigerinenkalk und der härtere korallinische Kalk, aus dem sich wegen seiner Tendenz zu vertikaler Spaltung große Platten und Blöcke abspalten ließen. Sieht man heute in den Anlagen von Mgarr und Ggantija den Beginn der Tempelbauten, hat John Evans die eigentlich plausible These vertreten, dass am Anfang kleinere Bauten gestanden haben müssen, bevor man sich die gewaltigen Projekte zutraute. Aber was ist auf diesem Archipel schon plausibel? Die Datierung ist durch das weitgehende Fehlen organischer Materialen schwierig. Man muss häufig entscheiden, ob die Keramik-Lehmschicht aus der gleichen Zeit wie der darüber stehende Tempel stammt. Das ist jedoch alles eher als selbstverständlich. Nach Evans ist der älteste Bau, der kleinere des Doppeltempels von Mgarr, aufgrund der Keramikschicht Zebbug um 2700a zu datieren. Das wird heute in Frage gestellt, weil man die Zusammengehörigkeit von Bauwerk und Keramikschicht nicht für schlüssig hält. Evans lässt die 1955 entdeckten fünf Felsgräber von Xemxija mit ähnlichen Formen wie Mgarr folgen. Und bei ihm endet die Tempelarchitektur am Höhepunkt um etwa 1800–1600, als Kordin III, Mnaidra, Hal Tarxien und der Doppeltempel von Gigantija entstanden sein sollen. Darauf lässt Evans noch den ganz aus Globigerinenkalk gebauten Tempel Hagar Qim folgen, wo neben dem Hauptgebäude zwei bis drei weitere Bauten in »ungeregeltem Wachstum« entstanden seien. Für Evans ist es das fortgeschrittenste Bauwerk. Die Kammerwände waren mit Lehm verschmiert und mit Kalksteinverputz überzogen und mögli-

103

Die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel

34 Tempel Mnajdra, Malta

cherweise kräftig rot bemalt, die Platten sind sorgfältig bearbeitet. In Hagar Qim scheint eine neue Qualität der Oberflächenbearbeitung Einzug gehalten zu haben. »Die Begeisterung für sauber bearbeitetes Mauerwerk, die sich in Hagar Qim austobt, wurde später durch praktische und auf Beständigkeit gerichtete Erwägungen gedämpft, wenigstens bei den Außenwandungen.« Auch die Inneneinrichtung ist origineller als bislang: mehrere Altartypen, Verzierungen Pflanzen, Spiralmuster. Evans mutmaßt, dass sich hier Einflüsse aus der Ägäis zeigen. Die rote Farbe wurde auch schon (etwa in Çatal Hüyük) mit der Symbolik der Erneuerung des Lebens in Zusammenhang gebracht. Unschwer ist hinter Evans’ Datierungsvorschlägen das Muster der blühenden und absterbenden Kultur, Beginn, Hochkultur und manieristische Übersteigerung, zu sehen. Die Tempel von Mnajdra und Hal Tarxien datiert Evans auf ca. 1600. Zudem ging er von einer Entwicklung auf dem Archipel aus, die von natürlichen Grotten über das Kammergrab zum Tempel führte. Demgegenüber haben Theorien, die Abhängigkeiten von außen unterstellen, ein anderes Bild. Auch wurde angeführt, dass sich die Tempelarchitektur von einfachen runden Häusern ableitet, die zusammengesetzt »die Kleeblattform der Tempel ergeben.« Das würde nicht ausschließen, dass die »Tempel« eigentlich Paläste mit Kapellen waren. Ein besonderes Juwel ist das Hypogäum von Hal Saflieni. Es ist heute das einzige Beispiel eines dreistöckig nach unten aus dem Felsen gehauenen Felsenmonuments mit weit verzweigtem Grundriss. Die Katakombe ist ein komplexes Labyrinth. Höhepunkte sind die tempelartig gestalteten Kammern mit Scheinfassaden sowie die Malereien: Spiralen und schraubenartige Waben. »In den inneren Hallen von Hal Saflieni scheint sich der Kreis zu schließen: wenn die Tempel ursprünglich als Imi­ tation der Felsengräber begannen, so haben wir hier kunstvolle Felsengräber vor uns, welche ihrerseits nun bewußt Tempel nachbilden.« Die Tempel haben in der Regel nach Süden oder Südosten ausgerichtete monumentale Fassaden, häufig mit Trilithtoren, möglicherweise mit Oberlichten. Der Aufbau der Anlagen, namentlich Zugangstreppen, die durch Steinplatten mit Augensymbolen »gesichert« waren, verrät möglicherweise eine exklusive Zugangsbeschränkung für heilige Bereiche. Das Eingangstor bildet eine Achse, um die seitwärts kleinere Räume in apsidialen Formen gruppiert sind. Maltas Tempel zeichnen sich durch organisch-runde Formen aus. »Der interessanteste Zug maltesischen Formgefühls ist das auffallende

Ebd., 105 4.3.4. Lilliu Giovanni in ­Thimme u.a. 1968, 105

Ebd., 94

Ebd., 111 Albrecht 2001, 34–38

104

Ur- und Frühgeschichte

Evans 1963, 139

von Freeden 1993, 56

Evans 1963, 105 Albrecht 2001 Agius/Ventura 1980 König 1973

Zammit 1995, 59

35 Punktverzierung

Fehlen aller geraden Linien und spitzen Winkel, das Umsetzen aller Formen in weiche, langgezogene Kurven.« Die megalithischen Anlagen Maltas haben in ihrer speziellen Form kein Vorbild. »In keiner der frühen Hochkulturen wurde das Prinzip von Kurve und Wölbung als Grundform linearen und plastischen Gestaltens so stringent durchgeführt wie von den Tempelbaumeistern auf Malta.« Die Anzahl der Apsiden, zwischen drei und sechs, macht gleichzeitig den Unterschied zwischen den Tempeln aus. Für Evans war die Frage der Orientierung nachrangig, wie er überhaupt nicht an eine dezidierte Planung, sondern eher an ein Wuchern des Bauwerks dachte. »Ebenfalls finden sich keinerlei Anzeichen für ein sonderliches Interesse an einem der Himmelskörper.« Die Untersuchungen von Klaus Albrecht kommen in dieser Frage allerdings zu ganz anderen Ergebnissen und es fehlt ganz generell nicht an entsprechenden astronomischen Deutungen der Anlagen. Obwohl keine Hinweise auf eine Beleuchtung gefunden wurden, geht die Mehrheit der Forscher davon aus, dass die Tempel mit Holz oder Steindecken versehen waren. Zwar ist man in den Tempeln selbst nicht auf Bestattungen gestoßen, aber sie stehen mehrfach in Zusammenhang mit Grabanlagen. Dies und andere Ausstattungsteile legen es nahe, sie in einen Zusammenhang mit Fortlebensvisionen zu stellen. Im Inneren sind Altäre in Form von Steinblöcken oder als Trilithe erhalten, ebenso Orakelöffnungen und Libationslöcher, sowie etliche Dekorationen. Sie reichen von Punktverzierungen über Reliefs, wovon das Spiralmotiv in großer Variation hervorsticht, bis hin zu Stein- und Tonskulpturen. Themistocles Zammit, der erste bedeutende Ausgräber auf Malta, preist die Dekorationskunst ausdrücklich. Farbreste deuten darauf hin, dass die Ornamente ursprünglich farbig ausgeführt waren. Manche Objekte sind nach wie vor ungeklärt. Etwa die freistehenden Rundsäulen, die sogenannten Betyls (Steinfetische), von denen bereits die Rede war und die im Nahen Osten häufig als nicht-ikonische Repräsentationen der Gottheit dienten. Umstritten ist auch die sexuelle Konnotation der abstrakten Zeichen: phallische Säule im Zusammenhang mit weiblichen Dreiecken? Die Rekonstruktion der religiösen Vorstellungswelt und der Riten ist, wie immer in diesen schriftlosen Zeiten, schwierig. Doch auch vorsichtige Archäologen wie David Trump, Anthony Bonanno oder John Evans halten an einem Grundkorpus von möglichen Charakteristiken fest. Vor den Tempelfassaden gab es offensichtlich einen Bereich für öffentliche Riten unter freiem Himmel. Solche Aktivitäten waren in frühen Kulturen oft kaum von aus heutiger Sicht profanen Bereichen zu unterscheiden: öffentliche Eidesleistungen, Versammlungen verschiedenster Art oder öffentliche Ankündigungen. Der Innenbereich des Tempels umfasst eine Opferzone mit Opferaltären. Zahlreiche Tierknochenfunde in den Tempeln belegen eine solche Zuschreibung. Menschenopfer konnten nicht nachgewiesen werden. Es gibt Hinweise, dass bei mehrapsidialen Tempeln das erste Apsidenpaar und der hofartige Raum zwischen ihnen einer breiteren gesellschaftlichen Schicht zugänglich waren als die rückwärtigen Apsiden. So ist die Dekoration meist auf die-

105

Die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel

sen Bereich beschränkt (in der paläolithischen Höhle war das umgekehrt). Möglicherweise waren die kleineren Apsiden nur für eine Priester-Elite zugänglich oder es handelte sich doch um einen Palast mit ganz anderen sozialen Verhältnissen. Besonders bei der riesigen Anlage in Tarxien könnte man Vergleiche mit den Palästen auf Kreta ziehen, die sowohl kultische als auch profane Funktion hatten. Im Tarxien-Tempel existiert ein großer Schwellenstein, dekoriert mit einer dop­ pelten Spirale, am Eingang in den innersten Tempelbereich. Die sogenannten Orakel­ öffnungen dürften der Kommunikation zwischen diesen Bereichen gedient haben. Solche Orakelöffnungen – die schönste befindet sich im Mnajdra-Tempel – gelten durchaus auch als Indiz für die Existenz einer Priesterschaft. Auch wenn unter Archäologen heftig über das Geschlecht der zahlreichen Statuetten und Großskulpturen aus Stein und Ton gestritten wird, gibt es bislang doch kaum ernste Zweifel an einem Fruchtbarkeitskult der Magna Mater. Man hat auch schon auf die frappante Analogie zwischen den Umrissen der sitzenden sogenannten fat ladies und jene der Tempel hingewiesen und deutet die Ausrichtung der Tempel auf den Strahl der Sonne zu bestimmten astronomischen Zeitpunkten gar als symbolische geschlechtliche Verbindung von Himmelsgott und Muttergöttin. Dies ist naturgemäß durch empirische Fakten kaum zu erhärten. Andererseits räumt David Trump zumindest eine zweifelsfreie stilistische Analogie ein. Die These eines existierenden Fruchtbarkeitskultes erhält weitere Nahrung durch gefundene Phallusdarstellungen. Besonders im Tarxien-Bereich fand man Monumentalskulpturen von Fruchtbarkeitsgottheiten. Sie sind die ältesten im mediterranen Bereich. Daneben gibt es zahlreiche eindeutig als weiblich zu klassifizierende Statuetten, darunter die Venus von Malta, ein 13 cm messender Lehmtorso (Hagar Qim) im Stile der üblichen Venusfiguren. Besonders beeindruckend ist die ohne sekundäre Geschlechtsmerkmale ausgeführte, im ursprünglichen Zustand gegen 3 m hohe Riesenstatue einer Gottheit (?) in Tarxien, weiters eine außergewöhnliche Doppelstatuette des megalithischen Xaghra-Stein-Zirkels, die gerade erwähnte Terrakotta-Venus und vor allem die gut 12 cm messende Sleeping Lady aus bunt bemalter Terrakotta des Hypogäums. Daneben existieren etliche stehende und sitzende Figuren aus Globigerinenkalk oder Terrakotta, die man im Hypogäum von Hal Saflieni gefunden hat. Die unglaublich fein gearbeiteten Kunstwerke in ihrer ausgewogenen Leibesfülle können kaum anders denn als Ausdruck der Fruchtbarkeit und Lebenskraft gedeutet werden. Vor allem um die Sleeping Lady entzünden sich reiche Diskussionen. Handelt es sich um eine Priesterin in einem Heilschlaf, einem schamanischen Zustand zwischen

III.1.2.3.

36 »Fat Lady« im Tempel Tarxien, Malta

Trump 2002, 88f

37 Sleeping Lady; NMA

106

Ur- und Frühgeschichte

Körper und Geist, oder ist der Schlaf hier gleichzusetzen dem Tod als dem Übergang in eine neue Welt? Dieser letzte Aspekt wird unterstrichen durch die schon erwähnte Position der Tempel in der Nähe von Grabanlagen sowie durch Libationslöcher, die Opferungen für eine Erdgöttin nahelegen, und aufgefundenen Schlangendarstellungen, die in der Regel eine chthonische Bedeutung haben. Zudem ist man sich ziemlich sicher, dass das Hypogäum in seinem zentralen Rahmen ein Tempel war. In den umliegenden Räumen wurden die Toten bestattet.

Frühe Hochkulturen

II

108

Frühe Hochkulturen

◀ 38 Ägypt. Ostrakon mit Tänzerin, 19. Dyn.; MET

Aus der schriftlosen Zeit des Neolithikums entstanden mit der Entdeckung des Metalls und der Erfindung der Schrift die ersten Hochkulturen im Raum des im letzten Abschnitt beschriebenen Fruchtbaren Halbmonds. Man spricht dabei vom Alten Orient.

1.0. Alter Orient

V.3.1.

Krebernik 2012

Der Ausdruck Alter Orient hat nie den Status einer normierten Bezeichnung erhalten. Mehrheitlich versteht man darunter Vorderasien – von da her auch die Bezeichnung Vorderer Orient – vom Mittelmeer bis nach Iran, im Norden begrenzt durch das Schwarze und das Kaspische Meer sowie durch den Kaukasus, im Südosten durch den Indischen Ozean. Das Gebiet reicht bis in den Jemen, eine besondere Kulturlandschaft, in der sich früh eine blühende arabische Kultur bildete. Das Kerngebiet umfasst Mesopotamien, Iran und Anatolien. Grundsätzlich gehört auch Ägypten zum Alten Orient. Wegen der eigenständigen Entwicklung dieses Kulturkreises und der daran anschließenden speziellen Forschungen nimmt Ägypten – ähnlich wie Israel und die arabische Halbinsel aus jeweils anderen Gründen – eine Sonderstellung ein. Manche Autoren engen den Alten Orient deshalb auf den Bereich des Gebrauchs der Keilschrift ein. Im Folgenden wird der Ausdruck Alter Orient immer im Sinne der Kultur des Vorderen Orients ohne Ägypten verstanden, das auch kunsthistorisch eine eigene Besprechung rechtfertigt. Auch Israel wird in einem eigenen Abschnitt gewürdigt, allerdings weniger aus kunsthistorischen Gründen, sondern wegen der exklusiven und nachhaltigen Entstehung des Monotheismus, der ein epochales Motiv für kunstphilosophische Entwicklungen war.

1.1. Kontexte

I.4.1.

Es ist dem Blick aus unserer Gegenwart unvermeidbar, die beiden Zentren der frühen Hochkultur, Ägypten und Mesopotamien, in Konkurrenz zueinander zu betrachten. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass es bei den beiden Hochkulturen um sehr verschiedene Situationen geht. Anders als Ägypten umfasste der Alte Orient ein riesiges, offenes Gebiet, das vom Mittelmeer bis Afghanistan reichte. Darin finden sich trockene Wüstengegenden, Steppen, fruchtbare Hochgebirgslagen, das Randgebiet des Fruchtbaren Halbmonds, in dem sich die erste Revolution der Sesshaftwerdung vollzog, und das Sumpfland im Mündungsgebiet der großen Flüsse. Dieses Kulturgebiet war weitläufig und vielfältig. In seiner Komplexität ist es für die Historiographie eine außerordentliche Herausforderung. Es umfasst die Kulturen der Sumerer, Akkader, Babylonier, Elamer, Assyrer, Hethiter, Meder, Parther, Perser, Sasaniden und viele weitere Kulturen ethnischer Gruppen und Untergruppen. Dazu kommen unzählige kleine Staaten und Reiche, die sich zwischen den Fronten der Großen behaupten konnten. Diese nach allen Richtungen hin offene Gegend war eine aktive Zone kultureller Kontakte. Zeitlich bewegen wir uns in der historischen

109

Alter Orient

Epoche, also zwischen der Erfindung der Schrift um 3200 und dem Beginn (539a) oder – je nach Vorliebe der Fachvertreter – Ende (331a) des Achämenidenreichs. Die Quellenlage ist komplex. Historische Berichte sind selten. Allerdings bringen zahlreiche Wirtschafts- und Verwaltungstexte aus der Ur III-, aus der altbabylonischen und der neubabylonischen Zeit, nach und nach Licht in das Dunkel. Das künstlerische und architektonische Erbe und die kulturellen Erzählungen sind – anders als in Ägypten – spärlich und kaum durch kommentierende Metaerzählungen erschlossen. Das macht es schwierig, die Beeinflussungen der künstlerischen Produktion zwischen den einzelnen Kulturen zu rekonstruieren. Dabei richtet sich der Blick meist (ausgenommen bei der populären Amarna-Zeit) exklusiv auf den Binnenaustausch im Alten Orient. Es gab solche Einflüsse aber offenbar in erheblichem Maß auch aus Ägypten. Gerade die »Neuerungen« wie die Beterstatuen der frühdynastischen Zeit, die Vergöttlichung des Königs in der Akkadzeit und die Zikkurat der Ur III-Zeit scheinen eher keine autonomen Innovationen gewesen, sondern aus Ägypten stimuliert worden zu sein, auch wenn sich solche Kontakte weder aus der Literatur noch aus archäologischen Befunden stichhaltig nachweisen lassen. Die früher vereinzelt geäußerte These von einer praktikablen einheitlichen Weltanschauung des Alten Orients hat sich längst als unhaltbar erwiesen. Diese Schwierigkeiten machen es aussichtslos, einen kunstphilosophischen Kern aus der uns bekannten künstlerischen und architektonischen Hinterlassenschaft des Alten Orients herauszulösen. Ob so etwas für einzelne Kulturen und Zeitabschnitte möglich ist, muss der Fachwissenschaft überlassen werden, die bislang, soweit ich sehe, zu diesem Thema wenig Verwertbares geliefert hat. Mehr als ein kursorisches Beschreiben des Beginns der Kultur und einzelner auftauchender Motive, die in der weiteren Kulturgeschichte an speziellen Orten oder in immer wiederkehrender Häufigkeit auftraten, samt einer vorsichtigen Deutung aus kunstphilosophischem Interesse, kann dieser Überblick über den Alten Orient folglich nicht leisten. Dies soll in einer historischen Darstellung der Epochen versucht und danach sollen in einem Resümee die kulturhistorischen und kunstphilosophischen Aspekte in toto gewürdigt werden. Eine zusätzliche Schwierigkeit betrifft das Verständnis der Motive und die Ikonographie in der Kunst ganz generell. Die Differenz zwischen unserem geläufigen ikonographischen Verständnis und den Bedeutungen, die einzelne Motive im Alten Orient trugen, ist groß, sodass bei allen Deutungsversuchen Vorsicht geboten ist. Naturgemäß gilt hier das, was zur Eigenart mythischer Rationalität zu sagen sein wird: Ausschluss jeder Kausalität im modernen Sinn, fehlende Perspektivität zugunsten der additiven Häufung. Für unseren Zweck muss es genügen, historisch den Blick auf Mesopotamien zu konzentrieren und von dort aus die Peripherie im Auge behalten. Das Zwischenstromland hatte seit dem Auftauchen des griechischen Namens (meso-potamoi) in der Zeit Alexanders des Großen (bereits die Assyrer sprachen vom »Land zwischen den Flüssen«) verschiedene geografische Zuschreibungen. Heute meint man das Land zwischen den im ostanatolischen Hochgebirge entspringenden Flüssen Euphrat und Tigris, also den heutigen Irak und Teile Nordsyriens. Noch

Kaelin 2006

5.0. Mesopotamien

110

Frühe Hochkulturen

Hrouda Barthel in Hrouda 1991, 299

Oberhuber 1972, 5

Nunn 2012, 29

Frankfort Henri/ Frankfort Henriette A. in Frankfort u.a. 1946, 242–254

genauer lässt es sich auf das flaschenförmige Gebiet von Bagdad bis zum Persischen Golf eingrenzen, das ab ca. 2000 nach der führenden Stadt Babylonien genannt wird. Kulturell prägten zwei Sprachen dieses Gebiet: Sumerisch und Semitisch oder in Kultursubstantiven benannt: Die Reiche von Sumer und Akkad. Das fruchtbare Land zwischen den Flüssen übte eine magische Anziehungskraft auf die benachbarten Völker aus, die von trockenen Wüstengegenden oder kargen Gebirgsorten aus auf diesen paradiesisch anmutenden Landstrich blickten. Das Land zwischen den Flüssen war »ein erträumtes Einfallsgebiet für die verschiedenen ›Völker‹ und Stämme seit den frühesten Perioden, das Land, wo ›Milch und Honig‹ flossen, und deshalb auch immer wieder begehrt.« Dieses begehrte Land wechselte ständig die Besitzer. Vielleicht berührt man eine Konstante mit der Feststellung, dass die Völker aus den kargen Berg- und Wüstenregionen erst in einer reichen, fruchtbaren Ebene zu Kulturstiftern werden konnten. Auch später entstanden Kulturleistungen praktisch ausschließlich in wohlhabenden städtischen Zentren. Die beiden Flüsse Mesopotamiens unterscheiden sich deutlich: Der längere (2850 km) Euphrat führt weniger Wasser und ist sanfter als der Tigris (1950 km). Anders als der Nil in Ägypten passen die beiden Flüsse nicht in den Rhythmus der Landwirtschaft. Zwar führen sie nach der Schneeschmelze in den Bergen des Nordens Hochwasser und befruchten das Land, was wie in Ägypten kultisch gefeiert wurde, aber die Flüsse wurden nicht in der Weise zum zentralen mythischen Urbild einer kulturellen Erzählung, wie dies in Ägypten geschah. »So erscheint dem Alten Mesopotamier die Flut überwiegend unter einem unheilvollen Aspekt, demgegenüber Zeugnisse für die segensreiche Auswirkung merkwürdig in der Minderheit bleiben.« Das hatte zu tun mit den Naturgewalten, die in Mesopotamien nachhaltig auftraten, während sie im klimatisch stabilen Ägypten in dieser Form weitgehend unbekannt waren. Die Flüsse wurden eher zur Herausforderung, sie technisch zu bewältigen. Nur in einem kleinen Teil des Gebietes fand der Ackerbau mit den jährlichen Regenmengen das Auslangen. Der weitaus größere Teil musste schon damals mit technischer Bewässerung arbeiten. »Diese Unruhe der vorderasiatischen Flüsse wohnte der Kultur inne, die sich an ihren Ufern entfaltete.« Die Mythologie Mesopotamiens schildert die Naturmächte als deutlich labiler und bedrohlicher als sie dies im stabilen Ägypten tat. Besonders zu schaffen machte den Bauern der Frühzeit die in zeitgenössischen Berichten dokumentierte Versalzung der Böden durch die große Verdunstung und die zu geringe Wasserzufuhr. Die eher ungünstigen klimatischen und topographischen Umstände verzögerten die Neolithische Revolution in diesem Gebiet gegenüber dem Fruchtbaren Halbmond. Die Kultur Mesopotamiens muss man mühsam aus unterschiedlichsten Quellen in verschiedenen Sprachen und als verschiedene Textgenres rekonstruieren: Inschriften, Verwaltungstexte, längere Erzählungen und spätere Geschichtsquellen, darunter die über Jahrhunderte redigierten Geschichten aus dem Alten Testament, die um etwa 2600 einsetzende Epenliteratur und Berichte von babylonischen und griechischen Historikern. Ab etwa 2700 gab es Hymnen, Bau- und Weiheinschrif-

Alter Orient

ten auf Sakralbauten und Weihegaben. Aus Beschwörungen, Gebeten, Fluch- und Segensformeln, Klage- (anlässlich der Zerstörung von Städten oder Bauwerken und dem Raub von Götterstatuen) und Liebesliedern sowie einer Weisheitsliteratur lassen sich Informationen über die Götterwelt und die Einordnung von Kunst und Architektur sowie über das Verständnis der Stadt gewinnen. Die Chronologie ist ein besonderes Problem bei der Beschäftigung mit dem Alten Orient. Es fehlen absolute Daten und es gab keinen Sonnenkalender mit 365 Tagen im Jahr. Daher schwanken die Zeitangaben bei den verschiedenen Forscherinnen nicht unerheblich. Seit etwa 2400 benannten Könige ihre Regierungsjahre nach herausragenden Ereignissen. Es sind Königslisten überliefert, die allerdings phantasievolle, der Königspropaganda geschuldete Regierungszeiten angeben. Historikerinnen rekonstruieren daraus in mühevoller Kleinarbeit Königslisten, die ab etwa 1450 absolute Zeitangaben erlauben. Für die Zeit vorher führten verschiedene Berechnungsarten zwischen bekannten absoluten Daten zu verschiedenen Chronologien (lange, mittlere und kurze Chronologie), wobei heute meist die sogenannte »mittlere Chronologie« zur Anwendung kommt, die auch hier übernommen wird. Die aus politischen Gründen seit längerem schwierige Zugänglichkeit der Länder führt dazu, dass die Kunst Mesopotamiens im Vergleich zu jener Ägyptens über weite Strecken immer noch schlecht erschlossen ist. Die Gesamtmenge an Kunstgegenständen ist weitaus geringer. Mit aller Vorsicht kann man nach heutigem Stand anmerken, dass die Kunst des Alten Orients in aller Regel weniger monumental war als jene Ägyptens. Meist sind die Figuren kleiner als lebensgroß. Die bevorzugten Materialien waren Stein, Metall und Ton. Da sowohl Skulpturen als auch Architekturen in Mesopotamien früher entstanden als in Ägypten, gehört das Anheben der monumentalen Form nach Mesopotamien.

1.2. Die Kulturen des Alten Orients In der historischen Auflistung der Kulturen des Alten Orients folge ich einer eingebürgerten Einteilung. Die ersten identifizierbaren Hochkulturen nach der frühgeschichtlichen Zeit (Hassuna-, El-Obed-Zeit; 6000–4300) waren jene noch weitgehend unbekannte von Elam und die bekannte Kultur Sumers. Diese teilt man in die Uruk-/Gaura-Zeit (4200–3100) und Dschemdet-Nasr-Zeit (3100–2900) ein. Es folgen die frühdynastische Zeit (2900–2340) und die Akkad-Zeit (2320–2170). Die sumerische Kultur schließt mit der neusumerischen Ur-III-Zeit (2100–2000) und der Isin-Larsa-Zeit (2019–1763) ab. Ab etwa 2000 nennt man die Kultur nach der Metropole Babylon babylonisch. Der Schwerpunkt der Kultur lag jetzt im Norden und die Babylonier standen den Assyrern gegenüber. Es folgte eine unübersichtliche Zeit, in der sich viele kleinere Völker, unter ihnen Gutäer, Kassiten, Phrygier, Hethiter, Akzente setzten. 1080 eroberten die Assyrer Babylon. Diese Eroberung war zwar nicht nachhaltig, aber Babylon stand im Weiteren im Schatten der im Alten Orient dominierenden Macht. Um 720 erreichte das Neuassyrische Reich unter Sargon II. seine größte Ausdehnung, 609 ging es unter.

111

112

Frühe Hochkulturen

Die spätbabylonische Zeit mit ihren Höhepunkten unter Nebukadnezar II. (Neubabylonisches Reich) und mit ihr die klassische Geschichte des mesopotamischen Raums endete mit der Einnahme Babylons durch die Perser 539. Das Persische Weltreich, als Erbe der beiden großen Reiche das größte Flächenreich der Weltgeschichte, wurde schließlich 333/332 von Alexander dem Großen erobert. Wegen der oben angedeuteten schwierigen Quellenlage werden im Folgenden die künstlerischen und religiösen Themen anhand des historischen Ablaufs dargestellt und Andeutungen zu kunstphilosophisch relevanten Fragen am Ende resümierend zusammengefasst.

1.2.1. Frühgeschichte

I.4.3.4.

Porter 2003, 15f

Die Geschichte des Vorderen Orients entgleitet im Nebel des Unbekannten. Das Gebiet weist sehr frühe Besiedlungsspuren auf, die bis auf eine halbe Million Jahre zurückreichen (homo erectus-Funde in Ubaidiya beim See Genezareth). Aus der Zeit zwischen 60 000 und 45 000 stammen Funde von Neandertalern im Irak (Schanidar-Höhle). Im 10. Jt., kurz vor dem langsamen Übergang ins Neolithikum, gab es im heutigen Irak nicht nur etliche bewohnte Höhlen, sondern auch einige Siedlungen (Zawi Chemi Schanidar, Karim Shahir). Dort wurde bereits Vorratshaltung von Wildgetreide betrieben. Zwischen 10 000 und 7000 ereignete sich der Übergang ins Neolithikum. Aus dieser Zeit lassen sich Dörfer mit Häusern in Lehmziegelbauweise nachweisen (Mlefaat, Nemrik, beide in der Nähe von Mossul). Die Funde umfassen die ältesten Ziegelbauten, die man bislang kennt. Etwa gleichzeitig mit der Erfindung der Keramik um 7000 erfolgte im Hausbau der Übergang von der runden zur eckigen Bauweise. Auf einige frühe Siedlungen in diesem Raum wurde bereits hingewiesen. Es sind die für die Neolithische Revolution üblichen technologischen Fortschritte zu vermelden: Der Pflug ab dem Ende des 4. Jt.s, die Sichel, Bewässerungstechniken, Esel und Maulesel, Schafwolle (statt Flachs), woraus sich die Textilwirtschaft entwickelte, die Töpferscheibe. Als Spezifikum kam die Domestikation der Palme dazu, von der die Antike vier Dutzend Arten unterschied. Sie lieferte den Bewohnern damals eine Fülle von Materialen: aus der Dattel produzierte man Wein, Honig und Mehl, Futter für die Tiere, aus den Fasern verfertigte man Matten und schließlich lieferte der Stamm Bau- und Brennholz. Auf assyrischen Friesen taucht öfters die Handlung der Bestäubung der Dattelpalme auf. Deutungsversuche sehen darin ein symbolisches Motiv der Beschenkung der Menschen mit der Fruchtbarkeit des Bodens durch die Götter. Die Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin Ischtar wurde mit der Dattelpalme assoziiert. In der Geschichte Mesopotamiens unterscheidet man meist vom Neolithikum an Nord-, Zentral- und Südmesopotamien, Gebiete, die sich kulturell unterschiedlich entwickelten. Im keramischen Neolithikum (8000–6000) reihten sich nach den Fundorten ihrer Keramik benannte Kulturen aneinander (Hassuna-, Halaf-, Samarra-Kultur). Es handelte sich jeweils um eine individuell erkennbare Keramik hoher

113

Alter Orient

Qualität mit einem weiten Verbreitungsgebiet, was auf regen Handel hindeutet. Teilweise war die Ware mit Stempeln gekennzeichnet. Darauf, dass in diesen archäologischen Fachbezeichnungen der Kulturbegriff eine sehr eingeschränkte Verwendung (als Bezeichnung von räumlich und/oder zeitlich übereinstimmendem Fundmaterial) findet, sei hier nur hingewiesen, ohne dies weiter zu vertiefen. Die im Zentrum im 7. Jt. herrschende Samarra-Kultur (6200–5700) kannte eine fortgeschrittene Luxuskeramik mit stilisierter Tier- und Menschendarstellung. Mit Samarra kam eine Vergeistigung in Form religiöser Konnotationen in die Kunst, die für die weitere Kunstproduktion bestimmend blieb. Die Kunst »diente im alten Vorderen Orient immer religiösen Zwecken.« Daher war jeder Kunstgegenstand in Mesopotamien »mehr oder weniger auch ein Kultgegenstand.« Von vielen Forschern wird die Halaf-Keramik der Kupferzeit des 5. Jt.s als qualitätsvollste Keramik bewertet. Der stilisierte Rinderschädel (Bukranion) war eines der zentralen Motive. Die Kultur brachte aber auch grundlegende Neuerungen in der Architektur. Man fand große Häuser (bis zu 150 m2) aus ungebrannten Lehmziegeln mit Aufteilung des Innenraums, deren Herstellung einen erheblichen Planungsaufwand voraussetzte. Es handelt sich um die ersten großen Baukomplexe. Zugleich bildeten sich die ersten Bautypen der Geschichte heraus, die ein nachhaltiges Erbe an die weitere Kulturgeschichte darstellten. Am Anfang stand das einräumige Einzelhaus, aus dem sich das Mittelsaalhaus entwickelte. Größere Komplexe folgten einer agglutinierenden Bauweise, in der sich die Räume scheinbar form- und ordnungslos aneinanderreihten. Man sprach dabei von einem Agglutinat. Diese frühen Typiken drücken Ordnung und freie Dynamik aus und wurden miteinander kombiniert. Im Mittelsaalhaus umgab häufig ein chaotisch scheinendes Raumgewühl einen streng geometrischen Zentralraum. Dazu trat das Haus mit zentralem Hof. Aus dieser Typik des Mittelsaal- und Hofhauses entwickelte sich die Tempel- und Palastarchitektur, damit eine erste Monumentalarchitektur. »The first appearance of the man-made temple is synonymous with the appearance of monumentality in architecture.« Am Ende der Entwicklung stand der Palast als Stadt in der Stadt. So wie die Häuser kannten auch die mesopotamischen Städte keine strenge Ordnung. Sie wuchsen ohne ein zugrunde liegendes Ordnungsraster. Tempel und Paläste hatten noch keinen genormten Ort in der städtischen Anlage. Erst Babylon ließ eine geometrische Planungsambition erkennen. Diese ging aber nicht so weit, dass man von einem Paradigmenwechsel sprechen könnte. Die Geschichte der Kunst und Architektur des Vorderen Orients muss man demnach im Neolithikum anheben lassen. Als älteste Siedlungen Mesopotamiens gelten Muallafat und Dscharmo im Nordosten des Irak, die um 6000 eine kulturelle Blüte erlebten. Man fand neben üblichen Keramikprodukten Fruchtbarkeitsfiguren aus Ton. In der größeren Siedlung Eridu fand man in einem kleinen Raum einen Kultschrein aus dem 6. Jt. (Schicht XVI des Enki-Heiligtums). Es handelt sich um einen rechteckigen Raum mit rechteckiger Apsis samt Altartisch. Er nahm bereits die Grundfigur der späteren Sakralräume vorweg.

Seton-Williams 1981, 15 Parrot 1983, 90

Anfänge des Hausbaus

Heinrich/Seidl 1982, 2

Giedion 1964, 213

114

Frühe Hochkulturen

Obed

Woolley 1956, 17ff

Parrot 1983, 102

Woolley 1961, 32

Zeitgleich mit Samarra und Halaf bildete die ins 7. Jt. zurückreichende ObedKultur (nach der Keramik in Tell el-Obed) die älteste (auf künstlicher Bewässerung basierende) Landwirtschaftskultur Mesopotamiens. Vermutlich kam es im südlichen Delta zu einer raschen Versandung, weil sich durch Ablagerungen eine Sperre zum Meer gebildet hatte. Das nachströmende Süßwasser bescherte dem Landstrich einen fruchtbaren Boden, was die Paradieserzählung im Alten Testament angeregt haben könnte. Lehmziegelbauten, darunter das typische Mittelsaalhaus, und Keramik mit geometrischen Mustern sowie Terrakotten charakterisieren die Obed-Kultur. Die mesopotamische Ornamentik der frühgeschichtlichen Zeit schwankte zwischen Abstraktion und Naturalismus. Sie ist heute nur mehr schwer zu entziffern, aber es gelten auch für diese Deutung die im Neolithikum üblichen Konnotationen: »Sicher geht man nicht fehl, wenn man sie mit den Vorstellungen einer Sonnenreligion und mit Fruchtbarkeitsvisionen in Zusammenhang bringt.« Gerne wird die Obed-Zeit als Beginn der mesopotamischen (damit in Fortsetzung der europäischen) Kultur angesehen. Die Töpferei gilt als sehr qualitätvoll, wenngleich sie von jener aus der elamischen Hauptstadt Susa noch übertroffen wurde. Diese Töpferkunst ist eine stilisierte Kunst, »bei der die Bemalung eines Gefäßes der Form des Gefäßes entsprechen muß, um eine wirkliche Einheit zu schaffen.« Neben der Gebrauchskeramik entstanden Tonfiguren, meist sorgfältig gearbeitete Frauendarstellungen, eine Kunstform, die einmalig blieb und kaum eine Fortsetzung fand.

1.2.2. Die elamische und sumerische Kultur

Woolley 1928, 7

Wer die ersten Siedler im Alten Orient waren, ist nach wie vor unbekannt. Die erste identifizierbare Hochkultur war jedenfalls vermutlich jene der Sumerer. Zu ihrer Herkunft kursieren mehrere Theorien. Gute Argumente scheint es für eine Wurzel im Osten zu geben, zumal engere Beziehungen zum indischen Subkontinent belegbar sind, aber auch das ist umstritten. Es gibt Vermutungen, dass die Sumerer im 4. Jt. nach Mesopotamien einwanderten. Leonard Woolley meinte, sie seien aus den Bergen gekommen, weil ihre Götter in den Darstellungen immer auf Bergen stehen. Der Begriff selbst geht auf eine akkadische Bezeichnung zurück. Die ersten Texte in der agglutinierenden Sprache Sumerisch stammen (nach dem Vorschlag des Assyriologen Jules Oppert 1873) – ähnlich wie die hieroglyphischen Texte Ägyptens – aus dem Ende des 4. Jt.s. Die Schrift wurde in andere Gebiete exportiert. Vermutlich waren es Beamte, die ein Bildzeichensystem entwickelten, mit dessen Hilfe man Informationen speichern konnte. Da es sich dabei gleich auch um die erste Hochkultur der Menschheitsgeschichte handelt, darf der Hinweis nicht fehlen, dass es offenbar eine ähnliche Entwicklung im südlichen Iran, in der Ebene von Susa, einem von Elamern besiedelten Gebiet, gegeben hat. Die sprichwörtlichen »Wiegen der Menschheit«, die durch hohe Inflation gekennzeichnet sind, lassen sich auf zwei reduzieren, die im Delta des Euphrat (Schatt al-Arab) und im südlichen Iran gestanden sind. Auch im Iran entstand eine Bilderschrift, die man proto-elamisch nennt und die – vielleicht eine isolierte Sprache und Schrift – bis heute nicht entziffert werden

115

Alter Orient

konnte. Bereits im 3. Jt. wurde in Elam die Keilschrift übernommen und die beiden Kulturen wuchsen bald, nämlich in frühdynastischer Zeit, sukzessive zusammen. Anscheinend wurde die Entwicklung der Hochkultur gerade »durch die Intensivierung der Kontakte« in Gang gebracht. In der Kenntnis elamischer Kunst und Architektur tappt man im Dunklen. Von der hohen Qualität der Keramik aus der Hauptstadt der Elamer, Susa, war gerade die Rede. Ihre Ornamentik schien – mehr als jene vorwiegend geometrische von Obed – religiöse Konnotationen zu besitzen. Mögen die Inspirationen also »aus dem Osten«, aus dem Reich Elam, den Gebieten des Iran, gekommen sein, so hat sich die Kultur doch erst im sumerischen Kontext zu ersten Höhepunkten aufgeschwungen.

Orthmann 1975, 81

1.2.2.1. Uruk/Gaura- und Dschemdet-Nasr-Zeit In älteren Publikationen (die Periodisierungen sind in der Forschung im Fluss) teilte man die mangels Material schlecht erforschte frühsumerische Zeit (der Ausdruck ist heute veraltet) nach der Bau- und Bildkunst in zwei gleichzeitig verlaufende Perioden (4200–3100) ein: In die Uruk-Zeit im Süden und die Gaura-Zeit im Norden. Es handelt sich um die Schwellenzeit zwischen Urgeschichte und Geschichte im Vorderen Orient. Die Dschemdet-Nasr-Zeit (3100 bis etwa 2900) wurde nach einem Fundort nordöstlich von Babylon benannt. In der Kunstgeschichte werden die Zeiten in der Regel gemeinsam behandelt, weil eine Unterscheidung in diesem Genre kaum möglich ist. Allenfalls hält sich bei einigen die Unterscheidung einer vor allem auf die Architektur ausgerichtete Uruk-Zeit und einer vom Aufschwung der plastischen Kunst gekennzeichneten Dschemdet-Nasr-Zeit. Die Uruk/Gaura-Zeit umfasst das kulturell hochstehende Ausstrahlungsgebiet der Stadt Uruk (Warka). In ihr gelang die Erfindung der Schrift, damit der Beginn der Geschichte, und in ihr spielte das Entstehen der Stadt, damit der Beginn der Kultur. In der Tat stellt Uruk »in Mesopotamien den Ausgangspunkt für die geschichtliche Kultur dar.« Neben Uruk wuchsen in Sumer weitere Städte zu Kulturträgern heran: Ur, Eridu, Nippur, Lagasch. Uruk war ein Zentralort, eine »Mega-city« als Kult- und Verwaltungszentrum für eine größere Umgebung. Wir reden bei Uruk und Eridu von den ersten ausdrücklichen, den Kriterien Frank Kolbs entsprechenden Städten mit sozialer Differenzierung (erstmals lässt sich eine politische Elite nachweisen) und Arbeitsteilung. Bereits Gordon Childe hat seinen Begriff von der Neolithischen Revolution als Muster verwandt und analog von einer »urbanen Revolution« gesprochen. Die Kulturwerdung ist zweifellos mit der Stadtwerdung korreliert. Hierbei ist grundsätzlich zwischen der administrativen Entwicklung – Stichwort Speicherplatz agrarischer Produkte – und den nun aufkommenden kulturell-religiösen Stiftungserzählungen zu unterscheiden. Zwischen den beiden Paradigmen besteht nur scheinbar ein Unterschied. Denn zu Recht verweisen die meisten Theorien zur Stadtwerdung auf die große Bedeutung des Handels – Folge der Arbeitsteilung und Über-

Amiet 1977, 59

I.4.3.4. Childe 1950 I.4.0.f.

I.4.3.4.

116

Frühe Hochkulturen

Kolb 1984, 23 V.5.1./V.6.1. Die Erfindung der Schrift

39 Tontäfelchen mit Zahlen (Token) (um 3200); NMAl

Schmökel 1961, 167

1.2.5.

schussproduktion und damit Ursache für wachsenden Verwaltungsaufwand. Dieser Handel, so glaubte Max Weber, habe durch die Stadt einen sakralen Schutz erhalten. Der interessante Gedanke hebt allerdings doch eher, wie Frank Kolb anmerkte, auf eine bereits bestehende städtische Struktur bzw. auf ihre Weiterentwicklung ab und weniger auf die Gründungssituation. Schon grundsätzlich ist eine städtische Struktur kaum vorstellbar, die nicht auf eine landwirtschaftliche Grundlage zurückgreifen kann. Dies galt noch für die Stadtentwicklung im Hochmittelalter. Die Erfindung der Schrift um 3200, mit größter Wahrscheinlichkeit in Uruk, leitete eine neue Zeitepoche ein. Der Schrift ging schon seit längerer Zeit ein Notationssystem für Objekte und Zahlen in Form von Zählsteinen (tokens oder calculi) voraus. Deren Funktion als Vorläufer der Keilschrift ist in der Wissenschaft zwar umstritten, hat aber doch eine gewisse Plausibilität. Es gab im Alten Orient drei Arten von Zeichen: piktographische, syllabische und alphabetische. In Uruk zählte man anfangs an die zweitausend piktographische Zeichen, die sowohl Bilder als auch Wörter darstellten. Diese hohe Zahl von Zeichen machte die Schriftbeherrschung zu einer elitären Fertigkeit für Schreiber, die wie in Ägypten zu einem angesehenen Stand aufstiegen. Das System war für die Registrierung von Wirtschaftsvorgängen (Tempelwirtschaft) ausreichend, komplexere Sachverhalte ließen sich jedoch nicht in der Schrift abbilden. Die Bilder- und Wortschrift musste dazu zur Silbenschrift werden. Die phonetisierte Konsonantenschrift senkte die Zeichenzahl drastisch. Um die Schrift schneller schreiben zu können, wurden die Zeichen mehr und mehr abstrahiert und gewannen das bekannte Aussehen von keilförmigen Strichen. In einem eigenwilligen Wettbewerb wurden manche Texte mikroskopisch klein geschrieben, sodass Forscher auf das Vorhandensein lupenartiger Vergrößerungsgeräte schließen. Die Keilschrift, deren Zeichen mit dreikantigen Griffeln in weichen (billigen und unbegrenzt vorhandenen) Ton gedrückt wurde, erreichte noch nach der Erfindung der Alphabetschrift um 1800 einen Höhepunkt. Die größte Verbreitung hatte sie im 14. Jh. und hielt sich im westlichen Vorderen Orient bis in das erste Jahrhundert nach Christus. Die ältesten beschrifteten Tafeln stammen aus der Schicht Uruk IVa (3300– 3100). Bislang kennen wir etwa 6000 Tafeln überwiegend mit Wirtschafts- und Verwaltungstexten. Die aufkommende Verwaltung benötigte die Schrift als ein Speichermedium. Erst einige Zeit später kamen die ersten literarischen und religiösen Texte dazu. Dennoch lässt sich die religiöse Stiftung der Stadt im Alten Orient ausreichend dokumentieren. Um 2600 fand man im mittelbabylonischen Fara eine kombinierte Wort- und Silbenschrift, welche die (sumerische) Sprache gut wiedergeben konnte. Dort scheinen auch die ersten, über reine Verwaltungstexte hinausgehenden Textgenres entstanden zu sein. Dazu gehörten Rechtsurkunden, Beschwörungen, Sprichwörter, Lebensweisheiten und Weihetexte, darunter Beschreibungen von Bauwerken. Die Rechtsurkunden von Fara, teilweise in steinerne Weihetafeln gemeißelt, wurden später bei den kudurru wieder aufgenommen und sie weisen weiter auf die steinernen Gesetzestafeln des Moses.

117

Alter Orient

Unter den Bauwerksbeschreibungen ragt der aus späterer Zeit bezeugte KešHymnus, ein Preislied auf den Tempel von Keš, hervor. »Der Tempel ist von seinem Inneren her das Herz des Landes, von seiner Rückseite her der Odem, der das Innere füllt«, heißt es in einer jüngeren Version. Dabei galt das Preislied selbst als Erzeugnis der Götter. Der Gott Enlil pries das Bauwerk und die Göttin der Schreibkunst, Nisaba, schrieb diesen Lobeshymnus nieder. Wie in Ägypten wurde im gesamten Alten Orient der Tempel mit kosmischen Gegebenheiten gleichgesetzt und ein kosmotheistisches Paradigma verwandt. Der Tempel sicherte die Verbindung von Gott und Mensch. Er wurde zum »Symbol der kollektiven Identität, der Zusammengehörigkeit der Einwohner.« Die Tempelarchitektur zeigte von Anfang an die Form einer Basilika. Was das Personal der Sakralbauten betraf, löste sich früh eine monarchische Struktur von Königs-Dynastien aus einem Priester-Königtum heraus. Das Königtum war von Anfang an religiös inspiriert, hatte aber auch eine soziale Funktion der Integration. »Das Königtum ist seinem Ursprung und Wesen nach offensichtlich ein integrierender Bestandteil der frühen Hochkulturen und auf diese beschränkt. In der Folgezeit breitete sich die Idee des (Sakral-)Königtums aus und blieb dabei nicht an die hochkulturelle Geschichtsstruktur gebunden, sondern wurde mehr oder weniger unabhängig von anderen Äußerungen der hochkulturellen Lebensform übernommen und abgewandelt.« Die mehrfache Aufgliederung solcher Positionen spiegelte das mehrfache Leben in der Stadt wider: »[…] bald lebten sie in Taten, bald in Denkmälern und Inschriften und dann wieder in der Nachwirkung der aufgezeichneten Ereignisse auf spätere Geschlechter […].« Der Komplex von Schrift und Kunst ermöglichte die Vervielfachung von Lebenspraktiken und geschah vermutlich parallel zu einem sich entwickelnden Vergangenheits- und Zukunftsbewusstsein. Insofern gingen frühe kulturelle Memorialtechniken Hand in Hand mit der Idee der Speicherung, also des »Behälters«, wie er durch die Keramikproduktion möglich wurde. Es gab von Uruk aus entlang des Euphrat regelrechte Koloniegründungen (Habuba Kabira, Gebel Aruda, Tell Hamoukar). Die Siedlungen beherbergten Wohnhäuser, Tempelbauten sowie Kunstwerke, darunter viele Augensymbole. Ob es sich dabei um eine ausdrückliche Kolonisation handelte, ist in der Wissenschaft umstritten, wie zur Ausbreitung der Uruk-Kultur ganz generell noch viele Fragen offen sind. Die sich aus Handelsinteressen ableitende Kolonisation ist nur eine mögliche Erklärung, die sich jedoch auf nur spärliches archäologisches Material stützen kann. Nicht besser ergeht es jenen Theorien, die weniger ein wirtschaftliches als vielmehr ein kulturelles Interesse hinter der Ausbreitung vermuten. Ausgehend von den Welt-System-Thesen Immanuel Wallersteins formulierte Guillermo Algaze dazu das Modell einer UrukWelt-Kultur (Uruk World System). Demnach hätte Uruk das Bestreben gekannt, seine Kultur zu einer Weltkultur zu machen. Durch Tontafelfunde belegt ist jedenfalls ein reger Handelsaustausch. Transportmittel der damaligen Zeit waren in erster Linie Schiffe, mit denen man die Flüsse befuhr. Das Wegenetz war demgegenüber schlecht ausgebaut. Der Handel mag die

zit. nach Wilcke Claus G. in Hrouda 1991, 276

2.3.2. Kolb 1984, 27

Müller-Karpe 1968, 265

Mumford 1961, 115

Algaze 1993

118

Frühe Hochkulturen

40 Abrollung eines Rollsiegels, (akkadisch, 2340–2150): ­Sonnengott erhebt sich über seinen Berg; LP Nunn 2012, 68

Entstehung der Stadt

Amiet 1977, 57

Selz 2005, 33f

Ebd., 33 Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 208

Zikkurat

Produktion von Siegeln stimuliert haben. Sie sind eine ergiebige Quelle für die Kunst- und Kulturgeschichte. Zuerst entstanden Stempel-, dann Rollsiegel, deren Negativ-Gravur in Ton eingedrückt wurde. Das Rollsiegel gilt als eine Entwicklung der Uruk-Zeit und es wurde zum wichtigsten Exponat der Glyptik. Die Stempel- und Rollsiegel galten als Visitenkarte, als apotropäisches Schutzobjekt, das man sogar als Grabbeigabe schätzte, aber auch als handliche Instrumente der Verwaltung. Die Abbildungen ermöglichen Rückschlüsse auf Kultpraktiken, Kleidungssitten, Ausstattung von Möbeln bis zu Waffen und vieles andere mehr. Ähnlich umstritten wie die Ausbreitung der Uruk-Kultur ist ihr plötzlicher Niedergang. Selbst in der Metropole wurden alle Gebäude abgetragen und die Kultgegenstände eingesammelt. »All dies deutet auf eine große Krise.« Viele Daten stützen die These, wonach eine nachhaltige Versalzung der Böden Südmesopotamiens die landwirtschaftliche Nutzung verunmöglichte. Wie bereits gesagt, brachte die Uruk-Zeit neben der Erfindung der Schrift die so bedeutende Entstehung der Stadt. Die generell für das Selbstverständnis geltende Ambivalenz von religiöser Stiftung und administrativer Funktion der Stadt lässt sich im Vorderen Orient besonders eindrucksvoll studieren. Gerade in diesem Gründungsgebiet der Stadt ist die religiöse Stiftungsidee gut dokumentiert. Pierre Amiet setzte für das Entstehen der Architektur in Uruk eine religiöse Ambition voraus: »Die vielseitigen Entwicklungen der Architektur von Uruk müssen mit religiösen Vorgängen zusammenhängen, die wir jedoch nur erahnen können.« Ähnlich Gebhard Selz: »Die Stadt war immer auch Kultplatz, und daher konnte sie sogar begriffen werden als Gleichnis oder Abbild des Kosmos. […] Die Stadt wurde begriffen als Epiphanie – nicht nur als Ort der Epiphanie – eines Gottes.« Den zentralen Raum der mesopotamischen Städte besetzte der Kultbereich. Der Tempel war einem oder mehreren Göttern geweiht. Er war weniger ein Ort der Verehrung, sondern ein Ort der Anwesenheit der Gottheit und von nur profaner Nutzung abgetrennt. Dabei dürfte die Unterscheidung zwischen sakral und profan gar nicht einfach gewesen sein. Letztlich bildete der Tempel den Kern der gesamten Organisation der Stadt. Gebhard Selz spricht für die frühen Tempel daher lieber von »Versammlungshallen«. Von Lagasch sind diese Zusammenhänge gut überliefert. Thorkild Jacobsen nannte den Stadtfürsten einen »Manager des göttlichen Gutshofes und seines Stadtstaates.« Die Kommunikation zwischen Gott und dem Fürsten geschah durch außergewöhnliche Naturereignisse, durch das Opfern oder durch den Traum beim Tempelschlaf. Ab der neusumerischen Restauration (2100–1955) ergänzte der Tempelberg, die Zikkurat (babyl. ziqqurratu, zaqāru/herausragen), den Temenos. In der Zeit des Urnammu wurde die Zikkurat aus den bereits in der Obed-Zeit benützten Hoch­ terrassen entwickelt. Die Funktion jenseits der Zeichenhaftigkeit ist nicht restlos geklärt. Auf der Zikkurat befand sich ein kleiner Tempel mit mehreren Räumen, in denen die Gottheit Wohnung fand und Himmel und Erde verband. Ob und in wel-

119

Alter Orient

cher Form (real oder symbolisch) der hieros gamos, die Heilige Hochzeit, dort (nach) vollzogen wurde, ist umstritten und die Diskussion um diesen Themenkomplex äußerst kontrovers. Manche Theorien halten den hieros gamos für einen Bestandteil von Fruchtbarkeitsriten. Andere Deutungen vermuten einen »Legitimationsritus zum Beginn der Regierungszeit eines neuen Herrschers«. Es kam in den großen Städten Mesopotamiens jedenfalls zu einem Wettbewerb um die höchste Zikkurat. Der Prototyp, von Urnammu und seinem Sohn Schulgi gebaut, ragte in Ur in den Himmel, wo die erste Ebene in rekonstruiertem Zustand erhalten ist. Auf der obersten Etage stand das Heiligtum des Mondgottes Nanna. Die mächtigste Zikkurat dürfte in Babylon gestanden haben mit einer Höhe von knapp 100 Metern. Alexander der Große ließ später den Turm abtragen und die Steine für das Fundament eines Theaters verwenden. Die Zikkurat wurde als Verbindung der beiden Enden des Kosmos, Himmel und Erde, gesehen. Sie verweist als räumliches Zeichen, aber auch als materieller Baukörper (im Hintergrund zu behalten sind Megalith- und Säulenkulte) in beide Bereiche. In Uruk, das nach Frank Kolb um 3000 etwa 50 000 Einwohner hatte, standen die Kultgebäude der Göttin Inanna und des Himmelsgottes An (mit Zikkurat) im Zentrum. Umschlossen wurde dieser Komplex durch eine gewaltige (und in Mesopotamien älteste), bislang nur abschnittsweise untersuchte Stadtmauer, etwa 9 Kilometer lang und mit etwa 900 Wehrtürmen versehen. Sie wurde der Überlieferung nach angeblich vom legendären (aber vermutlich doch historischen) König Gilgamesch (relativ spät in frühdynastischer Zeit um 2700) selbst gebaut. Er suchte nach Unsterblichkeit, die er in der Geborgenheit der Stadtmauern von Uruk zu erreichen hoffte. Die Mauer spielte in der altorientalischen Stadt zur Identitätssetzung eine wichtige Rolle. Es wäre jedenfalls reizvoll, die in I.4.3. beschriebene Vision des Zur-Ruhe-gekommen-Seins der Sesshaftwerdung und die Domestikation des Raums als Hintergrund der Stadtgründungen zu betrachten. Die Sakralität der Stadt wäre dann eine konsequente Folgerung. Die berühmte Jesaia-Vision bringt im wertenden Rückblick die Übergangssituation vom Jäger und Sammler zur Sesshaftigkeit samt ihren Kulten schön zum Ausdruck. Wenn die Völker auf der Suche nach den Wegen des Herrn zum Gottesberg strömen und die Macht des Göttlichen erfahren haben, »schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen.« Angesprochen ist der Tempel als Nukleus der Stadt oder als »Nabel der Welt«. Die Tempelvisionen von Zion durchziehen das Alte Testament. »Da steht der Berg des Hauses des Herrn an der Spitze der Berge fest gegründet und ragend über die Hügel […].« Die Stadtmauer, die diesen sakralen Bereich umschließt, wurde neben Tempel und Palast eine eigenständige Bauaufgabe und mit hoher symbolischer Bedeutung aufgeladen, welches Narrativ bis weit in das Mittelalter reichte. Sie galt als Symbol der Geborgenheit und von Ordnung und Freiheit gegenüber dem rechtlosen Bereich des offenen Landes. Leon Battista Alberti beschrieb sie in seinem Architekturtraktat: »Die Stadtmauern errichteten die Alten unter feierlichen religiösen Zeremonien und weihten sie einer Gottheit, in deren Schutz sie sich begeben woll-

Hansen 2000/2001, 105

Kolb 1984, 23

Stadtmauer

Jes 2,2–4 Ez 38,12 Jes 2,2–4; Mich 4,1–4

120

Frühe Hochkulturen

Alberti 1975, 342 VI.7.3.2.2.

Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 204

ten.« In diesem Sinn kam der Mauer eine erhebliche soziale und philosophische Bedeutung zu. Die Stadt wurde hier als das soziale Abbild einer religiös-kosmischen Ordnung inauguriert, eine Bedeutungszuschreibung, welche die Stadt bis weit in die Antike und darüber hinaus trug. Den Staat im Alten Orient hat »das Universum selbst konstituiert.« Er war »der von der Götterversammlung regierte Staat.«

1.2.2.1.1. Mythos und Religion

Giedion 1964, 118 Bottéro Jean in Hrouda 1991, 225

Ebd., 219

Architektur und Kunst im Alten Orient waren wie das Selbstverständnis der Stadt mit den mythischen Erzählungen verbunden. Sie waren Teil von ihnen. Wie immer bei diesem Thema sind die philologischen Fragen nach Historie und Ursprünge der Mythen schwierig. Es ist hier nicht der Ort detaillierter Berichte über diese Probleme und es soll auch nicht im Philologenstreit um eine allfällige Versöhnbarkeit verschiedener Erzählstränge (analog zu den griechischen Mythen) mitgemischt werden. Vielmehr geht es darum, einige zentrale Themen im Mythenschatz des Alten Orients zu benennen, die teilweise archetypisch für den gesamten Kulturschatz der Welt stehen können und Impulse für Kunst und Architektur ausgelöst und abgegeben haben. Zudem soll an dieser Stelle ein Überblick über das Thema im gesamten Raum Mesopotamiens und nicht nur über die frühsumerische Zeit versucht werden. Die einschlägigen Texte stammen aus der Zeit nach 2000. Sie versammeln jedoch weit ältere Strata, sodass ein Auflösen in sumerische und semitische Wurzeln kaum mehr möglich ist. Die Religionsgeschichte im engeren Sinn begann im 3. Jt. Von da an waren die Götterrollen weitgehend verteilt, was aber keineswegs das Ende von Änderungen und Umschichtungen bedeutete. Die Zahl der Gottheiten war anfangs außerordentlich hoch. Man kann um die 3000 Götter und Göttinnen unterscheiden. Die hohe Zahl ergab sich nicht zuletzt daraus, dass die Vorstellung der Götterordnung jener eines Hofstaates entsprach. In der Kulturgeschichte wurde gleichzeitig am Götterpantheon und am Staat gebaut: »The creation of the pantheon of divinities runs parallel with the creation of the state.« Dieses »Gewimmel im 3. Jahrtausend« verringerte sich im weiteren Verlauf der Geschichte drastisch. Mit der hierarchischen Fragmentierung gesellschaftlicher Ordnung nach der Bildung der Stadtstaaten wurden verstreute Gottheiten zu Familien zusammengefasst. Ein Herrschaftsgott stieg an die Spitze des göttlichen Hofstaats. Dies spiegelte sich auch darin, dass die sumerische Religion keine mystischen Züge kannte, sondern dass Gottheiten Unterwerfung und Ergebenheit verlangten oder Furcht auslösten. Es wurde wie im Hofstaat die »Pose des ›alleruntertänigsten Dieners‹ vor dem höchsten und allmächtigen Herrn und Meister« verlangt. Dieser Hofstaat lag bereits im Himmel. Grundsätzlich war es in allen Hochkulturen ein längerer Prozess aus der Spannung von fruchtbarer Erde und Kraft gewährender Sonne, die Götter von der chthonischen, erdverbundenen Ebene in den Himmel zu heben. Das semitische Pantheon ab der akkadischen Zeit war deutlich bescheidener und mit synkretistischen Götterfiguren bevölkert. Als Beispiel sei die sumerische In-

121

Alter Orient

anna angeführt, die zur akkadisch-semitischen Ischtar mutierte. Zusätzlich wurde die Vorstellung von den Gottheiten immer abstrakter. Ischtar, die Göttin der Liebe und der Zwietracht, fungierte später nur mehr als die Göttin schlechthin. Ähnlich war es mit Ninhursag, der »Herrin der Berge«, die als Mutter der Götter, Amme, Gebärerin und Mutter der wilden Tiere eine chthonische Komponente hatte, aber mit dem Himmelsgott An vermählt war. Die Große Göttin wurde zum zentralen Motiv des Alten Orients. Sie war nicht nur eine Quelle der Fruchtbarkeit und des Lebens, sie war – ambivalent dazu – die Göttin des Todes. Was im Osiris-Mythos in Ägypten prägnant hervortrat, galt vermutlich allgemein. Zunächst waren die Gottheiten den Naturmächten entlehnt. Im gebirgigen Nordwesten dominierten die chthonischen Wetter- und Berggottheiten. Im Süden stand Dagan/Enlil, ursprünglich ein Ackerbaugott, an der Spitze des Pantheons. Auch er galt dann als Himmelsgott und war als solcher Herr über Lufthauch und Sturmwind, der Himmel und Erde getrennt hatte, ein Motiv, das in Ägypten und in den orphischen Mythen Griechenlands in jeweils anderer Form wiederkehrt. In kulturellen Erzählungen war er als Vollzugsorgan des Willens der Götter auch der Gründer der Städte. Auch der judäische JHWH war ein Sturmgott und Vulkandämon, hatte also eine chthonische Abstammung, und wurde im Jerusalemer Tempel solarisiert und damit in den Himmel gehoben. Daneben residierte im Süden mit seinen Süßwasserquellen Enki/Ea, der Gott des Süßwassers und der Weisheit. Es gab im Alten Orient keine »Theologie« im Sinne einer Systemerzählung, sondern aneinandergereihte Geschichten um die Götter. »Eine pragmatische ›Ich gebe, damit Du gibst‹-Mentalität prägte das Verhältnis zwischen Mensch und Gott.« Götter konnten belohnen und strafen nach ihrem Gutdünken. Insofern schrieben die Menschen erlittenes Leid den Göttern zu und entwickelten reflektierte Erörterungen, um mit diesem Faktum umzugehen. Erstmals tauchte in diesem Zusammenhang ein Bewusstsein von Fehlverhalten und Sünde auf. Natürlich findet sich in der Literatur eine Sehnsucht nach Unsterblichkeit, aber es gab nur rudimentäre Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod und die dazugehörige Unterwelt-Topographie zeigte keinen einladenden, sondern einen düsteren Ort, in dem sich die vom erdigen Körper getrennten Schemen einfanden. Die anthropomorphe Form von Gottheiten wechselte mehrmals hin und her. In prähistorischer Zeit verzichtete man auf die menschliche Form im Zusammenhang mit Gottheiten. In Ägypten und Sumer hoben solche Darstellungen an: »[…] Egypt and Sumer, seem at first to have felt similar restraint at representing the human forms of their newly created anthropomorphic gods.« Die menschengestaltigen Gottheiten (häufig mit Rind-Hörnerkrone als Charakteristikum) umgab ein Furcht erregender Glanz (Aura). Sie kannten kein Leiden und waren in der Regel unsterblich. Allerdings konnten Gottheiten getötet werden. Der Gott der sengenden Sommerhitze konnte den Gott der Vegetation töten. Auch bestattete Götter tauchen in den Rollsiegeln auf. Im Laufe der weiteren Entwicklung änderte sich die Darstellung wieder ins Piktorale und Emblematische. Auch wenn es schon im 3. Jt. eine nicht-anthropomorphe Ikonographie gab, erfuhr sie erst im 1. Jt. eine weitere Verbreitung.

3.2.3.

Nunn 2012, 128

Giedion 1964, 117

Ornan 2005, 168–182

122

Frühe Hochkulturen

III.2.4.3.1. Fink 2015, 240

Niehr 2003, 232 2.1.2.

Die Unterscheidung, ob die Gottheit direkt oder ihr Attribut dargestellt wurde, ist nicht immer einfach. Inwieweit man von einer auch programmatisch und philosophisch grundierten Abkehr von der Anthropomorphie sprechen kann, ist freilich fraglich. Sebastian Fink hat in den Balag-Klagen, die als »most boring texts from Mesopotamia« gelten und den Untergang von Städten und Tempel beklagen, Beschreibungen Gottes gefunden, die den Kritiken des Xenophanes an der Anthropomorphie auffallend entsprechen. Er schließt gar eine direkte Linie zum »reisenden Philosophen« Xenophanes nicht aus. Der Hinweis zeigt, dass es schon sehr früh zu henotheistischen Vorstellungen, verbunden mit einem abstrakt-theologischen Gottesbild, kam. Dennoch scheint bei den griechischen Intellektuellen die Kritik am Polytheismus und der Anthropomorphie der Göttervorstellung schon im Licht der sophistischen Aufklärung eine noch einmal neue Qualität gehabt zu haben. Eine weitere Eigenheit der Gottheiten ist ihre Realpräsenz in ihrem Kultbild, was eine Flut von Kulthandlungen zur Folge hatte: Die Speisung der Bilder, wozu es eigene Köche in den Tempeln gab, war eine der wichtigsten. Sie sicherte das Bleiben der Götter und war sowohl in Ägypten als auch in Israel üblich. Auch das Ausführen des Kultbildes in Prozessionen zu Lande und zu Wasser war in Ägypten ein zentrales Ritual. Götterbilder konnten auch deportiert werden. Eine Eroberung war erst erfolgreich, wenn der Stadtgott ins Exil gezwungen wurde. Sogar von Verstümmelungen und Tötungen von Götterbildern wird berichtet.

41 Relief einer ­Barkenprozession im Karnak-Tempel

Giedion 1964, 353

Über die Tempelrituale selbst sind wir schlecht unterrichtet. Man weiß, dass die Tempelfeste (ganz analog wie in Ägypten) einen Mittelpunkt des gesell­schaftlichen Lebens bildeten. Viele Rituale lassen sich aus bildlichen Darstellungen rekonstruieren. Als sicher kann gelten, dass die Rituale – sie reichen in die frühgeschichtliche Zeit zurück – eine starke bindende Kraft hatten. Vermutlich hat Sigfried Giedion recht, wenn er meinte: »Rites were far stronger than any clearly defined, rigidly fixed dogma.«

123

Alter Orient

In babylonischer Zeit erhielten Göttinnen und die Gemahlinnen der Götter eine Bedeutung, die sie bei den Sumerern noch nicht hatten. Sie lösten gewissermaßen als Vertreterinnen einer mütterlichen Fürsorge die alten Muttergottheiten mit ihrer chthonischen Funktion ab. In Anlehnung an den historischen Ablauf unterscheidet man zwischen sumerischen, semitischen, babylonischen und assyrischen Göttern: Das sumerische Pantheon mit der erwähnten unübersehbaren Zahl von kosmischen Schöpfern, astralen Gottheiten, Vegetations- und Naturgöttern, Kriegsgöttern, Wetter-, Feuer- und Heilgöttern ließ sich auf etwa drei Dutzend von wichtigen Gottheiten reduzieren. Das Pantheon war eine Versammlung von Gleichen mit einem Anführer, der aber auf die Einmütigkeit des göttlichen Kollegiums, das zudem die Städte ausgewogen repräsentierte, angewiesen ist. Jeder Gottheit kann man ein Kultzentrum zuweisen. Der Himmel gehörte Anu (Uruk), die Luft dem Enlil (Nippur), der über die harmonische Stabilität der Natur wachte, aber auch – ambivalent dazu – zerstörerische Kräfte besaß, die Erde (manchmal auch das Süßwasser) dem Bruder des Enlil, Enki (Eridu). Anu und Enlil entsprachen auf der Ebene des Staates »die beiden Kräfte, die für jeden Staat die grundlegenden Bestandteile sind: Autorität und Gesetzesgewalt; […].« Enlil sichert die Ordnung, aber er bedroht sie auch ambivalent dazu durch seine Gewalt: »O Vater Enlil, dessen Augen (wütend) glühen, wielange noch, bis wieder friedvoll sie sind?« Die Erhaltung der guten Harmonie der das Leben sichernden Ordnung, der ständigen Erneuerung dieser Ordnung durch den Zyklus der Natur begründete ein zentrales Motiv, das sich in Ägypten prominent darstellte und von dort aus in die Philosophie Eingang fand. In Ägypten schien das Vertrauen in die harmonische Ordnung stärker zu sein als in Mesopotamien. Auf die Beobachtung Astrid Nunns, wonach die Unruhe der Kultur ein Spiegel der Unruhe der Flüsse Euphrat und Tigris sei, sei hier erinnert, weil sie vice versa auch auf Ägyptens »ruhige Kultur« angewandt werden kann. Zwar gab es auch dort Chaosmächte, aber eine Labilität wie jene Enlils kam dort kaum so zum Ausdruck. Auch für die Archäologin Haritini Kotsidu schien »eine Region wie Mesopotamien mit weitläufigen Wüsten, unberechenbaren Staubstürmen und unregelmäßigen, gefährlichen Überschwemmungen mehr von Dämonen geplagt gewesen zu sein […] als beispielsweise das fruchtbare Ägypten […].« Die höchste Göttin war Inanna/Ischtar (Dame des Himmels). Sie war Abendwie Morgenstern, also mit dem Planeten Venus verbunden. Daher war sie eine Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe. Ambivalent dazu auch die Göttin des Kriegs. Einer der wichtigsten Tempel für sie stand in Uruk. Ihre Ikonographie ist weitläufig. Sie reicht vom Löwen über eine bärtige Kriegsgöttin mit Schwert bis zur sich erotisch anbietenden Frau. Der Löwe ist als ikonographisches Zeichen zu verstehen. Anders als in Ägypten wurden wichtige Götter niemals tiergestaltig dargestellt. Auf einer in Uruk zusammen mit anderen Kultgegenständen gefundenen, mehr als einen Meter messenden Kultvase aus Alabaster (vermutlich späte Uruk-Zeit, um

Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 157 zit. nach Ebd., 158

Kotsidu 2010, 92 Inanna/Ischtar

124

Frühe Hochkulturen

3000) sind in Reliefstreifen Kulthandlungen für die Göttin Inanna dargestellt. Im Mittelpunkt stehen die Früchte des Feldes und die Erstlinge der Herde. Inwieweit hier auch die Heilige Hochzeit dargestellt ist, darüber gehen die Meinungen ausein­ ander. Auch ob die Göttin selbst oder nur eine Priesterin gemeint ist, ist umstritten und vermutlich nicht mehr zu entscheiden, weil das Artefakt in beschädigtem Zustand erhalten ist. Bei Inanna wird von einer Unterweltsfahrt berichtet, bei der sie getötet und durch Enki wiedererweckt wird. Gefeiert wurde eines der ältesten Motive, das in der gesamten antiken Welt beherrschend blieb: der Neubeginn der Fruchtbarkeit. Neben diesem Dreiergespann tauchte die Muttergöttin unter verschiedenen Namen auf: Ninhursag in Kesch, Bawa in Lagasch, weiters erschien sie als Nintu, Ninmah oder Aruru. Erstmals ist in sumerischen Dokumenten auch die andere Seite des Chthonischen, die himmlische Präexistenz von Urbildern, belegt, etwa Astralgottheiten wie der Mondgott Nanna/Sin (Ur) und der Sonnengott Utu/Schamasch (Larsa und Sippar). Ein altes sumerisches Götterlied preist den Mondgott Nanna. Er durchpflügt als »Heiliges Himmelsschiff« die Unterwelt von Westen nach Osten, aus der er wieder ins neue Leben gelangt. Nanna/Sin war mit Fruchtbarkeit verbunden, man orientierte sich bei Anbau und Ernte der Feldfrüchte nach ihm. Demgegenüber war der Sonnengott eher der Gott der zerstörerischen Hitze. Im Zusammenhang mit dem Zyklus der Fruchtbarkeit war der Mondgott der Zeitgeber und Grundlage des Kalenders. Dazu kommen Mythen von Heroen und frühen Königen. Der bekannteste MyGilgamesch-­ thos ist jener des Gilgamesch. Dieser Stoff wurde immer wieder aufgegriffen und Mythos verwertet. Das Leben des sagenumwobenen Königs, der zu Anfang des 3. Jt.s Herrscher in Uruk gewesen sein soll, wurde in sumerischen Legenden erzählt. Die meisten Informationen stammen aus dem Gilgamesch-Epos, das bis in die zweite Hälfte des 3. Jt.s zurückreichen dürfte und damit die älteste schriftliche Dichtung ist. Die zwölf Tontafeln wurden 1853 von dem in Mossul geborenen Assyriologen Hormuzd Rassam gefunden und ihr in verschiedenen Sprachen abgefasster Text 1872 vom britischen Assyriologen George Smith übersetzt. Das Epos ist uns in assyrischen und babylonischen Versionen überliefert. Das Ende der Dynastie von Ur 1955 zog nur wenige Veränderungen im Bereich von Religion und Mythos nach sich. »[…] sumerische und babylonische Religion sind unlöslich ineinander verflochten und lassen sich nicht säuberlich trennen. Es mag sein, dass die Sumerer mehr den chthonischen Gottheiten geneigt, Babylonier und Schmökel 1961, 269 Assyrer stärker den astralen Gottheiten zugewandt waren; […].« Die mythischen Erzählungen Babyloniens spielen mit Schöpfung und mit Genealogien. Aus heutiger Sicht waren diese Erzählungen prägnanter als in Sumer, denn ein sumerischer Weltschöpfungsmythos ist bislang nicht bekannt. Wir erfahren nur, dass vor aller Zeit ein Ur-Chaos herrschte und dass Enlil, der Luftgott, die Trennung von Himmel und Erde durchführte. Himmel und Erde waren in der sumerischen Überlieferung in der Heiligen Hochzeit (hieros gamos) verschmolzen und wurden getrennt, indem sich Enlil, Lufthauch und Wind, dazwischendrängte. Im ba-

125

Alter Orient

bylonischen Mythos gab es eine robustere Trennung, indem Marduk den Körper der Tiamat gewaltsam spaltete. Das findet sich in den orphischen Mythen Griechenlands wieder, dann mit einer Sichel aus Eisen. Diese beherzte Trennung von Himmel und Erde ist Ausdruck der Emanzipation des Himmelsbereichs aus dem chthonischen. Mit dieser Trennung verlagerte sich das Ordnung-Schaffen vom chthonischen Vorgang des Naturzyklus auf einen Himmels- und Schöpfergott, der seine erschaffene Welt in einem Ordnungssystem halten muss. Schöpfung im Sinn einer Formgebung oder eines Gebärvorgangs umfasste stets auch das Schaffen und Sichern von Ordnung. Die Bewegung ist, wie im Folgenden an verschiedenen Stellen gezeigt wird, sowohl aus der Kunst als auch aus der Architektur ablesbar. Die Verschiebung der Bedeutung von Nippur nach Babylon war zugleich ein Aufstieg des babylonischen Stadtgottes Marduk zulasten Enlils. Als Hammurapi das Reich einte, residierte in Babylon als Stadt- und Reichsgott Marduk im Tempel Esagil (Haus, das das Haupt erhebt), der schließlich unter der Dynastie Hammurapis eine glänzende Karriere machte. In Marduk, ursprünglich die Morgensonne, verbanden sich ein Schöpfungsvorgang mit der Bewältigung des Chaos und Sicherung der Ordnung des Kosmos. Der Mythos um Marduk wird in der babylonischen Weltschöpfungserzählung Enuma Elisch in sieben Tontafeln geschildert. Wir kennen das Enuma Elisch aus Kopien, die zwischen dem 9. und 2. Jh. entstanden sind. Sie stammen aus Assur, Ninive, Sippur und Kisch. Das ursprüngliche Alter ist umstritten. Die Einschätzungen schwanken zwischen dem 19. und 14. Jh. oder noch später. Das Epos schildert die Entstehung von Menschen und Götter, den Aufstieg Marduks zum Götterkönig und dessen Sieg über das Chaos, eine Geschichte, die bei jedem Neujahrsfest gefeiert wurde. Im Weiteren wird von der Erschaffung des Menschen als Folge eines vorausgehenden Konflikts zwischen den Göttern erzählt. Auch das ist ein verbreitetes Thema in vielen Mythenerzählungen des Alten Orients. Die Menschen erscheinen als Konkurrenten der Götter, weshalb diese sie bekämpfen, beispielsweise durch eine große Flut. Das Motiv der großen Flut als Bestrafung der Menschen und Erneuerung der Welt taucht erstmals im Atramhasis-Mythos auf, dann wieder prominent im Enuma Elisch. Die einzigartige literarische Gestaltung des Themas bei den Sumerern inklusive einer würfelförmigen Arche für alle Tierarten dürfte in altbabylonischer Zeit entstanden sein. Die Göttergenealogie im Enuma Elisch beginnt mit dem aus dem Ur-Chaos emporsteigenden ersten Paar: Apsu (männliches Süßwasser, das auf der Erde schwimmt) und Tiamat (weibliches oder auch zweigeschlechtliches Meerwasser, auch Meeresungeheuer). Apsu und Tiamat sind Urpotenzen, die noch im griechischen Okeanos nachwirkten. Sie gebaren durch eine Heilige Hochzeit andere Götter, darunter den Himmelsgott Anu. Im Mythos erscheint das Chaos immer wieder als Stillstand und der Sieg der Götter als ein Sieg einer (ordnenden) Bewegung über diese Trägheit, ein Motiv, das im ägyptischen Ma’at-Stoff weiterlebte und in Platons Demiurgen-Mythos nachwirkte. Als sich die Erde mit Göttern bevölkerte, litt Apsu unter dem zunehmenden Lärm und beschloss, seine Kinder zu töten. Mircea Eliade deutete das als Widerhall

III.2.1.3.1.

Marduk

42 Siegel aus der Nippur- Zeit (um 2400a); IAM

2.2.2./III.2.4.3.2.5.

126

Frühe Hochkulturen

Eliade 1976, I, 75

Stolz 1970, 79 Vieyra Maurice in Grimal 1963, I, 89

2.3.1. von Soden 1985, 172

einer Sehnsucht nach Ruhe, als »Widerstand gegen jede Bewegung, der Vorbedingung der Kosmogonie.« Vielleicht könnte man spezifizieren, dass weniger Ruhe als vielmehr eine Ordnung im Prozess als Modus der Stabilität angestrebt wurde. Wenn man die späteren avancierten philosophischen Erzählungen aus ursprünglichen mythischen Substraten ableiten möchte, würden diese Geschichten einen Grund legen für die utopiegeladenen Erzählungen eines neuen stabilen Systems. Man könnte dann in der Tat von der Geburt der Metaphysik aus den Mythenerzählungen reden. Die Kinder Apsus kamen indes den Absichten ihres Vaters zuvor. Ea (sumerisch: Enki) tötete ihn. Marduk, ein weiterer Götterspross, errang schließlich in einem grausamen Kampf mit phantasievollen Waffen gegen Tiamat, die ihren Gatten rächen wollte und zunehmend negative Züge aus sich lud, durch Spaltung ihres Körpers in Himmelsgewölbe und Erde die Vorherrschaft. Marduk, der Reichsgott Babylons, war damit der Bezwinger des urzeitlichen Chaos und wurde zum Schöpfer von Gestirnen, Pflanzen, Tieren und der Menschen, die den Göttern ihre Mühsal abnahmen und ihnen ein angenehmes Dasein ermöglichten. Bei der Gründung von Babylon wurde dem König der Götter der Tempel Esagila gebaut – so schildert es die 6. Tafel. Naturgemäß gab es, wie im Mythos üblich, noch andere Erzählstränge, namentlich im erwähnten Atramhasis-Epos. Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen waren ein weites Thema und zeugten eine Reihe von Metaphern für die Verbindung von Himmel und Erde. Dazu gehörte die Vorstellung eines kosmischen Baumes, der wie ein Pfahl Himmel und Erde verbindet. Ischme-Dagan, der König von Isin, bezeichnete den Tempel von Lagasch als »Haus, großer Mast des Landes Sumer, mit Himmel und Erde zusammengewachsen, […].« Der Hintergrund ist für die Bedeutung der Zikkurat beachtenswert. Die Zikkurat von Nippur, dem Enlil geweiht, ist das Band zwischen Himmel und Erde. Nach 2000 führte die Vermischung von Akkadern und Kanaanäern mit den Sumerern zu neuen Kompositionen bei den Götterfiguren. Teilweise änderte sich ihre Funktion und es traten neue Gottheiten an ihre Seite, etwa Ajja, Taschmetu und Zarpanitu, die Gattinnen von Schamasch, Nabû und Marduk. Schamasch, der sich im Osten täglich erhob, fungierte als Sonnengott und Gott der Gerechtigkeit. Es kam in dieser Zeit im Sinne der Kulturtechnik des Polytheismus zu »Göttergleichsetzungen in großem Stil, durch die immer mehr Götter zu bloßen Hypostasen einer viel kleineren Zahl von Göttern reduziert wurden […].« Die Tendenz zu wenigen oder gar nur einem Gott, der zudem keinen Namen mehr trug, war unübersehbar. Eine interessante Figur in dieser Hinsicht war der Gott Nabû, der einer frühen henotheistischen Tendenz einen Namen gab. Nabû war Gottessohn (Sohn des Marduk) und vereinigte viele Rollen in sich: Schöpfer, Unterstützer der Armen, Heilbringer, er war Gott der Schreibkunst und der Weisheit, damit auch Gott der Künste. Solche Tendenzen zur Monopolstellung eines Gottes resultierten in der Regel aus einer verbreiteten Skepsis am geltenden Pantheon. Die Assyrer übernahmen das babylonische Pantheon weitgehend. Nur Marduk war – als Stadtgott Babylons – wenig willkommen. An seine Stelle trat Assur an

127

Alter Orient

der Seite von Ischtar. Er war lange ein persönlicher Gott und wurde nach der ersten Jahrtausendwende zum Staatsgott. Zum Unterschied zur bisherigen Götterlehre trat im assyrischen Bereich die sukzessive Aufhebung der Unterschiede zwischen den Gottheiten. »Jeder Gott ist ein barmherziger, aber gegen den Sünder strenger Vater, jede Göttin eine Mutter von der gleichen Art. Der Gedanke, daß sie einmal gegeneinanderstehen könnten, ist verschwunden […].« Auch hier drängt sich der Gedanke an einen unterschwellig sich formierenden Monotheismus auf, der freilich den Interessen der Priesterschaft zuwiderlief. Dazu kam ein nun auftretendes Sünden- und Vergebungsbewusstsein. Wie bereits gesagt, zeigten sich im Mythos etliche Erzählfiguren, die sich in der weiteren Kulturgeschichte immer wieder finden. Mythen spielen mit Ambivalenzen, jenen des Flüssigen und Festen, des Unveränderlichen und Veränderlichen, des Salzwassers und Süßwassers – ein besonderer Topos, weil in der Mythologie meist alles mit dem Flüssigen und Dynamischen anhebt, ehe es sich verfestigt. Aber natürlich auch mit Segens- und Fluchaspekt kosmischer Mächte, zuvorderst des Wassers. Einschlägige Darstellungen auf mesopotamischen Rollsiegeln finden ihren textlichen Niederschlag etwa in der Psalmenliteratur des Alten Testaments. Königsmythen vertiefen das Verhältnis von Königen und den Städten. Das Königsverständnis war stark religiös grundiert. Es gab ein »religiös begründetes verstärktes Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen aller Untertanen, besonders der sozial Schwachen.« Anders als in Ägypten wurde der König nicht automatisch mit einem Gott gleichgestellt. Aber es gab Fälle von Selbstvergöttlichung und kultischen Königsvergöttlichungen. Diese ergaben sich aus dem Vollzug der Heiligen Hochzeit, bei der der König als Stellvertreter eines Gottes agierte. Allerdings ist bei dieser komplexen Frage das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aus dem Alten Orient sind bislang keine Idealstadt-Entwürfe bekannt geworden, wie sie später in der europäischen Kultur gang und gäbe wurden. Sehr wohl gab es jedoch exakt geplante Stadtanlagen (Schaduppum, Haradum). Eine Tontafel mit dem Stadtplan von Nippur aus dem Jahre 1300a gilt als ältester Stadtplan der Geschichte.

1.2.2.1.2. Kunst und Architektur Im 19. Jh. erschienen erste beeindruckende Überblickswerke zur Kunst und Architektur des gesamten Alten Orients unter Einbeziehung Ägyptens und manchmal auch der umliegenden Gebiete. Solche Pionierarbeit leisteten etwa der Archäologe Georges Perrot zusammen mit dem Architekten Charles Chipiez oder der Ägyptologe Gaston Maspero. Ein besonderes Verdienst für die Dokumentationsarbeit kam damals den Zeichnern zu, welche die Gelehrten begleiteten. Ihnen verdanken wir Kenntnisse über das Aussehen von Gebäuden, die inzwischen verschwunden oder weiter verfallen sind. Mit diesen Pionieren begann die systematische Erforschung einer Gegend, die bisher mehr oder weniger nur aus den biblischen Schriften bekannt war. Zuerst grub man assyrische, dann babylonische Städte aus. Am längsten dauer-

von Soden Wolfram in PWG II, 73

von Soden 1985, 60

VI.4.2.6.

128

Frühe Hochkulturen

Parrot 1983, 75 Edzard Dietz Otto in Hrouda 1991, 58

Ziegel

Woolley 1961, 42

von Soden 1984, 107

te die Entdeckung Sumers. Die Zwischenkriegszeit im 20. Jh., häufig als »Goldenes Zeitalter« der Archäologie des Alten Orients bezeichnet, bot den Ausgräbern gute Arbeitsbedingungen, während in jüngster Zeit Kriege und politische Umbrüche die Tätigkeiten weitgehend zum Erliegen brachten. Es gibt eine angeregte Diskussion unter Historikern und Kunsthistorikern, wie die Zeugnisse der vielfältigen Kulturen des beschriebenen Gebietes zu gruppieren sind. Eine verbreitete Meinung spricht mit Blick auf die Kunst von einer sumerisch-akkadischen und einer babylonisch-assyrischen Kunst und Architektur. Dieses grobe Schema gilt heute für eine detaillierte kunsthistorische Darstellung nicht mehr als ausreichend, für unser Interesse ist es dennoch praktikabel. André Parrot, Ausgräber in Mesopotamien und späterer Direktor des Louvre, dessen getrennte Beiträge zu Sumer und Akkad für die Reihe Universum der Kunst in der vierten Auflage unter dem Titel Sumer und Akkad vereinigt wurden, schlägt aus diesen Gründen eine geographische Bezeichnung vor und spricht von »mesopotamischer Kunst«. Denn es darf gelten: »Sumerer und Akkader sind miteinander eine Kultursymbiose eingegangen, die sich in der Geschichte des Altertums kaum noch einmal in solcher Intensität nachweisen läßt.« Kunst und Architektur des Zweistromlandes standen vor besonderen Herausforderungen. Es musste der Mangel an Holz ebenso kompensiert werden wie jener von Stein und – etwa ab dem Anfang des 3. Jt.s – von Metallen. Für Dächer, Tore und Verstrebungen aller Art waren Bauhölzer notwendig: Zypresse, Zeder, Buchsbaum wurden aus Syrien importiert. Der Fürst von Lagasch, Gudea, fand es Wert, in seiner Baubeschreibung die mühsame Beschaffung der Baumaterialien ausführlich zu erwähnen. Stein wurde mehr als für die Architektur für die skulpturale Kunst benötigt und musste ebenso von weit her (Iran, Oman, Syrien) geholt werden. Alternativen waren die Vorkommen des weichen und zerbrechlichen Kalksteins und des harten Diorits. Angesichts der großen Menge an Sakral- und Profanbauten wurde in der Architektur parallel zu den weit zurückreichenden Steinbauten das bevorzugte Material der Ziegel. Zu den ältesten Ziegelbauwerken dürfte das von Robert Braidwood untersuchte Dorf Mlefaat im Ostirak gehören, das um 9000 errichtet wurde. Man baute lange mit ungebrannten, ab der Akkad-Zeit mehr und mehr mit gebrannten Lehmziegeln. Die ältesten der achtzehn bei Eridu ausgegrabenen Tempel aus der Obed-Zeit bestanden aus rohen Lehmziegeln. Letzten Endes verdanken wir der Architektur Mesopotamiens die Erfindung der Grundformen des Bauens: Säulen, Bogen, Gewölbe, Kuppel. Die Art des Baustoffs bedingt aber, dass wir die Ursprünge der Architektur buchstäblich »im Schlamm und im Schilf des mesopotamischen Deltas« suchen müssen. In Uruk wurden um das Jahr 3000 Millionen von Riemchenziegeln im Format 18/8/8 cm verbaut. Daneben kennen wir Großziegel mit einem Format von 33/33/10 cm, mit denen Nebukadnezar II. im Babylon des 6. Jh.s baute. Als weiteres Material diente Schilf zum Bau einfacher für Hütten, zur Armierung bei Lehmbauten und als Putzträger.

129

Alter Orient

Es gab in Mesopotamien einen Ziegelgott (Kulla) und einen Gott des Grundrisses, des Fundaments und der kultischen Reinigung des Baus (Muschdama). Ihnen wurde in eigenen Bauritualen gehuldigt. Der Akt des Bauens war selbst ein Ritual und erforderte die Einhaltung kultischer Vorschriften. Man vergrub etwa an den Ecken und unter den Türschwellen Statuetten als apotropäische Sicherung. Hier wirkte das Gründungsopfer nach, das nun unblutig und abstrakt durchgeführt wurde. Es wird aber auch von Bauopfern berichtet, bei denen Menschen geopfert wurden, um böse Geister zu besänftigen (3 Kg 16, 34). In all dem spiegelt sich die Stellung von Bauherren und Architekten, über deren Arbeitsweise wir nur spärliche Nachrichten besitzen, am ehesten noch aus der Ur IIIZeit. Die eigentlichen Architekten und Baumeister bleiben hinter dem königlichen Bauherren unsichtbar. Denn das Bauen galt als vornehmste Aufgabe des Königs. Er ließ sich bisweilen nicht nur als Bauherr, sondern auch als einfacher Ziegelträger stilisieren. »Tempel und Paläste sollen über ihren funktionalen Wert hinaus von Geist, Macht und Reichtum des königlichen Bauherrn und Baumeisters zeugen.« Es sind uns Tafeln mit eingeritzten Grundrissen und Aufzeichnungen über den Typ eines Baus und seine topographischen Besonderheiten erhalten. Eine besondere Literaturgattung sind die Lobeshymnen auf Bauwerke. In ihnen wird deutlich, wie sehr Städtegründungen in Mesopotamien als ein Werk der Götter verstanden wurden. Sie gewährten dieser Stadt ihren Schutz. Wenn sich die Gottheiten von der Stadt abwandten, bedeutete das ihren Untergang, wie uns eindrucksvoll die Fluchgeschichte von Akkad schildert, die den Untergang der Stadt beklagt als sich die Göttin Inanna von ihr abwandte. Populär geworden sind die Inschriften auf den Statuen und Tonzylindern Gudeas, des Stadtfürsten von Lagasch. Nach ihnen erhielt er den Auftrag für den Bau des Tempels vom Stadtgott Ningirsu selbst. Gudea wird als Bauherr mit Plan und mit Tragkorb auf dem Kopf dargestellt. Der Korbträger war in Mesopotamien ein verbreitetes Motiv, das viele Herrscher für die Ikonographie benützten. Bereits 400 Jahre früher wurde der König von Lagasch, Urnansche, in dieser Weise dargestellt. Die beabsichtigte Botschaft war: Der König selbst habe Hand angelegt und die nieder­ ste Tätigkeit ausgeführt, das Tragen von Baumaterialien in Körben. Zudem soll diese Ikonographie die kulturelle Überlegenheit des vom König geleiteten Staates dokumentieren. Eine ähnliche Darstellung wie bei Gudea gibt es auf einer großen Reliefstele von Urnammu, dem König von Ur, aus der gleichen Zeit. Auch in Assyrien taucht das Motiv auf. Bei Assurbanipal könnte es sich um ein ausdrückliches Propagandabild gehandelt haben, um sich als legitimer Herrscher Babyloniens darzustellen. Die Absicht scheint allerdings misslungen zu sein. Der König legte aber auch den Grundriss mit Ziegeln aus und führte andere Baumeisterarbeiten durch.

Seidl 2012, 29

43 Gudea mit Plan und Inschrift über den Bau des Ningirsu-Tempels, Diorit (2080a); LP 1.2.4. Korbträger

1.2.4. Porter 2003, 47–58

130

Frühe Hochkulturen

Nunn 2012, 70 Lang 2016, 26

Grundform des Tempels

Oberhuber 1972, 258

In der Architektur experimentierte man bald mit Bogen- und (Tonnen)Gewölbekonstruktionen, die man zuerst in Grabkammern und Tempeln anwandte, ab der Larsa-Zeit auch bei Privathäusern. Standen bis ins 2. Jt. bei Neugründungen noch die Tempelanlagen im Vordergrund, waren es im 1. Jt. eher Paläste. Diese Palastanlagen bildeten eine (bisweilen eigens befestigte) Stadt in der Stadt. In dieser Architektur spiegelt sich besonders deutlich die soziale Hierarchisierung. Die Eliten setzten sich durch Großbauten vom restlichen Volk ab. Zudem bildete sich eine eigene Ikonographie aus: der Typus des bärtigen, nackten oder mit einem Netzrock bekleideten Mannes, der für die Herrschergestalt eines von Beamten umgebenen En gestanden haben dürfte. Ob er Inhaber eines noch ungetrennten sakralen und politischen Regierungsamtes, Oberpriester, Priester-König oder »Priesterherr« war, wird in der neueren Literatur wieder bezweifelt. Manchmal wird er im Kampf gegen wilde Tiere oder Feinde gezeigt, aber auch bei Triumph- und Kultszenen. Die ältesten, meist normierten Königsdarstellungen stammen aus der Uruk-Zeit. Die Hierarchisierung der Gesellschaft war ebenso wie die sie begleitende Architektur und Kunst eine Angelegenheit der Stadt. Die ältesten Beispiele der urbanen Revolution sind Ur, Uruk und Eridu. Eridu ist eine der ältesten Städte Mesopotamiens. Sie geht als Siedlung bis ins 6. Jt. zurück. In Mythen wird sie mit dem Beginn der Geschichte verbunden. Der Tempel in Eridu für den sumerischen Wassergott Enki bestand aus achtzehn in Schichten übereinander liegenden Heiligtümern. Sie gehören zu den ältesten Tempelbauten der Geschichte. An ihnen lässt sich die Entwicklung des Sakralbaus als rechteckiger Bau, der einer ordnenden Symmetrie folgt, gut demonstrieren. Es scheint, als bildete sich gleich am Anfang, d.h. beim Übergang in die historische Zeit, die Grundform des Tempels aus: Eingangsbereich, Langcella mit Nebenräumen, Sanktuarium. Bis heute gehorchen Sakralbauten einer solchen Ordnung. Die Außenfassade wurde mit Pfeilern und Nischen strukturiert. Im Inneren standen Altar und Opfertisch. Solche Nischenmuster fanden Eingang in die Architektur der Mastabas (Grabhügel) sowie der Umfassungsmauer um den Pyramidenbereich in Sakkara in Ägypten. Diese Grundform war der Kern von regelrechten Tempelstädten, die als Wirtschaftsbetriebe fungierten. Die hierarchische Gliederung von Hof, Vor-Cella, Cella ist häufig analog zu der späteren Anordnung in den Palästen, wo der Thronsaal das pseudosakrale Zentrum darstellte. Eines der großartigsten und neben Eridu frühesten Bauensembles des Alten Orients und damit der Welt war das oben bereits ausführlich erwähnte Uruk. Die Ruinen von Uruk haben heute ein Ausmaß von nicht weniger als 550 ha. Uruk hatte die »reifsten Sakralbauanlagen der Epoche unmittelbar vor den ersten Schriftzeugnissen.« Zum Bauensemble zählen der aus Kalkstein errichtete und dem Tempel in Eridu ähnliche Weiße Tempel und der oben erwähnten zwölf Meter hohen Anu-Tempel mit einer Zikkurat für den Himmelsgott An sowie der Tempelbezirk Eanna (Haus des Himmels) zur Verehrung der Stadtgöttin Inanna. Diese zwei Zentren der Stadtgottheiten prägten das Bild der Stadt. Dazu kamen eine Reihe weiterer Gebäude, die aus den verschiedenen Schichten schwierig zu rekonstruieren sind und aus der

131

Alter Orient

Mitte des 4. Jt.s stammen. Darunter der aus später Uruk-Zeit stammende komplexe Tempel D, mit einer Fläche von 50 x 80 Metern das größte Gebäude der Uruk-Zeit. Im Mittelschiff (mit Narthex, Längsschiff und Querschiff mit Apsis) maß er 62 m Länge auf 11,30 m Breite und wies eine besonders ausgeprägte Fassadengliederung auf. Man fand in ihm eine Fülle von Kunstwerken. Ein an den Außenwänden besonders stark gegliederter Bau war der Tempel E, auch Empfangssaal genannt, ein rechteckiger Bau mit einer Kantenlänge von 50 Metern, der ein »Querschiff« besaß. Neben der späteren, aus der Ur III-Zeit stammenden Zikkurat stand ein 70 m langer Tempel, der möglicherweise komplett (oder aber nur die Grundmauern) aus Kalkstein bestand. Die Tempel hatten langgestreckte rechteckige Säle (Mittelsaalhaus), die von teils unregelmäßigen, agglutinierenden Raumtrakten umgeben waren. In der Regel folgten auf einen Toreingang ein Hof (mit Wasserquelle), Vor-Cella und (fensterlose) Cella. Die Tempel in Uruk hatten teilweise erhöhte Mittelschiffe, eine Anordnung, die man als eine frühe basilikale Form ansehen kann. Zu den begleitenden Fragen nach der Funktion der einzelnen Gebäude, insbesondere ihre sakrale oder profane Nutzung (als Palastbauten oder Verwaltungsanlagen), ist die Forschung noch im Gange. Bei der Beschreibung des Mittelsaalhauses setzt sich heute die Meinung durch, es habe sich nicht ausschließlich um einen Tempel, sondern um ein religiöses und politisches Multifunktionshaus gehandelt. Der Tempel gewann in frühdynastischer Zeit demnach eine generelle Struktur, die sich über Jahrhunderte hinweg kaum mehr veränderte. Allerdings gab es innerhalb dieser Struktur verschiedene Typen, die Architekturhistorikerinnen nach ihren Grundrissen unterscheiden. Die Tempel waren innen weitgehend schmucklos. Sie beinhalteten aber Kultgegenstände und Votivgaben. Die Dekoration im Außenbereich war reicher, reduzierte sich im Lauf der Geschichte jedoch auf die Eingangsbereiche. Hingegen versuchte man anscheinend, den massigen Mauerfluchten durch die bereits erwähnten Nischen und Pfeiler eine Struktur zu geben. »Man versuchte die Gleichförmigkeit einer Architektur, deren einziges Baumaterial eintönig graue, ungebrannte Lehmziegel waren, durch eine Gliederung zu beleben, die Licht und Schatten spielen ließ, und dank dieser Kontraste wurden die Fassaden lebendiger und anziehender.« Man übernahm dabei (sowohl beim Tempel als auch beim Palast) die Formen, wie sie auch die Stadtmauer bestimmten. Prägnantestes Beispiel dafür ist der erwähnte Tempel D von Uruk, wie überhaupt eine solche Fassadenbehandlung weitgehend nur bei Tempeln, nicht bei Palästen, angewandt wurde. In Uruk tauchte zudem das Stiftmosaik auf, das als Erfindung der Sumerer gilt. Kegelförmige Tonstifte wurden in den Lehmverputz gepresst, wobei nur die farbigen (oft glasierten) Schnittflächen von außen sichtbar blieben. Die Glasurtechnik kannte man ab etwa der Mitte des 6. Jt.s. Vermutlich aus Kostengründen klebte man nachfolgend Terrakotta-Figuren auf den Putz und füllte die Zwischenräume mit dem Stiftmosaik aus, was zur Entwicklung des Frieses führte. Später wurde die Dekoration großer Flächen durch die Erfindung der Glasurtechnik von Ziegeln möglich.

Nunn 2012, 103

Parrot 1983, 107

132

Frühe Hochkulturen

Palast

Heinrich/Seidl 1982

Parrot 1983, 129

Parrot 1983, 117

Wie in Ägypten war der Tempel bei den Sumerern ein Verwaltungszentrum. Zu ihm gehörten auch die Besitzrechte am Grundstück – meist auch jener Fläche, auf der die Stadt stand. Bis um 1500a war jeder private Besitz obsolet. Es gab eine Art kommunistischer Tempelwirtschaft. Man hatte im Tempel alles abzuliefern, denn die wahre Eigentümerin war die Gottheit. Vor allem in der späteren Achämenidenzeit waren die Tempel gigantische Betriebe, die vielen Menschen Arbeit verschafften. Die Tempel waren aber auch die Speicher der kulturellen Erinnerung. In den riesigen Archiven (Verwaltungs-, Wirtschaft- und Rechtstexte) und Bibliotheken (Literatur, Wissenschaft, Religion) gab es für die Tontafeln wohl überlegte Aufbewahrungs- und Ordnungssysteme. Die Trennung von Priester- und Königsmacht spiegelte sich architektonisch darin, dass der Tempel eine Umfassungsmauer erhielt, die ihn von der Alltagswelt abtrennte. Im Verhältnis von Palast und Tempel lag nur in kurzen Perioden das Schwergewicht auf dem Tempel. Meist wurde für den Palast ein größerer Aufwand betrieben. Der aus ungebrannten Lehmziegeln gebaute Palast war ein multifunktionales Zentrum, politischer Brennpunkt, Verwaltungs-, aber auch Produktionsstandort. Er besaß öffentliche, sakrale und private Bereiche und war luxuriös ausgestattet. Die Repräsentationsräume entsprachen durchaus denen des Tempels. Einer der berühmtesten ist der Alte Palast in Assur, vielleicht aus der Akkadzeit. Um einen zentralen, durch einen Eingangsbereich erreichbaren Hof verteilten sich die Räume. Auch bei den Palastbauten wird – ähnlich wie bei den Tempeln – in der Fachliteratur um eine Typologie gerungen. Neben den großartigen Zeugnissen der mesopotamischen Architektur der Uruk-Gaura Zeit verblasst die Bildkunst. Für die Malereien trifft das ganz wörtlich zu. Sie ist die empfindlichste Kunst und die Sicherung bei Ausgrabungen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Forscher. Mit anderen Werken der Flachkunst, Reliefs und Glasuren, ist es besser bestellt. Am meisten erhalten ist – abgesehen von der Glyptik – von der figuralen Kunst. Nach einer verbreiteten Meinung entstand das Rundbild in der Uruk-Zeit. Dieses Kapitel der Kunstgeschichte begann gleich unvermittelt mit einem Meisterwerk, einem Marmor-Frauenkopf (Anfang des 3. Jt.s) aus Uruk. Wir wissen nicht, wer hier dargestellt ist, ob eine bestimmte Frau, eine Göttin oder »die Frau als solche, geheimnisvoll, sinnend über sich selbst und ihre Macht.« Dieser Kopf eröffnet zugleich die plastische Menschendarstellung. Abgebildet wurden Priesterkönige. Man datiert die meisten Funde auf die späte Uruk-Zeit. André Parrot weist auf die Vorlage sumerischer Heraldik, namentlich von Tierdarstellungen auf Rollsiegeln und Gefäßfriesen, für den romanischen Kapitellschmuck hin. Die dominierende Ausstrahlung Uruks endete um 3000. Die Gründe hierfür sind nicht klar, möglicherweise war eine Katastrophe, etwa ein Dammbruch ohne oder mit Feindeinwirkung, die Ursache.

133

Alter Orient

1.2.2.2. Frühdynastische Zeit Nach dem Zusammenbruch der Uruk-Kultur wuchs das südliche Mesopotamien in großer Eigenständigkeit. Man nennt den Zeitraum zwischen 2900 und 2350 die frühdynastische Zeit. Ob es eine lückenlose dynastische Abfolge der Herrschaft gab, ist unklar und nur in einzelnen Fällen belegt. Die in mehrere Unterabschnitte gegliederte Zeit spielt in zahlreichen Stadtstaaten: Kisch, Nippur, Umma, Lagasch, Girsu, Uruk, Ur, Eridu, Mari. Vermutlich handelte es sich um relativ unabhängige Stadtstaaten, die jeweils eigene Palastanlagen besaßen. Die Zeit brachte die ersten über reine Verwaltungstexte hinausgehenden Text­ sorten, darunter Königsinschriften sowie Hymnen auf Götter und Bauwerke. Bemerkenswert sind Texte, die auf Konflikte zwischen sakraler und weltlicher Macht schließen lassen. An Architekturbeispielen ist aus frühdynastischer Zeit nicht allzu viel erhalten geblieben. In el-Obed wurde um 2500 ein Tempel aus Lehmziegeln auf einer Plattform aus gebrannten Ziegeln erbaut. Die Stufen bestanden aus Kalkstein und die Innenwände waren mit Holz vertäfelt. Löwenfiguren bewachten die Tore. Sollte ein Schluss von diesem Bauwerk auf andere der Zeit zulässig sein, kann man von einer reich geschmückten und farbenfrohen Tempelbauweise sprechen. Das Kunsthandwerk ist besser dokumentiert und war hoch entwickelt. Das reichte von der Gefäßbemalung mit Tier- und Menschenfiguren bis zur Metallkunst. Die berückendsten Beispiele zu diesem Genre stammen aus den reich ausgestatteten sogenannten Königsgräbern von Ur. Der Reichtum der Stadt Ur resultierte aus der idealen geostrategischen Lage an einem Kanal des Euphrat und in der Nähe des Persischen Golfs. Ur besaß zwei Häfen und war ein wichtiger Umschlagplatz von Gütern. Trotz umfangreicher Forschungsarbeit ist noch immer unklar, ob es sich tatsächlich um Gräber von Königen handelt. Besonders die große Zahl von geopferten Menschen haben andere Spekulationen ausgelöst: Fruchtbarkeitskult oder Gründungsopfer. Was der Ausgräber Leonard Woolley in diesen Gräbern fand, wirft ein eindrucksvolles Schlaglicht auf die Goldschmiedekunst der Sumerer, die mit Gold und Silber, Elektron (Legierung aus Gold und Silber mit geringem Kupferanteil), Lapislazuli, Karneol, Muschelschalen und Edelsteinen arbeiteten. Angewandt wurde diese Kunst zum Beispiel für Standarten, Holzkästen mit aufwendigen Malereien und Einlegearbeiten versehen und mit großem narrativem Potential. Sie liefern uns eine Menge kulturhistorischer Information. Manche Wendungen der Kunst deuten »eine Überhöhung des Königtums an, die in der weiteren Entwicklung zur Vergöttlichung des Herrschers führte.« Die Gestaltungsambition ging bis zu einer manieristischen Attitüde. André Parrot fasste die kulturelle Leistung dieser ersten Zeit einer Hochkultur so zusammen: »Keine Kultur der Welt hat in der Mitte des dritten Jahrtausends so viel Luxus in Verbindung mit solcher künstlerischen Vollendung aufzuweisen.« Vom Flachbild aus frühdynastischer Zeit sind nur bescheidene Reste von Malereien erhalten, aber eine große Zahl von Reliefs. Diese zeigen Kultszenen, darunter Symposiumsdarstellungen als Dokumentation von Kultfesten und Kultmählern,

Orthmann 1975, 28 Parrot 1960, 158f

134

Frühe Hochkulturen

Giedion 1964, 61–68 Geierstele

2.1.2.

Woolley 1961, 63

Winter 1985, 20

IV.6.2.3. 44 Votiv-Stele aus dem Ningirsu-Tempel; IAM

Lang 2016, 29f Selz 2005 Kaelin 2006, 132f ­Beterstatuen

sowie Tierkampfszenen. In ihnen tauchen auch Mischwesen aus Stier und Mensch auf. Sigfried Giedion sah darin einen Niederschlag prähistorischer Kunst, der sich bis in assyrische Zeit nachweisen lässt. Ein erster Höhepunkt der sumerischen Reliefkunst ist die um 2470 entstandene Geierstele aus Kalkstein (nach abgebildeten Geiern), ein Fragment mit der Inschrift des sumerischen Königs Eannatum von Lagasch. Die schlecht erhaltene Stele stellt den Konflikt zwischen den Nachbarstädten Umma und Lagasch dar und dokumentiert erstmals in Wort und Bild ein historisches Ereignis. Die Vorderseite trägt die religiöse Botschaft. Als wichtiges Motiv sticht jenes der Abwehr der Feinde durch den Stadtgott von Lagasch, Ningirsu, die hier nicht wie in Ägypten am Schopf gepackt werden, sondern in einem Netz gefangen sind, ins Auge. Die Rückseite schildert in profaner Bildwelt die Ereignisse. Eannatum führt eine Phalanx an und schreitet über die gefallenen Feinde. In der künstlerischen Erzählung setzt der König mit seinem Sieg über die sumerische Rivalin Umma den Willen der Götter um. Mehr noch: Gottheiten mischen sich in das Kriegsgeschäft ein und beteiligen sich am Kampf. »Die Arbeit hat unverkennbar symbolischen Charakter und kann als frühestes Zeugnis einer ›Denkmals‹-Kunst Mesopotamiens betrachtet werden.« Sie ist, jedenfalls was die Rückseite betrifft, ein ideales Beispiel für eine Bilderzählung (pictorial narrative) im Alten Orient. Ob man auf den beiden Seiten zwei verschiedene Bild-Formate ausmachen will, ein erzählendes auf der Rückseite und ein ikonisches auf der Vorderseite, mag nicht sofort ins Auge stechen. »When we come to describe how that content is presented, it becomes evident that different pictorial modes have been selected to represent the two realms: what we have called the ›iconic‹, on the one hand, and the ›narrative‹, on the other.« Folgt man der Überlegung der Kunsthistorikerin Irene Winter, dann läge hier ein frühes Beispiel vor, wie zwei verschiedene »Textsorten« zu einer Botschaft beitragen. Ich werde eine solche Symbiose am Beispiel ikonischer und narrativer Bildregister in der Spätantike ausführlicher darstellen. Die Stele ist zudem einer der eindrücklichsten, in Ikonographie und Text übereinstimmenden Belege der göttlichen Abstammung des Königs. Eannatum wurde gezeugt vom Staatsgott Ningirsu und geboren von der Muttergöttin von Lagasch. Die Idee dieser göttlichen Herrschaftslegitimation wurde vermutlich aus Ägypten bezogen: »[…] ein Bild, das als Prestigesprung gegenüber dem früheren König und Bauherrn für die Götter betrachtet werden kann.« Zudem gilt sie als eine der ersten Dokumentationen des Streitwagens. Im figuralen Bereich stammen aus frühdynastischer Zeit die sogenannten »­B eterstatuen«, kleine Figuren (mit maximal gut 70 cm Höhe) mit monumentalem Gestus. Dargestellt sind Männer und Frauen mit wie zum Gebet verschränkten Händen. Es handelt sich um Weihegaben hochgestellter Persönlichkeiten, die

135

Alter Orient

im Tempel aufgestellt wurden. Allerdings ist unklar, ob die Handhaltung überhaupt einer Gebetshaltung im Alten Orient entsprach, die vielfältig waren, und ob hier Gottheiten oder Könige und Königinnen abgebildet sind. Oskar Kaelin verweist auf Vorbilder in Ägypten. Auffällig dabei sind die großen mit Perlmutt, Lapislazuli oder Bitumen eingelegten Augen. Ihre Deutung hat ein großes Echo in der Forschung ausgelöst. André Parrot will in den starren Körpern und großen Augen jene Angst ausgedrückt sehen, »die die Religionswissenschaftler als das Schaudern des Menschen vor dem Numinosen bezeichnen.« Leonard Woolley wiederum sah in ihnen ähnlich wie Henri Frankfort den Ausdruck einer besonderen Hingabe an Gott. Othmar Keel wies demgegenüber darauf hin, dass Religion im Alten Orient nicht, wie von uns gerne projiziert, mit der Sehnsucht nach dem Heiligen begann, sondern mit dem Erscheinen des Göttlichen und dessen Schau. Von da her erklärt Keel die großen Augen als Ausdruck des Wunsches, dass »ihnen nichts von der Herrlichkeit Gottes entginge […].« Eine andere spontane Form des Erlebens von Heiligem war die Proskynese. Das Sich-zu-Füßen-Werfen war eine ritualisierte Form der Unterwerfung, die bis in unsere Tage eine wichtige Rolle in höfischem und kirchlichem Zeremoniell spielt. Sie war das bei den Medern und Persern übliche Ritual bei der Begegnung mit dem König, ein Unterwerfungsgestus, den die Griechen stets ablehnten. Otmar Keel sieht die Wurzeln der Proskynese im Schrecken. »Vor dem übermächtigen Erlebnis des Heiligen flieht der Mensch in den Tod. Das Niederfallen entspricht, so betrachtet, dem aus der Verhaltensforschung bekannten Totstellreflex.« In der Tat liefert die Bibel dazu das Material: »Kein Mensch kann Gott schauen und am Leben bleiben.« Die altorientalische Bildmagie spielte noch eine große Rolle im mittelalterlichen Bilderstreit. Als Grußformel wird die Proskynese zu einem rite de passage und markiert den Übergang vom Profanen zum Heiligen, zu welchem Bereich auch der König gehört. Die wörtliche Übertragung von Proskynesis ist: die Hand an den Mund legen, als Geste des Grußes. Abbildungen aus Persepolis zeigen Besucher vor dem König der Perser, die ihm eine Kusshand offerieren. Einen ganz anderen Eindruck hinterlassen madonnenähnliche weibliche Figuren aus Mari, die ein entspanntes, furchtloses Lächeln tragen. Eine der anmutigsten Figuren ist die »Große Sängerin« von Mari (1. Hälfte 3. Jt.), in der man religiöse Bezüge oder solche eines hoch entwickelten höfischen Lebens erkennen könnte. Unversehens ist man erinnert an die schönen Madonnen der ausgehenden Gotik, die ebenfalls ein Produkt des höfischen Lebens darstellten. Statuen im Auftrag von Stiftern hatten stets ein Abbild des Stifters zu sein, das so gefasst wurde, wie dieser gerne dem Gott im Tempel gegenüber träte. Der Körper – mit Ausnahme des realistisch bleibenden Gesichts – wurde in der Regel hie-

45 Beterstatuen (um 2700–2600); OIC Oberhuber1972, 63f

Kaelin 2006, 106–125

Parrot 1960, 106 Woolley 1961, 53 Frankfort 1954, 49

Keel 1972, 287 Proskynese

Ebd., 289 Ex 33,22; Dt 4,33 IV.8.3.

V.8.1.

136

Frühe Hochkulturen

ratisch ohne jede Emotion und ohne einen Bezug zum Raum dargestellt. Es gab bei den Abbildungen eine »kanonische« Haltung, in denen die Menschen, die ihre Souveränität nicht verloren haben, in Profil- und Frontalansicht (Kopf und Unterkörper im Profil, Oberkörper frontal) zugleich dargestellt wurden.

1.2.3. Akkad-Zeit

Frankfort 1954, 84

Sargon

Bermant/Weitzman 1979

Den Sumerern folgten wohl (nach einem spektakulären Tontafelfund in der Nähe von Aleppo) ab dem Beginn des 3. Jt.s Semiten (abgeleitet von Sem, einem der Söhne Noahs), die vermutlich aus Nordafrika nach Mesopotamien gekommen waren. Die klimatischen Bedingungen für solche großräumigen Wanderbewegungen, die man um das 5. Jt. ansetzt, waren damals gerade noch ausreichend. Die Sprache der Semiten war das flektierende Akkadisch, die älteste bislang belegte semitische Sprache, die dem Hebräischen und Arabischen verwandt, vom Sumerischen aber völlig verschieden ist. Das Sumerische verschwand mehr und mehr (allerdings behielten die Akkader viele Lehnwörter und die sumerische Keilschrift). Als Sprache für liturgische Zwecke hatte es bis in die nachchristliche Zeit Bestand. Funde in den vergangenen Jahrzehnten brachten mehrere semitische Texte ans Licht, die in dem Akkadischen verwandten Sprachen (Eblaitisch, Amurritisch) – teils vielleicht Dialekte des Akkadischen – abgefasst sind. Die Akkad-Zeit (2320–2170) wurde nach der Gründung der neuen Hauptstadt Akkad durch einen Semiten, der den letzten König von Kisch absetzte und den Thron bestieg, eingeleitet. Sie gilt – nicht unumstritten – als eine erste Herrschaft eines Zentrums über ein größeres Gebiet und als Glanzzeit in der Geschichte des Alten Orients mit einer großen Entwicklung auch im künstlerischen Bereich. In der Fachliteratur wird mit großem Konsens von einem ersten Territorialstaat gesprochen. Henri Frankfort meinte, dass wie bei anderen Semiten (Juden, Aramäern, Arabern) »the bond of blood, of family, clan, or tribe, has always been stronger than all others.« Loyalität zum König habe demnach die Loyalität zum Stadtstaat abgelöst. Das schlug sich auch in der Kunst nieder. Die Bildkunst bediente die Verherrlichung des Königs. Es handelte sich hier vor allem um Hofkunst durch die an den Hof gebundenen Bildhauer. Der nach der hebräischen Form Sargon (eigentlich Scharrukin) genannte sagenumwobene erste König von Akkad (dem später in Assyrien ein anderer Sargon folgte) begann um 2340 seine Regierung und war stark genug, um die Unabhängigkeit der umliegenden Stadtstaaten zu beenden. Sargon war eine so einschneidende historische Markierung, dass André Parrot für die vordynastische Zeit den Ausdruck vorsargonisch bevorzugt. Sargon eroberte unter anderem das (erst zwischen den Weltkriegen entdeckte) Ebla und zerstörte einen der größten Königspaläste der damaligen Zeit. Die riesige Anlage war eine ganze Stadt und beherbergte ein großes Archiv, von dem man über 20 000 Tontafeln (in der bislang unbekannten Sprache Eblaitisch) ausgrub. Der Palast war zudem ausgestattet mit Bildern, Skulpturen und Erzeugnissen der Kleinkunst, darunter erste Elfenbeinschnitzereien, ein Genre, in dem es die assyrischen

137

Alter Orient

Künstler zu großer Meisterschaft brachten. Ebla war im Alten Orient eine wichtige kulturelle Kontaktzone. Möglicherweise ging der Herrschaft der Akkader der Versuch des frühdynastischen sumerischen (der Abstammung nach vielleicht sogar selbst Akkader) Königs Lugalzaggesi in Uruk voraus, mit einigen Eroberungen über seinen Stadtstaat hinaus ein Reich zu beanspruchen. Erstmals tauchte als einer seiner Königstitel »Hirt des Volkes« auf. Sargon ließ ihn hinrichten. Sargon selbst scheint – um seine nomadische Herkunft zu verschleiern – die Legende in Umlauf gebracht zu haben, er sei der Flut ausgesetzt und in göttlicher Bestimmung errettet worden. Sie wurde als Moses-Legende weiter gereicht. Sargon machte Akkad zu seiner Hauptstadt. Die genaue geographische Lage der in der Nähe von Babylon gelegenen Stadt ist in Vergessenheit geraten und noch heute unklar. Damit wissen wir auch nichts über mögliche Königsgräber. Es kann gut sein, dass eines der Anliegen Sargons der kulturelle Ausgleich verschiedener Kulturzentren, namentlich verschiedener Stadtgötter, war. Sargons Tochter Enheduana, von ihm als Priesterin des (sumerischen!) Mondgottes Nanna in Ur installiert, sammelte und dichtete selbst Lieder auf semitische Gottheiten, welche Konflikte zwischen dem sumerischen Stadtgott von Ur, Nanna, und der Göttin von Akkad, Inanna, auflösen sollten. Wir haben hier ein schönes Beispiel kultureller Übersetzungsarbeit vor uns. Schon unmittelbar vor Sargon wurde viel gebaut, erstmals (für ausgewählte Bereiche) mit gebrannten Ziegeln. In Obed und Chafadschi entstanden Terrassentempel als Vorläufer der Zikkurat. Letztere erinnern an die 400 Jahre vorher entstandenen Stufenpyramiden in Ägypten. In Mari wurden zahlreiche Tempel ausgegraben, intimer als jene in Uruk, eher Wohnhäuser der Göttinnen als Versammlungsraum von Gläubigen. Paläste vor Sargon sind mit Ausnahme des großen Palastes von Mari kaum bekannt. Dieser blieb relativ gut erhalten. Er reicht auf die Zeit um 2500 zurück und wies zuletzt vor der Zerstörung durch Hammurapi 1759 ein Ausmaß von 130 x 180 m auf. Er war mit Malereien al secco ausgestattet. Die Wandmalerei reicht bis ins 3. Jt. zurück. Die Nachfolger Sargons bauten das Herrschaftsgebiet aus und der Anspruch der Dynastie schlug sich in einer Repräsentationskunst nieder. Im Enlil-Tempel in Nippur stand eine Reihe von Statuen der Könige von Akkad. Darunter war auch Sargons Enkel Naram-Sin I., der 4. König von Akkad, der in der Antike große Bekanntheit erlangte und für den (vermutlich jedenfalls, eine

2.4. 46 Stele des Naram-Sin; LP

1.2.5.

138

Frühe Hochkulturen

Hrouda Barthel in Hrouda 1991, 338 Parrot 1983, 203

Kaelin 2006, 130f

III.3.3.1. Speyer 2007a, 57

Nunn 2012, 77

restlose Zuschreibung ist wegen fehlender Inschriften nicht möglich) eine berühmte zwei Meter hohe Sandstein-Stele (um 2250) geschaffen wurde. Der »König der vier Weltufer« (was zum Königstitel seiner Nachfolger wurde) mit dem göttlichen Symbol der Hörnerkrone steigt auf der Abbildung über besiegte Feinde auf einen steil aufragenden Gipfel, auf dessen Spitze die Sonne sitzt. Erstmals gelang die Gestaltung eines Bildraums, zwar ohne Perspektive, aber mit einer Gliederung in zwei Dimensionen. Dieses »wichtigste Denkmal der akkadischen Reliefkunst« zeigt Bewegung und durchbricht das bisherige starre Schema nachhaltig. An ihr »zeigt sich die akkadische Kunst in ihrer vollen Größe, befreit aus aller Abhängigkeit von der Vergangenheit.« Die Stele wurde in Susa in Iran gefunden, wohin sie von einem elamischen König verschleppt worden war. Nur durch diesen Umweg gelingt ein kleiner Einblick in die Kunst des noch nicht aufgefundenen Akkad. Die in der Literatur verschiedentlich aufgeworfene Frage, ob die Stele von den urgeschichtlichen Megalithkulten beeinflusst sei, erscheint müßig. Der Megalith hat eine eindrucksvolle Kraft, die unabhängig von direkt nachweisbaren Abhängigkeiten zu jeder Zeit eine ähnliche Konnotation in sich trägt. Selbst die moderne Architektur spielt mit dem Megalithen in vielen ihrer Bauten. Nicht zuletzt brachte das Reich von Akkad auch den altorientalischen Königsmythos. Naram-Sin legte sich als erster Herrscher des Alten Orients den Gottestitel zu. Diese neue Inszenierung des Königtums scheint ihr Vorbild in Ägypten gehabt zu haben. Der König wurde als Mittler zwischen dem Göttlichen und Menschlichen verstanden, seine Insignien bereits zu dieser Zeit entwickelt: Krone, Thron, Zepter, Stab. Sie unterlagen der göttlichen Gnade. Der Königstitel der vier Weltufer oder der vier Weltgegenden sind Beschreibungen des Allgottes, der durch Viergesichtigkeit ausgezeichnet ist. Diese verdünnt sich in der weiteren Geschichte auf die Doppelgesichtigkeit des Janus, während das Christentum »aus den ursprünglichen Gottesaspekten nur noch Versatzstücke [macht], die jeweils einem Evangelisten zugewiesen wurden. Der König verkörperte die Gerechtigkeit und war seit König Lugalzaggesi von Uruk der »Hirte«. Dieser Gedanke einer personifizierten Macht göttlicher Gerechtigkeit setzte sich in assyrischer Zeit fort. Der neuassyrische König war Stellvertreter des Gottes Assur. Der »gute Schutzgott« (šedu) und der »gute Genius« (lamassu) wohnten in ihm! Zur Wahl des Königs wurde mit den Göttern verhandelt und gefeilscht, denn der altorientalische König war in seiner Macht durch andere Mitspieler: Priester, Adelige, Großgrundbesitzer, beschränkt. Naram-Sin, ein großer Kunstmäzen und Bauherr (Palast von Tell Brak), verlor schließlich die Zuwendung der Göttin Ischtar. Sein Reich wurde zerstört (»Fluch von Akkad«). Es waren vermutlich Bergvölker aus dem Osten (Gutäer), die das Reich von Akkad beendeten. Mit Sargon bildete sich nicht nur erstmals ein Zentrum einer abhängigen Peripherie, sondern das semitische Element veränderte die sumerische Kunst an verschiedenen Stellen. Es gibt nur wenige erhaltene Baudenkmäler, aber eine große Zahl von Rollsiegeln. In der Glyptik findet sich ebenso wie in der übrigen Kunst ein

139

Alter Orient

ausgewogen zu nennendes Verhältnis von Bindung an die (sumerische) Tradition und dem Neuen. Das ist ein ähnliches Verhältnis wie im Mythos, wo sich das Götterpantheon synkretistisch zusammensetzte. Wenn man auf die Unterschiede achtet, fällt auf, dass rituelle Gastmahlszenen zugunsten von religiösen und mythologischen Themen zurücktreten. Vor allem verlor der chthonische Anteil der Sonne (Sonne befruchtet die Erde) in den sumerischen Darstellungen zugunsten von Personifikationen von Sonnenhelden an Bedeutung, ein Stoff, der noch in den Psalmen nachwirkte (z.B. Ps 19,6). Die Erzählungen auf den Stelen nehmen auf die Gründung des »Weltreichs« Bezug. Ganz generell kam es in der Akkad-Zeit zu einem Übergang »von der dekorativen zur erzählenden Kunst.« Diese erzählende Kunst nahm bei den Assyrern nach 1000 »für den Orient ganz ungewöhnliche Ausmaße« an. Für die Historiker ist diese Kunst eine ergiebige Quelle von Realienkenntnissen. Es lassen sich beispielsweise Unterschiede der Militärtechnik erkennen. Einzelne Kampfverbände lösten die geschlossene sumerische Phalanx ab. Die Waffensysteme haben größere Reichweite (Bogenschützen statt Lanzenträger). Man vermeint auch, größere Freiheit in den Darstellungen auszumachen. Dies ergab sich aus dem Rückgang der an einen horror vacui erinnernden Fülle an Ornamentik der früheren Zeit zugunsten eines weitgehend neutralen Hintergrundes. Henri Frankfort verwies auf die Polarität der mesopotamischen Kunst, »on the one hand a love of design for its own sake, and on the other a delight in physical reality.«

Woolley 1961, 80 Amiet 1977, 232

Frankfort 1954, 83

1.2.4. Ur III-Zeit – Neusumerische Zeit Das Reich von Akkad verschwand um 2170 durch einwandernde nomadische Gutäer. Wie man sich das vorstellen muss und wie lange Gutäerfürsten in den babylonischen Städten auf dem Thron saßen, ist unklar. Es soll Utuhengal gewesen sein, der die Gutäer, die offenbar keinen größeren Machtanspruch hatten, vertrieb und den Wiederaufstieg Urs ermöglichte. Weil nach dem semitischen Zwischenspiel der südliche Teil Mesopotamiens, das alte Sumer, wieder erstarkte, spricht man auch von der neusumerischen Zeit. Zwischen dem Ende der Akkader und dem Beginn der Ur III-Zeit liegt die Blüte des Stadtstaates Lagasch. Wir kennen den berühmten Fürsten Gudea, aber keine ausdrückliche Dynastie in Lagasch, während Ur sehr wohl Machtansprüche erhob, unter anderem auch über Uruk. Die Stadtstaaten-Charakteristik änderte sich rasch mit dem Aufstieg von Urnammu in Ur: »Innerhalb zweier Generationen wandelte sich die von Urnammu gegründete Dynastie vom engen Stadtstaat zu einem mächtigen Reich mit weitreichendem Einfluß auf das gesamte westliche Asien. Dieser riesige Staat hielt sich allerdings nur etwas über ein Jahrhundert und hinterließ kaum eine Spur.« Zunächst jedoch spielten noch die Stadtstaaten eine Rolle, zuvörderst das erwähnte Lagasch. Gudea stieg um 2122 zum Stadtfürsten (Ensi) von Girsu/Lagasch auf und regierte wohl eineinhalb Jahrzehnte. Er hatte anscheinend keinen Ehrgeiz auf ein Flächenreich. Unter ihm wurde Lagasch ein Zentrum der Bildhauerei. Die mehr als dreißig heute bekannten Statuen aus Diorit und Dolerit, die von ihm er-

47 Gudea, Fürst von Lagasch, Dioritstatue (um 2080); LP

Sigrist/Westenholz 1997, 39 Gudea

140

Frühe Hochkulturen

Parrot 1983, 224

Lang 2016, 32

48 Gudea spendet Leben, Kalzit (um 2150); LP

Ebd., 30

49 Wasserbassin, IAM

halten sind, ist die weitaus größte Zahl von einem einzelnen Herrscher in dieser Zeit. André Parrot deutete die schlichte, ornamentlose Gewandung, die gefalteten Hände und die selbstbewussten Gesichtszüge als Ausdruck »von erhabener Größe und religiöser Glut, wie er selten mit gleicher Kraft erreicht worden ist.« Das ist eine aus Kenntnis der weiteren Kulturgeschichte treffende Beschreibung, allein wir wissen wenig über die Bedeutung der Ikonographie in der damaligen Zeit. Da wir nur von einem Kriegszug Gudeas Kenntnis haben, könnte das tatsächlich die idealisierte Projektion eines Mannes des Friedens und der Kunst und Kultur stützen. Näher am archäologischen Befund und den greifbaren literarischen Quellen bleibt die Beschreibung Martin Langs: »[…] the messages of the statues and of the inscribed texts explicitly coincide. Beyond that, the inkling of muscles and a broad chest, the clasped hands, the widely opened eyes and the big ears correspond to the texts, which mirror the ruler as a person being endowed by the gods with a broad chest, with strength, with visions and dreams (signalled by the wide-opened eyes), and with wisdom — which is rendered in Sumerian by an idiomatic phrase, ›having a wide ear‹ […].« In einer der Inschriften wird der Statue die Funktion zugeschrieben, ein langes Leben des Fürsten zu sichern. Dazu passt das besonders dauerhafte Material Diorit, aus dem die meisten der Gudea-Statuen bestehen. Man hat an der Echtheit mancher der Statuen, etwa jener, in der Gudea einen Wasserbehälter hält, aus dem lebenspendendes Wasser zur Erde rinnt, lange gezweifelt, weil eine solche Ikonographie Götterdarstellungen vorbehalten war. Das Motiv des »überfließenden Gefäßes« spielte in Mesopotamien eine wichtige Rolle und überdauerte die sumerische und babylonische Zeit. Es war Vorrecht des Gottes, der Erde Fruchtbarkeit zu schenken. Ähnlich verhält es sich mit dem Motiv der Darbietung von Opfertieren. Statuen mit dem Opfertier in den Armen zeigen eine Kulthandlung. Man müsste demnach davon ausgehen, dass Gudea nicht davor zurückschreckte, sich mit Gott gleichzustellen. Eine Selbstverständlichkeit indes ist das nicht, weil Vergöttlichungen von Königen in Mesopotamien nicht die Regel waren und eher Importe gewesen sein dürften. »›Divine‹ kingship in Mesopotamia is not inherent but derivational.« Eine bekannte Ausnahme von dieser Regel war Schulgi, König von Ur, der sich bereits zu Lebzeiten als Gott ansprechen ließ. Ganz allgemein handelte es sich nicht um naturalistische Porträts, sondern man kann die Personen an Attributen, an der Klei-

141

Alter Orient

dung und am Kontext identifizieren. Die Bilder dargestellter Personen hatten über die Bildmagie ein Eigenleben. Sie wurden benannt und jeder Angriff auf das Bild entsprach einem Angriff auf die Person selbst. Darauf basierten die Praxis der Deportation der Bilder und die Auslöschung von Gesichtern. Es gibt Belege dafür, dass den Gudea-Statuen auch nach dessen Tod geopfert worden ist. Neben Gudea sind auch Frauen dargestellt worden, darunter vermutet man die Ehefrau Gudeas. Die Weiheformeln des bedeutenden Bauherrn Gudea – sie sind das »älteste umfangreiche Beispiel sumerischer ›hoher Literatur‹« und zählen zu den faszinierendsten überlieferten sumerischen Bauinschriften – wurden auf seine Statuen und zwei ca. 60 cm hohe Tonzylinder (Zylinder von Gudea) geschrieben. Gudeas Bauprojekte umfassten nicht nur Tempel, sondern auch Infrastrukturbauten in allen wichtigen sumerischen Städten, darunter in der neu ausgebauten Residenz Girsu, 30 km nordwestlich von Lagasch. Die beiden Zylinder enthalten das Weihelied auf den Tempel, den Gudea für den Stadtgott von Lagasch, Ningirsu, in der neuen Hauptstadt Girsu baute. Der Gott erschien dem Fürsten im Traum und verkündete ihm den Bauplan des Tempels. Ob das Weihelied vollständig auf uns gekommen ist, wissen wir nicht. Lagasch verlor zugunsten von Uruk unter Utuhengal an Bedeutung. Über ihn wissen wir wenig, außer dass er vielleicht – wie schon erwähnt – die Gutäer vertrieben hat. Damit bereitete er den Boden für den Aufstieg von Ur unter Urnammu, dem Zeitgenossen Gudeas, der in manchen Überlieferungen als Schwiegersohn oder Sohn Utuhengals beschrieben wird. Urnammu gilt nach dem Fall der akkadischen Dynastie als Gründer der kurzen Periode der 3. Dynastie von Ur (2110–2003). Er machte Ur von Uruk unabhängig, führte aber kulturelle und religiöse Traditionen von Uruk anscheinend weiter. Die Dynastie erhielt die Ziffer III, weil in den Königslisten zwei weitere Dynastien von Ur erwähnt werden. Die Orientierung der Herrscher an den frühdynastischen Sumerern in Ur führte zur Bezeichnung einer »sumerischen Renaissance«. Urnammu und sein Sohn Schulgi legitimierten ihren Herrschaftsanspruch – einschließlich des Gottestitels in der Titulatur – über ganz Babylonien mit der Sumerischen Königsliste, in der eine fiktive Historiographie erzählt wurde, die bis zur »großen Flut« zurückreichte. Die Liste beginnt mit der Beschwörung, dass das Königtum vom Himmel herabgestiegen sei. Immerhin herrschte man von Ur aus direkt über ein Reich mit zwei Dutzend Stadtstaaten und vielen weiteren abhängigen Vasallen. Urnammu, der sich als König von Sumer und Akkad bezeichnete, war Urheber einer großen, gut drei Meter hohen Kalkstein-Stele, deren Bruchstücke man auf einer Terrasse der Zikkurat fand und an der man die alten sumerischen Eigenheiten wiederfindet. Dargestellt ist Urnammu vor dem thronenden Mondgott Nanna (von Ur), der ihn mit dem Bau der Zikkurat beauftragt. Auf der Spitze der Stele prangt ein großer Halbmond, der einen Stern mit Sonnenrad umfasst. Urnammu und Schulgi prägten diese anscheinend friedliche Zeit mit einer kulturellen Blüte. Schulgi ließ sich in einer Königshymne als »Erbauer mit der Meßlatte

Selz 2005, 81 50 Zylinder des Gudea (2150–2000), Terracotta

Ur

Schmökel 1961, 85

142

Frühe Hochkulturen

zit. nach Westenholz 1997a, 24

Westenholz 1997a, 32

Zikkurat

Kaelin 2006, 166

Ebd., 14, 172–182

Orthmann 1975, 42f

Selz 2005, 89 Kaelin 2006, 170

zum Bau der Städte« beschreiben. Eine Fülle von Tempeln und Kulträumen wurden in Ur errichtet. Die Identifikation von Palästen bereiten den Forschern Schwierigkeiten, weil sie keine spezifische Charakteristik aufwiesen. Zumindest in einem Fall, dem Ehursag (Haus des Berges), ist man sich ziemlich sicher, einen Regierungssitz vor sich zu haben. Die Zuschreibung ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil infolge der Vergöttlichung des Königs »das Haus des sterblichen Königs gleichzeitig zum Tempel des göttlichen Königs« werden konnte. Zum ersten Mal wurden in dieser Zeit architektonischer Blüte gebrannte Lehmziegel in größerem Umfang verwandt. Teilweise wurden die Ziegel in Asphaltmörtel verlegt, was zu größerer Stabilität und Dauerhaftigkeit führte. Besonders markant war in der Architektur die Aufnahme des Stufenbaus aus der frühsumerischen Zeit, der unter den Akkadern anscheinend nicht weiter verfolgt worden war (der Ausdruck Zikkurat ist allerdings akkadisch) und deren Weiterentwicklung zur Zikkurat. Die einzelnen Stockwerke konnten mit verschiedenen Farben (häufig wurde nur Schwarz und Weiß verwandt) bemalt sein. Die Zikkurat ist eine Entwicklung der Ur III-Zeit und kann – wie schon mehrmals gesagt – mit den Namen des Urnammu und seines Sohnes Schulgi verbunden werden, die damit as Urheber gelten dürfen. Man ist sich einig, »dass in Ur mit dem gestuften Monumentalbau Urnammas etwas Neues in der mesopotamischen Architektur entstand.« Der von Urnammu und Schulgi von einer einfachen Plattform (el-Obed) und ersten dreistöckigen Türmen zur Zikkurat aus Lehmziegeln und gebrannten Ziegeln mit einer Höhe von 25 Metern entwickelte Bau war das wichtigste Projekt in Ur. Auf der Spitze des stufenförmigen Baus stand der Tempel für den Mondgott Nanna. Für die Finanzierung der Bauprojekte, die auch Zweckbauten wie Wegenetz und Wasserleitungen, sowie Verwaltungsbauten umfassten, wurden Abgaben der Provinzen herangezogen. Vom Hafen von Ur aus segelten die Handelsflotten bis weit in den Persischen Golf. Dass ein Handelsnetz stets auch ein Netz des Austauschs von Ideen, Kunst und Architektur ist, ist klar. Das Handelsnetz war zugleich »ein riesiges Kommunikationsnetz, das den Orient, Afrika und Europa verband […].« Die Tatsache, dass Reichtum, der in Ur durch den Handel verdient wurde, Kunst und Kultur zur Blüte verhalf, ist eine Konstante in der europäischen Kulturgeschichte. Die Zikkurat wurde nun zum originellen architektonischen Zeichen. »In der monumentalen Ausgestaltung des auf einer Terrasse errichteten Hochtempels zu der dann kanonisch gewordenen Form der Zikkurrat darf man eine der wichtigsten Leistungen der III. Dynastie von Ur auf dem Gebiet der Architektur sehen.« Ähnliche Anlagen baute Urnammu in Eridu, Nippur und Uruk. »Die in der mesopotamischen Tiefebene weithin sichtbaren Tempeltürme legen eindrucksvoll Zeugnis ab vom religiösen Ursprung und der Größe der herrscherlichen Macht.« Mit den mächtigen Landmarken ließ sich das Prestige steigern und Urnammu »hob sein Reich in die ›Liga der Kulturen‹«. Die Bemerkung Kaelins weist auf die bedeutende Rolle der Architektur für Herrscher und Dynastien hin. Unzählige Beispiele aus verschiedenen Zeiten dafür werden folgen.

143

Alter Orient

Schulgi und Amarsuena legten neben der frühdynastischen Königsgrablege Gräber für ihre jeweiligen Vorgänger an und erweiterten den Bereich der Königsgräber. Die Gräber wurden nach der Bestattung geschlossen, die Treppenzugänge aufgefüllt und darauf Grabtempel errichtet. Gemessen an den epochalen Errungenschaften der Architektur und den großen Leistungen der Literatur blieb die Entwicklung der bildenden Kunst eher bescheiden. Die relative Stabilität der Zeit spiegelt sich in den friedlichen Themen der Reliefkunst. Verbreitet fand sich das in der Akkad-Zeit erfundene Thema der Audienz eines Sterblichen bei einem Gott, wobei der Sterbliche in der Regel von einem Schutzgeist begleitete wurde. Dies scheint kein einmaliges Ritual, sondern ein ständiger Verehrungsvorgang gewesen zu sein. Um 2020 fielen Elamer ein und beendeten die Herrschaft von Ur – damit ein Jahrhundert Stabilität. Sie verschleppten den letzten König Ibbi-Sin nach Elam, was in zwei großen sumerischen Klageliedern dokumentiert wurde. »Die Zerstörung von Ur wäre somit in ihrer religionsgeschichtlichen Tragweite mit den Zerstörungen Jerusalems durch Nebukadnezar II. (587/6) und Titus (70 n. Chr.) zu vergleichen.« Neusumerische Stadtklagen aus Anlass von Zerstörungen sind zahlreich überliefert. Die Klagen werden konterkariert durch den Jubel bei der Wiederherstellung der Ordnung. Solche Texte sind frühe Genres des Waste-Land-Narrativs und man findet sie in ganz ähnlicher Form sowohl in Ägypten als auch in den Klageliedern des Jeremias, sodass verbreitet eine Abhängigkeit angenommen wird. Die gegenläufige These geht davon aus, dass sich solche Klagen unabhängig voneinander »across cultures worldwide and through history […]« finden. In der Regel wird weniger der Untergang als solcher beklagt, sondern die Ursache: der Verlust der Schutzgöttin. In der frühen Isin-Dynastie, deren Anliegen der Wiederaufbau Urs war, wurde vermutlich das große Klagelied über den Untergang von Ur geschrieben, um den Stadtgott Nanna zu versöhnen. »Das Klagelied wurde wahrscheinlich bei Vollmond in den Ruinen des Nanna-Tempels in Ur, des Ekisnugal, vorgetragen.« Wird der Gott bzw. sein Tempel zerstört, zerbricht die Vegetation. In einem sumerischen Hymnus zum Ninazu-Tempel im sumerischen Eschnunna am Tigris heißt es: »Um dich herum läßt Ninazu die Pflanzen üppig wachsen.«

1.2.5. Babylonische Zeit Nach dem Untergang Urs und damit der politischen Vorherrschaft der Sumerer zerfiel das Reich in rivalisierende Stadtstaaten. Die verschiedenen Städte, die sich aus dem Zusammenbruch des von den Sumerern beherrschten großen Gebietes herauskristallisierten, kannten kurzlebige regionale Dynastien. Entsprechend unübersichtlich ist diese Zeit. Immerhin lassen sich drei herausragende Zentren der (alt)babylonischen Zeit (1792–1750) identifizieren: Isin (2019–1933) mit dem Begründer Ischbi-Erra, der erst nach einem Jahrzehnt die Elamer vertreiben konnte, Larsa (2015–1763) und Babylon, dessen Vorherrschaft erst im 18. Jh. durch Hammurapi ein klares Profil

Krebernik 2012, 15

Lee 2008, 34

Westenholz 1997a, 36

zit. nach Keel 1972, 118

144

Frühe Hochkulturen

Mari

51 Die Investitur von Zimri-Lim; Palast von Mari Wiesner Joseph in ­T­himme u.a. 1968, 165

erhielt. Vorher war die Stadt unbedeutend. Der Schwerpunkt der Geschichte hatte sich damit in den Norden verlagert und erst jetzt passt der Ausdruck Babylonien. Wir haben es nun wieder mit Semiten zu tun. Die nomadischen Amoriter (die West-Leute) tauchten Ende des 3. Jt.s auf. Sie drängten in die Metropolen und es gelangen ihnen einige dynastische Gründungen. Vor allem in Mari sind größere Einflüsse nachweisbar. Der berühmteste amoritische König war Hammurapi. Aufgrund seiner Bedeutung können die Amoriter als Gründer der babylonischen Dynastie angesehen werden. Kulturell gibt es gegenüber der sumerischen Zeit kaum einen Bruch, denn die vermutlich erste Schriftsprache, das Sumerische, war stets mit semitischen Elementen durchsetzt (die Wissenschaft spricht von sumerisch-akkadischer Konvergenz). Allerdings starb, wie berichtet, Sumerisch um 2000 als gesprochene Sprache aus und überlebte nur als Kultsprache und für Königsinschriften. Nach dem Sprachtod des Sumerischen war das Akkadische die verbreitete Sprache. Die alten Gottheiten blieben allerdings weitgehend bestehen, neue traten hinzu. Auch in der bildenden Kunst und Architektur gibt es eine große Übereinstimmung. Für einen Teil der Zeit hat sich in weiten Kreisen der Forschung nach den beiden rivalisierenden Zentren der Ausdruck Isin-Larsa-Zeit (2019–1763) eingebürgert. Kunsthistoriker wiederum sehen in der Kunst dieser Zeit keine Spezifika, die eine Unterscheidung zu nachfolgenden Perioden zuließen. Neben Babylon stieg Mari am mittleren Euphrat außerhalb Babyloniens zu einem wichtigen Zentrum auf. Der riesige Palast von Mari aus dem 18. Jh. (er wurde von Hammurapi bei der Eroberung zerstört) umfasste mehr als drei Hektar Fläche und war einer der größten und bekanntesten Palast-Bauten der frühen Geschichte. Diese riesige Anlage, der sich alle Kunstgattungen unterordneten – Anton Moortgat sprach von einem »Gesamtkunstwerk« –, umfasste Verwaltungs-, Repräsentations-, Wirtschaftsund Tempelbereich, die Privatgemächer des Königs und ein Badehaus. Das Palastarchiv ist ein eindrucksvoller Beleg für die lebhafte Diplomatie im Reich. Der Palast beherbergte Wandmalereien und einen umfangreichen Skulpturenschmuck. Vor allem wegen der in Mesopotamien nicht ursprünglichen Spiralornamentik, aber auch mit Blick auf die Chromatik und die Feinheit bestimmter Naturdarstellungen, gehen Historiker von ägäischem Einfluss aus. Die Gleichsetzung des syrischen Künstlergottes Koscher mit dem vorgriechischen kretischen Hephaistos mag in der Tat ein Spiegel der engen künstlerischen Verflechtung sein. Tor und Vorplatz des Palastes wurden von realistisch gearbeiteten bronzenen Löwenfiguren bewacht. Im Palasthof grub André Parrot wunderbare Tempe-

145

Alter Orient

ra-Wandmalereien (18. Jh.; heute im Louvre) aus, welche vermutlich die Investitur des Amoriters Zimri-Lim zum König von Mari zeigen. Die Malereien zeigen sowohl geometrische als auch figürliche Darstellungen: Opferszenen, Kultszenen sowie königliche Handlungen. Die Inthronisation des Königs von Mari ist eine Mischung aus streng hieratischer (König vor der Göttin Ischtar) und narrativer, nahezu expressiver (Dattelpflücker) Charakteristik. An anderer Stelle finden sich die vier Flüsse des Paradieses. Besonders bei den vorhandenen Spiralbändern tauchte die Frage nach der Beziehung zur Ägäis auf – die stilistischen Ähnlichkeiten sind offensichtlich und Gegenstand von Diskussionen. Das Hauptstrahlungsfeld bildete die erste Blütezeit Babylons unter der vier Jahrzehnte dauernden Herrschaft Hammurapis I., der sich gegen die Konkurrenten durchsetzte. Dazu gehörte auch die Eroberung Larsas 1763a. Babylon, in fruchtbarer Landschaft am schiffbaren Euphrat strategisch brillant gelegen, war Handels- und politisches Zentrum mit einer mächtigen Priesterschaft des Gottes Marduk. Die Stadt verlieh dem gesamten Gebiet den Namen. Der Stadtname leitete sich von Bâb-ilâni (Tor der Götter) ab. Das Zentrum lag jetzt im Norden und es veränderte die Rolle der Stadt, die jetzt als Kopf eines großen Reiches fungierte und die alte Identität als autonomer Stadtstaat sukzessive verlor. Ausgestattet mit einem hervorragenden Be- und Entwässerungssystem, Hafenanlagen, Lagerhallen, setzte Babylon neue Maßstäbe der Stadtplanung. Hammurapi leitete umsichtig das riesige Reich, nicht als Gottkönig, sondern – so sein Selbstverständnis – als Hirt. Aber er erhob – schon aus Gründen seiner geschichtlichen Legitimierung – Anspruch auf die Tradition der Könige von Akkad und der Ur III-Zeit. Der König ging als eindrucksvoller Gesetzeslehrer in die Geschichte ein. Auf seiner über zwei Meter hohen Diorit-Stele aus dem 18. Jh. mit knapp dreihundert eingravierten Gesetzen – darunter auch Honorar- und Gewährleistungsfragen für Architekten und Baumeister – ist er selbst vor dem Gott der Sonne und Gerechtigkeit, Schamasch, der ihm die Gesetze diktiert, abgebildet. Die typisch altorientalische Szene der Verleihung der Gesetze durch die Gottheit (Einführungsszene) erinnert an den Bericht des Gesprächs, das Moses »von Angesicht zu Angesicht« mit seinem Gott führte. Der König inszenierte sich auf der Stele als Erwählter der Götter. Im Prolog sind alle Städte verzeichnet, über die der König seine Herrschaft ausübte. Diese erscheinen nicht in geographischer Ordnung, sondern in der Ordnung ihrer jeweiligen Hauptgötter. Zum Schluss bekennt sich der vermutlich hoch gebildete König zu seinem Amt, das er als Dienst an den Menschen verstand. »Trotz des stark aufgetragenen Selbstruhms findet in diesen Worten ein

52 Diorit-Statue des Puzur-Ischtar, Fürst von Mari (Ur-III-Zeit); IAM

Parrot 1960, 278

Babylon

53 Hammurapi vor dem Sonnengott Schamasch auf der Stele des Hammurapi (1792–1750); LP Neumann 2014, 22ff

Ex 33,11

146

Frühe Hochkulturen

von Soden Wolfram in PWG I, 589

VI.5.0.ff.

Nunn 2012, 44 Schmökel 1961, 241

Hattuscha

Yakar 1997, 53

Herrscherideal einen schönen Ausdruck, das die Fürsorge des Landesvaters höher stellt als den Kriegsruhm.« Die Stele wurde in Susa gefunden, stammt aber vermutlich aus der babylonischen Stadt Sippar. Sie gehört zu den eindrucksvollsten Kunstwerken Mesopotamiens. Die Darstellungen sind nicht mehr statuarisch. Durch die Gewänder zeichnen sich die Körperformen ab. Ein Raumempfinden ist angedeutet. Die These Anton Moortgats, wonach es hier bereits die Bemühung um eine echte Perspektive gab, hat freilich kaum Anhänger gefunden. Eine ausdrückliche Perspektive setzt, anders als eine bloße Dreidimensionalität, einen ausgeprägten Subjektbezug voraus. Die Blüte Babylons basierte mehr noch als auf Kunst und Architektur, deren Niveau sich mit jenem der Akkad-Zeit messen lassen muss, auf der Literatur. Hammurapi hatte das Sumerische durch das Akkadische ersetzt. Akkadisch wurde im 2. Jt. zur »lingua franca des Vorderen Orients.« In der Architektur sorgte die Zikkurat Etemenaki für Aufsehen. Der Turm, diese »vielleicht großartigste Leistung altmesopotamischer Baukunst«, ragte innerhalb der mit einer gewaltigen doppelten Mauer gesicherten Anlage in die damals enorme Höhe von 90 Metern. Die Zikkurat gehörte zum ebenerdigen Tempel Esagila des Marduk und sie trug zudem dessen zweistöckigen Hochtempel. Er war aus Lehmziegeln gemauert mit einer Hülle aus gebranntem Ton und enthielt das Standbild des Stadtgottes. Babylon blühte bis zum letzten König Schamschu-ditana, unter dem es von den Hethitern mit ihrem König Murschili I. angeblich 1595 oder 1531 eingenommen wurde. Dabei sollen die Hethiter auch die Statue des Marduk aus dem Tempel entführt haben. Die Historiker beklagen allerdings eine schlechte Quellenlage für diese Eroberung, die eine Wende von der altbabylonischen zur mittelbabylonischen Zeit darstellt. Die indogermanischen Hethiter, deren Geschichte erst seit gut einhundert Jahren (ausgelöst durch einen Tontafelfund in Amarna) bekannt ist, waren Ende des 3. Jt.s auf unbekannten Wegen (es gibt dazu viele geistreiche Vorschläge) nach Kleinasien eingewandert. Wir verlieren sie zwischenzeitlich aus dem Blick und sehen um die Mitte des 2. Jt.s die Gründung eines gewaltigen Reichs (Hatti). Hattuschili I. wählte die Hauptstadt Hattuscha (Boghazköy) im nördlichen Zentralanatolien. Die Jahrzehnte, in denen sich diese Reichsgründung abspielte, sind den Historikern bislang nur schwer zugänglich. Wir kennen immerhin die Hauptstadt und Reste des Königspalastes. Die Stadt war eine monumentale Kapitale am Rande des Reichs, auf einer felsigen Anhöhe gelegen und hervorragend befestigt. Sie verfügte über eine bewundernswerte Wasserversorgung mit Reserven von einem Jahr für alle Bewohner. Die Häuser der Stadt bestanden aus Lehmziegeln auf steinernen Fundamenten, darunter auch zweistöckige aus leichterem Material wie Holz. Um einen Innenhof gruppierten sich zahlreiche Räume. Der Königspalast war eine eigene, nochmals befestigte Stadt auf der Akropolis mit mehreren Bibliotheken und einem der umfangreichsten Archive der antiken Geschichte. Funde offenbaren uns eine akkadische Keilschrift in hethitischer Spra-

147

Alter Orient

che. Der österreichisch-tschechische Sprachwissenschaftler Bedrich Hrozny konnte die Sprache 1915 anhand eines 1906 gefundenen Tontafelarchivs in Hattuscha entziffern und sie der indogermanischen Sprachfamilie zuordnen. Das Hethitische ist die älteste indogermanische Sprache und wurde zu einer der führenden Sprachen im Alten Orient. Das Aussehen der (bis heute identifizierten fünf) Tempel ist auf Grund der kargen Funde umstritten. Sie dürften sowohl architektonisch als auch farblich gegliederte Fassaden mit prägnanter Toranlage, einen zentralen Innenhof und eine große Zahl von Räumen besessen haben. Die Sockel der Götterbilder in der Cella sind teilweise noch vorhanden, nicht aber die Götterbilder selbst. Tempel waren Wohnorte der Götter und sie hatten regelrechte Wohnbereiche für diese. Der größte Tempel war dem Wettergott zuzuordnen. Darüber hinaus waren auch die hethitischen Tempel umfangreiche Wirtschaftsbetriebe, die von den angrenzend wohnenden Priestern versorgt wurden. Eine erste Blüte gab es für die Hethiter bereits um 2100 (dreizehn 1935 in Alacahöyük, nördlich von Hattuscha, gefundene »Königsgräber«, sowie Kleinkunst aus Kültepe). Keramikarbeiten mit zoomorphen Gefäßen fielen wie die Glyptik mit vielen Tiermotiven eher plump aus. Faszinierende Treibarbeiten aus Gold belegen hingegen einen hohen Standard der Metallverarbeitung und einen beträchtlichen Reichtum führender Schichten. Nach 2000 traten große Palastbauten auf. Die vielen Götter aus allen Landesteilen wurden in das Pantheon integriert. Die größte Ausdehnung hatte das Reich um 1350. Danach lösten sich Städte aus dem Herrschaftsbereich und es gingen Gebiete an die Großreiche Ägypten und Assyrien verloren. Berühmtheit erlangte der älteste erhaltene Friedensvertrag der Geschichte aus dem Jahr 1259 zwischen dem Land Hatti und Ägypten, dem die Schlacht von Kadesch 1274 vorausging, in der die Hethiter den besseren Teil für sich hatten, was aber von der ägyptischen Propaganda immer anders dargestellt wurde. Das Verhältnis zu Ägypten war lange Zeit partnerschaftlich, hatte sich aber durch die Expansionsgelüste Ramses II. auf Syrien schlagartig verschlechtert. Der erwähnte Vertrag schuf eine Stabilisierung in Syrien, das zwischen den beiden Großreichen in Einflusssphären aufgeteilt wurde. Das kulturelle Erbe der Hethiter ist mangels eines größeren erhaltenen Œuvres schwer zu rekonstruieren. Grundsätzlich ordnete sich die Kultur »unbeschadet aller ethnischen Bindungen, in den Strom anatolischer Kulturentwicklung ein, die zwar zu Zeiten Einflüsse von außen empfangen und angenommen hat, aber sich doch sehr klar von ihrer weiteren Umwelt abhebt.« Die Hethiter galten als geschickte Künstler, vor allem Bildhauer. Die Bildhauerkunst versammelte Typen aus dem mesopotamischen (etwa der Typ der die Brüste darbietenden Göttin) oder syrisch-phönikischen Bereich. Ihre Architektur neigte zum Monumentalen. Das Löwentor auf der Ost-Seite von Hattuscha mit zyklopischem Mauerwerk (13. Jh.) erinnert durchaus

54 Friedensvertrag von Kadesch (1269); IAM

2.1.2.

Bittel 1976, 300

148

Frühe Hochkulturen

III.2.1.

2.1.2. III.2.1.

Cline 2015, 229f

Phrygier und Lydier

Amiet 1977, 238

an das Löwentor von Mykene um 1250. Ob Hattuscha als Vorbild für Mykene gelten kann, ist allerdings bislang nicht erhärtet. Als Torfiguren waren sowohl Löwen als auch Sphingen gebräuchlich. Eine Eigenheit der hethitischen Kunst sind die ohne Vorläufer entstandenen Felsmonumente. Es handelt sich um Reliefs auf Felswänden, die Szenen von Göttern und der Begegnung von Gottheiten und Herrschern abbilden, aber möglicherweise auch mit der Verehrung göttlicher Berge zu tun haben. Besondere Leistungen erbrachten die Hethiter im Städtebau, namentlich in der Anlage von Hügel- und Bergstädten. Die Hethiter konnten das eineinhalb tausend Kilometer entfernte Babylon, dessen Eroberung bereits eine erstaunliche logistische Leistung darstellte und ihnen erhebliches Prestige einbrachte, nicht dauerhaft halten. Die Stadt fiel an die Kassiten. Um 1200 ging ihr Reich unter. Zwar blieb das kulturelle Erbe der Hethiter nachhaltig, ihr Verschwinden aus der Geschichte war indes gründlich. In den griechischen Quellen kommen die Hethiter nicht vor. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot beschrieb zwar hethitische Kunstwerke, konnte diese aber nicht mehr den Hethitern zuordnen. Neben Hungersnöten, einer Pestepidemie und Querelen in der Königsfamilie gab es möglicherweise einen weiteren Grund für den Untergang: Vom letzten König Suppiluliuma II. ist noch eine gewonnene Seeschlacht bei Zypern überliefert, was ein Hinweis auf eine neue Bedrohung sein könnte, die sich plötzlich im östlichen Mittelmeerraum auftat. Stämme unklarer Herkunft (man nennt sie unspezifisch Seevölker) mit Eisenwaffen, die den Bronzeausrüstungen überlegen waren, stießen in das Land vor, verwüsteten die Städte und konnten erst an den Grenzen Ägyptens aufgehalten werden. Ramses III. ließ diese Schlacht 1177 im Tempel von Medinet Habu darstellen. Diese Invasion beendete die Bronzezeit und krempelte die Verhältnisse im Vorderen Orient wie im gesamten Mittelmeergebiet grundlegend um. Eric H. Cline hat dieses Datum zum Aufhänger eines schönen Buches gemacht, das die Bedeutung des Kulturbruchs hervorkehrt und das schwer begreifbare Phänomen eines gesamten Systemzusammenbruchs, eines »systemischen Versagen[s] mit Domino- und Multiplikatoreffekt, von dem sich selbst ein so globalisiertes, internationales, lebendiges, gesellschaftsübergreifendes Netzwerk wie das der späten Bronzezeit nicht mehr erholen konnte«, zu erklären versucht. Die Schwierigkeit ist, dass die historischen Fakten im Nebel des Ungesicherten verschwinden. Was wir kennen, sind die Resultate der Umbrüche: Das Vakuum des verschwundenen Hethitischen Reichs füllten in Teilen Anatoliens bis zur Küste die indogermanischen Phrygier (die unter der sagenumwobenen Midas-Dynastie eine Blüte erlebten) und die Lydier. Herodot gibt als Heimat der Phrygier Makedonien an. Der Name ihrer Hauptstadt ist unklar (wahrscheinlich Gordion). Berühmt wurde die qualitätsvolle, stark ornamentierte phrygische Keramik. Die phrygische Kultur ist nicht zuletzt deshalb so interessant, weil sie eine Vermittlung vom Orient in die griechische Kultur darstellte, die sich von manchen kulturellen Eigenheiten Phrygiens ganz bewusst und ausdrücklich absetzte. Das Reich der Phryger war »ein reger Umschlagplatz zwischen Ost und West, zu einer Zeit, da die griechische Kunst gerade geboren wurde.« Kurz

149

Alter Orient

nach 700 ging Phrygien als selbständige Macht unter und Lydien blieb übrig. Dessen Hauptstadt Sardes soll 547 (oder 541, nach neueren Forschungen erst nach dem Fall von Babylon 539) unter dem berühmtesten lydischen König Kroisos durch den Perserkönig Kyros II. zerstört worden sein. Für Babylon waren, wie gesagt, nach der Eroberung der Stadt durch die Hethiter die aus dem Zagros-Gebirge vorstoßenden Kassiten (um 1580–1155) für 450 Jahre und mit 36 Königen die neuen Herren. Es folgte eine Zeit komplexer Bündnisse und ausgefeilter Heiratspolitik, die sich auch auf das Ägypten der 18. Dynastie erstreckte. Die Kassiten konnten nicht mit dem hohen Rang der Kultur, den sie in den eroberten Gebieten vorfanden, konkurrieren und setzten die babylonische Kunst fort. Daher lässt sich diese Zeit in Religion und Kultur kaum von der babylonischen unterscheiden. Der achte oder neunte Kassitenherrscher dürfte wieder von Babylon aus regiert haben. Dazu brachte er die von den Hethitern entführte Marduk-Statue zurück und erneuerte auf diese Weise die Stadt. Ab dem 15. Jh. gab es unter den Kassitendynastien einen neuen Aufschwung der Stadt, nicht zuletzt durch die Erschließung neuer Handelsrouten. In der Architektur gab es nach den wenigen bekannten Beispielen einige Eigenständigkeit, z.B. bei der Fassadengestaltung mit plastischen Götterfiguren am Inanna-Tempel, den der Kassitenkönig Karaindasch in Uruk errichten ließ, oder beim Palast des Kurigalzu I. in der von ihm um 1400 gegründeten kassitischen Hauptstadt Dur-Kurigalzu (heute Aqar Quf), knapp westlich von Bagdad. Etwas später entstanden wichtigere Bauten in Ur und Larsa (Schamasch-Tempel). Aus dieser Zeit sind eigenartige Denkmäler, etliche etwa einen halben Meter hohe, meist aus Diorit bestehende Landschenkungsurkunden (kudurru), erhalten, welche Beschreibungen des abgegrenzten Gebietes, Götterdarstellungen, Weihe- und Fluchformeln enthielten. Diese Urkunden haben mit großzügigen Schenkungen der Könige an Beamte und Gouverneure zu tun und sind ein Spiegel einer feudal-aristokratischen Elite. Sie waren keine bindenden Verträge, sondern stellten die Abmachung unter die Garantie der Götter und standen in der Regel im Tempel. In der Kassitenzeit gab es eine hochstehende Glyptik, deren Stil auf die altbabylonische Zeit verweist. Auf den Rollsiegeln aus der Zeit sind die Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit dargestellt, aber auch lebendige Naturszenen. »Die Abbildungen sind voller Dynamik: Tiere springen, Vögel fliegen, die Vegetation sprießt in üppiger Fülle. Hier herrscht der Wille zum symbolischen Ausdruck vor, und eine Sorge um die Fruchtbarkeit des Bodens und der Herden blieb das Hauptanliegen.« Grundsätzlich finden sich in der kassitischen Kunst eine Fülle von Göttersymbolen, darunter solche, die zum ersten Mal dargestellt wurden. »Diese Hinwendung zur Vergegenwärtigung der Götter in ihren Kultsymbolen […] kann als Kennzeichen der kassitischen Kunst gelten.« Gegenüber einer kanonischen Symbolik ging die Bilddarstellung zurück. Trotzdem blieb vieles offensichtliche Nachahmung der Vorbilder, ohne dass deren Qualität erreicht wurde. Die Kassitenherrschaft wurde durch die Elamer beendet, in deren Hauptstadt Susa man – wie schon mehrfach gesagt – jede Menge Kriegsbeute, darunter die Ge-

Kassiten

55 Kudurru des ­Melischischu II. (um 1200a) mit Symbolen der Hauptgötter; LP

Parrot 1983, 309

Orthmann 1975, 58

150

Frühe Hochkulturen

setzesstele des Hammurapi und die Marduk-Statue, fand. Beide Völker gingen mit dem Erbe der alten Kultur sorgsam um.

1.2.6. Das Reich der Assyrer

Kessler Karlheinz in Hrouda 1991, 156

Mit Kassiten und Elamern ging die Geschichte der mesopotamischen Kultur zu Ende. Über die Anfänge des Assyrischen Reichs ist wenig bekannt. Das Volk der Assyrer (griech. für das akkadische māt Aššur/Land Assur) war seit dem Beginn der geschichtlichen Zeit am Oberlauf des Tigris ansässig. Beim Untergang blickten die Assyrer auf 116 Könige zurück, die ununterbrochen auf dem Thron saßen. Das ist mehr als jede andere Kultur der Zeit. Allerdings waren die weitaus meisten dieser Könige Vasallen anderer Reiche. Einige Berichte gibt es aus der Akkad-Zeit, unter deren Herrschaft Assur im 3. Jt. stand. Mit Schamschi-Adad I., vermutlich ein Nomadenfürst, begann ein expansiver Herrschaftsanspruch. Assyrien wuchs zu einer starken Militärmacht heran, die den Expansionsdrang zum Lebenselixier, ja zur Staatsraison erkoren hat. Lange Zeit galt das Assyrische Reich als besonderes Beispiel für den eigenartig anmutenden Widerspruch, der in abgemilderter Form für die Politik des Vorderen Orients generell gilt, zwischen höchster kultureller Leistung auf der einen und unbarmherziger Grausamkeit, mit der der Staat gegen die Eroberten vorging, auf der anderen Seite. In der neueren Historiographie ist dieses Narrativ ins Gerede gekommen. Mit der Eroberung von Mari legte Schamschi-Adad die Grundlage eines großen Reiches. Anspruchsvoll nannte er sich »König der Gesamtheit«. Dem standen im 18. Jh. freilich noch viele Hindernisse entgegen, darunter ein starkes Babylon unter Hammurapi I., dann die Kassiten. In der Kunst wurden im Altassyrischen Reich nur bescheidene Akzente gesetzt, aber der König brachte einige Bauwerke in Gang. Er renovierte den Tempel in Assur und baute in der Stadt eine Zikurrat für Enlil. Der Gott Enlil wurde mit der Stadt Assur gleichgesetzt. Solche Identifikation zwischen Gott und Stadt gab es auch in Ägypten. »Den assyrischen Königen war das gemeinsame religiöse, sprachliche und kulturelle Erbe, das sie mit Babylon teilten, wohl bewußt, gewiß auch die intellektuell-kulturelle Überlegenheit des Südens. Nationalen Elementen, die sich um die spezifischen Kulte von Aššur und Marduk gruppierten, stand ein fortdauerndes Einströmen babylonischen Gedanken- und Kulturgutes nach Assyrien gegenüber, was umgekehrt nicht der Fall war.« Die Assyrer kümmerten sich pflichtbewusst um die alten babylonischen Kultzentren. Auch wenn Assur nicht die Residenzstadt war, baute Schamschi-Adad dort einen Königspalast. Um 1400 stieg Assyrien unter Assuruballit I., einem Zeitgenossen Amenophis IV. in Ägypten, zur führenden Macht in Vorderasien auf. Diese Rolle konnte es nicht zuletzt wegen der günstigen geographischen Lage abseits der Schneise, welche der Seevölker-Sturm schlug, bis ins 7. Jh. behalten. Sukzessive erweiterten die assyrischen Könige ihr Herrschaftsgebiet, bis Tukulti-Ninurta I. 1240 die Eroberung Babylons glückte. Wieder wurde der Stadtgott Marduk entführt, um gleichsam die Legitimität der neuen Herrscher zu transformieren. Tukulti-Ninurta ließ seinen Palast in

151

Alter Orient

der kurzzeitigen, nach der Eroberung Babylons als Idealstadt nach kosmischen Ordnungsvorstellungen neu gegründeten Hauptstadt Kar Tukulti-Ninurta mit Wandmalereien glanzvoll schmücken. Die Motive des Lebensbaums und des verzierten Greifen werden als charakteristisch für die assyrische Kunst angenommen. Von Tukulti-Ninurta blieb ein außergewöhnlicher Altar erhalten, auf dem der König in stehender und kniender Haltung vor einem leeren Thron des Sonnengottes Nusku dargestellt ist. Der Gott, dem er sich in größter Demut näherte, hatte nur eine anikonische Präsenz. Babylon konnte nicht lange gehalten werden, die Elamer nahmen die Stadt ein und entführten Kunstwerke und Götterstatuen in ihre Hauptstadt Susa. Das bedeutete, wie oben geschildert, den Zusammenbruch der Kassitenherrschaft, was Nebukadnezar I. die Möglichkeit bot, Babylon unabhängig von den Assyrern, noch einmal größere Bedeutung zu verleihen. Eine zwischenzeitliche Eroberung der Stadt 1080 durch den assyrischen König Tiglatpileser I. blieb nur Episode, zeigt aber, dass die Stadt nun weitgehend im Schatten der Assyrer stand, die Babylon schließlich im 7. Jh. zwei Mal zerstörten. In der Hafenstadt Ugarit bei Latakia, nordsyrischer Vasall im Hethiterreich, stand einer der beeindruckendsten und luxuriösesten mittelassyrischen Königspaläste auf einer Fläche von mehr als 9000 Quadratmetern. Ugarit war ein Handelsplatz, wo die Kunstwerkstätten viele Anregungen aus fremden Ländern erhielten. So dürfte Ugarit ein Zentrum der mittelsyrischen Elfenbeinschnitzerei gewesen sein. Der berühmte, im Königspalast gefundene vollplastische Kopf, vielleicht eine Darstellung des Wettergottes, ist dafür ein sprechendes Beispiel. Es gibt auch Fundstücke von Metallarbeiten. In Ugarit wurde ab etwa 1400 neben Akkadisch und Hurritisch bis zur Zerstörung der Stadt im Seevölkersturm um 1200 Ugaritisch gesprochen und geschrieben, wofür es ein eigenes Keilschriftalphabet gab. Ugaritisch ist eine westsemitische Sprache. Sie wurde bei Ausgrabungen ab 1929 in Ugarit auf Tontafeln aus dem 14. Jh.a entdeckt. Die Funde erregten Aufmerksamkeit auch deshalb, weil in den Texten Themen auftauchten, die sich später in der Bibel wiederfanden. Sie gehören »zu einem gemeinsamen kulturellen Fundament.« Denn: »Hier in Ugarit begegnen sich die Einflüsse: die kanaanitische Buchstabenschrift erscheint im Gewande einer Keilschrift.« Ab 850a löste die phönizische alphabetische Buchstabenschrift das komplizierte Keilschriftsystem ab. In Assyrien wurden während einer längeren Zeit beide Schriftsysteme verwandt. An der Spitze des synkretistischen Pantheons von Ugarit stand das Paar El (der Gott), ein Stier- und Schöpfergott, und Aschera. Nicht nur die Aschera tauchte als Begleiterin von JHWE wieder auf, es gibt aus Ugarit viele Mythentexte, die große Ähnlichkeiten mit den Dichtungen im Alten Testament aufweisen. Dessen älteste Teile reichen in das 10. und 9. Jh. zurück und sind noch von der Charakteristik der Mündlichkeit gekennzeichnet. Die Quellenlage um die Jahrtausendwende ist schlecht. Eine ständige Bedrohung sowohl für Babylonien als auch für Assyrien waren die Aramäer, Nomadenstämme, die seit dem 13. Jh. vom Westen nach Mesopotamien und – vor allem nach dem Zerfall des Hethiterreichs – nach Syrien drängten.

Dolce 1997 Frankfort 1954, 135

Oberhuber 1972, 12 Frankfort 1954, 132

Ugarit

Nunn 2012, 45 von Soden Wolfram in PWG II, 109 III.2.2.1.

152

Frühe Hochkulturen

56 Assurnasirpal II. Nimrud; IAM zit. nach Weinfeld Moshe in Kat. 1997a, 16 Kessler Karlheinz in Hrouda 1991, 124

Müller/Vogel 1974, I, 97

Winter 1981, 16/18

Im 1. Jt. tauchen die westsemitischen Sprachen Aramäisch, Phönizisch und Hebräisch auf, wobei das Aramäische die weiteste Verbreitung erfuhr und Amtssprache im Neuassyrischen und Babylonischen Reich wurde. Das Aramäische ist in einigen Büchern des Alten Testaments erhalten und wird in Form eines altsyrischen Dialekts bis heute in einigen syrischen Enklaven gesprochen. Die Aramäer (Aramu) waren um 1300a in den Nordosten des heutigen Syrien eingewandert, besiedelten aber bald das gesamte Gebiet Assyriens unter zahlreichen Kleinstaatenbildungen, über die wir schlecht informiert sind. Nach 1000a war das größte Problem daher, das Assyrische Reich einigermaßen im Bestand zu halten. Mit dem Regierungsantritt Adad-niraris II. um 911 konnte sich das Reich fangen und es begann unter ihm und Tukulti-Ninurta II. der Aufstieg zur Weltmacht. Scheinbar unaufhaltsam wogte die assyrische Armee gegen Westen und erreichte sogar Memphis und Theben in Ägypten. Erst eine Koalition unter Einschluss Ägyptens konnte die assyrische Expansion 853a in der Schlacht von Qarqar am Orontes in Syrien stoppen. Bei Regierungsbeginn von Assurnasirpal II. war Assyrien die dominierende Macht im Vorderen Orient. Dieser für seine besondere Grausamkeit berüchtigte König – Texte der Zeit beschreiben ihn als einen, der »auf den Nacken seiner Widersacher tritt und all seine Feinde überwältigt« – verlegte die Residenz von Assur nach Kalhu (Nimrud) und baute die kleine Siedlung zu einem Verwaltungszentrum mit einem mächtigen, mit reliefierten Steinplatten geschmückten Palast (Nord-WestPalast) aus. Zur Einweihung des Palastes wurden 70 000 Gäste zehn Tage lang auf Kosten der Staatskasse bewirtet. Die Paläste entsprachen dem Charakter Assyriens als Militärstaat. Sie glichen befestigten Stadtanlagen in der Regel am Rande der eigentlichen Stadt. Meist gingen sie eine architektonische Verbindung mit dem Tempel ein, sodass man sagen kann: »Die enge Verbindung von Palast, Tempeln und Zikkurat zu einer ›Stadtkrone‹ ist ein Symbol für das ›Gottesgnadentum‹ der assyrischen Weltherrscher.« Es gab im Neuassyrischen Reich einige charakteristische Kunstformen. Die Reliefplatten sind erste Exemplare einer Gruppe spezifischer Kunstdenkmäler, der Orthostatenreliefs. Es handelt sich um Platten aus Mossul-Alabaster oder Basalt, die mit (teilweise bemalten) Reliefs versehen und für die Fassadengestaltung bzw. zur Ausschmückung von Palästen verwandt wurden. Nahezu alle assyrischen Könige bedienten sich dieser Kunstform und ließen Kriegsereignisse, Großwildjagd und religiöse Szenen darstellen. Die Reliefzyklen in neuassyrischen Palästen zeigten den Besuchern drastisch das harte Vorgehen und grausame Hinrichtungsarten gegenüber allen, die sich der Königsmacht entgegenstellten. »That the Neo-Assyrian palaces were clearly intended to impress is stated most explicitly: […].« Im Fall von Assurnasirpal galt diese Kunst auch der Etablierung »of a new capital at Nimrud/Kalhu, after 1,000 years of residence by Assyrian kings at Assur. It is further correlated with the expansionist activities that made Assyria a territorial empire.« Der Höhepunkt der assyrischen Reliefkunst wurde unter Assurbanipal erreicht (Große und Kleine Löwenjagd; Gartenszene aus dem Nordpalast von Ninive). Solche Orthostaten tauch-

153

Alter Orient

ten in Kretas Palästen wieder auf und bezeugen eine Verbindung zwischen Assyrien und der minoischen Kultur. Die grausamen Darstellungen sind ein Kapitel in der Geschichte des Zeigens von getöteten Feinden als Trophäen. Es war geradezu der Sinn, »dass sie gefoltert und ermordet werden, um als Bilder eingesetzt werden zu können.« Auch in der Gegenwart gibt es eine solche mediale Funktionalisierung des Grausamen. Horst Bredekamp arbeitet am Beispiel von der Terrorgruppen Al Qaida und IS heraus, wie diese Terrorgruppen die Massenmedien benützen, um ihre grausamen Hinrichtungen global zu verbreiten: Erstmals in der Bildgeschichte wurden »menschliche Körper nicht mehr als Selbstschutz und Gegenpropaganda eingesetzt, nachdem sie verletzt oder getötet waren; vielmehr wurden Personen gedemütigt und getötet, um zu Bildern zu werden.« Dies hat auch deshalb eine besondere Qualität, weil die diesem Terror zugrundeliegende wahabitische Ideologie ein strenges Bilderverbot verficht, das auf diese Weise in höchstmöglicher Form unterlaufen wird. Aus Nimrud sind als weiteres Genre Obelisken erhalten geblieben. Sie bestehen aus schwarzem Marmor und haben einen gestuften Abschluss, der an die Bauweise von Ziegeltürmen erinnert. Ihre Höhe betrug meist nur wenige Meter. Sie dienten als Träger für Bild und Schrift. 746 kam der Usurpator Tiglatpileser III. auf den Königsthron. Er war ein erfolgreicher Eroberer und konnte sich als erster assyrischer König auch als König von Babylon bezeichnen. Unter Sargon II., auch er ein Usurpator, erreichte das Neuassyrische Reich ab 721 seine größte Ausdehnung. Er konnte 709 nach hartem Ringen und vielen Zugeständnissen an die alten Cliquen (darunter die machtvollen Tempelpriester) zum Herrscher von Babylon aufsteigen, nannte sich aber mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten der führenden Clans in Babylon nur »Statthalter«. In der Rezeptionsgeschichte wurde immer wieder das Bild Sargons II. mit dem legendären Sargon von Akkad vermischt. Vermutlich war das von Sargon II. auch so gewollt, indem er sich in die Tradition von Akkad stellte. Sargon II. schuf sich nördlich von Ninive einen eigenen Residenzort, das rechteckig angelegte Dur-Scharrukin (Sargons Festung) (Chorsabad). Es kam so etwas zum Vorschein wie ein »Idealplan für eine Weltherrscher-Residenz […].« Diese Residenz war ein gewaltiges Denkmal der Macht des Reiches, »unübertrefflich sowohl in ihrer Großzügigkeit und Anordnung als auch im Reichtum der Ausschmückung und in der Vollkommenheit ihrer Einrichtung.« Die Ausstattung war verschwenderisch. »Die neuassyrische Epoche ist tatsächlich durch eine bildhauerische Produktion gekennzeichnet, die alles übertrifft, was der Orient bereits gekannt hat oder später jemals hervorbringen wird.« Auch die Bildkunst folgte dieser Funktion, die man »powerful and effective tools of public persuasion« nennen könnte. Auf die abschreckende Wirkung mancher Darstellungen, vor allem kriegerischer Ereignisse, wurde bereits verwiesen. Zwar muss man davon ausgehen, dass viele dieser Bilder so wie auch viele Inschriften nur einem kleinen Kreis zugänglich waren, trotzdem dienten sie als »Botschaften der Beruhigung und des Ansporns, die ständig garantieren sollten, daß die assyrische

III.1.2. Bredekamp 2016, 23

Ebd., 24

1.2.3. Dur-Scharrukin

Müller/Vogel 1974, I, 87

Parrot 1961, 6ff

Ebd., 11 Porter 2003, XI

154

Frühe Hochkulturen

Russell 1997, 136 Winter 1985, 13

Ninive

Russell 1997, 123

Ebd., 126

Welt in Ordnung und stabil war und daß sie sich auch in benachbarte Länder ausdehnen würde.« Zur propagandistischen Wirkung trug die Tatsache bei, dass in den Darstellungen nur die Feinde starben, niemals Assyrer. »For it should be clear from the outset that the ›historicity‹ of these monuments was a highly manipulated one.« Das Gesagte betrifft in erster Linie die Kunst des Reliefs, während die rundplastischen Arbeiten in der Minderzahl blieben. Die Themen der großartigen Arbeiten umfassen Kriegsereignisse, religiöse Motive, Jagdszenen und Szenen aus dem höfischen Leben. Ähnliches zeigte auch die Malerei, die ebenso hoch entwickelt war, von der aber nur Bruchstücke überlebten. Die Kunst Assyriens war als vorwiegende Hofkunst in erstaunlichem Ausmaß profan. In der Provinzresidenz von Til Barsip waren einhundertdreißig Meter Mauern mit farbenfrohen Malereien geschmückt. Dasselbe kennt man aus Dur-Scharrukin. 706 erreichte das Neuassyrische Reich mit der Einweihung dieser Hauptstadt den Höhepunkt. Die Haltung zu Babylon war in der assyrischen Geschichte ein komplexes Thema. Man verehrte die alte Kulturstadt. Sie war aber zugleich ein bedrohlicher Feind. 689 machte Sargons Sohn Sanherib, der eine antibabylonische Politik verfolgte (obwohl er Inschriften in der als besonders fein geltenden babylonischen Sprache verfassen ließ), die Stadt dem Erdboden gleich und verschleppte das Kultbild des Gottes Marduk, eine Tat, die inzwischen weitherum, auch in Assyrien selbst, als Freveltat gewertet wurde. Sanherib verlegte die Hauptstadt von Dur-Scharrukin nach Ninive (Kuyundjik). Ninive, dessen Siedlungsschichte bis gegen 6000 zurückreicht, galt in der alten Welt neben Babylon als zweite große Metropole Mesopotamiens, es blieb bis zum Ende des Reichs 612 (nach Kar Tukulti-Ninurta, Assur, Kalhu und Dur-Scharrukin) die letzte assyrische Hauptstadt. Sanherib baute die Stadt groß aus. Neben einer riesigen, 12 km langen Stadtmauer entstand der Südwestpalast (703–692) mit dem größten Thronsaal aller neuassyrischen Paläste (12,25 x 51 m) und einer hohen Anzahl von ausgeschmückten Räumen. Im Palast sollen sich im Lauf der assyrischen Geschichte Wandreliefs in einer Länge von über 3 km angesammelt haben. 669 bestieg Sanheribs Enkel Assurbanipal, einer der berühmtesten neuassyrischen Könige, den Thron, den er bis 631 oder 627 innehatte. Seine Mutter war eine Aramäerin. Er war ein kulturell hochstehender Herrscher, der wie schon sein Vater Asarhaddon mit der antibabylonischen Politik nichts anfangen konnte. In Ninive baute er um 643 den etwa 125 x 250 m umfassenden, erst in Teilen ausgegrabenen Nordpalast. Dieser war »mit einigen der kunstvollsten assyrischen Reliefs geschmückt, die jemals gefunden wurden.« Assurbanipal förderte die Kunst und Wissenschaft und schuf eine der ersten großen Bibliotheken in Ninive. Nachdem er seinen aufbegehrenden und sich in Babylon verschanzenden Bruder geschlagen hatte, setzte er den von seinem Vater eingeleiteten Wiederaufbau Babylons ein. Es wurde bereits erwähnt, dass er sich (ebenso wie sein Vater) als Korbträger darstellen und damit die große babylonische Vergangenheit beschwören ließ. Die assyrische Architektur war zwar eindrucksvoll monumental, aber nicht von großer Qualität und – wenn man von der Innovation der Zikkurat in Dur-Schar-

155

Alter Orient

rukin, wo die Treppen durch eine spiralförmige Rampe ersetzt wurden, absieht – wartete sie kaum mit Neuerungen auf. Von einer belastbaren Qualifizierung ist man freilich weit entfernt, ist doch noch kein einziger neuassyrischer Palast zur Gänze ausgegraben worden. Trotzdem dürfte die Ausstattung der Paläste mit Malereien (von denen kaum etwas auf uns gekommen ist), Elfenbeinschnitzereien, Reliefs großartig und prachtvoll gewesen sein. Die Kultur der ägyptischen Höfe der 18. und 19. Dynastie wurde in Syrien aufmerksam verfolgt. Ausstattungsstücke gelangten dorthin und regten die Werkstätten an. Die Kunsthandwerker waren häufig Syrer und Phönizier. Neuassyrische Plastiken sind eher wenige erhalten. Unter ihnen befanden sich Kolossalfiguren, die als Torwächter fungierten. Der Aufschwung der Bildkunst im 9. Jh. schlug sich neben einer hoch entwickelten Glyptik vor allem in Form von Reliefs auf Palastwänden nieder. Ihre Zahl ist relativ hoch, sodass Kunsthistorikerinnen sogar eine Stilentwicklung ausmachen können. Die Darstellungen der Themen, historische Ereignisse, Jagdszenen, Symbolik und wenige Kultdarstellungen, sind relativ einfach. Um eine perspektivische Position und eine realistische Wiedergabe des Geschehens wurde gerungen, man blieb aber noch weit von einer echten Perspektive entfernt. Auf manchen Reliefs sind bei Jagdszenen die Tiere jedoch mit großer Empathie und in bewundernswerter Feinheit ausgeführt. »Der assyrische Herrscher wollte sich als stolzer Jäger abbilden lassen, doch der Künstler schuf ein Werk unter dem Motto ›Sunt lacrimae rerum‹.« Die Zahl der aus neuassyrischer Zeit stammenden Denkmäler ist erheblich und größer als in jeder der bisherigen Perioden. Das zeigt die »zentralistische Grundordnung des assyrischen Staates« und das »alle Lebensbereiche durchdringende ›militärische‹ Staatsethos«. Kunst und Architektur dienten der Verherrlichung der Größe des Herrschers und des von ihm geleiteten Staatsgebildes. Dazu trugen auch Handwerker aus den unterworfenen Gebieten in reichem Maß bei. Im 7. Jh. vereinigten sich die medischen Stämme unter Kyaxeres I. Erst mit dieser Bündelung der Kräfte wurden sie eine Bedrohung für Assyrien. Vom Kerngebiet rund um das Zagrosgebirge an der irakisch-iranischen Grenze drängten die in losen Kleinfürstentümern organisierten Stämme nach Anatolien. Über viele Jahre standen sie im Schatten der Skythen, von denen sie sich unter Kyaxeres II. befreiten, was ihnen die größte Ausdehnung ihrer Geschichte bescherte. 614 nahm Kyaxeres II. Assur ein. 612 eroberten sie gemeinsam mit den Babyloniern und Skythen Ninive und besiegelten den Untergang von Assur. Das Assyrische Reich endete endgültig im Jahr 609. Die Rache der jahrhundertelang von den Assyrern mit brutaler Härte drangsalierten Völker war furchtbar. Die syrischen Städte wurden niedergemacht, die Menschen größtenteils umgebracht. Das Land blieb lange Zeit unbewohnt, die Kultur war erstorben. Der letztlich rasche Untergang des Assyrischen Reichs ist für die Historiker auch auf Grund der schlechten Quellenlage nicht einfach zu erklären. Zwar war das Riesenreich immer schwerer zu kontrollieren, aber es brauchte wohl auch wirtschaftliche und innenpolitische Probleme (bis hin zu einem regelrechten Bürgerkrieg nach dem Tod Assurbanipals), um das Ende zu besiegeln.

Woolley 1961, 189

Orthmann 1975, 73

156

Frühe Hochkulturen

1.2.7. Spätbabylonische Zeit

Kessler Karlheinz in Hrouda 1991, 159

57 Abb. eines Löwen vom Ischtar-Tor, ­Babylon; IAM

Andrae 1964

626 setzte sich Nabopolassar, Feldherr eines assyrischen Königs, der sich mit der medischen Koalition verband, im Ringen um den Thron durch und konnte seine Herrschaft in langwierigen kriegerischen Auseinandersetzungen in ganz Babylonien absichern. Die Herrscher des Spätbabylonischen Reichs trugen den Titel »König von Sumer und Akkad«. Das zeigt, wie weit Nabopolassar zurückgreifen musste, um an die frühere Größe Babylons anzuschließen. Es ist ein wenig das, was die Ägypter tep zepi genannt haben, ein Rückgang zu alten Blütezeiten und Wurzeln, was sich auch in alten babylonischen und akkadischen Sprachwendungen der Inschriften ausdrückte. In der Tat war die spätbabylonische Zeit außerordentlich konservativ gestimmt. In der Religion hatte sich über die Jahrhunderte seit der altbabylonischen Zeit kaum etwas verändert. In Assurbanipals Bibliothek fand man Hymnen und Ritualanweisungen, die bereits mehr als tausend Jahre lang angewandt worden waren. Unter seinem Sohn Nebukadnezar II. erreichte das kurze, nur sechs Könige umfassende Spätbabylonische Reich seinen Höhepunkt. Der als fromm geschilderte Herrscher war ein großer Bauherr. Bauinschriften Nebukadnezars finden sich in allen babylonischen Städten. Babylon war von Sanherib dem Erdboden gleichgemacht worden und die Zeit der gesamten spätbabylonischen Dynastie reichte kaum aus, es in altem Glanz wiedererstehen zu lassen. Trotzdem stieg Babylon in seiner zweiten Blütezeit zur größten Metropole der damaligen Welt auf. Um die fünfzig Tempel vermuten die Kunsthistoriker in dieser Zeit in der Stadt. Es entsprach der Staatsdoktrin, in Kunst und Architektur beim alten Babylon anzuknüpfen und die Zeit der Assyrer als kulturlose Zwischenzeit zu denunzieren. Kunst und Architektur wurden zu Legitimationsinstanzen des alten Babylonien. »Das Bauprogramm der babylonischen Könige ist gigantisch zu nennen.« Man baute mit gebrannten Ziegeln, was die Bauwerke haltbarer machte, sodass auch heute eine brauchbare Rekonstruktion möglich ist. Nebukadnezar II. begann, die Stadt mit einer doppelten Mauer zu sichern. Im Nordwesten der Stadt ließ er einen gigantischen Palast errichten als ein gewaltiges religiöses sowie Residenzund Verwaltungszentrum des Reichs. Die Prozessionsstraße vom Ischtar-Tor (600–580) zum heiligen Bezirk wurde neu angelegt. Sie ist eine der wenigen großen Feststraßen im Alten Orient (neben Babylon noch in Hattusa, Assur und Uruk). Die Prozessionen liefen zu Wasser und am Land und folgten einem festen Ritual. Die Wände des Straßenzugs und das Tor selbst waren zuletzt mit einem prächtigen Fries blauer Glasurziegel – prominent mit dem Löwenmotiv als Symbol der Göttin Ischtar – geschmückt. Die Anlage beeindruckt mehr durch ihre gewaltigen Ausmaße als durch die Qualität und Originalität der Kunst. Ebenso renoviert wurden das im Zentrum liegende Esagila-Heiligtum Marduks, entworfen wie ein Palast mit Höfen, auf deren einen Seite die siebenstöckige Zikkurat Etemenanki (Haus der

157

Alter Orient

Fundamente von Himmel und Erde) mit einer Grundfläche von 90x90 m und einer ebensolchen Höhe in den Himmel ragte. Auf der Spitze stand der mit blau glasierten Ziegeln verkleidete Tempel, der Marduk die Anwesenheit in seiner Stadt ermöglichte. »Mögen Monate und Jahre den hochragenden Esagila schützen; Möge sein Ziegelwerk den edlen Marduk preisen; Im Monat des Lebens, dem Fest des Neuen Jahres, laßt uns feiern. Laßt die vier Weltgegenden gebannt auf sein Antlitz schauen; Möge er [Marduk] zufriedenes Leben schenken dem Hirten [dem König], der für ihn sorgt.« Ähnlich wie von Gudea existiert ein Tonzylinder mit einer Baubeschreibung, in der von der Vollendung der Zikkurat berichtet und die Beschaffung von Hölzern aus dem Ausland beschrieben wird. Babylon war im Alten Orient geradezu ein Symbol für den Glanz der Stadtkultur und der religiösen Identität. In einer Bauinschrift heißt es: »Marduk, Herr, Weisester der Götter, stolzer Fürst! […] Herrlicher als Deine Stadt Babylon werde ich unter allen Orten keine Stadt ausgestalten.« Als solche bildete es auch eine Folie für eine erste literarisch fixierte Stadtkritik als Kritik an Aufklärung und Moderne im Neuen Testament. Babylon wurde als »Mutter der Huren« beschimpft. Unter den Baujuwelen befanden sich auch die legendären, bis heute unentdeckten, der Semiramis (vermutlich Schammuramat, die für ihren noch minderjährigen Sohn Adad-nirari III. vier Jahre lang erfolgreich die Herrschaft ausübte) zugeschriebenen Hängenden Gärten (in Wahrheit wohl ein Werk Nebukadnezars II.). Der Gebrauch steinerner Reliefs scheint weniger üblich gewesen zu sein. Möglicherweise gab es auf den mit Gips verputzten Wänden Malereien, von denen sich allerdings nichts erhalten hat. Nebukadnezar eroberte Jerusalem 597 und 586, zerstörte die Stadt, darunter den Tempel Salomons, und deportierte die jüdische Oberschicht nach Babylon. Das Exil dauerte bis 539, der Eroberung Babylons durch die Perser. Der letzte König des Neubabylonischen Reichs, Nabonid, mehr Hohenpriester als König, schaffte eine Belebung der wirtschaftlichen Leistung des gesamten Landes durch Abbau der Zentralisierung. Er, vielleicht selbst ein Aramäer, restaurierte alte assyrische Kulte, deren Erbe er sich verpflichtet fühlte. Das führte zu Spannungen mit der Tempel-Priesterschaft. Als er auch noch Marduk als obersten Gott zugunsten des (von den Aramäern besonders verehrten) Mondgottes Sin absetzte, riefen die Priester den Perserkönig Kyros II. zu Hilfe, der in Babylon 539 kampflos und von den Marduk-Priestern begrüßt einzog und das Babylonische Reich beendete. Neuerdings hat man Vermutungen geäußert, Nabonid wollte mit der Rückstufung Marduks einen latenten Nationalismus der Marduk-Priesterschaft bekämpfen. Für manche Historiker endete damit auch die Geschichte des Alten Orients im engeren Sinne und es begann eine neue Geschichte, jene der Achämeniden, die den Vorderen Orient rasch unterwerfen konnten.

1.2.5.

zit. nach Westenholz 1997b, 161

zit. nach Orthmann 1975, 76 Offb 17,5

3.2.5.

Westenholz 1997b, 168

158

Frühe Hochkulturen

58 Persepolis, Abordnung der Lydier (5. Jh.a)

1.2.8. Von den Achämeniden bis zu Alexander dem Großen

III.2.3.3.1.

Die Herkunft der Perser liegt im Dunkeln. In der Fachwelt kursieren dazu mehrere Theorien. Ihren ersten Namen verdanken sie dem sagenumwobenen Nomadenfürsten Achämenes. Die neuere Forschung betont eine enge und fruchtbare Verbindung zum wiedererstarkten Elam. Die Assyrer stießen erstmals nach der Eroberung Elams um 646 auf die Perser, zu einem Zeitpunkt, wo Assyrien bereits sein Ende vor Augen hatte. Der Reichsgründer Kyros II. wurde um 559a König und herrschte über ein kleines Gebiet im südlichen Zagros-Gebirge mit dem Namen Parsa (griech. persis), das heutige Fars, nach dem das Reich benannt wurde. Schon bald gelang ihm die Eroberung Elams mit der Hauptstadt Susa und um 547 nahm Kyros die lydische Hauptstadt Sardes unter König Kroisos ein, was das Gebiet bis Indien öffnete. Sardes war später der Ausgangspunkt für die persische Königsstraße nach Persepolis. 539 gelang, wie berichtet, schließlich die Eroberung Babylons. Zur gleichen Zeit begannen die Perser, gegen die griechischen Städte in Kleinasien, vorzurücken. Darunter war Milet, in dem sich gerade die abendländische Philosophie aus dem mythischen Denken herauszuschälen begann. Die Königsmetropolen (Susa, Persepolis, Pasargadai, Ekbatana) waren anregende kulturelle Zentren, in denen verschiedene Kulturen aufeinandertrafen. In der Kunstgeschichte gibt es epische Debatten über die Eigenständigkeit der persischen Kunst. Das ging bis zur These, es handle sich dabei bloß um eine provinzielle griechische Kunst. Inzwischen kristallisiert sich mehr und mehr eine eigenständige Charakteristik heraus. »Die königlich-achämenidische Kunst war das Produkt der kreativen Energie der Herrscher der Dynastie, sie verkörperte Weltanschauung und Ambitionen der Perser und diente als Medium der persischen Propaganda. Diese Kunst wurde im Dienste des Reiches in Auftrag gegeben und von hochrangigen Hofbediensteten als königliches Programm entworfen, mit der Absicht, die Perser mithilfe eines

159

Alter Orient

Standardsystems von Machtbildern und hierarchischer Ordnung als die Herrscher über die damalige Welt darzustellen.« Auch die Achämeniden respektierten die alten Kultzentren. Kambyses unterwarf nach dem überraschenden Tod seines Vaters Kyros Ägypten, das ein Jahrhundert lang von persischen Statthaltern regiert wurde. Dareios I. gab dem neuen Großreich, nachdem er innere Aufstände blutig niedergeschlagen hatte, mit großen Verwaltungs- und Rechtsreformen eine Struktur. Er führte die erste Münzprägung ein und stützte den Aufstieg reicher Familienclans. Zudem förderte er Architektur und Künste. Er ließ in einen Felsen in der im nordwestlichen Iran gelegenen Stadt Behistan ein Relief meißeln, das ihn bei der Königsinauguration mit göttlicher Hilfe zeigt. Über der Szene schwebt das zoroastrische Symbol für Geist oder unsterbliche Seele, Faravahar. Eine dreisprachige Inschrift (altpersisch, elamisch, babylonisch) beschreibt (offenbar als nötige Legitimationshilfe) den Aufstieg des Dareios. Sie ist eine der wichtigsten Texte aus dieser Zeit und half bei der endgültigen Klärung der Keilschrift. Dareios I. gründete Persepolis (Parsa) mit einem Regierungspalast und baute in der 3000 Jahre alten elamischen Hauptstadt Susa, die er zu seiner Hauptresidenz machte, zusammen mit seinem Sohn Xerxes nach babylonischen Vorbildern einen gewaltigen neuen Palast, von dem einige Reliefs aus glasierten Ziegeln erhalten geblieben sind. Dareios selbst soll die Pläne entworfen haben. Auch in Ägypten war Dareios an verschiedenen Orten aktiv. Auf der Insel Elephantine tauchte eine aramäische Abschrift des Textes aus Behistan auf. Der als absoluter Herrscher regierende Großkönig pflegte in der Förderung von Kunst und Architektur die Vorlagen des gesamten Reichs aufzunehmen. Insofern mischen sich mesopotamisch-sumerische Stilelemente mit ägyptischen und sogar griechischen. Sein Palast in Susa gilt als anschauliches Beispiel dieses Eklektizismus, allerdings in einer »überzeugenden, kraftvollen Neufassung.« Nicht nur die Formelemente waren aus dem ganzen Reich gesammelt, auch das Material, wie uns Königsinschriften des Dareios aus den Palastarchiven von Susa und Persepolis berichten. Als Transporteure fungierten gerne Griechen, die auch als Künstler und Handwerker im Persischen Reich beliebt waren. In Naqsch-e Rostam nahe von Persepolis ließ sich Dareios I. (wie die Nachfolger Xerxes I., Artaxerxes I., Dareios II.) ein Felsgrab errichten. Auf dem Relief über dem Eingang wird die Übergabe eines Herrschaftsringes an ihn durch den zoroastrischen Hauptgott Ahura Mazda (hier ausnahmsweise als handelnde Person dargestellt) gezeigt. Dabei steht der König auf einem Podest, das von sehr individuell dargestellten Angehörigen von 28 Völkern aus dem Reich getragen wird. Auch dieses Relief wird von einem dreisprachigen Text begleitet, der von der Herrschaft des Königs erzählt. In der Inschrift kommt der Satz vor, der den Großkönig als von Gott autorisierten Ordnungsstifter auszeichnet: »Nach dem Willen Ahuramazdas habe ich sie (die Erde) wieder an den rechten Platz gesetzt.« Mit dem Vorstoß nach Griechenland hatte er seine Möglichkeiten überdehnt, aber die »Begegnung mit Europa« ließ die Perser nicht unbeeindruckt. Kunsthistorikerinnen führen eine Lockerung der hieratischen Strenge und Starrheit in der

Ziffer 1997, 187

Perrot/Ladirey 1997

Amiet 1977, 289

zit. nach Schmidt-Hofner 2016, 30

160

Frühe Hochkulturen

Parrot 1961, 197

Woolley 1961, 201

Schefold 1967, 31

Amiet 1977, 287

III.2.1.

Calmeyer Peter in Hrouda 1991, 437

Kunst auf solche Einflüsse aus dem Westen zurück. »Die Künstler […] versuchten vor allem, die Wiedergabe der starren und eintönigen Kleidung zu beleben, die sie mit verschiedenartigen Falten, wie sie den Assyrern fremd waren, ausschmückten; […] Es ist kaum möglich, die Herkunft dieses belebenden Hauches anders zu erklären als durch einen Einfluß von Westen her.« Wir werden in Byzanz wieder auf diese hieratische Strenge bei der Ästhetik der Ikone treffen. Die kulturelle Begegnung hinterließ nicht nur harmonische Neuformungen. Nicht selten wurden bei der intensiven Begegnung nach der griechischen Kolonisierung der kleinasiatischen Küste die Elemente zweier Kunststile »willkürlich in eine Zwangsehe gepreßt.« Dieses Ineinander von griechischen und asiatischen Zügen wurde in Griechenland ein Thema im intellektuellen Diskurs. Denn auch die Griechen waren von der Begegnung beeindruckt, wie die Spuren in Literatur und Kunst zeigen. Man hat bei der Palastanlage von Persepolis auf ganz verschiedene Vorbilder hingewiesen. Karl Schefold sah in den lichten Säulenhallen, welche die schwere Architektur Mesopotamiens ablösten und schließlich an die islamische Architektur weitergereicht wurden, den Einfluss des Griechischen: »War die Kunst Mesopotamiens durch Jahrtausende auf die Gestaltung des ewigen Seins in schweren irdischen Gebilden gerichtet gewesen, so wird sie seit der Berührung mit der griechischen Kunst vergeistigt und entstofflicht.« Verwiesen wird aber auch auf das Vorbild des Palastes von Amarna. Kunsthistorikerinnen verfolgen die Spuren der persischen Palastarchitektur in die Bergregionen Anatoliens und in die Gebiete der Hethiter und Phrygier. Es ging um »die Schöpfung großer Baukomplexe, die aus einzeln stehenden Baukörpern zusammengeordnet waren und, zumindest bei den Phrygiern, alle denselben Grundriß hatten: das Megaron.« Das Megaron als eine Grundgeometrie der Bauten wird uns prominent in der mykenischen Kultur wieder begegnen und dort einen Gegenpol zur minoischen Architektur Kretas setzen. Die Hofhaltung nahm riesige Ausmaße an und wurde zum Vorbild für die späteren Höfe im islamischen Bereich. Manche höfischen Rituale sind in der katholischen Liturgie (Distanz, Proskynese) bis heute erhalten geblieben. Sie sind durchaus nicht alle rein persischen Ursprungs, sondern gehen (wie die Proskynese) auf die mesopotamische Hofhaltung zurück. Unter Dareios wuchs die Vorliebe für große Gartenanlagen auf Landsitzen mit eigenen Jagd- und Reitparks. Das altpersische Wort für diese Gärten lautete paridaida (umzäunt, ummauert), wovon sich das griechische paradeisos ableitet. Die Griechen malten sich das Leben der persischen Großkönige phantasievoll aus. Sie haben sich ihr Leben »alljährlich zwischen vier Residenzen wechselnd vorgestellt: im Herbst in Persepolis, im Winter in Susa, im Frühling in Babylon und im Sommer im luftig-kühlen Ekbatana.« Spektakulär zu nennen ist die Neuheit, dass die Kulte der Perser mit ihren Rückgriffen auf abstrakte Vorstellungen der Assyrer, etwa die geflügelte Sonnenscheibe, unter freiem Himmel zelebriert wurden. Es gab nicht nur keine Heiligtümer mehr,

161

Ägypten

sondern auch das Götterbild existierte so gut wie nicht. Der höchste Gott der Religion Zarathustras, Ahura Mazda (der weise Herr), ist ein altorientalischer Gott mit indischen Wurzeln, Schöpfer-, Fruchtbarkeits- und Lichtgott und Erhalter der Ordnung in der Welt. Es gab kaum Bilder dieses Gottes, meist wurde er als Symbol des Lichtes oder des Geistes (Faravahar) dargestellt. Davon abgeleitet gab es auch keine Standbilder von Königen, von einzelnen (fraglichen) berichteten Ausnahmen abgesehen. Die Rundplastik ist mit wenigen kleinen Exemplaren so gut wie nicht vorhanden. Demgegenüber waren die Kunst des Frieses, die Glyptik und die Metallkunst hoch entwickelt. Es war Alexander der Große, der dem durch das Debakel im Griechenlandfeldzug und durch die aus dem Verlust Ägyptens resultierenden wirtschaftlichen Problemen sowie durch Hofintrigen geschwächten Reich in einem Feldzug ab 334 gegen Dareios III. den Todesstoß versetzte. 331 zog Alexander in Babylon ein und starb in dieser inoffiziellen Hauptstadt des Alexanderreichs am 10. Juni 323. Am schönsten hat den Wandel wohl Pierre Amiet auf den Punkt gebracht, wenn er mit Blick auf das müde gewordene großpersische Reich sagte: »Endlich zur Einheit gelangt, war der Alte Orient indessen wirklich alt geworden und reif für einen grundlegenden Wandel, dessen Urheber die Griechen sein sollten.« Nach Alexanders Tod rangen die Diadochen um das Erbe, Seleukos I. trat 312 an die Spitze des von ihm gegründeten Seleukidenreichs, das Mesopotamien, das Kaukasus-Gebiet und Teile von Vorderasien umfasste. Das ist die Geschichte des Hellenismus, die im nächsten Abschnitt Thema sein wird.

III.2.5.1.

Amiet 1977, 291

III.2.5.f.

2.0. Ägypten Neben dem mehrsprachigen, in seinen Herrschaftsverhältnissen schwer überblickbaren Mesopotamien glänzte Ägypten als konkurrierende Hochkultur. Dank seiner Überschaubarkeit, der Vielfalt der erhaltenen Relikte und nicht zuletzt seiner guten Erreichbarkeit wurde Ägypten zur weitaus populärsten Hochkultur und löste in Europa öfters wiederkehrende »Ägyptomanien« aus, mit sichtbaren Niederschlägen in Kunst und Architektur. Die Nachhaltigkeit der Wirkung auf die europäische Kultur durch Ägypten ist demnach kaum zu überschätzen. Ägypten schuf den nach dem Paläolithikum längsten einheitlichen Kunst- und Kulturrahmen der Geschichte. Dabei gab es zwischen Ägypten und Mesopotamien durchaus Verflechtungen. Anfangs orientierte sich Ägypten stark am Uruk-Modell. »In dieser Zeit strahlte Vorderasien auf Ägypten aus, beeinflusste dortige Entwicklungen und diente als Modell, dessen materieller (und ideologischer?) Ausdruck von Prestige und Macht von Ägypten rezipiert wurde. Der direkte oder indirekte Kontakt mit Mesopotamien wurde bald ein wichtiger Faktor in der Frühgeschichte Ägyptens.« Das galt bis in die frühdynastische Zeit. Nach dem Zusammenbruch des

59 Einer der beiden »Memnon-Kolosse«

VIII.9.2.3.3.

1.2.2.1.

Kaelin 2006, 32

162

Frühe Hochkulturen

Uruk-Systems drehte sich das Verhältnis um. Ägyptens Altes Reich diente als Vorbild für die mesopotamischen Reiche.

2.1. Kontexte Die ägyptische Hochkultur wurde um die Wende des 4. ins 3. Jt. in einem dramatischen Akt geboren. Es waren wohl die erwähnten Beziehungen zu den Sumerern, die dazu beigetragen hatten, das Land ruckartig aus der Steinzeit zu reißen. Freilich gibt es auch eine weniger dramatische Betrachtung. Die vielen Nilfluten könnten die Fundplätze der neolithischen Vorzeit (es haben sich nur wenige erhalten) nachhaltig zerstört haben. Jedenfalls war der weitere Verlauf der kulturellen Entwicklung eigenständig, auch wenn es ab etwa 2600 zu erheblichen Austauschvorgängen mit dem Ägäischen Raum und dem gesamten Nahen und Mittleren Osten kam. Es war der Handel, in dessen Gefolge Kunst und Kultur blühten und der die politischen Grenzen durchlässig werden ließ.

2.1.1. Topografie und kulturelles Selbstverständnis Eliade 1976, I, 87f ­Wilson John in PWG I, 328

Elisofon 1964 ◀

60 Fruchtbarer Nil, Abb. auf dem Tempel von Dendera

Grundlegend für das Verständnis der kulturellen Erzählungen Ägyptens und seiner Kunst ist die Beachtung der einmaligen Topographie des Landes. Das aus Ober- und Unterägypten vereinigte Land bestand nach dem Klimawandel des Neolithikums aus dem fruchtbaren Niltal und dem Delta, das – eingerahmt von schützenden natürlichen Barrieren: Wüste, Rotes Meer, Mittelmeer, zweiter und dritter Nil-Katarakt – ein Höchstmaß an Abschottung und Sicherheit besaß. Das zweite prägende Element war der Nil. Der Fluss, dessen heiliger Name hapi (Nilflut) lautete und der als androgyne Gottheit mit gut genährtem Bauch und hängenden Brüsten dargestellt wurde – alte Texte bezeichneten ihn als Frau und Vater der Götter – ist bis heute die Lebensader des Landes. Das berühmte Wort Herodots, Ägypten sei »ein Geschenk des Nils«, trifft die Situation exakt. Heftige Monsunregen in Zentralafrika lassen den 6671 km langen Fluss, dessen Einzugsgebiet der Fläche eines Zehntels von Afrika entspricht, alljährlich bis zu sieben Meter anschwellen. Die Flut mit ihren fruchtbaren Tonerde-Sedimenten ergoss sich bis zum Bau des Staudamms 1971 regelmäßig zur Saatzeit in das Niltal und überschwemmte es im Hochsommer (heute werden aus dem wertvollen nährstoffreichen Schlamm Backsteine produziert). Ägypten verfügt mittlerweile über praktisch unbeschränkte Wasserreserven und wird durch zahlreiche Kanäle das ganze Jahr über bewässert, was zur Erhöhung des Grundwasserspiegels beiträgt und zahlreiche Denkmäler im Niltal bedroht. In antiker Zeit wurde in den fruchtbaren Schlamm gesät und etwa fünf Monate später reichlich geerntet. In der folgenden Trockenzeit konnte man die Menschen für die Bauprojekte einsetzen. Bis zum Einfall der Hyksos 1674 war das Gefühl der Sicherheit unangefochten. Die Tendenz der Gewinnung und Sicherung der eigenen Identität durch Abschottung nach außen durchzieht die ägyptische Kultur und diese Tendenz verstärkte sich in der Spätzeit. Das ist eine ganz andere Situation als in dem offenen, vielfältigen Begegnungen und Konflikten ausgesetzten Alten Orient. »Der ägyptische

163

Ägypten

Kosmos hatte etwas Zuverlässiges und Tröstliches.« Es gibt geradezu ein architektonisches Symbol für solche Identitätssicherung durch eine kanonisierte Vergangenheit: den Tempel. Der Nil verlieh dem Land eine Axialität und bildete aufgrund seiner guten Schiffbarkeit als »Schnellstraße, die das Innere Afrikas mit dem Mittelmeer verband«, eine ideale Basis für eine zentralistische Verwaltung, aber auch für die Ausbildung einer Prozessionskultur im religiösen Ritual. Der Fluss bildete eine gigantische Prozessionsstraße (die Tempel öffneten sich zum Fluss hin) und gab in Ergänzung der Kreisbewegung der Naturzyklen eine lineare Bewegungsrichtung vor. Es ist in der Tat eine Möglichkeit, »Kyklos und Linie miteinander zu versöhnen […], die Linearität von offener Vergangenheit, punktueller Gegenwart und offener Zukunft […] der immerwährenden kyklischen Zeit einzuordnen.« Die Städte waren wie im Alten Orient die religiösen Zentren und der wichtigste Raum der Sozialisation mit einer großen Zahl von religiösen Festen.

Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 137 2.5.

Kaelin 2006, 183

Speyer 2014, 46 Zeinab 2004

2.1.2. Eine Geschichte nach Königsdynastien Für das Gesamtreich verbanden sich ein äthiopides Substrat von Nomaden im Süden, die nach der Austrocknung der einstmals fruchtbaren libyschen Wüste in Richtung des Flusses zogen, und eine orientalide Variante einer mediterranen Rasse im Delta, die auf dem Niveau eines jungsteinzeitlichen Bauerntums stand. Schon in den beiden neolithischen Keramikkulturen, Badari und Naqada, gab es einen regen Handelsaustausch bis nach Palästina und nach Nubien und damit einhergehend eine lebendige kulturelle Dynamik. In diese Zeit fallen die ersten Siedlungsstrukturen und Städte. Wie im gesamten Alten Orient waren auch in Ägypten die Städte die Kultur-generierenden Orte, obwohl die Städteentwicklung selbst und ihre genaue Rolle als Träger der Kultur nicht unumstritten sind. Hierakonpolis südlich von Luxor wird bereits in der Naqada-Zeit als »Ursprungsort des Königtums« bezeichnet. »Das Alte Ägypten beschritt zwar nicht den Weg zum Stadtstaat, aber Städte spielten dennoch auf seinem Weg zum Staat eine ausschlaggebende Rolle.« Der Anfang der dynastischen Zeit liegt im Dunkeln verschiedener (mythenumrankter) Überlieferungen, die auch Namen von ersten Kleinkönigen oder Stammeshäuptlingen transportieren. Die Staatsgründung soll das Werk des sagenhaften ersten Herrschers Menes (0. Dyn. um 3000) gewesen sein, der nach der Eroberung Unterägyptens die Hauptstadt Memphis (weiße Mauer) an der Grenze zwischen Oberund Unterägypten errichtete. Er übernahm das Werk aus der Hand von Göttern, ein Motiv, das wir aus dem Alten Orient kennen und mit dem noch Platon hantieren wird. Der alte Name dafür, »der Tempel des Ka des Ptah« (Ka ist die Führungs- und Schutzkraft; Ptah, der Gott von Memphis, der durch sein Wort das All und die Götter geschaffen hat, bedeutet schöpferischer Geist und Herz des Göttlichen), also Heko-ptah, hat möglicherweise zur Bezeichnung Aigyptos geführt. Vielleicht war Menes eine Konstruktion des Neuen Reiches, das die langwierige Wiedervereinigung in eine konkrete Figur der Erinnerung projizierte. Die Bruchkante zwischen Ober- und Unterägypten markierte das einschneidende Trauma Ägyp-

Kolb 1984, 21

Seidlmayer 2010, 21/23

Arnold 1992, 193 Dondelinger 1973, 34

164

Frühe Hochkulturen

Assmann 2001b, 51 61 Pharao schlägt seine Feinde als »Logo« auf den ägypt. Tempeln

Seidlmayer 2010, 28

1.2.2.2.

Müller-Karpe 1968, 262

62 Karnak-Tempel: Pharao mit Doppel­ krone bei einem Trankopfer

tens. Jeder Pharao hatte bei seiner Thronbesteigung die Vereinigung von Ober- und Unterägypten rituell zu vollziehen. Auf diese Weise scheint auch die Schwelle von der Vorgeschichte zur Geschichte Ägyptens als Gründungsmythos untrennbar mit der Erinnerung an die Einigung verbunden gewesen zu sein. Auf einer Prunkpalette (reliefierter Stein vermutlich für kultische Zwecke) des Königs Narmer (0. Dyn. um 3100), der im gesamten Gebiet bezeugt ist (manche Forscher setzen ihn mit Menes gleich), weshalb man auf ein geeintes Reichs zurückschließt, prangt das in der weiteren Geschichte als universales »Logo« dienende Motiv des »Erschlagens der Feinde«. Es kann als »Zeugnis der letzten Etappe der politischen Vereinigung des Landes« angesehen werden. Es gründet ein ähnliches Narrativ wie bei der Darstellung auf der Geierstele von Lagasch, wo der König über die besiegten Feinde zum Treffen mit dem Sonnengott steigt. Die ersten Könige, Narmer und Aha, stehen am Übergang von den prähistorischen Kulturen (Badari, Naqada) in die dynastische Zeit und sie stehen zugleich für die Übertragung der Herrschaft von den Göttern auf die Menschen. Im gesamten Alten Orient wuchs die Institution des Königtums aus der religiösen Sphäre. »Der König war der Sphäre des Nur-Innerweltlichen entrückt und in den unmittelbaren Hoheits- und Wirkbereich göttlicher Mächte gehoben.« Die bis heute übliche Zählung nach Dynastien soll der historisch schwer greifbare ptolemäische Priester und Geschichtsschreiber Manetho um 250a eingeführt haben. Aus der Wende von der 18. zur 19. Dynastie sind erstmals Königslisten überliefert (z.B. Abydos), was auf ein wachsendes Geschichtsbewusstsein hindeutet. Im Reich, das sich seiner Bruchlinie zwischen Ober- und Unterägypten stets bewusst blieb – die offene rote Krone Unterägyptens und die hohe geschlossene weiße Krone Oberägyptens vereinigten sich in der Doppelkrone –, reiht sich eine Dynastie an die andere, nachdem die Ausbildung von Schrift, Kalender (um 2770) und eine frühe Form der Geschichtsnotierung geschafft war. In der Frühzeit (um 3000/1.–2. Dynastie) gewann, von Abydos und Memphis ausgehend, Ägypten eine Vormachtstellung gegenüber den Nachbarländern. Aus dieser Zeit datieren die Weltentstehungsmythen. Bis zur fünften Dynastie lag die Kultur Ägyptens im Wesentlichen vor. Alle weiteren Entwicklungen wiesen (mit Ausnahme der Vorgänge in der 18. Dyn.) einen hohen Anteil an Wiederholung und Variation dieses alten Gutes auf. Die vor der Wende ins 3. Jt. entstandene Schrift – vermutlich durch das Vorbild in Mesopotamien stimuliert – blieb einer Elite vorbehalten. Der Schreiber wurde in dynastischer Zeit zu einem eigenen, angesehenen Berufsstand. Das Alte Reich (2700–2200/3.–6. Dyn.) war die Zeit der Pyramiden. In der 4. Dynastie (um 2500) erreichte ihr Bau mit den Anlagen in Giza einen Höhepunkt.

165

Ägypten

Kurzzeitig hörte der Pyramidenbau völlig auf, bis in der 5. Dynastie die letzten kleineren Pyramiden neben den wichtiger werdenden Sonnenheiligtümern entstanden. Gegen 2200, während der sechzigjährigen Regierungszeit Pepis II., zerfiel das Alte Reich in bürgerkriegsähnlichen Umbrüchen an der alten Bruchstelle in ein Nord- und ein Südreich (mit Theben als Hauptstadt) und in verschiedene Gaue, die von weitgehend unabhängigen Fürsten geleitet wurden. Die Felsengräber der Potentaten des 16. oberägyptischen Gaus in Beni Hassan stellen in diesem Zusammenhang eindrucksvolle Zeugnisse altägyptischer Kunst dar. Sie spiegeln mit ihrer, gemessen am Alten Reich, bescheidenen Ausstattung, einfache Holzsärge anstelle der früheren Steinsarkophage, den sozialen und künstlerischen Niedergang in dieser sogenannten Ersten Zwischenzeit (2200–2130/7.–10. Dyn.). Ähnliche Nekropolen entstanden an mehreren Stellen (Mo’alla, el-Berscheh, Assiut, Deir Rifeh). Das Zerbrechens der Einheit wurde mit Klagetexten über den Verlust der kosmischen Ordnung und über die Abwesenheit Gottes zu verarbeiten versucht. Mit der blutigen Wiedervereinigung in der 11. Dynastie unter Mentuhotep II. begann das Mittlere Reich (2130–1780/11.–12. Dyn.). Mentuhotep löste mit seinen Reformen eine Blütezeit aus. Im Vordergrund stand die Legitimation des königlichen Herrschers. Zu diesem Zweck kam in der 12. Dynastie das aus dem Vorderen Orient bekannte Narrativ der göttlichen Geburt des Königs auf, der von nun an als Sohn Gottes zu gelten hatte. Geistesgeschichtlich war es eine Zeit der Rezentrierung und Restauration im Zeichen Thebens, das sich den memphitischen Thron einverleiben konnte. Weit reichende Expeditionen standen für eine aktive und die Handelsrouten sichernde militärische Außenpolitik. Die Präsenz Ägyptens im Vorderen Orient (Byblos, Qatna, Ebla) und Afrika (Punt, Nubien) lässt sich durch zahlreiche Funde nachvollziehen. Nubien, die zweite Nilzivilisation, diente als Lieferant zentralafrikanischer Reichtümer, vor allem von Gold (altägypt. nub/Gold). Sesostris III. baute die ersten Festungsanlagen im Niltal gegen Nubien. Sie sind unzerstört, aber in der Tiefe des Nasser-Stausees versunken. Ein Ringen mit den Gaufürsten und der neuerliche Zerfall der Staatsautorität markierte in der Zweiten Zwischenzeit (1700–1550/13.–17. Dyn.) eine Unterbrechung des Aufstiegs Thebens. An der Grenze zu Nubien wurde Ägypten auf den ersten Katarakt beim heutigen Elephantine/Assuan zurückgedrängt. Schließlich brachte der Einfall der Hyksos (vermutlich eine Verballhornung von heqa-chasut/Herrscher der Fremdländer), ein nicht lokalisierbares asiatisches Mischvolk, um 1674 die bislang schwerste Erschütterung des ägyptischen Selbstverständnisses mit sich. Die Eindringlinge verfügten über hervorragende Waffentechnik. Darunter befand sich vermutlich der Streitwagen, der den gepanzerten ägyptischen Fußtruppen überlegen war. Die Hyksos herrschten in der 14. und 15. Dynastie für einhundert Jahre von ihrer Metropole Auaris im Delta aus über das Land. Der Stadtgott von Auaris war ausgerechnet der zerstörerische und übel beleumundete Gott Seth. In der 17. Dynastie begann die langwierige Befreiung von den Hyksos. Sie wurde in der 18. Dynastie, dem Beginn des Neuen Reichs (1550–1070/18.–20. Dyn.), von Ahmose I. unter

Badawy 1966, 131ff

166

Frühe Hochkulturen

2.2.1.

63 Der Qurna-Berg über dem Tal der Könige

Hodel-Hoenes 1991, 15

64 Reste des Tempels von Mentuhotep II. in Deir el-Bahari

Mithilfe des Hethiter-Königs Murschili I. abgeschlossen. Es folgte die Sicherung und Konsolidierung des Reichs. Auch im Süden konnte wieder Terrain bis zum vierten Katarakt gewonnen werden. In Nubien stehen die Relikte des Altägyptischen Reichs bis heute. Die Pyramiden-Grabbauten waren steiler und kleiner mit Höhen bis zu 30 Metern. Die Grabkammern befanden sich direkt darunter und sie wurden erst nach dem Tod des Königs errichtet. Allerdings geht man heute als Ergebnis intensiverer Grabungen im Sudan davon aus, dass es daneben eine eigenständige nubische Kultur gab. Der aus Genf stammende Archäologe Charles Bonnet belegte anhand von Grabungen in Kerma in der Nähe des 3. Katarakts die Eigenständigkeit nubischer Herrscher. Freilich bleiben intensive Kontakte nach Ägypten unbestritten. Theben etablierte sich an der Schwelle zum Neuen Reich mehr und mehr als theokratisches Staatsmodell, bei dem der Stadtgott Amun über die inzwischen zu einem eigenen Berufsstand aufgestiegenen Priester als Mittler auch erhebliche politische Macht ausübte. Amun, der die Charakteristiken des Atum-Re aufsog, wurde zum neuen Leitgott als Schöpfer-, Sonnen- und Stadtgott in Theben. Der Herrscher sammelte eine Kunst- und Wissenschaftselite um sich. Das zum Weltreich gewordene Ägypten gab sich eine adäquate Grablege der Könige in der Metropole und der zeitweiligen Residenzstadt Theben. Felsengräber lösten die Mastabagräber des Alten Reichs ab. Theben-West wurde zum größten Grabbezirk der Weltgeschichte ausgebaut. Die wichtige Kultbeziehung zwischen den gewaltigen Tempelanlagen Karnak (arab. quarm/Zitadelle) und Luxor (arab. al-qusur/Burg, Palast) und der »schönen West-Seite«, die der Sicherung des Sonnenlaufs diente, wurde bereichert durch das damals als Unterweltbereich verstandene Tal der Könige, das durch die Felswand hinter dem späteren Hatschepsut-Tempel abgetrennt ist. Die mächtige natürliche Pyramidenform des Qurna-Berges dominiert das von schroffen Felswänden umgebene Tal, das gut abzusperren war. Die Grablegen, die am Anfang an versteckten Stellen angelegt wurden, schienen sicher gewesen zu sein. Schon Mentuhotep II. hatte um 2020 am Fuß des Berges in Deir el-Bahari einen mächtigen Terrassenbau als Totentempel (Sigfried Giedion spricht von einem »rock amphitheater«) errichten lassen, dessen Grabanlage nach Motiven der Felsengräber der Gaufürsten 150 Meter in den Berg reicht. Am Eingang des Grabareals wachen zwei monumentale Statuen, die Amenophis III. vor einem (heute nicht mehr erhaltenen) Eingangspylon in den heiligen

167

Ägypten

Bezirk errichten ließ. Die Griechen gaben ihnen den Namen ihres mythischen Helden Memnon. Andere Könige bauten in der Umgebung von Memphis nach altem Vorbild wieder Pyramiden – mit einem ausgeklügelten Grabkammersystem, um der Plage der Grabräuberei zu begegnen. Die Verbindung der sakralen Anlagen wurde durch religiöse Feste sichergestellt, die zugleich eine Festigung des theokratischen Systems ermöglichten. Das Opet-Fest (das Schöne Fest von Opet) in Theben war die jährliche Prozession der Amunbarke von Karnak nach Luxor (zurück auf dem Nil). Es diente der Regeneration des Gottes und der Vereinigung seiner Lebenskräfte mit jenen des Königs, war also ein Fruchtbarkeitsritus. Die älteste Darstellung datiert aus der 18. Dynastie (um 1460) und fand sich in dem später Rote Kapelle (Chapelle rouge) genannten Barkensanktuar der Hatschepsut in Karnak. Auf dem Weg der Prozession gab es etliche Stationsheiligtümer, an denen die Barken anhielten und Rituale vollzogen wurden. Beim Dekaden-Fest zur Sicherung des Bestandes der Schöpfung führte die Prozession vom Karnak-Tempel über den Luxor-Tempel nach Medinet Habu. Auch beim Schönen Fest vom Wüstental setzte Amun-Re von Karnak aus über den Nil und stattete den Heiligtümern auf der Westseite einen Besuch ab. In späterer Zeit schlossen sich die Prozessionsstatuen anderer Götter und Königsstatuen dem Zug an. Unter dem Sohn Ahmoses, Amenophis I., begannen ein glanzvoller kultureller Aufstieg und eine Neuorientierung des Landes. Thutmosis III. übernahm noch minderjährig die Herrschaft. Die Regierung teilte er sich mit seiner Stiefmutter Hatschepsut, die sich zum (männlichen!) König auf dem Horus-Thron ausrufen ließ und die kulturelle und wirtschaftliche Expansion vorantrieb. Grundsätzlich waren in Ägypten die Frauen gleichberechtigt, übten Berufe aus und hatten hohe Stellungen in der Verwaltung inne, Pharao zu sein war ihnen jedoch nicht gestattet. Daher trat Hatschepsut als Mann auf. Zudem ließ sie die Geschichte einer göttlichen Empfängnis verbreiten und etliche Obelisken aufstellen, um ihre Verbindung mit den Göttern zu demonstrieren. Die Geschichte ihrer göttlichen Herkunft erzählt der Totentempel in Deir el-Bahari. Hatschepsut stiftete mit der grandiosen Tempelanlage ein Legitimationsdokument ihrer Herrschaft. Nach ihrem ungeklärten Tod 1458 und dem ihrer wichtigsten Berater ließ Thutmosis III. jede Erinnerung an Hatschepsut tilgen. Namentlich ihre Obelisken als Zeichen ihrer göttlichen Legitimität wurden zerstört. Thutmosis III. beanspruchte als erster den Pharaonentitel (altägypt. per-o/großes Haus, Residenz). Der Pharao lebte in der Regel mit seiner Familie abgeschieden am Hof, für die täglichen Regierungsgeschäfte war ein Kanzler, den man Vezir nannte, zuständig. Mit seinen Eroberungszügen bis zum Euphrat konnte (unter Thutmosis IV. und Amenophis III.) Ägypten sich zwar als Weltreich mit schlagkräftiger Armee verstehen, die reale Macht reichte aber kaum sehr weit. Im Nahen und Mittleren Osten regierten lokale Könige unter ägyptischer Aufsicht und in Mesopotamien, wo Babylonien gerade die Fremdherrschaft der Kassiten erlebte, rivalisierte Ägypten stets mit Hurritern und Hethitern. Theben (altägypt. Waset; der griechische Name Theben leitet sich vom Stadtteil Djeme ab) wurde von Amenophis III. zur Residenzstadt ausgebaut. Er errichtete

Wenig 1969, v.a. 11–16

168

Frühe Hochkulturen

Assmann 1998, 48

Shaw 1997

Shaw 1997; Samson 1972, 9–13; Bille-­ De Mot 1965, 181f Frankfort/Pendlebury 1933 Badawy 1968, 76ff Müller/Vogel 1979, 111 Badawy 1966, 38 III.2.3.2.

im Südwesten den luxuriös ausgestatteten Palast Malqata. Auch als die Residenzen wieder in Memphis und später in Ramesse lagen, blieb Theben das religiöse Zentrum des Reichs. Die Eroberungen brachten zwangsläufig eine Öffnung auf fremde Einflüsse. Ägypten nahm Züge einer kosmopolitischen Kultur an, eine Bewegung, die dem Del­ ta am Mittelmeer ohnehin inhärent war. Fremde Gottheiten wurden assimiliert. Vielleicht stimulierten diese Offenheit und der hohe Stand von Kultur und Wissenschaft den religiösen Reformversuch des Amenophis IV. (altägypt. Amenhotep), der sich Achen-Aton (Echnaton/der sich für Aton einsetzt) nannte. Dieser erste Religionskonflikt der Geschichte, bei dem es auch darum ging, die Dominanz der durch Ägyptens Wohlstand stark und reich gewordenen Priesterschaft des Amun-Tempels in Theben mit einem mächtigen Bildersturm zu brechen, war ein ungeheurer Einschnitt. Es folgte eine neue Religion, eine neue Politik und eine neue Kunst. Die Sonnenscheibe wurde zum Sitz des höchsten und einzigen Gottes Aton erhoben. Der Gott als solcher war nicht neu, es gab ihn bereits im Palast des Amenophis III. Ein neuer gewaltiger Tempelkomplex im Ostteil des Amun-Tempels in Karnak, die größte je errichtete sakrale Anlage, wurde für Aton gebaut. Aufgrund des anhaltenden Widerstands der Amun-Priester verließ Echnaton Theben und gründete eine neue Hauptstadt: AchetAton (Horizont des Aton, heute: Tell el-Amarna). Der alte Gott Amun war ein im Kult sich über Orakel offenbarender Gott, auf dessen Auslegung sich die Macht der Priesterklasse stützte. Er war vordergründig ein Gott, der sich in die Politik einmischte. Dagegen ging Amenophis mit aller Härte vor und verlieh der Amarnazeit ein doppeltes Gesicht. Sie war einerseits eine Zeit rigoroser staatlicher Kontrolle und Unterdrückung der alten Eliten, aber die Reform hatte auch liberale und soziale Züge. Das betraf die soziale Egalisierung und unter anderem eine freiere Gestaltung der Hauptstadt mit ihren zwei Steintempeln (darunter der große Aton-Tempel im Nordosten) und mehreren Palästen und Residenzen, deren spärliche Reste (darunter solche vom Nord-Palast) ausgegraben werden konnten. Die Tempel boten große nicht überdachte Höfe, in denen Altäre und Stelen standen. Sie vermieden Schattenwurf und zeigten daher ein anderes Charakteristikum als die bisherigen Anlagen. Die Stadt hatte jenseits des religiösen und politischen Zentrums große Wohngebiete im Norden, Osten und Süden (dort konnte man unter anderem das Haus des Wesirs Nacht identifizieren, dessen Grab, eines der schönsten Beamten-Gräber in Theben-West, in wunderbarem Zustand erhalten ist). Besonders der südliche Stadtteil zeichnete sich durch verschiedenartige Häusertypen aus. Es gibt viele sich widersprechende Theorien zur Eigenart Amarnas und der Zuordnung der einzelnen Wohnviertel an die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Die bisher streng überwachten Ghettos der Handwerker, Künstler und Beamten, die Geheimnisträger beim Tempel- und Grabstättenbau waren, wurden freier. Die Arbeiterwohnhäuser waren zwar stärker typisiert als anderswo, aber großzügig gestaltet, sodass sogar von einem »sozialen Wohnungsbau« gesprochen wurde. Viele Stadtanlagen nahmen die geometrische Ordnung, die später unter dem Namen des Hippodamos berühmt wurde, vorweg.

169

Ägypten

Dieser gestiftete Monotheismus – vielleicht besser: Monolatrismus, weil einige alte Götter geduldet wurden – dauerte nur sehr kurz, gerade einmal zwei Jahrzehnte. Zur religiösen Zäsur und dem politisch-sozialen Umbruch gesellte sich ein wirtschaftlicher Einbruch. Der Ausfall des Wirtschaftszentrums Amun-Tempel schwächte die Ökonomie spürbar. Bereits der Nachfolger, der selbst am Hof von Amarna aufgewachsene, vielleicht sogar mit Echnaton verwandte Tutanchaton, der seinen Namen in Tutanchamun änderte, ging als Kindkönig nach Theben und stellte die alten Verhältnisse wieder her. Tutanchamun ist durch den Fund des unzerstörten Grabes im November 1922 durch Howard Carter, eine der größten Sensationen der Archäologiegeschichte, berühmt geworden. Historisch und auch politisch interessant ist der Kinderpharao, der nicht einmal das 20. Lebensjahr erreichte, wegen der Rückkehr zu den alten Göttern. Achet-Aton zerfiel. Im Grab Echnatons wurde die Erinnerung an ihn und seinen Gott Aton ausgemeißelt. Die alte Religion, allerdings durch Amarna deutlich verändert, kehrte wieder. Diese Rolle des Tutanchamun war bereits vor der Entdeckung des Grabes durch eine Stele, die man im Karnak-Tempel 15 Jahre vorher gefunden hatte, bekannt. Die kostbare Ausstattung des Grabes ist nicht zuletzt ein Hinweis auf den ungeheuren Reichtum des ägyptischen Reichs dieser Zeit. Über die Preise für Gold, aber auch für einfache Sargmalereien und Gegenstände des täglichen Bedarfs sind wir gut unterrichtet. Der Übergang von der 18. Dynastie in die Ramessidenzeit der 19. und 20. Dynastie gilt als erheblicher Einschnitt in der ägyptischen Kultur. Ramses I., sein Sohn Sethos I. und besonders der knapp sieben Jahrzehnte regierende Ramses II. sicherten nicht nur den Bestand, sondern setzten eindrucksvolle Impulse. Ramses II. errichtete im östlichen Delta, nahe der alten Hyksos-Hauptstadt Auaris, wo sein Vater bereits einen Palast gebaut hatte, die neue Hauptstadt Piramesse (Haus des Ramses). Sie lag strategisch günstiger und war ein idealer Stützpunkt für das große Heer zur Sicherung der politischen Interessen, in erster Linie der Handelswege. Das leitete das Ende der politischen Rolle Thebens ebenso ein wie der Grablege von Theben-West, die nach dem Tod Ramses’ XI., mit dem die 20. Dynastie zu Ende ging, aufgegeben wurde. Ramses II. gelang nach einer für ihn desaströsen Schlacht bei der schon lange als unruhig geltenden Stadt Kadesch 1274a, die freilich von der politischen Propaganda zu einem glänzenden Sieg umgedichtet wurde, ein friedlicher Ausgleich mit den Hethitern. Der erste internationale Friedensvertrag der Geschichte zwischen Ramses II. und dem König der Hethiter Hattuschili III. (einen Hattuschili II. scheint es nicht gegeben zu haben) aus dem Jahre 1259a wurde auf den ägyptischen Sonnengott und den hethitischen Wettergott abgeschlossen: »Das [Verhältnis, BB], das der Sonnengott geschaffen hat und das der Wettergott geschaffen hat, für das Land Ägypten und das Land Chatti.« Nach der Beruhigung an den Außenfronten konnte sich Ramses dem Bauen widmen. Er wurde der größte Bauherr Ägyptens und einer der größten der Ge-

Janssen 1975

65 Kolossalfiguren Ramses II. in Abu Simbel 1.2.5.

zit. nach Keel 2007, 130

170

Frühe Hochkulturen

66 Abbildung abgeschlagener Hände getöteter Feinde in Medinet Habu

Brissaud 1997

2.2.1.

1.2.8.

III.2.5.1.

Harris/Ruffini 2004

schichte. Eine riesige Zahl von monumentalen Tempeln entstand, unter ihnen jener von Abu Simbel. In der 20. Dynastie war trotz weiterer Gebietsgewinne – die größte Ausdehnung erreichte Ägypten erst unter Ptolemäus III. – der Gipfel überschritten. Zunächst konnte noch mit Mühe der Ansturm der Seevölker und der Libyer zurückgeschlagen werden – ein Relief am altorientalischen Vorbildern nachempfundenen festungsartigen Totentempel von Ramses III. in Medinet Habu zeigt eine Darstellung der unkonventionellen, im Alten Orient aber verbreiteten Zählung der getöteten Feinde anhand abgetrennter Geschlechtsteile und rechter Hände. Dann kam es in Oberägypten zu Wirren und der alte Ramses III. wurde Opfer einer Verschwörung im Harem. In der Spätzeit gingen Gebiete verloren, 945 eroberten libysche Söldnerführer den Thron und regierten Ägypten von Tanis im Delta aus, wohin Piramesse nach Austrocknung des Pelusischen Nilarms übersiedelt werden musste. Als Gegenpol stand diesem Zentrum die Priesternomenklatur in Theben selbstbewusst, militärisch stark und durch ständige Gottesentscheidungen scheinbar gut legitimiert, gegenüber. Jede Opposition gegen die Priester wurde im Keim erstickt. Der Libyer Scheschonq I., Begründer der 22. Dynastie, konnte einen seiner Söhne als Hohenpriester in Theben installieren. 925 unterwarf er Palästina und ließ sich das Überleben Jerusalems mit den Tempelschätzen bezahlen. Zahlreiche in Tanis ausgegrabene Skarabäen zeigen nach der Formel Tep zepi (wie beim ersten Mal) die alten Königsnamen der Geschichte. In der 26. Dynastie der Herrscher in Sais konnte Ägypten durch den Niedergang Assurs die Herrschaft auf die Levante ausdehnen. Die Gebietsgewinne gingen aber bald wieder an die Babylonier verloren. 525 schlugen die Perser das ägyptische Heer, der Großkönig Kambyses nahm Memphis ein. 333/332 kam Alexander der Große. Mit ihm begann die Herrschaft der Griechen in Ägypten, die bis 30a dauerte und der Ausbau Alexandriens zur führenden Metropole im Mittelmeerraum. Die Ptolemäer steckten viel Geld in Architektur und Wissenschaft, wie im nächsten Abschnitt berichtet wird. Nach dem Tod Alexanders 323 in Babylon wurde sein Leichnam von seinem General und (nach zwei Makedonenpharaonen) Nachfolger Ptolemäos I. nach Alexandrien überführt und dort an einem unbekannten Ort bestattet. Alexander bemühte zur Stärkung seiner Legitimität auch die Traditionen Ägyptens. Er präsentierte sich beim Amun-Orakel in der Oase Siwa als Sohn des Gottes Amun. Ptolemäos ließ sich um 306 zum Pharao ausrufen. Die Ptolemäerzeit dauerte bis zur Niederlage Kleopatras 30a. Unter Ptolemäus III. erreichte Ägypten seine größte Ausdehnung. Er förderte Kunst und Kultur, holte viele Gebildete nach Alexandria. Dort trafen zwei Hochkulturen aufeinander. Die ägyptische Tradition drückte sich in den Tempelbauten von Edfu (Horus), Dendera (Hathor), Kom Ombo (Haroëris/Sobek), Esna (Chnum) oder Philae (Isis) aus, während die hellenistische Welt sich in Alexandrien sammelte. Ein schönes Beispiel für den grie-

171

Ägypten

chisch-ägyptischen Mischstil ist die tem­p elartige Grabkapelle des Hohenpriesters Petosiris in Tuna el-Gebel. Die­s e kulturelle Begegnung hätte eine neue Kunstepoche in Ägypten einleiten können. »Aber da die Ptolemäer um jeden Preis als die Nachfolger der Pharaonen und nicht als die Schöpfer eines neuen Ägyptens gelten wollten, konnte sich eine solche Synthese nicht verwirklichen.« Außerhalb Ägyptens sind die (gut erhaltenen) Peristylgräber (man nennt die Gräber der Beamten der ptolemäischen Verwaltungsstadt fälschlicherweise Königsgräber) in Paphos auf Zypern eindrucksvolle Bauwerke einer Kombination ägyptischer Felsgräber und der hellenistischen Lebensart. Es gab vielfache kulturelle Überschneidungen und Austauschvorgänge sowie eine angesehene Gelehrtenschule, die Alexandrien zu einer einmaligen kosmopolitischen Metropole machten und einen Grund für die bald folgende Entstehung des Neuplatonismus legten. Die Griechen waren wie später die Römer trotz dem für sie unverständlichen ägyptischen Kult um den toten Körper von der ägyptischen Kultur fasziniert. Neben den kulturellen Leistungen ging die Ptolemäer-Herrschaft durch Inzest und Mord vornehmlich innerhalb der Familie in die Geschichte ein. Inzest galt wie in anderen Kulturen zunächst als Unheil. In der Spätzeit war die Geschwisterehe jedoch anerkannt. Sie wurde durch das Vorbild der Götter (Isis-Osiris, NephthysSeth) legitimiert. Schon seit dem 2. Jh.a wurde Ägyptens Politik von Rom aus gesteuert. Mit Kleopatra VII. endete schließlich in einem berühmt gewordenen und mit zahlreichen Mythen umrankten Drama die Selbständigkeit Ägyptens. Auf Einladung Kleopatras traf Cäsar zwei Tage nach der Ermordung des Pompeius im Jahr 48a in Alexandrien ein. Die 21jährige Kleopatra, die sich mit ihrem Ehemann und Bruder Ptolemäus XIII. einen Kampf um die Herrschaft lieferte, verstrickte den 52jährigen Diktator aus Rom in eine sexuelle und politische Abhängigkeit. Der gemeinsame Sohn Caesarion (mit dem sie sich auf dem Tempel von Dendera darstellen ließ) diente ihr nach dem Tod Caesars als Instrument der Durchsetzung ihrer Interessen. Dieses Interesse war auch die Motivation für die Zuwendung Kleopatras an Marcus Antonius. Der Senat in Rom schickte schließlich Oktavian gegen die beiden. Kleopatra wurde in der Kaiserzeit bei Plinius und Properz als »Hurenkönigin« verunglimpft. 31a eroberte Oktavian Alexandrien und Ägypten wurde bis 395p eine römische Provinz und für Rom eine ergiebige Kornkammer. Wie schon Alexander in Karnak eine Königskartusche hatte, verstanden sich auch die römischen Kaiser als Nachfolger der Pharaonen. Die Römer waren fasziniert von der Geschichte Ägyptens und holten Obelisken und Statuen auf ihre Plätze. Sie verehrten dort bereits »das Altertum«. Der Isis-Kult wurde populär. Viele Kaiser

67 /68 Ptolemäisches Peristylgrab in Paphos (3. Jh.a); Zypern

Michalowski 1969, 305

Speyer 2007a, 145 Petschow 1980; Schafik 1977, 568–570

69 Kleopatra mit ­Ptolemäos XV. ­(Caesarion) und Caesar am Tempel in Dendera III.3.1.3.

172

Frühe Hochkulturen

IV.8.1.f. Willeitner 2010, 320

V.3.3.

und Kulturschaffende pilgerten dorthin, unter ihnen Claudius Ptolemäus, der große Astronom. Besonders beliebt bei vermögenden Römern war eine Bestattung in Ägypten. Davon rühren die sogenannten Mumienporträts her, die von den römischen Porträtmalereien inspiriert wurden und die Dargestellten nach der aktuellen römischen Mode abbildeten. Sogar Ägypter ließen sich so darstellen. Die Mumienporträts können als formale Vorbilder der Ikonenmalerei betrachtet werden, wobei die »echten« auf Holz gemalten Porträts eine Spezialität der Oase Fayum gewesen zu sein scheinen. Das Christentum konnte rasch und erfolgreich Fuß fassen. Erste Patriarchen von Alexandrien sind bereits aus dem 2. Jh.p überliefert. Vielleicht war dies kulturell vorbereitet durch die Gottessohngeschichte um das Horuskind und die zahlreichen Göttertriaden in den wichtigen Kultzentren. Das Horuskind wurde in der ägyptischen Kunst dargestellt als nackter Knabe mit Lockenkopf und mit einem in den Mund gesteckten Finger, meist auf dem Schoß der Isis sitzend. Nach dem Verbot der neuen Religion durch Septimius Severus 204p entstanden in der Wüste erste abgeschiedene (koptische) Klöster. 395p kam Ägypten nach der Teilung des römischen Reichs zu Byzanz. Das Land wurde ausgebeutet und der Bildersturm wütete besonders stark. Justinian I. schloss zwischen 527 und 565 die letzten heidnischen Schulen in Alexandrien. Die Christia­ nisierung brachte eine letzte Kunstphase in Ägypten hervor: die koptische Kunst. 640 begann die Herrschaft der Araber und mit ihr kam die arabische Sprache. 969 eroberten schiitische Fatimiden Ägypten, gründeten Al Qahira (Kairo), bauten um 970 die Al Azhar-Moschee samt Universität als erste islamische Hochschule, die bis heute ihre Bedeutung erhalten hat. Es begann eine unruhige Zeit mit Höhen und Tiefen. 1250 kamen die Mamlucken, Söldner im ägyptischen Heer, an die Macht und übten bis 1517 eine Terrorherrschaft im Land aus. Sie wurden von den Osmanen (1517–1798) abgelöst, die das Land weiter aussaugten und dem Verfall preisgaben. Nach einem Intermezzo Napoleons (1798–1801), das in Europa das Interesse an Ägypten wesentlich stimulierte, in deren Folge die Kunstschätze von unzähligen professionellen und Hobbyarchäologen geplündert wurden, öffnete der albanische Offizier im türkischen Heer, Muhammad Ali, Ägypten nach Europa und führte es in die moderne Zeit.

2.2. Mythos

Breasted 1972, 8

Wie bereits festgestellt, wirkte im Fall Ägyptens jene zentripetale Kraft, die im übrigen Mittelmeerraum der Polis im gesamten Reich zukam. Man kann in der Tat in Nil und Sonne, noch prägnanter vielleicht: in Wasser, Erde und Sonne die Quellen der ägyptischen Religion sehen. Sie bestimmten den offensichtlich als einschneidend erlebten Gründungsmythos und erklären vielleicht auch den nachfolgenden kulturellen Immobilismus.

173

Ägypten

2.2.1. Cheper als Chiffre für Entfaltung Alles, was die ägyptische Kultur an ihrem Anfang entwickelt hatte, wurde mit der magisch klingenden Formel Tep zepi (das erste Mal) bedacht. Immer wieder und besonders in der späten Ptolemäerzeit berief sich Ägypten auf dieses Tep zepi, wo – so konstruierte es die kulturelle Erinnerung – authentisch und allgemeingültig formuliert worden sei. Das entsprach der ägyptischen Geschichtsauffassung, die durch eine ständige »Wiederholung regelmäßigen Geschehens« gekennzeichnet war. Zukunft bedeutete sozusagen »Fortsetzung früherer Regelmäßigkeiten.« Die ägyptische Kultur kann geradezu als avancierte Entfaltung der Mythologie gelesen werden. Die Weltentstehungsmythen beschreiben die Entstehung der Welt aus dem Wasser. Es kann eine Lotosblume oder ein Ei sein, was aus dem Süßwasser-Urmeer Nun auftaucht. Am wichtigsten jedoch wurde der Erdhügel, der sich aus dem Wasser erhebt, so wie Jahr für Jahr Ägypten aus den Fluten des Nil, der das Land mit seinem Schlamm genährt und zu neuem Leben erweckt hat. Das Urwasser ist gestaltlos, aber Frucht und Formen waren in ihm angelegt. Es wurde auch schon gemutmaßt, dass die Spuren für die Entfaltung aus dem Wässrigen in frühgeschichtliche Zeit führen: »This concept of the genesis of the universe from an elemental aqua-substance surely extends back in time to the Neolithic-Chalcolithic era.« Ein einmaliges Beispiel für die Verklammerung von Kultort und Nil und der Feier der regenerativen Kraft des Wassers findet sich in Gebel es-Silsilah, knapp 150 km südlich von Luxor. Beiderseits des Flusses wurden Höhlen (vermutlich Opferkapellen, weil die Eigentümer ihre Gräber in der Nekropole von Theben besaßen) in den Fels getrieben. Neuere Forschungen konnten einen eindeutigen Bezug zwischen den Nilüberschwemmungen und den nach der Manier von Theben gebauten Kapellen nachweisen. Sie sind so angelegt, dass sie bei Hochwasser teilweise geflutet wurden. In mehreren mit bemalten Reliefs von Gastmahl-, Totenopfer- und Reinigungsszenen ausgestatteten Kapellen wurden zudem Inschriften zum Kult und der Verherrlichung von Nun, dem Urwasser als »Vater der Götter«, gefunden. Hier wird die vielfache Funktion des Wassers als Element der Reinigung, Regeneration und Neuschöpfung eindrucksvoll beschworen. Der Urhügel wiederum ist der erste Ort, der Ort der Erde und des Lichts, des Lebens und Bewusstseins. Die Spitze des Urhügels wurde von den Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen. Die Erinnerung daran verklärte sich in der Gestalt des von der Sonne beschienenen Megalithen, des Benben-Steines (altägypt. uben/aufgehen) – möglicherweise das ursprüngliche Motiv für den späteren Obelisken. Auf dem Erdhügel, dem kosmischen Berg, thront der Schöpfergott Atum, der im Alten Reich mit dem Sonnengott Re gleichgesetzt wurde. Er ist der Aus-sichselbst- Gewordene (cheper), der Selbstentfaltende, der sich in manchen Darstellun-

Brunner-Traut 1992, 107

Gimbutas 1974, 95 70 Dem Nilgott Hapi ­geweihte »Kapellen« von Dschebel as-Silsila

Bommas 2003

Dondelinger 1973, 38 Michalowski 1969, 105 Atum

174

Frühe Hochkulturen

Hasenfratz 2004, 85f

Assmann 1984, 145

2.3.2.

Giedion 1964, 130

Assmann 1984, 27/32/146 IV.7.0.ff.

Assmann 2001b, 176 III.2.1.3.1. Assmann 1983, 54–95 Wilkinson 1992, 113ff Brunner-Traut 1988, 5–15

gen mit der Hand begattet. Die kulturelle Erzählung schreibt damit ein Kapitel in der Androgynie von Götterfiguren, die Symbol der Einheit ist, die erst durch die Teilung in Geschlechter verloren ging. Atum selbst ist die Welt. In Pyramidentexten aus dem Alten Reich wird er mit dem Urhügel und dem Benben-Stein gleichgesetzt. In der ägyptischen Theologie scheinen sich die Aspekte des von der Welt getrennten Schöpfergottes mit der kosmogonischen und theogonischen Selbstentfaltung von Welt und Göttern verschränkt zu haben. Atum erscheint als präexistierende undifferenzierte Ganzheit. Atum ist »das All im Zustand des Noch-Nicht«. Mit einer solchen Konstruktion im Hintergrund kann man in Ägypten die Wurzel der Figur des Ein und Alles (hen kai pan) und den in der abendländischen Philosophie nachhaltig wirkenden Gedanken einer Kosmotheologie verorten. Die Selbstentfaltung Atums wird in einer Genealogie geschildert. Sie beginnt entsprechend der Kosmogonie mit dem Urhügel, auf dem Atum fußt. Er erzeugt aus sich selbst Schu (Luft) und Tefnut (Feuchte), die wiederum Geb (Erde) und Nut (Himmel) erzeugen. Zusammen mit Unterweltgöttern ergibt sich die Neunheit von Heliopolis. Sigfried Giedion nannte die theologische Innovation dieser Neunheit einen »master stroke of priestly imagination as great in its way as the architectonic imagination of the pyramid age.« Diese Mythologie gibt der Urstadt Heliopolis ihre Prägung und stellt Gott und Stadt (der bekannte Topos des Alten Orients) auf eine Stufe. »In einer Stadt zu wohnen bedeutet: dem Gott nahe sein, der in ihr gebietet.« Die ägyptische Stadt ist immer eine »Gottesstadt«. Sie ist ein Tempel, der auf dem »Urhügel des Anbeginns«, dem »Sonnenauge« und »Lichtland«, stand. Heliopolis verkörpert derart gleichsam das Urbild der Stadt. »Die Welt ›emaniert‹ aus Atum. Atum ›verwandelt‹ sich in die Welt.« Aus der Sicht der Philosophie nimmt diese Mythologie frappierend die Komposition des Neuplatonismus vorweg, sodass man Jan Assmann zustimmen kann: »Die heliopolitanische Konzeption des Ur- und Schöpfergottes ist weniger eine Mythologie, als eine Philosophie in nuce.« Manchmal wird besonders der Gedanke der Trennung von Himmel und Erde aus ihrem hieros gamos (Heilige Hochzeit) durch das Dazwischentreten des Luftgottes Schu pointiert, der den Himmel hochstemmt und damit die Himmel-Erde-Trennung durchführt. Es handelt sich um ein Beispiel von »›Spaltungsmythen‹, die dem Prozeß der Entfaltung und Differenzierung der Welt eine gewaltsame, tragische Bedeutung geben.« Von Anfang an war die Bewegung des Aus-sich-selbst (cheper) eine zyklische Bewegung, die sich unschwer aus der Erfahrung des Sonnenlaufs ableitet. Das entsprechende Ikon zu cheper ist der Skarabäus, der Mistkäfer, der »aus sich selbst« entsteht und einen Mistball wie die Sonnenkugel vor sich her schiebt. Er wurde zum Symbol für den Lauf der Sonne, die am Abend untergeht, um am Morgen neu zu erstehen. Immer wieder finden sich im Götterpantheon Ägyptens neben der Neunheit von Heliopolis Dreiheiten, die von Stadt zu Stadt variieren. Gemäß der Göttertriade von Memphis entlässt Atum aus sich Ptah (Bildner, Schöpfer), Sachmet (Göttin des Kampfes und des Heils) und das jugendliche Götterkind der Lotosblüte Nefertem.

175

Ägypten

Neben Atum spielt Amun schon früh eine Rolle. In der 11. Dynastie wird er im Rahmen der Triade von Theben Amun, Mut (ähnlich wie Sachmet Göttin von Kampf und Heil) und dem Götterkind Chons (Durchwanderer des Himmels, Mond) als König der Götter zum imperialen Reichsgott in Theben. Auch er amalgamierte sich als Amun-Re mit der Sonne (der Verborgene mit der Offenheit der Sonne) und stand für die ständige Regeneration, für die Erneuerung der Welt. Diese wurde im Tempel vollzogen, der damit zum Ort des Ersten Mals (tep zepi) wurde. Der erste Hügel ist also Ort des Gottes. Er ist zugleich auch der Ort des Königs, der dort dem Sonnengott begegnet. »Praktisch alle großen ägyptischen Heiligtümer beanspruchten in ihren Höfen den Urhügel zu bergen, den ›herrlichen Hügel des Uranfangs‹, der dereinst zuerst aus den chaotischen Fluten aufgetaucht war […].« Im Luxor-Tempel, dessen älteste Teile in die 12. Dyn. zurückreichen, gab es nicht nur Kulträume für die thebanische Göttertriade, sondern auch Seitenräume für die Riten der zyklischen Wiederholung der Weltschöpfung Amuns, während die Barke des Gottes im Mittelsanktuar geparkt wurde. Neben diesem zentralen Gedanken der ständigen Erneuerung des Lebens aus sich selbst, der Kunst und Architektur prägte, umfasste das ägyptische Pantheon eine Fülle von Göttern, die sich – analog zu verschiedenen theologischen Systemen und Hauptstädten – teilweise überschnitten und widersprachen. Die ägyptischen Götter waren – analog zur Situation im Alten Orient und zum Unterschied zu den griechischen – nie fertig und fixiert. Sie veränderten sich und erweiterten ihren Zuständigkeitsbereich. Erik Hornung hat sie mit »Elementarteilchen« verglichen. Dazu kamen viele Lokalgottheiten. Die Stadt ist der Ort von Festen und Prozessionen, wo Menschen die Gegenwart des Gottes erleben konnten. In der späteren neuplatonischen Rezeption wurden die Götterstatuen Ägyptens meist als verborgen und geheimnisvoll interpretiert. Das scheint aber eine hermetische Projektion gewesen zu sein. Die Götterbilder waren zwar in Schreinen verborgen, wurden aber von Priestern geschaut. Der Ritus »den Gott schauen« musste sogar täglich vollzogen werden.

Amun

Keel 1972, 100

Hornung 1973, 252 Assmann 1998, 50 Bleeker 1967

Assmann 1998, 177

2.2.2. Ma’at als Chiffre für Bestand Nicht nur kunstphilosophisch, sondern für den generellen Blick auf die Philosophiegeschichte spannend ist die Tatsache, dass die ägyptische Mythologie aus dem immerwährenden Prozess präzise den Gedanken des Bestandes fasst. Es ist – in einem avancierten mythologischen Kleid – der Gedanke der Stabilisierung, wie er vermutlich die Sesshaftwerdung begleitete. Atum stiftet einen gelingenden gleichförmigen Prozess, der mit dem Ersten Mal (tep zepi) anhebt und sich unendlich wiederholt. Atum-Re garantiert den Bestand der Schöpfung durch den regelmäßigen Lauf der Sonne. Er erscheint am Morgen im Osten mit der aufgehenden Sonne als aus-sich-selbst entstehender Gott: Cheper. Er thront mittags als falkenköpfiger Sonnengott Re am Himmel und geht am Abend als Atum unter. Er wird im Reich des Dunkels mit Osiris verschmolzen, der den Weg unter der Erde nimmt, um am Morgen zur Auferstehung zu gelangen. Hier berichtet

I.4.2.

176

Frühe Hochkulturen

III.2.4.3.2.5./IV.7.2.

zit. nach Assmann 1984, 85

Assmann 2001b, 177

I.4.2.

Gen 8, 22 Frankfort Henri in ­Frankfort u.a. 1946, 33 ◀

71 Abbildung der Ma’at in Kom Ombo

eine kulturelle Erzählung von der Sicherung eines statischen Bestandes durch einen Prozess ständiger Erneuerung. Dieses alte, vermutlich aus dem Neolithikum stammende Paradigma haben der späte Platon und der Neuplatonismus kreativ weitergeführt. Ohne Anwesenheit des Bösen und ohne jeden kosmogonischen Kampf (wenn man von der Himmel-Erde-Trennung als »gewaltsam« absieht) entfaltet sich das Gute als harmonischer Prozess. Die Negation kommt erst nachträglich in die Welt. Der Ägypter setzt sie gleich mit Stillstand. Erst in späterer Zeit hat sich mit dem Gott Seth eine Verkörperung des Bösen herausgebildet, der den Widerpart gegen Horus, den Sohn des Sonnengottes, zu spielen hatte. Atum-Re hat an die Stelle des Chaos Ordnung gesetzt. Dieses Ordnung-Setzen nannten die Ägypter ma‘at. Ma’at, vordergründig die Göttin der Gerechtigkeit, ist das Erstrahlen des Re über der Erde, das Herstellen des kosmischen Rhythmus und Gleichklangs, das allen Schaden fernhält. Ma’at, die in allen Tempeln dargestellt wurde, steht am Beginn des Jubelns über die neue gewonnene Ordnung, die jeden finsteren Einbruch des Todes, der apokalyptischen Katastrophe, wieder ablöst: »Die Erde wird hell, Re erstrahlt über seinem Land, er hat gesiegt über seine Feinde!« Der Sonnenlauf wird durch diese Ordnungsmacht zur creatio continua, zur Bedingung der immer wieder neu entstehenden Welt. Die Rhythmen des Sonnengangs, der Fruchtbarkeit, von Ebbe und Flut, des Nils – sie alle waren Abbilder der Ma‘at. Sie fungierte als Göttin der Gerechtigkeit und Wahrheit der Ausgleich zwischen dem Segens- und Fluchaspekt. Sie ist keine Metapher für die Erlösung des Kosmos in einem endgültigen Zustand (wie das die späteren philosophischen Utopien der europäischen Ideengeschichte formulierten), sondern für sein In-Gang-Halten. »Sie verkörpert das ›Gelingen‹ des Weltprozesses«, indem jeder Stillstand verhindert wird. Man könnte in Ma’at die Chiffre für die Bestands-Sicherung der (bereits ins Philosophische weisenden) Umsetzung der im Neolithikum gewonnenen Erfahrung sehen, dass der gelungene dynamische Zyklus der Natur Stabilität und Geborgenheit gewährt. Das ständig drohende Chaos musste kontinuierlich gebändigt werden. Es ging aber nicht um eine endgültige Ausmerzung dieses Chaos. So gesehen wäre Ma’at das faszinierende Narrativ einer (utopiefreien) Kulturtheorie im Sinne eines Wissens darüber, mit dem täglichen Chaos umzugehen. Die Ausbildung der Ma’at-Geschichte ist eine sehr schöne und gut dokumentierte Version des Bestandsgedankens, der seine Wurzeln im Alten Orient hat. Im Ersten Buch Mose garantiert Gott diesen Bestand in seinem Bund mit den Menschen: »Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Same und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« Für den Ägypter stellt jeder Sonnenaufgang den ersten Sonnenaufgang des Schöpfungstages dar. »[…] im mythischen Denken verquickt sich jede Wiederholung mit dem Urereignis und ist praktisch mit ihm identisch.« In der Tat ist Ma’at schon durch die enge Verquickung von Göttlichem und Stadt über die Weltordnung hinaus auch Handlungsnorm und öffnet zudem ein

177

Ägypten

Geschichtsverständnis. Gute Geschichte ist das Vollziehen des Vorgegebenen. Das darin ausgedrückte Prinzip hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Funktion des Demiurgen bei Platon. Ma’at ist jene universelle Formel, die politisches Handeln legitimiert, für dieses den Maßstab bietet. Das wird dann die Aufgabe des Königs. Er soll den Staat als Abbild des Kosmos gründen und Bestand und Ordnung garantieren. Dazu hob sich der Pharao selbstbewusst auf die Stufe des Gottes. Tutanchamun setzte, indem er die Erinnerung an Echnaton und seine Reformen tilgte, Ma‘at wieder an die Stelle des aus seiner Sicht aufgeklärten, häretischen Chaos. Ramses II. ließ sich selbst in Abu Simbel auf gleicher Höhe mit den drei Reichsgöttern (wieder eine Triade) Ptah, Amun-Re und Re-Harachte (eine Vereinigung der Eigenschaften von Re und Horus) darstellen. »Erst dieser Aufstieg bedingt die Verwirklichung des göttlichen Partners auf Erden, des Königs, der mit dem Sonnengott zum Wohl des kosmischen Ablaufs kooperiert.« Von da her erklärt sich auch die im Alten Reich betriebene »wohl monumentalste und beeindruckendste Inszenierung des Königtums der altorientalischen Welt.« In der Ramessidenzeit ging dieses Ma’at-Prinzip zugunsten des direkten Handelns Gottes zurück. In einem spätramessidischen Brief heißt es: »Heute geht es mir gut; das Morgen liegt in Gottes Hand.« Jan Assmann nennt diese Veränderung eine »kopernikanische Wende« in der Religionsgeschichte. An die Stelle des den Bestand sichernden Prozesses Ma’at tritt der Fromme. Gott ist nicht mehr ein kosmischer Ordner, sondern er bestimmt das individuelle Lebensschicksal. Es ist eine Entwicklung von einem abstrakten Prinzip zu privater Frömmigkeit. Eine ähnliche Entwicklung wird es im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit geben, von einer abstrakt anmutenden Theologie zu einer privatisierten Frömmigkeit. Beide Aspekte einer solchen Wende lassen sich in Ägypten studieren. Einerseits ging es um die Befreiung aus einem kosmischen Geschick, das als unpersönlicher Automatismus empfunden wurde, andererseits war damit der Auszug aus der Geborgenheit und Sicherheit in eine persönliche Verantwortung verbunden. Zahlreiche Prädikate des Königs wurden jetzt auf Gott angewandt: Herr, Vater, Mutter, Zuflucht, guter Hirt. Demgegenüber ist der Pharao der Gottessohn. Damit erfuhren die Erzählungen des Alten Orients eine Zuspitzung und konnten als Motive für das Christentum dienen.

2.3. Religion Die religiöse Welt Ägyptens entwickelte sich nach der Üblichkeit mediterraner Hochkulturen aus dem Neolithikum und in der in 2.2. beschriebenen Weise. Allerdings sind die religiösen Vorstellungen der Ägypter bis heute weit von einer endgültigen Klärung entfernt.

2.3.1. Polytheismus – Monotheismus Das ägyptische Pantheon war eine vielgestaltige Angelegenheit und umfasste ebenso Stadtgottheiten wie personifizierte Mächte. Neben menschen- blieben auch tiergestaltige Gottheiten durchgehend präsent. Dass Gottheiten in Tiergestalten auftraten

III.2.4.3.2.5. Braun 2010

Eliade 1976, I, 92

Görg 2010, 437 Kaelin 2006, 130 Brunner 1988 Assmann 2001b, 256

V.8.1.

Brunner-Traut 1988, 31–59 Breasted 1972, 346ff

178

Frühe Hochkulturen

Blumenthal 1999 Keel 1972, 224–233 Brunner 1964

Blumenthal 1999, 48

III.2.1.3.2./III.2.5.3.

2.1.2.

und man Tiere sogar mumifizierte, war besonders für die Griechen außerordentlich anstößig. Das Pantheon bildete sowohl den chthonischen als auch den solaren Aspekt ab. Dabei scheint man stets um Ausgleich bemüht gewesen zu sein. Der Verstärkung des Sonnenkults ab der Pyramidenzeit stellte man als Ausgleich die chthonisch orientierte Osiris-Geschichte zur Seite. Mit der Inauguration von Theben als religiösem Zentrum übernahm – wie schon gesagt – Amun, der mit dem Sonnengott Re verschmolzen wurde, die Vorherrschaft. Sein Aufstieg fiel in die 18. Dynastie und erreichte seinen Höhepunkt in der 21. Dynastie. Er zog auch andere Gottheiten in den solaren Kontext mit. Die bedeutende Rolle als Reichsgott wertete den König auf, der als Gottessohn angesehen wurde. Das Motiv der Geburt des göttlichen Königskindes war im Alten Orient weit verbreitet. Berühmte (leider in schlechtem Zustand befindliche, weil sie zwei Mal eine damnatio memoriae über sich ergehen lassen mussten) Szenen dazu gibt es im Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari (die oben erwähnte Gotteskindschaft der Pharaonin) und im Luxor-Tempel Amenophis’ III. Der Sonnengott Re wird im Papyrus Westcar als Zeuger eines Gotteskinds (in diesem Fall von Drillingen) angeführt. Die Geburt des Horus als Sohn des toten Osiris ist ein Geschehen Gottes, Isis blieb dabei Jungfrau. Häufig treten bei der (Er)Zeugung eines göttlichen Kindes göttliche Helfer auf, unter ihnen neben Anubis auch Chnum, der auf der Töpferscheibe die Körper und ihr Ka modelliert. Die Tradierung dieser Geschichten ist unklar. In späterer Zeit wurde die Geburt von Königskindern und von Göttersöhnen in manchen Heiligtümern (Dendera, Edfu) zu großen Festen stilisiert. Diese Geschichten bestimmten überwiegend den Inhalt der Bildprogramme. Elke Blumenthal weist auf die zunehmende Spiritualisierung hin, die der Göttervater Amun in der späten Zeit Ägyptens erfuhr und meint, davon einen Anschluss der vorliegenden Mythen an die biblischen Evangelien ableiten zu können. Mit der Ankunft der Griechen kam es zur kulturellen Verschmelzung von Gottesbildern. Eines der originellsten Produkte ist der hellenistische Kult um Sarapis, eine Vermischung von Osiris, dem Apis-Stier aus Memphis, mit den griechischen Göttern Zeus und Hades. Der Kult verwies auf alte Getreide- und Fruchtbarkeitskonnotationen, Sarapis trug demnach auch Züge des Dionysos. Die Religionsgeschichte Ägyptens erschöpft sich aber nicht in einem umfangreichen Götterpantheon und auch nicht in einem differenzierten Totenkult als Kult des Lebens, sondern fasziniert durch die harte Konfrontation zweier gegensätzlicher theologischer Konzeptionen. Mit Amenophis IV., der sich Akhen-Aton nannte, und seiner gestifteten monotheistischen Vergöttlichung der Sonnenscheibe (sie ist nicht selbst Gott, sondern Sitz des Gottes), findet um 1350a in der 18. Dynastie der radikalste Einschnitt der ägyptischen Kultur statt. Zwar war die religiöse Wende in gewisser Weise durch die starke Solarisierung Atums (Atum-Re) vorbereitet, aber der Bruch mit dem alten Pantheon verlieh dieser

179

Ägypten

Wende eine erhebliche Radikalität. Man ist versucht, die monotheistische Aton-Religion bereits in den Kontext einer Aufklärung im Sinne der Jasperschen Theorie der Achsenzeit zu stellen (die Jaspers erst um 800a beginnen lässt). Der Polytheismus entwickelte sich von einer ethnozentrischen Stammesreligion zu einem sprachlich artikulierten Kult samt der Kommunikation mittels ikonischer Darstellung. Erst dadurch wurde die Kulturtechnik der Übersetzung möglich. In diesen Übersetzungen lag die Stärke der alten Polytheismen. »Die polytheistischen Religionen überwanden den Ethnozentrismus der Stammesreligionen, indem sie verschiedene Götter nach Namen, Gestalt und Funktion oder ›Ressort‹ unterschieden.« Erinnert sei an ein Glossar in Mesopotamien aus dem 3. Jt., mit dem man Götternamen in mehrere Sprachen übersetzen konnte. Das war wichtig für das Vertragswesen und die auf Götter zu leistenden Eidesformeln. Solche Gottheiten waren Ausdruck widerstrebender, sich ergänzender Kräfte. Sie änderten sich immer wieder. Grundsätzlich war dem Polytheismus der Tatbestand einer unwahren Religion fremd. Er sah fremde Götter als eigene mit anderem Namen. »Die verschiedenen Völker verehrten verschiedene Götter, aber niemand bestritt die Wirklichkeit fremder Götter und die Legitimität fremder Formen ihrer Verehrung.« Das galt, unbeschadet der eher aus politischen denn religiösen Gründen harten Restauration von Thebens Amunkult, bis in die späte römische Zeit. Diese Funktion der Toleranz wusste man auch noch in der europäischen Aufklärung zu schätzen. Lessing etwa griff auf diese Figur des Polytheismus zurück. Gegenüber der toleranten Übersetzungsleistung des Polytheismus lebte der Monotheismus Echnatons von der radikalen Unterscheidung und Ausgrenzung des Anderen. In aller Regel wurde die Legitimität dieser Ausgrenzung durch Erinnerungsmythen hergestellt. Die fremde Religion galt nun als falsch und verfolgungswürdig. Echnatons Kult war einer der strengen Einheit und Sichtbarkeit Gottes gegen den verborgenen Reichsgott von Theben, Amun. Es war eine Revolution gegen den Kult und die Macht der Priester in der thebanischen Theokratie. Dieser erste Religionskonflikt der Geschichte brach mit einem Bildersturm, mit Tempelschließungen und Namenstilgungen und sogar einer neuen Hauptstadt über Ägypten herein – mit heftigen politischen und sozialen Folgen. Das Ende der Götterriten und Götterfeste bedeutete einen »Zusammenbruch der sozialen und kosmischen Ordnung.« Der verordnete Monotheismus Echnatons konnte sich vermutlich auch deshalb nicht dauerhaft verankern, weil er den sozialen Gewohnheiten und Bedürfnissen von damals nicht angemessen war. Die Zahl der Anhänger dürfte von Anfang an nicht allzu groß gewesen sein. Umso mehr erstaunt, welch reiche architektonische und künstlerische Ernte in den wenigen Jahren des Kultes entstanden war. Amun war zwar ein verborgener Gott, aber er manifestierte sich sichtbar in der Welt durch Prozessionen, Feste und in der Kunst. Das Sanktuar Amuns war dunkel und eng, das Götterbild bei der Prozession verhüllt. Niemand durfte es schauen, aber er offenbarte sich in Prozessionsorakeln. Hier wirkte die im Alten Orient verbreitete magische Macht der Bildwerke. Weil diese Liturgie den Einfluss der Priester auf die

5.0.

Assmann 1998, 19

Ebd., 19

Aton-­ Monotheismus

2.1.2. Ebd., 49

180

Frühe Hochkulturen

Kees 1953

72 Darstellung einer Barkenprozession in Medinet Habu zit. nach Assmann 1984, 259f

zit. nach Woldering 1964, 121f

3.2.6.

Assmann 1998

Politik des Pharaos sicherte, hatte die Amuntheologie in Theben große Sprengkraft. Ägypten kannte keine schamanistischen Praktiken der Ekstase, also keine Aufhebung individueller Identität, wohl aber magischen Zauber. Aton hingegen wurde offen und sichtbar zur Schau gestellt. So wie auch der Gottkönig Echnaton selbst sich gerne unter das Volk mischte, sportlichen Betätigungen nachging und seine Emotionen offen zeigte. Die Kehrseite war die Abstraktheit Atons, die die Distanz zu den Menschen vergrößerte. Der König fungierte als Mittler. Die Loyalität zum König entsprach in Amarna der Loyalität zum neuen Gott. Beklemmende Texte drücken die Sehnsucht nach dem unterdrückten Amun in einer Zeit der Verfolgung aus: »Mein Herz sehnt sich danach, dich zu sehen, Freude meines Herzens, Amun, du Kämpfer des Armen! Du bist der Vater des Mutterlosen, der Gatte der Witwe. Wie lieblich ist es, deinen Namen zu nennen: Er ist wie der Geschmack des Lebens, […] Wende dich uns wieder zu, du Herr der Zeitfülle!« Andererseits feierten Jubelhymnen die Universalität der Sonne. Die wohl berühmteste von ihnen ist der Sonnengesang des Echnaton, der im Grab des Eje aufgezeichnet wurde: »Du erscheinst schön im Horizont des Himmels, Du lebende Sonne, die das Leben bestimmt. Du gehst auf im östlichen Horizonte und füllst jedes Land mit Deiner Schönheit. […] Wenn es tagt und Du aufgehst im Horizont und leuchtest als Sonne am Tage, dann vertreibst Du das Dunkel und schenkst Dein Licht. […] Du gehst auf in Deinen Gestalten als lebende Sonne. Du machst Millionen von Gestalten aus Dir allein. Du selbst bist die Lebenszeit, und man lebt durch Dich […].« Als Gegenreligion stemmte sich der Aton-Kult auch gegen die Idolatrie des Polytheismus. Die Gräber wurden »entrümpelt«. Neben der Sonnenscheibe wurde nur mehr die königliche Familie abgebildet. Es gab keine ausufernde Jenseitsnarration mehr. Inwieweit Ähnliches für den judäischen Monotheismus gilt, wird noch zu diskutieren sein. William Warburton, Bischof von Gloucester, brachte im 18. Jh. sogar die Buchstabenschrift und die damit erfolgte Ablösung der als Bilderschrift interpretierten Hieroglyphen mit dem zweiten Mosaischen Gebot in Verbindung. In der Vernichtung der monotheistischen Religion nach Echnatons Tod vermutet Assmann die »Krypta« der Moses- und Exodusgeschichte. Echnaton war eine Figur der Geschichte, aber nicht der Erinnerung, während Moses eine Figur der Erinnerung, aber nicht der Geschichte war. Als 1334 Amenophis IV. starb, wurde nun umgekehrt jede Spur seiner historischen Existenz inklusive der kurzzeitigen Reichshauptstadt Achet-Aton vernichtet, seine Kartuschen (Namensring) und die Sonnenscheibe in seinem Grab ausgemeißelt. Tutanchamun führte, wie oben berichtet, das alte Götterpantheon mit AmunRe wieder ein. Auf der in Karnak gefundenen Stele beschrieb er die Situation mit einer Waste-Land-Metaphorik drastisch. Es war die Rede von einstürzenden Tempeln, welche von Disteln überwuchert wurden, davon, dass die Götter die Gebete nicht mehr erhörten und dass eine große Krankheit über das Land gekommen sei.

181

Ägypten

Weil eine Mumie weder von Echnaton noch von seiner Frau und Mitregentin Nofretete bekannt war, ging man lange davon aus, dass man ihnen als Häretikern eine Bewahrung des Körpers verweigert und ihre Leichen in den Nil geworfen hat. Doch inzwischen haben DNA-Analysen einer stark beschädigten Mumie im Grab KV 55 (wohin er nach der Aufgabe von Amarna vermutlich umgebettet wurde) den Verdacht erhärtet, dass es sich um jene Echnatons handeln könnte. Von Nofretete wurde noch keine zweifelsfrei identifizierbare Mumie gefunden. Dafür stammt die berühmteste Porträtbüste Ägyptens von ihr. Ausgräber hatten sie am 6. Dezember 1912 in Amarna mit einer Grabungslizenz des jüdischen Baumwollgroßhändlers James Simon, der große Teile seines Vermögens in die Archäologie und in die Kunst steckte, gefunden. Simon, der schließlich in der Weltwirtschaftskrise nahezu alles verlor, schenkte die Büste zusammen mit zahlreichen anderen Kunstschätzen den Berliner Museen. Wie ebenfalls bereits berichtet, hatte sich seit dem 15. Jh.a jenseits des abstrakten Ma’at-Prinzips eine persönliche Gottesbeziehung entwickelt. Das entsprach einem geläufigen Topos im Alten Orient. »Die zentrale Vorstellung der altmesopotamischen Religiosität ist die von einem ›persönlichen Gott‹. Jeder Mensch hat einen ›(Schutz)gott in sich und er muß sein Leben so einrichten, daß ein harmonisches Verhältnis zu seinem persönlichen Gott besteht, damit sich dieser nicht von ihm abwende.« Im Vordergrund dabei stand die Schau des Gottes, zugleich Schau der Schönheit Gottes, die neue Kraft verlieh. In einem Graffito eines Anhängers der alten Religion steht zu lesen: »Mein Herz sehnt sich danach, dich zu sehen. […] Du gibst Sättigung, ohne zu essen, du gibst Trunkenheit, ohne zu trinken.« Das ist die Anleitung zu einer Schau Gottes, wie wir sie kaum treffender beschreiben können, wenn im lateinischen Mittelalter die Schau der Hostie zu einem mystisch-magischen Kult wurde, der auf jede materielle Beimischung verzichtete. Tutanchamuns Nachfolger Eje hinterließ die Botschaft: »Ich habe das Elend beseitigt. Ein jeder kann nun seinen Gott anbeten.« Ägypten kehrte wieder zu seiner natürlich gewachsenen kosmischen und polytheistischen Religion zurück. Die Beurteilung, was von der Amarnazeit für Ägypten blieb, ist vielstimmig. Ägypten war in eine heftige religiöse, politische und soziale Krise geschlittert, aus der Tutanchamun, Eje mit nur kurzer Amtszeit und der Usurpator auf dem Pharaonenthron, General Haremhab, das Land mit unkonventionellen Mitteln wieder heraus zu reißen versuchten. In jedem Fall dürfte das Resümee Erik Hornungs zutreffen: Letztlich »ist es Echnaton nicht gelungen, die geistige Welt Ägyptens grundlegend umzugestalten.«

2.3.2. Ein und Alles – Eine Formel für Religion und Kunst Die Selbstentfaltung Atums, wie sie in der frühen Mythologie Ägyptens beschrieben wurde, stiftete eine Formel, der eine weitreichende Wirkgeschichte beschieden war: die Formel vom Ein und Alles. Als Naturreligion war im Polytheismus Göttliches und Natur in einer kosmischen Einheit miteinander verknüpft. Die Entfaltung der ursprünglichen Einheit in die Vielheit war schon lange Stoff der Mythen, ehe die

Oberhuber 1972, 69 1.2.2.1.1. zit. nach Assmann 2004

V.6.2.4. Eje, zit. nach Assmann 1984, 266

Hornung 1995, 39

182

Frühe Hochkulturen

zit. nach Assmann 1984, 271f

III.2.1.3.ff./IV.7.2.f. Nagel Svenja in Kat. 2013a, 145

Assmann 1984, 93 Schäfer 1963, 25

Assmann 1984, 92

Nunn 2012, 177f

Formel des späteren Neuplatonismus Hen kai Pan (das Eine und das Viele), die sich auch durch das Corpus Hermeticum zieht, in der frühen Ramessidenzeit auftauchte, also unmittelbar nach der Wende von der 18. in die 19. Dynastie – und das in vielen Variationen: »Der Eine, der sich zu Millionen macht« oder »Der Eine, dessen Leib Millionen sind«. Diese Einheit und Vielheit ist die Formel dafür, dass aus dem einen Gott die Vielheit der Welt emaniert und dass diese Vielheit der Welt umgekehrt gleichsam der Körper des einen Gottes ist. Der berühmte, Echnaton persönlich zugeschriebene Hymnus auf die Sonne, in dem sie zum Leib des Kosmos wird, drückt die erwähnte Struktur aus: »Sein rechtes Auge ist der Tag, sein linkes Auge ist die Nacht, er ist es, der ›die Gesichter‹ auf allen Wegen leitet. Sein Leib ist das Urwasser, seine Eingeweide sind die Nilüberschwemmung, die alles was ist hervorbringt und alles Seiende am Leben erhält. Sein Hauch ist der Odem an jeder Nase, Schicksal und Glück sind bei ihm für jedermann. […] Deine Haut ist das Licht, dein Hauch ist das Lebensfeuer: alle kostbaren Steine sind an deinem Leibe vereinigt. Deine Glieder sind der Lufthauch an jeder Nase, man atmet dich ein, um zu leben. Dein Geschmack ist der Nil, man salbt sich mit dem Glanz deines Licht-Auges […].« Diese Beschreibung der Sonne wurde als Beschreibung des Zeus in den orphischen Mysterien wieder aufgenommen und diente als Verbindung zur Kosmotheologie des Neuplatonismus. Die Formel des Ein und Alles entfaltete in der antiken Welt eine so große Resonanz, dass sie noch als Beschreibung der Isis im 3. Jh.a in Capua auftaucht: »una quae est omnia dea Isis« (Göttin Isis, die Eine, die alles ist). Bei den Konzepten der Selbstentfaltung des Gottes in die Vielheit der Natur stellt sich immer die Frage, inwieweit diese Selbstentfaltung geschichtlich zu verstehen ist. Einen Schlüssel für die Beantwortung dieses auch im Neuplatonismus zu diskutierenden Problems bietet uns der Hinweis Assmanns auf die Eigenart der ägyptischen Sprache und die sich darin ausdrückende Vorstellungswelt. Anders als in der indogermanischen Sprache gibt es in den afroasiatischen Sprachfamilien keine Dreiheit der Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eine Zweiheit. Der Ägypter verwendet dazu das Begriffspaar nehe und djet. Beide Begriffe haben Eigenschaften unseres Zeit-, aber auch Ewigkeitsbegriffs, obwohl man nicht das eine Wort mit Zeit und das andere mit Ewigkeit übersetzen kann. Die Grammatik des frühen Ägyptischen kennt die Kategorie der Abgeschlossenheit einer Handlung, die zugleich die gegenwärtige Fortdauer dieses Zustandes beinhaltet: djet als »bleibende Fortdauer dessen, was sich in der Zeit, handelnd und werdend, vollendet hat.« Assmann vergleicht die Struktur mit cheper und Atum. Cheper ist das Werdende, Entstehende, also nehe, während Atum Vollendung (altägypt. tem) bedeutet, also djet. »Von der nehe-Zeit wird oft gesagt, daß sie ›kommt‹: dies ist die Zeit als ein unaufhörlich pulsierender Zustrom von Tagen, Monaten, Jahreszeiten und Jahren. Die djet-Zeit dagegen ›bleibt‹, ›währt‹ und ›dauert‹.« Ähnlich beschreibt Astrid Nunn das Zeitgefühl im Alten Orient: »Der altorientalische Mensch stand mit dem Gesicht zur Vergangenheit und wandte der Zukunft den Rücken zu. Weil er nach vorn in die Vergangenheit schaute, entfernte er sich zwar von dem, was war, aber er ließ es nicht hinter sich.«

183

Ägypten

2.6. Assmann 1984, 94 73 Aufstellen des Djet-Pfeilers; Symbol für das neue Leben



Ikonographisch fand das den Niederschlag im Djet-Pfeiler, der als Symbol der Dauer in der ägyptischen Kunst omnipräsent ist, häufig in Kombination mit dem Lebenszeichen (Anch) als Symbol der ständigen Neugeburt. Die zeichenhafte Botschaft lautete dann: Dauer (oder Bestand) der ständigen Regeneration. Der Philosoph hätte hier einen Schlüssel zum Verständnis des späteren Neuplatonismus, aber auch – kunstphilosophisch gewendet – zu der sowohl Lebendigkeit als auch Bleiben einschließenden ägyptischen Kunst, die erst durch die Brille unseres substanzmetaphysischen und kausalitätsorientierten Blickes widersprüchlich erscheint. Es ist das Streben nach Bewahrung einer »verewigungsreifen Endgestalt«, die sich in den kulturellen Wahrzeichen Ägyptens manifestiert: Hieroglyphen, Pyramiden und Mumien. Wenn die Welt der Körper dieses kosmischen Gottes ist, dann ist auch die Kunst eine sichtbare Manifestation des Gottes. Die eindrucksvolle Grabmalerei, die ausschweifend von der Fahrt der Sonnenbarke durch die Nacht, von der Neugeburt am Morgen, aber auch von einem üppigen Leben und von verschwenderischen Früchten der Erde erzählt, bleibt den Augen menschlicher Betrachter verborgen. Sie zeigt ihre Pracht nur für die Götter und Bestatteten. Der Idolatrievorwurf, der später zur Abhebung des mosaischen Monotheismus diente, trifft daher nicht nur auf das Bild selbst zu, sondern auf diese Gleichsetzung des Gottes mit der Natur. Ähnlich wie Amun kam auch dem kurzzeitig einzigen Gott Aton ein kosmotheologischer Aspekt zu. Das Licht erscheint als »omnipotente« belebende Kraft der Wirklichkeit. Die Vielheit der Götter wurde geleugnet und die Welt ist Natur geworden, »entgöttert, aber gotterfüllt«. Das macht die Kunst der Amarnazeit verständlich. Einerseits gab es einen rigorosen Ikonoklasmus im Blick auf das Gottesbild, Gott war nicht darstellbar, andererseits machte dies den Weg frei für einen »unägyptisch« emotionalen Naturalismus mit einer phantastischen Formenvielfalt.

Hari 1985, 3 Assmann 1984, 279

2.6.

2.3.3. Kult des Todes – Kult des Lebens Immer wieder wird im Totenkult Ägyptens zentrale Kulturleistung gesehen. In der Tat kann man aus dem architektonischen und künstlerischen Erbe einen solchen Eindruck gewinnen, denn von einer profanen Architektur ist kaum etwas erhalten. Haben die Ägypter ihr Leben damit verbracht, für das Jenseits vorzusorgen? Sie scheinen in der Tat in dem Glauben gelebt zu haben, dass »das Leben auf Erden nichts anderes sei, als eine flüchtige Episode in Hinsicht auf die unendliche Zeit, die auf den Übergang in ein jenseitiges Grab folgt.« Das Bild mag indes schief sein, denn die steinernen künstlerischen und architektonischen Dokumente des Totenkults überdauerten im konservierenden trockenen Wüstensand Jahrtausende. Zeugnisse des täglichen Lebens hingegen vermoderten im feuchten Alluvialboden des Nils und des Deltas. Dieses Faktum gilt es bei der Bewertung einer vermeintlich nur auf die Unendlichkeit ausgerichteten Steinkunst zu berücksichtigen. Andererseits ist richtig, dass das Leben der frühen Hochkulturen sehr eng durch einen religiösen Rahmen bestimmt war. Schließlich zeigt die Wahl der Materialien, dass das Leben dem Ägypter ein vergänglicher Moment war und dem Jenseits mehr

Michalowski 1969, 59

184

Frühe Hochkulturen

Bietak 1996 Tiradritti 2007, 298 Edwards 1967, 15 Giedion 1964, 264 2.2.1.f.

van Gennep 1909

Hofmann 2003, 158f

Aufmerksamkeit eingeräumt wurde. Für die Paläste genügten Lehmziegel, was die Rekonstruktion erheblich erschwert. Schöne Beispiele konnten bei den Ausgrabungen in der Hyksoshauptstadt Auaris, dem heutigen Tell el-Dab‘a, gesichert werden. Die Wohnungen der Götter und der Toten hingegen entstanden – abgesehen von einigen Ziegel-Mastabas in Meidum – in dauerhaftem Stein. »Stone, the least perishable material, was at first reserved for the dead. Its use was long denied the living. […] it was the grave that gave birth to the first stone architecture.« Der Kult des Todes ist in die Ursprungsmythologie der Ägypter einzubetten. Es geht um die Wiedergeburt aus der zyklischen Kraft des Nils und der Sonne. Während der lebenspendende Zyklus des Wassers sich über ein Jahr erstreckt, erlebte der Ägypter das Neugeborenwerden beim täglichen Sonnenaufgang und gestaltet daraus eine avancierte kulturelle Erzählung, die wiederum Kunst und Architektur prägte. Der Tod war im Sinne der Regenerationsvorstellung ein rite de passage, der in der Architektur nachempfunden wurde. Tore, Durchgänge und Schwellen hatten in den Gräbern eine wichtige symbolische Funktion und wurden durch Materialwahl und Farbgebung ausgezeichnet. Der Kult um Tod und Wiedergeburt wurde von einem aufwendigen und hoch entwickelten Programm begleitet, das sich in Architektur und im Bildprogramm der Grabkunst widerspiegelte. Durch die Komplexität der Rituale wurden die Totenpriester ein eigenes Dienstleistungsgewerbe. Die Vorbereitung des Körpers für das Jenseits, der sich zuerst 70 Tage lang im Balsamierungshaus regenerieren musste, umfasste Reinigungszeremonien, Totenklage der Klagefrauen, Trennungsrituale im Kultmahl, Gabendarbringung, Mundöffnung, den von Gebeten begleiteten Übergang und die Eingliederung. Als Schutzpatron firmierte über dem allem der Gott Anubis. Grundlage war keine so scharfe Trennung von Körper und Seele, wie sie später in den kulturellen Erzählungen auftauchte. Im Tod trennte sich der Mensch in Körper und geistige Anteile auf, vereinigte sich jedoch bei der Auferstehung wieder zu einer Ganzheit. Die Wiedergeburtsvision schloss bei den Ägyptern den Körper mit ein. Da der Körper durch die Mumifizierung erhalten blieb, stellte man sich vor, er habe im Jenseits die gleichen Bedürfnisse wie im Diesseits und man gab ihm die entsprechenden Notwendigkeiten und – je nach Rang des Verstorbenen – Luxusartikel mit auf den Weg. Später wurden mit zunehmender Abstraktion die realen Gegenstände durch symbolische Modelle und Malereien ersetzt. In Beni Hassan ließ der Gaufürst Chnumhotep in seinem Felsengrab (um 1880) die Ankunft einer Karawane aus Asien festhalten, die ihm Augenschminke lieferte. Für die Historikerinnen interessant ist die Darstellung auch deshalb, weil in ihr zum ersten Mal der Ausdruck Hyksos auftaucht. Die den Körper bewahrende Mumifizierung reicht bis in das 4. Jt. (Hierakonpolis südl. von Luxor) zurück und war ab der 1. Dynastie verbreitete Praxis. Der Mumienkult wurde ein wichtiger Faktor der Kunst. Die Griechen waren davon äußerst irritiert und denunzierten die Frauen, welche die Mumifizierung durchführten. Bei einfachen Menschen waren die Riten naturgemäß bescheidener, ihre Körper wurden lediglich in Tücher eingeschlagen.

185

Ägypten

Das Konzept der Seele war differenzierter als später bei den Griechen. Antonio Loprieno beschreibt dieses Konzept anhand der drei Aspekte Ka, Ba und Ach als Sozialisierung, Theologisierung und Mythisierung des Toten: »Durch den Ka ist der Tote noch unter den Lebenden, durch den Ba wird er in den göttlichen Bereich verlegt, als Ach ist er die Erscheinung der anderen, der der Lebenden parallelen Welt.« Das Ka des Königs – »mehr wirkende Kraft als ruhende ›Seele‹« – ging beim Tod des alten jeweils auf den neuen Herrscher über, wodurch sich die Königssukzession begründen ließ. Kam im Alten Reich nur dem König Ba als seine »spiritual manifestation« zu, weil nur er in die Götterwelt eingehen konnte, kam es später zu einer demokratisierten Frömmigkeit. In den Darstellungen erscheint das Ba als Seelenvogel. Er gehört »zum Himmel, der Leib als Fisch in die Tiefe von Erde und Wasser.« Durch die Wertschätzung des Körpers wurde die Seele nie wie später bei den Griechen gegen den Körper ausgespielt. Es ging eher um ein Austarieren von chthonischen und solaren Aspekten. Dieser langsame Wandel von chthonischen zu solaren kulturellen Erzählungen lässt sich in der Grabgestaltung nachvollziehen. Es gab grob gesprochen vier Architekturphasen der Königs- und Beamtengräber: (1) Die Grabbauten in der 1. Dynastie im Königsfriedhof in Abydos waren (nach neueren Grabungen offenbar ähnlich und gleichzeitig mit frühen Gräbern in Sakkara) in den Wüstenboden eingetiefte Kammergräber mit vielen Nebenräumen, in denen Bedienstete, aber auch die Tiere der beigesetzten Könige, die zu diesem Anlass getötet worden waren, ruhten. Auf der Außenseite scheinen die Gräber Erdtumuli, also Mastabas (arab. für Steinbank) gewesen zu sein. (2) Aus den Mastabas, die sich vor allem in Sakkara häuften und dort gewaltige Ausmaße annahmen und eine Umfassungsmauer mit komplexen Nischenmustern nach mesopotamischem Vorbild erhielten, entwickelte sich die Pyramide als zweiter Typus des Grabbaus. Am Ende der 5. Dynastie erschöpfte sich der Pyramidenbau (auch wenn in der 12. Dynastie in der Gegend von Memphis nach altem Vorbild wieder Pyramiden errichtet wurden). Erik Hornung verweist auf die zur gleichen Zeit beginnende schriftliche Fixierung, damit »Materialisierung« der Ritualsprüche, die zu den ältesten religiösen Texten der Menschheit gehören. Diese bildeten zugleich die Vorlage für die ersten Dekorationen der Grabkammern. Sie schildern die Rituale, die dem König Aufstieg und Wiedergeburt ermöglichen sollten. Früheste Bemalungen von Grabkapellen datieren bereits aus der 3. und dem Beginn der 4. Dynastie. Zu den ältesten Motiven gehört die Speisetischszene (der Herr des Grabes vor einem mit Broten gedeckten Tisch). Weitere Themen veränderten sich über lange Zeit kaum: Landwirtschaft, Jagd, Handwerk, aber auch Szenen aus dem höfischen Leben (Musik, Sport, Mahl), insgesamt Motive eines gelingenden Lebens in einer sich reichlich verschenkenden Natur. Im Mittleren Reich kam das Osiris-Motiv dazu. Meist wurde dieses als Nilfahrt zum Osiris-Kultort Abydos gestaltet. Künstlerisch gewannen die Abbildungen im Mittleren Reich an Prägnanz, Reichtum und Lebendigkeit.

Konzept der Seele

Loprieno 2003, 203 Hornung 1995, 135 Gundlach 2003 Wilkinson 1992, 99

Hornung 1995, 106

Grabarchitektur

2.4.

Ebd., 34

186

Frühe Hochkulturen

Ebd., 41f

Unterweltsbücher

Hornung 2004

(3) Als dritter Typus entstand in der 18. Dynastie das Felsengrab. Zunächst bedienten sich unabhängige Provinzfürsten, etwa in Beni Hasan oder Assuan, dieser Form, dann brachte die Entwicklung der Gräber in Theben-West das Felsengrab zur höchsten Blüte. Wie man sich genau den Übergang vorzustellen hat, ist nicht geklärt. Die ersten Felsengräber der Pharaonen im Tal der Könige waren von bescheidenen Ausmaßen und nur an wenigen Stellen künstlerisch gestaltet. Die Beamtengräber in Scheich Abd el-Qurna waren meist aufwendiger. Sowohl von der Bauform als auch von der dann einsetzenden Bemalung her folgten die Königsgräber den Unterweltsbüchern, dem Amduat und (seit Haremhab) dem Pfortenbuch, später (Ramses V. und VI.) kamen Totenlitaneien, Sonnen- und Himmelsbücher dazu. (4) Mit der Aufgabe des Tals der Könige als Grablege am Ende der 20. Dynastie durch Ramses XI. – die Hauptstadt war inzwischen seit zwei Jahrhunderten im Norden – wurde in einer letzten Phase das monumentale Grab im Vorhof des Tempels situiert. Der Tempel wurde Grabtempel. Wie schon gesagt, wurde im Mittleren Reich die Unterweltstopographie differenzierter und die künstlerische Gestaltung trug dem neuen Paradigma Rechnung. Die Seele musste zuerst als Osiris mit der Totenbarke des Sonnengottes die Fahrt durch Nacht und Unterwelt absolvieren, bis die Neugeburt erfolgte. Die umfangreichen Unterweltsbücher waren sowohl Erzählungen der Jenseitsreise als auch eine Anleitung, die – umgesetzt in Bildern – den Königen als Hilfestellung für die hindernisreiche Fahrt durch das Jenseits zur Wiedergeburt mitgegeben wurde. Die Erzählungen thematisieren zwar die Unterwelt, gehören aber letztlich in den Sonnenkontext. Die Fahrt mit der Barke durch die Nacht war eben deshalb ein so häufiges Motiv, weil sie die Hoffnung des Ägypters ausdrückte, in den Kreislauf der Sonne einzugehen. Die Schrift des Verborgenen Raums (altägypt. Amduat/was es in der Unterwelt gibt) schildert die für uns unsichtbare Fahrt der Sonne durch die zwölf Stunden der Nacht. Es ist eine detaillierte Beschreibung des Jenseits. Die Sonne befährt auf einer Barke den nächtlichen Nil, das jenseitige Urgewässer. In der Vereinigung der Sonne mit dem Leichnam beginnt die Wiedergeburt am Morgenhimmel. Analog vereinigt sich die Ba-Seele des Toten mit seinem Körper, der so neue Lebenskraft gewinnt. Ständige Begleiter waren die drei wichtigen Göttergestalten für den Kult des Todes: Osiris (ursprünglich ein Gott der Vegetation, Fruchtbarkeit und des Wassers, dann Herrscher im Totenreich, der den König in den Rang eines Gottes stellt, meist durch das Reichen der Hände), der schakalköpfige Anubis (der Schakal macht sich in der Wüste an Leichen zu schaffen; nach anderen handelt es sich um den ägyptischen Wildhund), der für die Riten der Bewahrung des Körpers durch dessen Balsamierung an der Totenbahre zuständig war, und schließlich die kuhgestaltige Hathor, die (wie die Wasserbüffel) aus dem Nil auftaucht. Die Göttin sorgte schließlich (neben Amun selbst) für Regeneration und neues Leben. Dies signalisierte die Sonnenscheibe zwischen den Kuhhörnern, welche sie zu einer Tochter des Sonnengottes machte. Sie erhielt später durch die mit den Titeln »Gottesmutter« und »Jungfrau« gekennzeichnete Isis, die häufig wie Hathor auftrat, Konkurrenz. Beide Göttinnen waren im

187

Ägypten

gesamten Mittelmeerraum außerordentlich populär. Es gibt neben dieser Isis/Hathor noch eine andere Isis, zu der die Schwester Nephthys gehört. Das Buch von den Unterweltlichen, die Osiris beistehen (Pfortenbuch) behandelt ebenfalls die zwölfstündige Nachtfahrt der Sonne, in etwas einfacherer Version. Die Stunden sind durch Tore abgetrennt. In den Darstellungen der Gräber sind sie mit schützenden Schlangen und Dolch-Zinnen gesichert. Am Ende der Fahrt hebt die Himmelsgöttin Nun die Barke des Sonnengottes aus dem Urwasser. Jüngere Jenseitsbücher geben die Zwölfteilung auf. Diese Bücher bildeten die Grundlage für die komplexen Bildprogramme der Königs- und Königinnengräber. Die älteste vollständige Fassung des Amduat fand sich im Grab des Thutmosis III. (KV 34) von 1450, erste Teile bereits bei Thutmosis I. (KV 20). Das Pfortenbuch taucht erstmals im Grab Haremhabs (KV 57) am Ende der 18. Dynastie um 1300 auf. Die Unterweltsbücher Amduat und Pfortenbuch waren geheim und nur für den Pharao gedacht, der ausersehen war, an der Erneuerung der Sonne teilzuhaben. Für die breite Bevölkerung gab es das Totenbuch mit eher praktischen Anweisungen. In den Unterweltsbüchern kommen auch Geschichten von der Bestrafung der Feinde und Verdammungsszenarien vor. Das Abschneiden der Köpfe ist eine und das verzehrende Feuer die schrecklichste Variante, weil sie den Körper auslöscht. Es gibt den roten Feuersee, feurige Messer, Feuer speiende Schlangen und siedende Höllenkessel, in denen Körper schmoren. Alles Motive, die als Höllenbeschreibungen den Weg bis in das Mittelalter gefunden haben. Der Unterweltsgott Osiris war ursprünglich ein Vegetationsgott. Er wurde von seinem Bruder Seth getötet, sein Körper in Stücke gerissen und von seiner Gemahlin Isis wieder zusammengesetzt. Posthum zeugte er den »Gottessohn« Horus. Das Pfortenbuch präsentiert Osiris als Gott der sterbenden und neu ins Leben kommenden Pflanzenwelt, und eine Sargmalerei aus der 21. Dynastie lässt aus der Mumie des Osiris, die von der Sonne beschienen wird, Pflanzen sprießen. Osiris kam im Pantheon dennoch nie die herausragende Stellung des Sonnengottes zu. Der Kult verbreitete sich im Mittleren Reich vom »Osiris-Wallfahrtsort« Abydos und seinem dazugehörigen mehrtätigen Fest aus. Das war nach den Grabanlagen der frühen Könige bereits die zweite religiöse Blüte von Abydos. Sethos I. baute mit dem Totentempel dort den »wohl schönsten und vollendetsten Göttertempel im Nilland […], das beste Beispiel für die Blüte der Kunst in der 19. Dynastie«, in dem neben Osiris-Isis-Horus alle Götter und alle früheren Könige aufgenommen wurden. Es scheint eine Rückkehr vom Himmel

74 Tempel von Dendera, Geburt der Sonne aus dem Schoß der Göttin Nut

Hornung 1995, 156f 75 Darstellung der Zeugung des Horus im Tempel von Dendera

Ebd., 180f 76 Tempel von Abydos

Sourouzian Hourig in Schulz/Seidel 2010, 208

188

Frühe Hochkulturen

in die Unterwelt zu symbolisieren, wobei jetzt die Nachtseite der Sonne interessierte. Insbesondere seit Echnaton wurde (mit Ausnahmen wie bei Ramses II.) versucht, das Sonnenlicht so weit wie möglich in die geraden Grabkorridore eindringen zu lassen. Vorher waren die Korridore wie der Nachthimmel gekrümmt. Nach der 20. Dynastie ersetzten Himmelsbücher die Unterwelttopographie. In den Gräbern taucht eine überdimensioniert gestreckte Himmelsgöttin Nut auf, in deren Körper die Fahrt der Sonne verlief, die am Morgen neu geboren oder von den Armen der Nun, des personifizierten Urwassers, in die Höhe gehoben wurde.

2.4. Chthonisches und Sonnenkult – Pyramide und Obelisk

Kees 1941, 93–109 Dondelinger 1977, 17 I.4.3.1.

Wolf 1957, 18f

Mastabas

Norberg-Schulz 1979, 9

2.3.3.

Wie bereits mehrmals betont, ist auch in Ägypten der Einschnitt der Neolithischen Revolution für die Erklärung vieler Formen des Gestaltens maßgeblich. Insbesondere bleibt der von der zyklischen Vorstellung getragene Kult von Tod und neuem Leben ein Schlüssel für das Eindringen in die Bedeutungsgehalte der Architektur und Plastik Ägyptens. Zum Verständnis dafür ist die gesamte, für die megalithischen Steinkulte nötige Palette an Bedeutungen vorauszusetzen: der Sturz von Metall und Gestein vom Himmel als Symbol der Verbindung von Erde und Himmel, der Stein selbst als Epiphanie und/oder Träger des Göttlichen und Numinosen, sowie der Steinkreis als Ort und Schutz der Toten. Geburt und Tod im Sinne des Fruchtbarkeitszyklus sind im Stein beschlossen, was unmittelbar mit den »phallischen Bezügen« der aufragenden Steine korrespondiert. Ebenso gehört in diesen Kontext die sonnenbeschienene Spitze des aus dem Urwasser aufgetauchten Megalithen (Benben-Stein). Das Bestreben nach ma‘at und nach Dauer und Bestand findet die adäquate Umsetzung in der Kunst im Material Stein, der in Ägypten reichlich zur Verfügung stand. Im Idealfall war es der Rosengranit (aus den Steinbrüchen in Assuan) oder der Quarzit für die heiligsten Bereiche und die Durchgänge in das Allerheiligste. Beide Materialien tragen das Glänzen des Feuers und der Sonne in sich. Daneben fand der weiße, graue und gelbe Kalkstein verbreitete Verwendung. Der Tote hatte in den ägyptischen Vorstellungen zwei Aufenthaltsorte: die Erde (neolithische Version) und den Himmel. Dieser Ambivalenz entspricht die Spannung in der Bedeutung von Pyramide und Obelisk (arab. techen; griech. obeliskos/Bratspieß). Wächst die Pyramide aus dem Chthonischen (aber der Sonne entgegen), symbolisiert der Obelisk vor allem die Sonnenreligion. Die ursprünglichen, in rechteckiger Blockform entstandenen Grabhügel (Mastabas) erinnerten neben ihrer klaren Erdverbundenheit an den von der Sonne getroffenen ersten Ort und Urhügel – an den Zyklus des Wiedergeborenwerdens. Die Grabhügel besaßen Schächte zu den unterirdischen Räumen für Sarg und Beigaben und der rituellen Versorgung der Toten. Die schon erwähnten Phasen im Gräberbau zeigen die Spannung zwischen Chthonischem und Solarem. Der Weg von den Mastabas zur Pyramide ist offensichtlich ein solcher Paradigmenwechsel. Bei den Felsgräbern, eigentlich in das Dunkel der Erde geschlagen, zeigt sich die Hinwendung zum solaren Aspekt in der künstlerischen Ausgestaltung, wo der Sonnenlauf im Mittelpunkt der Unterweltsbücher stand.

189

Ägypten

Nach der Wende zur persönlichen Frömmigkeit wird aus den Grüften eine Grabkapelle und in der 25. und 26. Dynastie kommt das Monumentalgrab auf, das im Schatten der großen Tempel zum Ort der religiösen Feste wird. Beim Mastabagrab spielte für den Ritus auch das Dach eine Rolle. Von dort aus gingen Treppen ins Innere. Vermutlich verbanden diese »Himmelstreppen« das Ritual auf dem Dach mit dem Innenbereich. In den Pyramidentexten des Alten Reichs ist vom Himmelsaufstieg des Königs die Rede. Mastabas mit Treppen häufen sich im Umkreis der Stufenpyramide in Sakkara. In diesem Kontext, vielleicht in Abydos zuerst, begann die Steinbearbeitung. Alabastergefäße mit dem Namen des letzten Königs der 2. Dynastie, Chasechemui, die in Byblos gefunden wurden, zeugen zudem von ersten Austauschvorgängen mit dem Nahen Osten. Mit dem Grabmal des Djoser begann in der 3. Dynastie der monumentale Pyramidenbau, in dem sich auch der Anspruch des Königtums ausdrückte. Die erste Pyramide wurde vom Architekten und Hohenpriester, dem später zum Gott erhobenen Imhotep, in Sakkara errichtet. Sie ist ein Übereinanderstapeln von Mastabas. Für den französischen Ägyptologen Jean-Philippe Lauer, der sich Verdienste bei der Beschreibung und Rekonstruktion von Gräbern und Tempeln in der Umgebung der Djoser-Pyramide erwarb, ist die Stufenpyramide eine »gigantische Treppe zum Himmel, um den Aufstieg der Seele des Königs in seinem Tod zu erleichtern.« Sie symbolisierte als rite de passage einen Übergang in einen anderen Bereich. Tatsächlich scheint die Treppensymbolik der oben erwähnten Differenzierung von Ba (steigt in den Himmel), Ka (als »Geist in Welt«) und Ach (Erscheinung in der zum Leben parallelen Welt) gedient zu haben. Trotzdem zitiert die Pyramide – wie die Fruchtbarkeit – auch die Sonne. Diese Solarisierung erhielte noch mehr Gewicht, wenn die ebenfalls energisch vertretene These richtig wäre, dass Imhotep von Anfang an eine geometrische Pyramide geplant habe (die These stützt sich auf schräge Mauerteile, die Archäologen in den unteren Schichten entdeckten), dass aber nur die Kernkonstruktion erhalten blieb, oder dass Imhotep sein Projekt nicht abschließen konnte. Die Entscheidung darüber muss den Archäologen überlassen bleiben, kunstphilosophisch bemerkenswert am Pyramidenbau bleibt der Wechsel vom Chthonischen zum Solaren. Eine analoge Entwicklung gab es beim griechischen Tempel. Die Pyramide hatte als Monumentalbau und Königsgrablege selbstredend auch eine politische Funktion. Rainer Stadelmann spricht von einer einzigartigen »in Stein errichtete[n] Darstellung einer Staatsidee« und er sieht im Grabbezirk des im Alten Ägypten hoch verehrten Königs Djoser »nicht allein ein Modell der Königsresidenz […], sondern eine steinerne Darstellung des jenseitigen Ägyptens.« In der umgebenden Anlage von Sakkara entstanden die ersten Säulen der Architekturgeschichte, die aus Skepsis über ihre statischen Möglichkeiten mit Mauerstücken verbunden

Alexanian 2003, 27–40; Assmann 2001a, 160–169

Pyramide

77 Stufenpyramide des Djoser in Sakkara

Lauer, zit. nach ­Dondelinger 1973, 49 Edwards 1967, 80 Wilkinson 1992, 151 Alexanian 2003, 36 Assmann 1977

III.2.3.2.

Stadelmann 2010, 47/53

190

Frühe Hochkulturen

1.2.4.

Stadelmann Rainer in Quirke 1997, 2 Wilkinson 2007, 20f

wurden. Sie sind eine Umsetzung der Schilfbündel, die aus Mangel an Holzstämmen Türstürze und Strohdächer stützten. Aus diesem Komplex stammen auch die ersten steinernen (Papyrus-)Kapitelle. Formal erinnert die Stufenpyramide an den mesopotamischen Stufentempel (als Vorläufer der Zikkurat) und dürfte von dort her angeregt worden sein. Inhaltlich gibt es Ähnlichkeiten in der durch die Treppen erzeugten Aufstiegskonnotation und in der Verbindung von Erde und Himmel. Von der späteren Zikkurat unterschied sich die Stufenpyramide nicht nur durch die isolierte Lage außerhalb der städtischen Agglomeration, sondern auch in ihrer Funktion. Sie diente als Grablege, während bei der Zikkurat die Kommunikation zwischen Himmel und Erde im Vordergrund stand. Sie gehörte in den Tempelkomplex und war zugänglich. Die gesamte Pyramidenanlage wurde von einer Mauer umschlossen, die vermutlich wieder nach mesopotamischem Vorbild eine gestufte Kontur hatte. War die Pyramide in Sakkara noch (nach dem Nil) Süd-Nord gerichtet, begann mit der Pyramide des Snofru in Meidum in der 4. Dynastie entsprechend der erfolgten Dominanz des (vom Sohn des Cheops, Djedefre, an die Spitze des Pantheons gestellten) Sonnengottes Re die Ausrichtung nach dem Sonnenlauf Ost-West, samt einem langen Aufweg vom Osten in den Totentempel. Der Aufweg verband diesen meist östlich von der Pyramide gelegenen Totentempel mit dem Taltempel. Die sogenannten Taltempel, am Wasser des Nils gelegen, symbolisierten ein Tor zur jenseitigen Welt. Von ihnen führte eine Prozessionsstraße zum Totentempel am Fuß der Pyramide. Die Pyramide von Meidum sollte erstmals eine ideale geometrische Pyramide werden. Sie wurde als Stufenpyramide errichtet und anschließend verkleidet. Die heutigen Vermutungen gehen davon aus, dass diese Verkleidung – nicht zuletzt wegen einem ständigen Steinraub – über einen längeren Zeitraum abrutschte. Der ebenfalls vertretenen Meinung, sie sei nie fertig gestellt worden, widerspricht die Tatsache, dass man aus späten Dynastien Inschriften fand, welche die Schönheit der Pyramide priesen. Dietrich Wildung hat Steinmetzzeichen eines Obelisken bei dieser Pyramide gefunden, sodass verschiedentlich von einem Vorgriff auf die späteren Sonnenheiligtümer gesprochen wird. Der zweite Versuch Snofrus im 50 Kilometer nördlich von Meidum gelegenen Dahschur scheiterte, weil die Pyramide mit zu steilem Winkel begonnen wurde. Der Untergrund hielt dem Gewicht nicht stand, Risse in den inneren Kammern traten auf, sodass man versuchte, das Gewicht durch einen Wechsel des Winkels zu verringern. Das Ergebnis war eine »Knickpyramide«, deren Bau aufgegeben wurde. Erst im dritten Anlauf glückte Snofru die erste »echte«, nämlich geometrische Pyramide, die Rote Pyramide in Dahschur. Die mit einem relativ flachen Neigungswinkel von 43° vorsichtig gebaute Pyramide wurde mit rötlich schimmerndem Tura-Kalkstein verkleidet und vermittelte den Eindruck eines gigantischen Monolithen. Ihre Vollendung erreichte dieser Typus in der großen Pyramide des Cheops, dem Sohn des Snofru, in Giza um 2550. Die aus 2,3 Mio. Kalksteinblöcken bestehende Pyramide mit einer Basislänge von über 230 Meter und einer Höhe von 146 Meter ist ein einprägsames Symbol des

191

Ägypten

78 Die Pyramiden von Gisa

nach der Mythologie aus dem Urwasser steigenden Urhügels Ägypten. Wie diese gewaltige Bauaufgabe mit einer später nie mehr erreichten Präzision (man darf bei der Bewertung der Leistung nicht vergessen, dass es noch nicht einmal das Rad gab) durchgeführt wurde, ist immer noch Gegenstand von Debatten. Die alte Mär von den zur Fronarbeit verdammten riesigen Massen an Sklaven entspricht schon lange nicht mehr dem Stand der Forschung. Man geht heute von etwa 25 000 Menschen aus, die am Bau beschäftigt waren – durch religiöse und patriotische Emotionen und von hohem Pflichtgefühl motiviert. Die Bauern auf dem Land waren dabei gar nicht involviert. Emma Brunner-Traut verglich die Pyramiden mit einem vorreflexiven, vorachsenzeitlichen Baukastenparadigma. Dagegen hat nicht nur Eckhard Wallenwein auf die enorme Logistik dieser Bauvorhaben hingewiesen, die eine mit einem vorreflexiven Mythenparadigma kaum vereinbare rationale Organisation benötigte. Ein weiterer Aspekt ist eine Unterscheidung zwischen der technischen Ausführung, die vielleicht mit einem Lego-Prinzip vergleichbar sein mag, und dem dahinterstehenden geistigen Konzept. Die Pyramide ist eine Skulptur, wo in ausgezeichneter Form gilt, dass ein Grundanliegen der Architektur realisiert wurde, die »raumausstrahlende Kraft von Volumen […].« Das verbindet Architektur bis heute mit der Bildhauerei. Dass dies in alter Zeit so überzeugend gelang, hat vielleicht tatsächlich damit zu tun, dass man das Augenmerk damals auf den Außenraum richtete. Nach Giedion erhält das Volumen in der Architektur erst heute wieder eine solche Bedeutung, »wie es sie zu Beginn der Hochkulturen besaß: es wird von neuem zu einem aktiv ausstrahlenden Körper.« Mit den Attributen »Ordnung« und »Dauerhaftigkeit« operiert auch Christian Norberg-Schulz und sieht in den Bauwerken Ägyptens den »absoluten Raum« in einem Höchstmaß an Abstraktion realisiert. Dies gilt nicht nur für augenscheinliche Beispiele wie die Pyramiden, sondern auch für den Tempelbau. Vertikale und Horizontale vereinigen sich zu einem orthogonalen Raum, der in jeder Richtung gleich ist. Auch dort, wo Ägypten Tempelanlagen axial anlegte, erfüllen diese den Zweck der Herstellung einer »dauerhaften, ewig gültigen Umwelt.« Die Pyramiden zitierten mit ihrer ursprünglich geschlossenen und glänzenden Oberfläche, Kalkstein bei Cheops, Kalk-

Stadelmann 2010, 66 Brunner-Traut 1992, 2 5.0

Giedion 1965, 29 Wallenwein 1995

Giedion 1965, 30

Norberg-Schulz 1979, 6

79 Modell der Anlage in Gisa; KHM Ebd., 7

192

Frühe Hochkulturen

stein und Granit bei Chephren und Mykerinos, die Idee des Megalithen. Sie wurden zum Symbol für reine Architektur, obwohl sie wie jede Form Bedeutungen stiften. Denn jenseits eines nur soziologischen Kontextes verbindet sich die Religion mit der Magie reiner Geometrie. Edmund Dondelinger spricht von »steingewordener Logik« und von der »Ausschaltung der mannigfachen Formenfülle des LebendiDondelinger 1977, 54 gen.« Diese Bezeichnungen aufnehmend, kann man die Cheops-Pyramide als frühes Manifest einer Bemühung ansehen, auf das Wesen der Dinge zu verweisen, das Bleibende in der Bewegungen Fluss zu gewinnen. Es ist die Kunstform dessen, was man später in der Philosophie als Metaphysik bezeichnet hat. Die Pyramiden seien al-Yamani, zit. nach Bauten, »vor denen die Zeit sich fürchtet«, drückte es pointiert der arabische HistoSchäfer 1963, 24 riker Omar al-Yamani aus. Aus den Pyramiden lassen sich tiefgreifende Assoziationsketten entfalten, etwas, was Barnett Newman eher für die indianischen Erdwälle im Südwesten Ohios beanspruchte, während er die Pyramiden als Ornament abtat: »[…] worin sollte auch der Unterschied liegen, ob die Gestalt auf einem Tisch steht, Newman 1990, 180 einem Sockel oder sich gewaltig aus einer Wüste erhebt?« Gleichzeitig stand die Pyramide für die vollendete Selbstdarstellung des ägyptischen Zentralstaats und auf einer Linie mit der Zikkurat von Urnammu und Schulgi in Ur, dem Athenatempel auf der Akropolis in Athen, der Hagia Sophia in KonstanGundlach 2003, tinopel oder St. Denis für Frankreich, wo überall Architektur National- oder Kultur­ 240–254 identität stiftet. Die Pyramide ist »in der mathematischen Strenge ihrer geometrischen Form und in der Unzugänglichkeit ihrer Abgeschiedenheit überwältigender Dondelinger 1977, 52 Ausdruck des Gottkönigtums […].« Der Blick auf Architektur und Kunst trifft stets auf eine Doppelcodierung. Einerseits geht es um eine inhaltliche Deutung, im vorliegenden Fall der Verweis auf das Chthonische und Phallische in der Sonnenreligion. Andererseits geht es um die formale Faszination der Geometrie der Baukörper. Djedefre, der Sohn von Cheops, der mit dem Titel »Sohn des Re« die Gottessohnschaft zu einem Teil der Königsideologie machte (sie wurde in Mesopotamien, 1.2.2.2. namentlich auf der Geierstele des Eannatum, übernommen), hegte den wahnwitzigen Plan, die Pyramide seines Vaters noch zu überbieten. Ob die Ausführung des Projekts gelungen ist, ist unklar. Sein früher Tod spricht eher für ein Scheitern des Vorhabens. Archäologische Befunde an der stark zerstörten, auf einer Anhöhe liegenden Radjedef-Pyramide (oder eben Djedefre-Pyramide aus der 4. Dyn.) im heutigen knapp zehn Kilometer nördlich von Giza liegenden Ort Abu Roasch ließen jedoch eine lebhafte Diskussion aufkommen, ob die Pyramide (es gibt auch die vage Theorie eines Sonnentempels) nicht doch fertig gestellt und erst nachher zerstört wurde. Das Ende dieser Monumentalbauten und die Rückkehr zu einfacheren Grabbauten ab der 5. Dynastie (Abusir, Sakkara) haben mit den begrenzten Ressourcen an Geld und Arbeitskraft zu tun. Die Pyramiden wurden kleiner, die Tempel mit dem Sonnensymbol der Obelisken größer. Der Kult des täglich neu geborenen Sonnengottes Re gewann an Stärke, vor allem und zuerst in der Sonnenstadt Heliopolis, Hornung, zit. nach der ehemaligen Pfeilerstadt Iunu. »Damit tritt der Obelisk neben Pyramide, Sphinx Semsek 2007, 20 und Säule als weitere Morgengabe Ägyptens in die Kunstgeschichte.«

193

Ägypten

Mit Edmund Dondelinger ließen sich im Obelisken selbst alle bisher gesammelten Aspekte verbinden. Der Sockel, der zum Schluss ganz in die eigene Geometrie überging, ist Rest des Urhügels. Der phallische Mittelteil evoziert die Fruchtbarkeit. Die kupferbeschlagene Spitze, das Pyramidion, erinnert an den Benben und trägt eine klare Sonnenkonnotation. Grundsätzlich erinnern die Sonnenheiligtümer den Zyklus der Fruchtbarkeit, wie sich auch aus der bildenden Kunst ableiten lässt: »Die Reliefdarstellungen in den Sonnenheiligtümern lassen darauf schließen, daß in ihnen das Weiterbestehen der ewig zyklischen Weltordnung durch Opfer für den Sonnengott gesichert werden mußte.« In der 6. Dynastie, als der Höhepunkt der Sonnentheologie überschritten war, wurde der Obelisk zum »Garantsymbol der Auferstehung.« Das Aufrichten des Obelisken war wie beim Aufrichten heiliger Pfeiler generell ein Ritual. Wiederum könnte man diese Kultpfeiler, die aus Steinen gemauert und mit Rosengranitplatten verkleidet, oder – das war die Regel – als Monolithe aus dem Gestein gebrochen wurden, mit Vergeistigung und Abstraktion verbinden.

80 Obelisk der Hatschepsut im Karnak-Tempel

Obelisk

Stadelmann 2010, 71

Dondelinger 1977, 70

I.4.3.1.

2.5. Der Tempel – Symbol kultureller Erinnerung Die Frage, wann man von ersten architektonischen Strukturen religiöser Komplexe sprechen kann, wird lebhaft diskutiert. Als Ausgangspunkt dienen dabei Fundstellen wie jene von Nabta-Playa in der nubischen Sahara etwa 100 Kilometer westlich von Abu Simbel. Es handelt sich um eine etwa 6500 Jahre alte Anlage nach neolithischer Üblichkeit: ein Steinkreis mit in der Mitte stehenden Megalithen, denen eine religiöse und/oder astronomische Bedeutung zugesprochen wird. Angesichts eines nahe gelegenen Sees mutmaßt man, ob es sich bei der Anlage um eine Verbindung des Sonnen- mit dem Naturzyklus handelt und so die Ambivalenz von Leben und Tod symbolisiert. Damit hätten sich in diesem »Proto-Tempel« die Grundthemen

81 Terrassentempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari

194

Frühe Hochkulturen

Wilkinson 2007, 16f, 76

O’Connor 1992 Kemp 1989 Arnold 1992, 15 ­Norberg-Schulz 1979, 10

des Weltbildes der Ägypter verdichtet, die sich in der Tempelsymbolik auf die Themen »original cosmic structure, ongoing cosmic function and cosmic regeneration« verdichteten. Freilich bleiben solche Überlegungen spekulativ, zumal nicht einmal eine Kontinuität der Bevölkerung nachgewiesen werden kann. Weniger Probleme bereiten die Nachweise von ersten Kultbauten im oberägyptischen Hierakonpolis (altägypt. Nechen), etwas südlich von Luxor um 3500. Hierakonpolis bildete neben Naqada eines der prädynastischen Zentren. Ein dort ausgegrabenes Heiligtum des Horus gilt als der älteste bislang gefundene Tempel Ägyptens. Ebenfalls dem Falkengott Horus wird ein Komplex von sakralen Lehmziegelbauten in der Umgebung der frühen Königsgräber in Abydos zugeschrieben, die man als Tempel bezeichnen kann. Die lebhafte Diskussion zur Entwicklung der Tempelarchitektur umfasst Fragen nach formalen Entwicklungen und nach einem möglichen Unterschied zwischen Tempeln in den Zentren und an der provinziellen Peripherie. Allgemein scheint Folgendes zu gelten: Aus ersten schützenden Unterständen aus mit Lehm beworfenen Schilfmatten und Holzkonstruktionen für Fetische und Kultbilder, die erste architektonische Strukturen erkennen ließen, entstanden aus Ziegel gemauerte Tempel. Stein als Baumaterial verwandte man ab der 2. und 3. Dynastie, also seit der Sakkara-Zeit.

82 Heiliger See im Karnak-Tempel

Arnold 1992, 40

Auch der Tempel lässt sich im Rahmen der mythischen Ursprungserzählungen entschlüsseln. Er wurde mit dem Urhügel gleichgesetzt und bewahrte diesen in seiner architektonischen Form, zuletzt in der »erhöhten Lage der hinteren Tempelteile, besonders des Sanktuars«. Das konnotiert die Verbindung von Erde und Himmel, Mensch und Gott. Mit dem aus dem Urwasser heraustretenden Hügel korrespondiert die Funktion des Tempels als Kulturidentität Ägyptens. Künstliche Seen erinnern im Inneren der Tempelummauerung an den Ur-Ozean des Ursprungsmythos.

195

Ägypten

Auf ihnen wurden rituelle Bootsfahrten durchgeführt, das Wasser fand Verwendung bei Reinigungsriten und für rituelle Wasserspenden. Das Osireion des Sethos I. in Abydos war mit einem Hügelgrab bedeckt und damit ein »model of the mythical mound of creation which the Egyptians believed rose from the primeval waters.« Einen Höhepunkt und eine annähernd als Schematisierung zu bezeichnende Form erreichte der Tempelbau ab dem Mittleren Reich, speziell unter Amenophis III. und Ramses II., dessen Schema bis in die griechische und römische Zeit gültig blieb: Fassade mit Pylonen und Flaggen, offener oder gedeckter Säulenhof, Säulenhalle und Sanktuar als Grundform. Dieses generelle Schema erwies sich freilich als flexibel und ermöglichte so unterschiedliche Konzeptionen wie den offenen Terrassentempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari und die burgartig geschlossenen Tempel in der Ptolemäerzeit. Diese Flexibilität unterschied den ägyptischen vom griechischen Tempel. Sie entsprach dem Wesen der veränderlichen ägyptischen Götter. Die Architektur des Tempels genügte den verschiedenen Gesichtspunkten, einerseits den mythischen Erzählungen, andererseits politischen Rücksichten. Zu den zwei Pylonen, die gewaltige Dimensionen (Edfu) annehmen konnten, des mit einer Lehmziegelmauer (einer symbolischen Abtrennung des Heiligen vom Profanen) umgebenen Tempels führte der oft mit Sphingen gesäumte Prozessionsweg (von den Kais am Nil oder an einem Nilkanal).

Seidel/Schulz 2005, 338 Wilkinson 2007, 36

Hornung 1973, 252

I.4.3.4. 83 Eingangspylonen im Luxor-Tempel aus der Zeit Ramses II. 84 Der die Feinde ­schlagende Pharao auf den Pylonen des Tempels von Edfu

Die Pylonen wurden auch schon als »most distinctive architectural feature of these ancient religious structures« bezeichnet. Sie scheinen in den Tempeln des Alten Reichs entwickelt worden zu sein, erhielten ihre dominierende Stellung aber im Mittleren Reich. Als kunstphilosophische Deutung hat man den Vergleich mit Wüstendünen vorgeschlagen, zwischen denen die Sonne aufgeht, gleich den Geburts- und Totengöttinnen Isis und Nephthys, die sie im Gestus der Geburt wie Hebammen in die Höhe heben. So erzählen es uns alte Hymnen: »Isis und Nephthys erheben dich bei deinem Hervortreten aus den Schenkeln deiner Mutter Nut.« Das Hieroglyphenzeichen für den Horizont (achet) ist den Pylonentürmen ähnlich. Es zeigt eine schematisierte Darstellung von zwei Kuppen, zwischen denen sich die Sonne erhebt. Sigfried Giedion sah eher die untergehende Sonne, die in ihrem Horizont angekommen sei. Dass eine abwehrende und apotropäische Funktion nahe liegt, ist offensichtlich. Zusätzlich wird dies unterstützt durch die Abbildung des Pharao, wie er auf die Feinde des Reichs einschlägt und ma’at wieder herstellt.

Wilkinson 2007, 60

Arnold 1992, 42 zit. nach Assmann 1984, 131

Giedion 1964, 374 2.1.2./2.2.2.

196

Frühe Hochkulturen

85 Eingangsbereich des Luxor-Tempels

Hornung 1989, 115–130

86 Goldene Sterne auf blauem Himmel im Tempel der ­Hatschepsut

Das hölzerne, metallbeschlagene Doppeltor wurde meist flankiert von Obelisken und links und rechts ragten seit der Amarna-Zeit Stangen in den Himmel, an denen Fahnen flatterten. Nach dem Eingang folgten ein Säulenhof und eine überdachte Säulenhalle. Die Säulen hatten keine statische Funktion. Sie waren Ausdruck des organischen Lebens. Die Säulenwälder in Hof und Halle symbolisierten die urtümliche Sumpflandschaft, aus der sich mit der Kraft des Leben spendenden Wassers die Papyruspflanzen erheben. Man steht gleichsam in einem Wald von Papyrus, Palmen oder Lotospflanzen, wie sich aus ihren Kapitellen ersehen lässt. Die Kapitelle trugen aber auch Reliefs der Göttin Hathor, wenn der Tempel ihr geweiht war (Dendera). Die Axialität bemaß sich am Aufweg der Prozessionsstraße und wies den Weg durch enger und dunkler werdende Räume ins Sanktuar, das Barke, Opfertisch und das Standbild des Gottes enthielt. Nebenräume dienten anderen Göttern und Gastgöttern. Für alltägliche Notwendigkeiten gab es Seiteneingänge. Der Tempel war ein Abbild des gesamten Kosmos, politisch spiegelte sich das Ordnungssystem des Reichs wider, Nordhälfte für Unter-, Südhälfte für Oberägypten. In der Zeit der Ramessiden wurden die Tempel mit ihren großen Schlachtendarstellungen zur Staatsarchitektur. Wie im Alten Orient kennen wir auch aus Ägypten Texte von Gründungszeremonien von Tempeln, wo der König den Grundriss legt. Die Decke repräsentierte wie in den Grabanlagen den Himmel (in der Spätzeit blau und mit gelben Sternen bemalt). In der Grabkammer des Wesirs Senenmut, der für die Bauprojekte der Hatschepsut verantwortlich war, in Theben-West (an privilegierter Stelle unterhalb des Totentempels der Pharaonin) fand man erstmals eine »astronomische« Decke (mit zahlreichen Sternbildern), dann prominent im Königsgrab des Sethos I. Dieses bei seiner Auffindung bereits geplünderte, aber dennoch bis dahin schönste Grab wurde von dem Abenteurer Giovanni Battista Belzoni gefunden (Belzoni’s Tomb), nachdem dieser bereits Abu Simbel, das 1813 von Jean Louis Burckhardt alias Scheich Ibrahim entdeckt worden war, sowie die Gräber von Eje und Ramses I. aus dem Treibsand ausgegraben hatte. Ab Sethos wurden alle Wände bemalt oder reliefiert, nicht nur ausgewählte Teile. Die Dokumentation des Grabes durch Belzonis Aquarelle zeigt die massiven Schäden und Verluste, die vor allem durch den Tourismus in den letzten zweihundert Jahren entstanden sind. Ab der 20. Dynastie erscheint – wiederum wie in den Grabanlagen – immer öfter die Himmelsgöttin Nut mit langem Körper, in dem die Sonne, die am Abend verschlungen wurde, die Nachtfahrt absolviert, um am Morgen neu geboren zu werden. Dieser Geburtsvorgang wird meist mit dem Skarabäus, dem cheper (aus sich selbst), und dem Urwasser Nun, das mit dem Nil gleichgesetzt wird, untermauert. Die prominente Stellung im Königsgrab soll dem König die Wiedergeburt aus Sonne und

197

Ägypten

Urwasser ermöglichen. Wenn die Sonne jubelnd empfangen wird und die Strahlen ihre Energie in das Innere des Tempels laden, schließt sich der Kreis der Fahrt des Sonnengottes über den Himmel. Als Abbild des Kosmos war der Tempel auch Abbild der Stadt. Er symbolisierte die Gottesstadt. Aber er war – im Besitz von landwirtschaftlichen Flächen – neben seiner sakralen Funktion pragmatisch und profan wie im gesamten Alten Orient auch ein Wirtschaftsfaktor und ein politisches Machtzentrum. Seine Anlage umfasste neben den Kulträumen Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten, Schlachthöfe, Gärten, Bibliotheken, Schulen sowie die Priesterwohnungen. Die umgebenden landwirtschaftlich genutzten Gebiete zahlten Tempelsteuer, die nach dem mit Nilometern gemessenen Stand des Hochwassers berechnet wurde. Im Tempel treffen sich nicht nur Tektonisches und Organisches, sondern auch das Prozesshafte, das im Augenblick der zyklischen Vollendung, im getakteten Rhythmus im Sinne von ma’at, erstarrt. Neheh und Djet, der Prozessaspekt und der Vollendungsaspekt, finden zusammen. In allen Tempeln gibt es Darstellungen des Djet-Pfeilers kombiniert mit dem Lebenszeichen – Symbol einer Stabilität der stetigen Wiedergeburt. Manchmal ist dieses Verhältnis auch anders abgebildet. Im Philae-Tempel zeigt ein Schlitten mit offenem Bündel die kommende und einer mit einem gebundenen Bündel die abgeschlossene Zeit an. Barke und Kultbild stehen für diese Aspekte im Sanktuar und repräsentieren die zeitenthobene Präsenz und den prozesshaften Aspekt des Kults. Die performative Verbindung von Gott und Bild wird in letzter Konsequenz durch den Menschen, nämlich durch sein Ritual, verursacht. Wie in Mesopotamien, dessen Tempelarchitektur am Beginn des ägyptischen Tempelbaus bereits entwickelt war, ist das Heiligtum Wohnort der Götter, repräsentiert durch das Kultbild. Nur wenige solcher meist aus Edelmetall gefertigter Kultbilder haben die Zeiten überlebt. Man hielt – mit Ausnahme der Amarna-Zeit – die Präsenz Gottes im Bild für real und nicht für symbolisch und widmete ihnen die aus dem Alten Orient bekannten Rituale. Die Götterbilder wurden geweckt, gewaschen, gekleidet und gespeist. Neben dem festen Kultbild gab es das Prozessionsbild auf der göttlichen Barke. Nur dieses bekamen die Menschen zu sehen. Der Weg vom Pylon durch die Säulenhalle zum abgedunkelten Sanktuar mit Scheintür, durch die sich die Seele des Gottes mit dem Bild vereinigen konnte, war der Weg der Barke mit dem Bild bei Prozessionen. In allen Tempeln und Gräbern sind solche Prozessionen abgebildet. Neben dem Götterbild wurde in den Nebenräumen des Sanktuars auch der König dargestellt, dessen Bild ebenso realpräsentisch gedacht war. Beim Porträt des Königs lassen sich durchaus individuelle, charakterisierende Züge ausmachen. Darüber hinaus gab es Statuen von Privatpersonen, die am Kult nicht beteiligt waren, aber das Privileg besaßen, als passive Zuschauer (meist als Hockfiguren oder Standfiguren mit schematischem Mantel) am Geschehen zu partizipieren. Die Tempelanlagen changierten wohl mehr aus politischen und ideologischen Gründen denn aus Gründen der Mythologie zwischen Offenheit und Geschlossen-

Kultbild

1.2.2.1.1.

198

Frühe Hochkulturen

Badawy 1968, 324–337 Arnold 1992, 134f

Wolf 1977, 385

Arnold 1992, 24 ­Badawy 1968, 166–170 Karnak-Tempel

Schulz/Sourouzian 2010, 153 ◀

87 Pylonen des Karnak-Tempels

heit. Der grandiose – nur mehr rudimentär erhaltene – terrassenförmig angelegte Totentempel des Reichseinigers von 2040 Mentuhotep II. in Deir el-Bahari bricht die abweisenden Flächen durch offene Hallen auf. Vor der gleichen Felswand besticht der vom Haushofmeister und Leiter der staatlichen Bauprogramme der Hatschepsut, Senenmut, 600 Jahre später in großer Ähnlichkeit entworfene Totentempel der Königin. Der Tempel war nicht die Grablege, diese lag im Tal der Könige (KV 20). Sie scheint dort allerdings nicht bestattet zu sein. Um andere mutmaßliche Fundorte ihrer Mumie gibt es zur Zeit lebhafte Diskussionen. Auf den Terrassen des Tempels, die die megalithischen Massen durch ihre horizontale Lage auflösten, waren Gartenanlagen mit Wasserspielen angelegt. Die Rampen erzeugten eine Dynamik und waren als Prozessionsweg (auf dem die Verbindung von Ost- und Westufer, also der Bestand von Diesseits und Jenseits begangen wurde) nach Karnak ausgerichtet. Der Bau gehört zu den »bedeutendsten und eigenwilligsten Schöpfungen der ägyptischen Tempelarchitektur«. Walther Wolf sah in diesem Tempel bereits eine ausdrückliche Rezeptionsästhetik am Werk: »Zum erstenmal ist hier eine aus der Ferne in einem einzigen Sehakt zu erfassende Einheit von Natur- und Kunstwerk geschaffen worden und an die Wirkung auf den Beschauer gedacht.« Senenmut gehörte zu den berühmtesten Architekten des alten Ägypten. Zwei Dutzend Statuen – häufig als Kniefigur ausgebildet – sind von ihm noch erhalten. Schließlich lösten sich in der Amarnaarchitektur die Dächer auf. Selbst Stürze wurden vermieden, damit »kein Schatten auf den König fällt, wenn er die Tore durchschreitet« Die eindrucksvollste Tempelanlage war die mit lauter Superlativen aufwartende, dem Amun-Re (bzw. der Dreiheit Amun-Mut-Chons) geweihte Tempelstadt in Karnak. An ihr haben zahlreiche Könige gebaut. »Hier verschmolzen die wichtigsten religiösen Denkansätze des Reichs zu einem neuen theologischen System mit Amun an der Spitze. Ohne die anderen Götter zu verdrängen, nahm er ihr Wesen an und wurde dadurch zum Ur- und Schöpfergott, zum Sonnenund Himmelsgott, zum allgegenwärtigen, stets aktiven König der Götter und Vater der Könige, welche die Weltordnung zu garantieren hatten.« Der älteste heute bekannte Hinweis auf einen Amun-Tempel in Karnak ist eine Hieroglyphensäule von Antef II. aus der 11. Dynastie, die im Luxor-Museum zu sehen ist. Die engere Geschichte des Baus begann im Mittleren Reich mit der völligen Neugestaltung unter Sesostris I. Von ihm stammt unter anderem das oft als Kleinod der ägyptischen Architektur bezeichnete Stationsheiligtum (Chapelle blanche), ein zentraler Pfeilertempel, übersät mit Darstellungen von Kulthandlungen des Königs. Die Baugeschichte reichte bis in die 30. Dynastie mit dem unvollendet gebliebenen gigantischen Pylonenbau, dem größten Torbau der Geschichte, der heute die

199

Ägypten

Besucher empfängt. Diese größte sakrale Anlage der Welt mit über 120 Hektar hatte die gewaltigsten, in mehreren Wellen hintereinander geschichteten Pylonen, das größte (in basilikaler Form gebaute) Hypostyl (unter Sethos I. und Ramses II.) mit 134 Papyrussäulen auf 5400m2, den längsten, zum Luxor-Tempel führenden Prozessionsweg mit etwa 1300 Sphingen-Skulpturen (der gegenwärtig wieder hergestellt wird). Der Haupttempel ist Amun vorbehalten. Der Mondgott (Chons) und die Gemahlin des Amun, Mutter des Chons und symbolische Mutter des jeweiligen Pharaos, die Göttin Mut, erhielten ausgewogen eigene Tempelbezirke. Dazu kamen andere Götter und vergöttlichte Pharaonen. Der Tempel von Karnak war das Herz einer theokratischen Reichsverfassung.

88 Karnak, Säulen des Hypostyls

89 Teil der Prozessions­straße vor dem Luxor-Tempel 90 Peristyl (Basilika?) im Karnak-Tempel

Die Geschlossenheit der Tempel verstärkte sich in der Ptolemäerzeit. Die ideologisch rückwärts gewandte, in ihre eigenen Händel verstrickte Dynastie erhob das Prinzip des Tep-zepi (das erste Mal) zum Programm. Diese Rückwärtsbezogenheit zeigte sich auch im Bildprogramm. Die Abgeschlossenheit ihrer Tempel war rigoros. Keine feindliche Kraft durfte in das Allerheiligste eintreten. Im festungsartigen Horus-Tempel in Edfu ist das Sanktuar fünffach ummauert. Im Tempel wiederholt sich derart die Abgeschlossenheit des Reiches und diese Abwehr äußerer Einflüsse nimmt in der Spätzeit deutlich zu. Die inneren Räume sind dunkel, Innen und Außen ist durch viele Abstufungen systematisch getrennt. Es gibt dabei ein Spiel mit Licht und Sichtbarkeit. Im »Raum des Erscheinens« etwa trat das Kultbild aus dem Dunkel des Sanktuars hervor. Wie später in den Sakralbauten der Romanik herrschte Abschottung vor dem als feindlich wahrgenommenen Außen. Parallel zur Abgeschlossenheit steigerte sich das Bildprogramm über den Höhepunkt der Tempelproduktion in der Ramessidenzeit bis zur Ptolemäerzeit, wo praktisch alle Flächen bebildert und beschriftet waren. Das macht bei gleichzeitigem Nachlassen der Qualität in der Ausführung eine Funktion der Tempel aus. Die Spätzeit achtete bewusst auf Rückgriff, auf Überlieferung und Tradition, auf strikte Einhaltung des alten Schemas und suchte in der geschützten Institution des Tempels Sicherung der Identität gegen kulturelle Überfremdung. Der Tempel wird zu einem

2.2.1.

V.5.4.1.

Baines 1997, 233

200

Frühe Hochkulturen

Assmann 1997, 159

Schoske/Wildung 2012, 16

Wolf 1977, 440

»Akt der Kanonisierung« oder zur »sakralisierte[n] nationale[n] Identität«. Der kanonischen Mustern folgende Tempel diente als Erinnerungsraum für die große Zeit des Alten Reichs. Im späten Tempel von Kom Ombo wird sogar der göttlichen Imhotep, Baumeister von Djosers Pyramide in Sakkara, wieder groß verehrt. Man wusste grundsätzlich um den Wert von großen Architekten. Von vielen von ihnen sind Statuen erhalten, sodass wir über sie besser unterrichtet sind als über die Baumeister im Römischen Reich. Unter Sesostris I. (12. Dyn.) wirkte ein Schatzmeister (Vorsteher der beiden Goldhäuser und der beiden Silberhäuser) und Architekt namens Mentuhotep, nicht zu verwechseln mit dem König in der 11. Dynastie. Er ist – vor allem in dem von Sesostris erneuerten Tempel von Karnak – in zahlreichen Statuen, meist als Würfelhocker und Schreiber, dargestellt. Die Art der Darstellung widerspricht dem üblichen ägyptischen Schönheitsideal. Er ist mit schlaffer Brust und deutlichen Bauchfalten versehen, was meist mit der Demonstration von Wohlstand erklärt wird. Es gibt aber auch die Meinung, dass dieser »schlaffbrüstige ›Schreiber‹ der Weise, der Repräsentant des gesammelten Wissens einer großen Kultur« ist. »Diese Statuen sind eine Hommage an das Alter, dessen Lebenserfahrung in den ägyptischen Weisheitslehren ihren Niederschlag findet.« Der Architekt wird hier geradewegs zum Symbol des Weltweisen aufgewertet. Auch in der Bildhauerei wandte man sich zurück und repetierte die Form des Würfelhockers. »Sie alle sind Zeugnisse eines rückwärts gewandten Geistes. Ihre Form erscheint als ein leeres Gehäuse, das eines neuen Sinngehaltes entbehrt.« Wie immer bei solchen Spätphasen stellt sich die Frage nach der Bewertung. Mangel an Inspiration oder bewusster gestalterischer Vorsatz?

2.6. Kunst und Architektur – Spiel von Organischem und Kristall

III.2.4.3.2.6.

Woldering 1964, 65 Assmann 1984, 140

Von keiner alten Hochkultur ist auch nur annähernd ein so gewaltiger Fundus von Kunst auf uns gekommen wie aus dem alten Ägypten. Dementsprechend ambitioniert sind die Theorien zum Wesen der ägyptischen Kunst. Zum Standardrepertoire dabei gehört der Hinweis auf den Ewigkeitsgestus und den sakralen Charakter dieser Kunst. Schon Platon pries in höchsten Tönen die seiner Meinung nach ungebrochene Konstanz und ständige Repetition in der Kunst Ägyptens. Dass Platon das rückwärtsgewandte späte Ägypten kennen gelernt hatte, das sich an der Wiederholung des Ersten Mals ausrichtete, muss dabei ausdrücklich vermerkt werden. Unklar bleibt, ob Platon zu dieser Bewertung aus eigener Anschauung fand oder ob er sich in einen schon damals verbreiteten Rezeptionskonsens einschrieb. Die »zeitlos gültige Wiedergabe eines Gegenstandes nach einem bestimmten Schema« wurde um 3000 verbindlich normiert, sodass man die ägyptische Kultur in ihrer erstarrten Zirkulation und Repetition tatsächlich als ein riesiges »Immunsystem« gegen jede Veränderung sehen kann. Jedenfalls hat man in Ägypten selbst den Reiz des Ewigen durchaus geschätzt. Der Oberbaumeister von Amenophis III., Hui (Amenophis, Sohn-des-Hapu), hinterließ auf seinen Statuen autobiographische Texte. Um 250a wurde auf einer Statue zu seinen Ehren in diesem Sinn vermerkt: »Der König hat mir aufgestellt sehr große Statuen gegenüber seiner Majestät, die

201

Ägypten

91 Grab des Nacht, Jagd im Papyrussumpf (18. Dy.)

dauern und bleiben ewiglich.« Auch dieser Architekt, der für die Aufstellung der »Memnonkolosse« und für viele Bauprojekte des Sesostris verantwortlich war, wurde wie Imhotep in der Ptolemäerzeit vergöttlicht. Eine solche Ehrung ist jedenfalls ein Hinweis auf die hohe Stellung der Architekten in Ägypten, die sogar jene der angesehenen Schreiber übertraf. Es gibt Vermutungen, wonach Amenophis, Sohndes-Hapu, der Urheber eines Tempelbaukanons war, wie er sich ab der 18. Dynastie herauskristallisierte. Doch mit dieser eingängigen Formel wird man der ägyptischen Kunst keineswegs in allen ihren Facetten gerecht. Daher bürgerte sich die Rede von der »unägyptischen Kunst« Ägyptens ein. Damit ist gemeint, dass es innerhalb dieses Immunsystems durchaus Bewegung gab. Sie stand »in dem starken Spannungsfeld von Norm und Wirklichkeit.« Kazimierz Michalowski sprach vom Widerstreit zweier verschiedener Kunstrichtungen: »Die eine, mehr konservative, fußt auf den überkommenen Regeln der Symmetrie und einer möglichst verständlichen Darstellung der Gegenstände und des gemeinten Inhalts. […] Die andere, fortschrittliche Richtung bemüht sich um eine wirklichkeitsgetreue Komposition und um ein Maximum an Ausdruckskraft, […].« Dennoch eignet sich diese Immunisierungsthese als grobe Beschreibung zunächst durchaus. Sie passt zur hierarchischen Gesellschaftsordnung und kann mit der Tatsache verbunden werden, dass Ägypten in der bildenden Kunst keine Künstlerindividuen kannte, sondern Kunstwerke in straff organisierter Teamarbeit entstanden. Ob dies Ursache oder Folge einer »übergeordneten ikonografischen Kultur« war oder ob es am Sozialstatus der Künstler lag, ist nicht einfach zu entscheiden. Die soziale Stellung der Handwerker war zwar besser als jene der Bauern, aber die Beamten, vor allem die angesehenen Schreiber, äußerten sich ziemlich abschätzig über die Künstler. Die Untersuchung von Deir el-Medine, dem Wohnghetto der »Diener an der Stätte der Wahrheit« beim Tal der Könige, ergab eine geschlossene, aber doch durchlässige Anlage von etwa 70 Häusern von wohlhabenden Spezialisten. Die Sied-

zit. nach Schoske/­ Wildung 2012, 16

Michalowski 1969, 293

Satzinger 2010, 95

Michalowski 1969, 214

Tiradritti 2007, 83

Michalowski 1969, 168f Burkard 2003 Badawy 1968, 61–68

202

Frühe Hochkulturen

Hornung 1995, 67–78

Freed 2010, 331

Tiradritti 2007, 84

Hodel-Hoeness 1991, 29

92 Offene ­Knospe; ­Kapitell mit ­Querbalken im ­Karnak-Tempel

Leclant 1981, 273 93 Zeichen von Uas, Djet und Anch: gutes Leben, Stabilität und Wiedergeburt

lung wurde von Amenophis I. oder Thutmosis I. gegründet. Aus der Zeit der 19. und 20. Dynastie sind wir über Arbeitsalltag, Entlohnung, Arbeits- und Freizeitregelungen und zumindest teilweise auch über die Arbeitsvorgänge selbst durch zahlreiche Texte auf Ton- und Kalksteinscherben (Ostraka) gut unterrichtet. Insbesondere die Steinmetze, Tischler, Schmiede (v.a. die Goldschmiede) und Metallgießer genossen durchaus Ansehen. Sie schufen sich sogar eigene, farbenfroh ausgemalte Gräber, die sie mit kleinen Pyramiden bekrönten. Ihre Arbeit in den Königsgräbern war von hoher Qualität, aber wenig kreativ. Sie arbeiteten im Schoße eines Teams Vorlagen ab, die nur wenig individuelle Entfaltung zuließen. Es ging in der ägyptischen Kunst nicht um individuelle Originalität, sondern um Reproduktion von Vorbildern und Umsetzung symbolischer Muster. »Eine Statue wurde erst dadurch einmalig und unverwechselbar, daß man sie mit einer Inschrift versah, die die dargestellte Person bezeichnete, nicht etwa durch die naturgetreue Abbildung der individuellen Züge dieser Person.« Die Kunsthandwerker waren eingeordnet in die Umsetzung eines Programms, »das die enorme unbewusste Macht des gemeinsamen Langzeitgedächtnisses dieser Kultur spiegelt.« Gesteuert war dieses Gedächtnis von religiösen Vorgaben. Kunst hatte ebenso wie im Alten Orient eine zutiefst religiöse Funktion und entsprach vermutlich niemals einer reinen l’art pour l’art. »Man darf sagen, dass alle Bilder Ägyptens religiös, magisch bedingt waren, dass es keine aus rein ästhetischen oder künstlerischen Gründen gab.« Sollte Platon das tatsächlich erkannt haben, wäre das eine erhebliche Leistung der Beurteilung ägyptischer Kunst. Wie ist nun die reizvolle Dialektik zwischen einem lebendigen und dynamischen Naturalismus auf der einen und der Suche nach dem statischen Wesen auf der anderen Seite, also das »Unägyptische« in der ägyptischen Kunst, einzuordnen? Grundsätzlich gilt, dass unbeschadet des Ewigkeitscharakters der Kunst über Jahrtausende Naturalismus und abstrahierendes Vereinfachen parallel verliefen. Ein Kunstwerk bedeutete zunächst das, was es abbildete. Darüber hinaus trug es eine symbolische Botschaft. Eine Papyrussäule ist jenseits der naturalistischen Abbildung Zeichen für die Wiedergeburt. Häufig – heute noch in vielen Tempeln zu sehen, etwa im Hypostyl des Karnak-Tempels und im Chons-Tempel derselben Anlage – sind die Papyrusknospen in der Mitte der Anlage offen, in den Seitenschiffen geschlossen. Gott bringt die Knospen zum Blühen, wenn er auf seiner Barke durch das Mittelschiff getragen wird. Es ist die Dialektik einer Kultur, die »auf unbestimmte Zeit an den Lehren ihrer großen Vorbilder festhalten wollte, doch auch nach neuen Formen suchte.« Schon im Alten Orient war die Vegetation korreliert mit dem Wohlergehen der Stadt durch die Anwesenheit des Gottes. Die Darstellungen der aufblühenden Vegetation in der 18. Dynastie könnte sogar eine Propagandakunst der neuen, vom Pharao dekretierten Ordnung sein.

203

Ägypten

94 Anch und Uas-­ Zeichen

Das trifft sich mit dem grundsätzlichen Faktum, dass das Aufblühen neuen Lebens Teil der Einheit des Zyklus des Lebens, damit in einen (stabilen) Bestand integriert ist. Die immer wiederkehrende Zusammenstellung des Djet-Pfeilers mit dem Lebenszeichen Anch – manchmal noch mit dem Uas-Symbol des guten Lebens – drückt das wunderbar aus.

2.6.1. Entwicklung der bildenden Kunst Anders als im Alten Orient sind aus Ägypten zahlreiche Werke der bildenden Kunst überliefert, die in der Regel integraler Bestandteil der Architektur waren. Architektur, Malerei und Bildhauerei bildeten eine Einheit und diese verschmolz zudem mit dem Theater des religiösen Rituals. Künstlerische Tätigkeit ist in Ägypten seit dem 6. Jt. nachweisbar. Aus der Vorzeit sind vor allem Tonskulpturen (aus Nilschlamm) erhalten, die sich mit den in prähistorischer Zeit üblichen Themen, Polarität von weiblich und männlich, Mutter-Kind- und Tierdarstellungen (um 3000), beschäftigten. Auch hier ist die Frage schwer zu entscheiden, ob Nachahmung leitend war oder das Interesse am symbolischen Gehalt für magische Zwecke. Mit der Sesshaftwerdung um 4000 taucht eine verbesserte und bemalte Keramik auf. Weltdarstellungen auf Keramik beginnen in vordynastischer Zeit. Die nach dem Ort Naqada benannte letzte vordynastische Kulturperiode – sie hatte im 4. Jt. die prähistorische Badari-Kultur abgelöst – brachte städtische Strukturen und erste bildliche Darstellungen von Göttern. Daneben gehören Motive von Kultbarken, Jagd- und Fischfangszenen zu den ältesten. Ein beeindruckendes Zeugnis dieser Darstellung ist das bemalte Grab von Gebelein (3600–3300). Weitere Beispiele finden sich in den Gräbern in Hierakonpolis, wo sich – wie erwähnt – neben Naqada ein zweites vordynastisches Zentrum befand. In beiden Zentren nahmen die Gräber größere Ausmaße an und erhielten reichere Beigaben, was schon früh zu einer sozialen Hierarchie führte und Rückschlüsse auf wirtschaftliche Prosperität zulässt.

95 Geflügelte Sonnenscheibe auf den Stürzen der ­Durchgänge in Medinet Habu

Tiradritti 2007, 86f 2.1.2.

204

Frühe Hochkulturen

Seidlmayer 2010, 27

Wolf 1977, 78

Ebd., 78f Porträt

Ebd., 186 X.2.2.

Ebd., 188

Tiradritti 2007, 10

Brunner 1964, 51

»Hier entfaltet sich erstmals die ägyptische Kunst in großen Kompositionen auf hohem ästhetischen Niveau.« Kunsthistorikerinnen verweisen auf die unüberseh­ baren mesopotamischen Einflüsse und schließen die Anwesenheit mesopotamischer Künstler in Ägypten zu dieser Zeit nicht aus. Mit Anbruch der geschichtlichen Zeit verschwand die Tonplastik zugunsten der Beinschnitzerei und der Steinskulptur. Der im Land reichlich vorhandene Stein mit seinem Ewigkeitsgestus spielte in der ägyptischen Skulptur eine grundlegende Rolle. In der 3. Dynastie kam er als Baumaterial zu einer Zeit ins Spiel, in der das Land die Krise der Spaltung gemeistert hatte. Es kann gut sein, dass die Wahl dieses Materials die Beständigkeit der neuen Herrschaft symbolisieren sollte. Gleichsam als Verstärkung könnte die Entdeckung des Sockels interpretiert werden, der bald zum Würfel wurde, Symbol für Dauer und Unendlichkeit. Vielleicht wurde der Würfel in der Tat »als ein Gerüst senkrecht aufeinanderstehender Achsen früh als Symbol der Dauer empfunden [wurde]. In dem Maße, in dem die Bildwerke sich dem würf­ ligen Symbolraum einordneten, nahmen sie an seinem Charakter unvergänglicher Dauer teil.« Mit Hilfe der Geometrie des Würfels überwanden nach Walther Wolf die Ägypter das Ur-Chaos und schufen die Ordnung. Die These böte eine plausible Übertragung eines grundlegenden Paradigmas auf die Kunst und zugleich eine Basis für das Verständnis des angesprochenen Ewigkeitsgestus der ägyptischen Kunst. In der Tat entwickelte sich die frühe Skulptur im Alten Reich aus dem Würfel. Der Sockel zieht einen Gegenstand aus dem natürlichen Zusammenhang der Dinge, aus seiner Stellung in Raum und Zeit und der damit einhergehenden Relativität und stetigen Veränderung heraus und hebt ihn in den abstrakten, zeitlosen Bereich einer extramundanen Sphäre. Der Ägypter wollte das Organische zurückdrängen und die Zeit durch den Raum überwinden. Dieser Zug zur Abstraktion gilt auch für das skulpturale und das malerische Porträt. Diese Kunst ist – jedenfalls bis zum Mittleren Reich – keine auf Betrachterinnen bezogene Kunst, sie hat keine ästhetische Ambition im modernen Sinn, vielmehr dient sie dem Magischen. Der Ägypter stellt dar, »was er von den Gegenständen weiß, nicht was er von ihnen auf der Netzhaut seines Auges wahrnimmt; was er über die Dinge denkt, nicht was er sieht.« Im Schwanken der Künste zwischen Mimesis und Ausdruck müsste man diesen Teil der ägyptischen Kunst eindeutig der Ausdruckskunst zurechnen. Das determiniert die angesprochene Rolle des Künstlers. Er durfte nicht individueller und kreativer Schöpfer sein, sondern ein »Vollzieher eines überpersönlichen Kunstwollens.« Besser sollte man wohl von einer zutiefst religiös inspirierten Leitkultur sprechen als von einem Kunstwollen, das als moderner Begriff zu sehr auf ein vom ontologischen Kontext unabhängiges Kunstverständnis verweist. Die Darstellung der Pharaonen sind »keine Porträts bestimmter Individuen, sondern verleihen dem Wesen des Pharaonentums eine konkrete Gestalt.« Die Schönheit der Götter ließ sich kaum darstellen, sondern nur beschreiben. Hellmut Brunner bemerkte dazu launig, dass es nicht um die spätere Aureole ging, sondern um die Beschreibung des guten Dufts. In der 4. Dynastie entwickelten die Ägypter

205

Ägypten

einen Proportionskanon des Menschen und normierten so das Schönheitsideal. Abseits dieser hoch artifiziellen Norm öffnete sich in intimen Bereichen der Kunst, bei Skulpturen von Privatpersonen und in der Kleinkunst, durchaus ein Raum für das »Wagnis einer gewissen schöpferischen Freiheit.« In der bildenden Kunst Ägyptens spielte auch die Schrift eine wesentliche Rolle. Schrift und Bild ergänzten sich und verwiesen aufeinander. Der Zusammenhang ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass etwa die Königsgräber nichts anderes als bildliche Umsetzungen von Literatur, der Unterweltsbücher, waren. Insbesondere in den späteren Tempeln nahm die Schrift überhand. Der Tempel war geradezu ein Buch, »dessen Seiten die einzelnen Räume bilden.«

Desroches-Noblecourt Christiane in Leclant 1979, 227 Schrift und Bild

Tiradritti 2007, 23 96 Farbenfrohes ­Hieroglyphen-Relief auf den Stürzen der Säulenhalle im Karnak-Tempel 97 Karnak-Tempel: Feines Relief eines Kopfes

Ein anderer Aspekt der ägyptischen Kunst ist die Tatsache der unterschiedlichen Qualität der Malereien. Forscher, die dieser Frage nachgehen, versuchen, aus dem Nebeneinander von hervorragend ausgeführten und fehlerhaften Partien auf die soziale Organisationsform der Künstlerteams zu schließen. Ein Lösungsvorschlag ersetzt das Evaluationskriterium »fertig-unfertig« durch »nutzbar-nicht nutzbar«. Man war zufrieden, wenn die Abbildung pragmatisch ihre Funktion erfüllte, auch wenn sie künstlerisch als noch unfertig erscheinen mochte. Grabbemalungen hatten ja rein rituelle Funktion und mussten innerhalb eines begrenzten und meist sehr engen Zeitfensters entstehen. Malerei und Relief (das in drei Formen, als Flach-, Hoch- und Tiefrelief ausgeführt wurde) in der Grabeskunst begannen in der ausgehenden 3. Dynastie. Auch die Bildhauerei begann als Grabeskunst. Die Statuen waren für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. »Die ägyptische Privatplastik des Alten Reichs ist nur in ihrem funerären Kontext zu verstehen.« Statuen standen im Kultraum oder im Fall der Mastabagräber in einem eigens dafür vorgesehenen Raum (Serdab). Das Kunstwerk wurde durch ein Mundöffnungsritual beseelt und diente dem Ka des Dargestellten (oder dem Ba des Gottes) als Aufenthaltsort. »Mit diesem Ritual wird die Statue von einem Objekt handwerklicher Bearbeitung in einen Kultleib umgewandelt, […].« Ab der 5. Dynastie trat eine Typisierung in den Vordergrund, die Jan Assmann, weil gleichzeitig die Produktion erheblich anstieg, etwas unsensibel auf einen Rationalisierungsprozess bei der Herstellung zurückführt.

98 M ­ onumentalfigur zwischen den Papyrus-Säulen im Luxor-Tempel

Ebd., 84 2.3.3.

Satzinger 2010, 103

Assmann 2009, 89

206

Frühe Hochkulturen

Assmann 1991, 147

Wolf 1977, 263 VI.8.0.f.

Satzinger 2010, 103

Woldering 1964, 135

Wolf 1977, 263 ◀

99 ­Getreideworfeln, Grab des Menna (18. Dyn.); Scheich Abd el-Qurnah Michalowski 1969, 211

Seidel/Schulz 2005, 343

Im Mittleren Reich emanzipierte sich die Skulptur vom Grab und wurde selbständig. Ein Spiel von Licht und Schatten hub an, die Skulptur begann, mit dem Raum zu kommunizieren und damit eine Rezeptionsmöglichkeit anzudeuten. Für viele gilt das Mittlere Reich als die goldene Zeit der altägyptischen Bildhauerei und Hofkunst, während das Alte Reich die Zeit der Architektur (mit dem Pyramidenbau) und das Neue Reich jene des Bildes war. Die Porträtbüsten wichen – beinahe denkt man an den Manierismus im Gefolge der klassischen Renaissance – von der Idealisierung ab und erfuhren nicht selten eigenwillige Verzerrungen und expressionistische Formgebung. Anders als Jan Assmann will Helmut Satzinger diese Kunst nicht als »ungekonnt« bewerten, sondern darin eine »neue Ungezwungenheit und Freiheit, verglichen mit dem streng kanonischen Kunstschaffen der vorangegangenen Klassik«, sehen. Dieser Strang der Kunst steigerte sich in eine farbenfrohe, weit in den Naturalismus reichende Malerei mit dem Höhepunkt im Neuen Reich. Die Reliefs der Nach-Amarnazeit gehören zu den Glanzpunkten der ägyptischen Kunst – freilich immer aus der Perspektive einer heutigen Beobachterin gesprochen. Trotzdem ging eine gewisse Idealform nicht verloren. Es entstand eine Fülle von Skulpturen als »Ausdruck einer höfischen Welt von vornehmer Zurückhaltung und Würde.« Kunstphilosophisch könnte man von einer idealisierten Form sprechen. Die Figur stellt in aller Regel Menschen mittleren Alters mit idealem Körperbau dar. Schönheit entspricht hier – ohne dass dies ausdrücklich philosophisch artikuliert würde – einem kosmischen Harmonieverständnis. Aus ägyptischer Sicht gelten die eindringlichen Porträts, etwa der Könige der 12. Dynastie, Sesostris III. oder Amenemhets III., »die samt und sonders zu den großartigsten Bildwerken der ägyptischen Kunst gehören«, als realistisch. Für unser Empfinden sind sie immer noch von hoher Idealität getragen Die Kunstproduktion im Neuen Reich, die schon quantitativ reichhaltiger war als jene der gesamten bisherigen ägyptischen Geschichte zusammen, zeugt von Macht und Reichtum des Landes in dieser Epoche. »Das Neue Reich war nicht nur die Zeit der größten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht des alten Ägypten, sondern auch die der höchsten Blüte der ägyptischen Kunst.« Schon vor der Revolution Echnatons bildete sich eine Idealisierung aus, die zugleich von der Typi­ sierung wegführte und eine anmutige Sinnlichkeit ausdrückte. In Karnak wurde um 1450 ­unter Thutmosis III. eine von Papyrusbündelsäulen gestützte Halle (Achmenu) mit bezaubernden Pflanzen- und Tierdarstellungen gestaltet (man spricht vom »botanischen Garten«) und brachte den Schöpfungsgedanken zum Ausdruck, »wie er rund 100 Jahre später im ›Großen Sonnengesang‹ des Echnaton seinen literarischen Niederschlag gefunden hat.« Der Tempel der Erneuerungsriten (Sed-Fest) ist eine der ersten ausdrücklich basilikalen Anlagen der Geschichte. Es scheint sich hier eine dynamische Kunst entfaltet

207

Ägypten

zu haben, die sich von der eher statischen und lastenden Kunst des Alten Orients ebenso unterschied wie sie aus der minoischen Kunst bekannt ist. »It is a sudden, often hasty art, but full of vitality and contrasts strangely with the refined, static art of the preceding period, which reached its zenith under Amenophis III.« Gerade im Neuen Reich waren die Beziehungen zur Ägäis besonders gut. Schon Howard Carter und sein Team hatten sich über manch »unägyptisch« wirkende Kunst im Grab Tutanchamuns gewundert und sie auf Einflüsse aus der kretischen Kunst zurückgeführt. Eine Vermutung, welche die moderne Forschung durchaus bestätigt. Grob gesprochen ist diese Kunst unägyptisch, weil ihr Grundthema, »das Fliessen in der Natur, das Schöne im Momentanen« demjenigen, »woran dem offiziellen Ägypten lag«, völlig entgegengesetzt war: »einer Kunst, die ewige Dauer des Bestehenden festschreibt.« Aus Denkbildern wurden Sehbilder mit Anmut und Ichbezogenheit, wobei jetzt auch die Sinnenwerte durch die Farbe betont wurden. Die Gräber der hohen Beamten Rechmire, Nacht, Menna, Sennefer und anderer zur Zeit Amenophis II. und III. in Scheich Abd el-Qurna in Theben-West sind neben dem Grab der Nofretete Höhepunkte der Malerei Ägyptens. Sie sind Ausdruck der Lebensfreude der 18. Dynastie, wo aus rituellen Totenmahlen diesseitige Festbankette und aus Barkenprozessionen Volksfeste werden. Echnaton löste mit seiner religiösen und politischen Revolution in der Amarnazeit auch eine künstlerische aus. Es ging um den Bruch des alten Kanons und die Hinwendung zum Naturalismus und zu Alltagssujets. Die Rekonstruktion der völlig zerstörten Anlage in Tell el-Amarna und der im zweiten, neunten und zehnten Pylon des Karnak-Tempels als Schüttung verwandten Reste des dortigen Aton-Tempels, ist mühsam, brachte jedoch eine faszinierende Szenerie zutage. Wie der Sonnenhymnus des Echnaton bunte Pflanzen, springendes Wild, auffliegende Vögel beschreibt, zeigt das Bildprogramm genau jene tanzende Natur in völligem Realismus. »Alles, was du geschaffen hast, tanzt vor deinem Angesicht. […] Alles Wild tanzt auf seinen Füßen, die Vögel, die in den Nestern waren, fliegen auf vor Freude.« Dazu kamen Szenen familiärer Intimität. Der Realismus auch in der Darstellung von König und Gemahlin ließ die Archäologen bisweilen schockiert zurück. Man sprach von einem »Ausbund von körperlicher Hässlichkeit« und nannte die Darstellungen krankhaft. Dazu tauchten volkssprachliche Inschriften und Dekrete auf. Man muss an dieser Stelle nachhaken. Es ist kaum vorstellbar, dass bei den berückenden Abbildungen reine Nachahmung diesseitiger Lebensaktivitäten gemeint war. Zu Recht ist in jüngerer Zeit das scheinbar bewährte Schema eines Amarna-Naturalismus ins Gerede gekommen. Eine Analyse der Bildwerke zeigt, dass die alten Konventionen möglicherweise gleich durch neue ersetzt wurden. Ob die ins Groteske weisenden Darstellungen des Pharaos den König als Fruchtbarkeitssymbol zeigen wollten oder ob die an strenge Regulierung gewohnten Künstler sozusagen den Naturalismus zur neuen Norm erhoben, ist schwer zu entscheiden. Aber eine Schlussfolgerung dürfte sein: »[…] die Ursachen für die Verunstaltungen des menschlichen Körpers während der Amarnazeit liegen daher möglicherweise viel eher im Bereich der religiösen Ikonographie als in demjenigen eines künstlerischen Realismus.«

III.1.2.4. Hari 1985, 18

Isler-Kerényi 2004

Müller Hans Wolfgang in Leclant 1980, 97

Fazzini 1973 zit. nach Assmann 1999, 216, 63 Tiradritti 2007, 325

Semsek 2007, 135f

Shaw 1997, 76

208

Frühe Hochkulturen

IV.7.2. 100 ­Grab des Ramose; Klagefrauen (18. Dyn.)

101 Ausgemeißelte Gesichter und Hände als Ergebnis eines Bildersturms

Hodel-Hoenes 1991, 29 Dondelinger 1973, 44

Dazu gibt es weiteren Forschungsbedarf, aber die Beobachtung würde die These eher verstärken, dass die lebendige Kunst innerhalb des Kontextes der Stabilität suggerierenden Kunst Ägyptens entziffert werden muss. Was hier ausgedrückt wurde, scheint die Bebilderung der Vision des Bestandes dieses Zyklus der blühenden und freigiebig spendenden Natur gewesen zu sein. Ganz zum Unterschied von der Statik der byzantinischen Kunst, wo sich allenfalls in der anagogischen Funktion ein dynamischer Anteil zeigt, erlaubt die ägyptische Kunst einen direkten Blick auf den Zyklus der Natur, auf die durch das Scheinen der Sonne immer wieder zu neuem Leben erweckte Natur, die der Ägypter in die drei Jahreszeiten Überschwemmung, Saat und Ernte unterteilte. Ein Blick auf diese blühenden Naturszenerien ist eigentlich ein Blick auf den durch Ma’at gesicherten Bestand des Ganzen, Einen und Heilen. Daher bleiben die Darstellungen, ob Jagd im Papyrussumpf oder Weinlese, trotz allem Naturalismus symbolhaft und folgen meist einem Schematismus. Da es in den Gräbern um Auferstehungserwartung ging, muss man wohl davon ausgehen, dass jenseits der dargestellten Lebensbilder die Intention des Grundsätzlichen und Philosophischen nicht völlig vergessen worden war. Man konnte mit den Darstellungen auch eine Natur-Kultur-Beziehung zum Ausdruck bringen, die ein harmonisches Verhältnis zum Ziel hatte. Nach dem Ende der religiösen Revolution Echnatons trat der alte Normenkodex wieder in Kraft. Neben den klassischen Individuierungssystemen in der griechischen Philosophie und im Christentum kannte demnach auch Ägypten einen Individualismus, der kaum anders als vom Zyklus von Sterben und Wiedergeburt her zu deuten ist. Dabei räumten die Ägypter – anders als dies die griechische Philosophie sah – dem Körper einen hohen Stellenwert ein. Die Unversehrtheit des Körpers war eine Voraussetzung für die Auferstehung. Daher hatten die Totenbücher spezielle magische Rituale für jene Körper in ihrem Repertoire, die im Nil ertrunken, von Krokodilen gefressen oder zerstückelt worden waren. Auf die Bedeutung des Körpers verweisen auch magische Rituale im Zusammenhang mit der Bildkunst. Ausgekratzte Gesichter oder zerstörte Körper verweisen auf Bilderstürmerei, die den Körper der Abgebildeten schädigen sollten. Grabräuber legten Feuer an die Mumie, um vor Verfolgung des nun des Körpers Beraubten sicher zu sein. Noch eindringlicher ist, dass gefährliche Hieroglyphenzeichen manchmal ausgelassen oder anderweitig entschärft wurden. Im Grab des Onuris-Cha in Deir el-Medina hat die böse Hornviper selbst als Zeichen im hieroglyphischen Text Messer im Leib. Diese magische Funktion gab es auch bei Kultstatuen, die Orakel gaben und Wunder wirkten, weil der göttliche Ba in seinem sechem (Machtzeichen, Bild) wohn-

209

Ägypten

te. Die magische Funktion spielte vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Menschen und Göttern, wofür das Gottesbild eine Mittlerfunktion einnimmt. Diese »Einwohnung« ist ein dynamischer Akt, wie nähere Untersuchungen zeigen und macht Bilder zu »power objects«, nicht nur im magisch-religiösen, sondern auch im politischen Sinn. Bildmagie ist keine bloße Identität (sonst müsste der Jäger das Bild des Tiers verspeisen), sondern eine reflektierte Form der Bilderverehrung. »Sprache, rituelle Akte und Ikonen dienen der Artikulation des Kosmos.« Analog zur Flächigkeit der Skulptur hatte auch das ägyptische Bild keine Tiefendimension. Es gab kein Licht- und Schattenspiel, das die Form auflöste. Die reichliche Farbgebung entsprach nicht immer der natürlichen Vorlage, sondern sie war idealisiert. Die Farbgebung basierte dabei im Wesentlichen auf einem vorgegebenen Kanon der Symbolik. Die Farbe drückte häufig Materialien aus. Gelb stand für Gold, rot für Rosengranit, schwarz für Basalt. Im Neuen Reich bevorzugte man das Gelb auch als Hintergrundfarbe in den Gräbern, das Sonne und Licht bedeutete. »Leuchte großer Leuchtender, […] vertreibe die Finsternis im verborgenen Raum. […] Erhellt ist die Urfinsternis, damit das Fleisch lebt und sich erneuert in ihr.« Hier finden sich zahlreiche kunstphilosophische Vorlagen einer Kunst als strenger, replizierbarer Formenkanon, der einzig das Wesen der Gegenstände darstellt, wie sie später im byzantinischen Raum wirkmächtig wurde und unter anderem zur Form der Ikone führte.

Assmann 2009, 83 Junker 1910, 6 Eschweiler 1994 Kerchache/Paudrat/ Stéphan 1989, 247 Luckmann 1991, 97

Hodel-Hoenes 1991, 26ff

zit. nach Hofmann 2003, 156

IV.8.2.

2.6.2. Profanarchitektur Über die sakrale Architektur wurde bereits an mehreren Stellen ausführlich gesprochen. Zum Unterschied von diesen einschlägigen gut erhaltenen Objekten ist die Profanarchitektur schwierig zu rekonstruieren. Anders als die sakralen Gebäude, die im dauerhaften Material Stein ausgeführt wurden, bestanden Wohnhäuser, Villen und Paläste aus Lehmziegeln. Aus Amarna kennen wir einen Haustyp, der zum »Archetypus pharaonischer Profanarchitektur avancierte und schließlich Aufnahme in den Fundus der ›großen Formen‹ altorientalisch-mittelmeerischer Wohnkultur fand.« Es handelte sich um Lehmziegelhäuser mit klimabedingt sparsamen Fenstern, Belüftungen nach Norden mit gut überlegter Innenraumgestaltung und Loggien. Luxuriösere Villen nahmen bei ihren Besitzern einen großen Stellenwert ein, sodass sie auch in den Grabmalereien abgebildet worden sind. Man vermutet, dass in den pharaonischen Palästen in aller Regel (Ausnahme z.B. Malqata) nicht gewohnt wurde, sondern dass sie Ritualbauten waren, also der Administration und Repräsentation dienten. Vielleicht gab es sogar mehrere Paläste, je einen für die verschiedenen Tätigkeiten. Sie waren zudem Wirtschaftseinheiten und wurden auch schon mit den mittelalterlichen Königspfalzen verglichen. Am besten kennt man die Paläste in Theben-West seit dem Neuen Reich. Unter ihnen befindet sich der Palast Ramses III. im festungsartig errichteten Medinet Habu. Dieser Palast ist in den Tempel verbaut und mit ihm verbunden. Im Aufbau

Endruweit 2010, 393

Ebd., 395

210

Frühe Hochkulturen

Müller/Vogel 1979, 126

des Palastes (Zweisäulenvorhalle, Sechssäulenaudienzsaal, dahinter liegender privater Teil) lassen sich Analogien zu Privathäusern in Amarna finden. Die Paläste zeigten häufig eine reichhaltige Wand-, Decken- und manchmal auch Bodenmalerei. Gesamthaft kann man die Verbindung von bildenden Kunstwerken und Architektur im oben geschilderten Sinn durch Naturnähe und Abstraktion charakterisieren und womöglich von einem »Dualismus« der altägyptischen Architektur sprechen.

2.7. Die Hermetik, die Hieroglyphen und das Erbe Ägyptens

Corpus ­Hermeticum

Grafton 1983

Assmann 1998

Die geheimnisvollen Kulte um Tod und Wiedergeburt und die Möglichkeit, zur Schau der Götter zu gelangen, regten schon früh die Phantasie der Menschen an, die dazu kulturelle Erzählungen generierten und daraus Kultpraktiken ableiteten. In der Ägyptenrezeption bis in die Neuzeit spielten das (1) Corpus Hermeticum und (2) die Hieroglyphica, beides Sammlungen ägyptische Weisheitslehren mit dem Nimbus eines hohen Alters und größter Authentizität, eine wichtige Rolle. (ad 1) Beim Corpus Hermeticum handelt es sich um eine Sammlung zumeist griechischer Texte, die mit dem Anspruch tradiert wurden, altägyptische Weisheit konserviert zu haben. Um diese Sammlung entwickelte sich eine reiche Legendenbildung. Die Lehren habe der ibisköpfige Mondgott Thot, der Gott des Schreibens und der Weisheit, einem Schüler geoffenbart. Zu Lebzeiten des Moses habe ein Enkel des Thot (der im Griechischen dem Götterboten Hermes entsprach, nach dem die Geheimlehre benannt wurde), Hermes Trismegistos (dreimal größerer Hermes), die Schriften ins Griechische übertragen. Die okkulten, astrologischen und alchemistischen Inhalte aus ägyptischen und orphischen Mysterien wurden im Judentum und im Neuplatonismus bis in die Neuzeit weitergereicht – immer mit dem Anspruch, uraltes, aus der Zeit des Moses stammendes Weltwissen zu sein. Die christlichen Väter sahen in Hermes Trismegistos einen Zeugen an der Wurzel von Monotheismus und Schöpfungslehre und im lateinischen Mittelalter verband man damit die Einheit von Makro- und Mikrokosmos. Um 1460 brachte der Mönch Leonardo da Pistoia (Pseudonym des Leonardo Alberti de Candia) auf Betreiben Cosimo de Medicis eine Handschrift des Corpus Hermeticum nach Florenz, wo sie Marsilio Ficino 1463 ins Lateinische übersetzte. Die Renaissance verehrte Ägypten und nun glaubte man sich im Besitz der dazugehörigen Philosophie. Im 17. Jh. korrigierte Isaak Casaubon die Fiktion des hohen Alters und entlarvte die Hermetik als spätantike Geheimlehre des hellenistischen Ägypten und als christliche Fälschung. Das Jahr 1614, in welchem Casaubons Text erschien, wird manchmal als Scheide zwischen der Ägyptophilie der Renaissance und einer »neuen Ägyptenrezeption« des 17. Jh.s, der ersten auf wissenschaftlichen Grundlagen basierenden, bezeichnet. Sie gipfelte in Napoleons Feldzug nach Ägypten und in Mozarts Zauberflöte. Teilweise ging die alte, sich am Corpus Hermeticum orientierende Ägyptenbeschreibung in den »Untergrund« okkulter Bewegungen, teilweise wurde sie aber im 18. Jh., gerade bei Freidenkern, rehabilitiert. Es handle sich zwar um spätere Texte, die aber dennoch alte ägyptische Weisheiten überlieferten, so der Platoniker Ralph Cudworth.

211

Ägypten

(ad 2) Die Hieroglyphica wurden einem ägyptischen, in Alexandrien lehrenden Philosophen mit dem ägyptisch-griechischen Mischnamen Horapollon (Horus + Apollo) zugeschrieben. Ob dieser Horapollon identisch ist mit dem ägyptisch-griechischen Grammatiker des späten 5. Jh.s.p gleichen Namens, der schwer unter der Heidenverfolgung Kaiser Zenons gelitten haben soll, ist unklar. Zeitlich dürfte der Text bereits früher, vielleicht in koptischer Sprache, verfasst worden sein. Die Hieroglyphica sind ein mit krausem Symbolismus aufgeladenes Werk über die Hieroglyphen. Es wurde von einem nicht näher bekannten Philippos vermutlich im 5. Jh. ins Griechische übersetzt. 1419 wurde die Schrift vom italienischen Geographen Cristoforo de Buondelmonti auf der griechischen Insel Andros entdeckt und 1422 nach Florenz gebracht. Aldo Manutius in Venedig brachte das Werk 1505 erstmals in griechischer Sprache heraus. 1512 wurde es auf Betreiben Kaiser Maximilian I. ins Lateinische übertragen und mit Stichen Albrecht Dürers publiziert. Das Werk enthält knapp zweihundert ausladend-symbolische Interpretationen von Hieroglyphen, die zu dieser Zeit noch nicht entziffert waren. Erst in der Renaissance begann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem alten Erbe und damit auch mit der Schrift. Mit der Entdeckung der Hieroglyphica kamen zahlreiche alte Streitfragen um die ägyptische Schrift wieder auf das Tapet. Den Ausdruck Hieroglyphen (griech. hieros/heilig; glyphein/meißeln) soll Clemens von Alexandrien geprägt haben. Horapollon sah in den Hieroglyphen eine reine Bilderschrift, was die alte Streitfrage wieder aufrollte, ob die Hieroglyphenzeichen die Dinge natürlich, physisch (platonisch) oder durch Konvention (aristotelisch) bezeichnen. Weil Gott die Welt in Bildern geschaffen hat, seien die Hieroglyphen eine Nachahmung der Schöpfung. Zugleich dienten sie zur Verschlüsselung von Geheimnissen. Trismegistos habe sie als Medium der Initiation erfunden, weshalb die ägyptische Schrift das Geheimnis der Mysterien ideal ergänze. Diese verbreitete Meinung vertrat unter anderem der Hieroglyphenforscher und Jesuit Athanasius Kircher, der deswegen noch zur Renaissancerezeption gezählt wird. Die Hieroglyphen dienten in der späteren Zeit Ägyptens als Denkmalschrift, teilweise mit ornamentaler Funktion und in aller Regel farbig. Denn die Hieroglyphenschrift ist nicht nur durch bestimmte Formen, sondern auch durch bestimmte Farben definiert. Die alte Meinung, dass die Hieroglyphen Bestandteile einer reinen Bilderschrift sind, ist seit ihrer Entzifferung 1822 durch Jean-François Champollion überholt. Den Zeichen kommt vielmehr ein Lautwert zu. Die Hieroglyphenschrift ist also prinzipiell einer Buchstabenschrift (ohne Vokale) durchaus ähnlich. Der Unterschied liegt in ihrer »Materialität«. Jedes Schriftzeichen funktioniert in einem Zeichensystem (Semantik) und hat zudem eine sinnliche Form (Materialität). Egal, in welcher Schrift ein R gesetzt ist oder auf welchen Träger es geritzt oder gemalt ist, es muss sich nur von einem P unterscheiden. Gleichwohl bleibt die sinnliche Form

Hieroglyphica

Doblhofer 1957, 45

VI.2.0.

Hieroglyphen

102 Beschriftung auf dem Obelisk Ramses II. im Luxor-Tempel Kurth 1994, 24

Hornung 1995, 73f

Tiradritti 2007, 20

212

Frühe Hochkulturen

Assmann 1991, 78–80

Assmann 1998, 153 103 Hieroglyphen-­ Relief aus dem Tempel der Hatschepsut

Wilkinson 1992

Michalowski 1969, 65

1.2.2.1. Tiradritti 2007, 93 Wildung 1988, 27 Michalowski 1969, 86 Wildung 1989, 41

Brunner-Traut 1992, 141; Winter 1991

der Hieroglyphen einer Bildhaftigkeit nahe (die sie erst in ihrer kursiven Variante abgestreift hat). Darin besteht ihre Weltreferenz. Auffällig ist ein reicher Gebrauch von Tierbildern. Der Bischof von Gloucester, William Warburton, der auf die zusätzliche Funktionen der Schrift verwies, sprach von einer »Zoographie«. Die Ägypter schrieben etwa öffnen mit dem Bild des Hasen, weil dieser die Augen auch beim Schlafen offen hält. Ihre Bildhaftigkeit und das Interesse nach Dauerhaftigkeit kamen vor allem im sakralen Raum voll zur Geltung. Später galt sie zum Unterschied von der Kursivschrift als Kunst und wurde von den Künstlern erlernt. Deshalb waren die Hieroglyphen, die von rechts nach links, von oben nach unten und von links nach rechts geschrieben wurden, auch in die Kunst inkorporiert. Thot war der göttliche Erfinder der Schrift, aber die Hieroglyphen gehörten meist zu Ptah, dem Gott der Kunst. Die Reihung von Zeichen konnten durchaus zugunsten des optischen Eindrucks verändert werden. »Kalligraphie war wichtiger als Orthographie.« Die Beschriftung von bildlichen Darstellungen hatte eine ähnliche Funktion wie jene in Comics, wo den Darstellungen sozusagen eine Stimme gegeben wird. Wenn in der Ptolemäerzeit neben dem Griechischen die Hieroglyphen mit einem stark erweiterten Zeichenrepertoire in sakralen Texten verwandt wurden, waren sie Teil einer ornamentalen Kunst. Begonnen hat die Hieroglyphenschrift, wie jede frühe Schrift, namentlich die Keilschrift im Alten Orient, nicht als Kommunikations-, sondern als Speichermedium. Die ältesten Funde von Schriftbeispielen reichen in die Negade II-Zeit (um 3500) zurück – getragen von neuen Einwanderern aus der arabischen Halbinsel. Auf einer Schlachtfeldpalette aus Schiefer (um 3100) fand man erste Hieroglyphenzeichen. Die endgültige Fixierung des Zeichenbestandes und seiner Lautform geschah um 2600. Schon bald etablierte sich eine vereinfachte Variante, die hieratische Schrift. Sie wurde von den Griechen mit diesem eigentlich falschen Begriff (griech. hieratisch/ heilig) bedacht, weil sie die Schrift vor allem in religiösen Kontexten kennenlernten. Eigentlich war die hieratische Schrift die Schriftform der neuägyptischen Sprache, die ab der zweiten Hälfte des 2. Jt.s verbreitet war. Mit dem späteren Aufkommen einer noch stärker abgeschliffenen und verflüssigten Variante, die sich an der Sprache orientierte, dem Demotischen, wurde auch die hieratische Schrift nur mehr für sakrale Zwecke benützt. Das Demotische als Volksschrift (griech. demos/Volk) diente ab etwa 650 als Gebrauchsschrift. Der jüngste Niederschlag der ägyptischen Schrift ist das in drei Dialekten verbreitete Koptische. Schon Athanasius Kircher erkannte im Koptischen eine altägyptische Volkssprache. Durch die Hellenisierung wurden teilweise ägyptische Texte in einer angepassten griechischen Schrift verfasst mit demotischen Zusatzbuchstaben für Laute, die im griechischen Alphabet nicht abgebildet

213

Ägypten

werden konnten. Das Koptische wird heute abseits der koptischen Kirche nur mehr von einer kleinen Sprachfamilie gesprochen und geschrieben. Die Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion, der als Begründer der Ägyptologie gilt, gelang anhand eines (von einem Offizier der Armee Napoleons 1799 bei der Rekonstruktion des Forts St. Julien in el-Rashid gefundenen) beschriebenen Steines (Stein von Rosette). Auf ihm war ein Text eines Priesters für Ptolemäus V. Epiphanes in hieroglyphischer, demotischer und griechischer Version geschrieben. Die Beherrschung der Hieroglyphenschrift setzte erhebliches Wissen der Schreiber voraus. Vermutlich deshalb erhielt die Schrift mit ihrer Neigung zum Bild in spätere Zeit den Ruf eines Mediums zur Kodifizierung und Bebilderung des Weltwissens. Welche Rolle Bild und Schrift bei dieser Erinnerungsarbeit zukamen, war stets ein Streitthema in der Kulturgeschichte. Schon früh sind aus Ägypten Klagen bekannt, dass die Verschriftlichung mit einem Verlust der Erinnerung einherginge. Noch schärfer wurde die Debatte, als es um die monotheistische Doktrin der Bilderlosigkeit ging. Die Hieroglyphen ließen sich leicht als Idolisierung der von Gott geschaffenen Welt denunzieren. Manche Forscherinnen sehen daher in der Entwicklung der Buchstabenschrift eine Abwehr der ägyptischen Idolatrie. Zu dieser gehörte als besonderes Ärgernis die Anbetung von Tieren. Diese sei von den Priestern unterstützt worden, die damit den wahren Ursprung der Götter (zumal solche vergöttlichter Könige und Gesetzgeber) geheim halten wollten. »Die Tiere waren das perfekte Versteck für die Götter.« Die Buchstabenschrift gehörte dann in den Kontext der Ablehnung der Macht der Bilder, wie sie mit dem Gebot »Du sollst dir kein Bild machen« des judäischen Monotheismus eine prägnante Formulierung fand.

Doblhofer 1957, 55–100

Assmann 1998, 163

104 Das Peristyl im Luxor-Tempel mit Papyruskapitelle der Säulen und ­Kolossalfiguren

214

Frühe Hochkulturen

3.0. Israel und der judäische Monotheismus

Levin 2001, 123

Amiet 1977, 236

Dass die Geschichte Israels in groben Zügen im vorliegenden Werk abgetrennt vom Abschnitt Alter Orient behandelt wird, hat den Grund darin, dass es hier vorwiegend um die Darstellung der Entstehung des judäischen Monotheismus geht. Der Monotheismus, wie er im Literaturwerk des Alten Testaments (der Ausdruck Altes Testament stammt aus dem 2. Jh.p) geschildert wird, ist ein so wesentliches Motiv für Kunst und Architektur in der europäischen Geschichte, dass eine eigenständige Sichtung dieses Motivs gerechtfertigt erscheint. Diese Einschätzung steht außer Frage, auch wenn manchmal die Nachhaltigkeit allzu euphorisch veranschlagt wird: »Die europäische Kunstgeschichte ist auf weite Strecken eine gebaute, skulptierte und gemalte Auslegung der Bibel. Unermeßlich ist die Nachwirkung in der Literatur. Die europäische Musikgeschichte hat sich aus der Vertonung der Psalmen entwickelt. Wenn in der modernen Welt die Kenntnis der Bibel zu entschwinden droht, ist der kulturelle und religiöse Verlust durch nichts zu ersetzen.« Das ist nun doch ziemlich überzogen, aber festzuhalten bleibt, dass die kulturelle Erzählung des Monotheismus – zumal mit ihrer ikonoklastischen Schlagseite – für sich bereits – neben einer theologischen – auch eine nachhaltige und einflussreiche kunstphilosophische Position ist und einige Diskussionen um Kunst und Ästhetik impliziert. Eine besonders erwähnenswerte eigenständige Entwicklung von Kunst und Architektur hat es in diesem kleinen Landstrich kaum gegeben. Mit Blick auf Kunst und Architektur Vorderasiens kann Pierre Amiet nicht zu Unrecht konstatieren: »Mit fast leeren Händen steht die israelitische Kultur im Vergleich zu der Fülle an Denkmälern des syrischen Nordens da […].« Natürlich ist ein solcher Vergleich insofern schief, als wir hier auf ein winziges Gebiet blicken, das sich zwischen zwei mächtigen Kulturlandschaften eigenständig behaupten sollte. Wenn bedeutendere künstlerische und architektonische Werke auftraten, waren sie altorientalischen (einschließlich ägyptischen) Vorbildern oder dem Hellenismus geschuldet. Man könnte demnach von der eher paradoxen Situation reden, dass im vorliegenden Fall wenige Beiträge zur Kunst, aber nachhaltige Weichenstellungen für die Kunstgeschichte passiert sind und damit auch reichhaltiges Material für die Kunstphilosophie angesammelt wurde. Die geringe Bedeutung Jerusalems für die Kunst wurde schon früh durch die enorme Wichtigkeit, welche die Stadt durch die Religion erhielt, überkompensiert. Jerusalem war über Jahrhunderte ein klingender Name, mit dem in der Geschichte allenfalls die Namen Athen, Rom und Byzanz konkurrieren konnten, allesamt – anders als Jerusalem – Metropolen von Weltreichen. Dass ein solcher Vergleich überhaupt angestellt wird, hat genau mit dieser hohen Bewertung, um nicht zu sagen Überbewertung, zu tun, die dem alten Israel in der europäischen Kulturgeschichte stets zuteil wurde. Dabei ist es bereits reizvoll genug, die spezielle (Um-)Codierung zugrunde liegender religiöser Erzählungen aus dem Orient im judäischen Monotheismus zu studieren. Nur in Jerusalem war die-

215

Israel und der judäische Monotheismus

ser Monotheismus nachhaltig. Der Aton-Kult des Echnaton war demgegenüber ein autoritär verfügter Akt, der seinen Schöpfer nicht überlebte. Die kulturelle Erzählung über den judäischen Gott war ein langes Ringen um dessen Alleinstellung in einem polytheistischen Umfeld. Das zweite Gebot des Dekalogs, »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben«, ist ein eindrücklicher Niederschlag dieser Konstellation. Der Begriff Monotheismus ist an dieser Stelle daher unpräzise. In der einschlägigen Forschung hat sich der Ausdruck Monolatrie, der eine Gott unter anderen, eingebürgert, der daher auch hier für die Zeit bis Deuterojesaja verwandt wird. Ob man dann von Monotheismus oder von Monojahwismus spricht, wird in der Forschungsliteratur verschieden gehandhabt. Die Ursachenforschung für den judäischen Eingottglauben ist wesentlich komplexer als jene für den ägyptischen. Einen überzeugenden Stand dazu hat Othmar Keel in einem großen Werk und zahlreichen Einzelstudien vorgelegt. Seinen Ergebnissen folge ich hier im Wesentlichen. Keel vertritt eine integrative MonolatrieTheo­rie, die darauf baut, dass der eine Gott im Laufe der Zeit die Rollen vieler Götter in sich kumuliert hat und sukzessive solarisiert, also transzendiert worden ist. Die Vereinigung von Gottheiten samt Summierung ihrer Eigenschaften war in Ägypten ein übliches Szenario. Das ist eine andere Pointierung als sie Jan Assmann vorschlug, der die mosaische Monolatrie als eine exklusive im Sinne des alten Echnaton-Kultes ansieht. Der Widerspruch könnte allerdings auf die Frage nach der Entstehung des Monotheismus reduziert werden, er tritt weniger bei der Charakterisierung des Phänotyps der Religion auf. Namentlich für die spätere Exklusivität des israelitischen Gottes bleibt Assmanns Beobachtung zutreffend. Die nationale Exklusivität des Gottes bleibt besonders für die Beantwortung der Frage hilfreich, warum im Widerspruch zu allen Erzählungen der Umgebung gerade an diesem Ort der Wunsch nach nur einem einzigen Gott so stark geworden war.

2.3.1.

Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21

Keel 2007

3.2.4.

3.1. Kontexte Die zu schildernde Entwicklung spielte sich im südlichen Teil eines Landstreifens zwischen der Ostküste des Mittelmeeres und der syrisch-arabischen Wüste ab. Den Landstrich kennzeichnet eine extrem diversifizierte Topologie. Es gab fruchtbare Ebenen mit Quellen, kleinere Gebirge und natürliche Häfen am Meer. Die Bevölkerung war uneinheitlich, sprach semitische Dialekte und war wegen der Topologie in einer Reihe von Kleinstaaten und Stadtfürstentümern organisiert. Zwischen den großen rivalisierenden Reichen Ägypten auf der einen und Assyrien und Babylonien auf der anderen Seite gelegen, war die Gegend stets eine begehrte Landbrücke und Handelsverbindung. Ähnlich wie im gesamten Alten Orient ist die frühe Zeit schwer greifbar, schriftliche Quellen kennen wir erst aus der Königszeit (um 1000a). Am Beginn des 2. Jt.s gehörten Syrien und Palästina zum ägyptischen Reich. Das blieb lange Zeit so. Im Norden bestimmten schließlich die Hethiter das Geschehen. Die Bewohner dieses Gebietes, zu dem auch der heutige Libanon gehörte, die Kanaanäer (von qana/ Handel treiben; die Griechen nannten sie Phönizier, von phoinix/Purpur, nach dem

Phönizier

216

Frühe Hochkulturen

III.2.2.1.

III.2.1.f. Wiesner Joseph in ­Thimme u.a. 1968, 179

Woolley 1961, 109

1.2.5.

wertvollsten Handelsgut, der Purpurschnecke an den phönizischen Küsten), hatten sich in kleinen Königtümern und Stadtstaaten (Akko, Byblos, Sidon, Tyros) organisiert, welche die meiste Zeit von starken Herren abhängig waren. Landwirtschaft und Handel bildeten die wirtschaftliche Grundlage und sorgten für den Austausch von Ideen und kulturellen Erzählungen sowie der neuen Buchstabenschrift. Man kannte in dieser Gegend die babylonische und ägyptische Kultur gut. Es gab bereits früh Kontakte nach Kreta. Diese lassen sich aus Keilschrifttexten des 18. Jh.s in den Bibliotheken von Ugarit und dem Palast von Mari nachweisen. Funde in den Schachtgräbern von Mykene bezeugen solche Einflüsse auch für die mykenische Welt. »Die mykenischen Frühgriechen haben in den kanaanäisch-phönizischen Vorbildern ihre ägäische Aphrodite gesehen.« James Henry Breasted sprach im Hinblick auf die späte Bronzezeit von einem »ersten Internationalismus.« Dabei ging es ganz bewusst auch um einen Wettbewerb mit den von ihnen in den großen Kulturräumen vorgefundenen künstlerischen Produkten. Dies bezieht sich sowohl auf das bildhauerische als auf das malerische Werk und auf die Architektur. Der Synkretismus machte im 2. Jt. einer gewissen Eigenständigkeit der phönizischen Kunst und Architektur Platz, die jedoch im Rang hinter den umliegenden Kulturen zurückblieb. Das bildhauerische Werk und die Metallschmiedearbeiten hingen am längsten am ägyptischen Vorbild. Die eher bescheidene Qualität von vier bekannten Steinstelen, welche die phönizischen Götter darstellen und um 1800 in Ugarit entstanden sein dürften, zeigen, dass die phönizischen Bildhauer im Stein wenig Erfahrung hatten. »Phönizische Erzeugnisse fanden eine weite Verbreitung und erschienen ihren oft barbarischen oder rückständigen Kunden von unvergleichlichem Wert, doch sie waren selten – wenn überhaupt je – von überragender Qualität.« Trotzdem waren Phönizier vermutlich in Judäa und Israel als Kunsthandwerker tätig. Mehrfach wird in Berichten darauf hingewiesen, dass der Tempel Salomons von Phöniziern gebaut worden sei. Ende des 13. Jh.s zerstörten die Seevölker das Hethiterreich und drängten Ägypten auf sein ursprüngliches Territorium zurück. Dieser große Kulturbruch im östlichen Mittelmeerraum an der Schwelle der Bronze- zur Eisenzeit führte zu einem Neuanfang auch im Nahen und Mittleren Osten. Die Phönizier hatten sich schnell vom Sturm der Seevölker erholt und bauten als brillante Seefahrer ein Handelsnetz bis in den Atlantik hinaus (Cadiz) aus. Sie verbreiteten auf diesem Weg unter anderem die neue Buchstabenschrift. Es waren vermutlich aramäisch sprechende Nomaden aus den Wüsten auf der Suche nach fruchtbarem Land, die nach Israel kamen. Stämme unter ihnen hatten den Gott JHWH im Gepäck. Die Hebräer – die Etymologie des Namens ist unklar – könnten bandenartige Clans gewesen sein, die sich durch Raub ihr Auskommen sicherten. In den biblischen Schriften wird jedenfalls immer wieder die Idee der Kulturstiftung beschworen. Diese Kulturstiftung war – und das macht den Reiz der Geschichte Israels aus – begleitet von einer Schärfung eines geschichtlichen gegenüber einem naturzyklischen Weltbild. Wie weit dieses bekannte Narrativ einer historischen Kultur trägt, wird im Folgenden noch zu problematisieren sein.

217

Israel und der judäische Monotheismus

Sir William Matthew Flinders Petrie grub 1896 im Totentempel des Pharao der 19. Dynastie Merenptah in Theben-West die sogenannte Israel-Stele (auch Merenptah-Stele) aus. Die Inschrift aus dem Jahre 1207a ist die erste Erwähnung Israels (nicht als Staat, sondern als Volksgruppe) außerhalb der biblischen Texte. Angesichts des Zusammenschlusses von Philisterstaaten (die griechische Bezeichnung für die Philister lautete palaistinoi, das von ihnen besiedelte Land Palaistina) an der Küste und der Bildung von kanaanäischen Staaten scheint zur Zeit der Errichtung des Königtums unter Saul um 1000a eine verstärkte Abstimmung der (zwölf) israelitischen Stämme stattgefunden zu haben. Ein ausdrücklicher Staatenbund ist historisch nicht zu belegen, aber man kann von dieser Zeit an von einem israelitischen Gebiet sprechen. Palästina »war kein Land, das den ruhenden Pol seiner Politik in sich selber hatte; unablässig war es Spielfeld der umgebenden Mächte – mit Ausnahme einer einzigen kurzen Atempause um die Wende zwischen zweitem und erstem Jahrtausend. Sie nutzte der Judäer David aus, um das einzige größere unabhängige Reich aufzurichten, dessen Freiheit allerdings von kurzer Dauer sein sollte.«

Maag Victor in Schmökel 1961, 468

3.2. Die Entstehung des Monotheismus Ähnlich wie später der Islam ist auch der »judäische Monotheismus« in Fortsetzung einer Monolatrie eine Konstruktion der Stadt und nicht der Wüste, wie das gerne romantisierend tradiert wird. Die Geschichte vollzog sich im Wesentlichen in Jerusalem. 105 Blick vom Ölberg auf Jerusalem

3.2.1. Jerusalem Jerusalem liegt zwischen den zwei ersten Schriftkulturen der Weltgeschichte: der Hieroglyphen- und der Keilschrift. Die Texte dieser Schriftkulturen, die sowohl alt­ orientalische Rechtssysteme als auch religiöse Erzählungen von Weltschöpfung, dem Kampf gegen das Chaos, Flutgeschichten und die im Alten Orient so wichtige Erzählung vom Gottessohn umfassten, sind 2000 Jahre älter als die biblischen. Auch die Idee eines Monolatrismus war im Ägypten der 18. Dynastie bereits vorgedacht und praktisch umgesetzt worden. Jerusalem wurde gegen 1700a auf dem sogenannten SO-Hügel (dieser Bergrücken wurde dann als Zion bezeichnet und diese Bezeichnung auf die dortige Zita-

2.3.1.

218

Frühe Hochkulturen

2 Sam 5,7

Platon, Nomoi, 704–705

Eckart 2008, 47

Gen 19,15f 1.2.8./4.0.

Baal

delle übertragen) um seine Lebensader, die Gihon-Quelle, zu der man später einen gesicherten Tunnel anlegte, als Stadt gegründet. Spuren einer zumindest zeitweisen Siedlungstätigkeit reichen ins 4. Jt. zurück. Die einschlägige Ingenieurskunst scheint aus dem Reich Urartu bezogen worden zu sein, das sich zwischen dem 9. und 6. Jh. in der Umgebung des Van-Sees ausgebreitet hatte. Über Stand und Eigenständigkeit der Kunst der Urartäer gehen die Meinungen freilich weit auseinander. Jerusalem lag auf einem vom Kidrontal im Osten und dem Tyropoiontal im Westen umgebenen Bergrücken, 700 Meter über dem Meer und im Hinterland, zwar gut geschützt, aber auch in klimatisch unwirtlicher Ausgesetztheit und abseits der großen Handelsrouten des Mittelmeers. Ein Ort, der sich nach der späteren Beschreibung Platons als Ort des Heiligen besonders anbietet. Der Ort breitete sich auf mehreren Hügeln aus. Auf dem Hügel Ophel entstand um 1200 ein erster burgartiger Tempelbau der Stämme Benjamin und Juda. Der Name Jerusalem, der auf in Luxor gefundenen Keramiken auftaucht, könnte sich von shulman ableiten, was soviel wie Wohlbefinden heißt, meist wird er aber als »Gründung des Gottes Schalem« interpretiert. Schachar und Schalem war ein kanaanäisches Götterpaar, das die Morgen- und Abendgestalt der Sonne bezeichnete. Die ursprünglich aus Ugarit stammenden Gottheiten sollen dort auch eine Abend­sternKonnotation besessen und damit mit dem Totenreich in Verbindung gestanden haben, sodass der Gott Schalem »in der Funktion eines Unterweltgottes auch mit dem Totenkult des davidischen Königshauses verbunden war.« Zahlreiche archäologische Funde wie auch Texte bezeugen einen Sonnenkult im Umfeld von Jerusalem. Die Geschichte der Zerstörung Sodoms ist so eine Sonnengottgeschichte. Der Sonnengott sendet seine Begleiter Recht und Gerechtigkeit zur Prüfung in die Stadt. Sie verlassen mit den einzigen Gerechten, Lot samt seiner Familie, die Stadt. Bei der Morgenröte beeilen sie sich, denn bei seinem Erscheinen zerstört der Sonnengott, der ohnehin für die zerstörerische Gewalt der Gluthitze stand, Sodom mit Feuer und Schwefel. Der vorderasiatische Sonnengott als Wahrer von Recht und Ordnung tritt hier als Beseitiger des Chaos auf. Von ihm leitete sich im Alten Orient jedes Recht ab. Auch Jerusalem selbst hat naturgemäß eine göttliche Legitimation. Die lokale Sonnengott-Tradition wurde durch die Ägyptophilie in der mittleren Bronzezeit (1700–1500) und besonders während der ägyptischen Herrschaft zwischen 1458 und etwa 1200 erheblich verstärkt. Zahlreiche in Jerusalem entdeckte Skarabäen belegen dies. Die Beziehungen waren auch politischer Natur. Wir wissen, dass der König von Jerusalem bei Pharao Echnaton um militärische Hilfe gegen seine Nachbarn nachgesucht hatte. Aber die Gegend kannte nicht nur einen Kult um die Sonne, der später für die Transzendenz JHWHs verantwortlich zeichnete, sondern ursprünglich auch eine starke chthonische Seite. Neben dem Sonnengott gab es die Verehrung des kanaanäischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgottes Baal, der wiederum den älteren Dagan abgelöst hatte. Baal musste immer wieder dem Gott des Sterbens der Natur (und ambivalent dazu des Reifens), Mot, Platz machen. Er stieg in die Unterwelt, bis es im Frühjahr

219

Israel und der judäische Monotheismus

zur neuerlichen Thronbesteigung kam. Auch hier bestimmte die Landwirtschaft wie im gesamten Alten Orient das Götterpantheon. Es gibt Darstellungen auf Skarabäen und Rollsiegel, wo sich die Vegetationsgöttinnen dem Himmelsgott erotisch anbieten. Zu den wichtigsten biblischen Festen gehörten die Erntedankfeste. Götter wurden von Göttinnen begleitet, etwa von Cheba (die in der biblischen Eva weiterlebt) und die kanaanäische Mutter Aschera, die noch in biblischer Zeit existierte. Psalm 29 ist ein eindrucksvoller Hymnus einer vom Wettergott auf JHWH übertragenen Wettercharakteristik: »Der Gott der Herrlichkeit donnert, der Herr über gewaltige Wasser. […] Die Stimme des Herrn zerschmettert Zedern […]. Die Stimme des Herrn sprüht Feuerflammen.«

Keel 2007, 96–99

Ps 29, 3–5

3.2.2. David und JHWH Der Aufstieg JHWHs in diesem polytheistischen Umfeld begann in der Zeit des sagenhaften Königs David. JHWH kam mit der Wanderung der Nomaden (Schasu, Midianiter, Keniter) nach Jerusalem. Im Zusammenhang mit dieser Wanderung JHWHs nach Jerusalem taucht in einer von vielen fiktiven Berichten der Name Moses auf und einzelne israelitische Gruppen sprachen dem Gott die Rettung aus ägyptischer Fremdherrschaft zu. Ein allfälliger historischer Moses, der freilich nicht greifbar bleibt, hat mit der Entstehung des Monotheismus nichts zu tun. Wohl aber vermischt sich in der Erinnerungskultur das Erscheinen JHWHs mit Moses. JHWH wäre nach dieser Erzählung ein von Moses verkündeter Gott, den dieser bei den Midianitern (eine Volksgruppe östlich des Golfes von Aqaba) kennen gelernt habe. JHWH war ein Gott der Sippe. Der jeweilige Sippenführer rühmte sich einer persönlichen Beziehung zur Gottheit, die der Sippe Landbesitz und eine glückliche Nachkommenschaft verhieß. Das band den Gott an die Sippe und umgekehrt. Diese Verpflichtung »bildete die Grundlage für eine dauernde Lebensgemeinschaft, in der die Gottheit als das wirkliche Haupt der Sippe galt und von deren irdischen Mitgliedern als ›Vater, Bruder‹ bezeichnet werden konnte, während diese sich als ›Kinder, Brüder, Verwandte‹ der Gottheit fühlten.« Dies galt vor allem für die Zeit der sogenannten Patriarchen, spielte aber als wichtiger Hintergrund auch in der weiteren Geschichte eine Rolle. In den diversen Erinnerungen trat prominent die Erzählung von der Besiedelung auf. Dieser sich wiederholende Verweis auf Landnahme lässt sich vermutlich durch den Einschnitt im Übergang der Nomaden- in die Ackerbaukultur erklären. Er war stark mit Kulturstiftung konnotiert. Die Verheißung vom Gelobten Land muss in solcher Hinsicht als Verheißung einer Kulturgründung interpretiert werden. Es ist eine Verheißung, die in jeder Staatsutopie der europäischen Ideengeschichte eine memorative Wiederholung erfuhr. Wie sich die Besiedelungsgeschichte der israelitischen Stämme historisch abgespielt hat, ist schwierig zu rekonstruieren. Es dürfte sich jedenfalls um einen längeren und komplexen Prozess gehandelt haben, wobei die Transformation von einer reinen Bauernkultur in eine städtische Kultur erst zur Zeit König Davids begann.

106 König David auf Mosaik, Gasa (508p); IM Moses

Fohrer 1995, 58

Ebd., 39

Landnahme

David

220

Frühe Hochkulturen

Eckart 2008, 45f

2 Sam 8,18; 15, 18 u.a. Fohrer 1995, 101

Na’Aman 1997 Eckart 2008, 55 Keel 2007, 167 Montefiore 2011, 55

Finkelstein 2014

JHWH

Die große aus Bethlehem stammende Gestalt Davids taucht um 1000 auf. Seine Historizität ist nicht über alle Zweifel erhaben, auch wenn das Haus David (Beit David) in einer 1993 gefundenen, ins 9. oder 8. Jh. datierten bruchstückhaften Inschrift aus Tel Dan (Tel-Dan-Stele) erwähnt wird. Ebenso unklar sind die Berichte über die Eroberung Jerusalems durch David. Archäologisch sind für das 10. Jh. bislang keine Zerstörungen gefunden worden, sodass die Einnahme gewaltfrei erfolgt ist oder die Geschichte als ganze anders verlief. David wurde König von Juda im Süden und dann der gängigen Lehrmeinung entsprechend nach dem Tode Sauls 990 (der Archäologe Israel Finkelstein hat eine Neudatierung von David und Salomon ins 9. Jh. vorgeschlagen) König von Israel im Norden. Nach Berichten konnte er kanaanäische Gebiete einverleiben, einige Nachbarn zu Tribut verpflichten und so vielleicht ein »Großreich« von Akaba bis zum Euphrat schaffen, das sogar in den Rang eines großen altorientalischen Reichs aufgestiegen wäre. Aber das ist in der Wissenschaft sehr umstritten und könnte auch eine Nachricht späterer Mythenproduktion sein. Jedenfalls ist in der Bibel von Krethi und Plethi in der Leibwache Davids die Rede, gemeint sind Kreter und Philister. Wenn es denn ein großes Reich war, dann war es »ein sehr verwickeltes Gefüge von Bindungen und Abhängigkeiten.« Vielleicht ist David nie über den Status eines Stammesfürsten hinausgekommen. War Jerusalem zur damaligen Zeit ein Kuhdorf oder eine königliche Kapitale, fragte der israelische Historiker Nadav Na’Aman in einem Aufsatz. Otto Eckart beantwortet die Frage so: Jerusalem war im 10. Jh. eine »Stadtsiedlung und Sitz der Könige eines judäischen Kleinstaates, der seinem Einfluss auch im Norden und Osten jenseits seiner Grenzen Geltung zu verschaffen suchte.« Vor seinem Königtum nennt ihn Keel einen »Warlord« eines Kleinviehzüchterclans. Simon Sebag Montefiore beschreibt ihn in seiner aufregenden Jerusalem-Darstellung nicht weniger widersprüchlich: »Der Schöpfer des heiligen Jerusalem war ein Poet, Eroberer, Mörder, Ehebrecher; […].« Neuere archäologische Fakten haben einen Paradigmenwechsel der israelischen Archäologie erzwungen, die lange ihre Aufgabe in der Bestätigung des Bibel-Narrativs gesehen hat. Israel Finkelstein hat diese schwierige Neuorientierung in einem eindrucksvollen Resümee zusammengefasst. David soll sich in Jerusalem einen mit Zedernholz gedeckten Palast errichtet und ein luxuriöses höfisches Leben im Sinne der altorientalischen Herrscher geführt haben. Mit ihm taucht Gott JHWH in Jerusalem auf. Das Tetragramm, also die vier im Hebräischen geschriebenen Konsonanten, stand zuerst für einen Eigennamen. Zum einzigen Gott geworden, vermied man in Widerspruch zu Ex 3,15 den Namen und nannten ihn Herr (adonai, der griechische kyrios) oder Gott (El, urspr. der höchste Gott im kanaanäischen Pantheon). Das Verbot des Namens hing mit der Alleinstellung des Gottes zusammen. Die Namenlosigkeit sollte ihn aus dem polytheistischen Umfeld zur Zeit Davids herausheben. Die Erklärungsversuche der Form JHWH sind Legion. Sie umfassen Bezüge auf lautmalerische Relikte, die sich z.B. auf Blitz und Donner beziehen oder einfach Unterwürfigkeit ausdrücken. Man hat Ableitungen von den Verben preisen oder

221

Israel und der judäische Monotheismus

verherrlichen versucht, andere führen das Tetragramm auf leben oder wirken zurück oder auf ein besonderes Wirken, das Schaffen, ins Dasein rufen. Es gibt auch die Meinung, dass jede derartige Deutung ein zu hohes theologisches Reflexionsniveau für diese Zeit unterstelle und der Gottesname schlicht nicht mehr rekonstruierbar sei. Othmar Keel leitet JHWH nach einer verbreiteten These im Sinne einer Wettergott-Charakteristik von hawah ab, es weht. Ebenso unklar wie die Herleitung ist die Aussprache. Griechische Texte legen die Vokalisierung Jahwe nahe. Jedenfalls handelte es sich um einen Sturmgott, Vulkandämon (»Er berührt die Berge, und sie rauchen.«) und Kriegsgott, trug aber keine Fruchtbarkeitskonnotation und stammte vermutlich aus nordwestlichen Bergregionen Arabiens, also aus dem Süden von Jerusalem. Generell lässt sich aus Funden aus der späten Bronzezeit (um 1300a) die Verlagerung des Symbolsystems von Erotik und Fruchtbarkeit in eine des Krieges belegen. Psalm 104, diese (vielleicht über phönizische Kanäle) Übertragung (oder jedenfalls eng verwandten) von Echnatons Atonhymnus, zeigt JHWH mit Zügen des Sturm-, Kriegs- und Sonnengottes. Freilich bleiben auch Unterschiede: »Im Gegensatz zum ägyptischen Sonnengott vermittelt der nordsyrisch-nordmesopotamisch-kleinasiatische Gewitter- und Vegetationsgott das Leben nicht unmittelbar, sondern durch seinen Einfluß auf das Wetter und die Vegetation.« Er trug viele Züge des negativ beleumundeten ägyptischen Seth. Beide waren Junggesellen. Hat Seth manchmal Nephtys als Begleiterin, fand sich für JHWH die Aschera. Funde in einer Karawanserei aus etwa 750a zwischen Gaza und Eilat bezeugen dieses lose Paar. Erst 622a wurde Aschera in einem Bildersturm aus dem Tempel entfernt. Allerdings blieb über die gesamte jüdische Tradition hinweg die Alleinstellung JHWHs durchaus umstritten, wie Peter Schäfer in einer neueren Studie gezeigt hat. JHWH übernahm zudem viele weibliche Züge, sodass sein männlicher Aspekt durchaus zu relativieren ist. Er verkörpert Züge des ägyptischen Chnum, dem Töpfer des menschlichen Leibes, und zugleich der Hathor, die den Lebensodem einhaucht. JHWHs Kultsymbol war eine Holzkiste (Bundeslade), vermutlich mit zwei anikonischen Steinen, vielleicht Zeichen von JHWH und seiner Partnerin. Es ist nicht ganz klar, ob ein solches Kistenheiligtum (wie es in einem Relief in Medinet Habu dargestellt ist) zu nomadisierenden oder sesshaften Stämmen gehört. Jedenfalls erfand man eine Geschichte der Bundeslade bereits vor David, um ihr eine höhere Legitimation zu geben. Die in Ägypten übliche Ansicht von der Vaterschaft Gottes gegenüber dem König scheint es auch in Jerusalem gegeben zu haben. Solche Analogien ergaben sich dadurch, dass sich das Reich mit dem ungewohnten Königtum an den Vorbildern der Nachbarn orientierte. Nach Davids Tod gewann eine Jerusalemer Gruppe um Batscheba, eine der Frauen Davids, und deren Sohn Salomon die blutigen Erbstreitigkeiten. Salomon, der historisch ähnlich schwer greifbar ist wie sein Vater, förderte nicht nur den Handel, sondern er gilt auch als großer Mäzen, der Jerusalem einen Aufschwung in Kunst

Ps 104, 32

Keel 2007, 125f

Keel 1972, 192

2 Kön, 23 Schäfer 2017

Blumenthal 1999 ­Brunner 1964, 224–233 Jes 40,26 Schenker 1997

222

Frühe Hochkulturen

Tempel Amiet 1977, 225

V.3.4.3.1. Eckart 2008, 48ff Maag Victor in Schmökel 1961, 512

V.6.2.1./V.6.2.3.

1 Kön 8, 12f

1 Kön 8,6–8; 1 Chr 28,2

III.2.1.3.2.

2.3.1.

Keel 2007, 398

und Architektur ermöglichte. Nach einer Bauinschrift scheint Salomon, der in der Überlieferung mit märchenhaften Zügen versehen wurde, auf dem Berg Moriah um 950 einen Tempel gebaut zu haben, den noch David geplant hatte und der große Ähnlichkeit mit syrischen, aber auch ägyptischen Vorbildern aufwies. Die lange Vermutung, wonach er an der Stelle des heutigen, von den Umaiyaden errichteten Felsendoms, gestanden habe, gilt als falsch. Eher stand er auf dem heutigen Tempelplatz. Vermutlich mit Hilfe von phönizischen Handwerkern und vielen importierten Materialien entstand (wahrscheinlich erst im 9. oder gar 8. Jh.) ein ummauerter Langhaustempel nach syrischem Vorbild. Das Tor wurde flankiert von zwei Säulen aus Bronze, welche die Namen Jachin (Gott wird aufrichten) und Boas (In Gott ist Stärke) trugen – vielleicht Symbole heiliger Bäume, jedenfalls Zeichen altorientalischer Kulte um heilige Pfeiler. Dieses Bauwerk war ein legendäres Vorbild für spätere Kirchenbauherren, die sich (beinahe im Sinne der ägyptischen Losung tep zepi) auf diesen Tempel beriefen. Der Tempel machte Jerusalem zu einem religiösen Zentrum und zu einer heiligen Stadt und ließ es in den Wettbewerb mit anderen religiösen Zentren eintreten. Im 9. und 8. Jh. begann der Aufstieg Jerusalems zur Hauptstadt des Königreichs Juda. Der Tempel dürfte dem Sonnengott geweiht gewesen sein und JHWH erhielt darin nach dem Bericht aus dem Alten Testament ein dunkles Gastzimmer. Er wollte im Verborgenen wohnen. Möglicherweise war dieser Wunsch JHWHs der Grund für den Tempelbau, denn andere vorderasiatische Sonnengottheiten kamen ohne Gebäude aus. Der Tempelweihespruch Salomons lautete: »Im Dunkel wolle er wohnen, sagte der Herr. So baute ich einen Herrscherpalast für dich als Stätte, an der du weilst auf ewig.« Das Kultsymbol des Sonnengottes war ein leerer Thron. Die Lade JHWHs wurde unter den Thron gestellt. Möglicherweise war dies ein sichtbarer Ausdruck einer Verschmelzung der beiden Gottheiten. Die genauen Vorgänge dazu sind nach wie vor unklar. Es gibt durchaus Analogien zu anderen integrativen Göttervorstellungen in frühen Hochkulturen. Die orphischen Zeushymnen dokumentieren ein Verständnis eines Göttervaters, der alle Kompetenzen auf sich vereinigte, zugleich aber auch universeller Ausdruck der Naturkräfte wurde. Dies scheint bei JHWH nicht im Vordergrund gestanden zu haben. In der Übertragung der Sintflutgeschichte von der babylonischen Vorgabe in die biblische Version übernahm JHWH die Rollen von zumindest vier beteiligten Göttern und Göttinnen (Enlil, Hadad, Ea, Ischtar), was die Inkohärenz des Gottes zu den Menschen erklärt. Dieses integrative Element ist der deutlichste Unterschied zum exklusiven Monotheismus des Echnaton, dessen Aton eine eigenständige Konstruktion gewesen zu sein scheint. Er unterschied sich aber auch von den Göttern der umliegenden Völker. »Der jud. Monotheismus ist nicht aus der Frontstellung JHWHs gegen andere Götter entstanden, sondern aus der Kumulation von Rollen auf JHWH und aus einer immer intensiveren und exklusiveren Bindung seiner Verehrer an ihn.« Wie Hadad-Baal bändigt auch JHWH die Chaosmacht des Wassers, sodass es

223

Israel und der judäische Monotheismus

zum Heil wird. Noch der neutestamentliche Christus gebot auf dem See Genezareth dem Sturmwind Einhalt. Keel nimmt an, dass solche personale Konzentration der Ordnungsmächte den gegenüberstehenden Chaosmächten eine gewisse Selbständigkeit verlieh, sodass sich hier ein Einfallstor für den persischen Dualismus auftat und sich die spätere Personalisierung des Bösen vorbereitete. Ein solcher Dualismus trat ganz offensichtlich bei der Paarung Phanes-Zeus in der orphischen Mythologie auf. Salomon gilt, wie gesagt, als großer Bauherr in Jerusalem. Von ihm stammt neben dem Tempel eine große Palastanlage, vermutlich ebenfalls syrischer Provenienz, mit Vorhalle und Thronsaal (Bit-Hilani/Haus mit Eingangshalle). Von seinen Bauten ist allerdings nichts mehr erhalten. Ob er auch in der weiteren Umgebung Jerusalems (Megiddo, Hazor, Geser) Projekte verwirklicht hat, denn er schien durch lokale Autoritäten über sein eigentliches Gebiet hinaus Einfluss besessen und auch als Bauherr gewirkt zu haben, ist in der neueren Archäologie des Nahen Ostens allerdings umstritten. Die wirtschaftliche und kulturelle Unterschiedlichkeit der beiden Reiche Juda und Israel führte 926 nach dem Tod Salomons zum Bruch. Im Nordreich Israel, das aus zehn der zwölf Stämme Israels bestand, wurde Jerobeam I., im Südreich Juda der Sohn Salomons, Rehabeam, König. Israel war ein Agrarstaat und öffnete sich fruchtbaren Kontakten mit der Umgebung, während sich das spärlich besiedelte Juda isolierte. Jerusalem verlor seine dominierende Stelle und musste sich die religiöse Kompetenz mit anderen Kultstätten teilen. War in Jerusalem vor allem im 8. Jh. der solare Aspekt, damit eine wachsende Transzendenz und Entrücktheit des Gottes, stark, revitalisierte demgegenüber Jerobeam im Nordreich das alte Heiligtum von Bet-El (Haus Gottes), um einen kultischen Gegenpol zu dem auch im Nordreich populären Jerusalem zu setzen. Dabei wurde JHWH gemäß einem alten Stierkult mit dem Stier verschmolzen. In den biblischen Schriften wird das später heftig kritisiert und als Baalskult desavouiert. Der Stier stand in der mittleren Bronzezeit vor allem für Sexualität und Fruchtbarkeit, während in der späteren Bronzezeit und der Eisenzeit die Attribute von Kraft und Aggressivität die Oberhand gewannen.

3.2.3. JHWH zwischen Immanenz und Transzendenz Im 8. Jh. begann eine Prophetengeneration in Juda und Israel zu wirken, die sich von den zahlreichen Propheten des Vorderen Orients durch die Bildung von Schülerkreisen, die die Worte des Meisters tradierten, abhob. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als sich am Horizont eine große Bedrohung in Form der expandierenden Assyrer ankündigte. Tiglatpileser III. brach mit der Zurückhaltung seiner Vorgänger und leitete eine neue expansive Eroberungspolitik ein, die mit außerordentlicher Grausamkeit gepaart war. Eine der in Jerusalem am heftigsten diskutierten Fragen scheint jene gewesen zu sein, wie man mit dieser Bedrohung umgehen sollte: Unterwerfung oder Widerstand? Der Dichter und politische Berater Jesaja ben Amoz, dessen umfangreiches, vermutlich erst in nachexilischer Zeit zusammengestelltes Buch innerhalb der Bibel

Keel 1972, 40

III.2.1.3.2.

Eckart 2008, 43 Cline 2009, 81f

Keel 2007, 347ff

224

Frühe Hochkulturen

Montefiore 2011, 75 Dohmen 2012, 65

Eckart 2008, 58

Bahat 1997, 224

Bahat/Hurvitz 1997, 214ff

701

107 ­Mosaikdarstellung Jerusalems in der Georgskirche von Madaba, Jordanien

nur zum geringeren Teil von ihm stammen dürfte, hatte anscheinend politische Aspirationen und warb mit viel realistischem Urteilsvermögen für eine Unterwerfung unter die in die südliche Levante vorstoßenden Assyrer. Theologisch erhielt JHWH, stark solarisiert, bei ihm eine unangefochtene Stellung. Seine »glühende Dichtung brachte erstmals die apokalyptischen Sehnsüchte zum Ausdruck, die sich bis heute durch Jerusalems Geschichte ziehen sollten.« Im 8. Jh. hatte sich die Abgrenzung gegenüber außen verstärkt. Es war zu einem »Übergang von einer integrierenden Monolatrie zu einer intoleranten Monolatrie« gekommen. König Ahas folgte dem Rat des Jesaja und diente sich mit hohen Tributzahlungen den Assyrern an. Demgegenüber gewann im Nordreich Israel in der vagen Hoffnung auf Unterstützung durch Ägypten die antiassyrische Fraktion Oberhand. Das Ergebnis war die Auslöschung Israels 722 durch den Nachfolger Tiglatpilesers, Sargon II. Damit war Juda direkter Nachbar des riesigen Assyrischen Reichs. Die Einwohnerzahl hatte sich durch die Flüchtlinge aus dem Nordreich verdreifacht. Dadurch war das 8. Jh. architekturgeschichtlich äußerst produktiv. Die Stadt dehnte sich auf den SW-Hügel aus. Zudem wurde dorthin ein Teil der Landbevölkerung umgesiedelt. Die Menschen aus dem Nordreich brachten ihre Dichtungen mit und es begann eine schriftstellerische Verschmelzung der Stoffe der Bibel. Mit einer »Literatenschicht von Priestern« begann »die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel über die knappen Annalen königlicher Schreiber hinaus […].« Dies war auch eine religiöse Identitätssicherung. Denn Jerusalem stieg zwar zur unangefochtenen Metropole auf, aber Ahas wurde gezwungen, im Tempel assyrische Kultpraktiken einzuführen. Die Perpetuierung eines polytheistischen Umfelds war der Preis dafür, dass er Juda vorerst das Schicksal des Nordreichs ersparen konnte. »Vorerst« deshalb, weil der Sohn und Nachfolger Ahas’, Hiskija, Maßnahmen ergriff, die auf ein Ende der Unterwerfungspolitik hindeuteten. Er ließ Jerusalems Befestigung verstärken, versammelte die Bevölkerung dahinter und leitete die Gihon-Quelle durch einen Tunnel direkt in die Stadt. Religionspolitisch griff er ebenfalls durch und ließ alle fremden Elemente des Kults beseitigen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch um 720 schloss er sich im Vertrauen auf JHWH einem von Ägypten inszenierten Aufstand an. Der Nachfolger Sargons, Sanherib, war 701 mit einer riesigen Armee sofort zur Stelle, fiel in Juda ein und eroberte alle Städte im Umkreis, darunter die zweitgrößte Stadt des Landes, Lachisch. Die erzählenden Reliefs dazu fand man in Sanheribs Palast in Ninive. Dann standen die Assyrer vor Jerusalem. Die Bibel berichtet enthusiastisch vom Eingreifen Gottes. Die Wirklichkeit war prosaischer, wenngleich für die Historiker verwirrend. Hiskija entschloss sich in letzter Minute zu enormen Tributzahlungen. Zudem schien die Kraft der Invasionsarmee durch einen entlastenden Angriff der Ägypter auf die Assyrer, vielleicht auch durch Unruhen in Mesopotamien, erschöpft. Doch in Jerusalem wuchs ein Triumphalismus, der aus 701 eine Siegesgeschichte »David gegen Goliat« konstruierte, wonach ein Engel des Herrn 185 000 Assyrer er-

225

Israel und der judäische Monotheismus

schlug. Auf dieser Geschichte basierten vor allem die bei einem anonymen Propheten des 6. Jh.s (Deuterojesaja) auftauchenden ersten ausdrücklich monotheistischen Formeln, die JHWH zum einzigen und nationalen Gott erklärten. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Lehrmeinung, die die Innovation der Alleinstellung JHWHs den späteren Erfahrungen der Exilanten und Einflüssen aus persischen dualistischen Lehren zuschreibt, sieht Keel diese Innovation bereits in dieser historischen Konstellation grundgelegt. JHWH, der hier als Geschichtslenker auftrat, erhielt damit eine Geschichtscharakteristik. Man mag sogar darüber räsonieren, ob bei einem anderen Verlauf der Geschichte der JHWH-Glauben nicht überhaupt in Vergessenheit geraten wäre. Ergebnis der faktischen Unterwerfung war, dass Juda von nun an in völliger Abhängigkeit von Assyrien stand. Es musste, neben der Übernahme fremder Kultpraktiken, sogar Truppen für ihre Eroberungszüge stellen. Inwieweit die Verehrung assyrischer Gottheiten ausschließlich einem äußeren Zwang geschuldet war oder ob es nicht auch Sympathien für die Kulte der durch ihre ökonomische, politische und kulturelle Stärke attraktiven Kultur im Osten gab, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Die Archäologen können jedenfalls den Wechsel von einem ägyptisierenden zu einem aramäisch-assyrischen Symbolsystem in Jerusalem gut nachvollziehen. JHWH erscheint bei Jesaja auf dem Thron (des Sonnengottes) als König. Dieses Königtum JHWHs unterschied sich von einem normalen Königtum durch das Trishagion (das dreifache Heilig). In der Umgebung des Throns erschienen die Serafim. Sie waren geflügelte Mischwesen, tauchen aber auch wie die Cherubim mit einer Kobrakonnotation auf, den ägyptischen Uräen entsprechend, mit Dämonenflügeln und figurierten als Schutzgeister und Wächterfiguren und verbreiteten Grauen und Schrecken. Ihr auf JHWH gemünzter zischender Gesang qadosch-qadosch-qadosch (heilig-heilig-heilig) meint: abgeschieden, abgesondert vom Irdischen, eine Folge der starken Solarisierung JHWHs. Auch Christoph Dohmen sieht in der Solarisierung »eine wichtige Etappe beim Aufstieg JHWHs über alle anderen Götter.« Mit dieser Weichenstellung wurde der im Orient so grundlegende Aspekt einer Natur- und Fruchtbarkeitsverbindung zurückgedrängt. Demnach ist eine allzu scharfe Trennung von JHWH als historischem Gott und politischem Führer von anderen Göttern des Alten Orients, die mit dem Naturzyklus zu tun haben, nicht belastbar. Vielmehr kann dieser biblische Gott als ein Gott der »transzendenten Immanenz« gesehen werden. Besonders unter König Manasse, der ein halbes Jahrhundert lang regierte, fand der orientalische polytheistische Synkretismus vermutlich auf Druck der Assyrer reichen Boden vor. Neben Fruchtbarkeitskulten gab es auch himmlische Mächte und Gestirngötter, denen Altäre gebaut wurden, darunter der Himmelsgott Schamasch. Im Tempel wurde die Liebes- und Muttergöttin Ischtar verehrt und für sie die Tempelprostitution eingeführt. Möglicherweise zelebrierte der König auch Kinderopfer. Die Einschätzung der Vorgänge ist sehr unterschiedlich. Während der sich immer wieder von der biblischen Beschreibung und dem dort geschilderten verständlichen Aufruhr unter den Propheten und judäischen Landpriestern leiten lassende Mon-

Jes 37,36 Lang 1981, 103–106

Fohrer 1995, 163

Königtum JHWHs

Jes 6,1–3 Irsigler 1991, bes. 148

Keel 2007, 391 Dohmen 2012, 88

Keel 2007, 393

226

Frühe Hochkulturen

Montefiore 2011, 82

Keel 2007, 554

Ebd.

Hos 4,4–9; 5,1f; 6,9

tefiore die Zeit eher mit einer Hölle der religiösen Mythologien vergleicht, betont Othmar Keel auch einen positiven Aspekt. Mit kanaanäisch-aramäisch-assyrischen Kulten im Hintergrund habe das Judentum »eine Sensibilität für die Geheimnisse, die Schönheit und Kraft der Schöpfung bewahrt, die dem Christentum bei seinem Weiterschreiten weg von der sichtbaren Welt verloren gegangen sind.« Vor allem das spätere Christentum hat sich abfällig über die Naturverehrung geäußert. Den Hinweis auf die städtische Sozialisierung etwa des Paulus und eine damit verbundene verlorene Sensibilität lässt Keel nicht gelten. Für ihn liegt der Grund für den Verlust der Naturverbundenheit im Christentum in den weltflüchtigen Aspekten der Lehre von einer Welt, die vergeht (1 Kor 7,31): »Eine solche Haltung bringt Freiheit gegenüber Naturmächten (Gal 4,3.9; Kol 2,8.20) und Menschen(1 Kor 7,23), aber diese Freiheit hat ihren Preis. Sie verbindet sich leicht mit Stumpfheit für die Werte der Natur und die Würde des diesseitigen Menschseins und der Gesellschaft.« Was Keel hier einfordert, gilt freilich für jeden Naturkult, der die Wurzeln des späteren Pantheismus legt. Man könnte auch das Weltbild der Antike derart positiv deuten. Jedenfalls war bereits in dieser Zeit eine Abkehr von der chthonischen Ebene zur himmlischen auszumachen. JHWH erhielt astrale Dimensionen: »Hebt eure Augen zur Himmelshöhe und seht: Wer hat die Gestirne erschaffen?« Immer noch gab es in Jerusalem aber auch eine breite Bewunderung für die große alte Kultur Assyriens und der Widerstand dagegen aus den Kreisen der JHWH-Verehrer war überschaubar, aber heftig. Die Polemik wird vor allem in den Königsbüchern betrieben. Auch Hosea kämpfte gegen diese Tendenzen. Die von antiassyrischen Affekten getragene »Reinigung« des Kultes erreichte schließlich die Dimension einer theologischen Reform und einer zunehmenden Transzendierung JHWHs, die sich wiederum mit der Bündnisverpflichtung JHWHs zu seinem Volk verband.

3.2.4. JHWH, der Gott des Volkes Israel Levine 2003

Lipschits 2005, 11

Jes 9,5

2 Kön 23,1–3

Die politische Geschichtsmächtigkeit JHWHs ergab sich aus der speziellen geschichtlichen Situation, in der JHWH als Rettungsanker erschien. Nur JHWH vermochte, was vor ihm noch keinem Gott (nicht einmal dem mächtigen Amun in Ägypten) gelungen war. JHWH wurde zu einem exklusiven Gott des Volks, das seitdem im Vertrauen auf die David-gegen-Goliat-Formel jede Zusammenarbeit mit fremden Mächten verurteilte. Beim Zusammenbruch des Assyrischen Reichs und damit der Pax Assyriaca Era nach dem Tod Assurbanipals 631a zerstörten »nationalistische« Eiferer alle Konkurrenzheiligtümer, vor allem im verhassten Bet-El, samt aller Kultgegenstände. Sie konnten Joschija, der als achtjähriges Kind König geworden war, für ihre Anliegen gewinnen (der Lobpreis darüber hat sich bis heute in der Weihnachtsliturgie erhalten: »Denn ein Kind wird uns geboren, ein Sohn wird uns geschenkt, […] Man nennt ihn: Wunderrat, Gottheld, Ewigvater, Friedensfürst.«). Er schlug die Warnungen vor der Bedrohung neuer starker Mächte in den Wind. Joschija verpflichtete das Volk auf JHWH und ließ den Tempel von allem Heidnischen reinigen. Er hatte für sein Handeln durch den Zusammenbruch des Assyrischen Reichs und der gleichzeitigen Schwäche Ägyptens vorübergehend Luft erhalten. Er

227

Israel und der judäische Monotheismus

konnte das frei gewordene Israel mit Juda zu einer Einheit mit der Hauptstadt Jerusalem verbinden und mit seinen Reformen die Stadt nochmals zu einer Blüte führen. Längerfristig steuerte er den Staat aber in eine prekäre Situation, weil sich an die Stelle Assyriens Ägypten und das Neubabylonische Reich schoben, die das Aufbegehren Jerusalems gleich erstickten, was letztlich das Ende des Staatswesens bedeutete. Theologisch spricht man bei diesen Reformen von der deuteronomistischen Theologie: Der JHWH-Kult wurde auf Jerusalem zentralisiert (die anderen Kultstätten wurden zerstört), alle Nebengötter wurden vernichtet und der verkündete Gott war kein universaler, sondern ein Gott des eigenen Volkes. Die Reform war »ihrer Tendenz nach also kultisch und national und in erster Linie antiassyrisch.« Trotzdem ähnelten manche »skandalösen Forderungen«, die nun im Alten Testament auftauchen, den neuassyrischen Vasallitätsverpflichtungen. Im national-religiösen deuteronomistischen Geschichtswerk (die Bücher Josua bis zum 2. Buch der Könige), das vermutlich im babylonischen Exil entstanden ist und JHWH als politischen Geschichtslenker darstellt, wird unter anderen auch Manasse für seine nachgiebige Haltung als Verräter und als verantwortlich für die Katastrophe denunziert. Diese Theologie begründete die intolerante und exklusive Bindung Israels an JHWH. Eine Reihe von Texten des Alten Testaments waren in diesem Sinn – vermutlich schon im 6. Jh., aber überwiegend dann im babylonischen Exil – von Redaktoren im Sinne einer exklusiven Gottesvorstellung überarbeitet worden. Die verschiedenen Ebenen der Textrezeption stellen die Bibelwissenschaftlerinnen vor ziemliche Probleme. Für unseren Zweck mag es genügen, in dieser Zeit die Schärfung der Alleinstellung JHWHs zu verorten. Die wichtigsten Textstellen (Ex 13,1–16; Dtn 6,4–9; 11,13–21; Num 15,37–41) tragen heute noch orthodoxe Juden in kleinen Behältern (Tefillin) bei Gebetshandlungen auf der Stirn und an der Hand. Joschija fiel in einer Schlacht gegen die Ägypter, die auf dem Weg nach Osten waren, um sich die Reste Assyriens gegen die neue Macht der Babylonier zu sichern, und dabei den judäischen Widerstand geradezu überrannten. Das war der Anfang vom Ende. Als Babylon nach dem Ende des Assyrischen Reichs zur neuen Weltmacht aufgestiegen war (605/604a war es Nebukadnezar gelungen, die Ägypter aus der Levante zu vertreiben), warnten die Propheten Jeremia und der gelehrte Ezechiel eindringlich vor der neuen Bedrohung (z.B. Jer 27) und gerieten in Gegensatz zu nationalistischen Kreisen, die eine Wiederholung der Geschichte von 701 beschworen und überzeugt waren, JHWH würde die Babylonier bestrafen und das eigene Land retten. Der von den Ägyptern eingesetzte König Jojakim ließ sogar eine Schriftrolle des Jeremias mit einer prophetischen Unheilsdrohung für Jerusalem im Fall eines Aufstandes verbrennen. Die Revolte König Jojakims, der sich zwar Ägypten unterworfen hatte, aber 601 von der babylonischen Oberhoheit abfiel, ging schief. Eine erste Deportation der (antibabylonischen) Oberschicht der Stadt unter Jojakims Nachfolger 597 nach Babylon war die Folge. Nationalreligiöse Kreise stachelten einen weiteren Aufstand an, um JHWH die Möglichkeit der Machtentfaltung zu geben. Er endete unter dem zögerlichen König

deuteronomistische Theologie

Fohrer 1995, 173 Keel 2007, 563 Dietrich/Link 1997 Weinfeld 1972, 91–100

228

Frühe Hochkulturen

1.2.7.

Becking 2003 3.2.5./III.2.5.1. Ps 44, 74, 89 Ps 44,11

Tora 3.2.6.1.

Levin 2001, 21f

Fohrer 1995, 194

Talmud

Ebd., 13

Zedekia, der sich in das nationalreligiöse Lager ziehen ließ, mit einer Katastrophe. 586 wurden Jerusalem und der Tempel (der Erste Tempel) geplündert und zerstört und neuerlich Angehörige der Oberschicht deportiert. Dennoch blieb eine nicht kleine Zahl an Menschen im verwüsteten Land, die sich der Raubzüge umliegender Volksgruppen erwehren musste. Eine zweite Diaspora entstand durch Flüchtlinge in Ägypten, einem beliebten Auswandererziel der Kanaanäer. Sie bauten unter anderem einen JHWH-Tempel auf der Insel Elephantine bei Assuan. Diese Gruppe übersetzte etliche biblische Schriften ins Griechische und leistete damit einen Beitrag für die Ausbreitung des Judentums im hellenistischen Raum. Die Reaktion auf die Katastrophe war einerseits die Verfluchung Babylons, andererseits Klagen über das Versagen JHWHs, dem man die Schuld für die Misere gab. »Du schlugst uns in die Flucht vor dem Gegner, und unsere Hasser holten sich die Beute.« In der Folge machte sich unter den Zurückgebliebenen neben dem JHWHGlauben ein Mischkult breit, der alle möglichen (auch babylonischen) religiösen und magischen Praktiken einschloss. Ähnliches gab es bei den Deportierten, die in einer überlegenen Kultur und relativ frei und unbehelligt lebten. Sie begannen, den offenbar stärkeren Gott Marduk, der JHWH besiegt hatte, zu verehren. Umgekehrt erlaubten die Babylonier die Verehrung JHWHs. Er blieb das einigende Band der Judäer im Exil. Das Südreich Juda hatte aufgehört zu existieren, aber das Volk von Juda hatte überlebt und besaß in der JHWH-Religion sein Identität stiftendes Zentrum. Im Exil ersetzten religiöse Schulen, die Synagogen, den verlorenen Tempel. Sie ermöglichten eine einfache Kultpraxis, bei der die Toralehrer den Ton angaben. Die Tora (hebr. Weisung), also die fünf Bücher Mose (die Griechen nannten sie Pentateuch), welche die Ursprungsgeschichte Israels erzählen, wurde zum Bindeglied und zum Symbol der Sicherheit in der Ausgesetztheit des Exils. Die Ereignisse um die Zerstörung Jerusalems dürften nach heutiger Auffassung die Entstehung des Alten Testaments ausgelöst haben. »Im Alten Testament hat sich eine religiöse Gemeinschaft ihre Vergangenheit als Gottesgeschichte vergegenwärtigt, um ihre Zukunft wiederzugewinnen.« Um sich von der umgebenden Kultur abzuheben, wurde die Einhaltung der Gesetze verschärft. »Gerade das Exil hat durch die kultischen Ersatzformen dazu beigetragen, den Kern der Deportierten eng an den Jhwh-Glauben zu binden und ihn zu festigen.« Es entstand ein »portables Vaterland« in Gestalt mitgenommener Schriften, mit denen die Diaspora-Gemeinde den Babylonischen Talmud (z. U. von dem in Palästina entstandenen Jerusalemer Talmud) produzierte. Der Talmud besteht aus der Mischna (der von Gott am Sinai geoffenbarte Teil der Tora) und der Gemara (Kommentare zur Mischna). Grundsätzlich waren die Schriften des Alten Testaments identitätsstiftend: »Seit die Judenheit durch die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. ihren Mittelpunkt verloren hatte, kam dem Bezug auf die Heilige Schrift für die religiöse Identität um so größeres Gewicht zu. Das Judentum wurde endgültig zur Schriftreligion.« In einer originellen Überlegung deutet Chris-

229

Israel und der judäische Monotheismus

tina von Braun diese portable Identität als Auszug aus dem piktoralen Schriftsystem (Ägyptens). Spricht Jan Assmann von einer »Erinnerungsfigur«, die an die Stelle eines historischen Ereignisses trat, präzisiert Christina von Braun diese Konstellation, indem sie den Bericht über den Exodus als eine zum Mythos verdichtete Metapher für das Schriftsystem versteht. »An die Stelle der ›heiligen Bilder‹ oder Piktogramme, denen das kulturelle Gedächtnis in Ägypten anvertraut wurde, traten im semitischen Schriftsystem phonetische Zeichen. Bilder und Tempel kann man nicht transportieren […] wohl aber kann ein Buch, eine in alphabetische Zeichen geronnene Sprache, zum ›portativen Vaterland‹ werden. Insofern trug der Unterschied zwischen ägyptischem Piktogramm und semitischer Alphabetschrift auch zum Ikonoklasmus der jüdischen Religion bei.« Oder anders herum: die Schrift gewann erst im alphabetischen Aufbruch (alphabetical liftoff) des Monotheismus ihr Monopol. Die Exodusgeschichte wäre demnach auch ein Auszug aus dem Bilderkult und der Bilderschrift Ägyptens. Dem Argument ist sachlich schwer zu folgen, weil die Hieroglyphenschrift, wie oben bereits ausgeführt, keine reine Bilderschrift ist. Unbeschadet davon mag die damalige zeitgenössische Rezeption darin allerdings Bilder gesehen haben. Auch der Gegenschlag ist uns bekannt: Der Priester und erste ägyptische Geschichtsschreiber Manetho setzte im 3. Jh. (unter Ptolemäus II.) den Ikonoklasmus der Juden mit einer ansteckenden Seuche gleich. In der nachexilischen Zeit geriet Palästina in den Herrschaftsbereich des Persischen Reiches und übernahm die aramäische Sprache und Schrift. Allein die heiligen Schriften blieben dem Hebräischen weitgehend verhaftet. Das letzte »althebräische Bollwerk« blieb der Schriftzug für JHWH. Akzeptierte man das vorgeschlagene Szenario einer weitgehend piktographisch verstandenen ägyptischen Schrift, ließe sich ein gegenseitig bedingendes Verhältnis von Polytheismus und Ikonophilie vermuten, während die Alphabetschrift tendenziell einen Ikonoklasmus anzeigte. Der Ikonoklasmus ist dann gleichsam die radikalste Folge des Paradigmas des Schriftsystems. Othmar Keel verweist auf das unterschiedliche Götterbild vor diesem Hintergrund. Während die ägyptischen Götter in den Abbildungen magisch in ein kosmisches System eingebunden blieben, traten in der mesopotamischen Ikonographie kosmische Mächte als Personen auf, ohne Bezug zu den von ihnen dargestellten Teilen des Weltgebäudes. »Während sich das sumerisch-akkadische früh und radikal vom piktographischen Hintergrund löste, blieben die ägyptischen Hieroglyphen eng mit der Ikonographie verbunden.« Nach dem Fall des babylonischen Reichs unter dem in der babylonischen Priesterschaft ungeliebten Nabonid, zog der Perser Kyros II. als von Gott gesandter König unter Jubel 539 in Babylon ein. Der neue Herrscher entließ die Deportierten nach Hause, um ihre Heimat wieder aufzubauen, die dann aber als Provinz zum Reich gehörte. Der Großteil, wenn auch nicht alle, nahmen das Angebot an. Mit der Exilszeit hörten die großen Einzelpropheten auf. Der erste Vertreter einer neuen eschatologischen Prophetie war der schon erwähnte anonyme Prophet (Deuterojesaja, vielleicht aus der Schule Jesajas) gegen Ende des Exils (Jes 40–55).

portable Identität

von Braun 2001, 65f Debray 2004, 59

2.7.

Maag Victor in Schmökel 1961, 534

Keel 1972, 38

1.2.7.

230

Frühe Hochkulturen

Schöpfergott

Albani 2000, 241 im Orig. kursiv

Jes 52,13–53,12

Zweiter Tempel

Keel 2007, 1080

Er verehrte Kyros als Messias. Der Deuterojesaja machte aus der partikulären eine universale Monolatrie und sah JHWH als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Zum exklusiven Gottesverständnis gesellte sich jetzt das Schöpfungsparadigma. Dass dafür das Vorbild des Marduk im Enuma Elisch als Erschaffer von Himmel und Erde eine Rolle spielte, ist wahrscheinlich. Das Wort erschaffen (bara’) wurde in der Exilzeit eingeführt: »DtJes zieht aus der Marduk-›Schöpfungstheologie‹ und den im Hintergrund stehenden astronomischen Erkenntnissen nur die letzte Konsequenz für den JHWH-Glauben und bringt den Gedanken eines souveränen universalen Schöpfungshandelns Gottes mit dem Begriff bara’ auf den Punkt.« JHWH wird mehr und mehr durch den Terminus Gott (El/Elohim) ersetzt, weil schon der Anschein eines Eigennamens vermieden werden musste. Theologisch ist für die Perserzeit die Formel von JHWH als »Gott des Himmels« typisch. Dies, obwohl der Himmel als göttlicher Wohnort deutlich älter ist. Als weitere theologische Frucht entstand im Exil das Lied vom leidenden Gottesknecht Israel, der aus seiner Schwäche Heil schafft, indem er stellvertretend die Leiden der Völker auf sich nimmt. Etliche theologische Theorien haben an dieser Umkehr der Rolle Israels angeknüpft. Letztlich ließe sich auch die theologische Erzählung, die später auf Jesus von Nazareth projiziert wurde, als Echo der geschichtlichen Befindlichkeit des kleinen Israel im Konzert der großen und starken Mächte interpretieren. Trotz der großzügigen Geste des Kyros konnte sich, außer während eines kurzen Zwischenspiels unter den Hasmonäern, kein judäischer Staat mehr bilden. Kyros verfolgte die Politik zufriedener Untertanen und gewährte den Judäern für ihr Stillhalten eine gewisse Autonomie. 537 wurde der Grundstein des Zweiten Tempels gelegt, die Wiederherstellung des 586 zerstörten Ersten Tempels. Es dauerte allerdings lange, bis der Bau begonnen werden konnte, weil zuerst die komplizierten Besitzverhältnisse zwischen Rückkehrern und den Siedlern, die geblieben waren und sich breit gemacht hatten, geklärt werden mussten. 515 wurde der neue Tempel schließlich eingeweiht. Der Zweite Tempel (man spricht deshalb auch vom Judentum des Zweiten Tempels) mit einem vermutlich leeren Allerheiligsten war der Ort für die Entstehung vieler Kultfiguren und Feste. In der Spannung von Eigenem und Fremdem, die auch die biblischen Bücher durchzieht, wurde das Eigene durch strenge Einhaltung diverser Vorschriften gezielt gestärkt, universalistische Positionen damit nachdrücklich geschwächt. Die Schrift berichtet, dass Esra, ein aus der jüdischen Gemeinde in Babylon um 398 zugereister und von Artaxerxes II. mit großen Vollmachten ausgestatteter Gesetzeskundiger mit dunkler Historizität, im Rahmen eines Herbstfestes öffentlich vor Männern und Frauen die Tora vorlas – zu einer Zeit, wo die Tora noch nicht vollständig war. Nach Keel war dies die Urform des für Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen wichtigen Wortgottesdienstes. Es war aber auch die wohl bislang klarste Abschottung des Judentums sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht. Die Tora hörte damit auf, Geheimwissen zu sein, und wurde der Exegese zugänglich. Im gleichen Moment wurde die Tora

231

Israel und der judäische Monotheismus

dadurch aber auch »geschlossen«. Sie wurde kanonisiert. »Sie breiteten die Gesetzesrolle aus, um eine Entscheidung zu erhalten, so wie fremde Völker ihre Götterbilder befragen.« Die Zahl der Gesetze wuchs rasant. Sie dienten dem Schutz der Tora. Christina von Braun weist auf die delikate Doppelstruktur hin, die den Beginn des Judentums begleitet: »Neu an Esras Handlung […] war die Tatsache, daß der Text der Heiligen Schrift nun nicht mehr verändert werden durfte, andererseits aber auch für die individuelle Auslegung ›freigegeben‹ wurde. Damit entstand das ›Nebeneinander‹ von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das allmählich die jüdische Tradition charakterisieren sollte.« Für das Judentum ist Esra von nicht zu überschätzender Bedeutung. »Tatsächlich hat er auch das eigentliche Judentum begründet und seinem Glauben mit Geschichte und Tora eine Grundlage gegeben.« In diese Zeit fällt die »Erfindung« des Satans als eigenständiges Wesen. Vorher war die Satansfigur in JHWH selbst oder sie wurde im Sinne einer staatsanwaltlichen Praxis am himmlischen Hof verstanden. Jetzt wurde Satan ein eigenständiges Wesen mit Eigennamen (erstmals: 1 Chr 21,1), der jede Verfehlung ahnden konnte. Der persische Hintergrund des Dualismus wird eine Rolle dabei gespielt haben. Eine verbreitete Meinung sieht die Pointe des Jerusalemer Eingottglaubens in der historischen Komponente. Der Kulturtheoretiker Thomas Macho baut auf den Widerstreit zwischen der mythisch-zyklischen Sicht eines agrarischen Sonnenkults (Ägypten) und der historisch-eschatologischen Zeitordnung einer hirtennomadischen Kultur mit einem sich offenbarenden Gott (Israel): »Im Horizont der mythisch-zyklischen Zeitordnung wurde wiederholt und vorausgesagt […], im Horizont der historisch-eschatologischen Zeitordnung wurde erinnert und gehofft.« Die Differenzierung ließe eine schöne Schematisierung zu, etwa nach folgendem Muster: Hat die Achsenzeit im Alten Orient und in Griechenland den Naturzyklus philosophisch überhöht und damit ein Modell für den Neuplatonismus bis hin zum Idealismus und dialektischen Materialismus gelegt, führte die achsenzeitliche Wende in Israel zur Herausbildung eines sich vom Zyklus der Natur vorsätzlich abhebenden Geschichtsverständnisses im Namen eines universalen Schöpfergottes, der zudem in die Rolle eines exklusiven Nationalgottes gedrängt wurde. Daher wird in den Psalmen eher an den Chaosbekämpfer angeknüpft als an den Fruchtbarkeitspender. »›Ströme‹, ›Wasser‹, ›Meer‹ sind Inbegriff jener zerstörerischen Kräfte, die von allen Seiten gegen die Erde anbranden. Die Erfahrung, daß diese Chaoskräfte gebändigt und in ihre Schranken gewiesen werden, wird mit der Begründung und Bewahrung des Kosmos, das heißt mit der Schöpfung gleichgesetzt.« Der Chaosbekämpfer »ließ sich leichter in die stark geschichtsbezogene Gotteserfahrung Israels integrieren.« Und er ließ sich so für die Utopie eines Erlösungs-Christentum des Neuen Testaments verwenden, das die Befreiung aus dem alten Geschick (moira) feierte. Freiheit ist der triumphierende Begriff der Schriften des Neuen Testaments und diese Perspektive hat wohl auch viel zur Attraktivität des jungen Christentums beigetragen.

1 Makk 3,48

von Braun 2001, 64

Fohrer 1995, 215 Satan

Keel 2007, 1111

Macho 1996

Levin 2001, 37 Keel 1972, 196

IV.3.1.

232

Frühe Hochkulturen

Brunner-Traut 1992, 108

Ebd., 110

Das bedeutete einen kulturphilosophischen Paradigmenwechsel. »Diese Vorstellung findet sich außer in Israel in keinem anderen Lande des gesamten Alten Orients. Jahwe ist der Herr der Geschichte […].« Eine so eindeutige Schematisierung ist allerdings kaum zutreffend. Immerhin wurde JHWH als Wettergott und Vulkandämon eingeführt, hatte also eindeutige Wurzeln im chthonischen Bereich, und während der gesamten frühen Geschichte Judäas wurde auf diese Rolle JHWHs verwiesen. Der Prophet Hosea beanspruchte die Gaben der Erde für JHWH. Da aber die altorientalischen Gottheiten durch eine starke Bindung an den Naturzyklus gekennzeichnet waren, mag in der Ent-Chthonisierung und Solarisierung ein großes Maß bewusster Konstruktion liegen. Zudem wurde JHWH durch sein ständiges Eingreifen in schicksalshafte Ereignisse des Volkes Juda – weit über die Rolle von altorientalischen Gottheiten hinaus – in deren Geschichte hineingezogen. Der Schwerpunktwechsel zur Geschichtskomponente, die JHWH anhaftete, und zum Bemühen, ihn aus agrarischen Verstrickungen zu lösen, hatte in der Kunst ein neues ikonographisches System zur Folge. Die agrarischen Feste wurden in historische Feste übersetzt. »Nicht mehr eingebunden zu sein in ein periodisches Naturgeschehen, sondern von geschichtlichen Ereignissen getragen zu werden, bedeutet eine totale Umwertung der Vorgänge in der Welt.«

3.2.5. Die Zuspitzung des nationalen Monotheismus im Streit um die ­Hellenisierung

III.2.5.1.

Septuaginta

Besonders virulent wurde die Frage von Eigenem und Fremdem mit der Hellenisierung der altorientalischen Welt. Alexander eroberte das Perserreich 333/332a. Der Wechsel von den Persern zu den Hellenen blieb vorerst ohne nennenswertes Echo. Nach dem Tod Alexanders 323 wurde Juda in die Diadochenkämpfe verstrickt. Die in Antiochien regierenden Seleukiden erhielten Mesopotamien und Syrien, die Ptolemäer regierten von Alexandrien aus. Die Herrschaft über Jerusalem wechselte mehrmals. Die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Hellenismus ist delikat und umstritten. Insbesondere geht es um den Grad der Hellenisierung des palästinischen Judentums. Für die Diaspora stand eine starke Hellenisierung immer außer Frage. Selbst orthodoxe Kreise konnten sich der Hellenisierung niemals ganz entziehen. Ptolemäus I. hatte Alexandrien zur Metropole der Welt gemacht und dort eine Kulturblüte initiiert. Jerusalem konnte mit den Metropolen im Umkreis einigermaßen mithalten. Eine bedeutende Frucht dieses Kulturkontakts war eine sich von der Mitte des 3. Jh.s bis gegen 100a erstreckende, von den Ptolemäern angeregte Übertragung der hebräisch-aramäischen Bibel durch griechischsprachige Juden ins Griechische (Septuaginta). Im zugrunde liegenden hebräischen Text befanden sich einige apokryphe Schriften, die aus der jüdischen (masoretischen) Version entfernt worden waren, darunter das Buch der Weisheit mit seinen griechischen (platonischen) Einflüssen. Dieses epochale Projekt war die Frucht der Bemühung, das Alte Testament der griechischen Globalisierung zu erschließen. Dabei wurde in Wirklichkeit auch der

233

Israel und der judäische Monotheismus

kulturelle Kontext verändert. Ein berühmtes Beispiel ist die Übersetzung von junger Frau (almah) im Hebräischen in Jungfrau (parthenos; Jes 7,14) im Griechischen. Zweifellos ist dazu der Hintergrund der griechischen Kultur mit ihrem Jungfrauenkult, namentlich der Einfluss der alljährlich in Alexandrien gefeierten jungfräulichen Mutter des neuen Weltzeitalters, zu beachten. Die Septuaginta (von lat. siebzig; nach der Legende, wonach 72 Gelehrte den Text in 72 Tagen übersetzt haben) selbst spielte im Judentum keine überragende Rolle mehr, weil auch das hellenistische Judentum praktisch bedeutungslos wurde. Das Werk wurde aber im Christentum übernommen und ist bis heute die maßgebliche Bibel in der Ostkirche, während die westliche Kirche zur Vulgata wechselte. »Die Septuaginta gehört zu den großen Beiträgen zur Kulturgeschichte des Mittelmeeres. Die Christen von Konstantinopel übernahmen sie als Text des Alten Testaments. Tatsächlich bewahrte das byzantinische Christentum mehr von der alexandrinisch-jüdischen Kultur als die Juden selbst, […].« Der judenfreundliche, an fremden Kulturen interessierte Ptolemäus II. befreite zehntausende jüdische Sklaven und spendete für den Schmuck des Tempels. Er selbst huldigte freilich heidnischen Ritualen, veranstaltete Dionysos-Feste, wo er unter anderem einen 55 Meter langen Riesenphallus mit einem Durchmesser von knapp 3 Metern durch die Straßen tragen ließ. Die Verehrung des Dionysos und die Nachahmung eines dionysischen Lebensstils war bei hellenistischen Herrschern weit verbreitet. In den Städten machten sich griechischer Lebensstil mit Gymnasien und der Pflege von Kunst und Wissenschaft, Merkantilismus, Symposiumskultur breit. Das Buch Kohelet mit seiner »weltoffenen Minimaltheologie« dürfte aus hellenismusfreundlicher Perspektive dieses Milieu schildern und vergisst auch nicht, die aus dem Konsum sich ergebende Leere und Orientierungslosigkeit zu beklagen. »Zur Belustigung hält man Mahlzeit, Wein erfreut das Leben und das Geld ermöglicht alles.« Der Herrscher des Seleukidenreichs, Antiochos III., auch der Große genannt, eroberte erhebliche Teile von Alexanders Reich. Nach längerem Hin und Her geriet auch Jerusalem unter seine Hoheit. Er bestätigte die Selbstverwaltung unter dem Hohenpriester Simon (ob es sich um Simon I. oder Simon II. gehandelt hat, ist in der Forschung unklar). Jerusalem war eine Theokratie (so beschrieb bereits Flavius Josephus die Regierungsform Jerusalems) geworden und der Hohenpriester eine – in Montefiores flapsigen Worten – »Kombination aus Monarch, Papst und Ayatollah.« Die Stärke der Priester ging auf die Ptolemäer zurück, die die ägyptische Tempelordnung mit dem Tempel angeschlossene Ländereien und der starken Stellung der Priester auf Jerusalem übertrugen. Der Tempel als Sitz des Hohenpriesters und des Gerichts (Sanhedrin) war nun der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Einer großen Sympathie der führenden Schichten, aber auch mancher Priester für die Hellenisierung lief das durchaus nicht zuwider. Durch die zahlreichen neuen hellenistischen Städte an der Küste strahlte die hellenistische Kultur auch auf die Juden Palästinas aus. Besonders die Oberschicht fühlte sich davon angesprochen. Sie bewohnte ihre Villen nach griechischem Vorbild. »Fast täglich erhöhte sich in Jerusalem die Zahl der Menschen, die Griechisch lernten und griechische Umgangsformen annahmen.«

IV.4.2.2.

Abulafia 2011, 225

Montefiore 2011, 101

griechischer Lebensstil

Keel 2007, 1279

Pred 10,19

Montefiore 2011, 105

Schulz 2008, 290

234

Frühe Hochkulturen

III.2.5.3.

Keel 2007, 1213 Keel Othmar in Kat. 2012b, 19

Apokalyptische Erzählungen

Levin 2001, 117 Fohrer 1995, 234

Hellenismusfreundliche Hohenpriester wollten das Judentum den »zeitgemäßen« globalen Formen anpassen. Bekannt geworden ist davon der kurz amtierende Jason, der in Jerusalem ein Gymnasium einführte und aus der heiligen Stadt eine griechische Polis machen wollte. Dieser Kosmopolitismus stieß bald auf die fanatische Reaktion religiöser Fundamentalisten. Der als verrückt verschriene Antiochos IV., der die hellenistische Kultur verehrte und sich gerne als Römer darstellte, bestrafte die Juden nach Unruhen, die sie während seines Ägyptenfeldzuges anzettelten, und verbot alle jüdischen Riten, die der hellenistischen Kultur fremd waren: Gottesdienste, Opferungen, Beschneidung, Sabbatruhe. Griechen wie Römer hielten den Monotheismus, wie sie ihn bei den Juden fanden, für primitiv. Vor allem mit den damit verbundenen diversen Vorschriften und Tabus konnten sie nichts anfangen. Angetan waren sie hingegen von den bunten Kulten des Orients, die im Hellenismus fröhliche Urständ feierten. Zudem plünderte Antiochos aus Geldnot die Schätze des Tempels, entweihte ihn 169a durch Anfüllen mit Schweinefleisch, stellte den olympischen Zeus dort auf und verwandelte ihn in ein Bordell. Schließlich zerstörte er die ganze Stadt. Sollten die Taten des Antiochos einen kulturphilosophischen Anspruch gehabt haben, dann war damit vielleicht ein Erinnern an vermeintlich alte Zusammenhänge des JHWH-Kultes (wie die Nähe zum Kult des Sabazios) gemeint. Gesetzestreue Anhänger der Religion nahmen jedoch eher ein Martyrium auf sich, als sich diesen zweifelhaften Ritualen zu unterwerfen. Das förderte einen in den frühen Jahrhunderten unbekannten Glauben an eine Auferweckung nach dem Tod als ausgleichende Gerechtigkeit: »Auferweckungshoffnungen kommen erst mit der Krise unter Antiochus IV. auf.« Die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod kamen aus der griechischen Kultur, das Makkabäer-Buch war wie das Buch der Weisheit aus dem 2. und 1. Jh. griechisch verfasst. Man darf vermuten, dass der persische Dualismus einen Einfluss ausübte, besonders bei der anhebenden Apokalyptik, die das diesseitige Leben in Gegensatz zu dem nach dem Weltgericht einsetzenden Gottesreich setzte. Apokalyptische Erzählungen häuften sich zwischen dem 2. Jh.a und dem 1. Jh.p. »Kennzeichen ist die Erwartung einer grundstürzenden Weltenwende, deren Eintreffen durch verschlüsselte Offenbarungen (Visionen) vorausgesagt und anhand des bisherigen Geschichtsverlaufs errechnet wird.« Das hatte auch theologisch weitreichende Folgen: »Durch diese neuen Vorstellungen vollzog sich als ein folgenschwerer Schritt die Umwandlung des früheren Diesseitsglaubens in einen Jenseitsglauben.« Die meisten alttestamentlichen apokalyptischen Schriften sind freilich außerhalb des kanonisierten Korpus geblieben. Die Hasmonäer (nach dem Priester Hasmon) und Makkabäer (nach dem Sohn des religiösen Eiferers und Hasmonäers Mattatias/Judas, dem man den Beinamen Makkabäus, nach makkab/Hammer, gab) schließlich riefen zum bewaffneten Kampf anstelle des passiven Martyriums auf, zumal das Seleukidenreich durch die andrängenden Parther und Römer abgelenkt war. Judas Makkabäus eroberte Jerusalem und weihte den Tempel 164a neu, welches Ereignis bis heute gefeiert wird (Chanukkafest). Das Fest ist letztlich ein Protest ge-

235

Israel und der judäische Monotheismus

108 Reste der ­festungsartigen Burg des Herodes (Herodion) bei Bethlehem



gen die Hellenisierung. Es folgte ein langes kriegerisches Ringen, in dem die mehrfach geschlagen scheinenden Makkabäer sich immer wieder erhoben und schließlich im Gewirr der Beziehungen obenauf blieben und um 142a die Unabhängigkeit Jerusalems gewinnen konnten. Heiden und abtrünnige Israeliten wurden vertrieben und ermordet, es entstand ein ethnisch reiner jüdischer Staat mit verworrener und zerstrittener Führung. Die brutale Herrschaft der Hasmonäer wurde von der jüdischen Bevölkerung selbst beendet. Sie wollten die alte Priesterherrschaft zurück und das Land politisch den Römern unterstellen. 63a kamen Judäa und Jerusalem unter römische Herrschaft und erlebten ein unübersichtliches Jahrhundert mit vielen konkurrierenden religiösen Gruppen und starken apokalyptischen Stimmungen. Cäsar gewährte aus Dankbarkeit für die Hilfe beim Kampf gegen die Unterstützer des Ptolemäus XII./XIII. Jerusalem unter seinem Hohenpriester und Ethnarchen Hyrkanus II. weitgehende Autonomie. 40a ernannte das 2. Triumvirat (Oktavian, Marcus Antonius, Marcus Aemilius Lepidus) Herodes zum Klientelkönig von Jerusalem. Herodes, später der Große genannt, war hoch gebildet, ein Kosmopolit und Lebemann, der als exzentrisch geschildert wird. Er wurde zum größten Bauherrn der jüdischen Geschichte. Mit Unterwerfungsgesten stellte er sich mit dem römischen Senat, dann mit Antonius und Octavian so gut, dass er zum »verbündeten König« wurde. 34a bis 4a überzog er das Land in hellenistisch-römischer Manier mit Bauwerken von solcher Pracht, dass sich der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus außerstande sah, sie zu schildern. Vor allem Augustus schätzte Herodes sehr, der seine hellenistische Kultur auch in Städten außerhalb Jerusalems verwirklichen konnte. Caesar Augustus zu Ehren baute Herodes zwischen 22 und 12a die Hafenstadt Caesarea Maritima mit Amphitheater, Hippodrom, Aquädukt, Palästen und Marktplätzen, dem gesamten Repertoire hellenistischer Stadtarchitektur. Auf dem SW-Hügel (heute der Bereich des Armenischen Gartens) ließ er ab etwa 23a einen gewaltigen, kostbar ausgestatteten, mit Gärten und Teichen durchzogenen Palastkomplex im Geiste der altorientalischen Paläste errichten, in dem der extrem wohlhabende Herodes mit seinem Harem von 500 Frauen lebte. Als ein besonderes Meisterwerk galt als »eine Form antiker Arbeitsbeschaffungsmaßnahme« der neue (Dritte) Tempel, den er ab 20a errichtet haben soll, nachdem er den Zweiten Tempel von 530a vermutlich weitgehend abreißen hatte lassen. Es gibt auch Theorien, die von einer grundlegenden Erneuerung des Zweiten Tempels ausgehen. Herodes berief sich beim Bau auf das Vorbild Salomon. Der Komplex beinhaltete eine gewaltige, 185 Meter lange, dreischiffige Basilika und mehrere außenliegende Säulenhallen. Der Tempel entsprach den altorientalischen und griechischen Üblichkeiten mit einem gestuften Zugang zum Allerheiligsten, das nur vom Hohenpriester betreten werden durfte (auch Herodes blieb der Zugang verwehrt). Allerdings war er besonders prachtvoll ausgeführt mit einer Verkleidung aus goldenen Platten. Dass der Tempel nicht nur religiöses Zentrum war,

III.2.5.4.

Eckart 2008, 94

236

Frühe Hochkulturen

Mark 11,15

109 B­ lick auf die Stützmauern des Tempel (Klagemauer); Jerusalem

110 ­Papyrus aus Qumran, Jordan; JAM 2 Kor 5,1

sondern auch Handels- und Wirtschaftsplatz, versetzte dem Vernehmen nach Jesus von Nazareth in Rage. Der Tempelplatz musste mit Hilfe von Aufschüttungen, Gewölbekonstruktionen und Stützmauern vergrößert werden. Der Zugang geschah durch Toranlagen – in der Regel in byzantinischer und islamischer Zeit erneuert. Architektur und Kunst dieser Zeit kann man nicht jüdisch nennen. Es handelte sich um hellenistische Kunst und Architektur. Dieser Tempel wurde 70p von den Römern zerstört. Die heutigen archäologischen Spuren sind verwirrend und schwer zuordenbar. Die Klagemauer ist keine Mauer des Tempels, sondern eine Stützmauer des Tempelplateaus. Auf diesem Plateau stehen heute die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom. Um die Zeitenwende versuchten die Zeloten die römische Herrschaft abzuschütteln. Vor allem unter Nero, dessen Eskapaden unglaubliche Summen verschlangen, wurde der Druck stark, die Provinzen auszubeuten. Es gab die Anordnung, die Tempelschätze zu rauben und nach Rom zu bringen. Das explosive Gemisch von Nationalismus und den sich gegen die Unterdrückung der Besatzungsmacht Erhebenden führte zu einem für Rom gefährlichen Aufstand, für dessen Niederschlagung Titus als Feldherr (Kaiser wurde er 79) mit einem Viertel der gesamten römischen Streitkräfte anrückte. Im Jahr 70p wurde Jerusalem erobert und der Tempel geplündert und zerstört. 73p fiel das letzte Widerstandsnest einer Gruppe religiös-fanatischer Zeloten auf der Burgfestung Masada durch kollektiven Selbstmord der 960 Bewohner. Die mit unbeschreiblicher Grausamkeit erfolgte Eroberung Jerusalems brachte unendliches Leid über die durch die Belagerung ausgehungerten Bewohner. Die Zerstörung des Tempels war endgültig. Er wurde nie wieder aufgebaut. Am Triumphbogen des Titus in Rom ist abgebildet, wie die römischen Soldaten die heiligsten Gegenstände aus dem Tempelschatz plündern. Unter den in Qumran gefundenen Schriftrollen befand sich auch eine Kupferrolle, die eine verschlüsselte Botschaft enthielt, wo Tempelschätze vergraben wurden, um sie vor den anrückenden Römern zu sichern. Trotz eifriger Bemühungen wurden die Schätze bis heute nicht gefunden. Der künftige Tempel konnte nach jüdischer Vorstellung nur einer sein, der nicht von Menschenhand gemacht sein würde. Die Juden griffen indes zu einem »mobilen Tempel«, der Bibel und der Überlieferung. Die Beziehungen zwischen Rom, das sich üblicherweise kaum in religiöse Dinge der Provinzen einmischte, und Jerusalem hatten sich nachhaltig verschlechtert. Es war nicht zuletzt das völlige Unverständnis der jeweils anderen Kultur und Religion gegenüber, was zur Entfremdung führte. In Jerusalem kam es zu eigenwilligen Konstellationen. Ein Enkel Philons von Alexandrien, der die am Umgang mit den Homertexten gewonnene Allegorese auch auf das Alte Testament anzuwenden begann, war der alexandrinische Jude Tiberius Julius Alexander. Er war römischer Statthalter in Palästina und ging dort gegen romfeindliche Elemente vor. Er befehligte sogar ein Korps, das an der Zerstörung Jerusalems 70p beteiligt war – nach Be-

237

Israel und der judäische Monotheismus

richten gegen seinen Willen (sein Vater soll noch für die Ausstattung des Tempels gespendet haben). Den Ton in der Stadt gaben eher politische Apokalyptiker an. Die Pharisäer liebäugelten mit persischen Stoffen, die den Teufelskult vertieften, und wehrten sich gegen die liberalen Tendenzen des Hellenismus. Die Pharisäer dominierten die intellektuelle Diskussion und schufen Kommentarwerke mit Spruchsammlungen (Haggada) und eine kasuistische Gesetzesauslegung (Halacha). Daneben gab es eine Tradition jüdischer Mystik (später: Kabbala), die sich gut mit den gnostischen Bewegungen im Hellenismus verbinden ließ. Darin verschmolz ein platonischer, pythagoreischer, stoischer und orientalischer Bodensatz mit der klaren Ausrichtung einer Erlösungsmöglichkeit aus der Mitteilung verborgener göttlicher Geheimnisse. Viele dieser Weisheiten sind im Corpus Hermeticum gesammelt. Es ist ein Spiegel des hellenistischen Synkretismus mit neuplatonischen Leitideen. 2.7. Kaiser Hadrian, ein Verehrer der griechischen Kultur (man nannte ihn »kleiner Grieche«), wollte 130 dieses Problem lösen, indem er Jerusalem aus der Geschichte zu tilgen und an seine Stelle eine dem Jupiter geweihte Stadt mit dem Namen Aelia Capitolina zu errichten beabsichtigte. Er baute einen Jupiter-Tempel und, was die Juden besonders empörte, errichtete eine Statue seines vergöttlichten nackten Geliebten, des jungen Antinous, der unter ungeklärten Umständen im Nil ertrunken war. In einem von Simon bar Kochba 132–135 angeführten zweiten Aufstand gegen die Römer versuchten die Juden, die Paganisierung ihrer Stadt zu beenden. Auch an anderen Orten des Mittelmeerraums, wo Diaspora-Juden lebten, flammten Unruhen auf. Der Aufstand wurde von Hadrians Legionen erbarmungslos und blutig (auch mit großen eigenen Verlusten) niedergeschlagen, Jerusalem und Dutzende andere Orte von der Landkarte getilgt und der Landstrich von Judäa in Palästina (Syria Palaestina) umbenannt. Trotz dieser Katastrophe lebten jüdische Gemeinden überall im Römischen Reich, von den klassischen Schriftstellern teilweise angefeindet, aber doch weitgehend unbehelligt. In Rom existierte eine solche Gemeinde bereits seit dem Makkabäeraufstand im 2. Jh.a. Das Judentum galt als orientalischer Kult und übte als solcher sogar eine gewisse Anziehungskraft auf die Oberschicht der Stadt aus. Als es in der Spätantike an manchen Orten zu Ausschreitungen gegen die Juden kam, stellten sich die inzwischen christlichen Kaiser nicht selten schützend vor die Gemeinden.

III.3.1.4.

3.2.6. Die ikonographischen Konsequenzen in Architektur und Kunst Gemeinhin gilt das Judentum in Folge des biblischen Bilderverbots, das im Dekalog in zwei identischen Fassungen (Dtn 5,8; Ex 20,4) und an diversen anderen Orten (Ex 20, 23; 34,17; Lev 19,4; 26,1; Dtn 4,15ff; 27,15) formuliert wurde, als bilderfeindlich. In den Bibelwissenschaften erfuhr dieses Thema bislang eine eher stiefmütterliche Behandlung. Aus den verstreuten Äußerungen ragen die Arbeiten von Christoph Dohmen heraus, dessen detaillierter Blick auf das Thema die Komplexität der Fragestellung zeigt.

Bilderverbot

238

Frühe Hochkulturen

Dohmen 2012, 64

Niehr 2003, 240 Ornan 2005, 175ff

Weippert 1997, 21 Dohmen 2012, 66

Niehr 2003, 238ff

Dohmen 2012, 66

X.3.3.f.

Das Bilderverbot ist das Resultat einer längeren Entwicklung und wurde in den Dekalog eingebunden. Der Dekalog, der kein Rechtskodex im Sinne altorientalischer Vorbilder war, »steht am Ende einer langen Entwicklung und stellt quasi ihre Zusammenfassung dar.« Am Horizont macht Dohmen drei Hintergründe für das Bilderverbot aus: (1) Da ist einmal die nomadische Vergangenheit mit ihren hauptsächlich anikonischen Kulturen. Ihr ist das Fehlen jeder JHWH-Ikonographie zuzurechnen, sodass Ersatzformen wie Lade oder Stier gefunden wurden. Diese auch von anderen Autorinnen vertretene Meinung wurde von Dohmen inzwischen unter Berücksichtigung der kritischen Arbeiten dazu von Ernst Axel Knauf deutlich relativiert. Unabhängig von dieser speziellen Frage der nomadischen Vergangenheit des Volkes Juda vertraten viele Historikerinnen die (ebenfalls umstrittene) These von einem Nebeneinander von bildhafter und anikonischer Darstellung von Gottheiten im Alten Orient. Eine judäische Anikonik ist freilich umstritten. Vor allem Tryggve Mettinger machte sich dafür stark, seine Argumente wurden jedoch auch bereits als gescheitert betrachtet. Die Ablehnung des Bildes ergibt sich offenbar eher aus einer kunstphilosophischen Programmatik. (2) Eine zweite Ursache sieht Dohmen im »Übergang von einer integrierenden Monolatrie zu einer intoleranten Monolatrie« im 9. und 8. Jh. In dieser Zeit begann sich – namentlich unter dem Propheten Elias – im Nordreich die Alleinverehrung JHWHs von der Umgebung abzusetzen. Auffällig ist, dass man dabei noch keinen Anstoß nahm an der Darstellung JHWHs als Stier. Eine (wie immer geartete) Präsenzfigur JHWHs schien sich mit dem Monolatrie-Anspruch durchaus zu vertragen. (3) Eine dritte Ursache ist dem sehr ähnlich. Es handelt sich um den Nordreich-Propheten Hosea. Er war der »erste im Alten Testament bezeugte Vertreter der ›Jahwe-allein‹-Theologie« und einer »der bedeutendsten Vertreter der Forderung nach einer exklusiven Jahwe-Verehrung.« Er brachte die Metapher der Ehe ins Spiel, um die besondere Beziehung von JHWH zu seinem Volk zu symbolisieren. In diese Richtung geht die These von Herbert Niehr. Seiner Meinung nach ermöglichen an bestimmten Orten aufgestellte Kultbilder eine Regulierung des Zugangs auf ausgewählte Gruppen. So war dies beim Amun-Kult in Ägypten und der Bruch des Bildes kann als gleich bedeutend angesehen werden wie der Bruch der Priestermacht. Nach Niehr habe das mit dem Bild verbundene Kultmonopol das Bilderverbot ausgelöst. Für Hosea trat das Bild selbst in den Fokus. Das Problem der Bilder war ihre Mehrdeutigkeit, die sich nicht mit der Alleinstellung JHWHs vereinbaren ließ. »Hosea kritisiert somit nicht das Bild als Bild, sondern das Bild als Träger unterschiedlicher und für ihn nicht zu vereinbarender, weil nicht differenzierbarer religiöser Ideen.« Dieser kunstphilosophisch auch systematisch interessante Aspekt verweist auf das Bild als offenes Kunstwerk und als Zeichen, das im Gegensatz zu einer eindeutigen Identifizierbarkeit steht. Vor diesem Hintergrund sieht Christoph Dohmen die »Geburtsstunde« des Bilderverbots in der im Rahmen des jehowistischen Geschichts-

239

Israel und der judäische Monotheismus

werks vollzogenen Erweiterung der Ex 32–Erzählung. Es handelt sich dabei um die »älteste Ursprungsgeschichte des Judentums.« Es geht hier – grob gesprochen – um die Redaktion von vermutlichen Quellenschriften (man nennt sie nach einer älteren Tradition Jahwist (J) und Elohist (E)) der fünf Bücher Mose (Pentateuch). Die bibelwissenschaftliche Forschung ging lange Zeit von einer redaktionellen Verschmelzung der beiden Quellen zum sogenannten jehowistischen Geschichtswerk (JE) nach dem Untergang des Nordreichs 722a aus, wobei zusätzlich prophetische Überlieferungen eingebaut wurden. Die Diskussion um die Quellenschriften ist in regem Fluss und die neuere Forschung scheint sich vom Jahwisten eher zu verabschieden. Trotzdem kreist Christoph Dohmen das Bilderverbot auf die Gestaltung der Sinai-Theophanie von Ex 32 in der JE-Redaktion ein. In diesem Text kommen ein intimes Verhältnis von JHWH zu seinem Volk sowie eine exklusive Verehrung JHWHs zum Ausdruck. Die Erzählung berichtet, dass das Volk Moses, der sich durch den langen Aufenthalt am Sinai zu entziehen scheint, durch Götter (Plural!) ersetzen will: »Wohlan mach uns Götter, die vor uns herziehen!« Mit Bezug zu Bet-El, dem Kultort des Nordreichs, schmolz ihnen Aaron aus ihrem Schmuck ein Kalb aus Gold. »Der Untergang des Nordreiches erhält somit quasi eine nachträgliche Begründung, und in Konsequenz erhält der Tatbestand der Bildverehrung den Charakter der Sünde, weil er zur Konkretion der von der Grunderzählung aufgegriffenen Forderung nach Jahwe-Alleinverehrung herangezogen wird. […] Um Bedeutung und Folgen der Abkehr des Volkes von Jahwe zu demonstrieren, setzt JE durch Ex 32 seine Reflexion zum Untergang des Nordreiches an dieser Stelle in die Sinaitheophanie ein.« Für Dohmen geht es beim Bilderverbot daher nicht in erster Linie um das Herstellen von Bildern, sondern um die Übertragung der Gotteserfahrung auf das Bild. Das bedeutet in der Konsequenz, dass das Bilderverbot eine viel größere Brisanz in Zeiten des monolatrischen Ringens um die Alleinstellung JHWHs hatte als in der Zeit des ausgebildeten Monotheismus ab der Exilszeit. Dohmens These lässt sich in einem Satz verdichten: »Das Bilderverbot verdankt also seine Entstehung der konkreten Situation einer theologischen Reflexion nach dem Untergang des Nordreiches.« Inhaltlich ist das Bilderverbot mit dem JHWH-allein-Anspruch verknüpft: »Das Fremdgötterverbot hat als Spezialfall das Bilderverbot im 8. Jahrhundert v. Chr. geboren. Somit stellt folglich Ex 32 im Kern keine Beispielerzählung der Übertretung des Zweiten Gebots dar, sondern kann eigentlich als seine Geburtsgeschichte gelesen werden.« Diese Verbindung des ersten und zweiten Gebots des Dekalogs, die in der ältesten Fassung von Dtn 5 noch ungetrennt waren, wird auch bei anderen so interpretiert. Jan Assmann sieht (zumindest im Ergebnis) ebenfalls Monotheismus und Ikonoklasmus miteinander korreliert: »Das zweite Gebot ist ein Kommentar des ersten: […] Der Kampf der Gegenreligion wird gegen die Bilder geführt.« Für Assmann ist das Bilderverbot letztlich ein Verbot der Weltanbetung und Weltvergottung: »Wer Bilder anbetet, verfällt der Macht und Schönheit dieser Welt und verschließt sich dem Wort des außerweltlichen Schöpfers. Dahinter steht genau dieselbe Bildtheorie

Levin 2001, 54

jehowistisches Geschichtswerk

3.2.3.

Ex 32,1

Dohmen 2012, 68f

Ebd., 69

Ebd. Monotheismus und Ikonoklasmus Hossfeld 1982, 161 Assmann 1998, 20f

240

Frühe Hochkulturen

Assmann 2009, 100

Oesch, persönliche Mitteilung Mettinger 1979, 15

van Meegen 2009

Keel 2007, 869

II.3.2.4.

Margreiter 2007, 98f IX.4.7.1. Ebd., 115

Schönheit

wie hinter der ägyptischen Bildpraxis. Die Bilder werden verboten, nicht, weil sie ohnmächtig sind, den wahren Gott darzustellen, sondern weil sie nur allzu mächtig sind, einen jener ›anderen Götter‹ zu verkörpern, […].« Der Innsbrucker Alttestamentler Josef Oesch will die Bilderlosigkeit des Judentums nicht automatisch als »Proprium dieser Religion« gelten lassen, sondern zeichnet einen Weg von einer faktischen bildlosen JHWH-Verehrung zu einer entsprechenden Programmatik. Er widerspricht damit auch Meinungen, wie sie Trygg­ ve N. Mettinger vertreten und das Bilderverbot als »differentia specifica« Israels bezeichnet hat. In der Zeit nach dem Exil und einem ausgebildeten Monotheismus wurde das Bilderverbot – ähnlich wie später im Islam – zu einem Kultbildverbot. Es verbietet weder Kunst noch das literarische oder gedankliche Bild. Die Textsorten im Alten Testament haben selbst häufig einen visuellen Charakter: Visionsberichte, Zeichenhandlungen, Bildreden. Man kann in der Tat pointiert von »Bildern einer Ausstellung« sprechen. Im Ezechielbuch ist in besonderer Weise das Horazsche ut pictura poesis realisiert. Es durchzieht ein surrealistischer Zug, aber in ihm taucht auch eine avancierte Metaphorik des künstlerisch Wertvollen auf. Wenn man dem Bilderverbot positive Aspekte abgewinnen will, dann ist es der Hinweis auf die Differenz zwischen Gott und dem körperverhafteten Menschen. Es bewahrt die Unverfügbarkeit JHWHs, der sich in statischen Bildwerken nicht zureichend darstellen lässt. Othmar Keel sieht darin einen Zug zur Geistigkeit, »insofern das Geheimnis Gottes respektiert und innerhalb der Theologie Raum für Rationalität geschaffen wurde.« Die abstrakte Geistigkeit dieser Religion war etwas, das die Griechen später bewunderten. Dieses Ersetzen eines handgreiflichen Bildes durch eine rationale Theologie bietet medienphilosophisch einen großen Reiz. Es lässt sich, wie oben beschrieben, mit dem Übergang von einer Bilder- in die Alphabetschrift verbinden. Für Eric A. Havelock, der allgemein in Kommunikationstechnologien (in Zusammenhang mit anderen kulturellen Faktoren) ein das kulturelle Bewusstsein prägendes Moment sah, förderte der Übergang von der Bilder- in die alphabetische Schrift das Abstraktionsvermögen. Nach Havelock habe erst die Alphabetschrift sowohl Philosophie und Wissenschaft als auch Kulturtechniken wie institutionalisierte Religion, Wirtschaft und Rechtssysteme ermöglicht. Ähnlich argumentierte der kanadische Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan, der mit seinen Publikationen zum sprichwörtlich gewordenen »Ende der Gutenberggalaxis« berühmt geworden ist. Havelock und McLuhan sind erst spät aufeinander aufmerksam geworden und haben ihre Übereinstimmung in dieser Frage nachdrücklich bestätigt. Das Argument selbst mag für diese frühe Zeit eines achsenzeitlichen Umbruchs – und dann auch wieder nur auf der Rezeptionsebene, richtig sein. Generell gilt das kaum, wie besonders schön am Hochmittelalter zu sehen ist, wo die Rationalität der Theologie zugleich mit dem Bild Höhepunkte erreichte. Eine zusammenfassende Bemerkung Christoph Dohmens kann uns zum näch­ sten Aspekt führen, zu dem der Schönheit: »Hat das Bilderverbot die Einheit, Ein-

241

Israel und der judäische Monotheismus

zigkeit und Unverfügbarkeit des Gottes JHWH im Laufe der Geschichte geradezu festgeschrieben, so hat das Alte Testament selbst in seiner Spätzeit das so gesicherte ›Gottesbild‹ neu in die Immanenz vermittelt, was alttestamentlich v.a. durch die Gott­ ebenbildlichkeitsaussage von Gen 1,26 als Basisformulierung theologischer Anthropologie geschieht.« In der Tat ist eine gewisse Verfügbarkeit Voraussetzung für das intensive Gemeinschaftsverhältnis zwischen JHWH und seinem auserwählten Volk. Zu solcher Verfügbarkeit gehört wohl auch, dass Gott ein ästhetisches Urteil zu seiner eigenen Schöpfung abgab. Am Beginn der Genesis steht in häufiger Wiederholung die Bemerkung, dass Gott seine Schöpfung für schön hielt. Allerdings bedeutet diese Lob weniger ein ästhetisches Lob für die geschaffene Welt, sondern kalos hat hier den Bedeutungsumfang des hebräischen ‫( טֹוב‬tôb) von gelungen, auch moralisch wohlgeraten. Trotzdem ist schwer auszuschließen, dass die jüdischen Übersetzer der Septuaginta im Alexandrien des 3. Jh.s.a ihrem griechischen Geist gemäß die ontologische Komponente des Schönen bewusst ansprechen wollten. Die Vulgata übertrug kalos (griech. schön) später mit bonum (lat. gut) und nicht mit pulchrum (lat. schön). Das entsprach der gängigen Entwicklung des Wortes, das schon in klassischer Zeit auch den Bedeutungsumfang von gut in sich trug. Man kann daher vermutlich zu Recht sagen, dass dasjenige, was biblische Ästhetik zu sein scheint, in Wahrheit griechischer Herkunft sei. Ähnliches gilt auch für andere Stellen des Alten Testaments, in den Psalmen und besonders im Buch der Weisheit, das zu Recht als »griechisches Buch« bezeichnet werden kann. Dort steht unter anderem der berühmte Satz: »Aber alles hast Du nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet.« Es ist unschwer, den pythagoreischen und im Gefolge platonischen Geist darin zu entdecken. Über das mit Abstand spektakulärste Element griechischen, genauer: platonischen Denkens schreibt Peter Schäfer in einer neueren Arbeit. Mit Verweis auf die Gleichsetzung von Weisheit (Sophia) und Tora bei Jesus Sirach (Sir 24,23) und der Anwendung dieser Gleichsetzung auf Gen 1,1, rekonstruiere eine rabbinische Tradition den Genesis-Vers mit: »Mittels/mit Hilfe der Torah erschuf Gott den Himmel und die Erde.« Und Schäfer fährt fort: »Damit ist die Torah, anders als in der kanonischen und nichtkanonischen Weisheitstradition, nicht nur die Erstgeschaffene der Schöpfung, sondern auch das Schöpfungswerkzeug Gottes. Wie ein Gleichnis im Midrasch weiter ausführt, schaute Gott bei der Erschaffung der Welt in die Torah, benutzte diese also gewissermaßen als Bauplan für seine Schöpfung.« Das ist nun nichts weniger als die exakte Übertragung des Demiurgen-Gleichnis Platons in diesen Kontext. Diese Kontamination der Hl. Schrift bzw. deren Auslegung mit griechischer Spekulation öffnet eine ebenso spannende wie komplexe Diskurssituation mit dem Neuplatonismus und bildet eine ergiebige Quelle von Motiven für die Kunstphilosophie. Diese Motive, vor allem wenn es um die Schönheit ging, wurden sehr bewusst gegen die verbreitete Zurückhaltung, ja Ablehnung des Schönen in der Bibel ausgespielt. Die Früchte des Baumes der Erkenntnis, die zum Ausgangspunkt für die Verfallenheit der Menschheit wurden, werden in der Vulgata als pulchrum oculis as-

Dohmen 2012, 75 Keel 1972, 157–220

Grundmann 1938

Weish 11,20 Boman 1954

Schäfer 2017, 37 III.2.4.3.2.5.f.

242

Frühe Hochkulturen

V.3.2.

pectuque delectabile, also schön für die Augen und lustvoll anzuschauen bezeichnet. Dem Gott des Alten Testaments kommen großartige Attribute zu, die Schönheit ist jedoch nicht dabei. Schönheit steht für falsche Eitelkeit und sie steht weiters für unerlaubte Vergegenständlichung. Eine Besonderheit ist nochmals die Textsorte der Bibel selbst. Ganz anders als der Koran, dessen Rezitation per se ein ästhetisches Erlebnis ist, hat die Bibel, abgesehen von einigen Teilen und Prophetenreden, kaum eine poetische Kraft. Sie ist kein literarisches Kunstwerk, weshalb man den Blick – auch in Kunstdingen – auch weniger auf die Form als mehr auf den Inhalt richtet.

3.2.6.1. Kunst

IV.4.3./IV.5.2.2.

Keel 1972 Berlejung 1998, 162, 315–369; Pfeiffer 1924 Ex 31,2–6; 36,1f; 37,1; 38,22 Ex 35, 30f

Jes 44,15–17 Hos 2,4–17

Bei der Programmatik des Bilderverbots lag der Fokus auf dem monolatrischen Alleinstellungsanspruch JHWHs. In einem klar monotheistischen Programm lässt sich entspannter über die verschiedenen Konnotationen JHWHs räsonieren: Einmal war er der alleinige Gott, der keine anderen Gottheiten neben sich haben durfte. Damit verlor er den Eigennamen und jede Konkretion im Bild. Aber er war auch der (altorientalische) Bewahrer der kosmischen Ordnung. Diese Funktion trug er als Schöpfer des Himmels und der Erde in sich. Dass dieser Aspekt nicht zwangsläufig mit Bildlosigkeit verbunden werden muss, zeigt die Deutung, die der kosmische Schöpfergott in der Darstellung des byzantinischen Pantokrators (in dem Schöpfergott und Christus verschmolzen) erhielt. In einem gewissen Widerspruch zur Bildlosigkeit stand die Erzählung, dass Gott den Menschen nach seinem Vorbild machte. Es ließen sich daher Argumente finden, um das biblische Bilderverbot auf den Kult zu beschränken, nicht aber auf Vorstellungen, die man sich von Gott machte. Es wurden bis heute keine unstrittigen Darstellungen gefunden, die man auf JHWH beziehen kann, wohl aber finden die Archäologen zahlreiche Statuetten, welche einzelnen Charaktereigenschaften (thronende Gottheit, Typus des die Feinde erschlagenden Gottes, Sonnensymboliken, auch Fruchtbarkeitsgottheiten), die ihm im Alten Testament zugeschrieben werden, zeigen. Im Vordergrund der ablehnenden Texte stehen schließlich die Argumente der Materialität und des Herstellungsvorgangs. Bei Moses waren noch die vom Geist Gottes erfüllten Künstler Bezalel und Oholiab am Werk, die aus allen möglichen Materialien – darunter auch Holz – Kultgegenstände fertigten. »Moses sprach zu den Israeliten: Seht, der Herr hat den Bezalel, […] mit Namen berufen und hat ihn mit göttlichem Geist erfüllt in Weisheit, in Einsicht und Erkenntnis für jegliches Werk.« David hatte der Kunst Gold und Silber zur Verfügung gestellt. Salomon holte Kunsthandwerker aus Tyros und bezahlte sie gut. Der Deuterojesaja hingegen erregte sich darüber, dass der Künstler Gott aus dem niederen Material Holz, das man sonst zum Heizen verwendet, wie nebenbei gestaltet. Schenkte JHWH bei Hosea seiner Frau Israel Gaben der landwirtschaftlichen Produktion, Getreide, Wasser, Reben,

243

Israel und der judäische Monotheismus

Feigenbäume, so bekam sie bei Ezechiel Schmuck und Gewänder aus edlen Materialien. Die Beschreibungen des Salomonischen Tempels und dessen reicher Ausstattung legt ein unverkrampftes Verhältnis zu Kunst und Luxus nahe. Bei David gab es ein Muster und einen (wie bei den Bauherren im Alten Orient üblich) direkt von Gott mitgeteilten Plan für Kunst und Architektur. Im Buch Jesaja werden die Künstler als Götzenschnitzer apostrophiert, die aus eigenem Gutdünken handeln. Solche Religionssatiren sollten die Arbeit der Künstler als Kult von »Götzendienern« desavouieren. Die Verdammung der Bilder lief auf die Trivialisierung durch die Künstler, die Banalisierung des Herstellungsvorgangs, des Materials und des ikonographischen Programms hinaus. Holz war nicht mehr kostbar, sondern bloß billiges Heizmaterial. Dementsprechend lächerlich musste es erscheinen, daraus Gottesbilder zu fertigen. Ähnliche Argumente tauchten im mittelalterlichen Bilderstreit wieder auf. Es gab indes auch eine Polemik gegen wertvolle Materialien wie Gold. Dabei ging es nicht um den Herstellungsvorgang, vielmehr »wird deutlich, daß mit diesem Begriff auf die mit den Edelmetallen im Alten Orient verbundenen mythischen und magischen Vorstellungen abgehoben wird.« Zudem verbreitete sich ganz generell im 7. Jh., der Zeit der Propheten, eine jedem Luxus gegenüber kritische Einstellung. Der Prophet Amos, selbst vielleicht ein Kleinbauer, der sich der erdrückenden Macht der Großgrundbesitzer gegenübersah, lässt nichts Gutes an einer luxuriösen Lebensweise: »Wehe denen, die ruhen auf Elfenbeinlagern […], die wie David sich Musikgeräte ersinnen; die aus Weinschalen trinken und mit feinstem Öl sich salben.« Nach altorientalischer Vorstellung brachte die Herstellung von Kultbildern Segen, deren Zerstörung Fluch, hier wird das umgedreht. Horst Dietrich Preuß verwies auf das vorlaufende Substrat Hoseanischer Polemik gegen Bet-El. Eine besondere Schnittstelle wurde das Eindringen des bilderfreundlichen Hellenismus. Jerusalem war nun mit der gesamten Palette der Kunst und Architektur der späten griechischen und römischen Zeit konfrontiert. Aus hellenistischer Zeit stammen die Grabmäler in der Nekropole im Kidrontal, das zum Ölberg führt, darunter die Gräber Absaloms und Zacharias’. Wohlhabende Juden leisteten sich Sarkophage und Ossuarien aus Holz oder Stein, die mit orientalischen und griechischen Motiven verziert waren. Etliche Exemplare fand man in den Königsgräber genannten Nekropolen von Jerusalem. Als Hadrian Jerusalem in die Garnisonsstadt Aelia Capitolina umwandelte und sie für Juden (genauer: für Beschnittene) sperrte, wichen diese mit ihren Nekropolen an andere Orte aus, wie Beth Schearim. Die Ausstattung dieser Anlage trägt jüdische Motive (obzwar immer noch mit vielen griechischen Inschriften und hellenistischen Einflüssen), blieb in der Ausführung aber auf bescheidenem Niveau. Hellenistisch war auch die reiche künstlerische Ausstattung, die manch eine ursprünglich schmucklose Synagoge (Alexandrien, Dura Europos) erhielt. Talmud-Berichte sprechen von etlichen Fußbodenmosaiken in Synagogen aus dem 3. und 4. Jh.p. Erst ab dem 5. Jh.p wurde das Bilderverbot rigoroser eingehalten. Es betraf – übrigens analog zum Bilderverbot im Islam – die Abbildungen von Menschen und Tieren im Kultraum, Dekoration blieb zulässig.

Ex 25,9.40 1 Kg 6f; 2 Chr 3

1 Chr 28,11–13 Jes 44, 9–13

Jes 40,19f; 41,7; 45,16; 46,6 IV.8.3.

Dohmen 1987, 60

Am 6, 4–6

Preuß 1971 Hellenismus

111 H­ ellenist. Felsengrab (Monument) im Kidrontal (1. Jh.a); Jerusalem

Gutmann 1984 V.3.3.2.

244

Frühe Hochkulturen

IV.3.4. IV.5.2.1.

Magall 1984, 135f Gerke 1967, 25 Kemp 1994, 39 IV.3.4.

Beyer-Lietzmann 1930 Cohn-Wiener 1929 Frey 1931; Frey 1930 Baumstark 1954, 296f

Magall 1984, 95

In Dura Europos gab es neben einer kleinen christlichen Kapelle, deren vermutlich für Taufen genützter Nebenraum 232p wenig qualitätvoll unter anderem mit dem Guten-Hirten-Motiv geschmückt wurde, die Synagoge. Diese wurde um 245p mit zahlreichen alttestamentlichen Zyklen und Szenen aus der Geschichte Israels ausgemalt. Sie ist uns hervorragend erhalten, weil sie (wie auch die frühe Hauskirche) zugeschüttet und als Verteidigungswall gegen die Sasaniden diente, die die römische Garnisonsstadt 256p zerstörten. »Diesen Bildern entströmt unverkennbar der Hauch orientalischer Kunsttraditionen: Die Gesichter sind ausdruckslos, die Augen starren ins Leere, die Bewegungen sind klischeehaft, die statischen Figuren frontal wiedergegeben. […] Die Darstellung der Personen ist demnach weit entfernt von den naturalistischen Begriffen der hellenistischen Kunst wie auch den Vorstellungen der offiziellen römischen Kunst.« Demgegenüber vermutet Friedrich Gerke sehr wohl ein älteres hellenistisches Vorbild. Wolfgang Kemp verweist auf die »spätantike[n] Religionskonkurrenz«, um die Wende der Juden zur Sinnenfälligkeit verständlich zu machen. Die zahlreichen Feste und das überreiche Ritualleben förderten eine Kleinkunst für diverse Teller, Becher, Büchsen und andere Kultgegenstände aus Metall und Holz. Zu den häufigsten jüdischen Motiven gehört der siebenarmige Leuchter (Menora) und der Toraschrein, etwa auch in den jüdischen Katakomben Roms (Monteverde, Villa Torlonia, Vigna Randanini), sogar in Gesellschaft mit heidnischen Motiven, darunter Siegesgöttinnen, dionysische Szenen, Jahreszeiten. Auch in der orientalischen Diaspora (von babylonischen und palästinensischen Rabbis wurde das Darstellungsverbot auf wenige Darstellungen eingeschränkt) gab es Motive aus Syrien und Ägypten. Es könnte sein, dass diese erstaunliche Mischung Ausdruck einer schnellen Assimilation der jüdischen Gemeinden in der Umgebung war, dass also »die Dekoration von Grabkammern und Sarkophagen der zeitgenössischen Mode folgte. Möglicherweise dienten die hellenistischen Motive, jeder religiösen Bedeutung entblößt, lediglich als Hintergrundmalerei.« Erst in der Makkabäerzeit des 2. Jh.s wurde die Feindlichkeit dem Bild gegenüber parallel zum sich verschärfenden Gegensatz zur hellenistischen Umwelt neu stimuliert.

3.2.6.2. Der Tempel- und Synagogenbau

Busink 1970, 353–485 1 Kön 7,15–22

Über die Architektur, namentlich den Tempelbau, sind wir allen Rekonstruk­tions­ versuchen zum Trotz schlecht informiert. Der in Palästina gebräuchliche ­Tempel war jedenfalls eine axiale Anlage, bestehend aus einem dunklen Allerheiligsten (in dem Gott thronte), einem Hauptraum (Cella) und einem Vorraum (Antecella), der von den Säulen Jachin und Boas getragen wurde. Manchmal standen die Säulen auch frei vor einem vermauerten Raum. Je nach Definition nennen Autoren den Tempel drei-, zwei- oder einräumig. Dazu kamen ein oder zwei Vorhöfe mit Bäumen als Ausdruck der Segensmacht JHWHs, in denen Rituale abgehalten wurden.

245

Israel und der judäische Monotheismus

Die ganze Anlage entsprach einem linearen Weg, der möglicherweise die Heiligkeit des Gottes zum Ausdruck brachte. »Alle diese Anlagen ließen den Frommen (wirklich oder geistig) durch immer heiligere Bezirke und über verschiedene Treppen zur geheimnisvoll entrückten Gottheit emporsteigen.« Eine analoge Bedeutung der Längsachse werden wir bei der Wahl der Basilika als Kultraum in der Spätantike wiederfinden. Allerdings gab es auch Breitraumtempel (etwa in Arad), wo die Menschen unmittelbar vor dem Kultbild standen. Offenbar war dieser Typus eher auf dem Land gebräuchlich. Das Aussehen des Jerusalemer Tempels ist unbekannt und die Rekonstruktionsversuche bleiben spekulativ. Die äußerst knappe Beschreibung in 1 Kg 6 bildete immerhin das Vorbild für Kirchenbeschreibungen noch im Mittelalter. Aus verschiedenen Äußerungen scheint der Tempel, wie schon erwähnt, ursprünglich zwei Allerheiligste besessen zu haben, eines mit dem leeren Thron und eines in einer Seitenkapelle mit der Lade. Er stand, wie es der altorientalischen Vorstellung entsprach, auf einem Berg. In Schriften des Alten Testaments wird Jerusalem als Berg Zion, als Ort des Tempels identifiziert, zu dem man hinaufsteigen musste, wobei Zion sowohl für den Tempel (als Wohnort JHWHs) als auch für Jerusalem stand. Der Bau des Tempels durch Salomon, für den er Handwerker aus Tyros holte – unter ihnen namentlich den Kunstschmied Hiram – war ein erster Höhepunkt der Jerusalemer Architektur. Der Herodianische Tempel, um ein Vielfaches prachtvoller, um 23a begonnen, kann wie alle anderen Bauten des Herodes nicht (wie Miriam Magall das insinuiert) als Schöpfung der Juden betrachtet werden, sondern ist Teil der hellenistischen Architektur. In der Zeit des fehlenden Tempels im Exil trat als sakraler Raum die Synagoge in den Vordergrund. Ob diese Zeit den Beginn des Synagogenbaus markiert, ist unklar. Ein früherer Beginn, etwa zur Zeit Salomons, gilt allerdings als unwahrscheinlich. Die Synagoge war – wie der griechische Name (synagoge/Versammlung) sagt – ein Versammlungshaus für den religiösen Kult und für die Lehre. Sie war für jedermann offen und nicht wie der Tempel nur einer priesterlichen Elite zugänglich. In der Synagoge, die durch die Verstärkung der Tora-Verehrung seit Esra den Tempel schließlich verdrängte, fanden Gottesdienst und Tora-Lehre zusammen. Sie wurde zu einem die jüdische Gemeinde integrierenden kulturellen und sozialen Zentrum. Solange es nach dem Exil den Tempel gab, blieb dieser der Ort des Gebets, während die Synagoge der Gemeinde diente. Eine der größten Synagogen stand um die Zeitenwende in Alexandrien, diesem Schmelztiegel der Kulturen. Ursprünglich war die Synagoge ein rechteckiger oder quadratischer Bau mit drei Toren, zwei kleinen und einem großen in der Mitte. Das Innere war durch Säulenreihen in Schiffe gegliedert. Für die Frauen wurde eine Empore eingerichtet. Diese basilikale Form wurde im weiteren Verlauf zunehmend verbreitert und die Toranische erhielt einen festen Ort. Die Ausstattung des Innenraums war meist schmucklos und karg, immer wieder – so auch in einer der am besten erhaltenen Synagogen, jener von Kapernaum – tauchten aber auch figürliche Darstellungen (mit heidnischem Ursprung) auf. Auf die außergewöhnliche bildliche Ausstattung der Synagoge von

Keel 1972, 118 IV.5.2.ff.

Keel 2007, 290ff Arnulf Arwed in Locher 2008, I, 47 Keel 2007, 293

Magall 1984, 54–65

246

Frühe Hochkulturen

Dura Europos wurde bereits hingewiesen. Aber es gab auch andernorts eine künstlerische Ausgestaltung, meist Fußbodenmosaike mit hellenistischen und orientalischen Motiven (Synagogen von Hammath-Gader, Hammath-Tiberias, Beth Alpha, Beth Schean, Sepphoris)

4.0. Der Alte Orient – Ein kultur- und kunstphilosophisches ­Resümee

X.2.5.

Nunn 2012, 167

Winter 1981 IV.6.2.3./X.2.2.ff.

Eine Zusammenfassung der Entwicklung im Alten Orient entspricht nichts Geringerem als einem Resümee über den Beginn der menschlichen Kultur, in der wir uns bewegen. Wenn ich im folgenden Abschnitt III über die antike Kultur Griechenlands anmerken werde, dass »überall, ob in der Philosophie, Literatur, Kunst oder Architektur die Wurzeln und zumeist der Maßstab genau dort«, nämlich in der Antike, lägen, muss an dieser Stelle ergänzt werden, dass es kaum ein kulturelles Motiv gibt, für das der Wurzelgrund nicht bereits im mesopotamischen Alten Orient bereitet war. Das betrifft die Erfindungen von Schrift, Wissenschaft, Rechts- und Wirtschaftssystemen, die Entwicklung der Sozialordnung, die Herausbildung der Institution des Königtums und reicht bis zu Kunst und Architektur. Es ereignete sich dort die architektonische Grundlegung der Häuserformen, unter ihnen die Basilika, der Palast- und Festungsbau und die Gründung verschiedener Formen der malerischen und bildhauerischen Kunst. Der isolierte Blick auf die künstlerische und architektonische Form griffe freilich zu kurz. Bedeutungsvoller und für den Blick des Philosophen aufregender ist, dass sich bereits dort die Form aus der jeweiligen Funktion und Sinngestalt ergab. Die Kunstform war nie Selbstzweck, sondern die Umsetzung von kulturellen Erzählungen. Ob sich das in der Moderne des 20. Jh.s tatsächlich änderte und die Kunst zu einer völlig autonomen Selbstreferentialität gelangte, wie manche das sehen, ist keineswegs klar und wird uns dort zu beschäftigen haben. Im Alten Orient und weit darüber hinaus war Kunst jedenfalls die Umsetzung kultureller Erzählungen: »In den antiken Kulturen sind Bilder Denkbilder, hinter denen Konzepte stehen. So gab es im Alten Orient keine ›l’art pour l’art‹. Selbst geometrische Muster, Flechtmuster, Rosetten oder Zinnen gehörten auch zum weiten Gebiet des zugleich Ästhetik und Schutz bringenden Dekors.« Manche Kunsthistorikerinnen unterscheiden zumindest zwei Register narrativer Kunst. Sie zeige einerseits ein historisches, nicht wiederholbares Geschehen, andererseits stelle sie Rituelles und Magisches vor, das Raum und Zeit übersteigt und aus der Wiederholbarkeit lebt. Was hier angesprochen wird, ist eine Doppelcodierung von Bildkunst im Alten Orient: mimetisch und symbolisch. Eine solche Doppelcodierung durchzieht die Kunst in der einen oder anderen Weise grundsätzlich. Die Kunst als kulturelles Genre diente dem Kult oder dem Königsmythos. Die Figur



247

Der Alte Orient – Ein kultur- und kunstphilosophisches R­ esümee

hatte im Alten Orient ihre Bedeutung aus der magischen Realpräsenz, das Ornament war – zumindest in weiten Bereichen – nicht einfach interesseloses Spiel: »Gerade im Alten Orient ist jedes Motiv von der Rosette bis zur Löwenjagd auch symbolisch und religiös bedeutungsvoll.« Kunst konnte Teil eines religiösen Rituals sein. Aber auch dort, wo die Kunst scheinbar profane Stoffe abhandelte, blieb sie, beispielsweise über den Königsmythos, der die Vermittlung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen absicherte, mit einem religiösen Kontext im weitesten Sinn verbunden. Ein anschauliches Motiv dazu ist die von Astrid Nunn erwähnte Löwenjagd. Das Motiv taucht auf der bislang ältesten Stele Mesopotamiens, einer Basalt-Stele vermutlich aus der Uruk-Zeit (um 3200), auf und normierte ein Motiv, das immer wieder verwandt wurde. Barthel Hrouda vermutete die Bedeutung eines Herrschers, »der sein Volk vor drohenden Gefahren schützt wie ein Jäger beziehungsweise Hirte die Herde vor dem mächtigsten aller Raubtiere«. Dass die Jagd, die seit dem Neolithikum nicht mehr zum Alltagsgeschäft des Überlebens gehörte, als Statussymbol erhalten wurde, mag in der Tat eine »reine Demonstration der herrscherlichen Tötungsmacht« gewesen sein: »Vornehmste Jagd war darum die auf Raubtiere; […].« Die Bilder müssen demnach immer doppelt gelesen werden: nach der mimetischen Abbildung und ihrer überhöhten symbolischen Bedeutung. Der König als Bezwinger von Tieren und Feinden ist Ausdruck seiner Machtfülle und Stärke. Der König als Bauherr (Stele mit Assurbanipal als Korbträger; 648a) wiederum zeigt die kulturelle Überlegenheit des von ihm geleiteten Staates. Bei dieser Sachlage ergibt sich auch, dass man den Grad des repräsentativen oder symbolischen Gehalts verschieden bewerten kann. Irene Winter sieht in den Reliefs des assyrischen Königs Assurnasirpal einen erheblichen Einsatz von kultischer und mythologischer Narration. »The cultic and mythological scenes require a considerably greater degree of symbolic representation-images for which one must have prior knowledge of the story or custom behind what is represented.« Es geht um Kommunikation und Rhetorik. »[…] the historical narratives in Neo-Assyrian palaces function as prime vehicles for royal rhetoric.« Was im Alten Orient gründet, ist demnach die kulturelle Erzählung, welche die künstlerische Form mit Bedeutung auflud. Zum Unterschied von der urgeschichtlichen Zeit lässt sich diese durch vorhandene Quellen einigermaßen rekonstruieren. Das ist mit Bedacht gesagt. Denn die Frage nach dem Zusammenspiel von kultureller Erzählung und nachfolgender künstlerischer Form bzw. umgekehrt von mimetischer Verwandlung einer beeindruckenden Naturform zur Kunstform und ihrer nachfolgenden Hochrüstung durch eine kulturelle Erzählung ist außerordentlich anregend, wenngleich auf einer empirischen Basis kaum befriedigend zu beantworten. Dazu kommt der ebenso spannende wie schwierig zu verfolgende Transfer solcher Erzählungen über die Netzwerke der Handelsverbindungen. Dabei kam es zu Abweichungen, Adaptionen, Umdeutungen der kulturellen Erzählungen, damit auch der Form und Bedeutung von Kunst und Architektur. Gerade der Alte Orient in seiner Gesamtheit, also mit allen drei Teilaspekten dieses Kapitels, ist ein Beispiel

Nunn 2012, 147

1.2.3.

Hrouda Barthel in Hrouda 1991, 330 Burkert 1972, 54

Winter 1981, 29/32

X.5.0.

248

Frühe Hochkulturen

Kaelin 2006, 30

Ebd., 19

Ebd., 31

von Kulturtransfer, von Diffusion und von Innovationen. Bereits die Imitation einer Innovation in einem je eigenen kulturellen Kontext kam einem schöpferischen Akt (Wiedererfindung) gleich: »Bei der Wieder-Erfindung wird eine Innovation den Bedürfnissen der adoptierenden Einheit angepasst.« In der einschlägigen Forschungsliteratur gibt es dazu zwei sich widersprechende Positionen: (1) das monogenetische, diffusionistische Modell geht von einer einmaligen Erfindung kultureller Erzählungen und ihrer Verbreitung über die üblichen Kanäle aus. (2) Das polygenetische Modell setzt demgegenüber weitgehend auf unabhängig voneinander entstandene Erzählungen, sodass sich für die Vertreter dieser These in extremis die Frage nach gegenseitigen Beeinflussungen gar nicht stellt. Eine kritische Würdigung der Positionen auf dem Hintergrund der sie leitenden Interessen mag in einer systematischen Theoriediskussion auf der Grundlage einer minutiösen Auswertung von archäologischem Material angemessener sein als an dieser Stelle. Faktum ist jedenfalls, dass die zweite Position wenige Anhänger gefunden hat. In der Tat scheint eine sorgsame Erweiterung des erstgenannten Modells, wie es etwa Oskar Kaelin vorgeschlagen hat, der produktivere Weg zu sein. Diffusion ist keine einfach gestrickte Angelegenheit, vielmehr muss eine Innovation, die exportiert und in einem anderen kulturellen Umfeld importiert wird, »in das bereits Vorhandene und Bekannte integriert werden«. Die Fragen sind nicht zuletzt deshalb schwierig, weil es einen großen Unterschied macht, ob es um die Verbreitung beispielsweise einer technischen Neuerung geht, die unter Umständen wenig Resonanz im neuen kulturellen Koordinatensystem hervorruft, oder ob es um kulturelle Paradigmen mit größerer Sprengkraft geht. Ein Königsmythos, das Verhältnis von Stadt und Kosmos, religiöse Erzählungen oder die Frage nach dem Sinn des Bildes berühren die kulturellen Üblichkeiten wesentlich empfindlicher und sind damit deutlicheren Veränderungen unterworfen. Eine andere Eigenheit, die archäologisch zu Schwierigkeiten führt, ist die Struktur der Empfänger von Innovationen (Adoptoren). Bei ihnen gibt es für solche Innovation eine verschiedene Bereitschaft zur Annahme, abhängig von Faktoren wie Bildungsstand, sozialer Raum, Weltoffenheit. Abhängig von solchen Rahmenbedingungen sind auch die Strategien der Diffusion von kulturellen Erzählungen verschieden. Es kann sein, dass eigene Innovationen durch den fremden Import verbessert werden oder dass eine fremde Kultur dem Empfänger als dermaßen bedeutend erscheint, dass sie ambitioniert als eigene Neuerfindung bezeichnet wird. »Eine Idee wird übernommen, aber bewusst verändert und umgearbeitet, so dass sie sich ausreichend vom Original unterscheidet, um als eigene Kreation dazustehen. Eine reine, eindeutige Nachahmung würde das Prestige der Elite gefährden, da dadurch Anpassung und Uniformität mit dem Vorbild statt Selbständigkeit demonstriert würden.« Oskar Kaelin geht es bei seiner propädeutischen Standortbestimmung zu diesem Thema besonders um die Kommunikation, die für jeden Kulturtransfer eine zentrale Voraussetzung ist. Dabei bedient er sich des originellen Begriffs Massenmedium. Ein solches ist für ihn nicht nur das Rollsiegel, das zwar mobil, aber nur



249

Der Alte Orient – Ein kultur- und kunstphilosophisches R­ esümee

einem kleinen Kreis zugänglich und wegen seiner komplexen Darstellungen überdies schwer entzifferbar war, sondern auch der Monumentalbau. Die Monumentalarchitektur »ist zwar nicht mobil, allerdings kann sie von vielen Menschen über weite Distanzen wahrgenommen werden. Somit spricht sie denjenigen menschlichen Sinn an, der am weitesten reicht, nämlich den Sehsinn.« Neben den grundlegenden kulturellen Erzählungen, die letztlich zu Kunstformen führen, muss man auch bei der Karriere ästhetischer Kategorien im Alten Orient beginnen. Die bedeutendsten Paradigmen dafür sind der Zyklus der Natur mit der Spannung von chthonischem und solarem Aspekt und die historische Dimension, etwa im Sinn des historischen Gottes Jerusalems. Aus diesen beiden Paradigmen speist sich aus der Harmonievorstellung (des Naturzyklus) und der solaren Lichtmetapher der Schönheitsbegriff. Auf diese Grundlage des Naturzyklus trifft man im Alten Orient überall und Kunst und Architektur sind ein Spiegel davon: »Sumerian art, although born in the newly founded cities, expressed man’s unshakeable attachment to nature.« Eine ebenso wichtige Rolle spielt die Metaphorik des Lichts: »The quality of intense light, or radiance, emanating from a particular work is one of the most positive attributes in descriptions of what we would call Mesopotamian ›art‹.« Den Tempeln sagte man nach, sie strahlten wie himmlische Körper. Bei der Renovation von alten Tempeln durch die Assyrer wurden die Mauern mit Gold oder Silber belegt, um sie zum Strahlen zu bringen. So wie Götter und Tempel strahlten, trugen Könige eine Aura und waren schön. Abbildungen eines Waste-Land-Szenarios, das durch das Ausbleiben der Sonne oder durch das Zerbrechen der Harmonie des Naturzyklus entsteht, sind zahllos. Es wird überwunden durch das neue Erscheinen der Sonne und mit ihr des Ordnungsstifters, der die Feinde schlägt oder durch das Erscheinen der Naturgöttin, die (wie auf Gefäßen von Chafadschi) die wilden Tiere bezwingt. Diese Beispiele zeigen aber auch, dass die Frage, ob sich diese beiden Paradigmen widersprechen, durchaus nicht trivial ist. Zwar durchbricht der historische Gott die Struktur des unpersönlichen Geschicks des Naturzyklus, aber das ist nur einer von mehreren Aspekten. Dass das Erzeugen von Schönheit durch das Ordnung-Schaffen eines Demiurgen eine politische Relevanz hat, liegt nahe. Die »Logos« der die Feinde abwehrenden Könige auf den Stelen im Alten Orient und auf den Tempelpylonen in Ägypten sind in dieser Hinsicht eindrucksvolle Bilder von der ordnenden Kraft des Königs und damit seiner Schönheit. Daher gebot auch der Geschichtsgott JHWE der Natur. Im Kontext dieses Ordnung-Schaffens erhielt die Heilige Hochzeit des Himmelsgottes mit der Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin eine besondere Bedeutung. Sie sicherte Fruchtbarkeit des Landes und in weiterer Folge die Nachkommenschaft des Königs als Garant des Bestandes des Reichs. Ein Kanon von Proportionen, in der mesopotamischen Kunst weniger klar erkennbar als in der ägyptischen, weist bereits weit in eine abstrakte Sphäre, die sich aus der Solarisierung des Göttlichen konsequent ergab. Es brauchte starke Rituale, die magisch die Verbindung von Himmel und Erde schufen. Tänze als Abbild der

Ebd., 26

Frankfort 1954, 24

Winter 1994, 123/124 Ebd.

III.2.4.3.2.5.f.

250

Frühe Hochkulturen

Andrae 1964, 29

V.5.3.2. Ebd., 20

4.0.

zit. nach Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 223

Jacobsen Thorkild in Frankfort u.a. 1946, 221 IX.5.2.6.1.

Keel 1972, 259

Ebd., 259

Grätz 1998

zit. nach Keel 1972, 259

kosmischen Bewegungen sind »gleichsam in den Erdenkreis übertragene Sternenbahnen. Mähler sind ursprünglich Kommunionen mit den Göttern […].« Der Sinn von Prozessionen lag in der Kommunikation mit dem Göttlichen, die in Form der Kultstatue realpräsentisch angeboten wurde. Prozessionen erlebten im Mittelalter und in der Barockzeit einen neuerlichen Aufschwung. Sie dienten der Darstellung des Körpers der Kirche, besonders ausgeprägt beim Fronleichnamsfest. Zweifellos mag die Prozession auch einen pädagogisch-therapeutischen Anteil haben. Sie sollte die Menschen heilen »vor den Gebresten des Alltagslebens und der Verkümmerung der Organe, die zum Fortschritt gebraucht werden.« Diese Figur wiederholt sich – vergeistigt – in der anagogischen Funktion der Kunst und Architektur. Der politische Gehalt beider Paradigmen ist immer wieder erkannt worden. Politisch-sozial ergibt sich diese höhere Ordnung für den Altorientalen aus dem Gehorsam zu den Autoritäten, die wiederum den Willen der Götter umsetzen. »Der Befehl des Palastes ist wie Anu’s Befehl unabänderlich. Des Königs Wort ist recht; seine Rede kann so wenig wie die eines Gottes geändert werden.« Die Rituale solcher Lebenszyklen der Natur waren letztlich Feste mit politischer Dimension: »Durch diese Feste, die Staatsfeierlichkeiten waren, trug der Menschenstaat zur Beherrschung der Natur bei, zur Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung. In den Riten sicherte der Mensch das Wiederaufleben der Natur im Frühling, gewann den kosmischen Kampf gegen das Chaos, aus dem er jedes Jahr von neuem die geordnete Welt erschuf.« Der Blick auf die Kunst muss solch performative Aspekte stets im Auge behalten, denn Kunst war in ihren Ursprüngen meist performativ und nicht statisch. Unser Blick, dem die rituelle Begleitung von Bild- und Architekturwerken meist abhanden gekommen ist, begnügt sich mit einem screenshot und missversteht diesen als die authentische Wiedergabe des Kunstwerks. Soweit die Gottheit überhaupt eine bildliche Darstellung erfahren hat, hat sich dies auch auf den König übertragen. Im Alten Orient galt der von Gott gesegnete König als schön. »Du bist der Schönste unter den Menschen! Anmut strömt über deine Lippen. Darum hat dich Jahwe für immer gesegnet!«, heißt es etwa im Psalm 45. Schön wird er auch stets dargestellt. »Nur ganz selten verdrängen porträthafte Züge das idealisierte Bild.« Schönheit bedeutete in diesem Zusammenhang die Fülle von sinnlichen Impulsen wie Farben, Gerüche, Glanz und die Zeichen von Macht und Stärke. »In der geballten Kraft der gezügelten Pferde und im Aufsteigen auf das elegante Gefährt manifestieren sich die Schönheit und Herrlichkeit des Königs.« Diese Macht kann deshalb Teil des Schönheitskonzepts sein, weil sie instrumentalisiert war auf das Ordnung-Schaffen. Die ganze Vegetation blüht auf, wenn der König den Thron besteigt und der Wettergott Hadad/Adad/Tesub, der auch Unheil und Fluch schicken konnte, darauf mit Wohlgefallen reagiert. In einer Inschrift von Assurbanipal hieß es: »Seitdem ich mich auf den Thron des Vaters, meines Erzeugers, gesetzt hatte, ließ Adad seine Regengüsse los, spaltete Ea seine Quellen, wuchsen die Wälder gewaltig, schossen die Rohrstauden in den Dickichten empor […].«

251

Die Theorie der »Achsenzeit«

Unter soziologischem Gesichtspunkt gesehen begann das Schöne mit Herrschaft und Ordnung-Stiften, also als Ästhetisierung des Politischen. Die Erzählung des Ordnung schaffenden Königs setzt jene von Weltschöpfung und Welterhaltung voraus. Marduk »hat die Sonnenkräfte des Jahresrhythmus in sich geeint und strahlt sie aus wie Schamasch, der Sonnengott; er ist Herr aller Götter des Kosmos, deren Wirken und Lauf er regiert und zum Weltenschicksal gestaltet.« Was Walter Andrae hier beschreibt, ist ein zentrales Narrativ der nachfolgenden Kulturgeschichte. Sie leitet die Harmonie vom Lauf der Sonne ab, parallelisiert sie mit dem Göttlichen und situiert sie im Kosmos. Dieser Zusammenhang wird uns nicht mehr verlassen. Er prägte namentlich manchen Thronsaal nicht nur in der römischen Antike, sondern auch noch im Mittelalter, wo er als Abbild des Kosmos verstanden wurde. »Denn, wie die astrologische Weltanschauung und der Astralkönig altorientalisches Erbe sind, so steht natürlich auch der astrale Königssaal als Verkörperung dieser Ideen.« Als eine der leitenden Grundgedanken dieses Fazits könnte man die Kommunikation zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre in den Vordergrund rücken, was Konsequenzen für Kunst und Politik nach sich zog, Genres, die sich hier nicht voneinander trennen lassen. Mit Blick auf die erwähnten Felsmonumente der Hethiter deutete Walter Andrae solche Abbildungen: »Man fand sie jedes Jahr wieder, konnte sich im Zeitenrhythmus mit ihnen vereinigen, auch als das Zusammentreffen ›im Geiste‹ verlorengegangen und eine sinnlich wahrnehmbare Hilfe dafür vonnöten war.« Andrae sah im griechischen Einfluss schließlich den Verlust des Bildes durch das Wort. Aber: »Freilich hat das Griechentum nicht vermocht, orientalischen Geist gänzlich zu überwinden. Überall schaut derselbe heraus aus der Planung und dem Aufbau der Tempel, aus dem kultischen Handeln, aus der Überlieferung der Kunst, aus der Richtung des Denkens.«

Andrae 1964, 16

L’Orange 1973, 299

Andrae 1964, 21

Ebd., 54

5.0. Die Theorie der »Achsenzeit« Der klassische Philologe Wilhelm Nestle unterstellte 1940 mit seinem Buchtitel Vom Mythos zu Logos, der zu einer immer wieder und gerne verwandten handlichen Kurzformel wurde, eine paradigmatische Zeitenwende, die in die Hochkultur der antiken griechischen Welt projiziert wurde. Etliche andere Philosophen und Historiker suchten die den aufgeklärten Geist faszinierende Wende an prägnanten Markierungen fest zu zurren. Für Ernst Cassirer bedeutete der Ausdruck arche, der zwar von Aristoteles stammt, aber auf die ersten griechischen Philosophen zurückweist, eine »Grenze zwischen Mythos und Philosophie […] den Übergangs- und Differenzpunkt zwischen dem mythischen Begriff des Anfangs und dem philosophischen des ›Prinzips‹.« André Leroi-Gourhan griff weiter zurück und parallelisierte diese Achse mit den Entwicklungen in den alten Hochkulturen: »Der Übergang vom mythologischen Denken zum rationalen Denken erfolgte in einem kräftigen Schub und vollkommen

III.2.3.3.

Cassirer 1925a, 3f

252

Frühe Hochkulturen

Leroi-Gourhan 1989, 263 Ebd., 264

Brunner-Traut 1992, 126

Margreiter 1997, 160f

Feyerabend 2009, 91

synchron mit der Evolution der Stadt und der Metallurgie.« Ein nochmals deutlicher Bruch sei mit der Ablösung der Bilder- durch die Buchstabenschrift erfolgt, was zu einer Verengung der Bilder und Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten des Irrationalen geführt habe. Mit Cassirer kann man in den Ursprungsmythen alter Hochkulturen Formgebung und Verfestigung des Flüchtigen erkennen. Zunehmende Objektivierung sei das wesentliche Moment der Kulturentwicklung. Der Mythos wäre dann ein erster Versuch, die scheinbare Unverfügbarkeit der Naturmächte in die Verfügung zu bringen. Der Mensch begann, die Natur durch eine von ihm erzählte Geschichte zu seiner Natur zu machen. Die Philosophie verschärfte dieses Unterfangen mit der Formulierung des Begriffs. Damit wäre sie nur ein konsequenter weiterer Schritt und weniger ein Bruch gegenüber dem Mythos. »Der Mythos mit seiner Buntheit und dem greifbaren Leben ist die Sagweise der Anschauung im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und sinnlicher Fülle.« Ohnehin ist inzwischen allgemein akzeptiert, dass die Bruchlinie, die Nestle im Athen des 6. und 5. Jh.s.a ansiedelte, nicht so scharf ist. Es läge daher nahe, diese von Wilhelm Nestle im Geist des Aufklärungsoptimismus so prägnant auf den Begriff gebrachte Wende in den Plural zu setzen und sie bereits in den alten Hochkulturen anzusetzen, während in der Ur- und Frühgeschichte eine ständige Dialektik von Magischem und Mythischem spielte (um die alte und heute eher umstrittene These von einem dezidierten Übergang vom Magischen ins Mythische zu umgehen). Mythos ist jedenfalls selbst bereits (rational) gesteuerte Erzählung. Er ist nicht das Andere der Vernunft, sondern eine »besondere Form der Rationalität« und eine »Sekuritätsleistung des Bewußtseins früher Kulturstufen.« Es gibt eine große Palette von Mythentheorien, die von der Antike bis zu Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg und Roland Barthes reichen, aber an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise Erwähnung finden können. Ich beschränke mich hier lediglich auf Hinweise auf die Rolle des Mythos als Ordnungsleistung von Weltphänomenen. Darauf machten viele Kulturphilosophen immer wieder aufmerksam. Paul Feyerabend sah in diesem Sinn durchaus Parallelelen zwischen Mythos und Wissenschaft: »Das Ziel primitiver Mythen und wissenschaftlicher Theorien ist genau dasselbe: Die Erfassung und die kausale Erklärung hervorstechender Erscheinungen. Auch die Methode ist dieselbe – sie besteht im Ziehen von Schlüssen aus vorliegendem Beobachtungsmaterial.« Ähnlich wie in der rationalen Wissenschaft entstand auch im Mythos eine Eigenwelt, die zur unmittelbar erlebten Welt in Distanz trat. Bereits der Mythos raubte der Unmittelbarkeit des emotional-magischen Erlebens die Macht. Die Figur der Entmythologisierung im Mythos selbst, wie sie Platon in seinen Dialogen an vielen Stellen durchführte, ist dafür ein treffendes Beispiel. In der Verschärfung einer solchen Distanz von jeder Unmittelbarkeit und in der Organisationsform der erwähnten Eigenwelt liegen Differenzen zwischen Mythos und Wissenschaft. »Wissenschaftlichen Theorien fehlt das Wesentliche des Mythos: seine Gestalthaftigkeit, seine Lebendigkeit, sein Anthropomorphismus im höchs-

253

Die Theorie der »Achsenzeit«

ten Sinn, seine Poesie […] Aber ein Mythos ist auf die Dauer tröstlich, auch wenn er furchtbar klingt, und eine naturwissenschaftliche Erklärung des Weltlaufs auf die Dauer trostlos, auch wenn sie harmlos klingt.« Dabei ging es um die Ablehnung einer jeden Kausalität. Es störte sich niemand daran, »nebeneinander ganz verschiedene Beschreibungen identischer Phänomene zu geben, selbst wenn sie einander ausschließen.« Wie stark solche Sichtweisen selbst noch in Zeiten der Aufklärung beeindruckten, zeigt die Ablehnung jeder Kausalität bei Hegel: »Eine falsche Identität ist das Kausalverhältnis zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung; denn diesem Verhältnis liegt die absolute Entgegensetzung zum Grunde. In ihm bestehen beide Entgegengesetzte, aber in verschiedenem Rang; die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich; das eine herrscht, das andere wird botmäßig.« Damit ist das wichtige Kapitel der Rolle des Mythischen in Aufklärung und Moderne zumindest erwähnt. Max Horkheimer und Theodor Adorno haben dieses Thema prominent artikuliert. Sie erkannten den aufklärerischen Aspekt des Mythos und sahen in der Rationalisierung der Natur und aller Lebensbereiche die Herrschaft einer instrumentellen Vernunft, welche von den unterdrückten und verdrängten Mächten wieder eingeholt wird. Dabei komme es zu einer Rückkehr des Mythischen in der aufgeklärten Rationalität. In der rationalen und kausalen Ordnung blieb der Reiz des Mythos groß. Ernst Cassirer sprach in diesem Sinn von der »Dialektik des mythischen Bewusstseins.« Auch abseits einer solch ausdrücklichen, die Potenz der Vernunft betreffenden Konfrontation lehrt die Ideengeschichte, dass vorachsenzeitliche Paradigmen in gegenwärtigen Weltmodellen nachhaltig weiterleben. Dazu bietet die ägyptische ma’at und ihr Weiterleben im Platonismus und Idealismus ein anschauliches Beispiel. Die ursprünglichen kreativen Erfahrungen des Mythischen – im Übergang vom Orient in die abendländische Identität bewusst gefiltert – sind Wegmarken abendländischen Selbstverständnisses. Eine einfache geschichtsphilosophische These vom linearen Fortschreiten eines Aufklärungsprozesses, der in einem Rationalisierungsgang den Mythos zugunsten eines rational-diskursiven Vorgehens verdrängt hat, wird den tatsächlichen Verhältnissen vermutlich ebenso wenig gerecht wie die spätere fragmentierende These vom völlig autonomen Neubeginn historischer Epochen, insbesondere der Neuzeit und der Moderne. Es ist klar, dass für solche scharfen Absetzungen des Rationalen vom Mythischen ein szientistisches Weltverständnis und eine einseitige Orientierung des Vernunftbegriffs an naturwissenschaftlichen und transzendentalphilosophischen Konzepten stehen. Für die beschriebene lange Übergangszeit hat Karl Jaspers die heuristisch produktive Formel »Achsenzeit« geprägt. Dass dieses Modell auch heute noch einen großen Wert hat, haben einige Symposien und Sammelbände in jüngerer Zeit unterstrichen. Wenngleich Jaspers die Achse zeitlich mit großzügiger Geste um die »Erscheinung des Gottessohns […]« ansetzte, beschrieb er im Folgenden mit seinem Begriff

Müller-Payer Hans Georg, zit. nach ­Brunner-Traut 1992, 127f Frankfort Henri in ­Frankfort u.a. 1946, 27

Hegel 1801, 48 VIII.5.3.1.

Horkheimer/Adorno 1947

IX.3.8.f. Cassirer 1925b, 281ff

Braun 2010

VII.2.1. 112 K­ arl Jaspers

Jaspers 1949 Árnason 2005; Harth 1989; Eisenstadt 1985 Jaspers 1949, 19

254

Frühe Hochkulturen

Ebd., 20f

Ebd., 21/25/17

Ebd., 21; ähnlich Speyer 2010, 261

Assmann 2001, 25

ganz allgemein eine Wendung bei den alten Hochkulturen in erstaunlicher Gleichzeitigkeit zwischen 800 und 200a. Nach dem Durchbruch in der Achsenzeit hat der Mensch jene Grundkategorien hervorgebracht, »in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben«. Es entstanden Rationalität und die Vorstellung der Transzendenz in der Religion, »die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen, die es nicht gibt.« Jaspers wertete die vorachsenzeitlichen Kulturen als »unerwacht« ab. Sie lebten in »bewußtloser Gegenwärtigkeit des Seins.« Die magische Religion blieb nach Jaspers ohne philosophische Erhellung, das Subjekt ohnmächtig und einem unpersönlichen Geschick untergeordnet. Demgegenüber kam es mit der Achsenzeit zur Ethisierung der Religion, zur Entdeckung der Individualität und eines reflexiven Geschichtsbewusstsein. Aus bloßem Erzählen wurde Argumentieren, »aus der Ruhe der Polaritäten geht es zur Unruhe der Gegensätze und Antinomien« und schließlich setzten sich Individualität und Geschichtsbewusstsein durch. Sosehr die Phänomene zutreffend beschrieben wurden, fand Jaspers’ normative Exklusivität eines rationalen Weltbildes kaum Anhänger. Jan Assmann sieht in Jaspers’ Bemühungen wenig historisches, aber viel normatives Interesse und er führt dieses auf die Bewältigung der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zurück. Der Umgang mit dieser produktiven und in ihrer Berechtigung kaum zu bestreitenden Formel leidet bei Jaspers an seiner Eigenart, vorachsenzeitliche Kulturen aus der Sicht nachachsenzeitlicher Rationalität zu bewerten. Anders als Jaspers und wegen der Abkehr von einer rein negativen Bewertung der vorachsenzeitlichen Kulturen deutlich produktiver ging Eric Voegelin in seinem epochalen (aufgrund seiner ausgeprägten selbstkritischen Ambition fragmentarisch gebliebenen) Geschichtswerk Order and History (1956–1974) mit der Achsenzeit um. Der Historiker und Politologe, der freilich obskure Rassenbücher publizierte und politisch Sympathie für den österreichischen Ständestaat und autoritäres Staatsdenken erkennen ließ, zeigte in seiner späteren Phase – nach dem Buch Die Politischen Religionen (1938) – großes Interesse an den alten Hochkulturen, indem er sie als Prototypen von Herrschaftsordnungen über den achsenzeitlichen Bruch herüberretten und systematisieren konnte. Er verwandte sie zu einer generellen Typisierung und hob eine kosmische (Ägypten und Vorderer Orient) von einer historischen Ordnung (Israel) ab. Kosmische Ordnungen hatten die Vorstellung des Kosmos als selbstorganisierendes System zur Grundlage. Die Kosmogonie entsprach einer Theogonie und ein kosmischer Mythos diente als Gründungserzählung. Reiche auf solcher Grundlage seien hierarchisch und theokratisch aufgebaut mit einer starken Sakralisierung des Politischen, Voegelin sprach von einer »theopolitischen Ordnung«. Der österreichische Staatsrechtslehrer Hans Kelsen drehte die These, dass die politische Ordnung ein Spiegel von Kosmosmythos und Religion sei, um und sah in der Kosmosordnung eine aus der sozialen Ordnung entstandene Projektion. Dies schon deshalb, weil er fürchtete, dass mit solchen Theorien die Trennung von Religion und Politik wieder rückgängig gemacht würde.

255

Die Theorie der »Achsenzeit«

Gegenüber solchen kosmischen Vorbildern sei nach Voegelin in Israel (Gott) und in Griechenland (Metaphysik) der Durchbruch zu einer transzendenten Ordnung zu konstatieren. Der (kompakte) Mythos habe sich zu einer (differenzierten) Geschichtsvorstellung entwickelt. Für Voegelin wurde es ein wichtiger Topos, vor einer Rückkehr politischer Religionen in der Moderne zu warnen und zur Rettung der Rationalität gegen deren Verdunkelung aufzurufen. Dieses Thema prägte – teilweise mit Rückgriff auf Voegelins Analysen – noch die Debatte um religiöse und ideologische Gehalte in der Moderne. Kunstphilosophisch von besonderem Interesse ist die Achsenzeitdeutung der Ägyptologin Emma Brunner-Traut. Sie wählte das Begriffspaar Aspektive-Perspektive. Die vorklassischen Hochkulturen arbeiteten auf allen Gebieten (Kunst, Geschichte, Rechtswesen, Staat, Religion, Wissenschaft, Schrift) aspektiv und additiv. Sie setzten das Einzelne durch bloße Addition zu einem Ganzen zusammen ohne jeden Sinn für ein höheres perspektivisches Organisationsprinzip. Solche Additionen halfen auch über Widersprüche hinweg, etwa über die Üblichkeit, dass etwa die Statue des Sonnengottes mit der Sonne identisch ist, aber zugleich am Himmel die Erde erleuchtet. »Das Entweder-Oder ist ein operatives Verfahren, das im Alten Orient allenfalls eingeschränkte Gültigkeit besaß. […] nicht das Ausschlussverfahren stand im Vordergrund, sondern ein ›Anhäufungsverfahren‹«. Erst die Griechen zur klassischen Zeit schafften die multilaterale Verflechtung der Dinge aus einem Standpunkt, der außerhalb dieser Dinge lag. Daher reklamierte Brunner-Traut die Perspektive auch bereits für die Antike. Sie sah in dieser antiken Perspektive eine erhebliche Bewusstseinsleistung, nämlich die Entdeckung der Zusammenschau des Ganzen ab dem 6. Jh. Das Neue daran sei eine »dynamisch geordnete Ganzheit und nicht eine durch das Nacheinander-Erfassen gewonnene Summe.« Brunner-Traut interpretierte die Entstehung des Bewusstseins als phylogenetische Entwicklung der Menschheit, die der ontogenetischen des Menschen im Sinne der Anthropologie von Jean Piaget entsprach. Die aperspektivischen Kunstformen der Zeit vor der ausdrücklichen Subjekt-Objekt-Spaltung gehörten in eine Welt ambivalenter Ganzheit. Die tendenzielle Perspektive in der Kunst der sophistischen Zeit in der Klassik Athens war demnach Ausdruck einer Moderne, während die ausdrückliche Abwertung der Perspektive in der Kunst der Ikone jedenfalls von der Abwertung der starken Rolle des Subjekts her motiviert war. Diese auf ersten Blick einleuchtende These, die sehr schön den Paradigmenwechsel der Achsenzeit beleuchten würde, ist freilich umstritten. Einmal gibt es grundlegende Einwände gegen eine solche Einschätzung der griechischen Rationalität. William Ivins unterschied seinerzeit zwischen einem taktilen Wirklichkeitsbezug der Antike und einem visuellen der Neuzeit. Die Griechen hätten keinen Raumbezug und keine Ordnung in diesem zu schaffen vermocht: »It seems to me that the various qualities and lacks of quality in Greek work […] can in almost every case be traced back to the dominance among the Greeks of the tactile-muscular intuitions, and to the fact that those intuitions, far from leading to any sense of continuity or

IX.2.1.3.

Brunner-Traut 1992

Selz 2005, 109

VI.5.0.ff.

Brunner-Traut 1992, 13

256

Frühe Hochkulturen

Ivins 1946, 36

Hub 2008, 317

2.4. Brunner-Traut 1992, 3

Assmann 2001b ◀

113 Cheops-­ Pyramide aus 2,3 Mio. ­Kalksteinblöcken 3.2.3.f.

organic order, inhibit them.« Ihr Weltbezug sei niemals distanziert, sondern stets un­mittelbar und taktil gewesen. Zum anderen gibt es gegen die Sicht auf die Perspektivenkonstruktion Vorbehalte. Berthold Hub macht darauf aufmerksam, dass der Raumbezug in der griechischen Kunst sich jeweils auf den einzelnen Körper bezieht, aber nicht den gesamten Bildraum umfasst. »Keine antike Kunst kennt […] den mit einem Blick zu umfassenden Bildraum. Einzelheit steht neben Einzelheit. […] Jeder Körper hat seine eigene Perspektive, die an der Körpergrenze aufhört und nicht in einen allgemeinen Raum ausgreift. […] Das Bild wird nicht von einem einzigen Blickpunkt aus aufgebaut, sondern lässt eine Mehrzahl von Blickpunkten bestehen.« Die achsenzeitliche Wende ist eben keine scharfe Bruchkante, sondern entspricht einer sich länger hinziehenden Veränderung. Brunner-Traut sorgte für einige Aufregung, als sie die ägyptische Flachkunst und die Architektur mit jener von Kindern oder von Geisteskranken verglich. Den Gedanken hatte sie vermutlich von Heinrich Schäfer, dessen fundamentales Buch zur ägyptischen Kunst Brunner-Traut betreut hat. Bei aller Großartigkeit der Pyramiden handle es sich doch schlicht um aufeinandergeschichtete Steinblöcke, wie bei einem Baukasten. Die Alten »handeln wie Kinder, aber ins Grandiose gesteigert […].« Ähnlich arbeitete die alte Medizin auf der Basis aneinandergereihter Körperteile und additiv gesammelter Heilverfahren, bis Hippokrates die Krankheit als einen Prozess erkannte. Auf dem analogen Prinzip entstanden Polytheismus und Schrift. Jan Assmann schlug seinerseits ein Drei-Phasen-Modell vor, um dem strengen Mythos-Logos-Schema zu entkommen. Naturwüchsige Wertideen der Krieger, Viehzüchter und Bauern wurden demnach durch eine komplexe Weisheitsliteratur (nicht transzendent, sondern auf Basis eines staatstragenden Ethos) der altorientalischen Reiche abgelöst. Schließlich mündeten diese Voraussetzungen in eine prinzipiengetragene Lebensführung und erfahrungsgestütze Begründung. Er entfaltet dieses Konzept in aller Detailliertheit und Komplexität in seinem Buch über Ma’at. Zusammenfassend könnte man mit Blick auf die alten Reiche und zugespitzt auf die Idee der Achsenzeit die bereits in 4.0. beschriebenen zwei großen Paradigmen eines achsenzeitlichen Umbruchs festmachen: In Israel bildete sich ein Geschichtsgott heraus, dem durch Effekte der Solarisierung zunehmend transzendente Züge zuwuchsen. Was Griechenland betrifft, wird hier allerdings eine – gemessen an Voegelin – differenziertere Auffassung vertreten. Zwar reifte in diesem breiten Eintrittstor in die europäische Kultur in der Tat eine statische Seinsvorstellung heran, diese war aber gleichsam die Essenz einer vom ursprünglichen Naturzyklus abgeleiteten dynamischen Konzeption, ausgebaut zu einer elaborierten Philosophie.

Die antike Welt – Griechenland und Rom

III

258

Die antike Welt – Griechenland und Rom

◀ 114 Sog. »Concordia-­Tempel« in Agrigent (um 425a)

Eliade 1976, I, 133

Unter die antike Welt fasse ich jene Kulturräume, deren größerer Anteil nachachsenzeitlich geprägt ist und in deren Schoß sich rationale Denkformen herausgebildet haben, also Griechenland und Rom. Eine Ausnahme bildet die minoische Kultur auf Kreta, die mit der Geschichte Griechenlands so eng verflochten ist, dass sie ebenfalls an dieser Stelle besprochen wird: »[…] für das klassische Griechenland hatte das minoische Kreta noch etwas von den Wundern der ›Ursprünge‹ und der ›Ureinwohner‹ an sich.« Wenn man Griechenland und Rom gleichberechtigt nebeneinander präsentiert, muss man auf ein Missverhältnis aufmerksam machen: Angesichts der großen Reiche des Alten Orients und des späteren Römischen Reichs war Griechenland zunächst unbedeutende Peripherie in wenig attraktiver Lage, ein karges Land, unwegsam und ohne nennenswerte Ressourcen. Auch wenn sich Griechenland unversehens durch die überraschende Demütigung der Supermacht Persien zum Mitspieler in der damaligen Welt emanzipierte, blieb es für die Großreiche im Osten nur von mäßigem Interesse. Dies änderte sich erst mit der Herrschaft der Makedonen und den expansiven Bestrebungen von Philipp II. und seinem Sohn Alexander, den man zu Recht den Großen nennt. Dass die Besprechung Griechenlands gegenüber jener Roms in diesem Abschnitt quantitativ breiter ausfällt, liegt neben der Bedeutung Griechenlands für unser Interesse auch daran, dass ein großer Teil der römischen Geschichte, darunter die Kaiserzeit und die Geschichte Ostroms, im nächsten Abschnitt gesondert berichtet wird.

1.0. Auf dem Weg zum Griechischen

II.5.0.

VII.4.2.4.2./VIII.4.2.

Die Bedeutung Griechenlands lag nicht in der Größe oder Stärke eines Flächenstaats, sondern in der einmaligen geistig-kulturellen Entwicklung, die noch dazu gut dokumentiert ist. Griechenland, ein Sammelsurium von mehr oder weniger autonomen Stadtstaaten, gewann durch diese Eigenheit für die europäische Kultur- und Kunstgeschichte eine magische Faszination, ja es fungiert als Benchmark im Hinblick auf die spätere Kulturgeschichte und als eigentlicher Beginn Europas. Namentlich Athen war die Stadt schlechthin, die von Rom bis Berlin nachgeahmt werden wollte. Das Land, in dem der Mythos in Rationalität umschlug, wurde selbst zu einem Mythos, noch lange bevor man die Kunst und Architektur en detail kennen gelernt hatte. Johann Joachim Winckelmann war unter den Ersten, die einen originalen griechischen Tempel sahen, und als Goethe in Paestum den mächtigen Bauwerken gegenüberstand, erschrak er. Aber der Mythos Griechenland hatte in einem nie unrecht: In der Tat liegen in praktisch allen kulturellen Genres, Politik, Philosophie und Theologie, Literatur, Kunst oder Architektur, Quelle und Maßstab für die weitere Entwicklung in Europa genau dort. Griechenland war der Ort der großen Metamorphose der Vorlagen aus dem Alten Orient in die europäische Handhabbarkeit.

259

Auf dem Weg zum Griechischen

In Griechenland begann philosophisches Denken im engeren Sinn und erreichte in kurzer Zeit ein erstaunliches Niveau und ein weites Anwendungsfeld von Politik bis zur Literatur und Kunst. Es war ein Denken, das sich langsam der Einkleidung des Mythischen entwand und den Begriff zu formulieren wagte. Mit der Abstraktion begann eine einmalige Erfolgsgeschichte von Rationalität und Wissen, für deren Inauguration die Griechen noch heute verehrt werden. Aber das Ansehen der Griechen geht weit über diese vermeintliche Rationalisierung des Wissens hinaus. Jacob Burckhardt, der Verehrer der griechischen Klassik, formulierte das so: »Nicht das Wissen ist die starke Seite der Griechen gewesen, sondern ihre Poesie und Kunst, mit denen wir vollkommen zufrieden sein könnten, wenn wir auch nichts anderes von ihnen hätten.« In diesem Zusammenhang ist kulturgeschichtlich interessant, ob die Ausbildung der Rationalität von den Griechen auch als Kulturstiftung betrachtet wurde und inwieweit sich dies auch in der Kunst und Architektur spiegelt. Man kann jedenfalls in allen kulturellen Genres eine generelle Bewegung von der Erdgebundenheit zum Himmlischen konstatieren. Im religiösen Kontext gewann der dorische Tempel Dis­ tanz vom Chthonischen, indem man ihn auf eine Basis hob, was die Bewegung von chthonischen Gottheiten zu den Himmelsgottheiten begleitete. Das markierte zugleich eine Vergeistigung der dazugehörigen kulturellen Erzählungen. Ohnehin ist man in der jüngeren Vergangenheit zurückhaltend geworden, einen allzu scharfen Gegensatz zwischen Mythos und Rationalität, Begriff und Kunst zu konstruieren. Man nimmt sie als gegenseitig befruchtende und kreative Momente und vermeidet, das eine im und mittels des anderen domestizieren zu wollen.

2.3.3.

Burckhardt 1898, 414 VIII.10.3.

1.1. Kontexte Der Anlauf zum Griechischen ist eine lange und immer noch undurchsichtige Geschichte. Unumstritten ist, dass die Gebiete bereits im Paläolithikum zeitweise und seit dem Neolithikum im 7. Jt. ständig besiedelt waren. Man kann sich auch darauf verständigen, dass die griechische Kultur nicht auf der griechischen Halbinsel selbst, sondern in dem Raum, dem diese sich öffnet, dem Ägäischen Meer und seiner vorgriechischen Kultur, begann. Die Ägäis – zunächst die Kykladen, dann Kreta – wurde zur Zeit der für unsere Zwecke so bedeutungsvollen Wende ins Neolithikum – die Neolithische Revolution im Nahen Osten ging jener der Ägäis voraus und befruchtete sie – zu einem Brennpunkt, der die großen Kulturen von Vorderasien bis nach Ägypten fokussierte. Die Ägäis war in der Folge das Ziel einer möglicherweise Jahrtausende währenden (zwischen dem 7. und 3. Jt.) Wanderungsbewegung, die schließlich die fruchtbaren Weiten Thessaliens und Böotiens erreichte. Dies kam einer gigantischen Kulturverlagerung gleich, die anhand datierbarer und lokalisierbarer Tonscherben einigermaßen nachvollzogen werden kann. Die kleinasiatische Welt, die mehr und mehr ausgegraben wird (Alisar Hüyük, Alaça Hüyük, Bogazköy), war ein stetiger Ideenlieferant in Religion, Weltbildentwürfen und Sozialstruktur. Ende des 2. Jt.s kam es zur Gründung mehrerer bronzezeitlicher Städte nach den ersten neolithischen Siedlungen. Eine besondere Rolle spielte Troja als Haupt-

I.4.1./I.4.3.4. Troja

260

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Meyer 1974

Gamer-Wallert 1992

3.1.3./3.2.

Müller-Karpe 1968, 86ff

Ivanova 2008, 23

Dimini-Kultur

stadt des westlichen Anatolien. Heinrich Schliemann (der 1868 Ithaka ausgegraben und ab 1874 Mykene, Orchomenos und Tiryns gefunden hatte) entdeckte 1870 bei seiner Suche nach dem Troja Homers in dem kaum mehr entwirrbaren Kulturschutt mit Hilfe des Archäologen und Bauforschers Wilhelm Dörpfeld neun Schichten (heute spricht man von zehn Siedlungsschichten). In Troja I, einem befestigten Dorf um 2600, dem vermutlich eine Steinzeitsiedlung vorausging, vollzog sich der Übergang vom Neolithikum zur Metallzeit. Troja II war bereits eine befestigte Stadt mit ausgebildetem Megaron, Metall und Töpferscheibe. Troja VI oder VII (1300– 1150) könnte am ehesten das »homerische Troja« gewesen sein, wenn man denn den damaligen Projektionen Glauben schenken darf. Die Stadt lag damals an einer großen Bucht, wenige Kilometer unterhalb der Mündung der Dardanellen ins Meer (das heutige Hisarlik ist durch Verlandung einige Kilometer vom Wasser entfernt) und war vermutlich ein wichtiger Ort des Handels (auch Umschlagplatz für die Metallurgie) und damit der Ost-West-Verlagerung der hochstehenden orientalischen Kultur. Dies sei gesagt, auch wenn im nicht endenden Troja-Streit so gut wie alle Beschreibungen umstritten sind. Der Hafen Trojas konnte bislang trotz aller Sondierungen noch nicht entdeckt werden. Im Vergleich zu den reich entwickelten Kulturen in Mesopotamien (in Mari stand bereits ein großer Palast) und Ägypten (es trat in die 4. Dynastie mit Höhepunkt und Ende des Pyramidenbaus ein) waren Architektur und Kunst in Troja eher einfach, auch gab es keine Schrift. Dennoch muss die Stellung dieser geheimnisumwitterten Stadt als Scharnier von Orient und Okzident bei den Späteren einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Denn es gibt einen auffälligen Niederschlag im Mythos, der die beiden Kulturen, von denen in diesem Kapitel die Rede ist, verbindet. Für die Griechen war die Eroberung der Stadt – noch dazu mit einer List und nicht mit roher Gewalt – ein Gründungsmythos, dessen Überhöhung einer von mehreren Hinweisen auf eine bewusste Kulturgründung gegenüber »dem Orient« sein mag. Und auch für die Römer blieb der Troja-Mythos reizvoll. Sie deckten ihren Bedarf an Legitimationsgewinn, indem sie sich als Abkömmlinge der Trojaner verstanden. Die intensive Überlagerung mit Mythen macht es aussichtslos, die Frage zu beantworten, ob die Troja-Erzählung irgendeine historische Grundlage hat. Auf dem griechischen Festland gruppierte sich die neolithische Keramik um verschiedene Siedlungen des 5. Jt.s in Thessalien, das vielleicht (die hohe Qualität der Keramik spricht dafür) von Anatolien aus besiedelt wurde. Es könnte sich freilich auch nur um intensive kulturelle Kontakte gehandelt haben. Nach einer Siedlung in der Nähe von Volos spricht man von der keramischen Sesklo-Kultur, der weitere vorkeramische Kulturen vorausgingen. Zu den Entwicklungs- und Besiedelungsfragen gibt es noch viele Unklarheiten. Die Dekorsysteme, geometrische Motive, verwinkelte Bänder, Kreisbögen, entsprechen jenen im Nahen und Mittleren Osten. Dazu kamen Idole aus Terrakotta. Der Sesklo-Kultur folgte eine neue, von ihr weitgehend unabhängige spätneolithische Kulturschicht, die man nach einem befestigten Siedlungs-Tell aus dem 4. Jt., ebenfalls in der Nähe von Volos, Dimini-Kultur nennt. Sie reichte bis in die Mitte des 3. Jt.s. Die Keramik war bemalt und mit ihr kamen die Spiral- und Mäander-

261

Auf dem Weg zum Griechischen

muster in die griechische Welt. Sie wurde im gesamten Gebiet und darüber hinaus verbreitet. Zugleich markiert diese Keramik die Blüte Thessaliens im Neolithikum. Dimini ist zugleich ein Symbol für die frühe Städtegründung in Thessalien, wo eine »urbane Revolution« des Neolithikums stattfand: »Dimini served as Greece’s earliest example of a modest town planning scheme.« In der Architektur fanden sich sowohl Rundhütten aus mit Lehm beworfenem Schilf als auch rechteckige Ziegelhäuser. Bei diesen verschiedenen Haustypen der neolithischen Siedlungen, die sich von orientalischen Vorgaben ableiteten, gab es den Typ mit rechteckigem Zentralraum samt Herd und Zugang von der Schmalseite mit überdachter Vorhalle (Grabungen auf der Otzaki-Magula, in Sesklo und Dimini). Man kann ihn als Vorform des Megaron-Typs ansehen, der das frühgriechische Haus prägte. Sowohl die Siedlung selbst als auch das Megaron beflügelten die Phantasie der Ausgräber. Der in Deutschland ausgebildete Christos Tsountas, der um 1900 in Dimini die Ausgrabungen begann, deutete die Siedlung anhand von Homers Ependichtung. Im zentralen Gebäude vermutete er den Königspalast. Im Gegensatz dazu verstand der Ausgräber Georg Chourmouziadis in den Siebzigerjahren des 20. Jh.s mit einem marxistischen und systemtheoretischen methodischen Rüstzeug die Siedlung als architektonischen Niederschlag einer urkommunistischen, streng egalitären und solidarischen Lebensweise, deren Zerbrechen der Megaron-Bau andeutet. Das Megaron sei nämlich ein Symbol des Privateigentums und Ausdruck einer aus dem Lot geratenen sozialen Solidarität. In beiden Fällen scheinen nostalgisch verklärte Ideengebäude das methodische Vorgehen geleitet zu haben. Im Allgemeinen ist der Zugang der Forschung zur Fragestellung jedoch prosaischer. Die Verbreitung der »Dimini-Leute« ist in der Wissenschaft ein größeres Thema, namentlich interessiert der Zusammenhang zwischen Dimini und »Bandkeramikern«, deren Spuren sich in ganz Europa finden. In ihrem Verbreitungsgebiet taucht ein bestimmter Haustyp auf, ein Rechteckbau mit Pfostenreihen und Flechtwerkwänden. Diese Häuser konnten eine beeindruckende Größe erreichen (in Köln-Lindenthal 36 m, im böhmischen Bylany 45 m). All diese losen Enden sind kulturgeschichtlich schwierig zu verknüpfen, zumal sich mitten in der damaligen Welt großer Kulturen eine neue Hochkultur entfalteten, welche die schüchterne Ansätze auf dem Festland bald überstrahlte: die minoische Kultur.

Preziosi/Hitchcook 1999, 33

Müller-Karpe 1968, 211f, 215

Preziosi/Hitchcook 1999, 34ff

Schachermeyr 1954

Müller-Karpe 1968, 218f

1.2. Kreta und die Ägäis: Die minoische Kultur »Die minoische Kultur auf Kreta war die erste große mediterrane Kultur, die erste wohlhabende, städtische und mit einer Schrift sowie einer reichen künstlerischen Kultur ausgestattete Zivilisation im Mittelmeerraum.« Diese Beschreibung gilt einer Kultur, die zur eindrucksvollsten Vorläuferin auf dem Weg zur griechischen Hochkultur geworden ist. In der Bezeichnung dieser Kultur als einer städtischen ist David Abulafia freilich zupackender, als es die meisten Forscher nach heutigem Wissensstand akzeptieren würden.

Abulafia 2011, 55

262

Die antike Welt – Griechenland und Rom

1.2.1. Kontexte

kykladische Idole

Renfrew 1991, 18 Fitton 1989 Neer 2013, 24f

115 Violinfigurine aus der Ägäis (3000a); AMA

Thimme Jürgen in Thimme u.a. 1968, 37

Ebd., 43

I.4.3.4.

Über die Vorgänge in der Ägäis in urgeschichtlicher Zeit wissen wir noch wenig. Selbst eine unbestrittene absolute Chronologie konnte sich noch nicht etablieren. Erster Brennpunkt im Vorfeld der minoischen Kultur waren die Kykladen. Aus der Übergangszeit vom Neolithikum in die Bronzezeit sind uns von dort eindrucksvolle künstlerische Spuren erhalten: Grabbauten, Freskenmalereien und vor allem die berühmten kykladischen Idole. Es handelt sich um stark schematische, daher sehr modern anmutende violinartige Marmoridole aus der Zeit ab etwa 3000 (frühkykladische Epoche), also dem Ende des Neolithikums. Sie heben sich vom »neolithischen Naturalismus« und dem »minoischen Impressionismus« ab. Ein Teil von ihnen hat vor dem Oberkörper verschränkte Arme, deren Vorbild in Vorderasien liegen könnte. In der Tat tritt uns eine »geradezu atemberaubende Schlichtheit der Form« gegenüber. Diese Idole waren nicht zum Stehen gemacht, wie das heute die übliche Präsentationsweise in den Museen ist, sie lehnten vielmehr an einer Wand oder wurden hingelegt. Nicht überraschend haben diese Kykladenidole, die meist im kleinen Format gearbeitet wurden, aber bisweilen monumentale Dimensionen mit bis zu zwei Metern Höhe annahmen, eine unüberschaubare Deutungsdiskussion ausgelöst. Die Vorschläge reichen von Konkubinen für das Jenseits über Spielzeug bis zu der gängigen Meinung, hier seien – obwohl ohne übertriebene Körperfülle – göttliche Wesen oder Priesterinnen im Kontext eines Fruchtbarkeitskultes dargestellt. Formal stehen sie zwischen den fettleibigen Statuetten und anikonischen Idolen. Dass es sich bei den fettleibigen Idolen um etwas anderes als um Zeichen der Fruchtbarkeit und des Lebens handelt, ist schwierig zu argumentieren. Ob dabei stets der Bezug zur Großen Göttin des anatolischen Kulturkreises hergestellt werden muss oder ob es sich um schlichte Fruchtbarkeitsgöttinnen mit Verweis auf eine jeweils lokale chthonische Charakteristik handelt, wird sich vermutlich nur schwer entscheiden lassen. Trotzdem scheint das Ideengebäude in allen Fällen vergleichbar gewesen zu sein. Die Große Göttin versammelte als Allgebärerin alle Konnotationen des Chthonischen in sich, zu denen nicht nur das Leben-Spenden, sondern auch das Leben-Nehmen gehörte. Die Große Göttin war Lebensgöttin und Todesgöttin zugleich. »Uns mag heute die Auffassung des Todes als Rückkehr in den Schoß der Großen Göttin phantastisch anmuten, dennoch muß dieser Glaube nach zahlreichen späteren Zeugnissen tatsächlich einst wirksam gewesen sein.« Der chthonische Aspekt der Idole scheint in der Tatsache eine Bestätigung zu finden, dass diese bislang in erster Linie in Gräbern gefunden wurden. Die bemerkenswerte Stilisierung und der Verzicht auf die Fettleibigkeit der älteren Vorgänger führt Jürgen Thimme auf eine »schon vergeistigte Auffassung von der Göttin […]« zurück. Insofern sah Thimme in den Kykladenidolen einen direkten Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsdarstellungen in Çatal Hüyük, die ihrerseits in der wissenschaftlichen Diskussion kontrovers erörtert werden. Auffallend ist zudem, dass unter den Idolen der Kykladen auch männliche Exemplare auftauchen. Inwieweit man darin bereits den in der späteren griechischen

263

Auf dem Weg zum Griechischen

Kultur stattfindenden Wechsel zu einem männlich dominierten Bild erkennen kann, ist reine Spekulation. Im 3. Jt., dem ersten der Bronzezeit, dürfte in den Kykladen die Seefahrt begonnen haben. Das Meer wurde nicht mehr als Trennendes wahrgenommen, sondern als verbindender Raum für Handel und kulturellen Austausch. Das bedeutete den »Eintritt der Inseln in die Geschichte.« Die Bronzezeit setzte den Import des im Mittelmeerraum nicht vorkommenden Zinns voraus (Bronze ist eine Legierung aus Kupfer und Zinn). Die Bewohner der Kykladen dürften um diese Zeit in der Ägäis eine dominierende Rolle gespielt haben. Die Verbreitung kykladischer Erzeugnisse lässt sich von Kleinasien bis zur dalmatinischen Küste (Insel Hvar) nachweisen. In Akrotiri haben sich wunderbare Fresken erhalten (häufig mit weißem und nicht wie auf Kreta mit farbigem Hintergrund), die stolz das Hantieren mit dem besonders wertvollen Handelsprodukt Safran zeigen. Zeitgleich mit der frühen Kykladenkultur machte um 3000 die frühminoische Kultur auf Kreta auf sich aufmerksam. Die Substrate dieser Kultur reichen weit zurück. Die ersten Kreter waren archäologisch greifbare neolithische oder vorneolithische Bauern, vermutlich um 7000 aus Anatolien mitsamt gezähmtem Vieh und Getreidepflanzen (die in Çatal Hüyük bereits bekannt waren) eingewandert. Sie siedelten in der Nähe von Knossos. Von dieser neolithischen oder gar paläolithischen Kultur ist auf Kreta kaum etwas erhalten, allerdings liegen unter dem Palast von Knossos jungneolithische Schichten mit bemalter Keramik. Für sie wie für Fundstücke aus anderen Gegenden legen sich Abhängigkeiten aus Ägypten der 2. und 3. Dynastie nahe. Jüngste Funde auf der Insel Gavdos und Funde von Homo sapiens in der Chania-Gegend zeigen zudem, dass hier noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist. Obsidian von den Kykladen, den man auf Kreta fand, belegen Austauschvorgänge mit der Ägäis. Weibliche Idole und die Funde der Rundgräber in der Ebene von Mesara lassen auf einen Muttergöttinnenkult schließen, der dem kretischen Zeuskult vorausging. Sie inspirierten Deutungen, die die (neolithische) Domestikation als machtvolle Metapher für die Dominanz des Matriarchalischen über das Wilde nimmt: »[…] there might be a strong link between women, food, production, and storage.« Auf die Theorie von Thorstein Veblen, nach der der Mann seinen in der Jägerund Sammlergesellschaft gewonnenen Rang auch nach der Sesshaftwerdung beibehielt, wurde oben bereits hingewiesen. Diese These ließe sich, jenseits reiner Kulturtheorie und im Sinne von Donald Preziosi, religionsgeschichtlich erweitern. Der in der neolithischen Kultur verbreitete Mutter- und Erdgöttinnenkult wäre dann ein sichtbarer Niederschlag einer solchen Entwicklung. Gegen Ende des Neolithikums um 3000 ist ein größerer Wandel zu beobachten. Es formte sich eine eigene Kultur. Agglomeratartige feste Siedlungen sprossen vor allem im Osten Kretas und in der Mesara-Ebene im Süden aus dem Boden. Es

Papaioannou 1972, 33

Thimme Jürgen in Thimme u.a. 1968, 10f

116 Kykladenfigur aus Amorgos (2500a); AMA

Müller-Karpe 1968, 99f

Preziosi/Hitchcock 1999, 42

I.4.3.4.

264

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Branigan 1992

Schlager 2009

Linear A Linear B

gab gepflasterte Plätze und Steinhäuser. Sie lagen entgegen den späteren Palästen auf Hügeln und waren gut befestigt. In der Literatur spekuliert man mit der Ankunft fremder Eindringlinge aus der heutigen Türkei an der Südküste. Aus derselben Zeit, am Übergang zur Metallzeit, stammen große Rundgräber und/oder Ossuarien in der Mesara-Ebene mit kleinen Trilith-Eingängen und Kultplätzen. Auch hier kam es zu einem enormen Wandel in Technik, Kultur und Kunst. Eine (altertümliche) Keramik mit der anatolischen Schnabelkanne traf sich mit dem Beginn der Metallverarbeitung, vor allem des Kupfers und der Bronze. In der Spätphase des Frühminoikums (um 2000) verfeinerten sich die Ornamente. Alle Metalle waren vorhanden. Silberschmuck und Steinvasen (aus Mochlos) traten auf. Für die Periode vor den großen Palästen mehren sich Hinweise, dass die Zeiten durchaus nicht so friedlich waren, wie man das später mit Kreta verband. Darauf deuten etwa neben den erwähnten befestigten Siedlungen die mit Wachtürmen und zyklopischen Mauern gesicherten Überlandstraßen hin oder die Protopalast-Anlage von Agia Photia im Norden Kretas. Auf den (zerstörten?) Resten hat man Tholosgräber (Rundgräber mit Flach- oder Kuppeldächern) errichtet, die nie benützt wurden. Möglicherweise wurden Siedler hier wieder vertrieben. Skelette mit Verletzungsspuren in Höhlen belegen ein gewaltsames Ende dieser Menschen. Die Glanzzeit Kretas (2000–1000) wurde von Sir Arthur Evans ab 1900 ausgegraben, nachdem Heinrich Schliemann 1886 den für das Grabungsgelände geforderten Preis nicht zu zahlen bereit gewesen war und vor ihm der Kreter Minos Kalokairinos Grabungen einstellen musste, weil man fürchtete, die Funde würden in die Türkei geschafft werden (von 1669 bis 1898 war Kreta türkisch, in den letzten Jahren tobte der kretische Befreiungskrieg). Evans benannte die Kultur nach dem sagenhaften König Minos, Sohn des Zeus und der levantinischen Prinzessin Europa. Der nach altem Gottessohn-Mythos Legitimierte soll nach der griechischen Geschichtsschreibung, die zwischen Mythos und Wahrheit oszilliert, um 1500 Herrscher in Knossos, Phaistos und Kydonia gewesen sein und von Zeus Gesetzestafeln erhalten haben. Er verkörpert damit im Sinn der altorientalischen Vorgaben die Legitimität der Stadt, die von göttlichem Gesetz geleitet wird. Im Mittelminoikum (2000–1700) entstand eine hieroglyphische Bilderschrift, deren Bilder durch den täglichen Gebrauch zu einfacheren und linearen Zeichen abgeschliffen wurden: Linear A, das um 1700 auf der ganzen Insel verwendet wurde und bis heute nicht entziffert werden konnte. Nach einer Reform – anscheinend nur in Knossos im Gefolge der Eroberung durch die Mykener durchgeführt – folgte Linear B, das ein vorhomerisches Griechisch abbildete. Es markiert das Ende der minoischen Kultur und den Beginn des mykenischen Zeitalters im Späthelladikum III (um 1200). Der englische Architekt und Sprachwissenschaftler Michael Ventris konnte Linear B 1952 zusammen mit John Chadwick und dessen Schülerin Lydia Baumbach entziffern. Die Sensation war, dass Linear B griechisch und nicht wie Linear A minoisch war. Zwar haben sich etliche Texte auf Tontafeln, die durch die Brände in Pylos, Mykene, Tiryns, Theben und anderen Burgen gehärtet wurden, erhalten, die Ausbeute an kulturhistorischen Daten blieb indes geringer als erhofft. Denn anders

265

Auf dem Weg zum Griechischen

als nahezu alle anderen Völker hinterließen die Kreter keine Inschriften auf Wänden oder Stelen, die von Ehre und Ruhm zeugen, sondern benützten die Schrift für trockene Wirtschafts- und Verwaltungstexte. Die literarische Ausbeute der Bronzezeit im Kontext des Griechischen ist daher eher als gering zu veranschlagen. Was Evans bei seinen Grabungen zutage förderte, war allerdings alles andere als langweilig. Es waren die glanzvollen Paläste des Mittelminoikums, aber auch der Niedergang im Spätminoikum (1700–1100). Alle Paläste wurden um 1700 durch Brände und Erdbeben schwer in Mitleidenschaft gezogen. Sie wurden aber rasch wieder aufgebaut und dann endgültig um 1430 zerstört, was das Ende der Palastzeit bedeutete. Die Ursachen dafür sind dunkel. Eine Eroberung durch die mykenischen Festlandgriechen ist eine, wenngleich nicht unumstrittene Variante. Richard T. Neer identifiziert auf Fresken von Akrotiri mykenische Krieger, die mit Schiffen auf Kreta landen. Andere stellen eine Verbindung mit der Vulkankatastrophe in Thera (Santorin) her. Robert Hofrichter datiert diese »wahrscheinlich größte vulkanische Katastrophe in der Geschichte der Menschheit« auf das Jahr 1470a. Archäologen sind sich über die Datierung des Vulkanausbruchs allerdings uneins – die frühesten Datierungen reichen bis zum Ende des 17. Jh.s zurück. Dieses abrupte Ende ist nicht das einzige Rätsel in der Geschichte Kretas. Nur schwer verständlich sind die exponierte Lage der Paläste direkt am Meer und ihre Offenheit. Eine Erklärung wäre, dass Kreta durch eine starke patrouillierende Flotte gesichert war. Eine solche Möglichkeit legt Thukydides nahe, der von einer Thalassokratie (Seemacht) Kreta spricht. Ebenso im dunkeln tappt man bei der Beschreibung des politischen Konzepts im Inneren. Es kursieren Theorien von einer Theokratie. Doch das ist sehr spekulativ, ist doch bis heute nicht ein einziger Herrschername bekannt. Ebenso wurden keine Statuen von bedeutenden Personen und nur wenige Manifeste eines monumentalen Totenkults entdeckt. Ob Griechen bereits früher nach Kreta gekommen waren, ist unsicher, aber auf Grund von sprachwissenschaftlichen Studien nicht unwahrscheinlich. Auffallend ist ein Wandel in der Keramik und in den Bestattungsriten, die mykenische Formen annahmen, sowie das Aufkommen der erwähnten frühgriechischen Schrift Linear B. 1200 bis 1050 durchlebte Kreta die dunklen Jahrhunderte mit den Beutezügen der Seevölker. Dann erfasste es die dorische Wanderung. Das 8. Jh. brachte eine teilweise Wiederbesiedelung der alten Städte und zusätzlich die Gründung von Akropolen, die sich gegenseitig rivalisierten. Künstlerisch entstand um diese Zeit die Großplastik. Ab dem 6. Jh. verlor Kreta weiter an Bedeutung und wurde 67a römische und im 4. Jh.p byzantinische Provinz.

1.2.3.

Neer 2013, 40

Hofrichter 2001, 84

Thukydides, Hist 1,4

1.2.2. Religions- und Sozialgeschichte Auf Kreta finden sich noch viele Spuren neolithischer (nach der Meinung mancher aus Anatolien oder dem Mittleren Osten importierter) Kultformen mit ihrem chthonischen Charakter. Als Bestattungs- und Kultorte benützte man Höhlen und Grotten. Es gibt an die 2000 auf Kreta. Sie dienten ursprünglich auch als Wohnor-

Höhlen und Grotten

266

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Dietrich 1974, 112 I.1.3.1./I.3.3. Labyrinth / ­Doppelaxt

Eliade 1976, I, 128f

Dietrich 1974, 101

Evans 1900/1, 52ff

I.3.2.f.

König 1974, 172f

Evans 1901/02, 101

te. Bekannt sind die der Geburtsgöttin Eileithyia geweihte (bereits im Neolithikum benützte) Amnissos-Höhle, eine Zeuskultstätte als Grotte (Psychro-Höhle) auf dem Berg Dikte mit doppelaxtgeschmückten Stalaktiten und Säulen – der kretische Zeus war ein sterbender und auferstehender Fruchtbarkeitsgott und trat im Diktegebirge auch als Berggott auf –, die Idahöhle – meist als Geburtshöhle des Zeus angesehen – und die 60 Meter in die Tiefe angelegte, heute unzugängliche Grotte von Skotinó. Man kann von Initiationsriten ausgehen, die dort durchgeführt wurden. Stalagmiten und Stalaktiten waren natürliche Kultobjekte. Bernard C. Dietrich sah darin weniger die Repräsentation einer göttlichen Macht, sondern »an aniconic figure of the goddess who, in all likelihood, controlled growth and the cycle of birth and death.« Auf die Bedeutung der Höhlenmetapher als Metapher für die Wiedergeburt in diversen Formen von Wandnischen wurde bereits hingewiesen. Möglicherweise hat auch das kretische Labyrinth von dort her seinen Sinn. Es wiederholt rituell das Eindringen in eine Höhle und symbolisiert den Abstieg in die Unterwelt als rituellen Tod. Es wurde in diesem Zusammenhang häufig über die Etymologie spekuliert, wonach das Labyrinth mit der Doppelaxt (labrys) zusammenhängen sollte. Es könnte sich freilich auch von einer schwülstigen asiatischen Variante von labra, Stein, ableiten und hätte die Bedeutung eines unterirdisch menschengemachten Steinbruchs. Da bei der Höhle wohl auch eine Metaphorik des weiblichen Schoßes in Erwägung zu ziehen ist, sollte man bei der Doppelaxt auch eine solche Bedeutung im Auge behalten. Auch beim Doppelaxt-Motiv gibt es die Vermutung einer Herkunft aus Anatolien: »The presence of the axe in Neolithic Anatolian wall painting adds strength to the well founded theory that this implement, too, had been imported to Crete from the East […] and perhaps originally from Anatolia.« Jedenfalls taucht der Palast von Knossos unter der Bezeichnung eines Labyrinths auf. König Minos hatte von Dädalus ein Labyrinth als Gefängnis für den Minotauros (das üble Ergebnis eines Fehltritts seiner Frau Parsiphae) bauen lassen. Daher reichen die Deutungen des Palastes von säkularen bis zu religiösen Konnotationen. Das Doppelaxtmotiv hat die Phantasie von Forscherinnen durchaus angeregt. Evans selbst unterstützte die Meinung, dass es sich um »the visible impersonation of the divinity« handle und dass dies mit dem Labyrinth zusammenhänge. Man hat ihm auch eine kosmische Bedeutung unterlegt. Wie bereits im Kontext der Steinzeitkunst besprochen, hatte der Stier eine Mondkonnotation, die zudem mit der geometrischen Figur des Dreiecks und dem Hornideogramm gekennzeichnet war. Treffen sich zwei Dreiecke an einer Achse, ließe sich so die Doppelaxt als kosmographisches Zeichen erklären. Dazu passt das Horn, das stets die Mondsichel symbolisierte. »Die vielfältige religiöse Symbolik in Kreta läßt sich auf eine Grundkonzeption zurückführen, diese ursprünglich-schöpferische Idee stammt aus der Eiszeit.« Eine andere, bereits von Evans eingeleitete Dekodierung der Doppelaxt versteht sie als Symbol einer weiblichen Macht. »The presence of the female idols on the same base as the Sacral Horns and Double Axe seems to show that this symbolic weapon was associated here with the cult of a Goddess as well as a God.« Damit ließe sich im

267

Auf dem Weg zum Griechischen

Sinne einer Ambivalenz von Leben-Nehmen und Leben-Schenken auch eine Verbindung mit dem Grabkult herstellen. Dass die Doppelaxt auch mit weiblicher Macht assoziiert wurde, hat mit der markanten Präsenz weiblicher Gottheiten auf Kreta (wie in der gesamten Ägäis) zu tun. Für die »Vorpalastzeit« sind jedenfalls weiblich konnotierte Fruchtbarkeitskulte durch viele Funde belegt. Wir kennen zahlreiche Göttinnen- oder Priesterinnen-Figurinen. Es gibt eine »Göttin von Myrtos«, eine »Mutter der Berge« aus Knossos, die »Herrin der Tiere« und »Göttinnen des Baumes«, den Typus der auf dem Boden Sitzenden. Sie lassen sich typologisch charakterisieren und ordnen. Berühmt ist die 30 cm hohe Fayencestatue aus dem Palast von Knossos (um 1600). Aufgrund der Beigaben kann man sie als Herrscherin über Land und Meer deuten. Im Heiligtum von Agia Irini von Kea fand man aus der mittelkykladischen Zeit (um 1900a) mehr als 50 weibliche bis zu 60 cm hohe Terrakotta-Statuetten mit charakteristisch auf die Hüfte gestützten Armen. Es sind Tänzerinnen, Göttinnen oder Priesterinnen. Im selben Tempel gibt es zahlreiche Säulen mit eingebetteten Doppeläxten. Der Kult der Muttergöttin trug anfangs stark chthonische Züge und wich von der in Vorderasien üblichen Gewitter- und Himmelsgottcharakteristik ab. Die Große Mutter war eine Natur- und Berggöttin. In Linear B-Texten ist der Begriff der Potnia, vermutlich ein Ehrentitel für die Muttergottheit, bezeugt. Verschiedentlich wurden Erklärungen für die starke Erdgebundenheit des Kultes – »Cretan religion was based on nature warship.« – in der heftigen tektonischen Tätigkeit in diesem Raum gesucht. Die Ägäis ist durch das Zusammentreffen der Eurasischen mit der Afrikanischen Platte zusammen mit einem komplizierten Bewegungsmuster kleinerer Mikroplatten ein tektonisch sehr aktiver Raum. Bereits die Bewohner von Çatal Hüyük hatten Vulkane dargestellt. Dies deutet auf chthonische Zusammenhänge, aber nicht automatisch auf weibliche Gottheiten. Auch JHWE war ursprünglich mit einer Vulkancharakteristik ausgestattet. Der matriarchalische Kontext indes bezog sich durchaus auch auf das öffentliche Leben, wo die Frau und Priesterin eine bevorzugte Rolle spielte. Der Übergang zwischen Göttinnen und Priesterinnen scheint fließend gewesen zu sein. Ob von einem ausdrücklichen Matriarchat gesprochen werden kann, ist unklar, weil für eine solche Einschätzung zu viele Informationen über rechtliche Fragen zur Stellung der Frau fehlen. Es ist schwierig, im kretischen Pantheon auch männliche Gottheiten nachzuweisen. Die vielen Nachrichten von Hierogamien machen ihre Existenz jedoch plausibel. Männliche Gottheiten wurden jedenfalls von mykenischen Griechen ab 2300 importiert, vereinzelt vielleicht auch schon früher. Darunter war auch Zeus. Zeus hat eine eindeutige indogermanische, also vormediterrane Etymologie und das Element des Vater- und Himmelsgottes, auch Hoch- und Hausvatergottes, ist primär gegenüber chthonischen Aspekten. Vermutlich kam er mit den Griechen in die Ägäis. Linear B-Texte von Knossos bezeugen ihn. Er ist ein besonders delikates Beispiel des Eindringens einer männlichen Gottheit in die matriarchalische ägäische Religion und überlagert einen diesem matriarchalischen Kontext zugehörigen kreti-

Pini 1968, 65

Weber-Hiden 2011

Haas 1982, v.a. 94ff Kult der ­Muttergöttin Dietrich 1974, 75 Schachermeyr Fritz in PWG III, 31, 46 Hofrichter 2001, 56–71, 82–85 I.4.3.4. II.3.2.2.

Picard 1948 Zeus

268

Die antike Welt – Griechenland und Rom

West 1965, 154f Willetts 1962, 213 Nilsson 1950, 535ff

Stier

I.3.2.

schen Zeus, einem alljährlich sterbenden Vegetationsgott und Paredros (Gesellschafter) einer weiblichen Gottheit. Ausgehend von solch starker chthonischer Orientierung der Kulte sind Nachrichten von ausgeprägten Mysterienkulten in Kreta plausibel. Solche Vegetationsund Agrarkulte kreisten um das Mysterium von Leben, Tod und Wiedergeburt und umfassten auch den Totenkult. Die Embryonalstellung, in der Verstorbene beerdigt wurden, sowie Grabbeigaben verweisen ebenso auf den Kreislaufgedanken des Lebens wie die Tatsache, dass den Toten Libationen dargebracht wurden. Viel Staub aufgewirbelt hat in der Wissenschaft die Verifizierung von Menschenopfern, die um 1700 in Kreta bezeugt sind. In dem durch ein Erdbeben während einer Opferfeier zerstörten Tempel von Anemospilia südlich von Heraklion fand Iannis Sakellarakis mit seiner Frau Efi einen gefesselten und bereits kurz vor dem Beben getöteten etwa 17jährige Mann sowie Priester und Tempeldiener, die durch das Ereignis getötet wurden. Ein weiteres wichtiges Element im religiösen Kontext Kretas war der Stier. Er hatte viele Konnotationen. Archaisch war die Verbindung von Himmels- und Erdkompetenz. Er stand einerseits für den mediterranen Wetter- und Sturmgott, war aber – ambivalent dazu – auch Wasserwesen, hatte also einen chthonischen Charakter. Er stand für Fruchtbarkeit, was ihn für den Höhlenkult prädestinierte. Auch die Doppelaxt kommt häufig gemeinsam mit dem Stier vor, aber es scheint schwierig, einen Zusammenhang zwischen dem schon aus dem Neolithikum stammenden Stierkult und der Doppelaxt über die chthonische Charakteristik hinaus herzustellen. Dem zuzuordnen sind die in der Ägäis und auf Kreta verbreiteten Hornaltäre. Ein besonderes Prachtstück stellt der bereits aus mykenischer Zeit stammende Sarkophag von Hagia Triada dar. An ihm lassen sich in farbenprächtiger, luftig-verspielter Darstellung Stieropfer, Totenlibation und die Spendung von Opferblut an einen heiligen Baum erkennen. Eine große Resonanz in der Kunst Kretas fand das kretische Stierspringen. In der einschlägigen Literatur deutet man viel Geheimnisvolles, darunter einen religiösen Initiationsakt von Jugendlichen, in dieses Ereignis hinein. Das Stiersprungthema war eines der wichtigsten Bildthemen der minoischen Kultur, genauer des Umkreises um den Hof in Knossos. Allenfalls die Förmlichkeit der dargestellten Handlung, die Stereotypie der Darstellungen sowie ihre große Anzahl in verschiedenen Medien (neben Fresken auch Ringe, Siegel, Statuetten) könnten dafür sprechen, dass es sich nicht einfach um ein sportliches und spielerisches Spektakel handelte, sondern einem Ritual nahe kam. Diamantis Panagiotopoulos macht auf die bemerkenswerte Tatsache aufmerksam, dass auf Ringen die Stiersprungszene mitsamt Teilen des auf Fresken die Szene rahmende Spiralfrieses dargestellt ist. Daraus folgert er, dass hier nicht in erster Linie das Sujet des Stiersprungs, sondern das Stiersprungfresko aus dem Palast abgebildet wurde. Dies lässt Ritual und Palast zu einer Einheit verschmelzen. Entgegen der Meinung von Arthur Evans, der auch Frauen (aufgrund der weißen Farbe, mit der nach ägyptischem Vorbild tatsächlich Frauen gekennzeichnet wurden) als Springerinnen identifizieren wollte, geht man heute aufgrund der

269

Auf dem Weg zum Griechischen

Kleidung und Anatomie von einem Männerkult aus. Allerdings ist unklar, ob man nicht Stierspringer grundsätzlich als maskulin dargestellt hat. Sinclair Hood nimmt daher auch Frauen als Stierspringerinnen an. Panagiotopoulos hält es für am wahrscheinlichsten, von einem Ritual junger trainierter Aristokraten auszugehen, die vor einem jubelnden Publikum mit ihren waghalsigen Salti über den Stier (am ehesten Auerochsen) die Kraft des Menschlichen über die Natur oder eine Verbundenheit zwischen Aristokratie und Publikum beschworen. Inwieweit man hier mit der Ordnung und Identität schaffenden Kraft von Ritualen operieren kann, bleibt dahingestellt, ist aber nicht unwahrscheinlich. Der Niederschlag des Kultes in der Architektur ist differenziert. Die Verehrung der Gottheiten geschah, wie erwähnt, vor allem in Höhlen. Daneben tauchten tempelartige Heiligtümer auf (Kato Symi), ausgezeichnet mit Figurinen, Libationstischen und Säulen. Ein besonderes Kapitel der minoischen Kultur sind die Paläste, in denen es zumindest kleinere Kulträume gab, wenn nicht sogar die großen Säle neben einer sozialen auch eine religiöse Funktion hatten.

Hood 1978, 60f

Panagiotopoulos 2011

1.2.3. Die Palastarchitektur und die Kunst Die große Zeit Kretas war, wie bereits bemerkt, die Palastzeit. Die ersten großen Palastanlagen waren zunächst einfach und streng. Später erhielten sie üppige, lebendige spiral- und torsionsförmige Verzierungen. Um 2100–1700 entstanden die älteren (Mallia, Knossos, Phaistos), um 1700–1400 die jüngeren Palast- und Villenanlagen (Agia Triada, Gournia, Kato Zàkros). Wie bereits oben berichtet zerstörte eine Katastrophe im Laufe des 17. Jh.s sämtliche Paläste. Auf ihren Resten, teilweise auch als Neugründungen, wurden die jüngeren Paläste errichtet. Der Ausdruck Palast ist grundsätzlich irreführend. Man weiß sehr wenig über die Bedeutung dieser multifunktionalen Zentren, die sowohl öffentlichen wie privaten Aufgaben dienten. In der angelsächsischen Fachliteratur hat sich deshalb der treffendere Ausdruck Court Compound (Hofanlage), eingebürgert. Diese Anlagen erinnern an die Tempelwirtschaft im sumerischen Reich im 3. Jt., wo der Tempel ein religiöses und wirtschaftliches Zentrum des Stadtstaates war. Ähnlich wie bei diesen Vorlagen ist auch bei den kretischen Anlagen unklar, ob sie Residenzen von Königen und PriesterInnen waren. Trotz einer verbreiteten Annahme von Priesterkönigen fehlt jeder Hinweis auf eine solche Institution und wir wissen nichts über die Art der Regierung, auch wenn Evans ganz selbstverständlich von Königen und Königinnen sprach. Die Paläste sind anscheinend ohne Schema entworfen, als chaotisches Gewirr von Räumen (darunter auch Kulträumen), Gängen, Treppen, Loggien, Terrassen. Selbst bei Fenster- und Türöffnungen wurde auf jede Symmetrie verzichtet. Allenfalls lässt sich eine Nord-Süd-Ausrichtung der rechteckigen Zentralhöfe mit einem häufig verwendeten Maß von 25x50 Meter festmachen. Diese Innenhöfe, zu denen die (vielen) Fassaden ausgerichtet waren, gelten als Orte für kultische Handlungen und die Erscheinung von Göttern. Manche Tempelkomplexe (z.B. Hagia Triada) werden überhaupt mit Kultbauten assoziiert.

Court Compound

270

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Matz 1962, 93, 109

Müller/Vogel 1974, 135

Cline/Harris-Cline 1998

Bietak 1966

Hiller 2000 Weißl 2000 Haider 1988 Preziosi/Hitchcock 1999, 7

117 Rekonstruktion des Palastes von Knossos

Erstaunen bereitet immer wieder die fehlende Befestigung der Tempel. Friedrich Matz ging in der Deutung der Paläste, in denen er eine architektonische Umsetzung der vorpalatialen dekorativen Kunst Kretas in eine dritte Dimension sah, sehr weit und nannte sie »eine Stätte göttlicher Erscheinung.« Kulthöfe und Kulträume in den Palästen identifiziert man durch einschlägige Charakteristiken: Steinsäulen, Erscheinungsfenster, Prozessionswege, Opferaltäre. Ob es ein Adyton (Allerheiligstes) gab, ist unklar. Säulen hatten sowohl eine stützende als auch eine rein schmückende Funktion. Die Dächer waren flach und an den Rändern mit Kulthörnern bekrönt. Paläste und Häuser waren bunt bemalt. Ähnliches wie für die Palastanlagen galt für stadtähnliche Agglomerationen. Auch sie waren offen, ohne Orientierung, eben labyrinthisch, das heißt, »mit unübersichtlichem Grundriß« angelegt. Es handelte sich um ein organisches System ohne ersichtliches Zentrum, das wachsen und wuchern konnte. Kulturelle Verbindungen existierten sowohl nach Mesopotamien (Palast von Mari) als auch nach Ägypten. Dass es vor allem zu Ägypten kulturelle Transfers gab, ist sowohl durch Literatur wie durch Funde (etwa kretische Keramik in Faiyum, Abydos und ägyptische Relikte in Kreta) gesichert. z.B. Manfred Bietak grub 1992 in Tell el-Daba (in der Hyksos-Hauptstadt Auaris) am Pelusischen Nilarm Fragmente von echten Fresken (um 1600) aus, die unter anderem kretische Stierspringer darstellten. Im Grab des ägyptischen Wesirs Rechmire in der Regierungszeit Thutmosis III. (um 1450) ist ein Zug tributpflichtiger kretischer Vasallen dargestellt. Dabei wurde der minoische Schurz eines Kreters durch einen mykenischen übermalt. Umgekehrt finden sich auf ägäischen Vasen und in der kretischen Freskomalerei ägyptische Motive wie der Papyrus und die Lotosblüte. Dazu kommen einzelne, in Malerei und Architektur dominante Motive wie die Halbrosette, die sich möglicherweise vom ägyptischen Federfächer ableitet und Zeichen für Schutz und göttliche Macht gewesen sein könnte. Knossos war seit 7000 besiedelt und Evans rechnete mit einer Einwohnerzahl von bis zu 80 000 Menschen am Höhepunkt der Palastzeit. Diese größte damalige Mittelmeermetropole lag etwa vier Kilometer vom Meer entfernt. Der Palast dürfte eine Fläche von 150 x 100 Metern gehabt haben, der Mittelhof 50 x 25 Meter. Die Architektur wurde bei der Wiedererrichtung immer raffinierter. Über Innenhöfe und Lichtschächte liefen die Verbindungswege in der bis zu fünf Stockwerken hohen Anlage mit ihren mehr als tausend Räumen. In den Palast- und Stadtanlagen fanden sich auch Nekropolen. Unter schlichten Kammer- und Schachtgräbern im Felsen befand sich bisweilen das »Königsgrab«, ein zweigeschossiger Kultraum mit vorgelagerter Säulenkrypta. Die Ausgräber wurden sowohl vom Alter als auch von den gewaltigen Ausmaßen der Anlagen überrascht. Die Sicherungsarbeiten, bei denen Evans ergänzende Rekonstruktionen – dabei erstmals in der Geschichte mit Be-

271

Auf dem Weg zum Griechischen

ton – vornahm, sind bis heute umstritten. Unumstritten ist allerdings der Wert seiner vierbändigen Dokumentation The Palace of Minos at Knossos (1920–1935), ein einmaliges Werk der Archäologie, das nicht nur die Architektur, sondern religiöse und soziale Hintergründe des Funktionierens des Palastes beschreibt. Die Analysen finden noch heute Beachtung. Allerdings prägte das Werk für lange Zeit eine Sicht auf die minoische Kultur, die eher einem verwegenen Traum von Arthur Evans entsprach, der das, was er fand, seinen Projektionen anglich. »Statt wie Gauguin in die Südsee flüchtete Evans in ›sein‹ minoisches Kreta. Aus Szenen mit Menschen und Tieren unter Blumen und Bergen bastelte er sich seine Vision von einem idyllischen Leben inmitten von Natur – eine Vorstellung, die für einen Europäer kurz nach dem Ersten Weltkrieg äußerst attraktiv gewesen sein muß.« In der jüngeren Zeit, etwa ab 1600, kam eine duftig-verspielte Bild- und Figuralkunst dazu. Die üppige Ornamentik spiegelte vegetabilisches Wuchern wider. »Die Gang- und Raumfolge wird in sich überkreuzenden oder kreisenden Bewegungen (Raumspirale) durchlaufen. Sie überrascht und verwirrt durch ständig neue Übergänge.« Dargestellt wurde in Bild und Skulptur die galante Kultur des Hoflebens in teilweise phantastischen, stets lebhaften Farben. Geschickte Kunsthandwerker schufen weibliche Figurinen mit außerordentlich extravaganter und luxuriöser Kleidung. Vielleicht spricht aus diesen fröhlichen und eleganten Damen, die von nicht minder noblen Rhytonträgern begleitet werden, tatsächlich eine »tiefgreifende geistige Umwälzung«, welche die minoische Kultur im Mittelmeerraum herbeigeführt hat. Die Fresken, sowohl »echte« auf feuchtem Putz, pitture al fresce, als auch das secco fresco, waren von höchster Qualität. Von ihnen ist kaum etwas erhalten geblieben. Die wichtige Ausnahme sind die berühmten Fresken von Akrotiri, die, wie im Falle Pompejis, durch den Vulkanausbruch auf Thera in der Mitte des 2. Jt.s konserviert wurden. Diese von Spyridon Marinatos 1967 bis 1974 und dann von dessen Schüler Georgiou Doumas ausgegrabenen Darstellungen geben uns einen Einblick in das Leben der Bronzezeit. Es sind spontan gemalte Szenerien, ohne erkennbare Standardisierungen. Für den Knossos-Ausgräber Sinclair Hood bleiben sie qualitativ hinter denen aus Kreta zurück und ein wenig provinziell, aber: »At the same time they are alive with a certain primitive vigour and possess a charm which rivals if it does not surpass that of the comparatively sophisticated art of Crete at the time.«

Röder/Hummel/Kunz 1996, 328

Müller/Vogel 1974, 150

Papaioannou 1972, 37

Doumas 1992

Hood 1978, 54

1.2.4. Der minoische Dynamismus Bei der minoischen Kunst und Architektur springen Dynamik und Ordnungslosigkeit ins Auge. Überall ist man konfrontiert mit einem stupenden Dynamismus. »Der Minoer gibt die Bewegung nicht nur ›in potentia‹, wie der Ägypter, wieder, sondern ›in actu‹.« Es gilt für die minoische Kunst generell, was Werner Müller für die Architektur feststellte: »Die minoische Architektur ist vom Raumerlebnis her nicht statisch, sondern fließend, nicht richtungsbestimmt, sondern richtungslos, nicht eindeutig, sondern mehrdeutig, nicht planmäßig, sondern spontan, nicht geschlossen, sondern offen […].« Das sind Beschreibungen, die wir bei der postmodernen Architektur

Wetzel Christoph/Wolf Walther in BSG I, 404

Müller/Vogel 1974, 150

272

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Matz 1962, 111

des 20. Jh.s in ähnlicher Tonlage wiederfinden, ebenso wie als bestimmende Tendenz des Barock. Man ist versucht zu sagen, dass man im Blick auf Kreta einen anderen Eindruck von der spannenden Zeit der Sesshaftwerdung gewinnt als den in I.4.1. geschilderten. Es scheint dort so, als wäre die Städtegründung nicht Resultat einer vorhergehenden Selbstfindung und Reflexion über die Sicherheit in der Geborgenheit in einem zur Ruhe gekommenen Ort. Vielmehr drücken sich Freude und Lust an der unregulierten Bewegung aus: »Anstelle der durch die statische Ausdrucksform bedingten Überzeitlichkeit herrscht in Kreta die Bewegung […].« Die minoische Dezentrierung steht hier ziemlich isoliert und widerspricht auch der Enge der nachfolgenden Schematisierung des Griechischen. Der minoische Dynamismus und die chthonische Ausrichtung der minoischen Religion eignen sich daher durchaus als Kriterien der Abgrenzung vom Griechischen. Wie in Mesopotamien und Ägypten hat man auch im Fall der kretischen Kultur auf die Topographie verwiesen, die ähnlich jener der Ägäis äußerst diversifiziert ist, sowohl was die Landschaft betrifft als auch die vertikale Temperaturverteilung. Bergzüge bis ins südliche Kreta tragen mehrere Monate im Jahr Schnee. Diese starke topographische Diversifikation dient als Erklärung der für die Kunst und Architektur typischen Asymmetrie und Regellosigkeit, sowie für das unkontrollierte Wuchern. Das hebt sich sichtbar von der klaren, durch den Nil vorgegebenen Ordnungsachse in Ägypten ab. Freilich scheint diese Argumentation wenig hilfreich. Denn auch Griechenland weist eine ähnliche Topographie auf wie Kreta. Dort ging sie aber mit einer ganz anderen kulturellen Eigenart einher. Es stellt sich daher beim Blick auf diese Etappe auf dem Weg zum Griechischen aus kunstphilosophischer Perspektive die Frage, ob sich wie die Bau-, Kunst- und Ornamentformen auch die Denkformen durch Dynamik und dezentrierte Ordnungslosigkeit auszeichneten. Lässt sich anhand des Kriteriums des Prozesses die nicht-griechische Kultur der Kykladen und Kretas von der Stringenz griechisch-mykenischer Denkform (wie eben auch der Kunst und Architektur) abgrenzen? Dynamik stünde gegen Verfestigung, die im Denken letztlich bis zu einer statischen Metaphysikkonzeption führt. Was im Griechischen nachvollziehbar sein mag, bleibt für das minoische Kreta zwangsläufig Spekulation, weil wir über einschlägige Reflexionen keinerlei Nachricht besitzen. Wegen der offenen Stadtanlagen, dem Fehlen jeder Monumentalität, vor allem von Kriegsdarstellungen, dem Fehlen jeder strengen »Logik« in der Architektur, der Dominanz von Muttergottheiten und der phantasievollen Ikonographie sowie der weichen Linienführung und fließenden Bewegung werden Kunst und Architektur Kretas manchmal als weiblich apostrophiert. Johann Jakob Bachofen prägte in seiner Arbeit Das Mutterrecht (1861) für die große spekulative Vision eines ursprünglichen, vor-patriarchalen Matriarchats den Begriff einer »gynaikokratischen Gesellschaft«. Eine solche grundsätzlich nicht unpassend scheinende Beschreibung verträgt sich – abgesehen von den archäologischen Fakten, die eine solche Vision nicht stützen – wiederum schlecht mit der Metaphorik der schroffen Topographie der Insel, die man in diesem Sinn eher als männlich apostrophieren müsste.

273

Griechenland

Gemessen am Griechischen hätten wir es hier »nicht nur mit zweierlei Kulturen, sondern auch mit zwei einander entgegengesetzten Formen des Geistes zu tun.« Nun existierten auf Kreta freilich auch rechteckige und axiale Formen, das »kretische Megaron«, etwa die Halle der Doppeläxte in Knossos und das Korridorhaus. Die Öffnung dieser Räume in mehrere Richtungen mit Blick auf die Natur – also eine gewisse Lockerung einer strengen Geometrie – unterschied dieses Megaron immerhin von jenem auf dem Festland. In der beinahe hymnisch zu nennenden Einstellung zur Natur, die sich in dieser Form bei den Griechen nicht wiederfinden wird, gibt es eine weitere bemerkenswerte Differenz. Mit Friedrich Matz könnte man verallgemeinern, »[…] daß die neuen unminoischen Formelemente, die zunächst auf Kreta in der Produktion der letzten Palastzeit beobachtet und dann in der Schachtgräberkunst verfolgt wurden, einen Steigerungsund Verdichtungsprozeß durchgemacht haben.« Die Metapher der »Verdichtung« ließe sich im Folgenden, bei der Besprechung des Mykenischen, immer wieder anwenden. Das Flüssige verdichtet sich zum Kristallinen und man wird in der frühen griechischen Philosophie sorgsam Ausschau halten müssen nach der Behandlung des dynamischen Elements innerhalb einer auf statische Metaphysik konzentrierten kulturellen Erzählung.

Demargne 1975, 93 Preziosi/Hitchcock 1999, 111 Demargne 1975, 81

Matz 1962, 205

2.0. Griechenland Die Ägäis bildete die Brücke zwischen Ost und West, eben auch zur südlichen Balkanhalbinsel. Es handelt sich bei dieser Halbinsel wiederum um eine topographisch stark geprägte Landschaft. Hohe Gebirgszüge stellen sich Verkehrsverbindungen in den Weg. Von alters her belebte ein reger kultureller Austausch über das Meer den Raum der Ägäis, während in Griechenland isolierte Burgen und Stadtstaaten entstanden. Die Besiedelung Griechenlands ist ein komplexer und immer noch nicht vollständig geklärter Vorgang. Ein erster Einwanderungsschub von (indogermanischen) thrakischen Stämmen, der sich nach Kleinasien und vermutlich (als sog. Protogriechen) nach Thessalien und Böotien, vielleicht bis auf die Peloponnes richtete, erfolgte möglicherweise um 2500. Diese frühen Griechen bildeten die Bezugspunkte für Homer, der die auf der Seite Trojas kämpfenden Thraker als Pferdezüchter bezeichnete. Sie hinterließen Spuren in der griechischen Religion, Sprache und Kunst.

2.1. Mykene Lange Zeit galt die Standardtheorie, dass ein weiterer Einwanderungsschub indoeuropäischer Stämme (Achäer und Ionier) Anfang des 2. Jt.s nach Thessalien, Böotien und auf die Peloponnes die mykenische Kultur begründet habe. Dies wird inzwischen zurückhaltender gesehen und die Geschehnisse um die Wende vom 3. ins 2. Jt. sind Gegenstand lebhafter Debatten. Zwar werden solche Einwanderungswellen und einzelne Gründungen (Nauplia) kaum in Frage gestellt, aber die kulturbegrün-

118 Maske aus den Schachtgräbern Mykenes; AMA

274

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Hampl 1960

I.1.2.2.2.

Matz 1962, 159

Shear, zit. nach ­Blakolmer 2011, 63

Blakolmer 2011

denden Inspirationen werden eher den Kontakten zur minoischen und zu kleinasiatischen Kulturen zugeschrieben. Insofern ist die Frage nach dem Beginn der griechischen Kultur nicht einfach zu beantworten, zumal die seit langem gegen den großen Konsens der Forscher schwelende Kritik an der Gleichsetzung von mykenisch und griechisch nicht verstummen will. Gälte diese Kritik, hätte die mykenische Kultur mit Nicht-Indogermanen begonnen, die von Linear B-Griechen abgelöst worden sind. Dennoch wollen wir davon ausgehen, dass in späthelladischer Zeit, also in der späten Bronzezeit (um 1600–1100), aus einem Amalgam der einwandernden indoeuropäischen Bevölkerung mit den mit Kleinasien verbundenen ansässigen Einwohnern eine griechische Hochkultur entstand, die nach der Hauptburg Mykene im Süden der Peloponnes mykenisch genannt wurde. Die alten Siedlungen wurden wiedererrichtet und zu Festungen ausgebaut. Zwar verdankt die Epoche der prominenten Rolle Mykenes ab etwa 1600 (bis zur Jahrtausendwende) ihre Bezeichnung, aber Mykene war keine Hauptstadt, sondern nur eines von vielen starken Zentren. Bekannt wurde es durch die Ausgrabungen um 1870 durch Heinrich Schliemann, der in den frühen Schachtgräbern (Grabzirkel A) der führenden Schicht aus dem 16. Jh. einen großen Schatz nachgeahmter oder direkt aus Kreta herbeigeschaffter Kunstwerke fand, die man gleich mit den Erzählungen Homers in Verbindung brachte. Große soziale und technische Umwälzungen – darunter die Einführung des orientalischen Streitwagens (eine erste Abbildung findet sich auf der Geierstele in Lagasch), der über Ägypten, das ihn vermutlich erst von den Hyksos kennen gelernt hatte, nach Griechenland kam – führten zu einem Ritterstand mit Lehenswesen und einer Feudalgesellschaft. Von Anfang an war Mykene geprägt von einigen typischen Kennzeichen: Dazu gehörten die zuerst üblichen Schachtgräber, dann ab 1600 die für vornehme Zeitgenossen folgenden, aus Kreta übernommenen Kuppelgräber (Tholoi), überkuppelte Kammergräber, sowie als weiteres Charakteristikum die mykenische Keramik. Auf den ersten Blick erschien die neue Kultur, die im 16. Jh., also zur Zeit der neuen Paläste auf Kreta, begann, in einem minoischen Kleid. Trotzdem blieb dem mykenischen Kontext die minoische Leichtigkeit und Dynamik fremd. »Für den oberflächlichen Blick stellt sie sich als eine Erstarrung dar.« Es sind gerade jene Eigenheiten, die das Gesicht der griechischen Kunst und Architektur ab dem Ende der Dunklen Jahrhunderte bestimmten. In der Wissenschaft sah man das nicht immer so. Der Knossos-Ausgräber Arthur Evans ließ Mykene als Appendix der minoischen Kultur erscheinen. Ironisierend brachte T. Leslie Shear Evans’ These auf den Punkt: »Minoan ships in every Greek harbor and a Cretan prince in every citadel.« An den Gedanken der Eigenständigkeit der mykenischen Kultur mussten sich die Wissenschaftlerinnen erst gewöhnen. Seitdem wird auch die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten wieder neu bewertet. Dass es bei formalen Differenzen durchaus Übereinstimmungen etwa in Fragen von Ikonographien und Herrschaftssymbolik gibt, ist kaum erstaunlich und widerspricht nicht Unterschieden in Form und Mentalität der Architektur.

275

Griechenland

Besonders in der Architektur scheint der Unterschied deutlich zu sein: Es ging jetzt um Monumentalität und um klare Geometrie. Als typisches Beispiel für die monumentale Tendenz, die sich aus der Megalithtechnik ableitete, darf das Löwentor (um 1250) mit seinen 3 m hohen Löwen oder Greifen gelten, die erste (hethitisch beeinflusste) Monumentalplastik in Griechenland, und das Schatzhaus des Atreus (um 1330), eine der eindrucksvollsten Kuppelgrabanlagen. »Mit den Kuppelgräbern geht auch eine minoische Form auf das Festland hinüber.« Erst beim Pantheon Hadrians wurde knapp eineinhalb tausend Jahre später die Größe der Kreiskuppel des Schatzhauses übertroffen. Beim Palastbau wird der Unterschied zwischen der mykenischen und minoischen Architektur (und Kunst) im Hinblick auf Gliederung und Durchformung der Baukörper besonders augenfällig. Anders als auf Kreta waren die mykenischen Paläste Anlagen mit klarer Geometrie. Im Zentrum der Burganlage befand sich das Megaron mit dem kultischen Herdaltar. Der richtungsbezogene, rechteckige Zentralraum diente als Audienzsaal des Königs und als Versammlungsraum. An die komplexe Geschichte dieser Architekturform, die bis in das Neolithikum zurückreicht und bei den Phrygiern Reife erreichte, sei hier erinnert. Die phrygische Architektur stand für Monumentalität und manche Ausdrücke haben sich aus diesem Fundus bis heute erhalten. Das phrygium bezeichnete im Lateinischen die Goldborte, welcher Ausdruck im Fries fortlebt. Diese Monumentalkunst samt Megalithen kannte in der Ägäis und auf Kreta kein Vorbild, erst mit der griechischen Eroberung kamen Akropolen und das Megaron nach Kreta. Teilweise wurden diese groben Bauwerke durch eine minoische Scheinarchitektur verziert, wobei die Dekoration den funktionalen Zusammenhang verlor. Berühmt wurde, wie erwähnt, der üppige Goldschatz aus den mykenischen Gräbern: Goldene Masken, Diademe, Pektoralien, Schmuck, Gefäße, Prunkwaffen, Vasen und Elfenbeinarbeiten sind Zeugen eines eleganten Lebensstils, der sich auch in den Malereien der Paläste mit Prozessions-, Kriegs- und Jagdszenen widerspiegelt. Umstritten ist nach wie vor, ob die gefundene Kunst als Raubgut aus der Zerstörung und Eroberung Kretas herrührt oder minoisch beeinflusster mykenischer Kunsttradition entspringt bzw. von minoischen Kunsthandwerkern stammt. Als 1400 die minoische Kultur unterging, begann die große Zeit Mykenes. Es wurde zur führenden Kraft der zahlreichen dynastischen Vasallenfürstentümer im Umkreis und die Festung ausgebaut. Besonders gut dokumentiert ist der – übrigens unbefestigte, daher für die mykenische Zeit untypische – sogenannte Palast von Nes-

119 Löwentor in Mykene

Matz 1962, 225 120 Palast von ­Mykene, Megaron

II.1.2.8. Marek 2010, 155

121 Diadem aus den Schachtgräbern Mykenes; AMA

Mykene

276

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Preziosi/Hitchcock 1999, 155–165

Ebd., 185

Demargne 1975, 161

Seevölkersturm

Hood 1978, 233 II.1.2.5.

Neer 2013, 68

Hampl 1960, 17

tor in Pylos. Sein farbenfrohes Freskenprogramm im Megaron wurde von dem aus einer dänischen Emigrantenfamilie stammenden englischen Künstler Piet de Jong in seiner ganzen Farbigkeit rekonstruiert (Piet de Jong hatte auch die Fresken von Knossos bearbeitet). Inzwischen wurde eine riesige Zahl von mykenischen Siedlungen nicht nur auf der Peloponnes, sondern auch in Böotien, Attika und auf Inseln identifiziert. In den größeren mykenischen Städten verstärkte sich – ganz im Gegenzug zu der dezentralen, offenen kretischen Anlage – der identifizierende Charakter durch den Typus der Hochstadt, besser: einer hochgelegenen Fluchtburg (Akropolis), und einer Unterstadt, die ihrerseits ummauert war. Zuletzt umschloss eine bis zu 7,5m dicke Mauer in Mykene einen Bereich von 30 000 qm. Im Fall von Pylos vermutet man die sichere südliche Lage als Ursache für die fehlende Befestigung. Suchte die Stadt nach innen ihre Identität, kam es über rege Handelsbeziehungen zu Koloniebildungen der Mykener in Unteritalien, auf Sizilien, den Liparischen Inseln, auf Malta und Zypern. Die Verbreitung mykenischer Ideen ist kaum zu unterschätzen. Sie reichte bis in die Donauländer und hatten sogar Einfluss auf die Hallstattkultur. Zwischen 1200 und 1000 setzte die aus ungeklärten Ursachen losgebrochene Welle der Nord- und Seevölker, deren ethnische Zusammensetzung unklar ist und neben Gruppen aus Anatolien auch solche aus dem gesamten Mediterran umfasste, neben dem Hethiterreich auch Mykene ein Ende. Der Seevölkersturm gehört zu den rätselhaften Ereignissen in der alten Geschichte. Er beendete die Bronzezeit und damit das, was man eine »cultural koine at this time« beschreiben könnte. Dies stellte im gesamten östlichen Mittelmeer, also beinahe in der gesamten damaligen Welt, einen tiefen Einschnitt dar. Es war ein außergewöhnlicher Kulturbruch, bei dem eine Schrift (Linear B) sowie künstlerische und architektonische Leistungen verloren gingen. Verschwunden waren nicht nur die Paläste mit ihren Königen und Wirtschaftssystemen, verschwunden waren »Linear B und mit ihr die Lesekundigkeit; genauso figurative Kunst, Monumentalarchitektur, Freskenmalerei, Goldbecher und Schmuck, Elfenbeinschnitzereien, der gesamte ›internationale Stil‹ der späten Bronzezeit.« Inwieweit für den Untergang der mykenischen Welt noch andere Gründe wie innere Rivalitäten oder Naturkatastrophen verantwortlich waren, wird in der Wissenschaft angeregt diskutiert. An dieser Schwelle von der Bronze- zur Eisenzeit ist unklar, welche Gruppe zu welcher Zeit in die griechischen Gebiete vorstieß. Als letzte waren es vermutlich (nach einigen linguistischen Hinweisen) die Dorer, die das Festland, die Peloponnes und schließlich auch Kreta einnahmen. Es gibt Forscher, die diese letzte Bewegung wegen des Mangels an archäologischen Fakten gänzlich ablehnen oder bis ins 8. Jh. reichen lassen und erst ab diesem Zeitpunkt von Griechenland sprechen. Die lange vertretene These, dass die Dorische Wanderung für die Zerstörung der Palastzentren verantwortlich war, findet heute kaum mehr Unterstützung. Mit dem geschilderten Zusammenbruch der Kultur der Bronzezeit verliert sich auch die Spur Griechenlands bis ins 8. Jh. Beim Wiederauftauchen war der Großteil der Peloponnes dorisch. Es hatte sich das Zentrum Sparta herausgebildet.

277

Griechenland

2.1.1. Mykenische Religion Die schwierige Trennbarkeit von minoischer und mykenischer Religion hat manche Forscherinnen dazu gebracht, von einer weitgehend einheitlichen minoisch-mykenischen Religion zu reden. Allerdings gibt es – wie bereits in 1.2.2. angedeutet – durchaus signifikante Unterschiede. An dieser Stelle soll nur in aller gebotenen Vorsicht auf einige dieser Unterschiede hingewiesen werden, insoweit sie mithelfen, die verschiedene Charakteristik von Kunst und Architektur besser zu verstehen. Das Problem beginnt bereits damit, dass es auf die Frage nach einer spezifischen griechischen Religion keine eindeutige Antwort gibt. Waren die religiösen Stoffe anfangs abhängig vom Kontext der Polis, gab es später einen religiösen Corpus, der ganz Griechenland umfasste, um im Hellenismus einem starken Synkretismus zu weichen. Die griechische Religion ist im Kontext der alten Hochkulturen jung, trotzdem wurde und wird sie gerne als Studienobjekt herangezogen. Ihren Reiz machen die Bezüge zu den alten Religionen, die faszinierende Umarbeitung (theologisch und künstlerisch), die gute Rekonstruierbarkeit und ihre Nachhaltigkeit, insofern sie von Etruskern und Römern übernommen wurde, aus. Angesichts dieser Fakten kommen manche Historiker und Philologen geradezu ins Schwärmen: In der griechischen Religion finde »sich ungebrochene Tradition ältester Zeiten inmitten einer aufs höchste verfeinerten, an Niveau unübertroffenen geistig-künstlerischen Kultur.« Aufgrund der Masse an Vorlagen aus dem Alten Orient hatte die griechische Religion einen stark eklektischen, man kann auch sagen: einen synthetischen Charakter. Es kam nicht zu einer willkürlichen Vermischung, sondern – wie spätere Zeugnisse zeigen – zu einer bewussten Mythenkonstruktion auf der einen und prägnanten Änderung von Kunst und Architektur auf der anderen Seite. Bereits in Linear B-Dokumenten verfügen wir seit der Besitznahme Kretas durch die Mykener über einige Hinweise auf die Vorstellungen einer griechischen und vorgriechischen Religion. Für das Entstehen und für diverse Veränderungen des Götterpantheons gilt eine ähnliche Komplexität wie für die Besiedelungsgeschichte. Eine der bedeutendsten Veränderungen, nämlich jene von der chthonischen zu einer himmlischen Charakteristik, zeigte sich vor allem in der Verehrungsform, die wiederum Konsequenzen für Kunst und Architektur hatte. Die Gottheiten im vorgriechischen Kontext wurden zunächst ohne Tempel verehrt. Die chthonischen Erd-, Vegetations- und Muttergottkulte – Namen wie Athene oder Artemis sind vor-indogermanisch –, die stets verbunden waren mit Totenkulten und Fortlebensvisionen, drangen in die griechischen Vorstellungen ein. Die Namen blieben, ihre Codierung änderte sich. Ein besonderes Studienfeld dazu für die Religionswissenschaftlerin ist Kleinasien, wo sich zahlreiche Beispiele für den »gräko-asiatischen Synkretismus auf ionischem Boden« finden lassen. Die patriarchalische indogermanische Tradition steht für den Himmels- und Lichtgott, in diesem Fall: Zeus. Er trägt als einziger einen nachweisbaren indogermanischen Namen. Dieser leitet sich von deiwos/div (indogerm. leuchten) ab. Zeus

Demargne 1975, 177 Nilsson 1927

2.6.3.

3.2.

Burkert 1972, 5

122 Artemis von Ephesos; EM Marek 2010, 171 Zeus

278

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Eliade 1976, I, 179f Schwabl 1978 Schwabl 1972

123 Zeusstatue aus Pergamon röm. (2. Jh.p); IAM 2.1.3.

war der Gott des strahlenden Tageslichts und des heiteren Himmels. Dass Götter strahlen und glänzen, ist eine aus dem Orient stammende Konstante, der man in der Kunst mit dem glänzenden Material Marmor oder Kupfer entgegen kam. Zeus nahm Züge des im gesamten mediterranen Raum verbreiteten Vater-, Wetter- (das Strahlen umfasste auch das Wetterleuchten, also eine Gewitterkonnotation) und Berggottes in sich auf und überlagerte vermutlich einige vorgriechische Gottheiten. Der Wettergott wird mit dem syrischen Kriegsgott Reshef und dem mesopotamischen Wettergott Adad in Verbindung gebracht, teilweise war er assoziiert mit dem Stier. Mit Zeus kamen die Elemente des Männlichen und des Statischen in die griechische Kultur. Zeus sorgte nicht nur für die Rückdrängung des chthonischen und sexuellen Aspekts der Vegetations- und Muttergottheiten, er sorgte auch für die männliche (pseudo-jungfräuliche) Abstammung wichtiger Göttinnen wie Athene, Aphrodite, während in der jungfräulichen Jagd- und Todesgöttin Artemis die vorgriechische Muttergöttin präsent blieb. Den verbleibenden Vegetationsgöttinnen, die als Erdmütter den Stamm da als vorgriechisches Lallwort zu ge (Erde) trugen, wurde das indogermanische mater angefügt: aus Dameter, Gemeter wurde Demeter. Schließlich stand Zeus für die Beruhigung der orientalischen dynamischen Komponente. Diese Funktion des Himmelsgottes hat für die Philosophie- und Kunstgeschichte eine nicht zu überschätzende Bedeutung und sie wird im Abschnitt über die Orphik ausführlicher dargestellt. Statik und Abkehr vom Chthonischen als abstrakter Gehalt des von vielen Autorinnen scharf gezogenen Unterschieds zwischen dem chthonischen Muttergottkult und dem indoeuropäischen Himmelsgott wurden zu einer bewussten Polarität von Himmel und Erde, Geist und Materie, mit der die folgende griechische Philosophie originell und produktiv umging. Das große Labor für diese Umformung waren die Mysterienkulte, die ein langes Leben hatten.

2.1.2. Zyklische Dynamik, Mysterion und Harmonie – die Quellen der ­Mysterienkulte als Quellen der Philosophie Die Einordnung der Mysterienkulte an dieser Stelle mag überraschen. In der Tat gehören die historisch greifbaren Fakten der organisierten Mysterienkulte in eine spätere Zeit des 5. Jh.s. Eine ganz andere Frage ist aber, aus welchen Quellen diese Kulte schöpften und wie sie diese, ausgestattet mit der Dignität alter Weisheit, deren konkrete »Erfindung« im Schleier der Geschichte verschwindet, im Lichte einer beginnenden Aufklärung und Rationalisierung fruchtbar machten. Wo gründen Mythen? Über diese Frage kann man deshalb uferlos diskutieren, weil sie so berechtigt ist. Es wird hier der Versuch unternommen, die Mythen im Schoß der Mysterienkulte abzuholen, dort, wo kräftig Material aus Kulturtransfers neu geordnet wurde: in der frühen Zeit Griechenlands. Das Interesse an diesen Mythen ist durch zwei Aspekte motiviert: Einmal thematisieren sie auf dem Weg zum Griechischen das Thema Dynamik-Statik. Das lässt sich sowohl in Kunst und Architektur als auch in den sich gründenden (typisch griechischen) philosophischen Erzählungen nachvollziehen. Zum zweiten spielen diese Mythen mit der breiten, in allen frühen Hochkulturen zu verfolgenden Bewegung vom Chthonischen zum Solaren. Sie gehören in die

279

Griechenland

kulturelle Metaerzählung, die das Chthonische als Mythos verabschiedete und das Himmlische als Geistiges (und als Philosophie) neu buchstabierte. Man könnte daraus die stupende Losung konstruieren: Philosophie und Metaphysik aus dem Geiste der Sesshaftwerdung, diesem Labor kultureller Erzählungen! Die Exposition dieses Themas an dieser Stelle dient nicht zuletzt einer These. Sie lautet, dass die griechische und das bedeutet in diesem Zusammenhang: philosophische Erzählform aus dem bereits im Neolithikum, dann im Alten Orient gründenden Umgang mit dem Zyklus der Natur, aus dem sich die Erzählung nach dem Ordnung-Schaffen durch eine Gottheit ableitete, zu entschlüsseln ist. Keine Stelle der antiken Literatur könnte diese These besser ausleuchten als der Demiurgen-Mythos bei Platon. Der (solare) ordnende Gott bringt in die (chthonische und dynamische) Natur Harmonie und Symmetrie und damit eine (Statik implizierende) mathematische Begriffsform, die zugleich Inbegriff der Schönheit ist. An dieser epochalen Schnittstelle einer archaischen Naturverehrung und der Übersetzung dieser in eine mathematische Harmonielehre wurzelt nicht nur eine, sondern die Grundlage europäischer Ästhetikkonzeption. Die rational gesteuerten Mythen der griechischen Mysterienkulte sind dann nichts Geringeres als das missing link zwischen dem Magischen und der Philosophie. Sie sind ein erster Schritt zur Entfernung vom Chthonischen. In den handgreiflichen Praktiken der Mysterien selbst könnte man hingegen ein beharrendes Refugium sehen gegenüber dem aufkommenden abstrakten Gottesbild der Philosophen und der Zurückdrängung des chthonischen Aspekts. Pointiert gesprochen müsste man die realen, von Eingeweihten an den Kultorten vollzogenen Rituale gegen die im Schoß derselben Mysterienkulte entstandenen, bereits abstrahierenden Mythen stellen. Es handelt sich dabei um gegenkulturelle Sinnspitzen. Zwar ist die These einer kulturellen Identitätsfindung und -sicherung der Griechen in der Wissenschaft umstritten, trotzdem könnte die Ambitioniertheit der einschlägigen Mythenproduktion doch als Hinweis genau darauf gelesen werden. Die Mysterienkulte als ambitionierte Erinnerung der als eine Art zweite Sesshaftwerdung und Landnahme empfundenen Gründung griechischer Wohnsitze? Einen vielleicht letzten Schub erhielt diese Abgrenzung gegen »den Orient« (womit das Persische Reich gemeint war) nach der Besetzung Athens durch die Perser 480. Faktum ist, dass die beginnende Ackerbaukultur auch im griechischen Raum mit den üblichen Weltdeutungen einherging. Teilweise lassen sich diese für die Träger der Linear B-Schrift sogar belegen. Im Nebel der mykenischen Kultur haben sich – auf vorgriechische Strata stützend – viele Grundlagen der späteren Philosophie herausgebildet: Fortlebensvisionen oder das abstrakte Lob von Statik und Harmonie. »Der Übergang von bloßen Ackerbauriten zu Mysterienkult und Jenseitsverheißung könnte sich in vorgriechischen Zeiten vollzogen haben.« Die Pflege eines begrenzten, bewusst angeordneten Ackers verband sich mit den alten Fruchtbarkeits- und Muttergottkulten. In allen frühen Kulturen galt die Bearbeitung des Bodens zunächst als Vergewaltigung der Erde, als Vergehen an der ursprünglichen Ordnung. Ich wies bereits auf Menschenopfer im vorgriechischen

I.4.2.

2.4.3.2.5.

2.4.3.2.6.

Demargne 1975, 143 Opfer

Goodman 1994

280

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Muth 1988, 42f

Kern 1922, Test. 212

Kerényi 1971, 223 Hodder/Meskell 2011, 243 Bataille 1957

Burkert 1972, 9

Diels 1964, Heraklit B5

Ebd., Empedokles B128

Kreta hin. Diese waren indes bei den Pflanzern und Ackerbauern ungewöhnlich. Dort praktizierte man unblutige Rituale: Getreide, Bier, Milch, Wein, Mehl, Öl, Wasser, Honig, Feigen, für weibliche Gottheiten auch Kleidungsstücke, wurden an typischen Kultorten wie Höhlen, Bergen, Wäldern – nur selten in Kulträumen, Häusern oder gar eigenen Tempeln (iera, naoi, oikoi) – geopfert. Ein Testimonium aus der orphischen Überlieferung berichtet: »Dass Menschen geopfert werden, sehen wir, da dies bei vielen auch heute noch so geblieben ist. Bei anderen hören wir hingegen das Gegenteil, dass sie nicht einmal Rinder zu kosten wagen. Ebenso, dass es nicht recht war, den Göttern Lebewesen zu opfern, sondern vielmehr Kuchen und Honig.« Nur mehr vereinzelt ist von Opfertieren die Rede. Auch Linear B-Texte bestätigen unblutige Opfer. Karl Kerényi sah in dieser neuen Wendung eine Reinigung von den frevelhaften Aspekten des Opfer(mahl)s, des Tötens und Zerteilens eines Opfertiers. »Diese Heiligkeit selbst zu reinigen und den Frevel aus den Grundlagen des Mahles so auszuschalten, daß es eher durch Unblutiges als durch Blutiges, eher durch eine Art Kommunion als durch eine ihr vorausgehende gewaltsame Zerteilung geheiligt wird: dies scheint ein menschliches Urbedürfnis zu sein, das sich auch in der Geschichte des antiken Mahles geltend macht.« Die Sublimierung von Gewalt in einem unblutigen Opfer ist die Kehrseite eines in den Religionen weit verbreiteten Narrativs. »Most archaic religions show a narrative that involves going through violence to resolution.« Nicht nur Georges Bataille hat den Zusammenhang von Gewalt und Transzendenz thematisiert, die Gewalt in der Religion ist ein großes und eigenes Thema, das weit in anthropologische Theorien führt. Es muss an dieser Stelle bei knappen Hinweisen bleiben, aber sie sind wichtig, weil Kunst und Architektur davon betroffen sind. Walter Burkert hat seine bekannte These im ersten Kapitel seines Buches Homo necans dargelegt. Er sah im blutigen Opfer ein zentrales Element des religiösen Kults: »Nicht im frommen Lebenswandel, nicht in Gebet, Gesang und Tanz allein wird der Gott am mächtigsten erlebt, sondern im tödlichen Axthieb, im verrinnenden Blut und im Verbrennen der Schenkelstücke. […] Grunderlebnis des ›Heiligen‹ ist die Opfertötung. Der homo religiosus agiert und wird sich seiner bewußt als homo necans.« Die anthropologische Ursache sah Burkert im paläolithischen Jäger und seinen Ritualen. Nun kollidierten diese Opferkulte allerdings mehr und mehr mit der Aufklärung der zeitgenössischen Intellektuellen. Heraklit setzte sich mit Blutopfern auseinander: »Sie reinigen sich, indem sie sich mit neuem Blut beschmutzen […] Für verrückt muss er gehalten werden […].« Bei Empedokles wird die abstrakt vorgestellte Liebe (Philia) mit Kultbildern und Malereien, mit Salben, Weihrauch und Honig anstelle des Blutes ermorderter Stiere gewürdigt. »Nicht aber wurde der Altar vom reinen Blut ermordeter Stiere benetzt, […]«, berichtet Porphyrios. Die Komödiendichter gossen ihren Spott darüber aus, dass die besten Teile der Opfertiere letztlich die Menschen in einem festlichen Mahl verzehrten. Aber gerade angesichts der fortschreitenden Abstraktion des Gottesbildes gewannen orgiastische Kulte kompensatorisch an Reiz. Diese Dialektik von blutigen und unblutigen Opfern begegnet im Verlauf der Geschichte öfters – bis zum Auftauchen blutender Hostien im Mittelalter, was den

281

Griechenland

»Fortschritt« der abstrahierten Opfertheologie des Christentums wieder konterkarierte. Es wäre reizvoll, in dieser Abstraktion zu unblutigen Opfern eine Ablösung von chthonischer Bodenhaftung zu sehen. An die Stelle der Ambivalenz des Chtho­ nischen trat eine prononcierte Sexualität, welche den Ackerbauern als fruchtbringende Begegnung von Himmel und Erde erschien. Dies wiederum setzte eine ausdrückliche Trennung von Himmel und Erde als eigenständiger Prinzipien voraus, ein Unternehmen, zu dem die im Schoß der Orphik entstandenen Mythen eine nachträgliche Erklärung lieferten. Schon die für diese frühen Kulturen wichtigsten Kulturtechniken, die Feuererzeugung und Getreidebearbeitung, waren, wie Mitteilungen über einen geheimnisvollen Behälter (cista mystica; bei den Hethitern gab es analog dazu den Korb mit den Kultgegenständen), der vor allem in den Demetermysterien eine Rolle spielte, bestätigen, mit dem Geschlechtsakt verbunden: Weckung des Lebens durch Reiben eines Holzstabs und die Verbindung von Mörser und Mörserkeule. Fruchtbarkeit war immer mit sexueller Konnotation verbunden. Der Myste musste Getreide zerstoßen und es mit Wasser zum Kykeon anrühren, ihn trinken und opfern. Walter Burkert machte darin den Akt des Zerstörens und des daraus resultierenden neuen Lebens fest: »[…] auch dies ist ein Akt der Zerstörung, der doch für die Nahrung notwendig ist; und die sexuellen Assoziationen des Stampfens und Mahlens liegen ganz nahe.« Die Rituale gehörten zum Kult der Demeter Eleutho, der Löserin und Vertreiberin der bösen Mächte, die den Zyklus der Natur störten. In der Demeter, der göttlichen Erdmutter, und ihrer Tochter Kore/Persephone spiegelt sich die Dimension des Ackerbaus, des Bewahrens und Verehrens der fruchtbaren Erde. Persephone wird von Hades geraubt, verweilt ein halbes Jahr in der Unterwelt und kommt im Frühjahr zurück. Dieses Verschwinden korrespondiert mit der »Erfindung« der Feldfrucht, dem Zyklus der Natur und der Fruchtbarkeit der Erde, die in symbolischer Weise durch den hieros gamos, die Heilige Hochzeit, zum Ausdruck gebracht wurde. Trotz aller Bindung zur Feldfrucht war das beliebteste Opfertier bei den weit verbreiteten Demeter-Kulten das Schwein. Es fand seinen Niederschlag in den Schweinestatuetten des Kultes. Die Assoziation dazu ist im Mythos das im Schweineopfer vorweggenommene Mädchenopfer als »Versinken des ›Mädchens‹ ins Totenreich« im Sinne der durch Hades geraubten Kore. An den Kultfesten zu Ehren der Demeter als gesetzgebender Gründerin des Ackerbaus (Thesmophoria) warfen Frauen Ferkel in einen Felsspalt. Demeter wird über den Verlust ihrer Tochter von Baubo, einer Einwohnerin von Eleusis, deren Name Schoß bedeutet, durch obszöne Gesten, darunter das Entblößen der Vulva, aufgemuntert. Die Darstellungen tragen nicht selten ein Bauchgesicht auf dem entblößten Unterleib. Über die vielfältigen Bezüge dieser Mythen, etwa der Parallelisierung des dionysischen Phallos-Kultes, ist hier nicht zu berichten. Diese sexuelle Konnotation hielt sich bei diversen rituellen Handlungen wie beim Brechen des »Brotes des Gewitters«. Der Demeterkult war äußerst populär und in der klassischen Zeit weit verbreitet. Der Hauptort war Eleusis, zu dessen Kult im 5. Jh.a beinahe alle Bürger Athens,

V.5.3.2.

2.1.3. Getreide­ bearbeitung

124 Libationsstein im Palast vom Malia, Kreta Burkert 1972, 301

Burkert 1972, 286

Demeterkult

282

Die antike Welt – Griechenland und Rom

zit. nach Burkert 1972, 281; in der Version des Sophokles: Speyer 1995a, 58

II.1.2.2.1.1.

125 Eros mit Opferschale und Korb für ­Demeter-Feste (4./3. Jh.a); MAT Jensen 1966 Hallof Luise/Hallof Klaus in Hesiod 1994, XXII

2.3.3.3.

auch Frauen und Sklaven, zu den Eingeweihten gehörten. Das älteste Dokument von Eleusis, ein pseudohomerischer Demeterhymnus, in dem es um »Domestikation« des Menschen vom Fleisch- zum Getreideopfer und um den religiösen Mehrwert von Tod und neuem Leben ging, datiert in das späte 7. Jh.a (er wurde später von Sophokles, einem Mysten von Eleusis, nachgedichtet): »Selig, wer dies geschaut hat unter den irdischen Menschen; wer aber an den Weihen nicht teilhat, hat niemals gleiches Los im modrigen Dunkel.« Der Stoff des Kore-Mythos ist – mit oder auch ohne Getreidekonnotation – alt. Bereits im sumerischen Mythos stieg die Himmelsgöttin Inanna/Ischtar in die Unterwelt (kathodos). Diese Unterweltfahrten standen allerdings im Zusammenhang mit Mädchen- und Jungfrauenopfer und – vordergründig jedenfalls – weniger mit Fruchtbarkeit und einer Mutter-Tochter-Geschichte. Sie waren noch stark chthonisch ausgerichtet und bekamen erst im frühen Griechenland ihren sexuellen Aspekt. In der späten Zeit Athens war es ein Mysterion, das sich um die Grundmächte der Wirklichkeit, Leben und Tod, Heil und Unheil, Segen und Fluch drehte. Ausgehend vom zyklischen Werden und Vergehen dachte man das Ziel des Menschen im Tod und in der darauffolgenden geläuterten Wiedergeburt, die sich im Schoß der Muttergöttin vollziehen sollte. Die Kon­ stanz dieser zyklischen Dynamik sichert letztlich das Leben. Der ständige Tausch der Grundmächte in einem sexuellen Stratum, der Ablauf von Tod und Wiedergeburt, der damit neues Leben generiert, ist eine analoge Struktur wie jene der getöteten Gottheit. In ihr könnte man als Struktur des negierten Widerspruchs und als generative Erzeugung von etwas Neuem das Urbild der philosophischen Struktur der Dialektik sehen. Luise und Klaus Hallof sprechen bei Hesiods Schilderung der Zeugung der Helle und des Tages durch Finsternis und Nacht von »erste[n] Elemente[n] dialektischen Denkens.« Es geht hier um die mythische Grundlage der generativen Kraft der Dialektik. Die Konnotation von Sexualität und Fruchtbarkeit ist noch den Dialektikkonzepten vom Neuplatonismus bis zu Hegel und Marx eingeschrieben. Dialektik ist derart ein ontologisch produktives Prinzip und wird in der Philosophie zur Erreichung eines vollendeten Systems statischer Synthese eingesetzt. Der Kultort Eleusis selbst ist gut ergraben und durch die vielen Eingeweihten in der klassischen Zeit sind wir über den Kult informiert. Die zeitgenössischen Schriftsteller tasteten sich mit ihren Berichten über die Mysterien stets an die Grenze der Geheimnisverletzung. Anhand von weithin exportierten Vasen kennen wir die eleusinische Ikonographie. Verwaltung sowie Kultpraktiken sind in Inschriften und Urkunden überliefert. »Im Bereich des alten Hellas sei hingewiesen auf die Heilige Straße, die Athen mit Eleusis verband, d.h. die Stadt mit der Feststätte weit draußen. Dort wurden im Jahresrhythmus die Feste der Demeter-Persephone-Mysterien gefeiert. Der Festzug nach Eleusis erlebte ausziehend das Tor (Dipylon), das Über-

283

Griechenland

schreiten des Wassers kurz vor Eleusis und wohl noch andere ›Stationen‹, an denen sich für die Mitziehenden wichtige Begegnungen ereigneten.« Solche kultische Begegnungen geschahen über heiliges Zeigen (deiknomena), heiliges Sprechen (legomena) und heiliges Handeln (dromena), Praktiken, die wie in nahezu jedem Kult auch in der christlichen Liturgie zum kultischen Repertoire gehören. Ursprünglich wurden die frühen Mysterien ohne Kultgebäude, in Naturheiligtümern abgewickelt. Dann entstanden Rundaltäre in Form von Steinringen und Gruben, sowie Opfertische und Herdaltäre. In Eleusis gab es ein ausdrückliches Kultgebäude, das Telesterion. Es handelte sich um einen »chthonischen«, fensterlosen Kubus, nur von Fackeln erleuchtet, mit einem quadratischen Säulensaal (54 mal 54 Meter). Alle vier Wände waren mit Tribünen für etwa 5000 Teilnehmer bestückt. Im Zentrum stand das Kultbild. Bei Morgengrauen konnte eine Dachluke geöffnet werden, um das anhebende Tageslicht in den nächtlichen Ritus einzubeziehen. Neben der Stellung von Zeus und Apollon sowie den Mysterien blieb in Athen der Kult der (dem Orient zugeschriebenen) Muttergöttin aktuell. Zum Unterschied vom Vorgriechischen gab es auch im Hinblick auf die weiblichen Aspekte des Göttlichen eine abstrahierende Anonymisierung. Die »Mutter«, wie sie häufig generalisierend genannt wurde, trug verschiedene Namen: Neben geographischen Zuordnungen (Mutter vom Ida, vom Dindymon etc.) auch mythische Reminiszenzen: Kybele, Demeter, Gaia. Das ikonografische Schema der thronenden Mutter (nicht selten flankiert von Löwen), das in Anatolien und Phrygien seinen Ausgang nahm, breitete sich im gesamten Mittelmeerraum aus. Als anonyme Mutter hatte sie in Form einer vom Phidiasschüler Agorakritos von Paros geschaffenen Statue einen prominenten Platz im Rathaus (Buleuterion) auf der Agora. »Die Göttin, die sich so im Herzen des politischen Lebens einrichtete, war kaum noch als die ursprüngliche Berggöttin erkennbar – ihr haftete (fast) nichts Wildes mehr an.« Sie diente als Aufseherin über die Rechtsprechung und Hüterin des kulturellen Gedächtnisses. Die universale Erdgebundenheit löste sich nach dem Eintritt des indogermanischen Himmelsgottes in die zwei Prinzipien Himmel und Erde auf, die über sexuelle Konnotationen die Fruchtbarkeit (in religiöser Überhöhung: das Fortleben nach dem Tod) sicherten. Es wird nicht überraschen, dass in solchem Kontext gleichgeschlechtliche Sexualität verpönt blieb. Wenn Platon später im Symposion eine Legitimation der Homoerotik lieferte, verweist das auf einen auffälligen kulturellen Wandel. In einem orphischen Text ging ein unbekannter Autor so weit, aus der sexuellen Vereinigung nicht in erster Linie Fruchtbarkeit, sondern Einsicht zu generieren. Ein solches Motiv, das Richard Wagner in der Begegnung von Parsifal und Kundry im Parsifal aufgriff, eröffnet eine neue Dimension, nämlich die Abstraktion des geistigen Gehalts aus der zyklischen Dynamik der Fruchtbarkeit. Als dieses Geistige in der Konstanz der zyklischen Dynamik kristallisierte sich die Harmonie heraus. Was sich geistig fixieren ließ, war der Rhythmus, in dem dies

Andrae 1964, 56

Kloft 1999, 20

Borgeaud Philippe in Kat. 2013a, 87

2.4.3.2.5. 2.1.3.

Harmonie

284

Die antike Welt – Griechenland und Rom

II.2.2.2.

2.2.3.

passierte, nicht der Prozess selbst. Das griechische Denken hatte von Anfang an die Tendenz, nicht mehr aus der magischen Beschwörung von Ma’at zu leben, sondern Rhythmus und Takt aus dem Zyklus der Natur zu abstrahieren und mit Rhythmus und Takt den Prozess auf ein abschließendes Ergebnis hin zu funktionalisieren. Rhythmus und Takt waren sozusagen das innere Geheimnis der Sesshaftwerdung und jetzt ein Instrument zur Sicherung von Stabilität – letztlich Grundlage der Bildung von Metaphysik. In diesen Zusammenhang gehört die Bewegung der Pythagoreer. Sie interessierten sich für die (musikalische) Harmonie im Kosmischen und buchstabierten diese Harmonie in mathematischen Zahlenverhältnissen. Das Erbe, das von hier aus in die europäische Philosophie- und Kulturgeschichte getragen wurde, ist gar nicht zu überschätzen. Sowohl in der Kunst und Architektur als auch in den Naturwissenschaften gibt das bis heute die Referenz ab. Zwar war dieser Lebensrhythmus immer noch göttlicher Natur, aber der Reiz der griechischen Behandlung des Stoffes ist, dass nun ein philosophisch zu nennendes Ringen um diese Themen als Prinzipien anhob. In einer holistischen Sicht der Welt war bisher alles fluch- und heilbringend zugleich und durch magische Riten konnte das Böse verjagt und das Gute (nicht als selbständiges Prinzip, sondern als ein Aspekt ein und desselben) beschworen werden. Jetzt verfolgen wir den Weg der achsenzeitlichen Trennung von Prinzipien. Das Ordnungsprinzip fand jetzt sein Werkzeug im rechten Rhythmus und hatte die Erreichung des Statischen zum Ziel. Uralte Stoffe wurden sozusagen rational finalisiert und man kann in der Herausbildung der Metaphysik – metaphorisch gesprochen – geradezu eine »zweite Sesshaftwerdung« sehen. Auf dem Weg von den vorachsenzeitlichen Ambivalenzen zur Metaphysik lag der offene Konflikt von Zeus und Phanes, abstrakt: von Statik und Prozess, wie er anschaulich im Mythos der Orphik erzählt wurde.

2.1.3. Die Orphik

Kerényi 1966, 14

Kern 1922, 398 Derveni-Papyrus

Als Anschauungsbeispiel dafür, wie Mysterienkulte mit ihren Mythen und Theogonien als missing link zwischen der mythisch-magischen Weltdeutung und der Philosophie angesehen werden können, bietet sich die Orphik an. Mit ihrer Mythensteuerung weist sie eine besondere achsenzeitliche Relevanz auf. Vielfach wird die Orphik in die Nähe der Lehre des Pythagoras gerückt und als Begegnung zweier Gestalten stilisiert: »einer historischen: der des Pythagoras, und einer mythischen: der des Orpheus […].« Christian A. Lobeck war einer der ersten, der in seinem Aglaophamus (1829) für authochthon-griechische Wurzeln der Mysterienkulte plädierte. Wie er hielt auch Otto Kern die Orphik für ein homerisches Plagiat. Kern stützte sich dabei auf einige Homer und Orpheus gemeinsame Verse. Die Datenlage indes ist inzwischen nicht schlecht und es ist – auch durch die Entdeckung des um 400a verfassten Papyrus von Derveni 1963 – heute weitgehend unbestritten, dass die Orphik ältere Wurzeln aufweist. Der Papyrus, der älteste, den wir haben – damit gleichsam das älteste »Buch« Europas –, wurde in der Nähe eines

285

Griechenland

Passes (nach dem der Papyrus benannt ist, nicht nach dem gleichnamigen Ort) etwa 12 Kilometer nördlich von Thessaloniki, in einem Kistengrab gefunden. Die Orphik könnte der Gedankenlage des 6. Jh.s entstammen und sich Orpheus gleichsam als Paten geholt haben, oder ihre Wurzeln reichen noch weiter zurück. In Kunst und Literatur scheinen sich orphische Motive bis in das 7. Jh. zurückverfolgen zu lassen. Mit dem Derveni-Papyrus kommen wir bis ins 5. und 6. Jh. Die alte Meinung von Wilamowitz-Moellendorff und Ivan Linforth, die von einer späteren, gar hellenistischen Zeit ausgingen, ist überholt. Auch wenn viele orphische Rhapsodien hellenistischen Ursprungs sein mögen, beziehen sie sich auf ältere Texte, sodass »die Anfänge von Glaubensinhalten, die spezifisch orphisch genannt werden können und die in heiligen Versen übermittelt wurden, erheblich früher lagen […].« Diese Ausgangslage lässt es zu, auch andere Funde zur Orphik in den Kontext einzubauen: die Goldblättchen in Großgriechenland, speziell die auf etwa 400a datierte Lamelle von Hipponion (Vibo Valentia) in Kalabrien mit einer eschatologischen Inschrift. Günther Zuntz optierte bei diesem manchmal als »Totenpass« bezeichneten winzigen Text für einen pythagoreischen Ursprung, Martin Nilsson und andere für einen orphischen. Weil Orpheus die Unterwelt so gut kannte, konnte er auch Tipps geben für das Bestehen dieser Herausforderung. Weitere Hinweise sind die Goldblättchen aus Thurioi (Sibari), ebenfalls Süditalien, des 4./3. Jh.s, Knochentafeln aus Olbia, der milesischen Kolonie auf der Krim aus dem 5. Jh.a. Jürgen Thimme berichtet von einem solchen Blättchen, auf dem der Spruch zu lesen ist: »Ich bin eingegangen in den Schoß der unterirdischen Königin.« Dies könnte auf die Tradition der Großen Göttin des Alten Orients verweisen, in der die Göttin des Lebens und der Neugeburt auch die Göttin des Todes war, der die Neugeburt erst möglich macht. Thimme fand die Spuren dieser Tradition auch in der griechischen Kultur. Noch im 2. Jh.p heißt es im Traumbuch des Artemidor von Daldis: »einer Göttin beizuwohnen […] bedeutet […] den Tod.« Die Orphik leitet sich von der historisch nicht greifbaren Gestalt des aus Thrakien stammenden Orpheus ab. Um die Gründerfigur ranken sich zahlreiche Legenden. Orpheus erscheint als Halbgott, Sohn des Apollon und der Muse Kalliope, als magus und medicus, als Schöpfer der (dionysischen) Mysterien. Mehrere antike Autoren schrieben ihm eine Reise nach Ägypten zu, wo er – wahlweise – die Mysterien kennen lernte oder sie dorthin brachte. Er war Sänger und die Musik ein integraler Bestandteil des Mysteriums. Bäume seien dem singenden Orpheus gefolgt. Sein Gesang habe Steine gerührt. Die Kenntnisse der Unterwelt habe Orpheus durch seine Fahrt in den Hades, um seine Gattin zu befreien, erhalten. Die ursprünglich auf Steine und Bäume beschränkte Wundermacht wurde später auf die ganze Natur ausgedehnt. Er habe Winde beschwichtigt und Ströme zum Rückwärtsfließen gebracht. Verschiedentlich wurde er als Schöpfer der Landwirtschaft besungen. Zuletzt sei er von rasenden Mänaden in Stücke zerrissen, nach an-

Guthrie 1950, 314f Böhme 1991 West 1983, 110 Linforth 1941

Kirk/Raven/Schofield 1957, 34

Zuntz 1971 Nilsson 1950, 223, 231 West 1983 Thimme Jürgen in Thimme u.a. 1968, 39

Artemidos von Daldis, zit. nach Thimme Jürgen in Thimme u.a. 1968, 39 Orpheus

Kern 1922, 14/25/26, test. 46/82/90

Riedweg 2003 126 F­ ußbodenmosaik Orpheus (5. Jh.a); IAM

286

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Kern 1950, 77/test. 250

2.1.3.2.

Speyer 2007a, 185

Schmidt-Hofner 2016, 73

derer Version von Zeus mit dem Blitz getötet worden, weil er Mysteriengeheimnisse, die heiligen Reden (hieroi logoi), weitergegeben habe. Tanz und Musik dienten der Reinigung der Seele und ihrer Ablösung aus der Welt und dem erdigen Körper. Vor allem der aus dem Osten stammende Aulos galt als orgiastisch und wurde dem Dionysos zugeschrieben, während die lichtvolle Lyra für die apollinische Wahrheit und Klarheit stand. In der Musik und der Lehre vom Fortleben der Seele nach dem Tod manifestiert sich eine starke Übereinstimmung zwischen der Orphik und den Pythagoreern, die später in den Texten Platons immer wieder angesprochen wurde. Der Neuplatoniker Proklos sah in einer Sukzession von Orphikern und Pythagoreern die Grundlage der »Theologie« (also Philosophie) der Griechen: »Die Theologie der Griechen ist ein Abkömmling der orphischen Mystagogie, zuerst des Pythagoras, der von Aglaophamos über die Orgien der Götter unterrichtet worden ist. An zweiter Stelle Platon, der das ganze Wissen aus den Pythagoreern und den orphischen Schriften entnommen hat.« Dass die Griechen den Kulturwandel mit ihren kulturellen Erzählungen kommentierten, scheint kaum in Abrede gestellt werden zu können. Inwieweit sie, die sich primär als Ionier, Arkadier oder Dorer und wohl auch als Athener oder Spartaner verstanden, dabei mit einer bewussten Mythensteuerung die schon öfters angesprochene griechische Identität konstruieren wollten, ist umstritten. Belastbare Hinweise auf eine solche Absicht gibt es kaum. Die Sprache, die in der frühen Zeit in vielen Dialekten in Erscheinung trat, taugt als Distinktionskriterium wenig. Auch bei Mythos und Religion ist es nicht einfach, eine solche Absicht festzumachen, zumal der Orient zumindest in der gehobenen Gesellschaft durchaus als modisch galt. Auch die großen Kult-Spiele waren eher Treffen der (internationalen) Aristokratie und nicht zwingend nur ein panhellenisches Ereignis. Aber es gibt auch Hinweise, welche die Vermutung einer solchen kulturellen Identitätssicherung stützen. Neben den vor allem in den Kolonien wichtigen Legitimationserzählungen gehören dazu einzelne Mythenstränge, auf die bereits verwiesen wurde. Das im orphischen Mythos geschilderte Ringen von Zeus und Phanes/ Eros könnte dafür ein treffendes Beispiel sein. Wolfgang Speyer geht in dieser Frage sehr weit und sieht in den Darstellungen der Siege über die von Asien einfallenden Amazonen oder des Kampfes um Troja auf den Friesen der Tempel ein Argument dafür, dass die Griechen durchaus als »Begründer eines sich bildenden europäischen Bewußtseins« aufgefasst werden können. Besonders im Umkreis der Perserkriege scheint ein Zusammengehörigkeitsgefühl und nach den Siegen ein Stolz des Hellenentums aufgetreten zu sein: »Die Perserkriegserinnerung trug auf diese Weise erheblich zur Entstehung eines gemeingriechischen Geschichtsbildes und damit zur weiteren Ausprägung eines Zusammengehörigkeitsgefühls der vielen hundert Gemeinwesen bei, deren Angehörige sich als Héllènes verstanden. Sie beförderten, in diesem Sinne, die Erfindung von Hellas.« Auch aus der Konstruktion der orphischen genealogischen Mythen könnte man ein solches Interesse einer kulturellen Selbstversicherung ableiten.

287

Griechenland

Die Frage nach der zeitlichen Einordnung dieser Kosmogonien mag müßig erscheinen ebenso wie der verschiedentlich unternommene Versuch, die divergierenden Chronologien zu vereinheitlichen. Überzeugender ist, sie im Sinne der vorachsenzeitlichen Ambivalenz und Addition in ihren Unterschieden stehen zu lassen und eher nach einer sich durchhaltenden Motivik Ausschau zu halten.

Schwabl 1962, 1481

2.1.3.1. Urzustand und die Spaltung der Welt Jede Kosmogonie und Theogonie braucht einen Anfang, einen dramatischen Urknall, mit dem die Entwicklung beginnen kann. Die Mythen im Umkreis um die Orphik kennen sowohl Urzustandsbeschreibungen als auch die Spaltung der Welt. Die Geschichte um den aus dem (es dabei zerbrechenden, also spaltenden) von der Nacht in das Dunkel (erebos) gelegten Weltei steigenden Phanes/Eros, der dann auf seinen Gegenspieler Zeus trifft, stiftet eine nachhaltig wirkende kulturgeschichtliche Konstante. Sie basiert auf einer Urzustandsbeschreibung, die mit vielen Begriffen durchgeführt wird (Chaos, Nyx, Erebos, Tartaros, Okeanos). »Solange diese Vorstellung von Leere nicht streng abstrakt aufgefaßt war, vertrug sie sich mit der Unterstellung eines gestaltlosen, feinstofflichen Elements (Wasser, Luft, Nebel) […].« Eine solche Urpotenz fungiert stets als Schoß des Werdens und lässt sich bereits im Orient als auch in Ägypten nachweisen. Der Okeanos hat Vorläufer in Tiamat (als Drachengestalt) und Apsu. Wie die Uroboros-Schlange (in der Anfang und Ende zusammenfallen) umgab der Okeanos die Welt. Die Genesis kennt Chaos (tohu wa bohu), Urflut (tehom) und Finsternis (hosak). Solche Urzustandsbeschreibungen changieren zwischen personalisierten und abstrakten Zuschreibungen, wie das im Griechischen immer wieder auftauchende Chaos. In ihm steckt die Wurzel cha, was Öffnung, Gähnen bedeutet und einen präkosmischen Status (gähnender Urgrund) ausdrückt. Es ist eine primäre Potenz ohne eigene schöpferische Funktion, die dann selbst Konturen erhält oder die einen »Raum« für die Trennung einer Einheit in zwei Prinzipien bietet. Chaos ist kein Ort (Aristoteles) und auch nicht einfach Unordnung, aber vielleicht ein noch konturloses und in diesem Sinn ungeordnetes Substrat. Die orphischen Texte erzählen von dieser Trennung. Die kontinuierliche Befruchtung von Gaia durch Uranos kann erst Chronos im Himmel-Erde-Trennungsmythos lösen, indem er mit einer eisernen Sichel dem Uranos das Zeugungsglied (dessen Spermaschaum Aphrodite entsteigt) abtrennt. Erst damit schafft er Raum und Licht zur weiteren Entfaltung. Die Trennung von Himmel und Erde, die um den Preis der Kastration des Vatergottes durch seinen Sohn erfolgte, ist aus dem Orient bekannt. Am ähnlichsten dürfte der Mythos jenem des hethitischen Getreidegottes Kumarbi sein. Er stürzte den Götterkönig Anu, indem er dessen Genitalien abbiss und das Sperma auf dem Berg Kanzura ausspie. Der Berg gebar die Flussgöttin Aranzah. Wie später Athene aus dem Kopf des Zeus geboren wurde, stieg der Wettergott Tessub (vielleicht der akkadische Adad) aus dem Kopf des Kumarbi. Auch er kastrierte seinen Vater. Im griechischen Mythos entsteht aus dem Ejakulat des Uranos die Göttin Aphrodite, deren Verbindung mit Uranos ihr einen astralen Aspekt gab, während

Urzustands­ beschreibung

2.1.3.2.

Ternus 1954, 1032

II.1.2.2.1.1. Gen 1,2 Eissfeldt 1960

Kirk/Raven/Schofield 1957, 40f

Himmel-ErdeTrennung

Eliade 1976, I, 231

288

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Wachsmuth 1975, 1520 II.3.2.4.

2.4.3.2.5.

ihr Geburtsort Wasser auf die ursprüngliche Dimension einer chthonischen Fruchtbarkeitsgöttin mit verborgenen Zügen der mesopotamischen Ischtar (oder eben auch der Flussgöttin Aranzah) verweist. Der Name Aphrodite hat in nur im ersten Teil einen griechischen Ursprung (aphros/Schaum), während der zweite Teil dunkel bleibt und vermutlich eine orientalische Herkunft hat. Es ließe sich trefflich darüber diskutieren, welche Botschaft die Griechen in der Übernahme dieses orientalischen Motivs von der Auflösung der Hierogamie zwischen Himmelsgott und Erdgöttin senden wollten. Im Kontext anderer ähnlicher Paradigmen würde die Deutung passen, dass es sowohl im Sinne der achsenzeitlichen Wende um ein Auseinandertreten der einzelnen Prinzipien ging als auch um die Lösung eines starken Himmelsgottes aus der chthonischen Sphäre. Es spiegelt sich hier der Aufstieg des Zeus zum Universalgott und All-Herrscher in der Konfrontation mit altorientalischen Himmels-, Wetter- und Berggottheiten. Erst in mykenischer Zeit war der mediterrane Vegetationsgott Zeus zum Kroniden aufgestiegen und in die ostmediterrane-vorderasiatische Sukzessions- und »›Königtum im Himmel‹-Mythologeme des 2. Jt.s v. Chr.« eingegliedert worden. Bei JHWH war das nationale Interesse, ihn zum Universalgott zu machen, offensichtlich, aber auch im griechischen Kontext dürfte es ein Interesse gegeben haben, den Königsgott Zeus an die griechische Identitätssicherung zu binden. Bei Homer ist dieser griechische Zeus voll ausgebildet und es gab die ersten Zeus-Bildnisse, wobei sich die Künstler auf Vorlagen von über einhundert Zeus-Epiklesen stützen konnten. Erinnert sei an den Grundtakt, den die Orphik vorgab, nämlich die Erfahrung der durch die Sesshaftwerdung gewonnenen Stabilität zu reflektieren. Diese zu einem Archetypus geronnene Erfahrung spiegelte sich im altorientalischen Ordnung stiftenden Gott ebenso wie im orphischen Mythos, wo Zeus die Ordnung stiftete, indem er das Chaos (Phanes/Eros) durch Inkorporation entschärfte. Die von Gott gestiftete Ordnung war jetzt die Statik, für die Zeus stand, philosophisch gesprochen: das Sein. Eine philosophische Verdichtung fand dieses Anliegen im Mythos (!) des Demiurgen bei Platon.

2.1.3.2. Zeus und Eros als Chiffren für das Ringen um Statik und Prozess Kirk/Raven/Schofield 1957, 25–32

Neben der Uranos-Gaia-Chronos-Theogonie und der Trennung von Himmel und Erde ist die orphische Geschichte um Phanes/Eros philosophisch besonders ergiebig. Sie ist eine von mehreren schwer einordenbaren Genealogien. Es geht hier um Stabilisierung des Prozesses und damit, neben der Gewinnung der Harmonie aus dem Zyklus der Natur, um den zweiten Teil der Umwälzung vom Vorgriechischen zum Griechischen. Die Geschichte erzählt von einem von der Nacht in den Urzustand Erebos (Dunkelraum) gelegten Weltei. Diesem Ei, Symbol der Vollkommenheit, ent­steigt Phanes/Eros und zerbricht es. Phanes/Eros steht hier als Chiffre für den Prozess und dieser Prozess wird im orphischen Mythos negativ als Kraft des Zerbrechens einer Ganzheit gesehen. Man findet hier keine Spur mehr vom alten Ma’at-Prinzip, sondern Phanes/Eros erscheint als Zerreißer der Welt, als Flaneur, der sich nirgends beheimatet, als Kraft des Negativen.

289

Griechenland

Zum Gegenspieler wird ihm Zeus als jener zur Statik neigende Pol, der alles auf sich hin versammelt. Es zeigt sich die Tendenz einer Universalität des Zeus, was schließlich zu einem »Zeus-Monotheismus im polytheistischen System« führte. In der Auseinandersetzung zwischen beiden Figuren setzt der Mythos das aus den orientalischen Erzählungen bekannte Verschlingungsmotiv ein. Darüber, wie die Äußerungen des Derveni-Papyrus zu dieser Sache zu deuten sind, gibt es inzwischen eine lebhafte und kontroverse Diskussion, die an dieser Stelle nicht dargestellt werden kann. Ich folge hier vorsichtig einer Spur, die von der herausragenden Stellung des Zeus ausgeht und mit dem Verschlingungsmotiv des Zeugungsgliedes operiert: »Zeus ist König, Zeus ist Anführer von allen, mit dem strahlenden Blitz« Zeus ist eins mit der gesamten Welt. Es liegt hier die alte Eins und Alles-Theologie vor beziehungsweise die Kosmotheologie Ägyptens. Zeus verschlingt Phanes, der mit dem Zeugungsglied gleichgesetzt wird. Der Autor des Papyrus unterstreicht, dass das Zeugungsglied Ausdruck des ersten Werdens und Entstehens (Protogonos) ist und vergleicht es mit der Sonne. Aus diesem Phallos entstand alles. Das heißt: Zeus wird zum Erschaffer von allem. Manches deutet darauf hin, dass Phanes ein späterer Deckname für Phallos war und die Verschlingung des Phallos auf die Verschlingung der Kinder durch Kronos abgemildert wurde. Diese Zeilen lassen sich mehrfach entschlüsseln und alle Lesearten scheinen plausible Aspekte darzustellen. Naturgemäß bietet sich aus kulturgeschichtlicher Perspektive an, ein fernes Echo der Absorption des ruhelosen Wanderns der Jäger- und Sammlerkultur durch die Sesshaftwerdung zu erkennen. Zivilisations- und religionsgeschichtlich steht der Anspruch einer Eigenständigkeit einklagenden griechischen Kultur im Mittelpunkt, die die sexuell konnotierten, eine polare Wirklichkeitssicht ausdrückenden Götter aus dem Osten in die eigene kulturelle Identität des Ist-Sagen-Könnens (der indogermanischen Sprachcharakteristik) inkulturieren. Aus einem chthonischen Prinzip wurde gleichsam unter der Hand des indoeuropäischen Vater- und Himmelsgottes das harmonische Gesetz, alles Bewegte in einem Ist zu beruhigen. Dass sich von da her auch eine Stellung gegen den »asiatische[n] Sinn für das Bewegte des Lebens« aufbauen ließ, liegt auf der Hand. Es ist zudem der konsequente Nachvollzug der Abstraktion der chthonischen Erdkulte durch den indogermanischen Himmelsgott. Und schließlich geht es philosophisch um die vorbegriffliche, noch mythisch konnotierte Figur der Präsenz. Sie parallelisiert das Denken der großen Vorsokratiker Parmenides und Heraklit. Es ist interessant, wie insbesondere bei Parmenides die in sich ruhende Präsenz des Seins als Postulat vertreten wurde, weil jede »Mechanik« fehlte, um die dynamische Seite des Seins auf eine Präsenz hin aufzulösen. Demgegenüber war Heraklit mit seiner Präsenzvorstellung, die sich aus der Selbstaufhebung der gegenläufigen Dynamik ergab, einen Schritt weiter. Platon setzte die Dynamik des Phanes/Eros bewusst ein

Muth 1988, 73 Verschlingungsmotiv

Kotwick 2017

Kol. 19; ebenso Zeus-Hymnus: Kern 1922, 201, frgm. 168, 2 Kol. 56 II.2.3.2. Kol. 13 Kol. 16 Kirk/Raven/Schofield 1957, 36f 127 Eros von ­Praxiteles (?) in röm. Kopie (2. Jh.p); MAN

Schefold 1967, 31

Neidl 1989

2.3.3.2.

290

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.4.3.2.5.

Dionysos Kerényi 1976 Muth 1988, 114

Marek 2010, 155f Kern 1922, 249f, frgm. 236, 237

Hasenfratz 2004, 79

128 Dionysos mit Eros (2. Jh.p); MAN Fauth 1975, 77ff

Papaioannou 1971, 71

3.3.3.

Sauron 2013, 109f

und baute die Geschichte so um, dass aus der zerreißenden eine heilende Charakteristik wurde. Sein Demiurgen-Mythos verdichtete diese Aspekte genial. In der Literatur selten befragt ist in diesem Zusammenhang die Verbindung von Phanes/Eros und Dionysos. Für Robert Böhme ist die Beziehung offensichtlich, ging es doch in den orphischen Mysterien um einen Kult des Dionysos. Karl Kerényi beschrieb eine Reihe von Bezügen näher. Dionysos gehört dem ägäisch-mediterranen Funktionskreis eines jung sterbenden Vegetationsdämons an, trägt aber auch thrakisch-phrygische Züge des Orgiastischen. Tierverkleidungen (wie Zeus als Stier), Rausch, Musik und Tanz dienen als Ausdrucksformen. Im Kult der Phrygier spielte die Musik zur Erzielung von tranceartigen Zuständen eine große Rolle. Es gibt auf Inschriften und Fragmenten ähnliche Bezüge bei Dionysos wie bei Phanes/Eros. Der bereits vorgriechisch nachweisbare Gott Dionysos steht für die wilde, unkultivierte Natur. Der Wein – Ergebnis der kultivierten Natur – führt durch seine Wirkung zurück zur Ursprünglichkeit. Titanen, als Frauen verkleidet, zerreißen Dionysos, Zeus verschluckt ihn und gebiert ihn ein zweites Mal. In den Dionysos-Mysterien wurden wilde Tiere zerrissen und roh verzehrt. Dabei sollte die Kraft des Gottes auf die Mysten übergehen. Auf der Insel Tenedos (heute Bozcaada) nannte man Dionysos den »Menschen-Zerreißer«. Er hatte immer die Charakterisierung des Spaltens und des Anarchischen. Eine Tafel von Pylos auf der Peloponnes sowie zahlreiche andere Hinweise stärken in der Wissenschaft die Fraktion derjenigen, die Dionysos bereits im minoischen Raum beheimaten. Eine außerordentlich treffende Bemerkung von Kostas Papaioannou macht auf die kulturgeschichtliche Dimension dieser Konstellation aufmerksam: »Die ferne, jenseits des Meeres gelegene Welt, aus der Dionysos kommt, ist weder Thrakien noch das mythenreiche Phrygien, sondern einfach die Anti-Welt, in der sich alle klar umrissenen Formen des apollinischen Universums und der staatlichen Ordnung auflösen.« Es soll uns »daran erinnern, wie labil und ›krisenanfällg‹ die Ordnung ist, welche die Zivilisation der Natur abgerungen hat.« Über die genauen Abläufe der Dionysos-Mysterien sind wir nicht informiert. Sowohl Texte als auch bildliche Darstellungen lassen sich daher kaum entschlüsseln. Das wirft einige Folgeprobleme auf, etwa in der Entschlüsselung der Fresken in der Casa dei Misteri in Pompeji. Im Hellenismus und im hellenistisch beeinflussten Rom wurde der Kult vor allem bei den Herrschern populär. Man ahmte den Gott Dionysos nach, kränzte das Haupt mit Efeu und ergriff statt eines Szepters den Thyrsosstab. Neben Festumzügen und Triumphzügen gab es dionysische Bankette.

291

Griechenland

2.2. Griechenland nach den Dunklen Jahrhunderten In der Wissenschaft hat sich für die Zeit nach dem großen Einbruch der Kultur am Ende der Bronzezeit mit der Zerstörung der mykenischen Burgen um 1200a der Ausdruck Dunkle Jahrhunderte (Dark Ages) eingebürgert. 400 Jahre später, um 800a, tritt uns ein kultureller Neustart entgegen, eine Wiedergeburt Griechenlands – und dies gleich auf höchstem Niveau. Ein inzwischen gewonnener Blick ermöglicht mit den Worten Sinclair Hoods eine differenziertere Sicht auf die Zusammenhänge, als sie uns von David Abulafia mit seiner Bemerkung von der ägäischen als der ersten mediterranen Kultur, angeboten wurde. Mit Blick auf Form und Inhalt dieser bronzezeitlichen Kultur meint Hood: »The art of the Aegean Bronze Age belonged to the Oriental world of this time: that is to say, it was far more Oriental in character than the art of later Greece was ever to be. Nevertheless something peculiarly European has been detected in the art of Minoan Crete, something which was inherited by the Mycenaean world, and which surfaced again in the awakening of Greek art in the Archaic period.«

1.2.

Hood 1978, 241

2.2.1. Kontexte Wie dunkel diese Periode, »darkest in the history of Greece«, wirklich war, ist mit Blick auf diese erstaunliche Reife der plötzlich auftauchenden Kultur nicht unumstritten. Die Kritiker der Dunkelheit dieser Zeit verweisen schon lange auf die sich bis ins 8. Jh. hinziehende Einwanderung. Schon vor den Dunklen Jahrhunderten, am Beginn der Eisenzeit Ende des 11. Jh.s, zogen demnach griechische Siedler über die Ägäis nach Kleinasien: die Äolier in den Norden, die Dorer in den Süden und die größte Gruppe, die Ionier, in die Mitte. Die Wissenschaft operiert mit dem Begriff einer postpalatialen Epoche (lat. nach den Palästen) und versammelt darin die anwachsenden Funde aus der Zeit nach der Zerstörung der Paläste. Eindrucksvoll etwa das Apsidenhaus und die wertvollen Grabbeigaben von Lefkandi aus dem 10. Jh. Trotzdem, wie auch immer man sie eingrenzen will, leuchten diese Jahrhunderte nach heutigem Wissensstand kaum besonders hell. Umso drängender trat um 800 eine Kultur ans Licht, die in der Kunst den geometrischen Stil, in der Literatur die Fixierung der oral poetry in einer neuen Schrift, der ersten Buchstaben- und Lautschrift der Geschichte, umfasste. Wann diese Lautschrift durch Einfügen von Vokalen in die nordsemitische Konsonantenschrift genau entstand, ist umstritten. Älteste Zeugnisse (Nestor-Skyphos aus Ischia, Dipylonvase aus Athen) datieren in das späte 9. und 8. Jh. Einigermaßen greifbare Grundlage für den kulturellen Aufschwung sind die neuen Handelsbeziehungen, die sich durch das gesamte Mittelmeer zogen. Aufgebaut wurden diese Netzwerke von kanaanitischen Händlern aus dem Libanon, die von den Griechen Phönizier genannt wurden. Die phönizischen Seeleute wagten sich bei ihren Fahrten von Kreta nach Sizilien und weiter nach Gibraltar erstmals über das offene Meer. Am Aufbau dieses Netzes waren die frühen Griechen, die als Piraten in die Weltgeschichte eintraten, beteiligt. Sie plünderten die mauerlosen Dörfer aus und lebten davon, berichtet uns Thukydides. Im 7. Jh. wurde ihr »Handwerk«

Robertson 1929, 37

Hampl 1960

Stein-Hölkeskamp 2015, 37–43

Pfohl 1968

Phönizier

II.3.1. Abulafia 2011, 115 Thukydides, Hist 1,5

292

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Wiesner Joseph in ­Thimme u.a. 1968, 149

Woolley 1961, 115

Alphabetschrift

Morenz 2011 Marek 2010, 180

Neer 2013, 88

organisierter und sie dienten als Söldner der saitischen Dynastie in Ägypten und im Neubabylonischen Reich. Es gab demnach bereits früh eine Verbindung zwischen den Phöniziern und den Griechen. Homer erzählt in seiner Odyssee von einem Mischkessel, den Hephaistos für den phönizischen König von Sidon fertigte. »Die Dichtung erweckt den Eindruck sehr alter Verbindungen zwischen Frühgriechen und Phöniziern, die über kostbare Kunstwerke verfügten.« Der Kult des Hephaistos war vorgriechisch und vielleicht spiegelt sich darin die Verehrung der vor- und außergriechischen Kunst. Hephaistos galt den Griechen nicht nur als Kunsthandwerker, sondern auch als Architekt und Baumeister, der Götterwohnungen baute. In den phönizischen Mythen gab es den Künstlergott Koscher, der viele Parallelen zu Hephaistos aufwies. Wie Dichter und Sänger benötigten auch die Künstler eine Eingebung, für die in Griechenland die Göttin Athene sorgte, die auch mit der Kunst assoziiert war. Ähnlich wie im Handel boten die Phönizier durch die intensive Begegnung mit dem Orient auch in Kunst und Architektur einen Umschlagplatz von kreativen Ideen. »Den Phöniziern ist es zu verdanken, daß sich bis zum 14. Jh. v. Chr. so etwas wie eine koine im östlichen Mittelmeerraum entwickelt hatte.« Für die Organisation der Handelsaktivitäten stand die neue Schrift zur Verfügung. Irgendwann zwischen 2000 und 1500 wird es wohl gewesen sein, dass aus einer Auswahl von ägyptischen hieratischen Schriftzeichen und einem Übergang über eine Silbenschrift vielleicht von Phöniziern (Sarkophag des Ahirom, Byblos), jedenfalls im nordsemitischen Raum, Buchstaben gebildet wurden. Die Griechen hielten die Alphabetschrift für ein orientalisches bzw. phönizisches (phoinikeia grammata) Erbe. Sie dürfte das Ergebnis eines ägyptisch-kanaanäischen Kulturkontakts gewesen sein. Vielleicht gab es bei der Übernahme der Buchstabenschrift durch die Griechen eine anatolische Vermittlung (Phrygier), allein »der Löwenanteil an Orientalischem in der frühgriechischen Kultur ist semitisch.« Genaueres ist kaum zu sagen, zumal die ersten Schreibstoffe keine lange Haltbarkeit hatten, auch wenn manche gerne Byblos als den Ort der Entstehung der linksläufigen Buchstabenschrift namhaft machen möchten. Das Entstehen der von den Griechen adaptierten Alphabetschrift mit der Einführung der Vokale in die Konsonantenschrift im 8. Jh. war »Teil eines weiträumigen Trends.« Allerdings kursiert in der Wissenschaft auch die Meinung von einem oder einigen wenigen »Erfindern« der Schrift. Die meisten Buchstabenbezeichnungen sind semitischen Ursprungs und orientieren sich in ihrer Form an den ursprünglichen Bildern. Alpha verweist auf das altsemitische Wort für Ochse (alf), in Beta findet sich jenes für Haus (bajit). Die Form der Buchstaben hat mit dieser Bedeutung zu tun, Alpha leitet sich vom gehörnten Ochsen- oder Rinderschädel ab, Beta vom Grundriss eines Hauses, im Mü steckt die Wellenlinie des Wassers (majim), im Nü die Bewegung der Schlange. Von da her stammt die Gleichung: Ochse-Haus = Alpha-Bet. Die Abstraktion vom benannten Gegenstand (Akrophonie) führte zu Buchstaben, deren Form sich erstaunlicherweise über Jahrtausende kaum geändert hat. Allerdings funktioniert das nicht

293

Griechenland

immer, weshalb einige Forscher diese verbreitete These, jedenfalls für manche Buchstaben, in Frage stellen. Mithilfe des phönizischen Handelsnetzes verbreitete sich die Schrift rasch im gesamten mediterranen Raum bis nach Südarabien, Indien und Äthiopien. Trotz der einfachen Form der Buchstaben blieb die Entzifferung der Texte lange ein Problem. Fehlende Wortzwischenräume und das anfängliche Fehlen der Vokale waren dafür die Ursache. Mit Hilfe dieser Schrift konnten die Sänger und Dichter, die sich hinter dem Namen Homer verbargen, den Griechen Narrative für ihre Identitätsbildung liefern. Die Texte dieser Weltliteratur waren anfangs keine Prosa, sondern gebundene Dichtung. Auch die frühen juristischen und philosophischen Texte wie die Verfassung Solons oder die meisten Schriften der Vorsokratiker waren in gebundener Sprache verfasst. Diese gut handhabbare Schrift war (wie seinerzeit im Alten Orient) eine der Voraussetzungen für das Entstehen der Stadt. Es war die Landwirtschaft, die in der archaischen Periode (8.–6. Jh.) die Grundlage für die Bildung der polis abgab. Für unseren Zweck kann man an der Gleichsetzung von Polis und Stadtstaat festhalten. Daran schließt sich eine von Frank Kolb angemahnte Präzisierung an, dass eine Polis eine sich selbst verwaltende Bürgergemeinde bezeichnete, während die territoriale Seite eher sekundär war, sodass unter Umständen ein Stadtstaat auch mehrere Poleis umfassen konnte. Die Poleis, ihrerseits meist Zusammenschlüsse mehrerer Siedlungen (Synoikismos), waren autonom, sicherten den Bürgern Eigentum und gewährten Rechtssicherheit. Sie boten eine bewusste Abgrenzung gegenüber »den Nichtzugehörigen, sowohl außerhalb als auch innerhalb.« Symbol dieser Grenzziehung war in vielen Poleis die mit den alten Bedeutungen aufgeladene Mauer, die (in frühesten Fällen im 8. Jh.; Smyrna?) verbreitet im 6. Jh. errichtet wurden und die »zu einem wichtigen Bestandteil der symbolischen Repräsentation der Territorialität der Polis geworden waren.« Anders als in den Adelssitzen und isolierten Dörfern, die weiter existierten, entwickelte sich in den Städten Kultur sowie Spielregeln gesellschaftlichen Umgangs, ein Komplex, den man schließlich als Politik bezeichnete. Die kleinasiatischen Städte Milet, Pergamon, Ephesos, Samos, Chios waren Brennpunkte eines kulturellen Transfers zu den benachbarten Reichen der Phrygier und Lydier. In diesem Gebiet, namentlich in Milet, begann um 600a die Philosophie. Die Frage, warum die Griechen in ihrer Geschichte dem Konzept der Polis verhaftet blieben und (selbst in Gebieten, in denen sich geographisch ein Zusammenschluss nahegelegt hätte) nie – über einen losen Verband hinausgehend – so etwas wie einen Flächenstaat realisierten, ist nicht mehr zu beantworten. Den zahlreichen Spekulationen dazu sei an dieser Stelle zumindest ein komparatistischer Hinweis hinzugefügt: Sowohl in seinen Mythen als auch in seiner Philosophie spielte der Grieche zwar die Dialektik von Einheit und Vielheit (hen kai pan) durch, aber er entwickelte nie auch nur ansatzweise ein Organisationsprinzip für die Vielheit. Die Einheit wurde abstrakt, unanschaulich und unsagbar dargeboten. Man könnte einen Vergleich mit dem Tempelbau ziehen. Der Grieche baute einen richtungslosen Ringhallentempel (Peripteros, der früheste bekannte ist möglicherweise der Hera-Tempel

Entstehen der Stadt

Kolb 1984, 59f

Lotze 1995, 20 Stein-Hölkeskamp 2015, 133 II.1.2.2.1.

294

Die antike Welt – Griechenland und Rom

3.3.2.1.

Agora

Akropolis

Mumford 1961, 158

Bremmer 1996, 38

Lotze 1995, 26

Marek 2010, 165

von Argos aus dem 7. Jh.), der wie eine Skulptur ohne Bezug zu anderen Raumgebilden in der Polis oder Landschaft stand. Wie unterschiedlich der Raumbezug hier gesehen wurde, macht spätestens der Vergleich mit den axialen Tempeln bei Etruskern und Römern klar. Die griechischen Tempel standen anders als die römischen (und die Kathedralen des Mittelalters) als isolierte Zentralidee im Stadtgeflecht. Es gab keine auf die Tempel ausgerichtete Ordnung, etwa angezeigt durch Straßenzüge. Nur das Zentrum der Polis schien organisiert: die Agora mit dem Haupttempel, um den sich die öffentlichen Gebäude gruppierten. Die Agora war das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herz der Stadt. Sie wurde zu einem Symbol der Stadt, zu dem Ort der Kommunikation, die alle kulturellen Erzählungen, in erster Linie jene des Politischen, hervorbrachte. Die Agora stiftete geradezu einen Mythos der Stadt, der sich zur Piazza der Renaissance fortsetzte und sich in den modernen städtischen Malls verliert, während die Orte der Kommunikation wie überhaupt das, was man »öffentlichen Raum« nennt, anscheinend keinen geographischen Platz mehr benötigen, sondern in den virtuellen Raum abgewandert sind. Über der Agora thronte die Akropolis (griech. akro/hoch; polis/Stadt), Rest der alten Tempelbergidee. Der Tempel kannte – zumindest ursprünglich – zwar Priester und Priesterinnen, aber keine institutionalisierte und mächtige Priesterkaste und eine nur bescheidene Tempelwirtschaft. Er war das religiöse Legitimationszentrum der Polis. »Wie andere Orte der Antike war auch die griechische Stadt von Anfang an Heimat eines Gottes.« Und ebenso wie an anderen Orten des Orients hatten viele Heiligtümer eine Infrastruktur. Tempel boten Schutz für Sklaven oder Verfolgte und die Aufwendungen für die manchmal stattliche Zahl solcher Schutzsuchenden neben dem üblichen Betrieb machten Einnahmen durch Verpachtung und Bewirtschaftung von Landflächen notwendig. Auch wenn die Griechen keine Ambition auf eine Flächenstaatsgründung hatten, waren sie doch eifrige und durch die gesamte Geschichte andauernde Gründer von Pflanzstätten, die – zwar eigenständig und mit eigenem Bürgerrecht – der Mutterstadt (Metropolis) in der Regel in Kult und Verfassung eng verbunden blieben. Wir bezeichnen den Vorgang nicht ganz zutreffend mit dem modernen Wort »Kolonisation«, das passendere Fachwort lautet Apoikie (Umsiedelung nach auswärts). Die Gründe für diese Umsiedelung und die Herkunft der dafür notwendigen geographischen und technischen Kenntnisse liegen noch weitgehend im dunkeln. Erste Höhepunkte wurden in der Zeit vom 8. zum bis 6. Jh. erreicht. Die Städte beriefen sich auf legendäre Gründerpersönlichkeiten, militärische Führer, Kultur- und Religionsstifter, die nach ihrem Tod als Heroen verehrt wurden. Die ersten Griechen in Kleinasien dürften Äoler gewesen sein und sie scheinen verantwortlich für den ältesten nachmykenischen Architekturbeleg auf dem Bayrakli-Hügel in Smyrna (heuten mitten in Izmir). Nach dem Auftauchen Griechenlands aus den Dunklen Jahrhunderten dominierte das Zentrum Sparta, dem dann in Athen eine Konkurrenz erwuchs. Die Rivalität von Sparta und Athen prägte weitgehend die Geschichte Griechenlands. Sparta, das durch strenge Disziplin und Pflege der Kampfkraft legendär wurde, stützte

295

Griechenland

sich auf einen mit Diplomatie und militärischem Druck erreichten Peloponnesischen Bund. In beiden Metropolen gab es anfangs ein Königtum, das allerdings eine durch den Adel stark beschränkte, schwache Institution war. Politische Befugnisse kamen dem Archon zu, die höchste Autorität lag beim Rat, der am Areshügel (Areopag) tagte. Verbreitet kam es in den griechischen Städten zur Herrschaft von Usurpatoren, die man Tyrannen nannte. Der erste Tyrann war Orthagoras in Sikyon oder Kypselos von Korinth im 7. Jh. Der berühmteste wurde durch Schillers Ballade Polykrates von Samos, der um 530 eine auf Piraterie gestützte Herrschaft ausübte, Samos gleichzeitig allerdings zu kultureller Hochblüte führte. Am längsten hielt sich mit Dionysius die Tyrannenherrschaft von Syrakus. Erst in späterer, bereits von demokratischen Spielregeln geprägter Zeit wurde die Tyrannis (der Ausdruck soll lydischen Ursprungs sein) negativ bewertet. In vielen Fällen brachte diese Regierungsform nachhaltige kulturelle Impulse, die durchaus Würdigung verdienen. Die griechische Polis schlechthin wurde Athen. 594 wählte man, in einer Zeit großer sozialer Ungleichheit, Solon zum Archon. Er führte soziale Reformen durch, gewährte Schuldenerlässe und band das politische Mitwirkungsrecht an das Vermögen. Dieses Kriterium löste jenes der Abstammung ab. Die Reformen Solons waren aber nicht nur sozialer und politischer Art. Er scheute sich nicht, etwa die »barbarische« Totenklage der Klagefrauen zu verbieten. Ebenso untersagte er den ausschweifenden Luxus bei Grabbauten. Man kann ihn als Kulturstifter sehen, der das Maßhalten in die noch ungeregelte (dionysische) Natur brachte. Trotz der Solonischen Reformen gingen die Kabalen der Adelsgeschlechter weiter. 546 erhielt auch Athen seinen Tyrannen: Peisistratos, der die Ansprüche des Adels in Schranken wies. Das Reformwerk Solons, das er kaum antastete, und eine weitgehend auf Gewalt verzichtende Herrschaft verhalfen ihm zu verbreiteter Akzeptanz bei der nicht-aristokratischen Bevölkerung. Er baute Athen zum ökonomischen und kulturellen Zentrum Attikas aus. Handwerk und Kunst erlebten einen Aufschwung. In der rotfigurigen Vasenmalerei erreichte Athen die Marktführerschaft gegenüber dem konkurrierenden Korinth. Im 7. und in der ersten Hälfte des 6. Jh.s war Korinth das Zentrum der Vasenmalerei gewesen. In der Antike galt Korinth jedenfalls als Entstehungsort der Malerei. Der Einfluss reichte bis ins etruskische Italien. Die Panathenäischen Spiele in Athen (wo auf Geheiß des Tyrannen die Ilias und Odyssee vorgetragen wurden), das bedeutendste, alle vier Jahre abgehaltene herbstliche Kultfest mit einer Prozession vom Dipylon-Tor zur Akropolis, sowie die Dionysien wurden gefördert und erste große Bauprojekte realisiert, darunter ein großer Athenatempel auf der Akropolis (der von den Persern zerstört wurde). Ein überdimensionierter Zeus-Tempel (Olympieion) östlich der Akropolis blieb unvollendet. Der halbfertige Tempel diente lange als Symbol der Hybris eines Tyrannen, bis er in hellenistischer Zeit fertiggestellt und vom römischen Kaiser Hadrian geweiht wurde. Dazu kamen Wasserversorgungssysteme und Brunnenanlagen sowie die Erschließung des Gebietes der Agora. Aristoteles berichtet, dass die Peisistratos-Zeit manchmal als Goldenes Zeitalter bezeichnet wurde. Peisistratos starb 528/27, seine

Jäger 1934, 202–303 Athen

3.1.2.

129 Zeus-Tempel (Olympieion), Athen (6. Jh.a–2. Jh.p)

296

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Perserkriege

II.1.2.8.

Söhne Hippias und Hipparchos konnten sich nicht mehr lange halten. 514 wurde bei den Panathenäen unter undurchsichtigen, jedenfalls nicht nur politischen (für welche die Tyrannenmörder gefeiert wurden) Umständen, Hipparch ermordet. Hippias übte in der Folge eine Schreckensherrschaft aus, bis er 510 gestürzt werden konnte. Eine ältere, aus spätarchaischer Periode stammende Bronzedarstellung der Tyrannenmörder dürfte ein Meisterwerk des attischen Bildhauers Antenor gewesen sein. Sie wurde 480 von den Persern nach der Einnahme Athens nach Susa verschleppt und ist seitdem verschollen. Die Herrschaft dieser beiden hat den Ruf der Tyrannis ins Negative kippen lassen. Nochmals drängten die alten Adelsclans an die Macht, aber die Zeit dafür war vorbei und die Tyrannis desavouiert. Es war Kleisthenes, der in einer Neuordnung Attikas die alte gentilistische Ordnung durch eine Territorialordnung (Demen) ablöste. Die Vertreter der Demen waren im »Rat der Fünfhundert« (Bule) repräsentiert. Darüber fungierte der Areopag, das oberste Aufsichts- und höchstrichterliche Organ der Polis. Man sprach noch nicht von Demokratie, sondern von Isonomia, der gleichmäßigen Zuteilung und von isokratia, der gleichmäßigen Verteilung der Macht. Die neue politische Ordnung suchte ihren Ausdruck in einem Bauprogramm, bei dem ein Vor-Parthenon auf der Akropolis entstand. Für den Rat wurde ein Bouleuterion (am ehesten mit Rathaus zu übersetzen) gebaut und für die Volksversammlung die Pnyx, ein halbkreisförmiger Platz, auf dem bis zu 6000 Menschen ihre politischen Beratungen und Abstimmungen durchführen konnten. Zwei große politische Themen bestimmten die Geschichte Griechenlands: neben dem bereits erwähnten Antagonismus zwischen Athen und Sparta die Auseinandersetzung mit den Persern. Um 559 gewann der Achämenide Kyros II., ursprünglich Vasall der Meder, die Königsherrschaft über ein zunächst kleines Reich, das er mit großem Tatendrang erweiterte. In den Vierzigerjahren des 6. Jh.s eroberte Kyros das Lyderreich, dessen König Kroisos angesichts der sich abzeichnenden Bedrohung bei allen wichtigen Orakelstätten verzweifelt um Rat gefragt hatte. In Delphi prophezeiten ihm die Priester den Untergang. Delphi war angesichts der riesigen Ressourcen des Perserreiches sehr pessimistisch und riet auch den griechischen Städten in Kleinasien, die in ihrer großen Mehrheit Kroisos unterstützten, zur Unterwerfung oder Evakuierung. Doch die Fremdherrschaft der Perser war anfangs für die Griechen durchaus erträglich. Den Persern war die Konsolidierung in Babylonien (539) und Ägypten (522 durch Kambyses) wichtiger. Ungemütlich für Griechenland wurde es vor allem durch die ohnehin nur halbherzige Unterstützung des Aufstands einiger ionischer Städte, darunter der Metropole Milet, gegen die persischen Oberherren durch 20 athenische Schiffe (Sparta hielt sich ganz aus der Sache heraus) um 500/499. Wodurch der Aufstand motiviert war, ist nicht ganz klar, denn die Lebensbedingungen unter der persischen Oberhoheit waren, nach allem, was wir wissen, nicht schlecht. Der Handel blühte ebenso wie Kunst und Kultur. Auch in Religionsdingen waren die Perser einigermaßen tolerant. Im Mutterland hatte man zudem großen Respekt vor den Persern und es war nur eine Verschlimmerung der Lage zu erwarten. Daher hielt man sich auch sehr

Griechenland

zurück. Sebastian Schmidt-Hofner vermutet den Willen zu politischer Mitsprache bei weiten Teilen der Bevölkerung angesichts der von den Persern gestützten Tyrannen oder Oligarchen. Der Aufstand scheiterte. Die Perser rückten 496 in Milet ein und dürften weiträumige Zerstörungen angerichtet haben, die aber kaum so weit gingen, wie sie uns von Herodot berichtet werden. Der Tragiker Phrynichos brachte dieses Debakel auf die Bühne und löste in Athen Panikreaktionen aus. Das Werk wurde mit einem Aufführungsverbot belegt, der Dichter zu einer Strafzahlung von 1000 Drachmen verurteilt. Allerdings war die Rückeroberung der Ionierstädte erst der erste Akt im Drama der Perserkriege, denn nun versuchte Dareios I. den Angriff auf das Mutterland. 493/2 wurde Themistokles Archon und setzte gegen starke Widerstände den Ausbau einer Flotte durch. Seine Überzeugung war, dass man den Persern nur auf See erfolgreich entgegen treten könne. Die ersten Versuche der Perser, Athen im Handstreich zu nehmen, scheiterten. Einmal half angeblich ein verheerender Sturm Athen, der am Berg Athos die persische Flotte vernichtete, beim zweiten Mal gelang es Miltiades, dessen oft behauptete Differenzen zu Themistokles in der neueren Forschung bezweifelt werden, in der Enge von Marathon, das persische Heer zurückzuschlagen. Athen schwelgte in ständig anschwellender Erinnerungsarbeit und inszenierte sich als Retter Griechenlands. Ab 484 rüstete der persische Großkönig Xerxes, Sohn des Dareios, mit ungeheurem logistischen Aufwand neuerlich für den Feldzug gegen Griechenland. Athen wiederum hatte die Gunst, ab 483 eine Silbermine in Laureion erschließen zu können und damit das Flottenprogramm zu intensivieren. Rückgrat bildeten die wendigen Trieren (auch Triremen), die Dreiruderer, mit ihrem gefürchteten bronzenen Rammsporn, die von exzellent geschulten Ruderern bedient wurden. Daneben schmiedete Themistokles in dieser schwersten Stunde Griechenlands an symbolischen panhellenischen Orten an einem Verteidigungsbündnis, was sich äußerst mühsam gestaltete, zu sehr blieben die Poleis ihren Eigeninteressen verhaftet. Immerhin konnte das lange zögerliche Sparta eingebunden werden. 480 begann die Invasion zu Lande und zur See und die persische Macht ließ sich weder an den Thermopylen von den sich opfernden Spartanern unter ihrem König Leonidas noch von einer vorgeschobenen Flotteneinheit am Kap Artemision aufhalten. Die Perser konnten das evakuierte Athen einnehmen und zerstörten die alte Akropolis. Themistokles gelang derweil ein von den gut informierten delphischen Ratgebern gedeckter Coup bei der Seeschlacht von Salamis und 479 folgte der mit viel Glück vom jungen spartanischen Heerführer Pausanias erlangte Sieg von Platää, ein Sieg, der doppelt zählte, weil man dem persischen Heer in offener Feldschlacht gegenübergetreten war. Zur gleichen Zeit konnte Gelon von Syrakus eine riesige Invasion der die Gunst der Stunde nutzenden Karthager in Sizilien abwehren. Um diese für Griechenland entscheidenden Ereignisse herum begann der in der europäischen Geistesgeschichte zentrale Begriff der Freiheit seine Karriere. In Griechenland regte dieses Thema nicht zuletzt die Tragödiendichter an, die schwierige Balance zwischen dem (göttlichen) Schicksal und der Freiheit des Einzelnen auszuloten.

297

298

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Demokratie

Schulz 2008, 161

2.4.

Parthenon

Papaioannou 1972, 172

2.4.2.

Für Athen bedeutete der Sieg den Aufstieg zu einem ernst zu nehmenden Mitspieler im Machtpoker rund um das Mittelmeer und die Verstärkung der bündnispolitischen Ambitionen. Namentlich Salamis verschob das innergriechische Gewicht von Sparta weg und zur Seemacht Athen hin. Griechenland hatte seine Rettung der Flotte Athens zu verdanken, das war das Mantra, das Thukydides ständig wiederholte. Auf dieser neuen Basis wurde in Athen die Weichenstellung zur Demokratie in die Wege geleitet. Die Macht des Areopag reduzierte man (nicht zuletzt wegen der notorischen Spartafreundlichkeit des Gremiums) auf sakrale Aufgaben zugunsten der Volksversammlung und des Rates der Fünfhundert. Ein Losverfahren und Diäten für die Mitwirkung in diesen Gremien sollten ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Egalität sichern. Perikles führte dies weiter, der Ausdruck Demokratie kam auf – Perikles benützte ihn in seiner berühmten Rede auf die ersten Gefallenen im Peloponnesischen Krieg. Demokratie war ursprünglich ein politischer Kampfbegriff gegen die alte Tyrannenherrschaft, deren Ablösung der neuen politischen Ordnung einen kräftigen Schub versetzte. Athen erlebte unter Perikles einen Höhepunkt seiner Blüte. Zwar setzte er politisch vieles erfolgreich fort, was bereits im Gange war, aber vielleicht war tatsächlich seine größte Leistung, dass es durch den Aufschwung von Kunst und Kultur gelang, »die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und ihre Ansprüche in die Demokratie zu integrieren, ohne dass es zu sozialen Verwerfungen und politischen Zerreißproben kam.« Was Raimund Schulz hier anspricht, ist die Tatsache, dass die Kultur Athens nicht von einer elitären Gruppe getragen wurde, sondern tief in der Gesellschaft verwurzelt war. Allein zu den Theaterwettbewerben waren tausende Bürger als Mitspieler und Sänger involviert. Etwa 1800 Theaterstücke sollen im 5. Jh. bei den jährlichen Dionysien aufgeführt worden sein. Perikles legte als Zeichen der kulturellen Vormachtstellung Athens, die als Klassik in die Geschichte einging, ein umfangreiches Bauprogramm vor. Höhepunkt dabei war die Neugestaltung der Akropolis nach der Zerstörung durch die Perser. Die dunkle Burg auf dem Hügel war verschwunden. In den Jahren zwischen 447 und 432 entstand der Parthenon zu Ehren der Athena Parthenos nach den Plänen der Architekten Iktinos und Kallikrates und durch den Einsatz mehrerer Bildhauer, unter ihnen Phidias. Der aus pentelischem Marmor erbaute Tempel war ein »Triumph des Maßes und der Proportion«, der alles Bisherige, auch den Zeus-Tempel in Olympia, übertraf. »Was Anaxagoras, Perikles’ Freund, als νοῦς, die ordnende Vernunft, bezeichnete und als das Fundament des Kosmos verehrte, das ist im Parthenon verkörpert.« Dieser Triumph der Proportion, von der Kostas Papaioannou schwärmt, benötigt ein aufmerksames Hinsehen, denn es gibt beim Parthenon keinen einzigen geraden Winkel. Die Säulen sind ebenso wie die Wände der Innenräume leicht nach innen geneigt. Auch das Gebälk hat eine Neigung. Richard Neer kann sich diese ungewöhnliche Bauweise nur dadurch erklären, dass »das Zusammenspiel von Geometrie und sich wölbenden, schwellenden Formen dem Gebäude eine Dynamik« gibt,

299

Griechenland

130 Parthenon auf der Akropolis; Athen

die »dem potenziell statischen Effekt des griechischen Stütze- und Last-Prinzips entgegen [wirkt].« Neer spricht das schwierige Verhältnis von Statik und Dynamik an, das die griechische Kunst und Architektur prägte und das oben in seinem Entstehen geschildert wurde. Nebeneffekt dieser genialen Geometrie ist, dass jede einzelne Säulentrommel nur an genau diesen Ort passt, für den sie geschaffen wurde. Bei der langwierigen Restauration des Parthenons bereitete es den Restauratoren sehr viel Mühe, abertausende Bruchstücke an ihren richtigen Ort zu bringen. Auf die Frage nach den Ursachen für diesen gewaltigen Aufwand der Baumeister wurden viele Antworten vorgetragen, über die in 2.4.2. berichtet wird. Nur Säulen, Stufen und Wände blieben weiß, der Rest, vor allem der Figuren­ schmuck, war bunt bemalt. Der umlaufende Fries bot eine propagandistische Erzählung über geschichtliche Legitimation, Macht und Stärke Athens. »Der Parthenonfries versteht sich als eine Art ›Selbstporträt‹ der Athener, ein Zeugnis von Frömmigkeit und militärisch begründetem Stolz in künstlerisch vollendeter Form.« Der römische Historiker Sallust stellte sich die Frage nach der Ursache für den Mythos Athen, der auch in Rom ungebrochen fortwirkte. Aus seiner Sicht konnte diese Ursache nicht in den Taten der Athener liegen, die er nicht höher als jene der Römer einschätzte, sondern in der hervorragenden Vermarktung durch die griechischen Dichter und Künstler: »[…] aber weil dort große Schriftstellertalente sich zeigten, werden in der ganzen Welt die Taten der Athener als die größten verherrlicht.« Wer den Masterplan für den überreichen Figurenschmuck des Tempels geschaffen hat, ist unklar. Aus verschiedenen Hinweisen halten manche Phidias für den Planer. Phidias schuf auch die zwölf Meter hohe Gold-Elfenbein-Statue der Athena Parthenos. 437 bis 432 baute man nach Plänen von Mnesikles an der monumentalen fünftorigen Eingangsanlage, den Propyläen. Ungewöhnlich war das Erechtheion (vielleicht auch von Mnesikles um 421–404 gebaut), das von jeder Seite verschiedene Ansichten bot. Das nach einem legendären griechischen Urkönig benannte Gebäude diente der Aufstellung eines »vom Himmel gefallenen« hölzernen Bildnisses der

Neer 2013, 275

2.4.2.

Kotsidu 2010, 206

Sallust, Cat 8

300

Die antike Welt – Griechenland und Rom

131 Erechtheion auf der Akropolis; Athen

Peloponnesischer Krieg

Schmidt-Rofner 2016, 110

Stadtgöttin Athene-Polias. Dazu kamen der Hephaistos-Tempel (eigentlich Athene/Hephaistos) und die Ausmalung der schon aus der Zeit Kimons stammenden Stoa Poikile durch Polygnot, Mikon und Panainos. Die bildende Kunst erhielt viele Anregungen von außen, während die literarischen Schöpfungen athenisch waren. In den Tragödien verwandte man eher selten aktuelle Stoffe, während die Komödie als politisches Kabarett eingesetzt wurde. Neben diesem Ausbau Athens wurden zahlreiche öffentliche Gebäude und Kultbauten in ganz Attika errichtet. Dahinter stand nicht nur eine kulturpolitische Ambition, sondern auch das Interesse, die Einhaltung der Bündnisverpflichtungen der Partner durch eine »Besatzung« mit Kultbauten im Auge zu behalten. Selbst in der Stunde des engsten Zusammenrückens von Athen und Sparta, beim Sieg über die Perser, kam es nicht zu einer endgültigen Versöhnung und der Bildung eines Flächenstaates. Vielmehr begann schon unmittelbar nach dem Triumph von Platää der Antagonismus zwischen Athen und Sparta wieder zu gären. Letztlich war es ein Ringen um die Vormachtstellung verschiedener Mentalitäten. Wollte Sparta die Agäis- und Kleinasiengriechen ins Mutterland zurückholen, legte Athen als Schutzmacht dieser Poleis mit gegenseitigen Freundschaftsverträgen die Basis für ein starkes Bündnissystem, den »delisch-attischen Seebund«. Die Bündniskasse wurde 454 von Delos nach Athen geholt, was de facto aus Bündnispartnern Untertanen machte. Sebastian Schmidt-Hofner geht in der Einschätzung des Gebildes sehr weit und verwendet den Ausdruck »athenisches Reich«. Als Athen 479 auf Drängen des Themistokles begann, eine Mauer bis in den Piräus hinaus zu ziehen, löste das in Sparta eine – wie Thukydides es nannte – »heimliche Verstimmung« aus. Sparta stand mehr und mehr im Schatten der kulturellen Metropole Athen, die auch politische Ambitionen auf die Führerschaft in Griechenland hatte. Eine Entladung in einem Krieg war fast eine logische Folge des Ungleichgewichts, das diesen Krieg zu einer Querelle des Anciens et des Modernes machte. Es war ein langer und grausam geführter Krieg, der in viele Einzelkriege zerfiel und wo das Kriegsglück hin und her wogte. Die Kriegshandlungen wurden in ihrer Summe von Thukydides Peloponnesischer Krieg genannt. Thukydides gilt als erster Historiker, der in aufgeklärter Manier seine methodischen Voraussetzungen offenlegte, nach Gründen historischer Ereignisse suchte und die Vorgänge deutete. Zum Unterschied von Herodot operierte er nicht mit Erzählungen vom Eingreifen der Götter. Die Deutungsambition Thukydides’ ließ allerdings zum Unterschied von Herodot kaum andere Meinungen zu Wort kommen. Die Gründe für diesen seit 431 unerbittlich geführten Krieg sind noch immer Gegenstand von Diskussionen. Es gingen ein halbes Jahrhundert vorher Stellvertreterkriege und direkten Konfrontationen zwischen Athen und Sparta (in der Geschichtsschreibung spricht man von einem »ersten Peloponnesischen Krieg«) voraus. Der unmittelbare Anlass war der Versuch des Perikles, Megara und Korinth wirtschaftlich einzuschnüren, was namentlich Korinth dazu brachte, in Sparta für einen

301

Griechenland

Krieg gegen Athen Stimmung zu machen. Die lange Dauer war nicht zuletzt auch den unterschiedlichen Strategien eines Landheeres auf der einen und einer Seemacht auf der anderen Seite geschuldet. Erst als Sparta seine Marine den Athenern ebenbürtig machte, wandte sich das Blatt zu seinen Gunsten. Der spartanische Feldherr Lysander schlug bei den Aigospotamoi (Ziegenflüsse) in einer letzten Seeschlacht 405 die Athener vernichtend. Athen kapitulierte ein Jahr später. Auch wenn Sparta milde mit Athen verfuhr, war dies doch das Ende der athenischen Großmacht. Das schlug sich nicht zuletzt in der deutlich reduzierten Bautätigkeit nieder. Demgegenüber blieb diese im übrigen Griechenland rege, unter anderem auch in Ionien, wo die Friedenszeit zwischen Griechenland und Persien Milet zu einem triumphalen Wiederaufbau verhalf. Weitere Großbauten entstanden in Ephesos, Priene, Halikarnassos. Von Vorteil für die Städte war, dass das komplexe Nachspiel des Peloponnesischen Krieges eine weitgehende Autonomie für sie brachte. Diese konnte auch ein zweiter delisch-attischer Seebund, der dem ungebrochenen Hegemoniestreben Athens entsprang, nicht mehr verhindern. In Athen bildete sich eine demokratische Elite heraus, die spezialisierter und professioneller wurde. Es war die Zeit sophistischer Aufklärung und ihrer Ausbildungskonzepte. 399 wurde Sokrates im immer noch aufgeheizten Klima der Suche nach der Schuld für die Niederlage im Krieg hingerichtet und einige Jahre später begann Platon mit seinem aufklärungskritischen Werk. Man muss die turbulenten Zeiten sehen, wo ganz offensichtlich Fortschrittsoptimismus und das Beharren in alten Strukturen aufeinanderprallten, um das Werk Platons, darunter seine Idealstaats-Utopie Politeia und sein Beharren auf der Führungskraft Athens in seinen Nomoi, aber auch seine kunstphilosophischen Ansichten zu verstehen. Allzu lange konnte sich Sparta seiner Vorherrschaft nicht erfreuen. Die Perser mobilisierten abermals ihre schier unbegrenzten Ressourcen gegen die kleinasiatischen Apoikien, worin Athen seine Chance sah, die schmerzhafte Niederlage gegen Sparta auszubügeln. Immer mehr Städte entzogen sich der Hegemonie Spartas und traten einer »korinthischen Allianz« bei. Spartas Machtanspruch hatte zu einem erstaunlichen Paradigmenwechsel in der griechischen Geschichte geführt. Die Mehrheit der griechischen Städte verbündete sich mit den Persern gegen Sparta. Den Persern ging es freilich nicht um Unterstützung einer Hegemonie, sondern um die Herstellung einer Pattsituation, sodass der persische König 387 den Poleis einen Frieden diktieren konnte. 371 nutzte Theben die Selbstbezogenheit von Sparta und Athen erfolgreich zu einem Aufstand (mit der neu erfundenen schiefen Schlachtordnung) und stieg vorübergehend zur dritten städtischen Großmacht auf. Letztlich beendete Theben die Hegemonie Spartas und schaffte Luft für einen begrenzten Wiederaufstieg Athens einschließlich eines zweiten Athenischen Seebundes. Anders als im ersten sollte es jetzt um Autonomie und Freiheit der Bündnispartner gehen. Auch die athenische Demokratie konnte bis zur Aufhebung durch die Makedonen 322 überleben, »eine höchst ungewöhnliche Erfolgsgeschichte im 4. Jahrhundert.«

2.4.3.1.

Schmidt-Rofner 2016, 250

302

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.6.f.

Doch der Zerfall der Poleis, ausgezehrt von den zermürbenden Kriegen jedes gegen jeden, war nicht aufzuhalten und die Reiche im Umkreis begannen Griechenland zu bedrängen. Das Ende des 4. Jh.s in die Weltgeschichte eintretende Rom stieß in die Ägäis vor, übernahm dann aber bereitwillig die hochstehende Kultur der Unterworfenen. Vorher eroberte Philipp II. von Makedonien, König eines indogermanischen thrakisch-illyrischen Mischvolks, Griechenland, nachdem in der Hauptstadt Pella schon seit geraumer Zeit die Sitten der von den Makedonen verehrten griechischen Kultur eingezogen waren. Makedonien war reich geworden als Holzlieferant für die griechischen Werften, durch die Goldminen in Thrakien und die berühmten Pferdezuchten in Thessalien. In Athen war die Meinung, wie mit den Makedonen umgegangen werden sollte, gespalten. Demosthenes, der große Redner, hielt seine Philippika gegen Philipp und seine Anhänger, andere wie Isokrates waren für eine friedliche Verständigung. Manche sahen in Philipp einen Reichseiner, der ein starkes Griechenland gegen die Perser führen konnte. Es wurden in dieser Propagandaschlacht Schulbeispiele des guten Redens geschrieben. Demosthenes setzte sich durch, 338 wurde ein von Athen geführtes Bündnis von Philipp in Chaironeia geschlagen. Das Friedensangebot an Athen war außerordentlich großzügig. Sogar die Flotte durfte Athen behalten. Philipp schien hier bereits die Ressourcen für einen großen Krieg gegen die Perser gesammelt zu haben. Diese Pläne konnte er nicht mehr ausführen. Er wurde 336 ermordet. Philipps Nachfolger wurde sein Sohn Alexander, der vorher alle Thronprätendenten hatte umbringen lassen. Selbst einen Vatermord trauen ihm die Historikerinnen zu. Er begann einen in der Geschichte einmaligen Eroberungszug und leitete die Epoche des Hellenismus ein. Im klein gewordenen Athen lief inzwischen ein gewaltiges Bauprogramm mit etlichen Prachtbauten ab, aber der andauernde Befreiungskampf der griechischen Poleis gegen Makedonien überzog Griechenland mit unzähligen Kriegen, in deren Verlauf Athen im 3. Jh. endgültig seine dominierende Rolle einbüßte.

2.2.2. Homer und Hesiod

Marek 2010, 184

Mit den Homer und Hesiod zugeschriebenen, in der neuen Alphabetschrift fixierten epischen Dichtungen trat Griechenland mit gewaltigen Meisterwerken aus den Dunklen Jahrhunderten wieder in das Licht der Geschichte. Genauer gesprochen müsste man sagen, dass nur die Werke dieser Dichter erhalten sind, während wir von anderen frühgriechischen Dichtungen nur mehr einzelne Fragmente überliefert haben: »Von den homerischen abgesehen, hat die Überlieferung Verse der frühgriechischen Dichterinnen und Dichter in nur wenigen Zitaten und Fragmenten auf Papyrus bewahrt, und doch geht von diesen spärlichen Resten eine Wirkungsgeschichte aus, die über die abendländische bis in die Weltliteratur der Gegenwart reicht, Literaturtheorie und Ästhetik mitprägt.« Es ist ungewöhnlich, dass eine Kultur mit einer so hochstehenden Literatur beginnt, ohne durch vergleichbare Werke der Architektur und bildenden Kunst begleitet zu werden. Es war in diesem Fall eher so, dass es die literarischen Wer-

303

Griechenland

ke waren, die sowohl kulturphilosophische als auch kunstphilosophische Grundlagen legten. Bei der sogenannten homerischen Frage ist die Autorschaft bei der Verschriftlichung der oral poetry in eine Kunstsprache, die so nie gesprochen wurde, eines der Probleme. Ein anderes ist die erwähnte Qualität der Literatur in einem Umfeld, welches das nicht erwarten ließ. Angesichts dieser speziellen Eigenheit wird in der wissenschaftlichen Literatur auf die Tatsache verwiesen, dass Teile der Epen aus stereotypen Formeln bestehen, wie sie auch an anderen Orten der damaligen Welt in Heldenliedern verwandt worden sind. In isolierter Sicht handelt es sich dabei um zwei Theorien: Eine geht von der Verschriftlichung einer durchkomponierten oral poetry aus, eine andere sieht in den homerischen Epen eine Sammlung älterer Sagenstoffe aus einem epischen Zyklus und anderer alter Literatur. Neben der genetischen Frage ist auch die allgemein auf das 8. Jh. festgelegte Datierung nicht unumstritten. Auch solche Relativierungen helfen kaum, das Phänomen zu erklären. Einzig die Möglichkeit, dass die Dunklen Jahrhunderte nicht so dunkel waren, könnte das Problem mildern. Dafür gibt es inzwischen in der Tat einige Hinweise. Dazu gehört die Entdeckung, dass Griechenland bei der Umstellung von Bronze auf Eisen, die sich in diesen Jahrhunderten abspielte, ein nicht zu unterschätzender Mitspieler war und regelrechte Goldschmiededynastien entstanden waren. Die einschlägige Forschung geht beim Dichter der Ilias und Odyssee von einem Ionier aus. Finden sich Wurzeln der Musik in Phrygien, scheint das Quellgebiet der griechischen Literaturgattungen in Anatolien zu liegen. Damit stellt sich die Frage, ob das auch für die in der Dichtung vermittelten Inhalte zutrifft. Immerhin wartete Homer in seiner Dichtung mit etlichen Innovationen auf. Er entwarf einen lichten Götterhimmel, der in krassem Gegensatz zu den in den Mysterien verehrten chthonischen Gottheiten stand. Er schrieb damit ein Kapitel der Ablösung chthonischer durch himmlische Gottheiten. Die nachfolgenden Philosophen forderten gegen dieses religionsphilosophische Erbe weitergehende entmythologisierende Aufklärung ein und forcierten den Weg zu einem abstrakt-philosophischen Gottesverständnis, das die anthropozentrische Erdung der homerischen Götter überwandt. Die Religion Griechenlands war, wie im Alten Orient üblich, mit der Alltagswelt und der Gesellschaft eng verschränkt. Erst die Philosophie, dabei vor allem die kritische Aufklärung durch die Sophisten, trennte die Götter als eigenes thematisches Feld ab, was eine erste Religionskritik ermöglichte, die bei den griechischen Philosophen und Dichtern keinen geringen Stellenwert einnahm. Nicht nur die religionsphilosophische Weichenstellung wies in eine philosophische Zukunft. Auch kulturphilosophisch bot Homer eine neue Sicht auf einen schon oft traktierten Stoff. Vordergründig geht es bei der Ilias um eine Erzählung über den Trojanischen Krieg. Ob es überhaupt einen historischen Kern zu dieser Geschichte gab, ist ebenso unklar wie die Frage, was die Griechen von der mykenischen Zeit wussten. Erstaunlicherweise beschrieb Homer eine Reihe von bronzezeitlichen Artefakten und Kunstwerken, deren Gegenstücke Archäologinnen tatsächlich gefun-

Kullmann 1960

Neer 2013, 68ff

Marek 2010, 183f

132 Homer (um 460a); GLY

Ilias und Odyssee

304

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Schulz 2008, 36

Moira

Pötscher 1975, 1392

Schefold 1967, 15

den haben. Ob die Griechen solche Kunstwerke kannten oder ob es eine konstante Überlieferung über sie gab, wissen wir nicht. Die Geschichte selbst beschrieb Homer anders, als es bei den ausufernden Kriegserzählungen des Alten Orients der Fall war. Der äußerst knappe, nur die Geschehnisse einiger Tage verdichtende Bericht ist keine Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern eine schon beinahe psychologische Aufarbeitung der menschlichen Konflikte, die sich bei einer solchen Tragödie abspielen. Es geht beim Streit zwischen dem Heerführer Agamemnon und dem Kriegshelden Achill um das Verhältnis von Autorität und Individualismus, beim Einsatz des Patroklos an der Stelle des sich dem Kampf verweigernden Achill um Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, beim Treffen des Priamos mit Achill um Versöhnung und vielleicht sogar Verzeihung. Statt einer vorachsenzeitlichen additiven Auflistung von Heldentaten (wie sie bei den Friesen in den altorientalischen Palästen angewandt wurde) demonstriert diese orchestrierte, ja dramatisierte literarische Fassung von das Menschliche berührenden Themen einen hohen Grad an Abstraktion. Auf den Abbildungen des Alten Orients wurden Feinde tot oder schwer verwundet dargestellt, jetzt richtete sich der Blick auf das Elend solcher Konflikte auf beiden Seiten. Mit einem ähnlichen Raster kann man der Odyssee zu Leibe rücken: »Odysseus fasziniert nicht weniger als Achilleus, weil seine Persönlichkeit Widersprüche offenbart, die man bei den Heroengestalten des alten Orients weitgehend vermisste.« Homer bietet sich von da her nicht nur als Beginn der europäischen Literatur an, sondern er darf zu Recht auf den ersten Seiten abendländischer Philosophiegeschichten stehen als einer, der in literarischer Fassung erstmals perspektivisch und auf abstraktem Niveau allgemeinmenschliche Themen behandelt. Bereits an dieser Stelle kam auch das schwierige Verhältnis zwischen individuellem Handeln und der unpersönlichen (noch über den Göttern waltenden) Schicksalsmacht (moira) zur Sprache, das in der aufgeklärten Zeit der Sophisten bei den Tragödiendichtern zu einem zentralen Thema wurde. Moira »steht in Wechselwirkung […] zum Willen der Menschen.« Diese komplexe Sache wird uns noch beschäftigen und dabei wird die These exponiert, dass diese Moira-Vorstellung ein Relikt des von Menschen und Göttern unabhängigen Zyklus der Natur sein könnte. Dieser Wandel entzog sich stets dem Walten der Götter, die bestenfalls seine Ordnung zu stören oder zu unterstützen vermochten. Dabei können sie auch zu Vollziehern dieser Moira werden. Dieser konstruktive Zugang der Dichtung öffnet auch der bildenden Kunst eine neue, über ein rein additives Sammeln hinausgehende Perspektive, eine Herausforderung, die schließlich in der aufgeklärten Zeit der Sophisten eingelöst worden ist. »Man versteht auch, warum bei den Griechen, zum ersten Mal auf der Welt, Dichter und Künstler zu faßbaren Individuen geworden sind, die wir in Werk und Namen kennen.« Kehren wir noch einmal zur Erzählung über die Götter bei Homer und Hesiod zurück, die schon deshalb wichtig war, weil sie vor allem für das einfache Volk zum Referenzstandard wurde. Die Götter der Griechen waren Mitspieler, keine unnahbaren Gestalten wie in den Erzählungen des Alten Orients. Die Anthropozentrik

305

Griechenland

der griechischen Religion wird vielfach in der wissenschaftlichen Literatur positiv bewertet, weil sie nicht einzwängend war, »sondern befruchtend, weil sie das autonome Handeln des Menschen nicht behinderte, sondern forcierte. Deshalb konnten es sich die Griechen leisten, ihre Götter so menschlich zu gestalten, wie es keine andere Kultur wagte.« Raimund Schulz stellt hier einen Aspekt in den Vordergrund, der freilich bei den antiken Intellektuellen nicht so positiv bewertet wurde. Einerseits war das unpersönliche Geschick (moira) eine dominierende Macht, die das autonome Handeln (auch der Götter) immer wieder durchkreuzte, andererseits sahen die griechischen Intellektuellen in der Anthropozentrierung den Keim des Atheismus und fochten heftig, manchmal mit kruden Worten, für ein abstraktes Gottesbild. Das Ziel war ein Gott der Philosophen mit einer deutlich henotheistischen Tendenz. Dass hingegen die Begründung des griechischen Götterpantheons auch als Beleg für eine griechische Identitätsfindung herangezogen werden kann, ist durchaus plausibel. Denn der Erfolg der homerischen Dichtungen beruhte nach Raimund Schulz auch darauf, dass sie »dem Bedürfnis der Eliten nach einer Art ›panhellenischer Identität‹ in einer Zeit der Bildung neuer politischer und sozialer Konfigurationen sowie der Begegnung mit mächtigen Gegnern […] entgegenkamen. Man besaß nun ein Gegenstück zu den großen Epen des Ostens, ohne auf königliche Bibliotheken und professionelle Schreiber angewiesen zu sein.« Die Zurückhaltung Homers gegenüber rustikalen Göttergeschichten wie jener um Dionysos wird manchmal auf die Vorlieben der adeligen Schicht zurückgeführt, für die er schrieb. Wladyslaw Tatarkiewicz legte sein Augenmerk auf diese Widersprüche in der frühen griechischen Religion. Er sah die dionysische Religiosität ebenso ausschweifend wie weltflüchtig, erlösungsbedürftig und düster und stellte sie der klaren homerischen Religion gegenüber. Für ihn hatte deshalb nur die homerische Religion als unerschöpfliche Quelle von Sujets für die Kunst eine kulturgeschichtliche Relevanz. Man kann diese Widersprüche auch deutlich konstruktiver interpretieren. Im Werk Homers spiegelt sich die generelle Tendenz der Abhebung von der chthonischen in die himmlische Sphäre. In der Mysterienreligiosität fanden die Menschen eine veritable kompensatorische Gegenbewegung und das macht eine kunstphilosophisch brisante Spannung sichtbar, auf die noch öfters zurückzukommen sein wird. Der artifizielle Umgang mit dem Stoff scheint bei Homer großzügiger und freier gewesen zu sein als beim nach verbreiteter Philologenmeinung jüngeren Hesiod (Martin L. West hält aus diesen Gründen die Odyssee Homers für jünger als die Theogonie Hesiods). Man tut sich etwa schwer mit den Burlesken, die bei Homer an die Seite beschworener Erhabenheit treten. Handelt es sich um ironische Distanziertheit des Erzählers oder bereits um ein entmythologisierendes Interesse? Der jüngere Hesiod scheint den alten orientalischen Stoffen näher gestanden zu haben. Denn die Übereinstimmung mit den orphischen Überlieferungen ist größer. So meint denn auch Wolfgang Speyer: Es »müssen die geistigen Ahnen Hesiods und der Orphik […] älter sein als der homerische Überlieferungsstrom.«

Schulz 2008, 37

Schulz 2008, 39

Burkert 1987, 74 West 1966 Speyer 2014, 51

306

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Rohde 1898, 93 Tsagarakis 1980

Schulz 2008, 53

2.1.3.2.

Hallof Luise/Hallof Klaus in Hesiod 1994, XVIII

Marek 2010, 179

Weder in der Ilias noch in der Odyssee gibt es höher entwickelte Spekulationen (etwa im Sinn der späteren Mysterienkulte) über das Fortleben nach dem Tod. Die Jenseitstopographie bei Homer ist primitiv und düster. Als wesenlose Schatten bevölkern die Toten den abstoßenden Hades. Homer scheint die verbreiteten Vorstellungen seiner Zeit und nicht jene der spekulativen Mysterientradition verwertet zu haben. Anders als Homer ist Hesiod als Dichterpersönlichkeit greifbar. Er scheint ein aus Askra im rauen Böotien (das die Gegend durchziehende Tal heißt heute »Musen­ tal«) stammender Landwirt gewesen zu sein. Seine hervorragenden geographischen Kenntnisse der damaligen Welt samt Erfahrungen in der Seefahrt dürften einerseits von seinem in Seehandel tätigen Vater, andererseits von eigenen Reisen stammen. Hesiod schrieb mehrere (teilweise verlorene) Werke, darunter eine Theogonie, die auch eine Kosmogonie beinhaltet, und ein eigenwilliges Werk einer Unterweisungsliteratur, wie sie sich bereits durch den Alten Orient zog: Werke und Tage. Anders als bei Homer trat Hesiod in seiner Literatur als Ich-Erzähler auf. Vor allem in Werke und Tage stehen biographische Bezüge im Vordergrund. Hesiod war gut über die ionische Literatur informiert und dürfte über diese zu den orientalischen Quellen seiner eigenen Dichtungen gekommen sein. Diese Beziehungen etwa zu hethitischen Texten aus der Zeit um 1400 sind gut dokumentiert. »Auch der am Rand der adligen Welt und ihrer oikoi lebende Bauer konnte sich in die Interaktionskanäle der Adligen einklinken.« Er forderte in seiner Dichtung einen Wahrheitsanspruch ein, den er mit Berufung auf die Musen (die allerdings auch die Unwahrheit sagen können, wie er in aufklärerischer Manier hinzufügte) legitimierte. Hesiods Theogonien klingen archaischer als die einschlägigen Stellen bei Homer und entsprechen weitgehend orphischen Stoffen. Ihre Bezüge zu alten Strata sind inzwischen durch Funde hethitischer und churritischer Quellen kaum mehr strittig, was wohl gleichzeitig auch als Beleg der alten Quellgründe für die orphischen Mythen gelten kann. Besonders die markante Stellung des Zeus tritt bei Hesiod auffallend in den Fokus. Die Musen werden von ihrer möglichen Verkündigung der Unwahrheit von Zeus abgehalten. Sie singen den Zeus und Zeus’ Wille bestimmt das Geschehen bereits vor seiner Geburt. Man mag darin einen Widerspruch erkennen zwischen »fortwährender genealogischer Entfaltung bei gleichzeitiger Festschreibung eines bestimmten Zustandes, nämlich der Herrschaft des Zeus […].« Man kann darin aber auch die in der Orphik erwähnte Herausarbeitung der Sonderstellung des himmlischen Vatergottes Zeus erkennen, der sich diese durch Kampf und Genealogie erwerben konnte. Philosophisch wurde hier der Gang der Dialektik zum statischen Ende mythisch vorgezeichnet. Quellengeschichtlich sind beide, Homer und Hesiod, originelle Verarbeiter alter Vorlagen. »Für beide liegt längst der Nachweis unmittelbarer Vorbilder in ›Klassikern‹ der Keilschriftliteraturen vor – für Hesiods Theogonie der Sukzessionsmythos hurritisch-hethitischer Provenienz, für Ilias und Odyssee etwa die im Orient geradezu als Schullektüre kanonischen Epen wie Gilgameš, Atraḫasis und Enūma eliš.«

307

Griechenland

2.2.3. Die Pythagoreer Pythagoras lebte in der zweiten Hälfte des 6. Jh.s. Zur Verbreitung seiner Lehre trugen seine weiten Reisen bei. Auch einen Besuch Ägyptens und Babyloniens sagte man ihm bereits in der Antike nach. Er gilt als Gründer eines Geheimkultes. In Kroton in Unteritalien rief er eine Bruderschaft ins Leben, die bis zur Zeit Platons aktiv war. Anders als die »Naturphilosophen« in Milet richteten die Pythagoreer den Blick nach innen. Pythagoras trat ähnlich wie Orpheus als Myste und Schamane auf. Von den Pythagoreern sind uns keine Schriften erhalten. Man kann vermuten, dass Pythagoras die schriftliche Abfassung der Lehre abgelehnt hat, nicht zuletzt um eine Weitergabe an Unautorisierte zu verhindern. Die Schriftlosigkeit führte naturgemäß zu entstellten Meinungen und Gerüchten, sodass Pythagoras eine sehr differenzierte Bewertung erfuhr. Er wurde als Gottessohn tituliert, während ihn andere einen Vielredner und Scharlatan hießen. Übereinstimmend wird vom Interesse der Pythagoreer an der Lehre über Seele und Seelenwanderung berichtet. Genaue kultische Rituale dienten zur Reinigung der Seele, die stets in Konkurrenz zum beschwerenden Körper gestellt wurde. Die Seelenlehre bot eine neue Qualität gegenüber der trostlosen Jenseitsvorstellung Homers. Was die Pythagoreer für die kunstphilosophische Betrachtung wichtig macht, ist ihre große Innovation: das Ausloten der Symmetrien und Harmonien des Kosmos und der Welt. Der Ausdruck Kosmos stammt aus der Militärsprache und meinte anfangs eine bestimmte militärische Formation, bei Homer bedeutet Kosmos Anstand und das, was sich ziemt. Neben der sozialen Ordnung umfasst der Begriff auch Schmuck und Schönheit. In diesem Sinn, übertragen auf das Universum, wurde er von den Pythagoreern verwandt. Als vollendetes Prinzip erwies sich ihnen der »goldene Schnitt« (Verhältnis 1:0,618). Die ersten vier Zahlen, die sogenannte Tetraktys, galten als heilige Zahlen, in denen sich die harmonischen Verhältnisse in der Musik, die Quarte, Quinte und Oktave ausdrücken. In ihnen spiegeln sich Schönheit und Symmetrie des Mathematischen. Die Pythagoreer fanden dieses Mathematische in der Musik, darunter in den Klängen der Sphären, die das gesamte Universum umfassen. Die Harmonie dieser kosmischen Sphärenmusik muss ihre Entsprechung in der Harmonie der Seele finden bzw. umgekehrt: Die Seele muss mit dem Wohlklang des Kosmos übereinstimmen. Darin gründet eine kathartische Funktion der rechten Musik. Später wurden auch abstrakten Entitäten jeweils Zahlwörter zugeschrieben. Philolaos aus Kroton berichtet von der Kosmologie der Pythagoreer, wonach Erde und Planeten in vollkommener Harmonie ein Zentralfeuer (Hestia) im Kosmos umkreisen. Die pythagoreische Harmonielehre hat – durch Platon transformiert – neben ihrer Wichtigkeit für die Musik eine kaum zu überschätzende Nachhaltigkeit in Architektur und Kunst. Sie wird uns im Mittelalter, namentlich der Gotik, in der Renaissance und in die Neuzeit immer wieder begegnen.

Kosmos

Homer, Ilias XVII, 205

308

Die antike Welt – Griechenland und Rom

133 / 134 ­Vasenmalerei, ­geometrisch; CMN

2.2.4. Das Anheben der Kunstepochen – Der geometrische Stil

Delphi

Griechenland begann, wie berichtet, nach dem Ende der mykenischen Kultur und der Linear B-Schrift mit einem Neustart. Im Lichte der neueren Forschungen, die einiges Licht in die Dunklen Jahrhunderte bringen, könnte man den Ausdruck Relaunch bemühen im Sinne der Überarbeitung eines Auftritts in der Geschichte. Die ersten bescheidenen Siedlungen hatten, gelinde ausgedrückt, wenig Ähnlichkeit mit den Palaststädten der mykenischen oder kretischen Zeit, von den Metropolen im Vorderen Orient ganz zu schweigen. Dort lebten die Zeitgenossen dieser frühen Griechen bereits im Neuassyrischen Reich. In Ägypten regierte die 22. Dynastie. Immerhin gab es nach den Dunklen Jahrhunderten eine große Dynamik der kulturellen Entwicklung, zunächst in der Literatur, dann aber auch in Kunst und Architektur, sodass man von Anfang an mit historischen Kategorialisierungen arbeiten kann. Man unterscheidet vier kulturelle und kunsthistorische Epochen, jene des geometrischen Stils, der Archaik, Klassik und des Hellenismus. Im Ganzen umspannt die »griechische Kunst« die Zeit zwischen 900 und 30a, dem offiziellen Ende des Hellenismus. Der Hellenismus hatte freilich ein kreatives Weiterleben in der Spätantike, weshalb sich auch im Kontext des Römischen die griechische Kunst immer noch identifizieren lässt. Orte der Kunst und Architektur waren am Anfang die Kultstätten, ehe die größeren Städte wie Milet, Korinth oder Athen kulturelle Ambitionen entwickelten. Auch wenn Griechenland sich nie abseits von mehr oder weniger losen Bündnissen über die Polis hinaus zu organisieren wusste, spricht, wie mehrfach betont, vieles für das Bewusstsein einer griechischen Identität. Delphi, Delos, Olympia wurden – abgleitet von (vorgriechischen) Erdkultstätten – zu heiligen Orten mit panhellenischer Ausstrahlung. Delphi (auch Pytho genannt) am Südabhang des Parnass auf der Nordseite des korinthischen Golfs wurde zu einer international angesehenen Orakelstätte. Die große Anzahl von Schatzhäusern für die Weihegeschenke aus aller Herren Länder zeugt vom Wohlstand, den dieser Geschäftszweig einbrachte. Der ummauerte Kultbezirk war ursprünglich einer Muttergottheit geweiht, ehe ein großer Apollo-Tempel den Kult ab dem 8. Jh. auf den Himmelsgott umorientierte. Auch an anderen Orten (Korinth, Nemea, Argos, Samos etc.) errichtete man Kultstätten, deren Bedeutung weit über die Stadtgrenzen hinaus Wirkung zeigte. In aller Regel waren diese mit großen Finanzpolstern ausgestattet und damit eine sprudelnde Quelle für Architektur und Kunst. Der größte und prominenteste Ort war

309

Griechenland

Olympia

135 Reste der Palästra in Olympia

Pekáry 2007, 7 IV.6.1.

Demargne 1975, 267

Neer 2013, 78

136 G­ iebelschmuck ­( Westgiebel) Zeustempel in ­Olympia; AMO



Olympia. Er stieg von einer frühen Orakelstätte der Gaia zu einem Ort eines großen nicht nur panhellenischen, sondern internationalen Kultfestes zu Ehren Apolls auf, das mit athletischen Wettkämpfen begangen wurde. Das Fest geht zurück auf Spiele – vor allem Wagenrennen sind sehr früh, vermutlich schon in mykenischer Zeit, bezeugt – zu Ehren des aus der Mythologie bekannten Sohnes des Tantalos, Pelops, aber auch anderer Heroen sowie für Eileithyia und Gaia. Um die Jahrtausendwende brachten griechische Einwanderer den Zeus-Kult mit. Als Gründer der Zeus-Kultspiele wird in den Mythen stets Herakles genannt. Grundsätzlich waren solche Spiele eine Sache der Stadt. Ihre Kulturgeschichte ist komplex. Unbestritten sind die religiösen Wurzeln. Vielleicht spiegelt sich darin sogar eine achsenzeitliche Veränderung in der Sicht auf Polarität und den Kampf kosmischer Mächte: Licht und Finsternis, Liquides und Festes, Gut und Böse. Soziologisch mag dies zur Festigung von Gruppen, zur Ausbildung eines geregelten Wettbewerbs und zur Ritualisierung von Rollen beigetragen haben, was die Stadt letztlich zu einer großen Theaterbühne machte. Der Ausbau Olympias begann im 7. Jh. und zog sich über mehrere Jahrhunderte hin mit einer großen Neugestaltung im 4. Jh. Mitte des 5. Jh.s entstand (nach Auskunft des Pausanias war der Architekt Libon von Elis) der große Zeus-Tempel. Phidias schuf dafür das Gold-Elfenbein-Standbild des Zeus, eines der berühmtesten Kunstwerke Griechenlands. Es wurde in der Überlieferung nach verbreitetem Usus immer größer und erreichte bei einem Schriftsteller des 4. Jh.s.p die stolze Höhe von 65 Metern. Die erste Siegerliste der Olympischen Spiele von 776a begründet die Zeitrechnung im antiken Griechenland (bis zum Ende der Spiele durch ein Verbot des Theodosius 393/394). Noch vor der Ausdifferenzierung in einzelne Epochen begleitet das entstehende Griechenland der geometrische Stil als erster Kunststil der Geschichte. Pierre Demargne sprach von einem »Neubeginn ›ex nihilo‹« und meinte damit einen einem Kulturbruch (gegenüber der alten vorhellenischen Kultur) gleichkommenden Neubeginn. Richard Neer unterstreicht die – aus seiner Sicht – kunsthistorische Innovation, die mit dem geometrischen Stil aufkam, nämlich die gelungene Verbindung von Form und Dekoration und damit sozusagen »der Ausgangspunkt für die Entwicklung von ›Design‹. Mit Knappheit und Klarheit setzt er zweidimensionale Muster in Beziehung mit dreidimensionalen Formen.« Man grenzt den geometrischen Stil mit einigen Unterteilungen auf die Zeit zwischen 900 und 700 ein. Er war vor allem ein Stil der Keramikkunst. Statuetten und Bronzegeräte sind, ähnlich wie Beispiele der Architektur, rar. Die Bezeichnung geometrisch erhielt die Epoche wegen der speziellen Bemalung der Keramik, in erster Linie der Amphoren (Vorratsgefäße) und Kratere (Wein-Mi-

310

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Kotsidu 2010, 26

Schefold 1965, 6

Ebd., 55

Webster 1957

Neer 2013, 75

schgefäße). Dazu kamen monumentale, bis zu drei Meter hohe Ritualgefäße für Bestattungen und Grabbauten. Florales und figurales Dekor wurde zugunsten geometrischer Formen, vom Kreis bis zu Schachbrett- und Zickzackmustern, zurückgenommen. Der Stil setzte mit seiner Abstraktheit einen auffälligen Kontrapunkt zu der auf Naturalismus ausgerichteten älteren Tradition. Naturgemäß bieten sich hier kunstphilosophische Erklärungen an. Beliebt darunter ist die These, dass es sich um Kunst auf hohem rationalem Niveau handelte. Es ging demnach um »ein von einer rationalen Ordnung geprägtes Konzept, ausgedrückt im tektonischen Aufbau der Form und des Dekors, die aufeinander abgestimmt sind.« Diese Kunstdeutung entspricht einer parallelen Mythendeutung, die im Mythos ein rationales Produkt der frühen Wissenschaft erkennen will. »Die Klarheit und Folgerichtigkeit geometrischen Bildgefüges tritt als etwas gänzlich Neues in die Welt«, meint der die Wende vom Irrationalen zum Logischen und Philosophischen verehrende Karl Schefold. Für Schefold war die Ornamentik keine »sinnlose Füllung«, das verbreitete Reden vom horror vacui zeige nur, dass »einem nichts Besseres einfällt«. Demgegenüber sieht er in den Ornamenten Abstraktionen des Bleibenden im Vergänglichen und des Gesetzmäßigen im Zufälligen. Ornament ist »Natur, freilich nicht Abbilder, sondern, wie die ganze griechische Ornamentik, Urbilder pflanzlichen Lebens. […] Man kann die geometrische Ornamentik also nur konkret verstehen, denn Abstraktion war den Menschen damals fern.« Aus einer solchen Perspektive stellt Schefold einen Zusammenhang her zwischen dem geometrischen Stil und der Bemühung der allerdings ein wenig späteren ionischen Naturphilosophen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Daran schließen sich Fragen an: Lässt sich die geometrische Formenhaftigkeit als philosophisches Konzept lesen, das einer dynamischen Welt durch Begriffe beizukommen versuchte? Gab es einen Hang zum geschlossenen Formenkanon, zu einer gefügten Ordnung? Antworten darauf sind schon deshalb nicht einfach, weil dieser Stil auch geprägt war von einer schwebenden Leichtigkeit, selbst im monumentalen Format. Erst in archaischer Zeit begann die Wucht und Schwere der Monumentalität, die – umgekehrt – auch das kleine Format monumental erscheinen ließ. Im Laufe der Zeit kamen auch figurale Motive auf: Tiere, darunter prominent das Pferd, ein Motiv, das – aus dem Orient eingeflossen – auf adelige und wohlhabende Kontexte verwies. Dies steigerte sich in der spätgeometrischen Zeit in eine lebhafte figürliche Malerei, die vor allem bei den Gefäßen des Grabkultes mit den dargestellten Totenritualen angewandt wurde. Die Figuren waren geometrisierte Silhouetten (Oberkörper frontal, Kopf und Beine im Profil) und blieben über mehrere Generationen in dieser Form normiert. Dies hat manche zu einer umgekehrten Bewertung geführt: Ging es bei der geometrische Kunst weniger um rationales Ordnungschaffen als vielmehr um die Aneinanderreihung von »primitiven« Schemata? Damit wäre sie einem ähnlichen Paradigma gefolgt wie die zeitgleiche Dichtung etwa bei den sich wiederholenden Formeln und Versatzstücken in den Epen Homers. Die figürlichen Szenen als »zum Leben erweckte Musterbänder«?

311

Griechenland

Die an Puppenspieler erinnernden Menschendarstellungen lassen in der Tat nicht unbedingt eine rationale Orchestrierung erkennen. Vielleicht ging es eher darum, dass »die Welt für den archaischen Menschen in der Tat ein Aggregat von Teilen und nicht eine organische Einheit war, daß etwa der archaische Mensch seinen Mitmenschen als eine lose zusammenhängende Gliederpuppe sah, die allein von äußeren Einflüssen in Gang gesetzt wurde.« Folgte man dieser Beobachtung Paul Feyerabends, stellt sich immer noch die Frage, ob dies einem – wie er es nahelegt – einfachen Verfahren vorachsenzeitlicher Addition entsprach oder vielleicht doch einem philosophischen Ausloten eines vom Geschick gesteuerten Menschen, wie es in der Philosophie der Vorsokratiker und der frühen Literatur thematisiert wurde. Wer in der geometrischen Kunst ein solch avanciertes philosophisches Konzept im Hintergrund erkennen will, der legt meist Wesensaussagen in die abstrahierten menschlichen Formen und bemüht zur Erklärung die Ideenlehre Platons. »Die frühgriechische Menschendarstellung formuliert eine Leitvorstellung vom inneren Wesen des Menschen, nicht die bunte Vielfalt einzelner Individuen, sondern den Menschen als Repräsentanten einer sozialen Gruppe.« Die geometrische Kunst wäre – so gesehen – eine Vorwegnahme der Ideenrealität Platons, ja ein Versuch, zum Idealen der Natur vorzudringen: »Wenn Platon die Fülle der Erscheinungen auf Ideen zurückführt, macht er ein Empfinden bewußt, das der griechischen Kunst immer eigen war und das im Geometrischen am ursprünglichsten erscheint.« In dieselbe Kerbe schlägt Ernst Homann-Wedeking: »Anstelle der Vielheit, der mannigfachen Möglichkeiten ist eine einzige, mathematische strenge Konzeption getreten, eben der Typus.« Paul Feyerabend nimmt in der Beurteilung des geometrischen Stils, den er an der Dichtung Homers festmacht, insofern eine Zwischenstellung ein, als er zwar von einer additiven vorachsenzeitlichen Methode ausgeht, diese aber keineswegs gegen eine vermeintlich höherwertige philosophisch-rationale Methode ausspielt. Seine Beschreibung der fehlenden Kompaktheit des homerischen Menschen, die zugleich eine Beschreibung der Menschendarstellung des geometrischen Stils ist (und sie ist – formal – zugleich eine Beschreibung der Menschendarstellung des Futurismus des 20. Jh.s, der bewusst die Dynamik und fehlende Zentriertheit des Menschen zelebriert hat), ist eine neutrale Bestandsaufnahme: »[…] sein Leib besteht aus einer Vielzahl von Gliedern, Oberflächen, Übergangsstellen, die […] oft genug im Vergleich mit Walzen, Kugeln, Kegeln, Kreiseln aus dem Zusammenhang gelöst und so beschrieben werden.« Die geometrische Kunst war ein »vergänglicher Erfolg«, denn die gleichzeitigen orientalischen Kulturen schlugen nach Pierre Demargne »durch den hohen Rang ihres handwerklichen und künstlerischen Könnens die griechischen Künstler mühelos in ihren Bann.« Die Kunst verlor Ende des 8. Jh.s ihre Abstraktheit zugunsten einer sinnlichen und stofflichen Bereicherung durch orientalische (assyrische, phönikische, ägyptische) Einflüsse. »Die griechische Kunst hat nie wieder eine solche Fülle von kühnen und eigenartigen Bewegungen gebildet wie in diesen Jahren.« Dazu gehörten nicht nur die Form der bildenden Kunst, sondern die Moti-

Feyerabend 2009, 122

137 A­ mphore vom »Dipylonmaler«, geometrisch (um 760a); AMA Kotsidu 2010, 36

Schefold 1967, 56 Homann-Wedeking 1966, 57

IX.2.2.6.

Feyerabend 2009, 134 orientalisierender Stil Demargne 1977, 268

Schefold 1965, 15

312

Die antike Welt – Griechenland und Rom

138 ­Pithos, Göttin der Natur, orientalisierend (um 680a); AMA

Jones 2014, 98

Schefold 1967, 19

Homann-Wedeking 1966, 29

ve, darunter göttlicher Herr, Muttergottheit und Herrin der Tiere, Mischwesen (Greifen, Sphingen, Gorgonen), das Gefäß als Figur, Dekorationsmotive wie Tierfriese und Muschelornamentik sowie die Figur als Träger in der Architektur. »Foreign artefacts arrived at the major ports and sanctuaries of Ionia (Samos, Miletos), Aeolis (Smyrna, Mytilene on Lesbos), the Cyclades (Naxos, Paros, Delos), the western colonies in Italy and Sicily (Taranto (Taras), Syracuse), and central Greece (Corinth, Aigina, Athens, Euboia), going on to penetrate inland to sanctuaries including Delphi and Olympia. […] Skills moved west with eastern craftsmen […].« Am deutlichsten sichtbar ist der Stilwechsel in der Vasenmalerei. Die orientalisierende Art löst die strenge Geometrisierung durch organische, frei gestaltete Themen ab, die die Natur mit der Pflanzen- und Tierwelt zum Vorbild hatten. Manche sprechen angesichts dieser Einflüsse von einem orientalisierenden Stil, der sich im 7. Jh. zwischen die geometrische und die archaische Stilrichtung schob. Diese durchaus nachvollziehbare Usance rief allerdings auch Widerspruch hervor. Für Kostas Papaioannou sind die Zeugnisse quantitativ zu wenig und qualitativ nicht überzeugend für die Etablierung einer eigenen orientalisierenden Stilperiode. Karl Schefold sprach von einer »nicht sehr glückliche[n] Gewohnheit« und unterstrich energisch, dass die spätgeometrische Kunst »nach ihrem eigenen Gesetz, ohne orientalischen Einfluß, zu der monumentalen Form gereift [ist], mit der um 700 die archaische Periode beginnt.« Dabei stellte Schefold keineswegs die Vorbilder aus dem Orient in Abrede, ihm ging es darum, dass die Griechen dieses Erbe in eigener Sprache dem Abendland vermittelten, was schließlich die archaische Kunstepoche definierte. In diesen neuen Einflüssen mag man den sozialen Umbruch von der geordneten Hierarchie der ansässigen Königsherrschaft zu den Querelen und Machtkämpfen sich konkurrenzierender Adelsgeschlechter der Zuwanderer erkennen. Die Zentren der orientalisierenden Form waren Kreta und die Kykladen, daneben Rhodos und auf der Peloponnes Korinth, während im 6. Jh. in den Kolonialgebieten Ioniens eine kulturelle Blüte anhob. Trotzdem handelte es sich nicht um einfache Wiedergabe, wie dies in der minoischen Malerei der Fall war, sondern um eine idealisierend-abstrahierende Charakterisierung, um Form-Typen. Das Abstrakt-Formelhafte und das Sinnlich-Organische standen in faszinierender Weise am Anfang einer Kultur, die genau durch diese Aspekte in ihrer spannungsgeladenen Ambivalenz gekennzeichnet ist.

2.3. Das archaische Griechenland Abgesehen vom geometrischen Stil, der eher ein multikulturelles Phänomen des Übergangs darstellte, ist die Archaik die älteste definierte überregionale (bis in die etruskischen Gebiete Italiens reichende) Stilepoche und sie setzt eine zumindest ru-

313

Griechenland

dimentäre Vernetzung der einzelnen Poleis voraus, auch wenn die Kunstgeschichte deutliche Lokalstile unterscheidet. Die sogenannte Kolonisation ermöglichte dies ebenso wie die anhebenden panhellenischen Kulte und Feste, sowie der sich intensivierende Handel. Die Grenzen zwischen der geometrischen Epoche und der Archaik sind diskursiv und unscharf. Im Allgemeinen lässt man die Archaik im 8. Jh. beginnen und um 500 enden. In der archaischen Kunst scheint sich ein Ringen um Statik und Dynamik zu spiegeln, sodass sie das analoge Ringen der vorsokratischen Philosophie begleitete. In diese Spannung lässt sich das Schönheitskonzept einordnen, das auf das Bleibende und nicht das Wechselnde setzte: Das »Kalon suchte mehr das Seinsbild als den vergänglichen Augenblick […].« Das ist ein überzeugendes kunstphilosophisches Raster, ob damit freilich eine göttliche Wirklichkeit verbunden wurde und es in der Architektur wirklich darum ging, »göttliches Sein als Wirklichkeit zu gestalten«, ist eine andere Frage.

Schefold 1967, 90

Ebd., 76

2.3.1. Bildende Kunst Der deutlichste Bruch gegenüber der geometrischen Periode zeigt sich bei der Figurengestaltung in der Vasenmalerei. Thematisch wurde der Kontext auf die Darstellung von Mythenstoffen erweitert, formal kam es zu einer Reduktion des ornamentalen Anteils. Die Bilder überraschen mit der Darstellung verschiedener zeitlicher Phasen in demselben Raum. Die Figuren selbst sind nicht mehr abstrakt geometrisch, sondern zeichnen sich durch den realen Proportionen nahe kommende Umrisse aus. Die Abbildungen erzählen Geschichten im Sinn der oral poetry dieser Zeit. Sie sind »durch sprachliche Erzählung vorgeprägt und weniger als Illustrationen von Texten aufzufassen.« Mit den oben erwähnten orientalisierenden Einflüssen erweiterte sich das Formenvokabular: Mischwesen (Sphingen, Greifen, Kentauren) tauchten auf, die Darstellungen erhielten generell mehr Körperhaftigkeit. »Zusammen mit den Erzählungen in der Theogonie des Hesiod und mit einzelnen Versen aus den homerischen Epen dokumentieren sie den Eingang von Elementen der östlichen Mythologie in den griechischen Raum zu einer Zeit, in der die griechische Identität sich endgültig zu definieren begann.« Auch in der Skulptur ist der orientalische Einfluss unübersehbar: Genormte, statuarische Körperhaltung, enganliegende Lockenfrisur, vorgestelltes linkes Bein, abgewinkelte Arme sind Charakteristika, aber stets in einer prägnanteren körperhaften Fülle als etwa in Ägypten. Zudem waren die Körper in aller Regel, anders als in Ägypten, nackt. Dies hatte keine erotische Bedeutung, sondern mag Ausdruck einer Annäherung an die Wesensbestimmung gewesen sein, zu der die Bekleidung nicht dazu gehörte. Die Skulptur – die Monumentalität begann im 7. Jh. – war zum Unterschied von der bemalten Keramik eine öffentliche Kunstform, aber sie wurde in vielen Fällen von privaten Sponsoren unterstützt. An öffentlichen Orten standen »private Sta-

Kotsidu 2010, 47

Ebd., 59f

314

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Neer 2013, 150

Schefold 1967, 60

Ebd., 67

Kouros und Kore

Neer 2013, 116

139 Kouros (um 540); GLY Ebd., 114

tuen«, die einer staatlichen Regulierung unterworfen waren. »Das Resultat war ein kompliziertes, aber faszinierendes Spiel aus Gedenken, Ehre und Macht – ein Spiel, das mit Kunstwerken als Spielsteinen gespielt wurde.« Statuen, deren spezifische Rolle in den Alten Orient zurückverfolgt werden kann, hießen in Griechenland agalma (Vergnügen, Genuss) oder sema (Zeichen, Markierung), unabhängig davon ob sie naturalistisch oder anikonisch waren. In beiden Fällen waren diese »dem Gott Vergnügen bereitenden Markierungen« Zeichen für das, wofür sie standen. Mit feinem Gespür weist Karl Schefold darauf hin, dass die archaische Figur freistehend war und wie ein Tempel umschritten werden wollte. Sie stand »uns nicht gegenüber wie der römische Sakralbau.« In einer weiteren Beobachtung möchte Schefold einen – bei aller formalen Nähe zum altorientalischen Vorbild – seiner Meinung nach zu beachtenden Unterschied herausarbeiten. Das Sein des orientalischen Gottes sei wandellos gewesen, im Griechischen zeige sich indes die Ewigkeit des erfüllten Augenblicks. »[…] im lebendigen Sein der griechischen Gottheit erscheint der Ursprung des Lebens selbst.« Schefold akzentuiert an dieser Stelle eine Vorstellung vom Göttlichen, insofern sich dieses – im Sinne eines Idealismus – in der Kunst verwirklicht. Während sich Schefold dem Phänomen von einer avancierten philosophischen Konzeption aus nähert, scheint es fruchtbarer, den Blick auf die Spannung von Dynamik und Statik als Erklärungsraster zu richten, die dann in Kunst und Architektur der Klassik besonders auffällig behandelt wurde. In der Archaik stand gleichsam die geronnene Statik im Vordergrund, ein Konzept, das in der frühen Begriffsbildung bei den Philosophen in Milet ihr philosophisches Pendant hatte. Man kann dies an den Normelementen der griechischen Skulptur festmachen: dem Kouros und der Kore. Der Typus des Kou­ros tritt seit dem 6. Jh. auf. Die Figur geht auf ägyptische Vor­bilder zurück, die griechisch adaptiert wurden, ein »›afrikanisierendes‹ Element innerhalb der ›orientalisierenden‹ Revolution.« Er stellt einen nackten männlichen muskulösen Körper in dem ganzen Selbstbewusstsein einer adeligen Elite dar. Wie alle Darstellungen nackter Männer trugen sie die Konnotation von Kampf und Krieg. Die häufig geäußerte Meinung mag zutreffen, dass das Motiv von Kraft und Stärke der Jugend ein Ausdruck der Abwehrbereitschaft und Stärke der Polis war. Der Kouros markierte eine zeitlose Präsenz und die von Vitruv für die Architektur geforderte symmetria. Von da her eigneten sich Kouros wie deren weibliches Gegenstück Kore als Weihegeschenke oder Grabfiguren. Koren wurden als Markierung (sema) für Verstorbene (auch Männer) auf Grabmälern postiert. »Die an den Ort gebundene Bildhauerei etabliert so eine Konstante inmitten von Veränderung, eine andauernde Präsenz im Hier und Jetzt, welche sich dem Verschwinden von geliebten Menschen im Tode entgegenstellt.«

315

Griechenland

Für Kostas Papaioannou erhob sich in diesen beiden Grund­typen »die Menschheit endlich zu ›Gottähnlichkeit‹ und ›Gottgleichheit‹.« Papaioannou verwies auf die Parallelität der Kouroi und der Dichtung Pindars, in der er die von Gott geliebten tüchtigen Männer beschreibt: »die Gesichter dieser Statuen sind nicht physiognomisch differenziert, tragen keine persönlichen Züge; sie zeigen den idealen Körper des vollerblühten Menschen. So besingt auch Pindar die Sieger nicht als Individuen, sondern als die jeweils höchste Verkörperung der ἀρετή.« Der Idee des Kouros mit dem perfekten, etwas blockhaften Körperbau kam die Meißeltechnik durchaus entgegen. Aber es wäre verkürzt, den Kouros als Resultat einer speziellen Bildhauertechnik zu begreifen. Vielmehr stand eine Idee dahinter. »Die Vorstellung ist hier, dass Edelmänner anstreben sollten, fehlerlose Werke zu sein, ›wie ein Quadrat‹, wie ein Kouros.« Die männliche Nacktheit hatte ihr Gegenstück in der bekleidet dargestellten Kore. Die Kleidung markierte neben dem Schmuck, der Frisur und manchen Gesten den sozialen Stand der Frau. Sie dokumentierte in diesen Attributen ihre Schönheit in aristokratischem Kontext. Die gesellschaftliche Stellung der Frau wurde in der Forschung in den vergangenen Jahrzehnten in aller Regel eher skeptisch gesehen. Man sprach ihr eine weitergehende Präsenz im öffentlichen Raum ab. Joan Breton Connelly widersprach in einer Studie zur Stellung der Priesterinnen im antiken Griechenland dieser Meinung und zeichnete ein anderes, partizipativeres Bild der Frau der antiken griechischen Gesellschaft. Sie kam zu diesem Ergebnis nicht zuletzt aufgrund der starken Präsenz von Frauen und Priesterinnen in der Kunst: »Attic vase painting supplies a wealth of images showing women engaged in cult activity.« Die Grabmonumente, für die Kouros wie Kore ein wichtiger Bestandteil waren, waren Kunstwerke sui generis mit großer künstlerischer Qualität bereits in der archaischen, mehr noch in der klassischen Zeit. Sie verbanden Architekturelemente mit Relief und Malerei und waren geeignet, den Wohlstand von Familien anzuzeigen. Der Aufwand wurde bisweilen dermaßen hoch geschraubt, dass – wie berichtet – schon unter Solon und später noch einige Male das Zurschaustellen des Luxus bei den Grabbauten ebenso wie die exzessiven Bestattungsriten verboten wurden. In der Tat ging der Luxus bei diesen Riten zurück, dafür nahm die Zahl der Weihegaben für die Gottheiten in den Tempeln zu. Diese neue Möglichkeit für die Wohlhabenden, sich prestigeträchtig in Szene zu setzen, stimulierte das Kunsthandwerk. »Griechische Eliten investierten nicht länger in Totenrituale innerhalb der Familie, sondern in die Zurschaustellung von Reichtum innerhalb von Heiligtümern.«

Papaioannou 1972, 143

Ebd., 162

Neer 2013, 154 140 / 141 Kouros und Kore, archaischer Stil; AMA

Connelly 2007, 57 Grabmonumente

Neer 2013, 102

316

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Keramik

Farbe

Walter-Karydi Elena in Kat. 2004 a, 181

Brinkmann Vinzenz in Ebd., 35

Brinkmann 2009

142 Rotfigurige Amphore; MNJ

Walter-Karydi Elena in Kat. 2004 a, 182f

Kotsidu 2010, 109

In Athen befand sich das Töpferviertel neben der Nekropole Kerameikos. Neben einer Fülle von Gebrauchsartikeln wurden dort auch Gefäße für den Totenkult, Beigaben oder Grabaufsätze erzeugt. Die Keramik Athens war berühmt und der begehrteste Exportartikel der Stadt. Ende des 7. Jh.s übernahmen die athenischen Werkstätten die hoch entwickelte Technik des damals führenden Erzeugers ­Korinth und entwickelten diese weiter. Der Boom dauerte bis ins 4. Jh. Schon Ende des 5. Jh.s zogen die ersten Maler nach Unteritalien und begründeten dort eine hochstehen­de und qualitätsvolle Malerei. Neben den mühsamen Kriegsjahren mag für den Einbruch der Exporte auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass die vermögende Schicht mehr und mehr auf Metallgefäße umstieg. Die Griechen waren im östlichen Mittelmeerraum mit farbiger Skulptur und Architektur konfrontiert. Die zeitgenössischen Schriftsteller waren fasziniert von den bunten Farben der östlichen Nachbarn. Auch in der Kleidung galten bunte Farben als besonders modisch. »Es gibt keine Steinskulptur, sei es im Relief, sei es freistehend, die nicht bemalt war, und die Farbgebung hatte eine für die jeweilige Epoche charakteristische Eigenart.« Die Figur war von der archaischen Zeit an nicht einfach gefärbt, vielmehr »erweiterte die Farbgebung mit eigenständigen Mitteln die formale und erzählerische Struktur des Kunstwerks. […] Auch die Schriftquellen lassen keinen Zweifel daran, dass das in Stein nachgearbeitete Leben oder der in Stein entworfene Mythos den Betrachter durch sein Wirklichkeitspotenzial (mimesis) gefangen nehmen sollte (thaumazein) […] Das eigentliche Ziel war die Verlebendigung des Kunstprodukts.« Diese Farben waren zudem leuchtend, nicht nur, weil Naturpigmente in der südlichen Sonne zu leuchten beginnen, sondern weil die Farben auf die Ferne wirken mussten. Der Reliefgrund war in archaischer Zeit in der Regel rot, in klassischer Zeit blau. Die Färbung kannte ein Zeitkolorit, aber kein Gattungskolorit. Die Farbe half nicht nur bei der Lesbarkeit, sondern auch bei der Gestaltung des Raums. Ein Koloritwechsel beim Bildgrund fand daher immer wieder statt. In der Vasenmalerei war vor allem der Wechsel von der schwarzfigurigen Technik um 530 in Athen, wo mit schwarzem Firnis auf dem roten Tongrund gemalt und die Feinheiten mit einem Stichel ausgeritzt wurden, auf die rotfigurige Technik ein gravierender Einschnitt. Umrisse der Figuren wurden auf den ungebrannten Ton gemalt, die Konturen mit dem Pinsel nachgezogen und der Raum zwischen den Figuren mit schwarzem glänzendem Tonschlick ausgefüllt. Erst dann wurde die Vase gebrannt. Der dunkelrote Grund der rotfigurigen Technik entspricht dem blauen Bildgrund. Dieser Wechsel kam dem Malerischen entgegen: »Der Vasenmaler konnte die Umrisse der geplanten Dekoration auf die Oberfläche des Gefäßes skizzieren, die Figuren mit einer Linie umreißen und ihre Details mit einem feinen Pinsel auf den hellen Tongrund malen. […] Durch diese Maltechnik wurden sowohl das Volumen der Gestalten im Raum als auch unterschiedliche Körperhaltungen überzeugend wiedergegeben.«

317

Griechenland

2.3.2. Die Anfänge des Tempelbaus und die Architektur In der Ägäis wurde – wie meistens am Beginn von höher entwickelten Gottesvorstellungen – die Anwesenheit der Götter an natürlichen Orten wie Bäumen, Höhlen, Quellen, Bergen angenommen. An einer solchen, pantheistisch gedachten Realpräsenz des Göttlichen wurde bis weit in den Hellenismus hinein festgehalten. Aber die Gottheiten erhielten zudem – schon in Knossos – eigene Kulträume und – später – eigenständige Sakralbauten. Soweit die Götter nicht im Palast verehrt wurden, waren das im mykenischen Raum längsgerichtete Häuser in Megaronform, teilweise mit (runden und eckigen) Apsiden. Diese frühen aus dem Alten Orient stammenden Formen bestimmten den monumentalen Sakralbau über die gesamte Geschichte. Warum man von Altären in der Natur in ein geschlossenes Haus übersiedelte, ist unklar. Möglicherweise hat es mit der Aufbewahrung der Weihegaben und Tempelschätze und der Einführung und Aufstellung des Kultbildes zu tun, das einen überdachten Standort benötigte. Der Kult selbst, zumal das blutige und übelriechende Opferritual, wurde meist auf einem Altar (Bomos) außerhalb des sakralen Baus durchgeführt. Den Kultbau nannte man Naos (Wohnung) oder – nach dem Ausdruck temenos für einen ausgeschnittenen (temnein) Bereich des Heiligen – Tempel. Der Tempel war ein Wohn- und Repräsentationsbau für die Gottheit. Er umschloss den Raum zur Aufstellung der Götterbilder (Naos, Cella), eine weitere kultische Bedeutung kam diesem Raum nicht zu. Die Entwicklung des Tempelbaus wiederum hing mit der Entstehung der Polis zusammen, von der jede ihre Schutzgottheit hatte. Die durch den aufblühenden Sakraltourismus requirierten Tempelschätze waren ein gutes Geschäft und der Tempel gewann Bedeutung für das Prestige der Polis. Auf diese Weise »amortisierten« sich die teuren Bauwerke relativ rasch. Ort des Tempels war das soziale Zentrum, die Agora, oder der mythisch-religiöse Ort der Hochstadt (Akropolis). Für den griechischen Tempelbau kristallisierte sich – ausgehend von frühen Formen wie dem Apollon-Tempel von Eretria (8. Jh.), den frühen Tempeln von Dreros und Gortyn auf Kreta – für größere Bauten eine Grundfiguration heraus, die in verschiedener Weise abgewandelt wurde. Der Cella waren eine Vor- (Pronaos) und eine Rückhalle (Opisthodomos) angeschlossen. Letztere diente zur Aufbewahrung der Weihegaben und des Tempelschatzes. Manche Tempel waren überhaupt motiviert als Aufbewahrungsorte des Vermögens der Polis. Der in der Zeit der Klassik gebaute Parthenon beherbergte die Kasse des delischen Seebundes. Bei vielen Tempeln gab es noch einen weiteren kleinen Raum, das Allerheiligste (Adyton), dessen Funktion unklar ist. Diesen geschlossenen Raumkomplex umgab eine Ringhalle (Peristasis), die – so die häufigste Form – umlaufend sein konnte (mit einfacher Säulenreihe: Peripteros, mit doppelter Säulenreihe: Dipteros). Vo da her unterscheiden Architekturtheoretiker mehrere realisierte Varianten: Manche Tempel wiesen zwei Säulen zwischen den Anten (verlängerte Seitenwand der Cella) auf (Antentempel), hatten eine Säulenreihe vor den Anten (Prostylos) oder es handelte sich überhaupt um einen Rundbau ohne Naos (Monopteros).

Teile des Tempels

318

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ringhalle

143 Tempel des Hephaistos und der Athene (um 420a), Athen Müller/Vogel 1974, 189 3.3.2.1.

Giedion 1965, 29 Stein-Hölkeskamp 2015, 128

Neer 2013, 110

Harmonie

Das besondere Kennzeichen des griechischen Tempelbaus ist die Ringhalle. Sie hob die Achse des Richtungsbaus zugunsten einer einheitlichen Geschlossenheit auf. Der griechische Tempel stand als autonomer Körper in der Landschaft und der Natur wie eine reine »Geometrie, als Verkörperung eines geistigen Prinzips gegenüber.« Er glich einer Skulptur, die man umrunden konnte. Anders in der römischen Architektur. Dort erhielt der Tempel eine Axialität und stellte einen Bezug zum umgebenden Raum her. Sigfried Giedion hielt bis herauf zu den Griechen die Ambition für die Gestaltung des Innenraums für wenig ausgeprägt. Er vermutete den Grund darin, dass in der frühen Architektur »die Beziehung zum Kosmos noch ungebrochen« war. Die Ursprünge für die Ringhalle sind kaum mehr zu rekonstruieren. Die früheste soll in der ersten Hälfte des 7. Jh.s in Eretria entstanden sein. Beim Zeus-Tempel in Olympia (um 460, also bereits in klassischer Zeit), durch den Architekten Libon von Elis realisiert, erreichte der Typ des Ringhallentempels einen ersten Höhepunkt. Für die Ringhalle ist kein unmittelbarer Zweck ersichtlich. Daher scheint nicht ausgeschlossen, dass ästhetische Motive für sie ausschlaggebend waren. Es kann sein, dass der Reiz der plastischen Form und das Spiel von Offenheit und Geschlossenheit die Griechen faszinierten. Wie im Alten Orient waren Tempel die ersten repräsentativen Werke der Architektur – zunächst aus Holz und Lehmziegeln. Den Übergang zum Steinbau markieren einige Bauten, unter ihnen der Hera-Tempel in Olympia, ein auf einem Steinfundament errichteter Bau aus Lehmziegeln mit Holzsäulen und -gebälk, das sukzessive durch Stein ersetzt wurde. Ähnlich war es in Delphi. Die Baugeschichte des Hera-Tempels in Samos reichte vom einfachen Langhaus aus Lehmziegeln (ca. 8. Jh.) über das Heraion III, einem monumentalen Bau mit doppelter Ringhalle um den Naos (um 570) und einem Monumentalaltar, bis zum Heraion IV, das die Monumentalität nochmals steigerte. Zwar hatten die griechischen Baumeister schon länger mit Steinbauten experimentiert, die eigentlichen Kenntnisse dafür gewannen sie jedoch aus Ägypten. Pharao Psammetich hatte griechische Söldner in seinem Dienst, die dieses Wissen nach Griechenland brachten. Im Westen entstanden die ersten, noch klobigen, Steintempel etwa in Syrakus (Baumeister Kleomenes und Steinmetz Epikles haben uns ihre Namen in die Stufen gemeißelt), der 733 von Korinth aus gegründeten dorischen Kolonie, und in Selinunt. Dabei entstand ein erstes Ordnungssystem, das sich für das westliche Großgriechenland und das Festland als dorische Ordnung ausdifferenzierte. Eine kunst- und architekturphilosophische Diskussion des griechischen Tempels umfasst viele Aspekte, die hier nur kursorisch angemerkt werden können. Zur plastischen Qualität des Tempels gehört als sein vielleicht wichtigster Aspekt die ausgewogene Harmonie. Parallel zu den Überlegungen der Pythagoreer entwickelte die Architektur das Modul als Maßeinheit, dessen fein balancierte Anwendung zur

319

Griechenland

Eurhythmie (ausgewogene Ordnung) führte. Die Betrachtung der harmonischen Verhältnisse von Skulptur und Tempel folgt vergleichbaren Leitlinien. Mit Blick auf Polyklets Doryphoros meinte Christian Norberg-Schulz: »Das Spiel seiner Muskeln ähnelt der Gliederung der Bauteile eines griechischen Tempels, […] so daß jeder Teil mit den anderen ausgesöhnt ist.« Nun ist in der Tat in einem Tempel keine gerade Linie zu finden. Er besteht aus Krümmungen, Schwellungen, Schrägen. Kostas Papaioannou hat mit feinem Gespür diesen Zusammenhang auf den Punkt gebracht: »Dadurch wird das Gefühl einer rhythmischen Bewegtheit hervorgerufen, die das starre Gefüge und die Bodenverhaftung des Bauwerks aufzuheben scheint: alles hält sich in einem wunderbar lebendigen Gleichgewicht, in einer aufs sorgfältigste gefügten und kodifizierten Ordnung.« Die Ringhalle, die den Tempel geradezu zu einer im Raum stehenden Skulptur machte, war – so gesehen – eine frühe Verdinglichung einer ästhetischen Reflexion, wobei Ästhetik hier als vollendete Harmonie einen ontologischen Charakter hatte. Die Ringhalle stand für die maßvolle, harmonische Ordnung einer Idealarchitektur, welche Ordnung, die von den überzeitlichen Gesetzen des Kosmos vorgegeben war. Unterstützt wird dieser Eindruck durch den Sockel, der den Tempel aus der Umgebung heraushob und durch eine Dialektik von Offenheit der Säulenreihen und Geschlossenheit der plastischen Form. Anders als in einem neuzeitlichen Kontext entsprang die Mathematik eines griechischen Tempels einem ontologischen Harmonieideal, sie war, wie Christian Norberg-Schulz zu Recht feststellte, von ihrem lebendigen genius loci her inspiriert. Norberg-Schulz folgte in seiner Analyse der von Vincent Scully vorgezeichneten kulturgeschichtlichen Deutung, die darauf aufbaute, dass die ersten Tempel in aller Regel noch chthonischen Gottheiten zugeordnet waren und einen Herdaltar beinhalteten: Demeter, Hera, Artemis und ihrem Bruder Apollon, der am Anfang ähnlich wie die Muttergöttin Athene eine chthonische Charakteristik aufwies. Nach dieser Interpretation unterstrichen nach Norberg-Schulz die Hera-Tempel in Paestum durch ihre Stellung und der gedrungenen dorischen Ordnung die Einheit der Stadt mit der Erde und ihren chthonischen Gottheiten. Demgegenüber stehe der Athenatempel an höchster Stelle und setze so ein Zeichen für die Befreiung der Menschen aus der chthonischen Gebundenheit mit ihren dunklen Chaosmächten. Dies beschreibt sehr schön die sich im Tempelbau ausdrückende kulturgeschichtliche Bewegung vom Chthonischen zur Abstraktion der mathematischen Harmonie als ausgezeichneten Ort des Heiligen. Vielleicht könnte man das Chthonische und Himmelstürmende auch als Kenn­zeichen des griechischen Bauens ansehen: das Verhältnis von Aufragen und Lasten. Das Aufragen wurde diffizil orchestriert. Die Säulen standen meist auf ei-

Norberg-Schulz 1979, 41

Papaioannou 1972, 147

X.1.2.1.

144 Paestum, ­Poseidon-Tempel

Norberg-Schulz 1979, 29ff

Säule und Kapitell

320

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Allsopp 1965, 2/5 I.4.3.1.f./II.2.4.

Jones 2014, 89–111

Gombrich 1996, 77

Ebd., 99 Vitruv 1981, 171

ner dreistufigen Basis (krepis). Der Säulenschaft, der in der Regel aus mehreren Trommeln zusammengesetzt wurde, war oft kanneliert und wies eine Schwellung (entasis) auf. Der originellste Teil war zweifellos das aus kissenartigem Teil (echinus) und Deckplatte (abakus) zusammengesetzte Kapitell, welches den Architraven (epistylion) trägt. Es bringt organische Elemente des Tragens und Lastens in die Säule. Die Kapitelle charakterisierten die Säulenordnung, die der römische Architekturtheoretiker Vitruv in nachhaltiger Weise in einen anthropologischen Kontext stellte und die ab der Renaissance bis ins 19. Jh. eine ausufernde Bedeutung im Architekturdiskurs erhielten. Das setzte grundsätzlich eine Eigenart fort, nach der Bauteile wie eben auch die Säule, nicht nur funktional ein Dach stützte, »it was some­thing else; it had a significance. / For the Greeks of the fifth century the column was something subliminally sacred.« Ich erinnere an die Bedeutung von Zeichen des Aufragens im Neolithikum und im Alten Orient. Säulen wurden auch als anikonische Zeichen verehrt. Aus der griechischen Antike sind die drei Ordnungen dorisch, ionisch und korinthisch prominent geworden. Ihnen ging ursprünglich eine äolische Ordnung voraus, die am stärksten orientalische Einflüsse fokusierte, weshalb sie vermutlich nur rudimentär blieb. Greifbar bleibt sie am ehesten auf den Kykladen, in Attika und in der Äolis. Die dorische Ordnung erweckt durch ihre Gedrungenheit und Massigkeit den Eindruck der bodenhaftenden Körperlichkeit. Sie vermittelt Strenge und Geschlossenheit der Form. Aber sie besticht auch durch ihre Schlichtheit, ihre ungeschnörkelte Eleganz und den Zusammenklang aller Teile. Die Säulen erscheinen in der Tat »wie Lebewesen, die dem Bau mit Freude dienen.« Sie wurde in den reifen Werken leichter, schlanker und aufstrebender. Herausragende Beispiele dafür sind der Zeus-Tempel in Olympia und der Parthenon. Die Ionier ließen sich von der orientalischen Umgebung inspirieren. Die einzelnen Bauteile sind durch dekorative Leisten voneinander abgesetzt, weshalb der Eindruck der strengen Geschlossenheit der dorischen Ordnung zurücktritt. Die ionische Ordnung zeichnet sich durch größere formale Flexibilität aus und durch einen dekorativen Stil. Die Säulen rollen sich ein »wie um deutlich zu machen, daß sie die Last des Gebälkes tragen.« Vitruv sah in ihnen weibliche Schlankheit und gekräuseltes Haar. Erst um 400 entstanden Kapitelldekorationen mit dem Akanthusblattmotiv. Vitruv nannte diese Ordnung korinthisch, obwohl sie nicht in Korinth, sondern auf der Peloponnes (Phigaleia/Bassai) zum ersten Mal auftrat. Die Dekoration, die auch die Konstruktionselemente umfasst, wird mehr und mehr unabhängig von der Funktion des Baus eingesetzt. Im Laufe der Klassik entstanden vorgefertigte Kapitelle mit Akanthusmotiven. Zugleich zu derartigen »Fertigteilelementen« entwickelt sich die Usance individueller Urheberschaftsnachweise der Künstler und Baumeister. Die korinthische Ordnung erhielt ihre weiteste Verbreitung erst im Hellenismus und im Römischen Reich. Im Hellenismus deckte ein üppiger Formenreichtum die Erstarrung der Architektur zu.

321

Griechenland

Die Säulen tragen den Architrav. Über dem Architrav läuft das Friesband, das in einzelne Tafeln (Metopen) für den skulpturalen Schmuck gegliedert ist. Sie sind durch säulenartige Elemente (Triglyphen) unterbrochen, die wie alle Elemente aus der Holzarchitektur stammen und ursprünglich die Balkenköpfe abdeckten. Die Metopen und das dreieckige Giebelfeld an den kurzen Seiten (Tympanon) dienten als Träger figuralen und bildlichen Schmucks, was eine Anpassung des von den tragenden tektonischen Teilen der Architektur unabhängigen Figurenschmucks an die Dreiecksgeometrie erforderte. Die frühesten Reste von Bauskulpturen stammen aus dem 7. und 6. Jh., etwa Gorgo-Köpfe aus Terrakotta auf den Giebeln der Tempel in Selinunt und Gela auf Sizilien. Man kann am griechischen Bauschmuck die Stellung zum Mythos studieren und seine Veränderung gegenüber den alten Hochkulturen. Im Alten Orient verkörperten gefährliche Tiere und Ungeheuer »sowohl rationale als auch irrationale Ängste der Menschen wie Naturphänomene und Krankheiten überhaupt. Dämonen fungierten dort als Erklärung für Unvorhergesehenes, waren Träger alles Subversiven und Bösen.« In Mesopotamien war das stärker ausgeprägt als in Ägypten, wo Ma’at über den Gang der Dinge wachte und die Abweichungen von der Harmonie scheinbar weniger gravierend ausfielen. Auch in Griechenland stand das Bedürfnis nach Harmonie und Ordnung im Mittelpunkt, zusehends nahm hier aber gegenüber dem die göttliche Ordnung verwaltenden altorientalischen König der Mensch selbst sein Schicksal in die Hand, der Held, der keine übermenschliche Erscheinung war, sondern Vorbild für das Individuum. Zudem stammen die Bildwerke der Griechen aus einer Zeit, wo der Mythos noch stärker rationale Erklärungen und Botschaften vermittelte und von einer aufgeklärten Gesellschaft hinterfragt wurde. In diesem Sinn könnte etwa die Schilderung des Raubs des Dreifußes des delphischen Orakels am Schatzhaus der Siphnier als Demonstration der »Legitimation des delphischen Heiligtums und seines Orakels an hervorragendem Platz am Bau« interpretiert werden. Der Tempelbau war zweifellos die vornehmste Bauaufgabe zu dieser Zeit in Griechenland. Er vereint eine sakrale Motivation mit einer charakteristischen ästhetischen Weichenstellung, die das pythagoreische Gedankengebäude fruchtbar machte. Die Leistung des Tempelbaus auf ein Bedürfnis nach göttlicher Sinngebung einzuschränken, wie dies Karl Schefold (»So eng sind Gott und Mensch verbunden«) unternahm, dürfte freilich zu kurz greifen. Der Tempel fungierte nicht nur als Ort der Gottheit, sondern auch als Statussymbol und Legitimationsinstrument des Stadtstaates. Die Kraft der zeitgenössischen Aufklärung in den Metropolen ließ den Tempel auch unter profanem Blickwinkel eine Hochschätzung erfahren.

145–149 Kapitell­ formen: dorisch (HeraTempel ­Metapont, 6. Jh.a), ionisch (Patara), ­korinthisch (Knidos), äolisch (Tyfa, um 570a; AMI), ­komposit (röm.; AMI)

Bauskulptur

Kotsidu 2010, 89

Ebd., 92 II.2.2.2.

Ebd., 95

Schefold 1967, 68

322

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Stein-Hölkeskamp 2015, 129ff profane ­Bauaufgaben

150 Theatermasken in Myra, Türkei

Städtebau

L’Orange 1973, 313–324, hier: 314 II.1.2.2.1.

Deshalb hatte er, wie die neuere Forschung auch unterstreicht, eine Reihe von Funktionen abseits der religiösen. Sosehr man den Tempel als starkes Identifikationssymbol im Zentrum der Polis erwartet, stand er doch häufig an der Peripherie oder gar außerhalb der Grenze des engeren Siedlungsraums. Darin kann man verschiedene Gründe vermuten. Möglicherweise ist diese Lage auch einer Kommunikationsstrategie geschuldet. Beim abseits gelegenen, dem Zeus und der Artemis geweihten Tempel von Metapont könnte die Verbindung der neuen griechischen Siedler mit der einheimischen Bevölkerung zum Ausdruck gebracht worden sein. Sein erzählender Fries vermittelte die Kultur der neuen Siedler an die alte Umgebung. Diese auch profane Funktion der Tempelarchitektur leitet über zu den profanen Bauaufgaben der archaischen Zeit, die nicht übersehen werden dürfen – alles ingenieurtechnische und gestalterische Premieren. Dazu gehörten Wandelhallen, Schatzhäuser, Bauten für die öffentliche Verwaltung, aber auch technische Vorhaben wie Tunnel (Eupalinos baute den damals längsten Tunnel auf Samos), Kanäle, Brücken, Leuchttürme (Sostratos aus Knidos wird der als Weltwunder gehandelte Leuchtturm auf der Insel Pharos bei Alexandrien zugeschrieben) sowie der Theater- und Städtebau. Das Theater hatte eine noch viel offensichtlichere Korrespondenz mit der Landschaft als der Tempel. Auch das Theater entstand als Ort sakraler Handlungen des Dionysos-Kultes. Es wurde als Freilichtanlage entwickelt und fügte sich in die natürliche Gegebenheiten ein. Es öffnete den Blick auf die umgebende Landschaft und nahm gleichsam die Stimmungen der Umgebung in sich auf. Das griechische Theater bestand aus dem Sitzhalbrund (koilon, zuerst aus Holz, später Stein), der Spielfläche (orchestra) und dem Bühnengebäude (skene), das als Umkleideraum und Kulisse diente. Die Orchestra war der Platz des Chores, während sich die Schauspieler an der Skene bewegten, zunächst. Die zunehmende Individualisierung, die sich in den Stücken in der Aufwertung der Schauspieler gegenüber dem Chor ausdrückte, hatte reichere Bühnenbauten zur Folge. Der Städtebau schritt rasch fort. Die Stadt als politisch-soziales Gebilde wurde mit Rückgriff auf die Situation im Orient – im Idealfall zentriert um Hochstadt und Tempel – von Philosophen theoretisch in ihrer religiösen und philosophischen Bedeutung als autonomer Kosmos hochgerüstet. Sie war philosophisch das Abbild des Kosmos, das ist die Botschaft aus dem Alten Orient. »The kingdom in the Ancient Near East mirrored the rule of the sun in the heavens.« Anders als beim Tempelbau waren die Privatgebäude schlicht, aus Lehmziegeln und Holz. Das Prestige wurde anfangs mehr durch kostbares Inventar angezeigt als durch die Bautechnik. In archaischer Zeit definierte sich das Ansehen der Stadt eher durch die Gestaltung der öffentlichen Räume als durch monumentale Bauten (abgesehen von den das Prestige der Stadt ausdrückenden Tempeln). Die Versamm-

323

Griechenland

lungsbereiche waren dem politischen System der Poleis geschuldet, die eine hohe Bürgerbeteiligung kannten. Den Fokus der griechischen Stadt bildete die bereits in 2.2.1. erwähnte Agora mit öffentlichen Bauten, Brunnen, Standbildern und Säulenhallen. Es war dies der zentrale Platz für Versammlungen, Feste, Staatsakte und für das gesellschaftliche Leben und bildete das Sinnbild für die »Dynamik des Prozesses« der Stadtentwicklung, die sich im Geviert des Platzes organisatorisch abspielt. In Milet, der geistig-politischen Metropole, deren Geschichte als bereits minoische, dann mykenische, später ionische Siedlung bis ins 16. Jh. zurückreichte (vielleicht ist der Name hethitisch), entstand beim Wiederaufbau nach der Befreiung von den Persern 479 eine schachbrettartige geometrische Ordnung, aus der Hippodamos einen allgemeinen Leitfaden des Städtebaus ableitete. Zu ihr gehörten auch typisierte Häuser. Diese Ordnung bestimmte unter dem Titel hippodamisches System etwa die Anlagen in Piräus 450 und Lokroi 443 und diente vielen späteren Projekten (bis herauf in die Neuzeit) als Vorbild. Das System selbst ist allerdings viel älter. Es wurde bereits im Alten Orient angewandt, ein sehr früher Vorläufer findet sich in der eher geheimnisumwitterten, um 700 gegründeten urartäischen Siedlung Zernaki Tepe am Van-See, die nie fertiggestellt und auch nie bewohnt wurde. Die im 8. Jh. gegründete Kolonie auf Sizilien Megara Hyblaia kannte dieses System ebenso wie die im 6. Jh. zu einer Polis ausgebaute Kolonie Metapont. Die hippodamische Ordnung passte vordergründig zur Idee der Gleichheit der Bürger und sie passte in dieser Interpretation auch zur achsenzeitlichen Wende. Allerdings mag ein zwanghafter geometrischer Raster auch als totalitäre Anmaßung der Architektur erscheinen, die der Verschiedenheit der Menschen wenig Respekt zollt. Das hippodamische System war jedenfalls strenger als Idealstadtentwürfe der Renaissance. Antonio Averlino (Filarete) etwa forderte für seine Idealstadt Sforzinda unterschiedliche Häuser, die der Vielfalt der Menschen entsprechen würden. Die Sonderform des Schachbrettmusters setzte sich in Griechenland nicht generell durch. Meist dominierte ein organisches Modell, das sowohl topographische Gegebenheiten berücksichtigte als auch klimatische Bedingungen und die Funktionen des Lebens in der Stadt. Eine bedeutende Anwendung bekam das hippodamische System im römischen Städtebau. Dort stand der Umgang mit der Raumorientierung im Vordergrund und in die geometrische Ordnung ließ sich das römische Cardo-Decumanus-System problemlos einfügen. Die großen griechischen Städte blieben auch in klassischer Zeit noch eher eng und muffig. Erst in hellenistischer Zeit wurden sie nach Konzepten der städtebaulichen Hygiene, wie sie von Hippokrates publiziert worden waren, erneuert. Es ging um die Exposition der Städte zu den reinigenden und kühlenden Winden, um den Zugang zu frischem Wasser sowie um die generelle Anlage von Städten, etwa abseits von Krankheiten fördernden Sümpfen. Solche Vorgaben, die teilweise beim hippodamischen System implizit Berücksichtigung fanden, wurden später von Vitruv ausführlich dargelegt.

Kotsidu 2010, 100f

Müller/Vogel 1974, 171

Marek 2010, 167

hippodamisches System

Kolb 1984, 45

VI.7.1.

3.3.1.

3.4.3.

324

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.3.3. Der Beginn der europäischen Philosophie Die Botschaft über das Anheben der Philosophie in Griechenland gehört zu den Gründungsgeschichten Europas. Wie bereits in II.4. ausgeführt wurde, verlief der Übergang vom Mythos in den philosophischen Logos fließend. Die bereits starke rationale Steuerung von Mythen im Hinblick auf die Stiftung einer Ordnung verstärkte sich, der mythische Kontext trat mehr und mehr zurück, rationale Antworten schoben sich in den Vordergrund. Eine solche Entwicklung setzt zweifellos ein Maß an Aufklärung und eine gewisse Freiheit der Intellektuellen von religiösen Welterklärungen voraus. Dem kam zudem zugute, dass religiöse Instanzen wie eine starke Priesterschaft in Griechenland unbekannt waren. Dass das Philosophieren im engeren Sinne genau dort begann, wo Griechenland an den Orient stieß, im Gebiet der kleinasiatischen Apokien, könnte nun doch wieder als Argument dienen für eine auch bewusst gesteuerte Selbstvergewisserung des Griechischen.

2.3.3.1. Die ionische Philosophie

Marek 2010, 185

Schulz 2008, 101

Die ionischen Städte, die sich, wie bereits erwähnt, in äußerst günstiger strategischer Lage befanden, darunter vor allem Milet, waren ein Umschlagplatz nicht nur für Güter, sondern auch für Ideen. Milet, dieses »Zentrum der Zivilisation des orientalischen Westens«, selbst hatte etwa 50 Kolonien gegründet. Diese Kolonien verbreiteten die griechische Kultur in das Gebiet des Schwarzen Meeres (Pontus Euxinus) und des Marmarameeres (Propontis). Das berichtet uns der Geograph Strabon. Über die Handelsverbindungen bekamen die Griechen Kenntnis vom Stand der Wissenschaft der Babylonier. »Milet war Teil einer ›nahöstlich-mediterranen koiné‹, die uraltes Wissen des Ostens und Erfahrungen von Seefahrern des Westens aufeinanderprallen ließ […].« Diese Anregungen vermochten die Griechen bald kreativ und erfolgreich weiterzudenken. Von der Stadt Phokaia (Foca) aus, von der kaum mehr Reste erhalten sind, wurden im zentralen und westlichen Mittelmeer so bedeutende Siedlungen gegründet wie Elea, Massalia, vielleicht Monoikos (Monaco), Nikaia (Nizza) und Antipolis (Antibe). Neben der regen künstlerischen Tätigkeit begann in Kleinasien im 6. Jh. die Philosophie im engeren Sinn. Das geschah übrigens zur gleichen Zeit, als auch in China mit Konfuzius und seinen Schülern philosophische (vor allem ethische) Lehren verkündet wurden. Etwas später, im 4. Jh., folgte der Daoismus. Komplizierter ist es um die indische Philosophie im Rahmen des Hinduismus bestellt. Sie ist Teil der Veden, die wiederum in ihren mündlichen Sammlungen bis auf das Jahr 1000a zurückgeht. Eingebettet waren philosophisch-mystische Lehren, die Upanishaden, die um 500a greifbar sind. Zur schriftlichen Fixierung dieser Lehren kam es erst viel später, teilweise vier Jahrhunderte nach der Zeitenwende. Was die europäische Philosophie betrifft, entstand, teilweise noch in mythischer Grundierung, in Kleinasien die erste begriffliche und abstrakt gefasste Reflexion über die Stellung des Menschen in seiner Welt. In den sogenannten »naturphilosophischen« Spekulationen über das Grundprinzip des Kosmos liegt bei Thales

325

Griechenland

(Wasser), Anaximenes (Luft) oder Anaximander (Unbegrenztes), alle aus Milet, eine rationalisierte Form der Beschreibung eines inneren strukturierenden Prinzips der Wirklichkeit vor (von Aristoteles arche panton/Ursprung von allem genannt). Man spricht angesichts der erreichten Form vom Beginn der Philosophie. Freilich lag hier kein empirisches Interesse an naturwissenschaftlichen Fakten in heutigem Sinn vor, es ging vielmehr um das begriffliche Erfassen eines dynamischen und qualitativen Aspekts des Seins. So wie schon bei Homer stets die dynamische Seite der jeweiligen Entität auftauchte: Der Krieger kämpft, der Läufer läuft. Nun begann der Versuch, das Wesen der Dinge aus dem Fluss der Bewegung herauszuheben und es in eine zeitlose Abgehobenheit im Sinne eines abstrakten Begriffs zu bringen. Das Liquide, das Atmen und das Sich-ständig-Entziehende entschlagen sich zwar einer endgültigen begrifflichen Fassung, aber als Wasser, Luft, Unbegrenztes wird es auf eine solche Ebene gehoben und handhabbar.

2.3.3.2. Parmenides und Heraklit Die junge Philosophie erlebte mit Parmenides und Heraklit erste Höhepunkte der vorplatonischen Tradition. Parmenides stammt aus dem 540 im griechisch kolonisierten Unteritalien gegründeten Elea, Heraklit aus dem nördlich von Milet gelegenen Ephesos. Der Streit um ihre genauen Lebensdaten ist unentschieden. Beide lebten an der Wende des 6. ins 5. Jh. In der Fachliteratur hat man sich mit großem Elan auf diese frühen Philosophen gestürzt und in ihnen gleich avancierte Beiträge zu systematischen philosophischen Problemen entdecken wollen. Parmenides wurde so zum ersten Logiker (nicht zuletzt wegen seines Schülers Zenon aus Elea) und Heraklit zum Dialektiker. Parmenides sagt man ein Denken nach, das in der Formulierung eines statischen, ja tautologischen Seinsbegriffs kulminiere, während Heraklit der Philosoph des Werdens, des Fließens, pointierter gesagt, des panta rhei (alles fließt) gewesen sei. Beide Zuschreibungen entspringen mehr Wunschbildern als der Realität. Die Sache ist schon deshalb komplexer, weil wir von beiden Philosophen nur bruchstückhafte Fragmente überliefert haben, die noch dazu meist durch die Hände von Neuplatonikern auf uns gekommen sind. Dass es sich dabei um Bruchstücke größerer Lehrgedichte handelt, ist Konsens in der Wissenschaft. Trotzdem bleibt die eigenwillige These Eric A. Havelocks nicht ohne Reiz. Seiner Meinung nach handle es sich bei diesen Fragmenten nicht um Bruchstücke, sondern um eine eigenständige Literaturform des Aphorismus, welche noch von der Oralität geprägt sei. Das Fragment als bewusste antisystematische literarische Form tauchte in der Kulturgeschichte immer wieder auf, besonders prominent in der Zeit der Romantik und bei Nietzsche. Dass es bereits im 5. Jh.a bewusst so verwandt wurde, ist freilich eine gewagte Unterstellung. Ginge man auf sie ein, wäre der nächste Schritt nicht inkonsequent, dass Platon seine Werke in (der als semioral qualifizierten) Dialogform schrieb. Erst bei Aristoteles entstanden demnach der systematische Traktat und die Abhandlung. In der Abhandlung mit seiner argumentierenden Systematik wurde schließlich »eine neue Qualität von Abstraktion und Dekontextualisierung erreicht.«

Fragment

VIII.7.0./VIII.7.3./ VIII.10.1.

Margreiter 2007,110

326

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Metaphysik

IX.4.5.2.

2.4.3.1. Parmenides

2.1.3.1.

Diels 1964, ­Parmenides B1

Das Denken von Parmenides und Heraklit erschließt sich entgegen ihrer avancierten Rezeption nur unter Berücksichtigung von Kategorien des Mystischen und der Unterschied zwischen ihren Ansichten ist wesentlich geringer zu veranschlagen. Bei beiden ist die Bemühung greifbar, die dynamische Seite des Seienden zugunsten ihres statischen Wesens zu verdrängen. Mit Parmenides und Heraklit erhielt die nun schon mehrfach angesprochene Suche nach Statik in der dynamischen Welt eine philosophische Form, und zwar in äußerster Nachhaltigkeit. Nicht nur gründet hier die Metaphysik genannte kulturelle Erzählung, die in einer zweiten – sozusagen philosophischen – Sesshaftwerdung auf einen statischen Seinsbegriff abhebt. Die ambitionierte Bemühung eines statischen Abschlusses philosophischer Systeme wird bis zur postmodernen Verabschiedung eben solcher großen Erzählungen im 20. Jh. der grundlegende Kern philosophischer Theorien sein und aus ihnen speist sich die Ästhetik. Daneben gab es aber begleitend immer auch die Torpedierung der vorliegenden Verdrängung des Realen und Zeithaften zugunsten eines abstrakten statischen Systems durch zeitgenössische aufgeklärte Intellektuelle. Dazu wird in der Konfrontation zwischen Platon und den Sophisten mehr zu sagen sein. Parmenides kleidete seine philosophischen Äußerungen in ein in Hexametern gehaltenes Lehrgedicht mit dem vermutlichen Titel Über die Natur. Die Spuren des gesamten Textes verlieren sich im 6. Jh.p. Aus dieser Zeit stammt die Klage des Neuplatonikers und Aristoteles-Kommentators Simplikios, dass der Text des Parmenides selten geworden sei. Parmenides beschreibt ein Initiationserlebnis, das zur Schau der reinen Wahrheit führt. In autobiographischer Manier schildert er, wie er in rauschender Fahrt in einem von Stuten gezogenen und von Sonnenmädchen begleiteten Gefährt zu einem Tor mit steinerner Schwelle gefahren wurde. Der Aufstieg zur Schau der Wahrheit ist ein orphisches Motiv – ebenso wie die steinerne Schwelle, die Tag und Nacht scheidet. Letztere wurde zu einem Archetypus des Initiationsrituals bis hin zur philosophischen Deutung des Stadttores. Das Öffnen des Tores ist eine metaphorische Schnittstelle zwischen Mythos und philosophischer Reflexion. Durch die Öffnung des Tores tut sich ein Raum auf, chasma, ein gähnender Schlund. Damit ist die oben erwähnte Urzustandsbeschreibung des chaos gemeint. Sie schafft Raum für Visionen und Auditionen. Zugleich kann man diese Zustandsbeschreibung lesen als Trennung einer göttlichen Wahrheit von der Realität der Sterblichen, die sich vom falschen Schein des realen Lebens unterscheidet. Parmenides stellte diese Inauguration eines philosophischen Konzepts als Vision einer Offenbarung dar, bei der ihn eine namenlose Göttin belehrte. Die Ermöglichung dieser gnadenhaften Vision verdankte sich nicht etwa der Macht der Göttin, sondern der Macht des Geschicks (moira): »Es ist ja kein böses Geschick, das dich fortgeleitet hat über diesen Weg […] sondern göttliche Fügung und Recht.« Parmenides wird zum Künder einer statischen Wahrheit, die mit der Vollkommenheit einer Kugel vergleichbar ist. Der Kreis, die Kugel, die von Parmenides in ihrer Symbolik unverletzter, harmonischer Vollkommenheit zum Zeichen der Wahrheit

327

Griechenland

schlechthin hochstilisiert wird, ist auch Ausdruck des Zwingenden. Sie symbolisiert ewiges Walten, das durch keinen Eingriff, auch nicht durch einen der Götter, veränderbar ist. Die aufgeklärte sophistische Geistigkeit, die mit diesen alten Vorstellungen brach, bereitete das Terrain für die Elite von Schriftstellern und Dichtern, deren Thema geradewegs die bedrängende Ausweglosigkeit dieses schicksalshaften Kreises war und die mit der von Parmenides vertretenen positiven Vision eines darin gewährten Heils nichts mehr anzufangen wussten. Das war es, was Platon so aufbrachte und zu seinen Ausfällen gegen die Dichter und Künstler veranlasste. Was im orphischen Mythos die Rolle des Zeus war, der sich das Dynamische einverleibte und es dadurch zur Statik brachte, wurde nun gleichsam auf begrifflicher Ebene abgehandelt und als Ist fixiert. Nur dieses Ist ist, während alles Nicht-Ist, das Viele, das Bewegte, das Materielle, nur einer Scheinwelt entspricht (also nicht ist), in der sich der Mensch alltäglich bewegt. Von Logik im modernen Sinn kann hier keine Rede sein. Die kugelförmig geschlossene Wahrheit kann der Mensch nur als Entrückter, in einer Vision in mystischer Schau (Enthusiasmos), erfahren. Er kann das, wenn Denken und Sein in Eins gehen, wenn im Augenblick mystischer Schau Raum und Zeit verschwinden, Empfindungen aufgehoben sind und das Ich mit den Gegenständen verschmilzt. Das alles nahm Platon nicht nur für seine Philosophie, sondern auch für sein Kunstverständnis auf. Er entwarf den Künstler, der als Kopist das einmal von einem begnadeten Seher im Enthusiasmos Geschaute wahrheitsgetreu repliziert. 2.4.3.2.6. Den unerschütterlichen zeitlosen Grund, das Eine, das im späteren Platonismus und Neuplatonismus eine so entscheidende Rolle spielte, beschrieb auch He­raklit. Doch er ging, wenn die Textbruchstücke nicht täuschen, mehr und klüger auf die Realität zu als Parmenides. Paul Feyerabend nannte Parmenides, der in der Verdrängung des Dynamischen »das westliche Denken für Jahrhunderte auf Abwege führt«, gar »infantil und traumhaft.« Gewiss kann man das so kommentieren, aber Parmenides ging berechnend vor, indem er jede prozesshafte Unterminierung der Wahrheit und einer statischen Beheimatung bekämpfte. Heraklit hingegen verdrängte das Dynamische nicht als bloßen Schein, sondern funktionalisierte es gleichsam als Stabilitätsmoment des Einen: »Diesen Kosmos, denselben von allen, hat weder ein Gott noch ein Mensch gemacht, er war immer und wird immer sein: das ewig lodernde Feuer, nach Maßen auflodernd, nach Maßen erlöschend.« Neben diesem berühmten Fragment gibt es eine Menge weiterer Textstellen, die eine aus der Spannung des Polaren sich ergebende Harmonie beschreiben. Die Bewegung gewährt durch ihren gleichbleibenden Rhythmus die Stabilität des Einen/ Ganzen: des Kosmos. So und nur so, getaktet und im rechten Rhythmus, nicht aber als zerreißende (also gerade nicht die aus dem sophistischen Umfeld stammende radikaldestruktive Formel »alles fließt«), durfte die Bewegung unter dem alten Titel des Eros auch bei Platon bestehen. Und auch nur so, in ihrer Totalität, kann Wahrheit überhaupt rezipiert werden. Sie kann niemals nur die additive Summe vieler kleiner

2.1.3.2.

Ebd. B3

Heraklit

Feyerabend 2009, 78

Diels 1964, Heraklit B30

328

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ebd. B91

Schadewaldt 1978, 401

2.4.3.1.

Schritte sein. Heraklit errichtet geradezu ein Aneignungstabu: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, sind wir und sind wir nicht.« Wahrheit bleibt, wie der Fluss einer ist, ganz, heil, bei jedem nur partiellen Aneignungsversuch greifen wir zu kurz. In der Tat finden wir bei Heraklit in vielen seiner Fragmente »die Bewegung gleichsam als Garant des Bestandes. Die Ruhe ist offenbar kein solcher Garant des Bestandes in dieser Welt.« Zweifellos ist die Dialektik als begriffliche Ambivalenz hier greifbar geworden. Aber sie dient darüber hinaus der Darstellung des Einen, einer Wahrheit, die sich im Griff wesenhaft entzieht und sich nicht kategorialisieren lässt. Anders gesagt: die im Griff ihr Wesentliches verliert! Die vorliegende »Spiritualität« wird sich mit Platons Vermittlung direkt auf die Funktion der Ikone, aber auch auf manche Werke der zeitgenössischen Kunst wie die Schöpfungen des Abstrakten Expressionismus anwenden lassen. Die rigorosen Konzepte Heraklits und Parmenides’ konnten sich nicht dauerhaft halten. Sie wurden durch die weiteren Philosophen – Empedokles aus Akragas, Anaxagoras aus Klazomenei sowie Leukipp und Demokrit aus Abdera – und einer sukzessive aufkeimenden Quantifizierung unterlaufen. Den endgültigen Bruch bedeutete die Aufklärung der Sophisten.

2.3.3.3. Dialektik

II.4.0.

2.3.3.1.

Erstmals in der Geschichte wurden in der ionischen Provinz in Kleinasien jene Prinzipien auf eine begriffliche Ebene gehoben, die in den Weltdeutungen der frühen Mythenerzählungen eine tragende Rolle spielten. Von nun an wurden die Erscheinungen der Natur nicht mehr von ihre Dynamik performativ ausdrückenden Riten und Erzählungen begleitet, sondern in starren Begriffen fixiert: Wasser, Luft, Unendliches. Abgebildet sollte damit ein Weltbild werden, das mit Polarität, Dynamik, Zyklizität und Linearität operiert. In 2.1.2. verwies ich auf zwei zentrale Motive der vorachsenzeitlichen Welt: auf die an den Zyklus der Natur anschließende Erzählungen von Tod und Wiedergeburt und auf die Erzählfigur des Ordnung und Schönheit schaffenden Gottes und Königs. Ordnung schaffen bedeutet Abwehr der Chaos-Mächte und Herstellen von Harmonie. Harmonie und Ordnung implizieren das Ende des ziellosen (so gesehen: unharmonischen) Flanierens im Moment der Sesshaftwerdung. Das Leben im Zyklus der Natur offenbart nicht nur Harmonie und Stabilität dieses Zyklus, sondern auch das Prinzip eines neuen Lebens aus der Zerstörung des alten. Was im vorachsenzeitlichen Mythos erzählt wurde, soll jetzt der Begriff leisten. Der Begriff stabilisiert gleichsam das Seiende, indem er ein Ordnungsmuster über die dynamischen Aspekte einer mythischen Weltsicht legt. Er bildet eine Figur, die im philosophischen System seine höchste Formung erhielt. Die Erzeugung dieses Systems gelingt durch das generative Prinzip der Dialektik. Sie dient als Mittel zum Zweck und ist gleichsam das auf den Zyklus hin domestizierte Prozesshafte. Mit Dialektik ist eine »philosophische Technik«, besser gesagt, ein philosophisches Prinzip benannt, das eine der wichtigsten philosophischen und ästhetischen

329

Griechenland

Figuren der kulturellen Erzählungen des Abendlandes geworden ist und von Heraklit über Platon, den Neuplatonismus, den Spinozismus bis hin zu Hegel und Marx ein Grundbestandteil der europäischen Systemphilosophie war. Die Dialektik darf zudem als die vermutlich produktivste kunstphilosophische und ästhetische Konstruktion angesehen werden. Die pointierte These dabei ist, dass sich das avancierte philosophische Prinzip der Dialektik aus vorrationalen mythischen Wirklichkeitsbeschreibungen verstehen lässt. War in der ägyptischen Ma’at-Vorstellung der Prozess noch Selbszweck, wird bereits bei Heraklit, in besonderer Weise aber im »demiurgischen Projekt« bei Platon der Prozess in Form der Dialektik ein Mittel zur Beruhigung und zur Harmonisierung, damit zum »Schönwerden« der Welt. Das produktive Element der Dialektik resultierte dabei aus der Erfahrung einer zerbrochenen Einheit. Diese konnte einem frühen Blick kaum anders denn als einer nur scheinbar in Stückwerk zerbrochenen Welt erscheinen. Die Zerbrochenheit ist dann nichts weiter als ein (notwendiger) Zwischenschritt im Zyklus der Natur, der über die dialektische Figur von Zerstörung (Antithese) und Wiedergeburt (Aufhebung der Antithese) diese Einheit in seinem stetigen Prozess wieder herstellt (Synthese). In der Systemphilosophie wurde dies in der Generierung eines (statischen) Systems ebenso fruchtbar gemacht wie diese Figur jede Hermeneutik gründet, die von einer jeder Vielheit zugrundeliegenden Einheit ausgeht. So gesehen ist die Dialektik ein autonomes, in archaischer Weltdeutung wurzelndes philosophisches Prinzip, das auf einem Übergang mythischer Ritualisierung in eine rationale Form basiert. Dieser Übergang erfolgte in der vorplatonischen Philosophie, insbesonders bei Heraklit und Parmenides. Das Bedeutungsfeld des Ausdrucks umfasst daher wesentlich mehr als jene Funktionen, die ihr von Aristoteles, der sie in ihrer generativen Potenz gegenüber Platon ganz bewusst dekonstruierte, und später im mittelalterlichen Bildungscurriculum der sieben freien Künste zugeschrieben wurden. Dort wurde die Dialektik als eine Argumentationsmethode verstanden, um im Wechselwort den Grund philosophischer Probleme freizulegen. Oder gar als »Kunst, einen Gegner zu überzeugen oder abzufertigen. […] Sie hat Vergnügen an sich selber im Spiel des pro et contra, […].« Diese logische Funktion einer instrumentalisierten Dialektik, die wie das Spiel des ritterlichen Turniers im Mittelalter beschrieben wird, verdeckt jedoch die Funktion der Dialektik als Seins- und Denkprinzip.

2.4. Griechenland in der Klassik In der archaischen Periode spielten sich eine Reihe entscheidender Entwicklungen ab, darunter vor allem die Wende zu einer rationalen Sicht der Welt in Philosophie und Kunst, die sich naturgemäß in der auf die Archaik folgenden Periode fortsetzte und verfestigte. Kontextuell hub die Klassik an mit dem durch den Sieg über die Perser kräftig gestiegenen Selbstbewusstsein Griechenlands sowie dem dadurch entstandenen Gefühl einer zumindest in Ansätzen vorhandenen Einheit des Landes. Das bewirkte, dass die einzelnen Polisstile der Archaik zurücktraten und einer gewissen »globalen« Form Platz machten.

IX.3.7.

2.3.3.2.

V.2.1.f.

Chenu 1960, 60

330

Die antike Welt – Griechenland und Rom

VII.4.0.ff.

Voßkamp Wilhelm in ÄGB 3, 296

Ventris, zit. nach Jones 2014, xiii Voßkamp Wilhelm in ÄGB 3, 304

Schefold 1967, 61

Papaioannou 1972, 161

Die Klassik der griechischen Kunst ist ihrer schwächsten Definition nach nichts weiter als der in der traditionellen Epocheneinteilung herausgehobene Höhepunkt der griechischen Kultur im 5. und 4. Jh. Vor allem der Beginn ist ein Exerzierfeld der Kunsthistorikerinnen. Karl Schefold sah im Schatzhaus der Athener in Delphi den Wendepunkt zur Klassik, in dem sich die Befreiung von der archaischen Tektonik erkennen lasse. Für das Ende mit Alexander den Großen und dem Beginn des Hellenismus gibt es einen breiten Konsens. Bei der Kategorie Klassik handelt es sich über diesen engen Rahmen hinaus um ein diskursives normatives Konstrukt, das durch nicht wenige Projektionen übercodiert wurde. Der Ausdruck wurde bereits von den Römern für die griechische Literatur der erwähnten Zeit verwandt. Als Kunstepoche trat der Begriff der Klassik hingegen erst in der Neuzeit auf. Die Definition, die sich vor allem um die Architektur und Kunst der Epoche des Perikles rankt, erhielt ihre idealisierende (und teilweise auch ideologische) Schärfung aus der Klassizismusdebatte des 19. Jh.s. Dazu gehört auch die Tendenz der Kanonisierung klassischer Literatur- und Kunstwerke, die in den Rang des Exemplarischen erhoben wurden. »Die Antike bildet das Kommunikations- und Funktionsmodell für alle anderen europäischen Klassiken.« Der Klassikbegriff wurde namentlich in der »Weimarer Klassik« zum Universal eines gebildeten, aufgeklärten, ethisch hoch stehenden Bürgers aufgerüstet. Diese utopischen Ansprüche zerbarsten in den großen Katastrophen des 20. Jh.s. In diesem Kontext wird die klassische Form sogar mit der Form der Diktatur verglichen. Der durch die Entschlüsselung von Linear-B berühmt gewordene Architekt Michael Ventris meinte mit Blick auf die Katastrophe der Nazi-Zeit: »The enemy has always been the classical … The columned building, antiquarian or monumental, insults its surroundings by its timeless irrelevance.« Der Klassikbegriff wird aus diesem Grund kaum mehr in dieser Tragweite benützt, sondern auf seine Kernbotschaft reduziert: auf die »Entstehung gelungener, musterhafter Kunstwerke.« In dieser immer noch sehr allgemeinen Bedeutung, Klassik als Ausdruck des reifsten und vollkommensten Zustandes einer Kunstrichtung, eines Stils und einer Kultur, wird im vorliegenden Werk dieser Ausdruck verwandt. Abseits aller kritischen Einwände gegen den Klassikbegriff ist ein Umbruch in der Kunst dieser Zeit, der sich auch kunstphilosophisch grundieren lässt, unübersehbar. War in der Archaik selbst die heftigste Bewegung »ein Zustand, kein Vorgang«, verlor das Statuarische und Schematische bereits in der Spätarchaik an Dominanz. Die Figuren öffneten sich aus ihrer Selbstbezogenheit zur Umwelt. Es waren »Verluste« zugunsten einer gelösten Linie, die Kostas Papaioannou zu hymnischen komparatistischen Beschreibungen animierte: »Erst in den Blütezeiten der indischen Kunst – in Santschi und Adschanta – oder der gotischen Plastik – wie die Uta vom Naumburger Dom oder die Figuren der Kathedralen von Chartres, Reims und Straßburg – gelang wieder eine so vollkommene Verschmelzung von Natur und Grazie […].« Die Übercodierung des Begriffs Klassik, seine ideologische Vereinnahmung, trieb bisweilen eigenartige Blüten. Einem vom Klassizismus geprägten Sinn muss-

331

Griechenland

te das Original der Klassik ganz im Gegensatz zu Papaioannous’ überschwänglicher Beschreibung Enttäuschung bereiten. Das ging nicht nur Goethe und Winckelmann so, auch der französische Künstler und als Gegner der Formensprache Rodins auftretende Aristide Maillol hatte bei der Besichtigung des Hermes von Praxiteles in Olympia nur ein abschätziges Urteil übrig: »Das ist betrunken, das ist beleidigend, das ist skulpiert wie aus Marseiller Seife. […] Praxiteles hat eine so feine, eine so polierte Sache gemacht, daß sie keinen Charakter mehr hat.« Abgesehen von der polierten Oberflächenstruktur, die über längere Zeit eine Diskussion um die Zuschreibung der Figur ausgelöst hatte, zeigt die vernichtende Kritik eine Wahrnehmung, die sich in der Klassik auf neue und ungewohnte Erfahrungen einlassen musste. Das war vor allem die Spannung von Dynamik und Statik. Immer wieder wird beim Übergang von der Archaik zur Klassik auf die Ponderation verwiesen. Ponderation (eigentlich: wägen, lasten) meint den Ausgleich der Gewichtsverhältnisse, allgemeiner die Komposition von Gebäuden und Skulpturen. In archaischer Zeit ebenso wie im Alten Orient blieben die Skulpturen in erratischer Statuarik, während in der klassischen Periode die Stabilität durch eine ausgleichende Bewegung (Kontrapost) erreicht wurde. Bewegung wird durch eine Organisation kompensatorisch zu einem stabilen Körper gestaltet. Das ist nicht nur philosophisch höchst anregend, wird doch dabei genau jene Bewegung nachvollzogen, die Heraklit zur Erreichung der statischen Einheit anwandte, sondern sie bot auch in Kunst und Architektur ein gewaltiges Repertoire an Ausdrucksformen. Ruhe wie Bewegtheit kann ebenso gezeigt werden wie Freiheit und Bindung. Der Kontrapost ermöglichte den Hinweis auf ein aus einem festen Gefüge heraustretendes Individuum, das sich in Freiheit seiner Stellung im Ganzen versichert. Der Kontrapost trat in klassischer Zeit, vielleicht erstmals bei Polyklet, auf, verschwand im Mittelalter, um in der Renaissance neue Triumphe zu feiern.

Maillol, zit. nach Schefold 1967, 63

2.4.1. Bildende Kunst Unsere Kenntnisse über die bildende Kunst in der Klassik des antiken Griechenland beschränken sich weitgehend auf die Bildhauerei. Von der Malerei ist so gut wie nichts mehr erhalten. Rückschlüsse auf sie erlauben allenfalls die Vasenmalerei und die Malerei in den etruskischen (und makedonischen) Nekropolen, die vorwiegend aus der Hand griechischer Künstler stammen. Die griechische Skulptur wurde (mit Ausnahme der Fassadenplastik und der Grabstatuen, die meist aus Marmor waren) in erster Linie in Bronze ausgeführt. Erst die Römer schlugen die Kopien der griechischen Vorlagen aus dem Stein. Die griechischen Bildhauer arbeiteten an ganzkörperlichen Skulpturen, während die römischen Kopisten häufig nur Köpfe und Büsten schufen. Die Bildwerke changierten »zwischen typisierter und individueller Darstellungsweise.« Grundsätzlich gab es eine Entwicklung vom typisierten Gesicht in der Archaik, wo der Dargestellte nur durch Inschrift und Attribute identifizierbar war, zu individuellen Porträts in der Klassik. Aber auch in klassischer Zeit blieb die Herausarbeitung eines Typus das Ziel, wie beispielsweise der Wagenlenker oder der Diskuswerfer. »Die neue kulturelle

Kotsidu 2010, 146

332

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ebd., 145

VI.6.3.

Kunsttraktat des Polyklet

Leistung der Klassik beim Porträt bestand eher darin, erstmals Willen und Können dafür entwickelt zu haben, geschichtliche Personen durch die öffentliche Aufstellung eines Bildwerks so zu präsentieren, dass in manchen Fällen die stereotype visuelle Anonymität durch ein individuelles Konzept ihrer Erscheinung durchbrochen wird.« Das (individuelle) Porträt erreichte seine Blüte erst im Hellenismus, wo eine einzelne Persönlichkeit, Alexander, geradezu göttliche Verehrung genoss und die Porträtkunst anspornte. Das Individuum hatte die Egalität der Bürgergesellschaft, den geschlossenen Körper einer Polis (die bisher gefeiert wurde und deren Signatur auf Weihegaben auftauchte) durchbrochen. Vorläufig blieb die naturalistische Wiedergabe des Abgebildeten jedoch ein geringeres Kriterium, das hinter die harmonische Ausgewogenheit der Gesichtszüge und Körperformen zurücktrat. Wenn man will, ging es um die Überhöhung der Natur auf die Idee, ein Ansatz, der namentlich in der Renaissance wieder eine wichtige Rolle spielte und eine vermittelnde Position in der Diskussion um die Spannung zwischen Naturnachahmung auf der einen und Künstlergenie auf der anderen Seite bot. Wichtig war zudem die Symbolik von Attributen, welche man der abgebildeten Person zuschrieb. Das verdichtete sich bisweilen in ikonographischen Konventionen, ein erster Vorgeschmack darauf, was später die Ikone in extremer Weise darbot. Dazu kam die für die Klassik so typische Apathie, der Verzicht auf emotionale Regung. Man verweist in der Kunstgeschichte gerne auf die ausgewogene Harmonie, die in der Klassik durch eine sich ausgleichende Dynamik erreicht wurde und einen auffallenden Unterschied zu statischen Archaik darstellte. Bedauerlicherweise verfügen wir kaum über die Möglichkeit, dieses aus den Studien des bildhauerischen Werks abgeleitete Narrativ durch zeitgenössische Quellen zu bestätigen. Dieser Mangel an schriftlichen Äußerungen von Künstlern und Architekten ist einer der Gründe, weshalb der neuzeitliche Klassikbegriff ein solches Ausmaß an diskursivem Ballast anhäufen konnte. Zwar hat es in klassischer Zeit Kunst- und Architekturtraktate gegeben, aber sie sind nur in spärlichen Resten zu uns gekommen. Wir haben Kenntnis von einem um 450 geschriebenen Kunsttraktat des großen, aus Argos oder Sikyon stammenden Bildhauers Polyklet. Der Inhalt seines Kanons ist uns allerdings nur rudimentär bekannt. Bereits Vitruv erwähnte die Schrift nicht mehr. Nach allem, was wir wissen, hatte Polyklet in seiner kunsttheoretischen Schrift die als Ideale vorgestellten Prinzipien der Harmonie, Symmetrie und der Bezogenheit auf einen Mittelpunkt beschrieben. Die Berichte über Polyklets Werk sind die einzigen Hinweise auf Äußerungen eines Künstlers zu den Kriterien Maß, Harmonie, Gleichgewicht der Elemente für die Kunst. Wenn dies Polyklets Kunsttheorie war, gelang ihm jedenfalls eine stupende Umsetzung in seinem bildhauerischen Werk, darunter dem Doryphoros (Speerträger) und dem Diadumenos (der sich das Stirnband Umlegende), die uns beide freilich nur aus römischen Kopien bekannt sind. Wenn eine solche Konstellation tatsächlich einem Paradigma der Kunst der Klassik entspräche, begänne mit Polyklet eine lange Tradition der Dominanz von Maß und Harmonie in Kunst und Architektur. Die entsprechende kunstphilosophische Erzählung dazu wäre Platons Demiurgenmetapher. Platon schildert uns dabei

333

Griechenland

die Bewegung des Umbaus einer aus dem Takt gefallenen, zerrissenen Welt in eine der Harmonie und Symmetrie, in eine Welt der Zahl. Polyklet hat aus dem Künstler einen Mathematiker gemacht, wie es der göttliche Demiurg bei Platon war. Ein erhalten gebliebenes Fragment Polyklets lautet: »Das Vollkommene gelingt in kleinen Schritten durch viele Zahlen«. Es geht hier vielleicht um Naturnachahmung im Hinblick auf eine ideale Vorstellung, um eine Veredelung der Natur durch den menschlichen Geist, ein Konzept, das noch für Hegels Ästhetik fundamental war. Man kann in der Tat hier die Urfigur der Klassik verorten. Allerdings zeigt sich in der normativen Bewertung eine kunstphilosophisch bemerkenswerte Ambivalenz. Bei Platon hatte diese Beschreibung einen restaurativen Zug, denn er beabsichtigte in letzter Konsequenz die Rückdrängung der zeitgenössischen Aufklärung. Die künstlerische Klassik Griechenlands bot nun jedoch die genau gegenteilige historische Charakteristik. Es war die Zeit der Regierungsbeteiligung des Volkes, des aufkommenden historischen Bewusstseins, der philosophischen Fragestellungen sowie kritischer Anfragen an Mythos und überkommene Religiosität und einer anhebenden Rezeptionsästhetik. Der intellektuelle Diskurs, an dem auch jener der Kunst partizipierte, wurde von den Sophisten geführt. Ein neues Selbstbewusstsein griff in den Metropolen um sich. Die Stimmung nach dem gewonnenen Krieg gegen die Perser hatte dem Orient gegenüber eine ambivalente Einstellung zur Folge. Offiziell war »der Orient« – gemeint war damit vor allem seit den Perserkriegen das Persische Reich – negativ beleumundet, inoffiziell übte er indes besonders auf die vornehmere Gesellschaft einen großen Reiz aus. Doch das Narrativ einer hellenischen Identität gewann an Wichtigkeit. Es äußerte sich nicht zuletzt darin, dass sich die Stadt ein neues architektonisches Gesicht gab. Es ging nicht nur allgemein um eine bereits erwähnte Erneuerung der Stadt, sondern auch um ihre detaillierte Ausstattung. Zu ihr gehörten viele Denkmäler und Ehrenhallen der Veteranen. »The Athenians made intensive use of images to create and strengthen political and social identity. […] In this sense monuments represent and create ideological identity; […].« Die erwähnte Ambivalenz in der normativen Bewertung erklärt sich aus der Verschiedenheit der philosophischen Metaerzählungen. Während Platons Schönheitskonzept ontologisch gegründet ist, kann man bei den Sophisten, damit auch bei Polyklet, bereits von einer Ästhetisierung der Kunst ausgehen. Ob nun Polyklets Harmonievorgaben an Platons Ästhetikkonzept hängen oder ob der Bildhauer eher ein Moderner im Sinne der Sophisten war, wäre eine spannende, aber vermutlich kaum mehr zu beantwortende Frage. Kunstphilosophisch lassen sich dazu zumindest zwei Themen in klassischer Zeit festmachen: (1) einmal das erwähnte Ringen von Prozess und Statik und (2) das neue Verhältnis zwischen dem Individuum und den Göttern. (ad 1) Was das erste Thema betrifft, definierte vielleicht Polyklet als Erster in Schrift und Werk die idealen Maßverhältnisse des menschlichen Körpers. Dabei beschrieb er den Körper als ein harmonisches System von sich gegenseitig austarierenden Kräften und versuchte damit vielleicht, die beiden erwähnten Paradigmen, Statik und Dynamik, zu versöhnen. Es ist ein Konzept, das zeitlich zwischen Heraklit und

2.4.3.2.5.

Diels 1964, Polyklet B2 VIII.5.3.2.2.

2.2.1.

Hölscher 1998, 155f

2.4.3.1.

334

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Schefold 1967, 110

Charbonneaux Jean in Charbonneaux u.a. 1977c, 106

Neer 2013, 239

Ebd., 197 151 Hermes von Praxiteles (um 330a); AMO 152 Eine von vielen Kopien der Aphrodite von Knidos; GLY

Reicher Stil

Platon in der Kunst formuliert wurde und dieses Konzept liegt den kunsthistorischen Beschreibungen von Skulpturen und ihrem Ausgleich der Kräfte, Schwerkraft gegen Bewegung, in der Ponderation zugrunde. Grundsätzlich lässt sich das gleiche Paradigma auch auf Architektur und Literatur anwenden. Es entspricht darüber hinaus einer ganzen Weltdeutung. Ein weiteres hervorragendes Beispiel dafür, wie – in den Worten Karl Schefolds – »der klassische Kontrapost zu einem Gegenspiel bewegter Rhythmen« gesteigert wurde, ist der Diadumenos des Polyklet, ursprünglich in Bronze, aber nur als römische Marmorkopie erhalten. Er ist geradezu eine Verkörperung des ausgleichenden dynamischen Spiels, wie es Heraklit formuliert hatte. Dabei vermochte Polyklet bei der Umsetzung der idealen Harmonie den Ausdruck der Spannung und Dynamik aufrecht zu erhalten. Diese Transparenz auf Prozess und Spannung unterscheidet die Vorgaben Polyklets von dem strengen Schema des homo quadratus Leonardos und dem sehr formalistischen Gebrauch dieses Schemas in der Renaissance. Der souveräne Umgang mit den Gesetzen der Proportion ließ sich auch durch die Tatsache erklären, dass den Griechen dieser Umgang von Anfang an vertraut war. Ein ähnlicher Ausgleich von Bewegung und harmonischer Statik findet sich bei den Kriegern aus dem Meer vor Riace Marina (heute im Museum von Reggio in Kalabrien) – »Die Figuren sind ruhelos und beweglich« –, sowie in Myrons Diskuswerfer (Diskobolos). Geschwindigkeit und Bewegung konnten die griechischen Künstler nur in der Bronze darstellen. Sowohl Terrakotta als auch Marmor ließen kaum freie Gliedmaßen zu, man musste sie stützen, damit sie nicht abbrachen. Im 6. Jh. begann die Herstellung großformatiger Bronzen, »da der alte Stil sich erst dann wirklich erschöpft hatte und die ›Lust an der Geschwindigkeit‹ zunahm.« Dieses bewusste Durchscheinen des Dynamischen konnotiert Emotionales und seine bewusste Kontrolle. Ein verführerisches Spiel der Künstler hub an, die Grenzen des Dynamischen und Emotionalen auszuloten. Viele Äußerungen Platons werden erst verständlich vor dem Hintergrund der Gewagtheit solch künstlerischer Grenzüberschreitungen in aufgeklärter Zeit, die vermeintlich das Ordnungsmuster ausgewogener Harmonie gefährdeten. In der Kunstgeschichte spricht man vom Reichen Stil, der sich zwischen 430 und 380 in den Metropolen breit machte. Sozusagen als kultureller Kontrapost kannte der Reiche Stil auch eine neue Schlichtheit, verkörpert etwa durch das Œuvre des Praxiteles. Praxiteles, der ebenfalls in Bronze arbeitete, seine Meisterschaft aber im Marmor entfaltete, schuf jugendliche Figuren mit weichen Körpern, die so ganz anders waren als die der archaischen Periode und der Klassik des Polyklet. Man ist bei seiner Aphrodite von Knidos mit ihrer ausgeprägten

335

Griechenland

S-Form an die »Schönen Madonnen« der Spätgotik erinnert. Dazu kam eine offen gezeigte Erotik. Es gehörte zur Moderne in Athen, dass »dem weiblichen Körper ab dieser Zeit zum ersten Mal künstlerisches Eigengewicht zukommt.« Der (seltene) nackte weibliche Körper verrückte die Wirkung göttlicher Feierlichkeit und wurde auch erotisch interpretierbar: »Weibliche Nacktheit war in der großformatigen griechischen Skulptur bisher völlig unbekannt […] und die Geste war absichtlich provokativ. Praxiteles war vielleicht der erste in einer langen Reihe von Künstlern, der verstand, dass Sex sich gut verkauft […].« Die Bekämpfung des Körpers durch Platon entsprach der Bekämpfung einer Tendenz der aufgeklärten Intellektualität in perikleischer Zeit. Besonders zutreffend ist der Reiche Stil für die Malerei von Apollodor, Zeuxis und Parrhasios. In ihren Werken, die leider alle verloren und nur aus Beschreibungen und durch den Niederschlag in der Vasenmalerei bekannt sind, kam es zu einer gründlichen Übersteigerung des klassischen Kanons auf eine emotionale Stimmung und Illusionsmalerei. Gewagte Themen und psychologische Problematisierung traten an die Stelle einer die Individualität überformenden Idealität. Es war eine Malerei, mit der Platon konfrontiert wurde und der sie einer heftigen Kritik unterzog. Die Irritationen solcher Kunst auf die Klassizisten des 19. Jh.s – ich erwähnte Aristide Maillols Ausbruch vor dem Werk des Praxiteles – hatten ähnliche Ursachen. Die Auswertung von Schriftquellen und Musterbüchern lässt vermuten, dass es Ansätze zu einer perspektivischen Malerei gab. Jedenfalls wurde sowohl in der Bühnenmalerei (skenographia) als auch in der Schattenmalerei (skiagraphia) ein illusionistischer Raum vorgetäuscht, wenngleich eine strenge Linearperspektive wie in der Renaissance von den meisten Forschern abgelehnt wird. Motivation dazu boten die Theateraufführungen des Aischylos und Sophokles. Ein erster, aus Holz gefertigter Skene-Bau entstand vermutlich um 458 für die Aufführung der Orestie des Aischylos. Rekonstruktionsversuche sind mit Vorsicht zu genießen, aber: »Die Proskenionbühne erobert schließlich die ganze hellenistische Welt.« Vitruv berichtet vom Bühnenbauer des Aischylos, Agatharchos aus Samos, der auch einen Traktat über die Bühnenmalerei geschrieben haben soll. Skenographie wurde sogar zu einem Synonym für Perspektivenlehre. Zweifellos wurden größere architektonische Anlagen unter solchen Vorzeichen geplant. Der Masterplan für die Akropolis von Athen scheint die Projekte aufeinander bezogen zu haben wie in einem Bühnenaufbau. Hier wird deutlich, dass die Künstler die mathematische Harmonielehre für illusionistische Täuschungen verwandten, ein Tatbestand, der in der Kritik an den Künstlern bei Platon eine große Rolle spielte. Ein Tatbestand aber auch, der jene Stimmen in der lebhaften Diskussion darüber unterstützt, die bereits in der Antike eine Perspektivenkonstruktion annehmen. Allerdings sind die Mahnungen vieler, dass wir damit noch nicht bei der Zentralperspektive samt ihren kunstphilosophischen Implikationen angekommen sind, durchaus plausibel. Trotzdem ging es bei der antiken Gestaltung um einen konstruierten Raum und die Einordnung von Menschen und Dingen in diesen Raum bis hin zu perspektivischen Verkürzungen beim Parthenonfries. Es scheint, dass die (humanistischen

V.7.4.2. Kotsidu 2010, 229

Neer 2013, 334

2.4.3.2.1.

Bühnenmalerei

Abels 1985, 66 Vitruv 1981, 311

Brunner-Traut 1992, 12 Frank 1923, 19ff

Boehm 1969, 16 VI.5.1.ff.

336

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Hub 2008, 187

Vasenmalerei

VI.3.

Kotsidu 2010, 173

und aufklärerischen) Zuschreibungen zur Perspektive durchaus vorhanden waren, ihre Umsetzung aber noch nicht die mathematische Perfektion der Renaissance erreichte. Wenn man in der Perspektive zumindest auch einen dezisionistischen Aspekt ausmacht, wie das von einer ganzen Reihe von Forschern getan wird, dann stellt sich mit Berthold Hub die Situation so dar: »Hinsichtlich der antiken Kunst heißt also die Frage nicht, wieso sie den so kleinen Schritt von den optischen zu den linearperspektivischen Gesetzen nicht geschafft hat, sondern wieso sie ihn nicht getan hat; wieso sie trotz allem Naturalismus im Detail, den Zusammenschluss dieser Details unter einer Perspektive und in einem Raum nicht gewollt hat.« Neben Agatharchos wird noch von einem Maler Apollodoros berichtet, den man schlicht »den Skiagraphen« nannte, der Gegenstände im Raum mit Licht und Schatten malte. In der Kunstgeschichte gilt er als erster Maler des Chiaroscuro. (ad 2) Das zweite Thema, das hier herausgegriffen wird, betrifft die Positionierung einer Moderne im antiken Athen zur Zeit des Perikles. Intellektuell war die Zeit geprägt von Humanismus und Aufklärung, wie sie von den Sophisten formuliert worden war. Die bildenden Künstler setzten sich von den als Handwerker verstandenen Architekten ab und gewannen gesellschaftliches Ansehen, welches Ansehen sich nicht zuletzt in der anhebenden Künstlersignatur zeigte. Viele Gefäße sind sowohl vom Töpfer als auch vom Künstler signiert. Zwar ist umstritten, ob dies Ausdruck der Künstleridentität war oder bloß Verwaltungszwecken diente, aber es ist bekannt, dass in der Zeit ein Bewusstsein vom Wert eines Kunstwerks entstand. Man unterschied beispielsweise Gebrauchskeramik von solcher, die als Kunstwerk galt. Es wurde bereits hingewiesen, dass trotz der hohen Zahl an Bildern bereits in archaischer Zeit – Schätzungen nennen die Zahl von 80 000 – das malerische Werk verloren ist. Rückschlüsse darauf aus der gut erhaltenen Vasenmalerei und der Malerei in den Nekropolen der Etrusker sind möglich. Bei der Vasenmalerei ist es offensichtlich, dass die in Bildern erzählten Geschichten zur Entzifferung einen Wissensvorrat und intellektuelle Anstrengung benötigten. Ein Vergleich der zeitgenössischen gebildeten Gesellschaft, die solche Vasen in ihren repräsentativen Häusern aufgestellt hatte, mit den Humanisten der Renaissance, die ihre Villen mit antiken Bildmotiven ausstatteten, um eine anspruchsvolle Konversation zu induzieren, legt sich nahe. An den Bildthemen der Vasenmalerei lässt sich eine Bewegung zu modernen Auffassungen nachvollziehen. Die alten Themen der aristokratischen Lebensform (Symposium, Jagd, Krieg) wechselten Anfang des 5. Jh.s in kommentierende und dabei mit viel emotionaler Empathie den Menschen mit seiner Verantwortung und Betroffenheit in den Vordergrund stellenden Narrationen. »Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Verherrlichung kämpferischer Leistungen, sondern das Ausmaß kriegerischer Gewalt und Brutalität mit einem erstaunlich distanziert-kritischen Unterton.« Zentral waren auch Göttergeschichten, aber auch diese hatten eine aufgeklärte Pointierung. In Analogie zu den in der literarischen Form möglichen Charakterisierungen der Darsteller gab es ein System von Zeichen, die einzelne Szenen näher charakterisierten. Die Frage, ob diese Narrationen einfach Nacherzählungen literarischer Vorlagen waren, wird lebhaft diskutiert. Es scheint hierbei allerdings nicht um

337

Griechenland

eine reine Mimesis gegangen zu sein, sondern um eine ausdrücklich innovative konstruktive Sicht der Wirklichkeit. Es waren originelle Schöpfungen griechischer Kultur, welche die alten orientalisierenden Motive zu einem bloßem Dekor herabstuften. Die Götter wurden zu Mitspielern im Tagesgeschehen. Die Weichen zur Anthropozentrierung der Götter wurden bereits mit Homer gestellt und bei der Besprechung dieser Innovation wurden Zweifel angemeldet, dass es sich dabei um ein starkes Gottesbild handelte, wie dies Raimund Schulz nahe legt. Man könnte im Gegenteil in der Anthropozentrierung ein starkes Menschenbild sehen, das in seiner religionskritischen Sprengkraft von den Philosophen sehr wohl erkannt worden ist. Die auf den unzähligen Vasen dargestellten Gottheiten scheinen so narrativ aufgeladen, dass kaum davon auszugehen ist, dass die Künstler die von ihnen gestalteten Geschichten für wahr hielten. »In den anthropomorphen Göttern dieser Kunst kommt die Menschheit zu ihrem Recht. […] Diese heiter-vertraute Welt entfalten die ionischen Maler vor unseren Augen wie ein Familienalbum.« Wenn Karl Schefold auffällt, dass nun viel mehr als früher auch Eroten und Niken dargestellt werden, zeigt das genau in diese Richtung. Der Künstler wird zum aufgeklärten Psychologen, der die inneren Bewegkräfte der Zeitläufe in solche Metaphern verpackte. Bisweilen wurde der Künstler aber auch zu einem heftigen Kritiker der Götter, wie die zahlreichen Burlesken in Literatur und in der Vasenmalerei belegen. Zum Höhepunkt der klassischen Kunst gehört der skulpturale Schmuck des Zeus-Tempels in Olympia, von dem noch einige Figuren erhalten sind, die Kunsthistorikerinnen entzücken. Am Westgiebel gebietet Apollon mit herrischer Geste dem wilden Kampfgetümmel Einheit. Er ist der alte Ordnung-Schaffer, der nun das Chaos »durch die göttliche Kraft im Zaum« hält. Bei den ParthenonMetopen, die das gleiche Thema behandeln, erscheint der Kampf gegen Ungeheuer deutlich subtiler. Im Weltbild des Perikles hatte »der νοῦς, der ordnende Geist, in dem Anaxagoras Urheber und Gestalter des Kosmos sah, den zentralen Platz eingenommen.« Die auf den Tempelfriesen erzählten Geschichten nehmen gleichsam eine Metaebene ein, indem – ähnlich wie in der Dramenliteratur – Vorschau und Rückblenden inszeniert werden. Das setzt einen übergeordneten (perspektivischen) erzählerischen Gesamtplan voraus, der nun dramaturgisch umgesetzt wurde und nicht mehr einfach einer mythischen Addition und Theogonie entsprach. Ein großes Anwendungsgebiet der Bildhauerei waren die Weihegaben anlässlich von Siegen in diversen Kriegen. Delphi war voll von Skulpturen(gruppen). Unter den erhaltenen ist die von Paionios von Mende geschaffene Nike zu erwähnen, die von Athen (das von Messeniern und Naupaktiern unterstützt wurde) für einen Sieg über Sparta bei Pylos in Olympia gestiftet worden war. Der Bildhauer signierte die Statue wie einer, der gleichsam einen Sieg über den Marmorblock errungen hatte. Die Nike des Paionios überzeugt durch einen dynamischen Faltenwurf und bewusst gesetzte Widersprüchlichkeiten. Der Künstler »vereinte den archaischen Schwerpunkt der

2.2.2.

Papaioannou 1972, 165 Schefold 1967, 101

153 Komödianten ­verspotten die Geschichten um die olympischen Götter (um 380a); MAT

Papaioannou 1972, 175

Ebd., 176

Bildhauerei

338

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Neer 2013, 309

Ebd., 309f

2.4.3.3.3. Charbonneaux Jean in Charbonneaux u.a. 1977b, 357 Schule von Sikyon

Neer 2013, 335

visuellen und dekorativen Komplexität (Piokilia) mit der klassischen Vorliebe für durchscheinende Oberflächen und dynamische Bewegung.« Auch hier ist die erotische Komponente unübersehbar und Richard Neer sieht in dieser Nike, welche das »Töten einer großen Anzahl von Männern« feiert, eine griechische Deutung des Verhältnisses von Geschlecht und Gewalt: »Klassische Griechen konnten nicht anders, als militärische Dominanz in sexualisierter Terminologie zu betrachten. Eroberung war befriedigend.« Die blutigen Schlachten am Feld wurden als Propagandaschlachten in den panhellenischen Weiheorten fortgesetzt. Folgt man Plutarch, dann wäre Simonides von Keos der Erste gewesen, der den Zusammenhang von Malerei und Dichtung, die er »sprechende Malerei« nannte, herstellte. Es »läßt sich die Entwicklung des so typisch griechischen Gefühls für das Maß in der logischen und zugleich einfallsreichen Beobachtung lebendiger Formen und in der berechneten Harmonie der Proportionen verfolgen.« In Sikyon, in der nördlichen Peloponnes gelegen, die im 4. Jh. (nicht zuletzt durch Polyklet und Lysipp) einen hervorragenden Ruf als Stadt des Bronzegusses besaß, gab es eine große Bildhauerschule. Sie wurde vermutlich von Eupompos und seinem Schüler Pamphilos von Amphipolis gegründet. In der archaischen Periode spielte für die Bildhauerei der Ton eine große Rolle, namentlich Olympia war ein Hort großer Terrakottafiguren. In der Spätarchaik gewann allerdings die Bronze als Material die Oberhand. Bei den Mitgliedern der Bildhauerschule von Sikyon handelte es sich um gebildete Künstler, welche die Mathematik, darunter besonders die Geometrie, zur Grundlage der Kunst erklärten. Ende des 4. Jh.s schloss sich Apelles der Schule an. Zahlreiche Schriften über die Kunst entstanden. Man kann an ihnen die Anfänge der Kunsttheorie festmachen. Aus der Hand Lysipps stammt ein Traktat, der mit jenem Polyklets in Konkurrenz trat. Er ist verloren, aber nach Berichten hat er im Geist eines Manierismus offenbar für schmalere Figuren, längere Beine und kleinere Köpfe argumentiert. Die Rekonstruktion der verlorenen Werke Lysipps lässt auf einen wesentlich dynamischeren und spannungsgeladeneren Stil schließen, als dies bei Polyklet der Fall war. Es war ein Schritt von der Idealisierung zu einem Realismus. Vitruv erwähnt einen Melampus, welcher der Historiographie völlig ungreifbar geblieben ist. Es könnte sich dabei um den sykischen Maler und Pamphilos-Schüler Melanthios gehandelt haben, der einen Traktat über Malerei verfasst hatte. Er schrieb darin nicht nur über Harmoniegesetze, sondern auch darüber, dass die Malerei pointierte Zuspitzungen verträgt. Die Schule scheint deutlich auf die Künstler Athens gewirkt zu haben, wo kräftige Farbgebung auch der Skulpturen sowie ein leichtes Abweichen von den Idealnormen den Gang in die Spätklassik bezeichneten.

2.4.2. Architektur Wir hatten beim Blick auf die archaische Architektur vor allem das Verhältnis von Architektur und Natur im Fokus. Vincent Scully hat mit feinem Gespür den Zusammenhang zwischen der frühen Sakralarchitektur und der Landschaft Griechenlands

339

Griechenland

dargestellt. Griechenland bot eine vielfältige Topologie, in der definierbare Naturerscheinungen individuell hervortraten und einzelnen (chthonischen) Gottheiten zugeordnet werden konnten. An diesen Stellen entfaltete die griechische Architektur, die »eine Architektur plastischer Körper« war, ihre ganze Wirkung. Die plastischen Baukörper standen wie Skulpturen im umgebenden Raum. Scully führte diese Sensibilität der griechischen Architekten auf die Tatsache zurück, dass ursprünglich freie Altäre in der Landschaft standen und dabei auf den Bezug zum Raum Rücksicht genommen wurde. Die Bauten waren aber nicht wie bei den Etruskern und Römern durch Axialität und Frontalität in ein größeres räumliches Koordinatensystem eingebettet. Plastische Körper entfalten ihre Wirkung zudem vor allem im Hinblick auf das Licht. Das gilt auch für die Klarheit der Umrisse und Konturen. »Die Schönheit der griechischen Landschaft beruht vor allem auf dem Licht, und dieser Umstand hat das griechische Weltbild stark beeinflußt.« Religionsphilosophisch brachte die weitere Entwicklung in beschriebener Weise die Abkehr vom Chthonischen und die Hinwendung zum Himmlischen und Solaren. In der hoch- und spätklassischen Zeit trat als Motivation für den Tempelbau die Polisidentität, das Prestigedenken und die politische Gedächtniskultur in den Vordergrund. Um 430 erhielt Zeus eine Stoa in dorischer Ordnung auf der Agora in Athen. Die Weiheformel lautete auf Zeus den Befreier (Eleutheros) in den Perserkriegen. Ob die Benützung der Tempel als Museen für Bilder und Skulpturen sich mit der religiösen Bestimmung vertrug, ist fraglich. Wir wissen aber aus antiken Quellen, dass jedenfalls das Heraion von Samos und jenes von Olympia einer solchen Funktion dienten. Eine wesentliche Besonderheit der Tempelbauten war, wie oben am Beispiel des Parthenons bereits erwähnt, ihre kurvierte Architektur. Die Tatsache, dass die Tempel in praktisch allen ihren Baugliedern keiner geraden Geometrie folgen, sondern leicht gekrümmt sind, wurde seit der Entdeckung dieser Tatsache durch die englischen Architekten Charles Robert Cockerell und Thomas Leverton Donaldson ganz unterschiedlich gedeutet. Die Kurvierung wurde auf ein angeblich nicht-lineares gekrümmtes Sehbild der Griechen zurückgeführt und diente als Erklärung für die fehlende Zentralperspektive in der griechischen Kunst. Der enorme Aufwand, der bei jedem einzelnen Bauglied dafür notwendig war – es musste »jede Platte, jeder Stein eine je eigene spezielle, durch Neigung und Wölbung bedingte Form erhalten« – lässt allerdings eher auf eine besondere Bedeutung schließen, die die Architekten in dieser Sache sahen. Das führt zur am meisten verbreiteten These einer optischen Korrektur der natürlichen Sehfehler bei der Betrachtung der Bauten, um einen optimalen Eindruck von Symmetrie zu erhalten. Das Argument gewinnt an Kraft durch zahlreiche Literaturstellen, namentlich solche aus dem Werk Vitruvs, die genau diese Absicht belegen. Weshalb diese These dennoch ins Gerede gekommen ist, liegt an der überraschenden Tatsache, dass die Kurvaturen genau umgekehrt zum gewünschten Effekt verlaufen. Gleich nach der Entdeckung des Phänomens im 19. Jh. war man auf diesen Widerspruch aufmerksam geworden und versuchte sich mit der Deutung einer absichtlichen Belebung der Architektur.

Norberg-Schulz 1979, 23

Bowra 1983, 30

2.2.1.

Hub 2008, 143

Ebd., 148ff

340

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.6.2.

2.2.1.

Müller-Wiener 1988, 176–179

Ebd., 17f

Philipp 2012, 40f Müller 1984

Neben die sakralen Bauten im engeren Sinn traten zahlreiche Bauaufgaben, die durch die neue Bürgergesellschaft notwendig wurden. Es ging um die Gestaltung und Ausstattung der öffentlichen Plätze und die Einrichtungen für das demokratische Leben, die Gerichtsbarkeit und die aufwendige Verwaltung, die sich beispielsweise Athen leistete. Allerdings waren diese Bauten selten profan im strengen Sinn. Selbst die großen Hallen, die als öffentliche Orte für Verhandlungen, Ausstellungsräume und als Kommunikationsorte der Bürgergesellschaft dienten, konnten Göttern geweiht werden wie die Stoa des Zeus Eleutherios. Deren berühmteste und zugleich erste große Halle in Athen war die im Norden der Agora gelegene Stoa Poikile (Bunte Halle), vom Alkmaioniden Peisianax um 460 gestiftet, ausgestattet mit Schlachtengemälden auf Holz von den Künstlern Mikon, Polygnot von Thassos und Panainos. In hellenistischer Zeit lehrte dort Zenon von Kition, weshalb sich die von ihm gegründete hellenistische Philosophenschule Stoa nannte. Zur architektonischen Gestaltung der Agora von Athen gehörte auch eine Denkmalkunst. Um 510 wurde eine Statue der Tyrannentöter, welche an die Vertreibung der Peisistratiden erinnerte, aufgestellt. Xerxes nahm die Statue bei seiner Eroberung der Stadt 480 mit. Sie wurde später von den Athener Künstlern Kritios und Nesiotes erneuert. Auch das Genre des Privathauses wurde mit dem Erstarken der Bürgergesellschaft wichtig. Es entwickelte sich zunächst aus dem Megaron. Diese Form war aber für den Gebrauch zu starr und man griff auf das nach innen gekehrte mediterrane Hofhaus zurück, das durch die Hinzufügung von Räumen und ganzen Flügeln teilweise größere Ausmaße annahm. Es gab keinen generellen Typ des griechischen Wohnhauses, sondern eine große, lokal variierende Formenfülle. Die Bürgergesellschaft wurde mehr und mehr in die Städteplanung und architektonische Großplanung einbezogen. Große Bauwerke und Masterplanungen (wie jene für die Anlage auf der Akropolis) benötigten in Athen einen Beschluss der Volksversammlung. Traten am Anfang noch individuelle Bauherren in den Blickpunkt, waren es nach Einführung der Demokratie die Bürger, die durch den Rat oder städtische Beamte vertreten wurden. Im Hellenismus wiederum traten die Könige der Dynastien als Stifterpersönlichkeiten auf. Die Ausführung oblag den Architekten. Der Ausdruck architekton (archein/ anfangen, vorangehen; archi/Haupt + tekton/Handwerker, Zimmermann) entstand im 5. Jh. Es ist unklar, ob diese »obersten Zimmerleute« und Bauleiter auch die Entwerfer der Bauten waren. Immerhin scheinen sie gut ausgebildet gewesen zu sein und in der späteren Gesellschaft Griechenlands, in der bei den Eliten die körperliche Arbeit negativ gesehen wurde (banausoi), wie auch die Künstler ein höheres Ansehen genossen zu haben. Erste architekturtheoretische Reflexionen könnten aus archaischer Zeit um die Mitte des 6. Jh.s stammen. Der Architekt und Bildhauer Theodoros von Samos und Chersiphron von Knossos, der als Entwerfer des Artemis-Tempels von Ephesos gilt, sollen einschlägige Überlegungen formuliert haben. Vitruv erwähnt eine Schrift des

341

Griechenland

Philon von Eleusis über die Proportionen des Tempels und die bereits erwähnte des Agatharchos aus Samos über die Perspektive bei der Bühnenmalerei. Aus der Mitte des 5. Jh.s sind wir über etliche weitere Abhandlungen unterrichtet, erhalten ist uns jedoch keine. Daher ist aus schriftlichen Quellen auch keine kunstphilosophische oder architekturtheoretische Position rekonstruierbar. Eine vorsichtige, auf verschiedenen überlieferten Gerüchten basierende Vermutung geht dahin, eine Diskussion über die Säulenordnung und – in der bildenden Kunst – das Prinzip der Nachahmung (Mimesis) anzunehmen. Aus dem 4. Jh. sind Anforderungsprofile an die Architekten und bildenden Künstler überliefert, die diese zu Spezialisten in praktisch jedem Teilgebiet machen wollen. Das angeblich von Pytheos, dem Erbauer des Athena-Tempels von Priene (um 350) und des Grabmonuments von Maussolos von Halikarnass (dem nach ihm benannten Mausoleum), und dem Maler Pamphilos aus Amphipolis aufgestellte Curriculum hatte eine Nachwirkung in der Renaissance. Mit solcher Hochrüstung gelang dort die Emanzipation der Künstler aus dem anonymen Handwerkerstatus des Mittelalters.

VI.4.1.3.

2.4.3. Athen in der »Moderne« Athen stand trotz der schwierigen politischen Lage am Vorabend des Peloponnesischen Krieges am Höhepunkt seiner kulturellen Blüte und die Bevölkerung der Stadt sah sich mit einer großen Veränderungsdynamik konfrontiert. »In Greek art, the early fifth century was a period of sudden and radical changes.« Wenn sich auch die Historiker über die Einschätzung eines »Perikleischen Zeitalters« uneins sind, kann man diese Zeit doch als eine »Moderne« bezeichnen, deren aufgeklärte Intellektuelle unter dem Begriff Sophisten in die Philosophiegeschichtsschreibung eingegangen sind.

Hölscher 1998, 154

2.4.3.1. Die Geisteshaltung der Sophisten Selten hat sich irgendwo in der europäischen Philosophiegeschichte eine Rezeptionsfigur dermaßen verfestigt wie in der Bewertung der Sophisten, die durch Platons Kritik an ihnen geradezu kanonisiert wurde. Selbst Hans Blumenberg, dessen Kritik an Platons Staatsutopie schonungslos und klar ist, hatte dreißig Jahre vor dieser Kritik noch angemerkt: »Die sophistische Thesis begründet Schein, nicht Sein, sie hat keinen Bezug zur Wahrheit: […].« Zwar gäbe es die Setzung (thesis) als Gegenbegriff zur Natur, aber das menschliche Handeln habe noch keine metaphysische Dignität. »Erst die Transplantation einer Vorstellung auf theologischen Nährboden macht sie virulent, um in der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses jene Attraktion auszuüben, die […] den Willen bewegt.« Der Satz als solcher ist zweifellos schwer zu bestreiten, aber diese metaphysische Beschwerung von kulturellen Erzählungen steht in deutlichem Widerspruch zu Blumenbergs kritischer Sicht der Rezeption von Platons Höhlengleichnis, die implizit von der Vorstellung ausgehe, »jeder Mensch sei von Natur ein Metaphysiker.« Das führe zu einer »Art der Wissensunwürdigkeit des Vorletzten.«

2.4.3.2.3.

Blumenberg 1957, 67

Blumenberg 1989, 160

342

Die antike Welt – Griechenland und Rom

154 Kabarettist verspottet einen Gott (um 360a); MAT

Tatarkiewicz 1979, 126

Die Rolle der Sophisten erfährt erst in jüngerer Zeit die ihr gebührende Würdigung. Die Sophisten lieferten am Höhepunkt der Klassik, ja an ihrer manieristischen Übersteigerung im Reinen Stil, die kulturelle Rahmenerzählung. Sophist war ein Sammelbegriff für jene zeitgenössischen Intellektuellen, die einer Aufklärung, ja einer zeitgenössischen Moderne – die erste der Geschichte – das Wort redeten. Der sophistische Geist entsprach der jungen Demokratie mit den ersten Ansätzen einer breiten Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen. Der Ausdruck sophos umfasst neben weise auch die Bedeutungen von lebensklug, kompetent. Die Sophisten traten als wandernde Rhetoren und Lehrer auf, die kostenpflichtig kompetenzorientierte (und wenig an den großen Bildungszielen ausgerichtete) Lebenstüchtigkeit sowie Ausbildung für Verwaltungs- und politische Tätigkeiten vermittelten. Ihr Know-how war außerordentlich gefragt. Die Demokratie erforderte den Bürger, der in der Volksversammlung auftreten und für seine Argumente rhetorisch werben konnte, der Gesetzeslage und prozedurale Regeln kannte. Die entgegengesetzte Praxis erklärte einige Jahrhunderte später der römische Dichter Tacitus mit Kniefall vor der politischen Autorität, dass man Rhetorik nicht mehr brauche, weil der Princeps die Entscheidungen treffe. Naturgemäß machte das jene, die die Bürger zu aufgeklärten und mündigen Akteuren ausbildeten, bei den Traditionalisten außerordentlich suspekt. Dazu kam, dass ihre philosophischen Positionen den großen Visionen der Vergangenheit, jenen eines Heraklit und Parmenides, entgegen liefen. Die Sophisten verabschiedeten die großen Erzählungen von einer letzten (womöglich von einer Göttin verkündeten) Wahrheit. Ihre philosophischen Standorte waren ein Skeptizismus (Gorgias aus Leontinoi), Agnostizismus bis hin zum Atheismus, Empirismus und Humanismus (Protagoras aus Abdera). Sie formulierten beispielgebend jene Positionen, auf denen jede Moderne aufruht, und ihre Reduktion der Spekulationen über die letzte Wahrheit auf Gebrauchbarkeit machte diese Philosophie genauso für eine offene Gesellschaft kompatibel wie für konservative Systemphilosophen suspekt. Der Relativismus der Sophisten kulminierte in dem fälschlich Heraklit zugeschriebenen, in Wahrheit vermutlich aus ihrem Umkreis stammenden Wort panta rhei. Das unterschied diesen Relativismus von entmythologisierenden Bemühungen eines Xenophanes aus der ionischen, nordwestlich von Ephesos gelegenen Stadt Kolophon, der den homerischen Götterhimmel wegen seiner anthropomorphen Sicht der Götter verwarf, um Platz für ein henotheistisches Konzept zu machen. Setzten viele Kritiker der alten anthropomorphen Erzählungen über die Götter – unter ihnen prominent Heraklit, Xenophanes und Platon – die Entmythologisierung ein, um das Gottesbild zu stärken, hingen die »modernen« Entmythologisierer einem Skeptizismus und Atheismus an. Im Gegensatz zur Meinung von Wladyslaw Tatarkiewicz kann es keinen Zweifel geben, dass (auch für die Künstler) die sophistische Geistigkeit die Alltagsmentalität im Athen dieser Zeit bestimmt hat (und nicht unbedingt der Pythagoreismus). Es war die Zeit des Perikles und der großen Bildhauer Phidias, Lysipp von Sikyon, Praxiteles, Myron, Kalamis, Onatas oder Leochares. Die Künstler waren in der Gesellschaft hoch angesehen. In den zeitgenössischen Kunsttraktaten forderte

343

Griechenland

man ein Spezialwissen für Künstler und Architekten. Über die Kritik am alten Götterbild in Literatur und Kunst wurde bereits berichtet ebenso wie über das Umschlagen der Nacktheit, die als Ausdruck einer Wesensbestimmung verstanden wurde, in Erotik. Sosehr also der Geist der sophistischen Aufklärung die Intellektuellen prägte, die kunstphilosophischen und ästhetischen Vorstellungen der Sophisten selbst lassen sich aufgrund spärlicher Belege nur schwer rekonstruieren. Wollte man von ihren weltanschaulichen Ansichten darauf Rückschlüsse ziehen, müssten sie Kunst und Dichtung ohne viel metaphysische Hochrüstung als Zugewinn an Lebensfreude positiv gesehen haben. Sie sollen Vergnügen bereiten. »Doch die Maler erfreuen das Sehen […] Die Schaffung von Statuen und die Herstellung von Götterbildern bereitet den Augen einen angenehmen Anblick.« Diese Bemerkung, die die Darstellung des Göttlichen nur mehr unter ästhetischem Gesichtspunkt betrachtete, ist ein frühes Zeugnis einer Ästhetisierung der Kunst, wie sie zweitausend Jahre später unter komplexeren Umständen – etwa unter Hegels Prägung vom »Ende der Kunst« – neuerlich erfolgt ist. Vor solcher Folie kann man sagen, dass Platon nichts anderes unternahm als eine Rückwendung zur alten Ontologieästhetik, die dann über Jahrhunderte beherrschend blieb und erst im 19. Jh. in die Krise geriet. Bereits in spätarchaischer Zeit wurde Schönheit neben ihrer ontologischen Bedeutung, wie sie im Pythagoreismus grundgelegt worden war, auch mit Zweckmäßigkeit und Vollständigkeit identifiziert. Überraschend ist auch, dass sich ausgerechnet der Materialist Demokrit, der einige Schriften zu Dichtung und Schönheit verfasste, zur Inspiration äußerte: »Was der Dichter mit göttlichem Entzücken und Inspiration schreibt, das fürwahr ist schön.« Wie dies zu verstehen ist, ist schwer zu sagen. Vielleicht sollte man es als schlichte Beschreibung eines gängigen Narrativs interpretieren. Es zeigt jedenfalls, dass die intellektuelle Stellung der Sophisten nicht frei von Ambivalenz war. Hinweise auf ästhetische Positionen der Sophisten gibt es immerhin in ihrem Paradegenre, der Rhetorik. Die Redekunst entstand im antiken Griechenland. Bereits Homer erwies dem guten Redner seine Referenz. Als offizieller Entstehungsort der Rhetorik galt bereits den Alten Sizilien. Sie erreichte in der Moderne von Athen im Kontext der demokratischen Praxis einen hohen Rang. In den Händen der Sophisten wurde sie zu einem pragmatischen Instrument, um zur Not auch »die schwächere Argumentation zur stärkeren zu machen«. Aus dem Umfeld des kaiserzeitlichen Skeptikers Sextus Empiricus ist uns ein fragmentarischer Text von einem unbekannten, aber wohl im sophistischen Umfeld zu vermutenden Autor erhalten. Der um 400a entstandene Traktat ist nach einer öfters wiederholten Eingangsfloskel Dissoi Logoi (Zweierlei Ansichten) benannt. Es werden darin Gegensatzpaare beschrieben wie gerecht und ungerecht, gut und schlecht, wahr und falsch. Der Autor bekennt sich zum Relativismus, dass etwas sowohl gut als auch schlecht sein kann. Die Schrift könnte der Aufgabe gedient haben, den Klienten die Fähigkeit zu verleihen, »argumentationsmächtig zu sein, wenn es etwa im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung galt, gegnerische Einwände

Schirren/Zinsmaier 87ff Gorgias B 11,18

VIII.5.3.2.3.

Diels 1964, Demokrit B18 Wallace 1998 Rhetorik

Homer, Ilias IX, 443

Schirren/Zinsmaier 47, Protagoras A21

Scholz Peter in Becker/ Scholz 2004, 18

344

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Flashar 2013, 141 Schirren/Zinsmaier 83, Gorgias B11,9 2.4.3.3.3.

Platon, Hipp. I, 297

Platon, Ion 535d,e

zu widerlegen und der eigenen Meinung zum Sieg zu verhelfen.« Zweifellos trieben solche Winkelzüge den Relativismus sehr weit, letztlich entspricht dies aber auch der gängigen Praxis anwaltlicher Tätigkeit in modernen Verfahren. Angesichts der Redeflut dieser Zeit (allein von dem in Athen geborenen Rhetor und Sophisten Lysias werden 400 Reden berichtet) sprach Hellmut Flashar treffend von einer »Rhetorisierung aller Lebensbereiche […].« Der aus Sizilien stammende Gorgias betrachtete die Dichtung als eine Sonderform der Rhetorik, als »eine metrische Rede.« Diese Rede in Versen löst beim Zuhörer Emotionen aus. Es ist hier weniger interessant, wie Gorgias die Dichtung definiert als vielmehr, dass er den Blick auf die Rezeptionsseite lenkte. Diese Betrachtungen führte Aristoteles in seiner Poetik weiter. Gorgias wurde in der Antike ein Handbuch der Rhetorik zugeschrieben, mit einem Instrumentarium der psychologischen Beeinflussung der Hörer, belegt ist es aber nirgends. Ein Analogschluss lässt ein Kunstverständnis rekonstruieren, das die Kunst sowohl als Mittel der Nachahmung als auch von Täuschung und Illusion versteht. Auf ein solches Kunstverständnis deuten auch die zahlreichen kritischen Äußerungen Platons zur zeitgenössischen Kunst hin. Im Gespräch mit dem angesehenen Sophisten Hippias aus Elis, vielleicht einem frühen hommes de lettres, der neben Mathematik und Physik auch Ästhetik und Kunst in seinem Vortragsrepertoire hatte, legt Platon dem Sokrates eine Definition des Schönen in den Mund, die die Zustimmung des Sophisten findet: Schön ist, was uns durch Auge und Ohr Vergnügen bereitet. Und im Ion deutet sich für den (ganz bewusst auf die Epen Homers spezialisierten) Rhapsoden aus Ephesos eine Rezeptionsästhetik an, wenn er betont, dass ein guter Sänger in den Zuhörern Emotionen auslösen muss. Der im Dialog Platons arrogant geschilderte Sänger räumt ein, dass es ihm bei seiner Tätigkeit vor allem um die Einnahmen geht und weniger um das Ideal reiner Kunst. Ganz schwierig ist es, die Figur des Sokrates einzuordnen. Er hinterließ keine Schriften, erhielt dafür aber einen undurchdringlichen Wust von Rezeptionserzählungen aufgebürdet. Es scheint plausibel, dass die Zeitgenossen Sokrates als Sophisten wahrgenommen haben. Platon allerdings brachte sein Vermächtnis als große Kritikfigur an den Sophisten zur Geltung. Sokrates wurde damit zum Metaphysiker hochstilisiert und damit ganz anders beschrieben als etwa in den Berichten des Xenophon. Das zweifellos in Athen der klassischen Zeit vorhandene Ringen zwischen konservativer Bewahrung und Aufklärung ließe sich in der eigenartigen Ambivalenz der zeitgenössischen Kunst zwischen freiem Reichen Stil und der strengen Gesetzlichkeit und inneren Bindung, der kanonartigen Schematisierung nachvollziehen. Darauf wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein.

2.4.3.2. Platon

155 Platon; GLY

Das Denken des großen Athener Philosophen Platon stellt den wirkmächtigsten Impuls in der europäischen Kulturgeschichte für Kunstphilosophie und Ästhetik dar. Dies, obwohl er – vordergründig betrachtet – kaum explizit kunstphilosophische

345

Griechenland

Gedanken entwickelt hat und, wo er dies tat, als Kritiker der Literatur, Musik und bildenden Kunst auftrat. Diese robuste Bemerkung sei schon deshalb vorangestellt, weil in weiten Kreisen, vor allem bei sprachanalytisch orientierten Philosophinnen, Platon gegenüber Aristoteles auch aus der Sicht der Kunstphilosophie eine deutliche Abwertung erfährt. Für »modern aestheticians«, heißt es etwa stellvertretend bei der kanadischen Philosophin Mary Mothersill, sei Platon wenig hilfreich, bei Aristoteles fände sie aber »his thoughts about the arts comparatively congenial.« Im Grunde spricht sich darin eine ebenso generelle wie diffuse Abneigung gegenüber Platon bei analytischen Philosophen aus. Peter Kivy verteidigt den Platonismus im Hinblick auf eine musikphilosophische Überlegung und entschuldigt sich dafür gleich am Beginn seines Beitrags: »That I am neither confident, nor altogether happy, in defending this Platonism is because, like any other well-brought-up student of philosophy, at least in the Anglo-American tradition, I have a healthy skepticism with regard to Platonic metaphysics, and the multiplying of entities […] beyond need.« Diese Einschätzung wird hier nicht geteilt. Vielmehr will die vorliegende Untersuchung auch Beleg dafür sein, die Kongenialität mit kunstphilosophischen Fragen eher bei Platon zu sehen. Um dies zu untermauern, ist eine differenzierte Darstellung Platons unerlässlich.

Mothersill 2004, 153

Kivy 1983, 109

2.4.3.2.1. Kontexte Einer legendenhaften Überlieferung zufolge soll der 428 oder 427 in Athen geborene Philosoph ursprünglich nach seinem Großvater Aristocles geheißen haben und von seinem Ringlehrer wegen seiner robusten Statur Platon (griech. platys/breit) genannt worden sein. Ähnlich unklar wie die Herkunft des Namens ist seine Biographie. Sowohl sein Vater Ariston als auch seine Mutter Periktione stammten aus wohlhabenden aristokratischen Familien, nach dem frühen Tod Aristons 424 ging Periktione eine zweite Ehe mit dem Demokraten Pyrilampes ein. Platon hatte zwei Brüder, Adeimantos und Glaukon, und die Halbschwester Protone. Nach der Hinrichtung des Sokrates 399 dürfte Platon mehrere Reisen unternommen haben. Dass darunter auch eine Ägyptenreise aufscheint, gehörte zum damals üblichen, sich aus der Verehrung der alten ägyptischen Kulte ableitenden Narrativ. Das von den Griechen (wie später auch von den Römern) bewunderte Ägypten gehörte sozusagen zum Kern der Grand Tour der damaligen Intellektuellen. Tatsache ist, dass man in der Schule Platons offenbar über die ägyptische Kultur gut unterrichtet war. Viel davon ist in Platons Œuvre eingeflossen. Auch der römische Historiker Ammianus Marcellinus unterstrich, dass die Ideen der griechischen Philosophen aus Ägypten stammten. Als sicher gelten drei oder vier Sizilienreisen nach Syrakus, wo sich Platon jedoch in den Kabalen des Tyrannenhofs aufrieb. Nach der Rückkehr aus seinen Reisen »in den Osten« begann er mit seiner philosophischen Schriftstellerei. Dazu gründete er 387/85 eine eigene Schule, die berühmt gewordene und immer wieder nachgeahmte Akademie. Sie hatte (allerdings an verschiedenen Orten in Athen) bis zur Aufgabe aufgrund der Repression durch

VII.4.2.3.

Ammianus, XXII, 16, 19f Platthy 1990

346

Die antike Welt – Griechenland und Rom

VI.3.4./VI.4.1.1.f.

Ferber 1991

Bröcker 1967, 522

Platon, Theait. 152e, 179e

2.4.3.2.6. X.1.2.

den oströmischen Kaiser Justinian 529 Bestand und wurde um 1462 in Careggi nahe Florenz durch Cosimo Medici wiedererrichtet. Das zeitgeistige Umfeld, von dem her man Platon verstehen muss, war die gerade geschilderte zeitgenössische Moderne in Athen, unterlegt mit den aufgeklärten Positionen des Skeptizismus und Atheismus der Sophisten. Dazu gehörte die kulturelle Blüte mit den großen Malern, Bildhauern und Architekten der Klassik, darunter der bereits ins Manieristische kippende Reiche Stil in der bildenden Kunst und die Ambition nach architektonischer Machtentfaltung der Polis. Politisch erlebte Platon die Festigung der Demokratie, aber auch das Drama des drei Jahrzehnte währenden Peloponnesischen Krieges, der erst 405a endete. Platon schrieb ein philosophisches Werk mit literarischer Ambition. Im Gegensatz zur Meinung von Rafael Ferber wird hier davon ausgegangen, dass Platon sein Anliegen im Wesentlichen von Anfang an konzentriert verfolgte und in Form von Gesprächen sukzessive vorlegte, bei denen – mit Ausnahme mancher Spätwerke – Sokrates als Wortführer auftritt. Das erklärt vielleicht auch die Schwierigkeit der Datierung mancher Werke, die formal einer frühen, inhaltlich aber einer späten Phase angehören (z.B. Symposion, Phaidros), dass also manchmal »der alte Platon im Frühstil geschrieben hat.« Platons Werk lässt sich in drei Phasen einteilen: Die frühen Dialoge sind eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Moderne, also mit dem Geist der sophistischen Aufklärung aus der Sicht eines konservativen Kulturphilosophen, der den Verlust einer gültigen Werteordnung für die Polis beklagte. Dies geschah im Kontext einer zeitgenössisch modernen Argumentationskultur und führte zum Bild Platons als Philosoph des rationalen Argumentierens. Die zweite Phase beschreibt die Ideenlehre als Platons Gegenentwurf gegen die Relativität der sophistischen Weltdeutung. Dies machte aus Platon einen Philosophen, der um die Erkenntnis letzter Wahrheiten ringt. Das Spätwerk ist eine Konsequenz aus dem Scheitern der Ideenlehre und thematisiert eine dynamische Seinsauffassung. Diese Phase wurde in der Literatur am wenigsten beachtet, sie stützt allenfalls das Paradigma Platons als Prinzipiendenker, wie es von der Tübinger-Mailänder Schule verdienstvoll in Erinnerung gebracht worden ist. Vorbild für Platon blieb stets der Einheitskosmos des Parmenides. Die Dynamik der Spätphilosophie entspricht freilich eher dem Vorbild Heraklits. Dass Platon Heraklit insgesamt aber tatsächlich in der sophistischen Verkürzung eines bloßen panta-rhei-Relativismus rezipiert hat, wie Hinweise im Theaitetos nahelegen, ist nur schwer zu glauben. Zum Unterschied von verbreiteten Relativierungsversuchen von Platons Ablehnung der Kunst wird diese hier nicht in Frage gestellt. Eine andere Sache ist allerdings, dass sich Platons Spätwerk auch als groß angelegte dynamische Bildphilosophie lesen lässt, die zusammen mit der neuplatonischen Relektüre Platons einen Kunstimpuls ausgelöst hat, der sowohl im westlichen Mittelalter, in Byzanz und – vielleicht am erfolgreichsten – im Islam sowie später in Renaissance und Neuzeit mannigfach eingelöst worden ist. Insofern kann man davon ausgehen, dass Platon die Kunst in die Philosophie aufgehoben hat.

347

Griechenland

Die Rezeptionsgeschichte Platons wird an anderer Stelle vorgestellt, nämlich dort, wo es um die Umwandlung seines Werks in den Neuplatonismus geht. Faktum ist jedenfalls, dass Platons philosophisches Gewicht im zeitgenössischen Athen kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Umso erstaunlicher ist die Karriere seines Denkens in der weiteren europäischen Kulturgeschichte.

IV.7.1.

2.4.3.2.2. Ontologie und Kunstphilosophie Platons Die Geschichte von Platon als dem Philosophen des rationalen Argumentierens gehört zum Allgemeingut der Philosophiegeschichtsschreibung. Ich vermute jedoch, dass diese Geschichte vorschnell erzählt wird und einer differenzierteren Betrachtung wert ist. Platon steht als Denker der klassischen Zeit gerade am Ende der von Nestle und Jaspers postulierten Bruchkante. Die noch mythengetragenen philosophischen Anfänge in der ionischen Provinz waren Philosophie in statu nascendi, die Aufklärung der Sophisten demgegenüber sorgte für den bislang deutlichsten Schritt über die Achse der Achsenzeit hinaus. In dieser Darstellung wird ganz bewusst von einer Trennung von ontologischem und kunstphilosophischem bzw. ästhetischem Anliegen, wie dies bei anderen größeren Darstellungen von philosophischen Positionen üblich ist, abgesehen. Dies deshalb, weil kunstphilosophische und ästhetische Positionen bei Platon eo ipso ontologische Positionen sind. Aus diesem Grund gab es geistesgeschichtlich einen bemerkenswerten Verlauf. Bereits die zeitgenössischen Sophisten vertraten aufgrund ihrer (gegenüber Parmenides, Heraklit und den Pythagoreern) ontologieskeptischen Haltung in Ansätzen eine Ästhetisierung der Kunst. Platon gab in einer kritischen Reaktion auf diese Aufklärung der Kunst wieder einen metaphysischen Rahmen, indem er auf die alten Mechanismen der Kunst zurückgriff (Stichwort Ma’at). Es dauert dann bis zum Rokoko und philosophisch bis zu Alexander Baumgarten, um die Kunst wieder zu ästhetisieren. In der Begründung dieses über Jahrhunderte währenden ontologischen Kunstverständnisses kommt Platon gleichsam ein »Alleinstellungsmerkmal« zu.

2.4.3.2.3. Das Frühwerk In seinen frühen Dialogen setzte sich Platon mit der zeitgenössischen Aufklärung und Moderne auseinander, in denen er einen Kulturbruch, der für ihn eine negative Konnotation besaß, diagnostizierte. Es ging ihm darum, eine relativistische Weltdeutung, wie sie von den Sophisten vorausgesetzt wurde, ihrerseits als bedingt durch zeitlose Unbedingtheiten auszuhebeln. So gäbe es Spezialwissen nur unter unausdrücklichem Rückbezug auf ein unbedingtes Wissen, auf eine zeitlose Wahrheit. Die Struktur der Argumentation folgt dem Anti-Skeptikerargument: Wer jede Wahrheit negiert, setzt zumindest diese Behauptung als wahr voraus. Dieses Argumentationsspiel betrieb in den Dialogen der von Platon zur literarischen Figur gemachte Sokrates mit den Sophisten. Dabei geht es neben vielen anderen Themen – etwa im Hippias maior – auch um die Schönheit. Auch zu diesem Thema soll das Spezialwissen der Sophisten als

II.5.0.

VII.3.6./VII.5.2.3.

348

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Schweitzer 1953

3.4.4.

Platon, Ion 534c,e

Ebd. 543c,d

nur relativ entlarvt werden, um für ein Metawissen, einer orientierenden Weisheit über das vielfältige Wissen, Platz zu schaffen. Die zeitgenössischen Meinungen zur Schönheit werden im Hippias abgehandelt: Schön ist der schöne Gegenstand. Schönheit hat zu tun mit wertvollen glänzenden Materialien (Gold), Schönheit ist Angemessenheit und Vermögen, und Schönheit ist, was für Auge und Ohr angenehm ist. Alle diese im damaligen Athen gängigen Positionen destruiert Platon und lässt das Gespräch über Schönheit scheitern. Schönheit darf gerade kein subjektives, vom einzelnen Künstler oder gar vom Rezipienten abhängiges Relativum sein. Jeder Hinweis auf eine Rezeptionsästhetik, wie sie bei den Sophisten in den Blick rückte und einem modernen Ästhetikkonzept entspricht, wird zurückgewiesen. Es ist wichtig, auf diese Kontexte einer aufgeklärten Intellektualität zu Platons Zeit hinzuweisen. In einem schönen schmalen Bändchen hat Bernhard Schweitzer 1953 versucht, Platon in »die bildende Kunst der Griechen« einzugemeinden und seine Kunstkritik zu relativieren. Die an sich gut gemeinte Bemühung kollidiert indes an der von Schweitzer doch erheblich unterbewerteten Aufklärungsambition der Sophisten. Im Dialog Ion formulierte Platon einen ersten Schritt zu einer möglichen Lösung dieser kunstphilosophischen Frage. Es geht um die Inspiration, den enthusiasmos. Sie wird von den Sophisten mechanisch und materialistisch gedeutet, für (den platonischen) Sokrates hat Inspiration indes mit dem Göttlichen zu tun. Dass es dabei um eine Abhebung handwerklicher Tätigkeiten (technai) von den schönen Künsten im engeren Sinn ginge, wie manchmal angeführt wird, greift zu kurz. Die göttliche Inspiration geht in ihrer Konsequenz weit über eine solche Differenzierung hinaus. Dies wird klarer bei Betrachtung einer anderen Rezeptionslinie, die an dieser Stelle gerne auf Einflüsse dieser Gedanken auf Peri Hypsous bei Pseudo-Longinus verweist und an dieser Stelle die Genieästhetik anknüpft. Aber der Sinn dieses Enthusiasmos ist geradewegs das Gegenteil moderner Geniekonzeption. Es ist die Abkehr von der genialischen Künstlerpersönlichkeit zugunsten einer direkten Inspiration durch das Göttliche selbst. Gott gebrauche die Dichter (und auch die Rhapsoden), »nachdem er ihnen die Vernunft genommen«, als »Diener« und »Sprecher der Götter«. Platon greift hier auf das alte Narrativ der Dichter als magisch-religiöser Personen zurück, die im Geheiß höherer Mächte stehen und als Verkünder eines göttlichen Wissens auftreten. Platons Enthusiasmoskonzept ist in Wahrheit ein Gegenkonzept zum Genie im neuzeitlichen Sinn. Die Künstler bringen ihre Werke »nicht durch Kunst (techne) […] sondern durch göttliche Kraft« hervor und »der Gott selbst ist es, der es sagt, und [daß er] nur durch diese [Künstler] zu uns spricht«. Die implizite Kritik an jedem Starkult der sich in der Moderne von Athen herausschälenden Künstlerpersönlichkeit trifft sich mit einer ganz grundsätzlichen Kritik der mimetischen Ambition jeder Kunst, die mit Illusion verbunden ist, also aus Platons strenger Sicht die Lüge zum Charakteristikum hat. Im Geniekonzept Platons verbirgt sich seine modernekritische und damit auch kunstkritische Auffassung, die erst in der späten Philosophie eine Auflösung erfahren hat. Eine positive Lehre über die Dichtung ist hier kaum auszumachen.

349

Griechenland

Um das Geniekonzept ist später lange und intensiv gerungen worden. In der Renaissance konnte man sich darauf verständigen, dass das Genie die Natur durch die künstlerische Nachahmung nach dem in der Inspiration geoffenbarten Wesen verbessert. Das freie künstlerische Genie wurde allenfalls in der Aufklärung kurz formuliert, ehe die moderne und zeitgenössische Kunst jede Inspirationsanmutung endgültig verabschiedete.

2.4.3.2.4. Platons Ideenlehre und ihr doppeltes Scheitern Grundsätzlich enden die Frühwerke nicht mit einer erfolgreichen Finalisierung durch Sokrates, sondern unentschieden, aporetisch. Die Frage nach dem Sinn der Aporie hat in der Literatur eine große Resonanz hinterlassen, wo zwischen reiner Denksportaufgabe, Ironie, gescheiterter Dialektik und einem ernst zu nehmenden ontologischen Mehrwert geschwankt wird. Bei diesem Mehrwert anknüpfend scheint eine plausible Pointe zu sein, dass bei der Aporie Platons die Kritik an der Methode der Sophisten im Vordergrund stand. Platon wollte mit der Kritik an dieser Methode von – modern gesprochen – Sprachphilosophie und Logik Terrain gewinnen. Denn die ontologische Stellung der Ideen übersteigt die Ebene der rationalen Argumentation als Methode der sophistischen Moderne und gewinnt ihre Legitimität nur durch Relativierung dieses gesamten Paradigmas. Es scheint aus diesen Gründen wenig überzeugend, wenn Peter Sloterdijk die Akademie zur Schule rationalen Argumentierens macht und von einer »anti-enthusiastischen Prohibition« bei Platon spricht. Zutreffend ist hingegen, dass Aristoteles in dieser Frage diametral anders dachte: »Seit Aristoteles gehört zum Ehrenkodex der argumentierenden Gemeinschaften die Überzeugung, daß es besser sei, nüchtern in die Irre zu gehen, als droguiert mit den äußersten Einsichten herauszurücken.« Die vielen relativen Tatbestände dieser Welt gründen – so sagten wir – in jeweiligen unbedingten Bedingungen. Diese nennt Platon Ideen. Sie sind von der Relativierung des »alles fließt« gereinigte zeit- und geschichtsenthobene Entitäten, die nicht einfach – wie manchmal unterstellt wird – mit der modernen Vorstellung des Begriffs gleichgesetzt werden können. Die Ideen selbst auf einen Begriff bringen will Platon keineswegs. Deshalb hatte er durch den aporetischen Ausgang der Frühwerke die Relativität einer reinen begrifflichen Ebene thematisiert und den Raum für eine andere Wirklichkeitsebene vorbereitet. In sprachphilosophischen Kreisen hat sich die Meinung breit gemacht, »die Platoniker« hätten gegenüber den Sophisten den Vorteil einer ausgefeilten Sprachphilosophie und verfügten damit über die Möglichkeit eines Wissens um die letzten Ideen. So meint etwa George Dickie: »The knowing of a form is allegedly demonstrated when a word is understood.« Und: »The voluble Platonists, with a philosophy of language integrated with and underwritten by their metaphysics, won an easy victory over the speechless atomists for control of subsequent philosophizing.« Es ist schwer nachzuvollziehen, wo denn »die Platoniker« – sprechen wir jetzt lieber gleich von Platon – einen einfachen Sieg über »die Atomisten« davon getragen hätten. Eine solche Anmutung steht allenthalben auf dem Boden der seit Schleier-

Aporie

Griswold 1986 ­Kauffman 1979 Schulz 1960 Erler 1987

Sloterdijk 1993, 119 Idee

Dickie George in Kivy 2004, 46

350

Die antike Welt – Griechenland und Rom

IV.7.1.

Platon, Phaidr. 246a–247 Platon, Tim. 47b Ebd., 90a Ferry 1990

Nietzsche 1872, 96

macher in unterschiedlicher Intensität auftauchenden Rezeptionsschiene, wonach Platon ein Sprachphilosoph gewesen sei. Zudem sieht Dickie offenbar in der Gewinnung eines letzten Wissens das legitime Ziel der Philosophie. Beides ist freilich entschieden zu hinterfragen. In Wahrheit liegt die Sache umgekehrt. Die Sprachphilosophie gehört, wenn überhaupt, auf die Seite der »modernen« Sophisten und genau ein solches Theoriekonzept will Platon zurückdrängen. An die Stelle dieser Methode rationaler Argumentation trat das Konzept der Idee. Dabei stellte sich Platon das schwierige Problem der Erkennbarkeit der Idee (weil sie sich eben gerade nicht begrifflich formulieren ließ), an der naturgemäß auch ihre Legitimationskraft hing. Platon ging das in zwei Anläufen an. Der erste richtete sich an den Einzelnen. Im Phaidon beschreibt er – anknüpfend an orphische und pythagoreische Traditionen – den Tod des Sokrates als exemplarisch für das tägliche Sterben im Sinn einer Befreiung der (unsterblichen) Seele vom (sterblichen) Körper zur Schau der Ideen. Im Gesamtentwurf Platons entspricht das im übertragenen Sinn dem Absterben der diesseitsbezogenen begriffsgestützten sophistischen Weltdeutung und dem dadurch ermöglichten Gewinn einer Schauerfahrung. Die Schau gelingt demnach in Folge einer asketischen Weltflucht, der Ablehnung all jener Bereiche, die den Menschen mit der konkreten, geschichtlichen und sinnlichen Welt verbinden, also auch durch eine Verdrängung des Körperlichen mitsamt den Emotionen. In letzter und radikalster Konsequenz gipfelt das im physischen Sterben. Ein solcher metaphysischer Hintergrund zerstreut jeden Zweifel daran, dass jede auf Materialität und Sinnlichkeit bauende oder als Nachahmung sinnlicher Erscheinungen sich verstehende Kunst obsolet sein muss. Die Botschaft des Phaidon ist, dass jeder Philosoph werden und durch Geringschätzung des Körpers bei gleichzeitiger Seelenbildung etwa im gemeinsamen philosophischen Gespräch (als der ursprünglichen Praxis des Symposiums) zur Schau der Ideen gelangen kann. Im späten Dialog Phaidros wird diese Schau als Umlenkung der Seele von ihrer weltlichen Verhaftung zur Schau der Wahrheit dargestellt. Der Mensch ist derart ein Fortsetzer der göttlichen Schau. Es ist die Revokation der Göttlichkeit des Menschen, wie sie zeitgenössische Intellektuelle bisweilen noch heute beschwören. Die im frühen Ion beschriebene Inspirationslehre erhielt in der mittleren Phase von Platons Philosophie eine metaphysische Hochrüstung und bestätigt, dass es dabei um Destruktion des Individuums geht. Dass sich Platon über den hier vollzogenen Bruch mit dem Paradigma des rationalen Argumentierens durchaus bewusst war, lässt ein Detail literarischer Einkleidung vermuten: Platon lässt Sokrates am Beginn des Phaidon in seiner Zelle Gedichte verfassen. Nietzsche hat diesen ungewöhnlichen Zug des in den Frühwerken mit rationaler Argumentation auftretenden Sokrates und die darin ausgedrückte Verwandlung der Sokrates-Figur sofort verstanden und in seiner Geburt der Tragödie gewürdigt: Erst jetzt sei er zur »Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Vernunft gelangt.« Ich gehe davon aus, dass Platon diesen Anlauf zu einer individuell-mystischen Erfahrung der Wahrheit der Idee scheitern ließ. Hinweise darauf sind die immer wieder aufkommende Körperverhaftung der Gesprächspartner, gipfelnd wohl im Hinweis des Kriton am

351

Griechenland

Ende dieses körperfeindlichen Gesprächs, dass andere vor ihrem Tod noch ordentlich getafelt und die Dienste einer Prostituierten genossen hätten, und im kollektiven dramatischen Gefühlsausbruch seiner engsten Schüler und Kollegen angesichts des sterbenden Meisters. Bleibt der Weg der (mystischen) Schau der Ideen nur einigen Wenigen (wie eben Sokrates) vorbehalten, führt uns Platon einen zweiten Anlauf vor: jenen über die Institution. In seinem Idealstaatsentwurf Politeia präsentiert der Philosoph in einem ebenso rigorosen wie diktatorischen theokratischen Entwurf ein etatistisches Modell, das bis zur Gegenwart für einschlägige Systeme ein Muster abgibt. Man kann den Inhalt der Politeia im Höhlengleichnis konzentrieren. Eine (sich durch eine offenbar gelungene Schau der Wahrheit legitimierende) Führerelite weist den Unwissenden – vermittelt durch den Stand der Wächter – den Weg. Wenn diese sich nicht mit Argumenten überzeugen lassen, ist Gewaltanwendung ein ebenso legitimes letztes Mittel wie die politische Lüge zum Zweck der Legitimation der Herrschenden. Die Politeia ist eine erste groß angelegte philosophische Kritik der aufgeklärten Stadt, deren Legitimationsbasis keine religiöse mehr ist. Und sie kleidet einen etatistisch-theokratischen Staatsanspruch in ein pädagogisches Konzept. Platons Verurteilung einer solchen Stadt als aufgeschwemmt und entzündet ist unzweideutig. Sein Remedium dagegen besteht aus detaillierten Vorschriften, die neben der Regulierung jeder Kunst, der persönlichen Lebensgewohnheiten, über die Unterdrückung von Körper, Erotik und Emotion, bis hin zu Eugenik und dem Vergleich der Gesellschaft mit einer Zuchtanstalt von Tieren reichen. Im Grunde sollte die Stadt eine Akademie mit philosophischen Bürgern werden. Einen solchen Entwurf mit der Idee radikaler Gerechtigkeit retten zu wollen, ist bestenfalls ein Manifest akademischer Weltfremdheit. Lewis Mumford deckte Platons Stadtkonzept zutreffender mit Formeln wie »totgeborene Polis« oder »ummauertes Gefängnis« ein: »Keine Stadt hätte sich in die von Plato gewünschte Form zwängen können, ohne aufzuhören, eine Stadt zu sein.« Platon habe die Stadt wie eine erstarrte Zitadelle gezeichnet und »die Zitadelle selber gegen das Vordringen der Demokratie zu sichern« versucht, »indem er ihr altes Monopol über Religion, Wissenschaft und Militärmacht wiederherstellte und es durch Geheimniskrämerei und schamloser Verdrehung der Wahrheit sicherte.« Obwohl der 7. Brief (mit ungesicherter Autorschaft Platons) von einem gescheiterten Experiment Platons berichtet, in Syrakus sein Polisideal umzusetzen, bleibt sein Werk theoretisch. Dies hatte in philosophischen Utopieentwürfen eine breite Rezeption zur Folge. Was eine detaillierte Gestaltung einer solchen Idealstadt angeht, blieb Platon, abgesehen von einigen allgemeinen Andeutungen in den Nomoi, schweigsam. Dort schärft er die Gründung einer Stadt fern von jeder Anbindung an Handelswege, damit auch fern vom Meer, ein. Das trifft sich erstaunlich mit dem Befund des Historikers, der in verschiedenen Gebieten, etwa in Lykien, zu bestimmten Zeiten den Ausbau von Burgsiedlungen feststellt mit »geringe[m] Interesse an Hafenanlagen. Die Zentralsitze der Dynasten im Hochland suchen steile Hanglagen mit Felsterrassen und Gipfelplateaus und umgeben sich mit starken Befestigungen.« In

Platon, Phaid. 116e, 117c,d

Idealstaatsentwurf

Platon, Pol. 515e Ebd., 414d

Ebd., 372e Ebd., 386, 387, 392ff, 401b, 424b Ebd., 462b Ebd., 459f

Kersting 1999

Mumford 1961, 206/208/213/215

Marek 2010, 227

352

Die antike Welt – Griechenland und Rom

VI.4.2.6.

Platon, Pol. 599a

Mumford 1961, 214

Blumenberg 1989 Mumford 1961 Popper 1945

Platon, Pol. 462b

Ebd., 597b

Ebd., 599a Ebd., 596d

der Rezeptionsgeschichte, vor allem in den Stadtentwürfen der Renaissance, leitete man von der Politeia durchaus konkrete Beiträge zur Architektur ab. Platon ging es vorwiegend um die philosophischen Grundlagen. Er war im Sinne Blumenbergs der Idealfall eines »Metaphysikers«. Die vernichtende Dichter- und Kunstkritik ist, ebenso wie das staatliche Gesamtkonzept, philosophisch getragen von der Ideenlehre. Jeder mimetische Charakter von Kunst entspricht dem Schattenbild eines Schattenbildes, jeder Versuch künstlerischer Originalität ist ein Abfall in die negativ bewertete Individualität und Körperlichkeit. Insofern verwies Lewis Mumford zu Recht auf das dahinter liegende Menschenbild sowie die statische Ethik. Wenn er dieses vermeintliche Ideal eines Staates für unpraktikabel hielt und abschließend meinte: »Platos Blindheit ist verblüffend«, verstand er allerdings die vermutliche Pointe Platons nicht. Um diesem sperrigen Werk beizukommen, kann man es kaum anders denn als ein Werk des Scheiterns enkodieren. So gesehen hätte uns Platon in der Politeia den Preis vor Augen geführt, der zu bezahlen wäre, wenn wir die Schau der Wahrheit an die Institution delegierten. Diese vielleicht unübliche These kann sich vor allem darauf stützen, dass die die Politeia metaphysisch tragende Ideenlehre selbst scheitert. Das haben die zahlreichen, vor allem im 20. Jh. vorgetragenen Einsprüche gegen ein solches Poliskonzept bei aller berechtigten Kritik stets übersehen. Vordergründig geht es um die ungeliebte Notwendigkeit der Gewaltanwendung und es geht um die Verlässlichkeit der Wächter als erziehende und kontrollierende Instanz im Staat. In diesen in totalitär geführten Staaten nie beherrschten Problemen spiegelt sich ein Scheitern der gesamten Ontologie wider. Platon, der den parmenideischen Einheitskosmos restaurieren wollte, musste nicht nur in seiner Ideenkonzeption die negative Vielheit der materiellen Welt zwangsläufig in die Welt der Ideen übertragen (drastisch beschrieben im Dialog Parmenides), sondern landete bei einem vermittlungslosen Bruch zwischen der Ideenwelt und der materiellen Welt, den er eben mit einem kruden Institutionenkonzept vermeintlich kitten zu können glaubte. In der Politeia gilt der Fall in die Vielheit als das »größte Übel« der Polis. Genau das aber war das bittere Ergebnis der klassischen Ideenlehre. Dieses Problem spiegelt sich nicht nur in der politischen Philosophie, sondern auch in der Kunstphilosophie. Platon bringt das in der Politeia auf den Punkt, wenn er von einer dreifachen Darstellung spricht. Eine Liege (kline) existiert als Idee, als Nachahmung durch den Tischler und schließlich als noch schlechtere Nachahmung durch den Maler. Der Maler (Gleiches gilt für den Dichter) ahmt nur mehr die ohnehin schon schlechte materielle Wirklichkeit ein weiteres Mal nach. In der hier vorherrschenden Motivation, sich gleichsam mit der Welt der Erscheinungen zufrieden zu geben und ausschließlich auf dieser Ebene zu agieren, viel Mühe mit Schattenbildern aufzubringen, könnte man eine Parallele zu seiner Einschätzung der Sophisten sehen: »Einen ganz wunderbaren Sophisten, sagte er, beschreibst du da.« Die statische Verfassung der Ideen erfordert zu ihrer Begründung zwangsläufig einen Regress, was für Platon stets den Fall in die Vielheit bedeutet und jede Vermittlung verunmöglicht. Zur Vermittlung und zur Veränderung einer bestehenden (»fal-

353

Griechenland

schen«) Welt braucht man eine Dynamik, einen Prozess. Aus diesen Gründen griff Platon zur Vorbereitung eines dynamischen Vermittlungskonzepts auf eine neben den Ideen (die als Möglichkeitsbedingung jeder realen Wirklichkeit eingeführt worden waren) weitere Bedingung zurück, die beide zu vermittelnden Pole (Ideen und sinnliche Welt) übersteigt und dynamisch konzipiert ist: »Ebenso nun sage auch, dass dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein (einai) und Wesen (ousia) habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Seiendsein (ousias ontos) ist, sondern darüber (epekeina) an Würde und Kraft hinausragt.« Das Gute ist abseits jeder ethischen oder moralischen Bedeutung eine ontologische Größe. Es entzieht sich einer kategorialen Fixierung, gehört weder in das Reich der materiellen Dinge noch in jenes der Ideen. Es ist jenseits (epekeina) jeder Seiendheit, ein Nicht-Etwas-Sein. Dieser Status spielte im Neuplatonismus zur Bestimmung des Göttlichen und im deutschen Idealismus, namentlich bei Hegel, eine wichtige Rolle. Dieses theoretische Konzept macht Platon zum Prinzipiendenker. Mit der Beschreibung des Guten ist eines der (insbesondere für die Kunstphilosophie) zentralen Kapitel platonischen Denkens angesprochen. Gerade an dieser viel diskutierten Schlüsselstelle scheint mir in der wissenschaftlichen Kommentierung ein gewichtiges Missverständnis vorzuliegen. Es fokussiert in der Aussage: »[…] transzendenter als das neuplatonische Eine konnte der jüdisch-islamisch-christliche G[ott] nicht sein.« Immer wieder wird versucht, in einer Brücke von Platon, dessen Stellung des Einen als »Transzendenzaussage« gesehen wird, bis zu Augustinus, den Ursprung christlicher Transzendenzvorstellung zu erkennen. So als handle es sich beim Guten/Einen um eine benennbare und unterscheidbare Entität, wodurch es aufhöre »jenseits von allem zu sein«. Derart waghalsige Konstruktionen christlicher Eingemeindung eines platonisch-neuplatonischen Konzepts sprießen aus einem Missverständnis des ontologischen Status des Guten/Einen. Ideen verweisen eben nicht in den »transzendente[n] Bereich.« Dieses Missverständnis betrifft letztlich auch Voegelins Versuch, das griechische Seinsdenken als transzendente Ordnung zu verstehen. Die Intention der Solarisierung und Transzendentsetzung JHWHs war eine ganz andere als jene des epekeina. Um die Probleme der statischen Ideenlehre, insbesondere das Auseinanderbrechen des Kosmos in zwei Teile, zu lösen, benötigte Platon eine dritte Möglichkeitsbedingung, die jenseits von realer Welt, aber eben auch jenseits der Ideenwelt angesiedelt sein muss und der damit zwangsläufig kein Seiendsein mehr zukommen konnte. Dieses Dritte kann – entgegen anderslautender, sich auf eine Andeutung Platons stützender Meinung – nicht erkennbar sein. Eine solche Figur ist abhängig, ja überhaupt nur sinnvoll in dem, was sie bedingt. In ihrem Bedingen und ihrem Vermittlungsauftrag ist sie dynamisch angelegt. Platon spricht metaphorisch vom Sprössling des Guten und vom Entfliehen des Guten »ins Schöne«. Den eigentlichen Prozess der Selbstdarstellung dieses Nicht-Seins (Emanation) entwickelt erst der Neuplatonismus. Eine derartige Figur ist aber nicht auf Transzendenz angelegt, sondern kann allenfalls transzendental genannt werden, ein Bezug auf das durch sie Bedingte. Rafael Ferber hat das in einer minutiösen Untersuchung der drei Gleichnisse der Politeia

Ebd., 509b Das Gute

Flasch 1974, 746 Halfwassen Jens in Szlezak 2001, 72 Schaeffler Richard in Honnefelder/Schüßler 1992, 37 Hub 2008, 224 II.5.0. II.3.2.3.

Platon, Pol. 516b

Ebd., 508b Platon, Phil. 64e

354

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ferber 1989, 251 Szlezák 2003, 54

Ferber 1989, 251 Ferber 1991 IV.7.1.ff.

Baltes 1999, 228

2.4.3.3.2./V.7.2.2.6.

herausgearbeitet. Ferber dehnt die Figur des Guten als Struktur transzendentaler Begründung, die »im Schatten eines Lichts steht, das sie selbst nicht mehr sieht«, auf die gesamte abendländische Begründungsproblematik aus. Das ist keineswegs nur ein »modisches« Ersetzen von Platons Ideenlehre durch Transzendentalphilosophie, sondern trifft die Struktur des Guten, das selbst keine Idee mehr ist, sondern deren »Ursprung«, exakt. Dass Platon dieses Gute aus Unwissen (wie auch seine ganze »ungeschriebene« Prinzipienlehre) nicht näher beschrieben haben soll, wie Ferber im Weiteren meint, ist freilich nicht unbedingt überzeugend. Der Neuplatonismus konnte an dieser Stelle anschließen und das Gute/Eine als Göttliches konzipieren, das sein Selbstbewusstsein erst im dynamischen Akt der Selbstdarstellung (Emanation) gewinnt. Erst dann, in der gelungenen Darstellung von Welt als Emanation, wird eine Größe sichtbar, die jeweils beides, Ursache und Darstellung, ineinander verschränkt. Die unbedingte Ursache selbst bleibt entzogen. Damit komme ich zu einem grundsätzlich anderen Ergebnis als Matthias Baltes, der den Platonismus des 1. Jh.s als »Geschichte der Wiedergewinnung der Transzendenz« gegenüber Aristoteles verstand. Aber es war gerade Aristoteles, der – entgegen der Immanenzphilosophie Platons – das Göttliche vom Weltlichen abgetrennt und ein Konzept entwickelt hat, das man transzendent nennen könnte und deswegen in diesem Punkt zu einer willkommenen Grundlage für die Interessen des christlichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin werden konnte. Mit Platons epekeina-Struktur liegt in Verbindung mit der spätplatonischen Dynamik ein Muster für die Darstellung des Undarstellbaren vor. Im Fall einer rechten Transzendenz wäre eine solche Darstellung nicht mehr möglich. Insbesondere der Islam und dessen Kunst hatte daran ein Vorbild, während die christliche Fortschreibung des Neuplatonismus an der hierarchischen und triadischen Emanationsfigur anknüpfen konnte.

2.4.3.2.5. Platons Eros-Philosophie und die Konzeption des Schönen

2.1.3.2.

Platon überwand selbst bereits in der Politeia, nämlich in der Exposition der transzendentalen Größe des Guten/Einen, seine Ideenlehre. Eine explizite Prozessfigur, auf die das Gute durch sein Nicht-Sein zwangsläufig angelegt war, entwickelte Platon in der Spätphilosophie, ohne noch zu einer Emanationsbewegung zu gelangen, deren Geschichte erst der Neuplatonismus schrieb. Die dynamische Seite zu formulieren war ein heikles Unterfangen, weil dem alten zerreißenden und relativierenden Prozess (Phanes/Eros) keinesfalls Vorschub geleistet werden durfte. Ich erinnere an die originelle Bemerkung von Kostas Papaioannou, der die Dionysos-Figur als Chiffre der Anti-Welt zur zivilisatorischen Ordnung entschlüsselte. Diesem ewigen Dilemma im Spannungsfeld von Natur und Kultur entkommt man indes niemals durch eine dogmatisch fixierte Statik und den Ausschluss jeder Geschichtlichkeit. Ordnung kann im Grunde nur dynamisch gedacht werden. Das war – wenn man so will – das Erbe des die Ordnung stiftenden Königs/Pharaos im Alten Orient und der in Ägypten formulierten Ma’at-Figur, und dies neu zu buchstabieren, unternahm Platon in seinem reifen Werk.

355

Griechenland

Prozess wird stets konnotiert mit »Eros«. Die Beschreibung des Eros als »rau, unansehnlich, unbeschuht, als ein Flaneur, der sich im Freien herumtreibt und auf der Straße schläft, als Zauberer und Giftmischer […]« im Symposion ist keineswegs nur eine Beschreibung der Sokrates-Figur, sondern eine Reminiszenz an den alten »Spalter« Phanes/Eros. Alle einschlägigen Dialoge (Symposion, Phaidros, Philebos) bemühen sich um Rückweisung eines zerreißenden Prozesses und einer körperlichen Eros-Deutung. Auch sie wollen Terrain gewinnen. Insofern gibt es hier durchaus methodische Parallelen zur Absetzung Platons von einer logisch-argumentationstheoretischen Ebene in den Frühdialogen. Symbolisierte dort das Formale die Argumentationslinie der Sophisten, so symbolisiert in den Erosdialogen das Körperliche die Position der Aufklärung und Moderne, gegen die Platon zugunsten einer geistigen Ebene argumentiert. Es handelt sich – schärfer noch – um eine Bewegung des männlichen Geistes zu einem anderen männlichen Geist. Die in Griechenland verbreitete soziale Praxis der Homoerotik und Pädophilie erhielt eine metaphysische Legitimation als Selbstbefruchtung männlicher Vernunft. Das war eine signifikante Veränderung gegenüber den frühen Fruchtbarkeitskulten, die sich an der sexuellen Polarität orientierten. Man mag darin das prägnante Erbe der männlichen Rationalitätsfigur mit seinen griechisch-indogermanischen Wurzeln erkennen. Oder man interpretiert diese Veränderung als Ausdruck der Bewegung vom (tendenziell weiblich konnotierten) Chthonischen zum (tendenziell männlich konnotierten) Geistigen. Im Symposion korrigiert Platon eine von sophistischer Seite vorgetragene Fixierung des Eros auf körperliche Schönheit. Eros wird demgegenüber zum Bild für die Philosophie insgesamt und beinhaltet ein Streben nach geistiger Zeugung im Schönen, will heißen: ein Streben nach Unsterblichkeit. Dies jedoch in vollendeter Form, nicht im Körperlichen, sondern in der Seele, welche Weisheit und die anderen Tugenden erzeugt. Im übertragenen Sinn ist diese Vollendung als stetiger Prozess das Ordnung-Schaffen, das sowohl individuell wie gesellschaftlich-politisch buchstabiert werden kann. Die gelungene Schau der Schönheit offenbart etwas, »das weder entsteht noch vergeht« und »an sich und für sich und in sich selbst ewig überall dasselbe ist.« Es ist kein Abbild mehr zu schauen, sondern der Niederschlag des Wahren selbst. Noch bevor Platon die Prozessfigur selbst thematisiert, unterstreicht er gleichsam die utopischen Ansprüche der alten Ideenlehre. Schönheit bei Platon meint stets Harmonie – also Ordnung. Das Harmonische bleibt die oberste Norm der Bewegung, die in zumindest zwei großartigen Bildern beschrieben wird. Eines ist das Bild der Fahrt der Götter zum »überhimmlischen Ort« im Phaidros. Das andere ist der Demiurgen-Mythos im Timaios. Das Bild der Götterfahrt beschreibt die in unendlicher Wiederholung durchgeführte Fahrt der Götter zum überhimmlischen Ort, um sich dort immer wieder der Unsterblichkeit zu versichern. Das Bild steht für die Selbstbewegung (autokinesis) der Seele unter den Auspizien der vollendeten Harmonie. Platon schildert diese Seelenbewegung als eine dramatische Fahrt mit einem gefiederten Gespann, dessen Lenkung dem Göttervater Zeus obliegt, der alle Mühe hat, das Gefährt auf dem Weg zu halten, weil ein Teil der Pferde nach oben, der der

Platon, Symp. 203e Rehn 1996, 88

Platon, Symp. 181c

2.1.2.

Ebd., 206c/207a Ebd., 209a, 210b

Ebd., 211a,b

Platon, Phaidr. 245c–e

356

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Braun 2010 Platon, Phaidr. 245e

Platon, Phil. 64e

Demiurg Platon, Phaidr. 245c–246a Platon, Nomoi 894, 895, 896; Platon, Tim. 34a

Platon, Tim. 28a,b

andere aber nach unten zieht. Die zum Göttlichen gerichtete Bewegung streitet mit der Chaosmacht materieller Statik. Doch dem göttlichen Lenker und Ordnung-Stifter gelingt die Lenkung des Gespanns. Am »überhimmlischen Ort« angekommen, nährt sich die Seele schließlich an der Schau des Schönen, Wahren und Guten und des wahrhaft Seienden und kehrt wieder in die untere Region des Alltäglichen zurück, wo der Kreislauf von neuem beginnt. Es ist hier nichts anderes formuliert als die Figur der ständigen getakteten Wiedergeburt als Bestandssicherung unserer Existenz – politisch gewendet: zugleich Grundlage der Bestandssicherung des Staates. Die statische Schau des Wahren steht nun nicht mehr für sich selbst, sondern lässt sich nur mehr innerhalb dieser getakteten Bewegung verstehen, die wiederum ein ständiges Ordnung-Schaffen gegenüber den beharrenden und zersetzenden Kräften des Materiellen ist. Nur schwer kann man sich hier der Erinnerung an Ma’at entziehen angesichts dieses selbstbewegenden Prozesses, der die Störung durch einen Stillstand, der durch den Fall der Seele in das Materielle entstanden wäre, zugunsten einer ungestörten Harmonie verdrängt. Die ständig kreisende Bewegung der Seele verhindert, dass »der ganze Himmel und das gesamte Gewordene zusammenfallend stillstehen müßten.« Über das vorachsenzeitliche Ma’at-Paradigma, das sich im ständigen harmonischen Prozess erschöpfte, hinausgehend, setzt Platon (hier ist er der griechische Philosoph) den eigentlichen Gehalt des Prozesses von diesem ab: Harmonie und Stabilität. Man könnte sagen, dass Platon das Prinzipienhafte von Ma’at (das Bild der Ordnung) isoliert und als das Muster des Ganzen eigens formuliert. Trotzdem hört der Prozess beim Erreichen der Schau dieser Vollendung nicht auf, sondern beginnt immer wieder von neuem. Im »überhimmlischen Ort« schaut die Seele das Schöne, Wahre und Gute. Durch diese »Nahrung« entfernt sich die Seele vom Körperlichen. Im Gegensatz zur üblichen Gleichsetzung in der Rezeption dieser Stelle sind das Schöne und das Gute keineswegs identisch. Weil sich das Gute/Eine nicht an sich selbst zeigen kann, hat es im Schönen sein Medium der Darstellung: »Das Gute entflieht ins Schöne.« Legt das Bild der Götterfahrt den Schwerpunkt sozusagen auf den Aspekt der ewigen harmonischen Selbstbewegung samt der ständigen Bekämpfung der ins Chtho­nische weisenden Chaosmacht, lehrt ein weiteres Bild, was mit dieser Selbstbewegung geschieht, was der Prozess leistet. Es ist jenes des Demiurgen. Auch der Demiurg steht für den autokinetischen, also aus sich selbst verlaufenden Prozess. Platon spricht wiederholt von der Selbstbewegung als erster aller Bewegungen. Im Demiurgenmythos des Timaios wird dieses Kreisen zu einem ständigen Umgestaltungsvorgang von Natur in Kultur. Der Prozess/Demiurg baut eine ungeordnete Welt in eine Welt der Harmonie und Symmetrie um, übersetzt eine aus dem Takt gefallene Ordnung in Takt und Wohlklang: »Wessen Form und Wirkkraft der Demiurg [Prozess] nun gestaltet, indem er auf das sich stets gleich Verhaltende hinblickt und etwas Derartiges als Vorbild benutzt, das muß zwangsläufig insgesamt schön gestaltet werden, wessen Form und Kraft er jedoch gestaltet, indem er auf das Gewordene blickt und indem er ein Gewordenes als Vorbild benutzt, das [ist] nicht schön.«

357

Griechenland

Platon vermochte in dieser Konstruktion die Stärken der Ideenlehre, nämlich ihren Bezug auf eine geschichtsenthobene Wahrheit, mit der unabdingbaren Notwendigkeit einer dynamischen Vermittlung zu versöhnen. Es liegt nun nicht mehr im Gutdünken eines einzelnen Menschen (wie im Phaidon demonstriert), auch nicht mehr in der Macht eines repressiven Staatsapparates (wie in der Politeia demonstriert), den Einzelnen in die Schau und Akzeptanz der Wahrheit zu zwingen, sondern der Einzelne wird Teil eines anonymen, selbstgesteuerten Prozesses, eines Systemzwangs, in den sich einzugliedern geradezu einen Freiheitsgewinn verheißt. Die hier entspringende Freiheitsdefinition (Freiheit als Einsicht in einen notwendigen, unabänderbaren Zusammenhang) war nachhaltig und wurde im Neuplatonismus, Rationalismus, Idealismus und dialektischen Materialismus aufgenommen. Dieser kosmische und göttliche Prozess erzeugt jene Harmonie der Sphärenklänge, die Bedingung von Wahrheit ist und die die Zerrissenheit der Welt und der kosmischen Seele heilt. Er enthält Elemente des alten Ma’at-Prinzips, die Wende vom Chthonischen zum Himmlischen durch die Pythagoreer (der Gesprächspartner des Sokrates Timaios von Lokroi soll ein Pythagoreer gewesen sein) und – auf philosophischer Reflexionsebene – das Prinzipienhafte im erwähnten Muster (aus der alten Ideenlehre), das für den Prozess das Vorbild abgibt. Der Timaios ist das Werk der umfassenden, sich selbst genügenden Kreisbewegung, die jeden »Irrwandel« und jeden Stillstand vermeidet. Dass in den Spätdialogen ganz allgemein und im Timaios im Speziellen zahlreiche Motive ägyptischer Ideengeschichte enthalten sind, ist weitgehend unbestritten. Ernst Bloch nannte den Timaios Platons »ägyptischste« Schrift. Das Œuvre Platons verdichtet vor allem in der späten Phase die in 2.1.2. exponierte These, dass die griechische (= philosophische) Erzählform aus dem bereits im Neolithikum, dann im Alten Orient gründenden Umgang mit dem Zyklus der Natur, sowie dem daraus ableitbaren Ordnung-Schaffen durch die Gottheit, zu entschlüsseln ist. Keine Stelle der antiken Literatur könnte diese These besser ausleuchten als der Demiurgen-Mythos. Der (solare) ordnende Gott bringt in die (chthonische und zerreißend-prozesshafte) Natur die nach Harmonie und Symmetrie getaktete Bewegung (= Schönheit). Es ist ein Prozess des Schön-Werdens von Welt. Zudem ist dieser Prozess eine weitgehende Kategorialisierung des Göttlichen, die damit verbundene Sinnstiftung für die Polis und die Rückbindung des Menschen über die Polis auf das Göttliche. Das ganze Unternehmen kann kaum anders denn als Rückdrängung der Moderne interpretiert werden. Mit Bezug auf Platon wird das hier artikulierte Verhältnis von Natur und Kultur in zahlreichen Anläufen später aufgenommen und ausbuchstabiert – als Beispiele sei auf Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Giovanni Pietro Bellori und Hegel verwiesen. Neben und gegen die sophistische Auffassung des Schönen, die bereits als Ästhetik im modernen Sinn bezeichnet werden kann, weil sie pragmatisch die Lust und Freude am Schönen in den Vordergrund rückt, trat Schönheit als ontologisches Prinzip der Mathematisierung der Welt. Gott gestaltet diese Welt durch »Formen und Zahlen« und er erscheint als der Mathematiker, der »ständig Geometrie

2.2.2.

Ebd., 34a, 36e–37c Bloch 1977c, 852

2.4.3.2.6.

VI.4.2.1. VI.4.2.3. VII.4.2.4.1. VIII.5.3.ff.

Platon, Tim. 53b

358

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Weisheit 11,20

VI.3.2.

Braun 2014

betreibt«, wie ein Ausspruch Platons aus seiner Ungeschriebenen Lehre kolportiert wird. Die Ausstrahlung solcher Gedanken fand weite Resonanz in hellenistisch beeinflussten Teilen des Alten Testaments: »Doch alles hast du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.« Die Welt, Mensch und Gott übergreifende Wirklichkeit reduziert sich auf die regelmäßigen geometrischen Urkörper Würfel, Tetraeder, Oktaeder und Ikosaeder, aus denen alles zusammengesetzt ist. Diese gegen die Moderne ins Treffen geführten platonischen Lösungen dienten in Ansätzen schon im Mittelalter, vehement aber in der Renaissance als Motivation für die Entwicklung der Naturwissenschaften. Diese Schnittstelle der platonischen Philosophie, an der sich ein kunstphilosophischer und ästhetischer Aspekt mit einer naturwissenschaftlich-technischen Umformung der Welt in die Zahl treffen, ist vermutlich am prägnantesten bei Hegel formuliert worden.

2.4.3.2.6. Platons Ontologie des Bildes

Hub 2008, 263

Stellung des Künstlers

Platon, Nomoi 799e, 797b Ebd. 669e Platon, Pol. 401b, 424b Platon, Nomoi 660a II.2.6.

Platon hat kein eigenständiges Werk zur Kunst oder zu ästhetischen Fragen verfasst. Seine Äußerungen dazu sind verstreut und sie lassen einer ersten Prüfung scheinbar keine andere Wahl, als eine rigorose Ablehnung jeder Kunst zu konstatieren. Allen Rettungsversuchen einer doch noch positiven Einstellung zur Kunst gegenüber bleibt der Befund eindeutig. »Kunst ist unüberbrückbar fern von Wahrheit und Wissen, im besten aller Fälle nutzloses Spiel, in allen anderen Fällen aber der Seele Verderb.« Trotz alledem verstellt ein solches Fazit – wie in der obigen Darstellung bereits klar geworden sein dürfte – eine komplexere Sachlage. Schon die kaum zu überschätzende Rolle des Platonismus in der späteren Kunst und Architektur muss dazu anregen, genauer hinzusehen. Platons Ablehnung der Kunst ist jedenfalls Teil der Rückweisung der zeitgenössischen Moderne einschließlich des Reichen Stils und der »sophistischen Ästhetik«. Sie ist allerdings philosophisch getragen von seiner Ideenlehre und schon aufgrund des Scheiterns dieser kann sie kaum sein letztes Wort gewesen sein. Auf die Gegenstrategie Platons gegen Rezeptionsästhetik und »modernes« Künstlergenie durch die Inauguration eines göttlichen Enthusiasmos wurde bereits verwiesen. In diesem Zusammenhang stößt alles auf den Widerspruch Platons, das mit dem Künstlerindividuum zu tun hat: das Streben nach Originalität und Neuheit, Abwechslung und Virtuosentum. Die Künstler sind deshalb – im Kontext der Politeia-Konzeption – konsequent unter Aufsicht zu stellen. In den Nomoi entwarf er mit Blick auf den vermeintlich stabilen Kunstkanon in Ägypten (den er vielleicht selbst in dem späten, rückwärtsgewandten Ägypten kennen gelernt hatte) den Kodex erlaubter Kunst: »Wie ist denn das in Ägypten geregelt? Das zu hören erregt Bewunderung. […] Weder Malern noch anderen Künstlern war es gestattet, entgegen den festgesetzten und in den Tempeln öffentlich bekannt gemachten Mustern Neues einzuführen oder sich etwas anderes auszudenken als das von den Vätern Überlieferte. Wenn du genau hinsiehst, wirst du erkennen, dass die vor zehntausend Jahren gemalten oder geformten Kunstwerke genau gleich gearbei-

359

Griechenland

tet sind wie die gegenwärtigen. Das ist wunderbar, was du da sagst! Nein, sondern nur das Zeichen einer überragenden Gesetzgebung und Staatsverfassung!« Im Sinne einer Rückweisung der Moderne zugunsten einer Revitalisierung der vorachsenzeitlichen Ma’at-Ordnung Ägyptens war es die Konstante beständiger Reproduktion eines ursprünglichen Musters, was Platons Zustimmung gewann. Solches ließ sich nicht nur als Grundlage der Ikonenmalerei im Gefolge des Bilderstreits fruchtbar machen, politisch konnte das auch die Grundlage einer überwachten Staatskunst abgeben. Die neben der Kritik an der Künstlerpersönlichkeit zweite Stoßrichtung Platons richtete sich gegen die Kunst als Geschäft der Nachahmung. Im Sinne der Ideenlehre wird dabei das ontologisch ohnehin negativ bewertete Reale in Kunst und Literatur noch einmal verdoppelt (»Schattenbild des Schattenbildes«). Besonders negativ fielen dabei Illusionsmalerei und Perspektivismus ins Gewicht, künstlerische Techniken, die zu seiner Zeit in der Skiagraphia große Erfolge feierten. Platon tat sie als Irreführung und Zauberei ab. An der negativen Einschätzung von Kunst und Literatur ist insgesamt kein Zweifel möglich, in der einzelnen Beurteilung gibt es freilich Unterschiede. Sprach er im 3. Buch der Politeia mehr von einer Reinigung der einzelnen von Dichtern entworfenen Mythen und von Künstlern gestalteten Arbeiten (was man als moralisierende Korrektur und Option für eine Staatskunst abtun könnte), qualifizierte er im 10. Buch Kunst und Literatur wegen ihres mimetischen Charakters ganz grundsätzlich als negativ und falsch. Die hier nachgezeichnete Haltung hat sich in der Rezeption weithin als die Einstellung Platons zu Kunst und Literatur verfestigt. Diese Rezeption erzählt eine relativ simple Geschichte der Kunstkritik als Platons Vermächtnis, sodass daraus kaum eine produktive kunstphilosophische Perspektive zu gewinnen ist. Arthur C. Danto etwa vertrat die Meinung, dass Platons Strategie war, die Kunst als bloße Täuschung und Illusion politisch zu entmächtigen und sie damit – d.h. durch ihre Aufhebung in die Philosophie – wirkungslos zu machen. Danto blickt dabei auf eine bestimmte, nämlich mimetische Kunst, die Platon letztlich gar nicht zu entmächtigen brauchte, weil sie ohnehin ohne besondere Relevanz ist. Treffender wäre Dantos Analyse für die von ihm nicht wahrgenommene späte Philosophie Platons, seine Funktionalisierung der Kunst auf eine Harmonisierung der Wirklichkeit. Verschiedentlich wurde versucht, eine Kunstphilosophie Platons zu retten, indem man die Mimesis als Nachahmung von Ideen und nicht von Realem rekon­ struierte. Diese Ansicht hat tatsächlich eine weit reichende Wirkgeschichte. Sie wird uns vom Mittelalter über die Renaissance bis zur Romantik und dem Geniekult des 19. Jh.s begegnen. Trotzdem ist der schon früh erfolgte Einwand (z.B. Collingwood 1925) ebenso zutreffend, dass auch in diesem Fall das negativ beleumundete Schema der Mimesis kaum nachhaltig verbessert wird. Das grundsätzliche Problem dieser Deutungen ist, dass sie sich auf die statische Ontologie der Ideenlehre in der Politeia und damit auf ein statisches Mimesis-Konzept (Urbild-Abbild) stützen.

Platon, Nomoi 656d–657a

IV.8.2. Kunst als ­Nachahmung

Danto 1989

Oates 1972 Lodge 1953 Tate 1928

360

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Neumaier 1999, 277

das Schöne

Scholz Oliver R. in ÄGB 1, 626

Dieser eingeengte Blick auf Platon führt nicht nur zu einer irreführenden Verkürzung seiner Kunstphilosophie, sondern sie lässt vor allem die wichtige Rolle dieser Kunstphilosophie für die europäische Kunstgeschichte im Dunklen. Otto Neumaier versucht, Platon gleichsam für eine zeitgemäße Kunstphilosophie zu retten, indem man »im Unterschied zu Platon annehme[n], daß diese geistige Welt nicht ewig, sondern von Menschen geschaffen ist, […].« Denn: »Tatsächlich ist eine erkleckliche Zahl von Autorinnen verschiedener Zeiten und Kulturen der Ansicht, daß durch Kunstwerke […] nicht die natürliche Erfahrungswirklichkeit dargestellt, sondern eine eigenständige Wirklichkeit geschaffen wird, die jene ergänzt, erweitert und zum Teil in ein anderes Licht rückt.« Unversehens deckt Neumaier damit genau die Intention Platons auf und macht ihn zum Vorbild für eine »erkleckliche Zahl von Autorinnen«. Kunstphilosophisch anregend und weiterführend ist letztlich erst Platons späte Konzeption der dynamischen Eroslehre. In der Vision eines dynamischen Weltumbauprozesses, der mit autokinetischer und kybernetischer Kraft die sinnliche Welt in eine Welt der Formen und Zahlen, der Harmonie und Symmetrie, also in das Schöne, verwandelt, wobei das Muster dafür das unbedingte und selbst uneinholbare Gute bleibt, erschließt sich Platons Philosophie als eine gigantische Bildphilosophie. Dass sich bei Platon das Schöne im Sinn des Pythagoreismus als reine Harmonie und Symmetrie, als Zahl, vom Schönen des Materiellen in seiner Würde so grundlegend unterscheidet, ist ein philosophischer Hintergrund für vielfachen Streit um Natur und Kultur allgemein und um das Materielle und Geistige der Kunst im Speziellen. Das Schöne ist die Weise des Erscheinens des unzugänglich bleibenden Guten/ Einen. Das Schöne hat damit eine ontologische Bedeutung, ausgedrückt in mathematischen Kategorien der Harmonie und Symmetrie als Gestalt des perfekten (göttlichen) Kosmos. Das Schöne ist das Vorletzte, weil das Letzte (Gutes/Eines) sich wesenhaft entzieht. Zugleich macht deshalb das Schöne eine an ihr selbst unzugängliche Wahrheit kategorialisierbar. Durch den hohen Abstraktionsgehalt des Musters und den transzendentalen Begründungszusammenhang der obersten Ursache ist das Schema einer bloßen Mimesis durchbrochen. Dass es bei Platon demnach sehr wohl eine Würdigung des Bildes gibt, hat Oliver R. Scholz gut erkannt, der die Sachlage resümiert: »Nach Platon zeichnen sich also mindestens zwei Möglichkeiten ab, gute oder doch wenigstens tolerable Bilder hervorzubringen: die Orientierung an mathematischen Maßverhältnissen und Ordnungsprinzipien (Proportion, Symmetrie) und an unveränderlichen Kanones der Malerei, die, von göttlicher Herkunft, vom Staat kodifiziert werden sollten.« Zu ergänzen wäre allenfalls, dass beide Möglichkeiten in ein und demselben Ursprung wurzeln, denn Maßverhältnisse sind letztlich ein göttliches Geschäft. Mit dieser Konstruktion schenkte Platon der Kunstphilosophie einen Prototyp für die Darstellung des Undarstellbaren und beschreibt das geschickliche Erscheinen des Nicht-Sagbaren in einem Konzept der Geometrisierung. Besonders wirkmächtig war dies in der islamischen Kunst, die im Neuplatonismus eine als Lichtmystik buchstabierte dynamische Konzeption kennenlernte, um einen jeder Verkörperung

361

Griechenland

sich entziehenden undarstellbaren Gott in Form geometrischer Dekorsysteme darstellbar zu machen. Gleichzeitig dazu tobte der Streit um das christliche Bild in Byzanz in einem ähnlichen philosophischen Rahmen. Aber dieses prototypische Muster blieb darüber hinaus bis in die Kunst des 20. Jh.s und seiner Darstellung des Undarstellbaren maßgebend. Dieses nachhaltige Vermächtnis für Kunst und Architektur ist zugleich ein Impuls für die technische Umsetzung des »Buches der Natur« in die Zahl. Auch Wissenschaft und Technik ist nichts anderes als das Erzeugen eines »Bildes« der Natur, sogar eines mit der Dominanz der Zahl. Mehrfach gebraucht Platon die Metapher von Kosmos und Welt als Bild (eikon) »von etwas«. Man könnte pointiert von der Geburt der Technik aus dem Geiste der (platonischen) Bildphilosophie sprechen und noch in Hegel ein ebenso kongeniales wie aktuelles Umsetzen dieses Programms finden. Es sei an dieser Stelle noch ein Hinweis auf ein vordergründig medienphilosophisches Thema nachgetragen. Es ist die Kritik Platons an der Schriftlichkeit im Dialog Phaidros. Vordergründig deshalb, weil diese kritische Sicht der Schrift durchaus im Kontext der dynamischen Seinsauffassung Platons zu lesen ist. Platon kritisiert an der Schriftlichkeit, wie sie die Sophisten mit ihren geschriebenen Reden – gängige Praxis im Athen des 4. Jh.s – vertraten, ihre Starrheit und Schablonenhaftigkeit. Schrift und Malerei sind in diesem Sinne in der Begründung ihrer negativen Einschätzung durchaus vergleichbar. Insofern ist Eric A. Havelocks berühmte Kommentierung von Platons philosophischem Anliegen gewagt. Havelock deutete dieses als einen Kulturkampf Platons sowohl gegen die Sophisten als auch gegen das narrativ-mythische Konzept der Oralität zugunsten eines philosophisch-literalen Konzepts des vernünftig und moralisch handelnden Menschen: »[…] Plato attacks the very form and substance of the poetised statement, […].« Die Eliminierung des Poetischen »marks the introduction of the university system into the west.« Ob man einen dritten Weg herauslösen mag, indem Platon gegen die Formelhaftigkeit der Schrift, wie sie von den Sophisten auch als Vorlage für ihre Reden benützt wurde, die lebendige dialogische Rede stellte, die wie »ein lebendiges Wesen« in Rede und Gegenrede zur Geburt der Wahrheit beitrage, sei dahingestellt. Die im Phaidros vorgetragene Schriftkritik gilt »in der medientheoretischen Literatur als der historisch älteste medienphilosophische Text und gewissermaßen als Inauguration und Grundtext aller Medienkritik.« Man kann ihn auch unmittelbar vom Kontext der Kunst her fruchtbar machen. Hans Belting machte auf diesen Zusammenhang aufmerksam. Die negative Beurteilung einer Darstellung von etwas Lebendigem (Malerei heißt zoographia/das Schreiben von etwas Lebendigem) im toten Medium von Schrift und Bild nimmt nämlich ein analoges Verdikt in der islamischen Kunst vorweg. Dort werden Bilder als Fälschungen und als Plagiat des Schöpfungswerks angesehen. Allerdings ging der Islam einen ähnlichen Weg wie die jüdische Bibel. Während das Bild abgewertet und als Götzendienst gebrandmarkt wurde, erlebte die (bilderlose Buchstaben)Schrift eine Aufwertung.

V.3.3.3. V.8.3.f. IX.5.2.1.

Platon, Tim. 29a,e, 30b, 92c

Braun 2014 Platon, Phaidr. 274b–277a

Havelock 1963, 5/15

Platon, Phaidr. 164c

Margreiter 2007, 102

Belting 2008, 78f

II.3.2.4.

362

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.4.3.3. Aristoteles Die Mehrheit der Forscherinnen sieht in der Philosophie des Aristoteles das anschlussfähigste Paradigma für Kunstphilosophie und Ästhetik. Dass diese Meinung im vorliegenden Werk in dieser Ausschließlichkeit nicht geteilt wird, dürfte inzwischen klar geworden sein. Trotz der Priorität, die hier dem Platonismus als fruchtbarem Paradigma jeder Kunstphilosophie eingeräumt wird, ist unbestritten, dass Aristoteles einen außerordentlich wichtigen Beitrag zu den einschlägigen Themen beigesteuert hat, der nicht nur an dieser Stelle, sondern im gesamten Werk immer wieder gewürdigt wird.

2.4.3.3.1. Kontexte

156 Aristoteles auf einer griechischen ­Briefmarke

Flashar 2013, 40

Aristoteles wurde 384 in Stageira auf der Halbinsel Chalkidike geboren. Im Peloponnesischen Krieg stand Stageira auf der Seite Spartas, später konnte sich die Stadt eine weitgehende Unabhängigkeit bewahren. Als Aristoteles geboren wurde, gab es einen Bund der chalkidischen Städte mit den Makedonen, die sich um eine Annäherung an die Griechen bemühten. Beide Elternteile des Aristoteles stammten aus Arztfamilien, der Vater war sogar Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas III. am etwa 100 Kilometer entfernten Hof von Pella. Nach dem frühen Tod der Eltern schickte der Vormund Aristoteles in der Mitte der Sechzigerjahre an die Akademie Platons nach Athen, wo er zwei Jahrzehnte bleiben sollte. In dieser Zeit begann Aristoteles mit dem Verfassen von Schriften, darunter – angeregt durch Platon – Dialoge. Es werden etwa 19 Dialoge berichtet, von denen keiner mehr erhalten ist. Angeblich waren Aristoteles’ Dialoge nicht von jener literarischen Qualität, die Platons Schriften auszeichnen. Das lag schon daran, dass Aristoteles in den Dialogen selbst als Gesprächspartner auftrat, was fiktionale Konstruktionen naturgemäß erschwerte. Man kann aber auch davon ausgehen, dass sich Aristoteles in dieser Hinsicht ganz bewusst nicht mit Platon messen wollte. In einem seiner Dialoge, der erst nach dem Verlassen von Athen entstanden sein dürfte, soll Aristoteles einen bemerkenswerten Ausblick eröffnet haben. Er ließ demnach die Philosophiegeschichte nicht (wie in seiner Metaphysik) mit Thales von Milet beginnen, sondern verwies weit darüber hinaus auf den Alten Orient, auf die persischen Magier und die orphischen Schriften des frühen Griechentums. Nach dem Tod Platons, der sein Erbe einschließlich der Leitung der Akademie dem bereits über sechzigjährigen Neffen Speusipp vermachte, ging Aristoteles nach einem dreijährigen Aufenthalt in Assos zurück nach Stageira, von wo ihn um 343 Philipp II. als Erzieher seines damals dreizehnjährigen Sohnes Alexander an den Hof nach Pella berief. Diese Konstellation, der große griechische Philosoph als Erzieher des makedonischen Welteroberers, bot naturgemäß Stoff für Mythenproduktion. Was wirklich Inhalt des Lehrangebots war, inwieweit Aristoteles aus Alexander »einen Griechen geformt hat«, welchen staatspolitischen Einfluss der Philosoph auf Alexander hatte, entzieht sich jedoch unserer Kenntnis. Möglich ist, dass Aristoteles, der in Stageira zusammen mit seinem engen Freund Theophrast geradezu ein naturwissenschaftli-

363

Griechenland

ches Forschungsinstitut unterhielt, Alexander zu Forschungstätigkeit auf seinen Eroberungszügen animierte. Als Alexander als Siebzehnjähriger in die Regierungsgeschäfte einstieg, zog es Aristoteles in die Metropole Athen zurück, wo er aber nicht mehr in die Akademie, die inzwischen Xenokrates leitete, zurückkehrte, sondern eine eigene Schule, das Lykeion (später Peripatos genannt), gründete. Sie blühte vor allem unter seinem Nachfolger Theophrast, während die Stimmungslage des Aristoteles angesichts der gewaltigen Umwälzungen in Athen auch schon als resignativ bezeichnet wurde. Die Anlage wurde in jüngerer Vergangenheit ausgegraben und es fällt ihre große Ähnlichkeit mit der Akademie ins Auge. Aristoteles schien für die Gestaltung der Schule viel Unterstützung erhalten zu haben. Trotzdem war das politische Klima fragil und die antimakedonische Stimmungsmache nahm wieder zu, was den Philosophen 323 zu einer Übersiedlung in das Haus seiner Mutter nach Chalkis auf Euböa veranlasste, wo er ein Jahr später starb. Die erhaltenen Schriften des Aristoteles sind von ihm selbst verfasste Lehrschriften für den internen Gebrauch, meist ohne jede stilistische Ambition. Nur wenige Schriften (z.B. De anima) wurden ausdrücklich für eine Publikation redigiert. Der Nachlass des Aristoteles kam auf verschlungenen Wegen zu uns. Nach seinem Tod blieben die Papyrusrollen zunächst in der Schule. Den gesamten Nachlass übergab Theophrast schließlich dem Aristotelesschüler Neleus, der die Schriften in die Stadt Skepsis brachte und sie im Keller seines Hauses deponierte. In Athen kursierten nur einige Mit- und Abschriften, ohne dass man genau wüsste, um welche es sich handelte. Das Œuvre wurde weiter vererbt, ohne dass sich jemand der Erben dafür wirklich interessierte. Nach einer (von Hellmut Flashar für historisch plausibel gehaltenen) legendenhaften Überlieferung kaufte der Politiker und Büchersammler Apellikon aus Teos im 1. Jh.a die Sammlung und transportierte sie nach Athen, wo sie wiederum bei der Eroberung durch Sulla 86a aufgespürt und nach Rom gebracht wurde. In Rom entstand, auch unter Einbeziehung vereinzelter anderer kursierender Schriften und Abschriften, um 40a die erste Ausgabe der Werke des Aristoteles unter der Redaktion des Andronikos aus Rhodos. Sie bildete die Grundlage für eine außerordentlich reiche Kommentierung des Œuvres. Einer der wichtigsten Kommentatoren war der in Athen wirkende Alexander von Aphrodisias. Bereits sehr früh erfuhr das aristotelische Œuvre – der platonisierenden Leitkultur durch eine starke Akademie geschuldet – eine platonisierende Kommentierung. Viele Neuplatoniker, unter ihnen am bekanntesten Porphyrios, bemühten sich um eine vermeintliche Harmonisierung von Platon und Aristoteles. Im Westen verloren sich die Spuren des Werks weitgehend. Warum das so war, ist unklar und entzieht sich Rekonstruktionsversuchen. Jedoch hatten die arabischen Gelehrten Zugang zu den Schriften – ab etwa 700 gab es Übersetzungen ins Arabische –, sodass Aristoteles in ihren Bibliotheken in Spanien gleichsam wiederentdeckt und ins Lateinische übertragen wurde. Weite Passagen unterlagen dabei einer platonisierenden Kommentierung. Kursierten anfangs nur vereinzelt Schriften, darunter

Düring 1966, 16

Flashar 2013, 64f

364

Die antike Welt – Griechenland und Rom

V.6.1./V.7.1. VI.2.0.

Eco 1980

Teile des Organon und der Ethik sowie Schriften zur Logik, war Aristoteles ab der Mitte des 12. Jh.s in der westlichen Philosophie zur Gänze bekannt und löste einen Paradigmenwechsel in Kunst und Theologie aus. Die erste gedruckte Ausgabe der Werke (Aldina) wurde um 1495 im Haus des Aldus Manutius in Venedig erstellt. Im umfangreichen Œuvre finden sich auch kunstphilosophische Werke. Die Titel ranken sich um Dichtung und Musik. Die einschlägigen Themen werden in der Poetik, der Rhetorik sowie im 8. Buch der Politik, wo es um die musische Erziehung geht, behandelt. Der nur teilweise erhaltenen Poetik kommt der Rang zu, das älteste Werk zu sein, das sich ausdrücklich mit einem Thema der Ästhetik beschäftigt. Der zweite Teil der Schrift, wo es auch um die Komödie ging, war im Mittelalter nur in einem Exemplar überliefert, das 1327 beim Brand in einer Cluniazenser-Abtei in Italien verloren ging. Umberto Eco machte aus dieser Geschichte einen Bestseller-Roman. Gegenüber Literatur und Musik fanden die bildenden Künste im aristotelischen Werk nur wenig Widerhall. Allerdings formulierte Aristoteles ein Reservoir von Begriffen, welche in der ästhetischen Debatte über alle Genres hinweg Standard geworden sind. Darüber hinaus parallelisierte er ausdrücklich aus der Literatur gewonnene Einsichten mit solchen in der bildenden Kunst. Schließlich ließe sich die Philosophie des Aristoteles als sinnliche Aisthesis rekonstruieren und neben der virtuellen Bildvision Platons als zweites wesentliches Vermächtnis der Antike reformulieren.

2.4.3.3.2. Die philosophische Position des Aristoteles

Aristoteles, Met. VI, 1026a das Göttliche

Oehler 1984, 7

Die metaphysische Konzeption des Aristoteles stellt die Vorstellungen Platons, wiewohl an ihnen orientiert, auf den Kopf. Aristoteles’ erste Wirklichkeit ist das Reale und nicht die Idee und sie ist schon gar nicht jenes von einer Weltseelekonzeption getragene dynamische und immanente Vermittlungsgeflecht, das Platons letzte Wirklichkeitskonzeption ausmachte. Dies hat Aristoteles insbesondere in seinem Werk De anima, aber auch im 12., 13. und 14. Buch der Metaphysik zurückgewiesen. Der Antrieb für solches Tun auf einem im 12. Buch der Metaphysik (Buch Lamda) von Aristoteles selbst an anderer Stelle »Theologie« (theologike) genannten Gebiet mag nicht minder im Interesse einer Sicherung des Göttlichen zu suchen gewesen sein wie bei Platon. Aber Aristoteles bilanzierte in der von Platon konstruierten intimen Vermittlung zwischen dem Göttlichen und Menschlichen nicht einen Gewinn, sondern einen Verlust des Göttlichen in einem Mensch und Göttliches übergreifenden Geflecht. Daher trennte der Stagirite die Bereiche des Göttlichen und der Welt und stattete das Göttliche mit Seiendheit (ousia gegen Platons »jenseits jeder Seiendheit«) und Geist (nous) aus. Im 12. Buch der Metaphysik beschrieb er diesen Gott als Sichselbst-Denken (noesis noeseos) und als konkrete vollendete Aktualität. Es sind schon bemühte philosophische Konstruktionen nötig, um dieses Sich-Selbst-Denken als Reflexionsakt, der keine Entzweiung im Denkakt anzeigen darf (was Plotin kritisch gegen Aristoteles einwandte), zu rekonstruieren. Darüber, also über die »logische[n] Struktur der Selbstbeziehung, in der sich das Denken des Ersten Unbewegten Bewegers vollzieht«, gibt es eine angeregte Diskussion in der Philosophie.

365

Griechenland

Das Göttliche war für Aristoteles zudem, wie er geradezu hymnisch versichert, ein erstes unbewegtes Bewegendes. Auch diese Bestimmung diente dazu, den Dynamismus des Guten/Einen bei Platon, also die Selbstbewegung, zu konterkarieren. Die Konzeption Aristoteles’ befreite das Göttliche aus jeder Notwendigkeit, seine Aktualität aus einem emanativen Prozess gewinnen zu müssen, wie dies später der Neuplatonismus formulierte. Den Bereich der Welt konstituieren in erster Linie die einzelnen Dinge, von denen jedes aus Materie und Form zusammengesetzt ist. Wenn man in der Form Platons Ideen wiedererkennen will, dann existieren diese in der aristotelischen Rezeption nicht mehr unabhängig von der Materie, sondern bilden nur in einer Einheit mit ihr zusammen einen Gegenstand. Aristoteles nobilitierte die Gegenstands- und Werdewelt und unterstrich als Erkenntnisform die Wertschätzung der Sinneserfahrung. Zur Konstitution der materiellen Welt bleibt selbstverständlich jede immanente Selbstentwicklung ausgeschlossen. Gegen eine solche Figur führte er die Ursachenlehre ein. Aristoteles positionierte vier externe Ursachen: Stoff-, Form-, Wirk- und Zielursache. Die Ursachen signalisieren eine heteronome Autorität für die Bildung der Gegenstände. Dies gegenüber Platons Immanenz philosophisch plausibel zu machen, erforderte keine geringe Mühe. Von Seiten dialektischer Philosophen wurde die Ursachenlehre nie akzeptiert, wie stellvertretend ein typischer Einspruch Hegels zeigt: »Eine falsche Identität ist das Kausalverhältnis […] diesem liegt die absolute Entgegensetzung zum Grunde. In ihm bestehen beide Entgegengesetzte, aber in verschiedenem Rang; die Vereinigung ist gewaltsam, das eine bekommt das andere unter sich; das eine herrscht, das andere wird botmäßig.« Ein besonders scharfer Akzent gegen jede Dialektisierung ist die von Aristoteles postulierte exakte Bestimmbarkeit jedes Gegenstands durch zehn Kategorien. Jedes einzelne Seiende ist durch Größe, Gewicht, Lage in Zeit und Raum, Relation usw. exakt bestimmt. Aristoteles setzte mit solcher Sichtweise einen pointierten Gegenentwurf zur Position Platons. Dieser Positionswechsel war mit Sicherheit von den zeitgenössischen Debatten der Sophisten, aber auch von jenen Kreisen, die in dem Kyniker Diogenes von Sinope einen originellen, publikumswirksamen Aktionisten gegen die Abstraktion der Lehre der Platonischen Akademie sahen, beeinflusst. Das Bekenntnis des Aristoteles zur Arretierung eines konkreten Diesesda (tode-ti), wie er selbst es nannte, irritiert nicht zuletzt angesichts der auch experimentell glänzend bestätigten Theorien der heutigen Naturwissenschaften im Hinblick auf die Mikrostruktur der Natur. Diese Sicht steht jedenfalls einer dialektischen Struktur näher als der aristotelischen. Daran lassen die philosophisch interessierten Physiker auch keinen Zweifel aufkommen. Insofern sollte man auch die verbreitete Meinung auf den Prüfstand stellen, die Aristoteles die Entwicklung der europäischen Wissenschaft gutschreibt. Die logischen Größen (Art, Genus, Individuum), deren Terminologie Aristoteles ausgearbeitet hat, bleiben – angesichts der hohen Bewertung des Realen nicht weiter verwunderlich – auf das reale Einzelne zurückgebunden. Die Motivation für eine logisch-begriffliche Abstraktion haben dann auch vielmehr Platon und der

Aristoteles, Met. XII, 1072b

IV.7.2.f. Materie und Form

Ebd., 980a Ursachenlehre

Hegel 1801, 48 Kategorien

366

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Blumenberg 1957, 71

Platonismus gegeben als Aristoteles. Es war die im Schoße des Platonismus erfolgte Aufforderung nach Umwandlung der Natur in die Zahl – dargestellt im Bild des Demiurgen –, was die Naturwissenschaft inspiriert hat. Richtig ist freilich, dass dieser Motivation erst die Wende des Aristoteles hin zu einer empirischen Basis zum Erfolg verhalf. Die Schule des Aristoteles wurde eine Stätte der Spezialwissenschaften. Die Beschäftigung mit dem Besonderen in einzelnen Disziplinen sowie die Bemühung um eine ausgeklügelte Systematik und Kommentierung bildeten sowohl eine Grundlage für die mimetische Leistung der Kunst als auch eine Brücke in den Hellenismus. Damit bildete diese Wende zum Empirischen auch die Grundlage für Kunstphilosophie und Ästhetik bei Aristoteles und sie determinierte die Behandlung dieser Fragen. Das führte zu (gegenüber Platon) »modernen« Zügen wie dem unverkrampften Zugang zur zeitgenössischen Kunst samt der Einschätzung der Künstler und der Behandlung der Emotionen im größeren Zusammenhang einer vor allem auf die Rezeption fokussierten Ästhetik. Vor diesem Hintergrund konnte Aristoteles der europäischen Kunstphilosophie eine Palette von definitorischen Bestimmungen mit auf den Weg geben, um deren Klärungen und Anwendungen man freilich bis heute ringt. Probleme bereitet der Kunstphilosophie vor allem, dass Aristoteles keine generativen Prozesse zulassen wollte. Im Sinne der oben beschriebenen theologischen Vorgabe blieb jede Bewegung an Substanz gebunden. Das »Werden«, vor allem im 9. Buch der Metaphysik beschrieben, ist eine Vollendung oder Verwirklichung eines in seiner Potenz bereits Gegebenen. Die Prozesse bleiben daher immer in ihrer eigenen Wesensform gefangen. In Abhebung von der dialektischen Produktivität des Prozesses bei Platon kann man mit Hans Blumenberg konstatieren, dass die Selbstgenügsamkeit des Absoluten (noesis noeseos) bei Aristoteles »ebenso wenig nach außen schöpferisch wie nach innen zeugerisch« ist.

2.4.3.3.3. Kunstphilosophie und Ästhetik Die Kunstphilosophie und Ästhetik des Aristoteles zu rekonstruieren erfordert deshalb einige Mühe, weil neben Fragmenten von verlorenen Werken (Aporemata Homerica und Über Dichter) nur die Poetik (die erste Hälfte) und die Rhetorik erhalten sind und weil andere Äußerungen aus verschiedenen Werken zusammengesucht werden müssen. Trotzdem gilt in der gängigen philosophischen Debatte aus Gründen einer tief verankerten Abneigung gegen das, was man meist sehr schematisch und wenig differenziert als Platonismus bezeichnet, Aristoteles als der wichtige Leuchtturm der Ästhetik und Kunstphilosophie. Vor dem philosophischen Bekenntnis zum Realen wird verständlich, dass Aristoteles sich der zeitgenössischen Kunst gegenüber, genauer: jenen Künstlern, deren Qualität außer Streit stand, offen zeigte. Er lobte die Dichtung eines Sophokles und Euripides, die Bildhauerei des Phidias und Polyklet, die Malerei Polygnots und des Zeuxis. Besonders die Letzgenannten waren wegen ihres perfekten Nachahmungsillusionismus auf die erbitterte Ablehnung durch Platon gestoßen.

367

Griechenland

Aristoteles rehabilitierte nicht nur die erzählende, sondern auch die dramatische Dichtung, die mit Illusion und Emotion arbeitete. Die Lyrik hingegen spielte keine Rolle. Mögen die Mittel der Nachahmung in Kunst und Dichtung auch verschieden und auf andere Gegenstände bezogen sein, sind sich Dichter und Maler bei der Nachahmung doch ähnlich. Aristoteles dachte nach jener (von Horaz überlieferten) Losung, die Plutarch dem Chorlyriker und Dichter Simonides von Keos zuschrieb: ut pictura poesis (wie das Bild so auch das Gedicht). In der Poetik ging Aristoteles vor solchem Hintergrund anders vor als Platon. Es ist keine Rede von Inspiration und Enthusiasmos. Dafür stellt er die Kunst unter das generelle Schema der Nachahmung (mimesis). Die Nachahmung steht für Aristoteles am Beginn jeder Poetik, denn der Mensch sei ein Wesen, das nachahmt und das sich an der Nachahmung erfreut. Sogar hässliche Gegebenheiten können in der Nachahmung (nämlich durch ihre gelungene Gestaltung als Handlung im Theater oder als Bild) Vergnügen bereiten. Allein diese zentrale Stellung der Mimesis war für sich bereits ein Affront gegenüber Platon. Aristoteles spezifiziert zudem jene Bereiche, wo sich das Nachgeahmte vom Nachgeahmten unterscheiden kann: bei den Mitteln der Nachahmung, in den Gegenständen, die nachgeahmt werden, und in den verschiedenen Weisen der Nachahmung. Es ist denkbar, dass die Nachahmung schlechter ausfällt als das Original. Sie wird gleichsam zu einer Wirklichkeit mit eigenem Recht. Vor allem der Blick auf die Mimesis, die er sehr weit interpretierte und in ihr die Funktion einer inneren Läuterung und Reinigung (katharsis) sah, zeigt, wie nahe Aristoteles den Sophisten stand und auf die Wirkung der Dichtung abhob. Auf den ersten Blick traf sich diese Rezeptionsästhetik mit den Interessen der Rhetorik. Aristoteles war aber bemüht, die Rhetorik, deren hoher Stellenwert bei ihm wiederum ein Widerspruch zu Platons negativer Beurteilung war, von überspitzten sophistischen Relativierungen und Spielereien zu befreien und sie zu einer moralischen Anstalt zu machen. Nach einer Klassifizierung von Reden (Gerichts-, Rats-, Festrede) beschrieb Aristoteles die Strategien des guten Redens. Dazu gehören durchaus auch die Techniken der Emotionalisierung und des Überzeugens. Aber sie bleiben eingebettet in den auch für Dichter und Künstler geltenden Rahmen von Moral, Übung, Begabung und Regelkenntnisse. Die Liste der rhetorischen Qualitäten Richtigkeit, Klarheit, Schmuck und Angemessenheit blieb für die nachfolgende Stilgeschichte in Kunst und Architektur von Bedeutung. Besonders für derartige begriffliche Raster zeichnet sich die Kunstphilosophie des Aristoteles (ähnlich wie auch die übrigen Genres seiner Philosophie) aus. Als beschreibende Kennzeichen für die Kunst lassen sich bei Aristoteles aus verschiedenen Stellen folgende zusammenführen: Kunst besteht aus Stoff (griech. hyle/lat. materia), Wissen (griech. techne/lat. ars), weiters aus Geschick und Übung, sowie aus Begabung. An erster Stelle stand die Einordnung der Kunst in den Bereich der techne (eigentl. praktisches Können). Die Kunst gehörte damit auf die gleiche Ebene wie Medizin, Schiffbaukunst, Ökonomie. Im Mittelalter sprach man von ars, was eher ein auf Können basierendes Wissen meinte. Die Kunst als menschliches Wissen und als

Aristoteles, Poet. 1447a, 13ff

Kunst als techne und poiesis

368

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Aristoteles, Met. VII, 1032a

Aristoteles, Phys. II, 194a 21f

Blumenberg 1957, 72

Ebd., 73

Ebd.

Regelwerk stand im Gegensatz zu allem, was man mit göttlicher Inspiration umschreiben könnte. Platon wurde von Aristoteles auch in der Kunstphilosophie sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt. Vom Werden (genesis) in der Natur unterscheidet sich das Werden in der Kunst (techne). Kunst ist eine menschliche Tätigkeit, ein Herstellen (poiesis) mit künstlerischem und handwerklichem Anspruch. Handwerk war von dem, was später »schöne Künste« genannt wurde, noch nicht unterschieden. Allgemein gehört alles in die Kategorie Herstellen (poiesis), was nicht die Natur selbst hervorbringt: auch das Denken oder der Zufall. Alle kunstphilosophischen Theorien, die Aristoteles zu ihrem Leitstern machen – und das sind nicht wenige –, haben zumindest das eine Problem, dass Aristoteles keine genauere Bestimmung dessen anbietet, was er für Kunst und für ein Kunstwerk hält. Die wahrscheinlichste Version ist, dass alles, was nicht von der Natur erzeugt ist, poiesis ist und die techne-poiesis (neben der poiesis als Denken oder Zufall) Kunst – genauer gesagt: ein Kunst-Werk ist. Eine nähere Eingrenzung von Kunstwerken in der Klasse sämtlicher hier gemeinter Artefakte scheint indes schwer rekonstruierbar zu sein. Noch schwieriger ist eine aristotelische Vorlage angesichts der weitgehenden Verabschiedung des Werkbegriffs in der Gegenwartskunst. Inwieweit das aristotelische Begriffsreservoir für die Bestimmung von Kunst und Kunstwerk hilfreich ist, wird im Abschnitt X.3.5.3. eingehender zur Sprache kommen. Dass gegenwärtige Künstlerinnen in ihrem Kunstschaffen sowohl den Zufall zulassen wie dass sie geistige Kunst produzieren, ist unbestritten. Es mag einigermaßen müßig erscheinen, eine dazu passende philosophische Theorie bei Aristoteles finden zu wollen. Im Zweifel lässt sich Zufalls- und Concept Art letztlich als intendiert interpretieren und damit auf den Bereich der techne verweisen. In der Natur gibt es keine Kunst, wohl aber ist die Natur in der Ontologie des Aristoteles das Vorbild für jede menschliche Techne. Daher sagt er in der Physik, dass die Kunst/Techne die Natur nachahmt. Auch hier gilt, dass der Mensch das Seiende nicht produktiv übersteigen kann. »Die Natur wiederholt sich in ihrer Selbstproduktion ewig – was erlaubt, ihr ›creative force‹ zuzuschreiben?« fragte Hans Blumenberg in einer Kritik an Samuel H. Butcher, der in seinem 1907 erstmals erschienenen Buch über Aristoteles (Aristotle’s Theory of Poetry and Fine Art) mit einem evolutionären Naturbegriff im Hintergrund dem Philosophen eine solche creative power unterstellte. »Wenn Aristoteles sagt, es sei Sache des Künstlers, die Naturdinge nachzuahmen, wie sie sein sollen, so bedeutet das nicht den Hinweis auf irgendeine diesen Gegenständen transzendente Norm, sondern die ›Extrapolation‹ aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel, von der γένεσις auf ihr τέλος.« Blumenberg brachte Ähnlichkeit und Unterschied in den kunstphilosophischen Entwürfen von Platon und Aristoteles auf den Punkt: »Der Kern der aristotelischen Lehre von der τέχνη ist, daß dem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktion zugeschrieben werden kann.« Auch Platon stellte den werksetzenden Menschen unter Kuratel, aber in seiner Ontologie eröffnete er ihm zugleich ein verheißungsvolles Paradies des Umbaus dieser Welt, wenn er der »richtigen« Systemvernunft zu folgen bereit ist. Aristoteles schätzte zwar den werksetzenden Men-

369

Griechenland

schen in seiner Freiheit hoch, seine entwerfende Ambition blieb aber ontologisch eng begrenzt. Techne als eine Art Erkenntnis kann die Natur nie überspielen. Jedes techne on hat einen Seinsgrund im physei on. Techne und physis stehen nicht gegeneinander, sondern nebeneinander. Der Mensch vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr, nicht sein immanentes Sollen. Wie eng begrenzt ein solches kunstphilosophisches Konzept inhaltlich ist, zeigt ein Blick auf das gegenteilige Paradigma, wie es in der Ästhetik Hegels realisiert wurde. Nach ihr steht jedes Kunstprodukt deutlich über einem Naturprodukt, das den Durchgang durch den Geist nicht gemacht hat. Das lässt sich mit aristotelischen Kategorien nicht mehr auflösen. Ebenso an Grenzen kommt man mit dem aristotelischen Paradigma, um zu verstehen, warum die Kirchenväter des Mittelalters alles dämonisierten, was nicht ausdrücklich Gott (als erster Künstler) vorgemacht hat. Hintergrund dafür ist die vom späten Platon formulierte Einordnung des Künstlers in die »Systemvernunft« des autokinetischen demiurgischen Prozesses. Auch das Begriffsraster führt bis heute zu Diskussionen. Im Zusammenhang mit dem poiesis-Begriff schlug Otto Neumaier vor, Peri Poietikes statt mit dem üblichen Über die Dichtkunst (Poetik) angemessener mit Über das Schaffen (Poietik) zu übersetzen. Noch diffiziler ist der Umgang mit dem zentralen, die gesamte Geschichte der Kunstphilosophie durchziehenden Begriff der Mimesis. Ab dem 4. Jh.a war der Begriff in Literatur und Kunst geläufig. Er spielte bereits eine wichtige Rolle bei Platon und wurde dort von einer (in Platons Augen) negativen Sicht als Naturnachahmung in seiner Prozessphilosophie ontologisch nobilitiert. Bei Aristoteles wurde mimesis in der Physik als Nachahmung der Natur eingeführt, in der Poetik als Nachahmung der Praxis. Beim Mimesis-Konzept des Aristoteles ist es schwierig, einen schöpferischen Mehrwert über eine bloße Nachahmung hinaus festzustellen. Ein solcher ist jedoch für die Brauchbarkeit des Begriffs in der Ästhetik wichtig. Otto Neumaier plädiert (ähnlich wie Hellmut Flashar) daher für eine Übersetzung von mimesis mit Darstellung statt Nachahmung, um den Begriff vom Schema einer starren Naturnachahmung frei zu spielen. Denn folgte man einer simplen Auffassung von Nachahmung, geriete man in das Dilemma, »einem Knipsbild einen höheren künstlerischen Rang zuzuerkennen als einem photographischen Kunstwerk, weil es die Natur eher in einem ›realistischeren‹ Sinne ›nachahmt‹ als dieses.« Trotz dieses verständlichen Interesses an einer Aktualisierung des aristotelischen Mimesisverständnisses bleibt der Vorschlag im Semantischen stecken. Wenn Neumaier Mimesis als »Produktion einer symbolischen Welt« verstehen will, zeigt das, wie schwierig der Umweg über Aristoteles in solchem Kontext ist. Der späte, dynamische Platon bietet dafür einen wesentlich fruchtbareren Ausgang, ja im Demiurgen-Gleichnis ist genau eine solche Produktion einer Symbolwelt vorformuliert. Mimesis in der Poetik meint jedenfalls nicht die Abbildung von Naturgegebenheiten, sondern die Nachahmung von Handlungen, die sozusagen – vornehmlich in der Tragödie – auf die Bühne gebracht werden.

Boehm 1969, 41

VIII.5.3.2.1.f.

Blumenberg 1957, 75

Neumaier 1999, 198 Mimesis

Sörbom 1966

Neumaier 1999, 230f Flashar 2013, 157

Neumaier 1999, 233

Ebd., 235

370

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Handeln

Aristoteles, EthN. 1049a, 6

Aristoteles, Poet. 6, 1450a 25 Bien 1989, 1284

Aristoteles, Poet. 6, 1449b 36 Katharsis

Ebd., 1449b 24–27 Aristoteles, Pol. VIII, 1342a 15 Flashar 2013, 134

Jauß 1991, 166 V.3.3.1. Kermani 1999, 52f

Aristoteles, Poet. 14, 1453b 11

Ein anderer vielschichtiger Begriff ist das Handeln (praxis). Aristoteles unterschied – grob gesprochen – zwischen der Praxis als einem Handeln, das Selbstzweck ist und sein Ziel in sich hat, und der Poiesis als einem Schaffen, das etwas außerhalb seiner selbst (ein Werk) schafft. Vor allem in der Poetik treffen sich Praxis und Mimesis. Poetische Künste sind Nachahmungen von Handlungen und Charakteren. Die Tragödie erzählt nicht nur eine Handlung, sondern sie ahmt diese Handlung durch eine andere nach. »Die Tragödie ist dem Wesen nach darstellende Nachahmung einer einzigen, in sich geschlossenen und ganzen Handlung […].« Die hohe Diversifikation des Praxisbegriffs ermöglicht durchaus für eine Handlung verschiedene Bedeutungen. Das Gehen als immanente Handlung kann als »interesseloses« Spazierengehen selbstzweckhaft, im Sinne der Förderung der Gesundheit jedoch auch zweckhaft sein. Diese Handlungen öffnen sich einer ethischen Betrachtung, weil sie bei der Rezipientin Emotionen auslösen: »[…] als Folge ihrer Handlungen erfahren schließlich alle Menschen Glück oder Unglück.« In der Nachahmung von Handlungen steigert sich der moralische Aspekt bis hin zur Katharsis (Reinigung). Das Originelle an der Poetik des Aristoteles ist, dass sie durch die Wirkungsbeschreibung auf den Zuseher Mimesis mit Katharsis verbindet. Die Reinigung wird geradezu zu einem letzten Ziel und Zweck der Kunst, insbesondere der Tragödie. »Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen (ernsthaften) und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form der Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird.« An anderen Stellen ergänzt Aristoteles, dass es bei der Katharsis darum geht, Affekte loszuwerden – als »lustvolle Erleichterung des Gemüts« – und eine Verwandlung der Seele zu erreichen. Was genau man sich darunter vorzustellen habe, bleibt offen und ist Gegenstand von Diskussionen. Eine in der Politik für die Poetik angekündigte Klärung ist nicht erhalten und vielleicht nie geschrieben worden. Hans Robert Jauß sieht in der Katharsis einen »Genuß der durch Rede oder Dichtung erregten eigenen Affekte, der beim Zuhörer oder Zuschauer sowohl zur Umstimmung seiner Überzeugung wie zur Befreiung seines Gemüts führen kann.« Navid Kermani hat die Passgenauigkeit dieser Definition mit den emotionalen Ausbrüchen bei der Rezitation des Koran, die zur kulturellen Erinnerung des Islam gehören, getestet. Den Ausdruck Katharsis gab es in der zeitgenössischen Medizin als Bezeichnung der Wirkung von Abführ- und Brechmitteln. Einige Autorinnen, vor allem des 19. Jh.s, wollten diese Bedeutung auch beibehalten und die kathartische Wirkung der Tragödie als Befreiung von einem pathologischen Zustand ohne große moralische Ambition deuten (Bernays 1880; ihm folgten Schadewaldt und Gomperz). Auch Hellmut Flashar bleibt dieser Deutung – allerdings verschoben auf eine psychische Ebene – treu und liest Katharsis als Reinigung von Affekten. Er verweist aber auch auf die sich in der Poetik nahelegende Deutung, dass sich dort die Erleichterung in

371

Griechenland

der Einsicht einstellt, dass die »mitempfundene Bedrohung keine reale, sondern eine gespielte ist.« Nach einer Bemerkung im Tractatus Coislinianus, ein Traktat unbekannter, aber wohl später Herkunft, der eine Theorie der Komödie mit Bezug zum verlorenen Teil der aristotelischen Poetik entwarf, wird eine solche Katharsis auch mit der Komödie und dem schallenden Gelächter ermöglicht. Möglich erscheint, dass die Verbindung des Mimesis- und Kathasisbegriffs einer Veränderung der alten Rituale von Mysterienkulten entsprang. Dort fand sich eine symbolisierte Nachahmung ebenso wie eine Einheit von Ort, Handlung und – besonders wichtig – eine kathartische Wirkung. Nach orphischen und pythagoreischen Quellen werden die Reinigung von Gefühlen und eine damit verbundene Veränderung der Seele durch bestimmte Tonarten erreicht. Unklar bleibt zudem, ob Aristoteles die Tragödie mit einer solchen Wirkung ausgezeichnet wissen wollte oder ob er bloß die aus seiner Sicht spezielle Wirkung der Tragödie beschrieben hat. Die Ästhetik bei Aristoteles ist ein Abbild seiner Ontologie. Ein in dieser Hinsicht besonders treffendes Beispiel ist die Bildhauerei, auf die Aristoteles ausdrücklich zur Erklärung seines Materie-Form-Schemas und seiner Ursachenlehre verweist. Getreu der Trennung von zu gestaltender potentieller Anlage (Materialursache) und der Autorität einer gestaltenden Idee (Form- und Wirkursache) legt sich eine Sicht der Bildhauerei nahe, wo das Form gewährende Ideenbild des Künstlers dem toten Stoff gegenübergestellt und der Künstler zum Formgeber und Gestalter wird. Demnach ahmen die Künstler die Natur nicht einfach nach, sondern machen das Typische des Realen zum Maßstab. Der Künstler kann die Natur dann schöner und hässlicher darstellen. Dies ist ein Vorgang, der sich zudem noch unter dem Aspekt des Gendering lesen ließe: Die materia als weibliches Element unterwirft sich dem Form verleihenden Männlichen. Ein solcher Zugang, mit dem viele Jahrhunderte operiert wurde, widerspricht freilich dem Anliegen moderner Künstlerinnen in mehrfacher Hinsicht. Grundsätzlich geht es in der modernen Bildhauerei dort, wo überhaupt noch ein darstellendes Moment im Spiel ist, eher darum, dem Stoff gleichsam eine Unterstützung für ein jeweiliges Zu-Sich-Selbst-Kommen der im Steinblock bereits angelegten Form zu gewähren. Die im Kunstkonzept des Aristoteles vertretene klare Trennung des Form gebenden Künstlers und eines erzeugten Kunstgegenstandes versagt völlig bei einer Kunst, die einen dynamischen anagogischen Charakter aufweist oder wo ein Handeln als Aktion bzw. Performance im Zusammenhang irgendwelcher sozialer, politischer, ethischer Ziele zum Kunstwerk wird. Mit ihr ist auch schwierig zu hantieren, wenn der Kunst das Werk abhanden kommt. Deutlich produktiver erscheint Aristoteles für die Ästhetik einer modernen Sinneslehre, die sich aus der Verfangenheit der neuzeitlichen Subjektivität befreit, sich aber dennoch nicht dem Vorwurf eines naiven Realismus aussetzen will. Wolfgang Welsch hat ein solches subtiles Unterfangen versucht, indem er das Geistige im Sinn-

Flashar 2013, 166f

Tatarkiewicz 1979, 178f

Neumaier 1999, 300f Bildhauerei

X.3.5.3.

X.1.4.ff.

372

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Aristoteles, De an. III, 426b 7 Welsch 1987, 217

Ebd., 353ff Schönheit

Aristoteles, De an. III, 425a 27f

VII.6.3.2.

Neumaier 1999, 177f Block 1964

Aristoteles, Poet. 7, 1450b Aristoteles, Rhet. 1366a, 33f

lichen (im Sinne des he aisthesis ho logos) »aisthetisch« und nicht im Sinne eines platonisierenden ontologischen Apriorismus »reduktionistisch« versteht. In Verfolgung eines solchen Anliegens bemühte sich Welsch, den aristotelischen Gemeinsinn (sensus communis) von seiner Verengung als Sinnesorgan freizuspielen und ihn als Bestandteil einer aisthetischen Gesamtorganisation zu verstehen, die einzelne Sinnesvollzüge erst ermöglicht. Dieser Hinweis führt uns zu den Äußerungen Aristoteles’ zur Schönheit und hier könnte man für Aristoteles sogar den Begriff der Ästhetik in seiner modernen Bedeutung bemühen. Denn der Schönheitsbegriff hatte jetzt kaum mehr eine ontologische Funktion, sondern ruhte – das hat Wolfgang Welsch als Ausgangspunkt benützt – auf der Sinneswahrnehmung als einer wichtigen Grundlage der Ästhetik. Aristoteles unterschied zwischen Qualitäten, die von einem bestimmten Sinnesorgan (Farbe vom Auge) und solchen, die von allen Sinnesorganen gemeinsam wahrgenommen werden: Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt. Dafür gibt es eine gemeinsame Sinneswahrnehmung (koine aisthesis), die man im Lateinischen mit sensus communis übersetzt hat. Genauer entspricht dieser Gemeinsinn der Sinneswahrnehmung, bei der die Einzelsinne gewissermaßen individuelle Funktionen sind. Es ging also um eine Bündelung der Sinneserfahrung, die nun verschieden rezipiert worden ist. Der Ausdruck sensus communis spielte später bei Kant eine wichtige Rolle. Kant meinte damit, abweichend von der aristotelischen Vorlage, im Sinne der Aufklärung einen allen Menschen gemeinsamen Sinn, der es ermöglicht, ästhetische Urteile zu objektiven zu machen. Den Gemeinsinn im aristotelischen Verständnis kann man demnach als Bezeichnung für den Gesamtorganismus verstehen. Der Mensch als ganzer und nicht nur das Auge sieht eine Farbe. Auf dieser Grundlage einer Ästhetik der Aisthesis ist der Schönheitsbegriff in den Blick zu rücken. Schönheit setzt für Aristoteles bei Lebewesen und allen »zusammengesetzten Dingen« voraus, dass »die Teile wohl geordnet sind« und dass »das Ganze eine bestimmte, nicht zufällige Größe besitzt, denn die Schönheit besteht in Größe und Ordnung; darum kann weder ein ganz kleines Lebewesen schön sein – die Anschauung hört nämlich auf, wenn sie einer unwahrnehmbaren Zeit nahe kommt – noch ein ganz großes –, denn da vollzieht sich die Anschauung nicht auf einmal, sondern das Eine und Ganze entweicht dem Anschauenden aus der Anschauung, etwa wenn ein Lebewesen zehntausend Stadien groß wäre.« Schöne Dinge genügen der Ordnung (taxis), Größe (megethos) und der Proportioniertheit (symmetria). Daneben gilt als schön, was »um seiner selbst willen« Lob verdient und angenehm ist. Kunst steht schlicht und einfach auch für das Angenehme. Es gibt eine künstlerische Wahrheit, die sich von der ontologischen unterscheidet. Schön ist, was wertvoll und zugleich für uns auch angenehm ist. Ob daraus eine ausgefeilte Theorie der Schönheit gewonnen werden kann, mag dahingestellt bleiben. Seine Äußerungen waren jedenfalls nicht nur für die Ästhetik Thomas von Aquins und vieler von ihm abhängigen Philosophen des Mittelalters anregend, sondern sie markierten auch einige bemerkenswerte Weichenstellungen.

373

Griechenland

Man könnte in der Wohlordnung ein pythagoreisch-platonisches Erbe vermuten, das allerdings bereits durch die Vorgabe einer bestimmten Größe beschnitten wird, denn das heißt ja: passend für die sinnliche Wahrnehmung. Das »um seiner selbst willen« weist jedoch ganz in den Metaphysikbereich des Aristoteles mit der Eigenständigkeit materieller Dinge. Es ist angesichts der platonischen Bindung des Schönen an eine ontologische Funktion ein schon revolutionär zu nennender Schritt in Richtung des »interesselosen Wohlgefallens«, von dem viel später Kant sprach, zur Befreiung schöner Gegenstände von jedweder Instrumentalisierung. Schwieriger zu deuten ist die Einschränkung ästhetischer auf zusammengesetzte Gegenstände, etwas, was in der platonischen Tradition mit Verweis auf die Schönheit der einfachen Gegenstände stets kritisiert worden ist. Vielleicht kann man darin einen bewusst antiplatonischen Zungenschlag sehen. Für Aristoteles kann es ja nur zusammengesetzte Gegenstände geben. Ausgehend von einer rein metaphysischen Bedeutung des Schönen bei Platon könnte man bei Aristoteles von einem ersten, nach ihm wieder unterbrochenen Schritt in Richtung einer Ästhetisierung der Schönheit sprechen.

VII.6.3.2./X.2.5.

2.5. Hellenismus Den Hellenismus als Zeitraum vom Tod Alexanders des Großen 323 bis zum Beginn der römischen Zeit in Ägypten um 30a zu bezeichnen, war ursprünglich ein Vorschlag Johann Gustav Droysens. Die Eigenart dieses Epochenbegriffs – Synthese zahlreicher kultureller Identitäten, Denken in großen politischen und kulturellen Zusammenhängen, ethische und praktische Perspektiven – erhielt durch den Eroberungszug Alexanders Kontur. Der Begriff selbst ist allerdings älter und Droysens Fixierung wurde inzwischen relativiert. Reinhold Bichler hat den weiten Rahmen des heutigen Begriffsgebrauchs durch Sichtung der einschlägigen Äußerungen dazu abgesteckt. Eine nochmalige Weiterung hat der Begriff bei Carsten Colpe angenommen, der den spätantiken Kulturmix von Ägypten über Griechenland und Rom, einschließlich des von Alexander unterworfenen Ostens, zeitlich bis zum Islam, in den Blick rückt und den eher die Frage nach der Enthellenisierung umtreibt. Was es mit diesem globalen Kulturmix der damaligen Zeit auf sich hat, beschrieb Alexander Demandt treffend: »Von den Griechen übernahmen die Etrusker, Römer und Karthager im Westen, die Thraker, Skythen und Kelten im Norden, die Perser, Araber, Juden und Inder im Osten das Geldwesen, Errungenschaften der Technik und Stilelemente der Kunst. Nur die Ägypter hielten an ihrer Kultur fest. […] Und doch finden wir die Wesensmerkmale des Hellenismus nirgends so ausgeprägt wie gerade im ptolemäischen Ägypten […] neben der pharaonischen Tradition.« In der Tat ist die Ursache dafür, dass die antiken Metropolen rund um das Mittelmeer sich in der Anlage weitgehend gleichen, auf die Hellenisierung sämtlicher Gebiete zurückzuführen. Für unseren Zweck benennt der Begriff die Zeit der Ausbreitung der griechischen Kultur in den von Alexander unterworfenen Gebieten. Das umfasst dann auch die Befruchtung durch das Fremde, was einen großen Teil der römischen Geschichte bis in die Kaiserzeit – über den Termin der Eroberung Ägyptens durch die Römer

Bichler 1983

Colpe 2008

Demandt 2009, 382

374

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Papaioannou 1972, 212 Lauter 1986, 3

Demandt 2009, 403

hinaus, jedenfalls bis zur augusteischen Epoche – einschließt: »Denn die hellenistische Kunst, die im Römischen Reich und noch weit über seine Grenzen hinaus im Skythenlande, im Partherreich und bis nach Afghanistan vorherrschend war, hatte einen stark formalen Charakter angenommen, der dem Verständnis aller Rassen und aller Religionen zugänglich war.« Oder um es anders und ähnlich unscharf zu formulieren: »Im Grunde endet hellenistische Kultur dort, wo das Griechentum seine kulturelle Führungsrolle einbüßt.« Ich werde bei der Besprechung der Spätantike nochmals auf die Einschätzung des Hellenismus zurückkommen, der bereits von Gelehrten des 19. Jh.s als »moderne Zeit« charakterisiert worden ist. Was darunter gemeint ist, resümiert eine zusammenfassende Würdigung von Alexander Demandt: »Es entstand eine urbane Weltzivilisation, bestimmt durch Technik und Ökonomie, durch Mobilität und Individualismus, durch Mischung von Völkern und Kulturen. Das öffentliche Leben zeigt Modernität mit allen Licht- und Schattenseiten: Reichtum und Luxus auf der einen, Armut und Proletarisierung auf der anderen Seite, nebst häufigen sozialen Unruhen.«

2.5.1. Kontexte

Fox 2005, 253

Schlumberger 1969, 7 Alexander der Große

157 Alexandermosaik; MAN

Rostovtzeff 1941, 99

»Der Aufstieg Makedoniens bedeutete das Ende des klassischen Zeitalters – der griechischen Freiheit wurde ein Ende gesetzt, das Zentrum der Macht und die Verwaltung der Stadtstaaten übernahmen die Könige und ihre Höflinge.« Dieser prägnante Satz von Robin Lane Fox beschreibt den – auch politischen – Umbruch in der griechischen Kulturgeschichte zutreffend. Um griechische Geschichte handelt es sich immer noch, denn die Expansion war tatsächlich »militärisch und politisch das Werk Makedoniens, geistig aber eine Tat Griechenlands.« Diesem Aufstieg unter Philipp II. folgte das griechische Weltreich, das Philipps Sohn Alexander mit seinen nur 33 Lebensjahren eroberte. Philipp hatte die Voraussetzungen geschaffen, dass Alexander seine Armee von 120 000 Mann, die größte der Geschichte, bis an jene Grenzen Indiens führen konnte, die zugleich – so glaubten alle, auch sein Lehrer Aristoteles – die Grenzen der Welt bedeuteten. Er schlug 334 am Granikos, 333 bei Issos und vor allem 331 bei Gaugamela (heute Irak) Dareios III. vernichtend und zog unaufhaltsam nach Osten. Der Blick Alexanders reichte insofern weiter als jener vieler seiner Zeitgenossen, weil er mit Asien mehr verband als nur Persien. War der Feldzug ursprünglich dadurch motiviert, die Perser zu bestrafen und ihnen endgültig die Fähigkeit für weitere imperiale Ansprüche aus der Hand zu schlagen, hatte Alexander weiter gehende Absichten. »Alexander schuf ein griechisch-orientalisches Reich, und so gelang es ihm, einen Plan auszuführen, der für Jahrhunderte der Traum der Perserkönige gewesen war: den ganzen östlichen Teil der zivilisierten Mittelmeerwelt unter einer einzigen Herrschaft zu einen.«

375

Griechenland

Dass er um 325 umdrehen musste, geht denn auch auf die schwindende Unterstützung im eigenen Heer zurück, das solche imperiale Träume nicht teilte und sich zunehmend an der Entrücktheit des »Gottessohnes« stieß, der zuletzt die persische Proskynese einforderte. Dass Alexander anscheinend maßlos wurde, kann kaum verwundern, denn er saß auf dem Kosmosthron des Perserkönigs – unter dem Uraniskos, dem Himmelsgewölbe, wie Plutarch ausdrücklich festhielt. Die hellenistischen Könige thronten weiterhin in Himmelssälen und führten die altorientalische Herrschertradition fort. 323, im Alter von gerade einmal 33 Jahren, starb Alexander in Babylon, nach einem Gerücht, das dieses Ereignis zu einer in den zeitgenössischen Tragödien immer wieder dargestellten Hybris stilisierte, an den Folgen eines Trinkgelages. Vermutlich war die Malaria im Spiel. Nur über wenige historische Gestalten wurden so viele Biographien verfasst wie über Alexander. Seine Geschichte war beladen mit einem Wust von Legenden und Mythen, die sich bereits zu Lebzeiten bildeten, zu denen die Geschichte von seiner göttlichen Geburt (als Pharao wurde er immerhin als Sohn des Amun tituliert und diese Titulatur als Sohn des Zeus ins Griechische übersetzt) ebenso gehörte wie jene von seiner Himmelfahrt (dargestellt in zahlreichen mittelalterlichen Mosaiken und Fassaden-Skulpturen). Die Legendenbildung fand auch in arabischen und persischen Texten reichen Widerhall. Alexander wurde bei Nizami und Firdausi zu einem persischen Nationalhelden. Die Geschichte des Alexanderromans, also der in mehrfachen Fassungen überlieferten und weit verbreiteten antiken und mittelalterlichen Biographien, ist lang und verworren, aber seine Episoden fanden zu allen Zeiten in allen Kulturen Anklang. Alexander selbst suchte lange nach einem Dichter, der seine Taten in ein preisendes Epos gießen konnte, und nach Künstlern für die Porträts. Er war »der erste europäische Staatsmann, der seinen Nachruhm höchstselbst zu inszenieren versuchte.« Bei dieser Auswahl war er streng und gestattete die bildliche Darstellung nur dem Apelles, die bildhauerische dem Lysipp und jene in der Gravurtechnik dem Pyrgoteles – leider sind so gut wie alle Produkte dieser Bemühungen verloren. Allerdings wurde Alexanders Beschränkung nicht immer befolgt. Daher ist uns ein so köstliches Beispiel wie das 1831 in der Casa del Fauno in Pompeji gefundene (Ende des 2. Jh.s.a in situ entstandene oder aus einem Königspalast im Osten importierte?) Alexandermosaik (mit etwa 30 Steinen/cm2) wenigstens als Kopie eines Bildes (von Philoxenos aus Eretria Ende des 4. Jh.s?) erhalten geblieben. Meist wurde Ale­ xander als Gott dargestellt, in einer Kopie sehen wir ihn gar als thronenden Zeus. Alexander gilt als großer Städtegründer. Plutarch schrieb ihm siebzig Gründungen zu. Der antike König war immer auch ein Städtegründer, der sich damit der Ehre eines Gründungsheros versicherte. Heutige Historiker gehen von kaum mehr als einem Dutzend Gründungen aus, allerdings beauftragte der Feldherr viele Erneuerungen von eroberten Städten. Unter den Gründungen sticht zweifellos Alexan­drien hervor, das 331 unter Federführung des Architekten Deinokrates aus Rhodos entstand und mit der ersten geometrischen Hafenanlage seit dem Piräus

Plutarch, Alex. 37

V.3.4.2.4.

Demandt 2009, 2

Alexandrien

376

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Kolb 1984, 124f

Rostovtzeff 1941, 23

2.2.1. Schulz 2008, 296

durch Hippodamos (um 450) aufwartete. Deinokrates ist mit dem Vorschlag in Erinnerung geblieben, den Berg Athos in eine gigantische Alexander-Statue zu verwandeln. Ale­xander lehnte dankend ab, beauftragte ihn dafür mit dem Entwurf von Alexandrien. Relativ mühelos konnte Alexander in dem als Kornkammer wertvollen und als große alte Kultur von den Griechen verehrten Ägypten als »Befreier« auftreten. Er befahl die Revitalisierung der unter den Persern eingestellten Kulte in Karnak und Luxor und wurde in alter ägyptischer Manier als Pharao inthronisiert. Dies brachte Alexander, der nun offiziell als Sohn des Gottes Amun angesprochen wurde, einen enormen Prestigegewinn. Die Titulatur wurde von den Priestern des international hoch geachteten Orakels in der Oase Siwah bestätigt. Alexandrien sicherte nicht nur die Besitzung Ägypten ab, sondern war ein florierender Exporthafen für die reichen landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Landes. Daneben wurden Schmuck und Parfüms (deren Rohmaterialien aus dem Orient nach Alexandrien importiert wurden) hergestellt. Alexandrien wurde – von einem bunten Völkergemisch besiedelt – zur ersten Großstadt der griechischen Welt, die schließlich Athen auch als geistige Metropole ablöste. Diese kulturelle Blüte erhielt die Stadt freilich erst unter den Ptolemäern. Die Nachfolger Alexanders konnten dessen Riesenreich nicht zusammenhalten. Es zerfiel ebenso schnell, wie es entstanden war. Eine erste Aufteilung hielt nicht lange. Schließlich fielen in blutigen Wirren Syrien, Babylonien und die östlichen Gebiete bis zum Indus an Seleukos, Ägypten an Ptolemäus. Sowohl Ptolemäus als auch die Seleukiden übernahmen bereitwillig die religiösen Traditionen samt Königsideologie des Landes. Die kulturelle Geschlossenheit Ägyptens half mit, es zum »stärkste[n], reichste[n] und bestorganisierte[n] Staat der Zeit« zu machen. Daneben richtete sich Makedonien unter der Dynastie der Antigoniden als eigenständige Macht ein, die auch über Griechenland herrschte, den Poleis aber große Freiheiten gewährte. Um die Vorherrschaft in der Ägäis bzw. der Süd- und Westküste des Mittelmeeres, ohne deren Handelswege jedes Reich isoliert war, mussten die Antigoniden mit den lokalen Fürstentümern und mit den Seleukiden ringen. Über die prekären Verhältnisse in Griechenland aus der Spannung mit dem Makedonenreich und dem Antagonismus zwischen Partikularismus und Einheit wurde bereits oben berichtet. Die Makedonen waren zu »Nachlassverwaltern des Vorderen Orients« geworden. Diese sich schon aus politischen Umständen ergebende Vermischung der alten Kulturen führte zu jenem Bild, das wir Hellenismus nennen. Die Blüte der Kunst und Kultur des Hellenismus wurzelte in der kreativen Atmosphäre der Städte. Tatsächlich baute man in allen Diadochenreichen in einem Wettbewerb die Städte zu blühenden Metropolen aus, die Antigoniden ihre Residenz Pella, die Seleukiden die alten Residenzen des Ostens mit Susa, Babylon und dem neuen Antiochia an der Spitze. Die Ptolemäer blieben in dem von ihrem Gründer geadelten und strategisch hervorragend gelegenen Alexandrien. Alexandrien war das größte Zentrum der Kultur und Wissenschaft dieser Zeit.

377

Griechenland

Die Stadt bestach durch ihre säulengesäumten Prachtstraßen, die riesige Hafenanlage mit dem berühmten, von Sosikrates aus Knidos entworfenen Leuchtturm (297–283), dem Musen-Kultbezirk (Museion), den Alexander zur größten Forschungsstätte der griechisch-römischen Welt gemacht hatte, und einer gewaltigen Bibliothek mit 700 000 Schriftrollen. Der Astronom Aristarch aus Samos erkannte, dass die Erde um die Sonne kreiste, gewaltige Fortschritte machte man auch in der Medizin. Die Stadt war eine multikulturelle Veranstaltung mit praktisch allen in dieser Zeit bekannten Religionen. In solch kreativer Atmosphäre entstand um die Zeitenwende der Neuplatonismus. Um die Mitte des 3. Jh.s standen sich Philipp V. von Makedonien und der König des Seleukidenreichs, Antiochos III., gegenüber. Ihr Ehrgeiz wurde durch ein neues Faktum am politischen Horizont kanalisiert: Rom, das bisher dem östlichen Mediterran kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nicht nur der zunehmende Handel brachte Rom die strategischen Interessen dort zu Bewusstsein. Wolfgang Blösel bemerkt in seiner Geschichte Roms trocken, den intensiven Blick der Römer nach Osten »hatten sich ihre späteren ›Opfer‹ weitestgehend selbst zuzuschreiben: der Makedonenkönig Philipp V. durch sein offensives Vorgehen gegen die Römer gemäß dem Vertrag mit Hannibal von 215 und der Seleukidenkönig Antiochos III., der mit Philipp 203/2 einen Geheimvertrag zur Aufteilung des Ptolemäerreiches geschlossen hatte.« In den makedonisch-römischen Kriegen endete die Macht Philipps V. 146a wurde Makedonien römische Provinz. Nicht anders war es Antiochos III. ergangen, der in der Schlacht von Magnesia 189a besiegt wurde. Dem Seleukidenreich wurde durch zahleiche andere Vorgänge im Inneren und Äußeren (darunter das kräftige Aufbegehren von kleinen Reichen wie Judäa) zugesetzt, sodass es endgültig 64a von Pompeius dem Römischen Reich einverleibt wurde. Den Griechen hatte Rom 196a die Unabhängigkeit gewährt. Sie dauerte nicht lange. Als 168 im Dritten Makedonischen Krieg die wendigen römischen Legionäre bei Pydna 20 000 schwer bewegliche makedonische Phalanx-Kämpfer niedermetzelten, war die tolerante Politik gegenüber den Griechen schon wieder zu Ende. Griechenland wurde 145a römische Provinz. Pergamon gelangte durch das Erbe des verstorbenen Königs Attalos III. an Rom. Damit dürfte auch die hoch entwickelte Mosaikkunst nach Rom gelangt sein. Das ptolemäische Ägypten fiel, wie an anderer Stelle berichtet, 30a an Rom. Der Eintritt Roms in die Geschichte dieser Gegend beendete vordergründig die politische und kulturelle Einheit des Hellenismus. In der langen Sicht fand sich diese Einheit freilich im römischen Weltreich in verwandelter Form wieder. Wenn der Hellenismus an dieser Stelle der Überschrift »Griechenland« untergeordnet wurde, darf nicht übersehen werden, dass mit dem Hellenismus das Kapitel Griechenland endete und auf die römische Geschichte erweitert wurde. Doch blenden wir zurück an den Anfang der mit Hellenismus bezeichneten Zeit. Die Dynamik des hellenistischen Geistes dieser Jahre veränderte Griechenland für immer. Der Blick der Polis hatte sich geweitet. Er war weniger introspektiv,

IV.7.0.f.

Blösel 2015, 120

II.2.1.2.

378

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Neer 2013, 350

II.3.2.5.

Webster 1966, 94 religiöser ­Synkretismus

Transfer von Kunstgütern

3.3.f. 3.3.3.

sondern er war ein Blick über die ganze Welt geworden. In den großen Städten bewegten sich neben den Griechen Perser, Inder, Ägypter und viele Menschen weiterer Ethnien. »Griechisch zu sein, wurde mehr zu einer Geisteshaltung, einem Lebensstil, als einer Frage der ethnischen Abstammung.« Ebenso multikulturell klangen nun die kulturellen Erzählungen. Die geordnete Welt der Mythen und Götter verwandelte sich in eine Flut von Gottheiten aus allen Teilen der eroberten Kulturen. Die durch die Eroberungen angehäuften Reichtümer ließen einen gesteigerten Sinn für Luxus und Unterhaltung aufkommen. Die Architektur trug dem Rechnung, Kunstwerke wurden zur Handelsware und zu Sammlerstücken – beinahe könnte man das Gleiche über die Götter und Kulte sagen. Und es gab einen nostalgischen Blick zurück, eine Verehrung der alten Heldensagen Homers und der großen Zeit Athens. Vielleicht könnte man den Hellenismus als typisches Überbauphänomen bezeichnen, nämlich als Reflexion über einen Wandel, der das spekulative griechische Kosmosdenken verließ, ohne noch bei der pragmatischen Globalisierungspraxis Roms angelangt zu sein. Diese Reflexion begründete eine Epoche geistiger Vereinheitlichung der griechisch-mediterranen Welt. Der griechische Partikularismus, der sich in den Poleis durchaus weiterhin hielt, wurde doch an vielen Stellen durch einen neuen Universalismus durchbrochen. Die Gemeinsprache koinè löste die ursprünglichen Dialekte ab. Selbst in vielen jüdischen Gemeinden des Römischen Reichs, darunter im wohlhabenden und großen Ostia, sprach man griechisch. Die griechischsprachigen ägyptischen Juden in Alexandrien begannen auf Anordnung von Ptolemäus II., die Tora ins Griechische zu übertragen (Septuaginta). Mit einer Beschleunigung in Handel und Technik, der Vereinheitlichung der Wirtschaft und vielfältigen Kulturbegegnungen ging das alte Griechenland im römischen Weltreich auf. Athen konnte sich, nicht zuletzt als angesehene Studienstadt für Könige, Politiker und Philosophen, eine herausragende Stellung bewahren. Die politischen und kulturellen Brennpunkte des Hellenismus waren neben Athen, Rom, Alexandrien, Antiochien und Pergamon, das »Athen des Ostens«. Religionsgeschichtlich ist der Hellenismus durch einen religiösen Synkretismus gekennzeichnet, der auch in Rom fortgesetzt wurde. Die große Zahl orientalischer Götter mitsamt ihren Kulten wurde importiert und später von Rom übernommen. Es war bereits für Alexander selbstverständlich, die Götter der eroberten Reiche zu verehren. Darüber hinaus setzte er sich selbst in das jeweilige Pantheon. Die Kunst wurde in der Zeit des Hellenismus ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Neben Herrscherhäusern und Höfen mit ihrem großen Bedarf an Kunstwerken gab es viele Privatsammler. Insbesondere in Richtung Rom kam es zu einem groß angelegter Transfer von Kunstgütern. So wie Rom – zumindest dem ersten Anschein nach – die griechische Kultur nahtlos übernahm, führte es auch die Kunst der griechischen Spätzeit – nach dem Zerfall strenger und starrer Schematik – weiter. Der sich entwickelnde Kunstmarkt stimulierte das Kopieren. Eines der frühesten Beispiele dafür ist die Phidiasstatue der Athena Parthenos, die Attalos II. von Pergamon für seine königliche Bibliothek in kleinerem Maßstab kopieren ließ. Es

379

Griechenland

war Teil einer »neuen Freizeitbeschäftigung für Leute von hohem Rang: des Sammelns von Kunst.« Die Dichtung wurde zu einer gelehrten Dichtung und das Sammeln und Archivieren der wissenschaftlichen Prosa zu einer vorrangigen kulturpolitischen Aufgabe. Dichtungstheorien aus dem Hellenismus sind uns kaum bekannt. Dichtung und Rhetorik wurden vermischt und die Lehre von der Stilistik in den Vordergrund gestellt. Die zeitgenössischen Theorien dazu bezeichnete Hellmut Flashar als »kraftund saftlos«. Das gilt in ähnlicher Weise auch für kunsttheoretische Überlegungen, die als »sehr marginal« zu veranschlagen sind. Aus Angst vor Konkurrenz hatte Ptolemaios V. den Export von Papyrus von Ägypten nach Pergamon gestoppt, was zur Einführung des (aus Tierhäuten gefertigten) Pergaments durch König Eumenes II. führte. Pergamon repräsentierte den Gegenentwurf zu der auf freier Fläche großzügig angelegten Polis. Die Stadt, etwa 80 km nördlich des heutigen Izmir gelegen, war eine Bergfestung, gleichsam ein weiter entwickelter Akropolis-Typ, bei deren Ausstattung ebenfalls in die große Dimension gegangen wurde. Pergamon wurde zum Herrschaftssitz der sich von den Seleukiden ablösenden Attaliden und mit den Neugestaltungen unter Eumenes II. und seinem Nachfolger Attalos II. zu einem der bedeutendsten kulturellen Zentren der mediterranen Welt. Dieses »neue Athen« besaß den vielleicht großartigsten Burgberg der Antike mit Gymnasien (das Große Gymnasium nahm drei Terrassen ein), Bibliothek, Bädern, Tempeln, Demeterheiligtum (das wegen des chthonischen Charakters bis Eumenes außerhalb der Stadtmauern lag), Hera- und Athena-Tempel und dem um 180 (nach neueren Grabungsergebnissen erst ab 170) errichteten Zeus-Altar in Erinnerung an die erfolgreiche Abwehr keltischer Stämme (vermutlich Söldner im Dienste der Seleukiden). Der skulpturale Gigantenkampf auf dem 120 Meter langen Fries des seit dem 19. Jh. im Berliner Pergamon-Museum ausgestellten Altars symbolisierte den Sieg der Ordnung über das Chaos, beziehungsweise, noch weitergehend, eine »verschlüsselte Selbstdarstellung der historischen Rolle des Attalidengeschlechtes […], indem es die Barbaren besiegt und, die Griechen von diesen befreiend, zur Heimstätte von Kunst und Kultur wird.« Die kommunikative Wirkung der gesamten Anlage muss jedenfalls eindrucksvoll gewesen sein. »Diese monumentale Gestaltung eines umfangreichen Komplexes auf Terrassen angelegter Gebäude zu einem geschlossenen Ganzen ist das Neue an Pergamon. […] Wir haben es hier mit einer bewußten Landschaftsarchitektur großen Stils zu tun.« Eine solche war jedenfalls das kühne steile Theater an der Westseite des Hügels samt einem Dionysos-Tempel. Die Ästhetik des Hellenismus zeigte gegenüber dem starren konservativen Schema der Klassik Innovation und Kreativität. Der Zerfall jedes festen Regelwerks mag durch die große Zahl von Schulen, die in den Poleis aus dem Boden sprossen, einen günstigen Boden vorgefunden haben. Zwar pflegten viele Schulen einen regelrechten Kult, der sich in der Verehrung der Schulhäupter, aber auch in der Lebensweise der Schüler äußerte. Pyrrhon etwa wurde in Elis zum Oberpriester geweiht und erhielt ein Standbild auf dem dortigen Marktplatz. Aber die Auflösung der starren

Neer 2013, 370

Flashar 2013, 179 Hebert 1989, 165

Pergamon

Radt 1999, 79ff

Marek 2010, 312

Kolb 1984, 127 Ästhetik des ­Hellenismus

380

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Webster 1966, 173

Gigon Olof in PWG III, 258ff philosophische Schulen

Ferguson 2003, 323

Welles Bradford C. in PWG III, 536

IV.7.1.

Schemata schien nicht nur in der Ästhetik gegriffen, sondern auch Auswirkungen auf den religiösen Gehalt der Rituale gehabt zu haben. Thomas Webster zweifelt deshalb an der Religiosität der hellenistischen Kunst: »Dort, wo Kunstwerke in Tempeln geweiht wurden, sollten wir sie uns vielleicht mehr als Zuwachs für eine Kunstgalerie denn als Weihgaben […] vorstellen.« Dies würde auch den Verlust des religiösen Stiftungszwecks (nicht des religiösen Themas als solchem) der Kunst und ihre Hinwendung zum realistischen Abbild erklären. Für Olof Gigon besaß die griechische Religion ohnehin eine geringere Verbindlichkeit als die römische. Im Hellenismus sprossen eine Reihe von philosophischen Schulen aus dem Boden: Neben der unter Arkesilaos und Karneades von Kyrene dem Skeptizismus zuneigenden Akademie und dem aristotelischen Peripatos die Schule des Epikur mit einer materialistischen und sensualistischen Ausrichtung, die von Zenon von Kition gegründete Stoa, die stark moralistische Tendenzen verfolgte, und die Skeptiker, die Pyrrhon aus Elis folgten. Auch wenn diese Schulen in einem Wettbewerb standen, neigten sie zu einer »philosophischen koine«. Sie waren praxisbezogen, ethik­ orientiert, pluralistisch und Einzelproblemen zugewandt. Keineswegs waren die hellenistischen Schulen bloß Fortsetzung Platons oder gar des Sokrates, weil man diese nicht auf eine Philosophie der rechten Lebensführung und des »Verhalten[s] der Menschen im Zusammenleben mit anderen Menschen« reduzieren kann. Bisweilen wird die Grundgestimmtheit der hellenistischen Philosophie auch als resignativ bezeichnet, mehr darauf aus, in schlechten Verhältnissen ein möglichst gutes Leben zu führen als die Verhältnisse selbst zu ändern. Dieser antisystematische, ja oft theoriefeindliche Habitus – wie ihn besonders die Kyniker mit hohem moralischem Anspruch vertraten – unterminierte jede ontologische Überhöhung philosophischer Konzepte, damit auch jenes des Schönen. Die hellenistischen Schulen, soweit sie dem Materialismus zuneigten, entwickelten eine Art wissenschaftlicher Optik mit verschiedenen physikalistischen Theorien des Lichts, der Farben und der Wahrnehmung. Sie erreichten niemals den metaphysischen Anspruch der Prinzipienlehre eines Platon oder jener Lichtmystik, die im Neuplatonismus später so wirkmächtig vorgedacht wurde. Berühmt geworden sind Archimedes aus Syrakus oder der alexandrinische Astronom und Mathematiker Ptolemaios, der in einer Synthese verschiedener Schulmeinungen neben Astronomie auch Optik und Wahrnehmungstheorie betrieb. Im Ausgang des Hellenismus regten sich aus dem mittleren Platonismus heraus, der die skeptische Phase überwand, insbesondere im kulturellen Schmelztiegel Alexandrien idealistische und mystische Strebungen, die in den Neuplatonismus mündeten. Das wiederum war ein Rückgriff auf die Tradition Platons und mit hohen systematischen Ambitionen verbunden.

2.5.2. Die kunstphilosophischen Positionen der hellenistischen Schulen Die philosophischen Schulen der hellenistischen Zeit orientierten sich an der Lebenspraxis, ihre direkten Äußerungen zur Ästhetik sind vernachlässigbar. Es mag zulässig sein, aus diesem Faktum ein weitgehendes Desinteresse der Kunst und Ästhetik

381

Griechenland

gegenüber abzuleiten. Mit Kunst konnten die Philosophen dieser Bewegungen, die das in der Bevölkerung verbreitete Bedürfnis nach Sinnsuche mit Anleitungen zur Seelenruhe beantworteten, wenig anfangen. Am ehesten setzte man sich mit Literatur und Musik auseinander. Insofern gibt es kaum Quellen zur Behandlung ästhetischer Fragen aus der Zeit des Hellenismus. Zu den wenigen Unterlagen gehören die Olympische Rede, die der kynisch-stoische Philosoph und Rhetor Dion von Prusa (der wegen seiner Beredsamkeit Chrysostomos, Goldmund, genannt wurde) um 100p in Olympia gehalten hat und in der es um das Bild von Gott in bildender Kunst und Literatur ging, und die satirischen Werke des Lukian von Samosata, die auch eine Beschreibung von Kunst- und Architekturwerken beinhalten. Lukian entstammte einer hellenisierten syrischen Familie, machte anfangs eine Bildhauerlehre, um dann als Rhetor und Schriftsteller zu leben. Er polemisierte gegen Religion, Philosophie und vor allem gegen die seiner Meinung nach vorherrschende Dekadenz seiner Zeitgenossen und plädierte für einen vorphilosophischen Lebensstil und für die Einfachheit der Sprache. Trotz der grundsätzlichen Skepsis der hellenistischen Philosophen gegenüber der Kunst gab es zahlreiche Schriftsteller und Künstler, die Anhänger der verschiedenen Schulen waren. Zudem trugen die Schulen, in denen Sensualismus und Materialismus dominierten, zur Auflösung der Vorstellung objektiver Gültigkeitsnormen bei und machten Platz für die Rolle sinnlicher Wahrnehmung. Es war dies ein für die Kunst des Hellenismus allgemein und für jene Roms im Besonderen richtungsweisender Wandel, zumal die philosophischen Bewegungen im Hellenismus – anders als die elitären Philosophenveranstaltungen zur klassischen Zeit – eine breite Aufmerksamkeit erregten. In einer Zeit, die durch verbreitete Sinnsuche gekennzeichnet war, entsprachen sie einem »way of life«. Die rhetorisch gemeinte Frage von Peter Sloterdijk im Anschluss an Platons Inszenierung des Todes von Sokrates kann für die hellenistische Philosophie eindeutig bejaht werden: »Ist also Philosophie im wesentlichen eine Euthanatologie – ein Lehre vom schönen und gekonnten und beweiskräftigen Tod?« In der Bildhauerkunst tauchte das Bild des Weisen auf, des bärtigen Mannes in nachdenklicher Pose, von einem schematischen Mantel in seiner Introvertiertheit geschützt. Das Bild könnte exemplarisch für den Philosophen des Hellenismus stehen, der über das gute Leben und gute Sterben nachsinnt und der viele Funktionen erfüllte, die auch Religionen erfüllten, von denen es im Hellenismus eine große Zahl gab. Der Gründer der vom Skeptizismus in der Platonischen Akademie zu unterscheidenden pyrrhonischen Skeptikerbewegung, Pyrrhon von Elis, war ursprünglich selbst Maler. Er war beeinflusst vom Materialismus Demokrits, den er von dessen Schüler Anaxarch kennen lernte. Vermutlich hinterließ er keine Schriften. Sein Leben wurde von verschiedenen Autoren mit einer Unzahl von Anekdoten angereichert. Dass wir seine Lehre weitgehend rekonstruieren können, verdanken wir anderen wichtigen Vertretern wie Timon von Phleius, Änesidemos von Knossos, der den Pyrrhonismus in Alexandrien neu belebte (man spricht auch von Neopyrrhonismus),

Ferguson 2003, 320

Sloterdijk 1993, 173

2.6.3. IV.7.1. pyrrhonische Skeptiker­ bewegung

382

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Sextus Empiricus, Pyrr. Hyp. I, 4

Epikureismus

Blom 2010, 197

und vor allem dem Alexandriner Sextus Empiricus, ein Arzt des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, der unter anderem eine Kampfschrift gegen die Gelehrten und ihre Theorien (Adversus Mathematicos) verfasste und sich den Einzelwissenschaften zuwandte. Sextus fasste das Anliegen der Skepsis in einem Satz prägnant zusammen. Sie sei »die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und erdachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung [Epochè], danach zur Seelenruhe [Ataraxie] gelangen.« Die skeptische Argumentation versucht, zu jeder Meinung die entsprechende Gegenmeinung zu stellen, sodass die Entscheidung für eine bestimmte Ansicht unmöglich wird. Die daraus resultierende Urteilsenthaltung, Epochè, ist nicht bewusst gewählt, sondern eine Konsequenz, ebenso wie die sich daran anschließende Ataraxie (Seelenruhe). Es ist die Ruhe desjenigen, der nicht unter dem Druck leidet, einer bestimmten Überzeugung Nachachtung verschaffen zu müssen. Sie erhält einen ethischen Akzent, der dem (immer unbefriedigt bleibenden) Streben nach dem Guten und dem (immer misslingenden) Vermeiden des Übels überlegen bleibt. Der Skeptiker orientiert sich, um überhaupt das Leben führen zu können, das stets Handlungen und Entscheidungen einfordert, an der realen Erfahrung. Diese verlangt freilich nie eine radikale Infragestellung und Änderung. Deshalb verharrt der Skeptizismus äußerlich in der unauffälligen Kontinuität eines pragmatischen Lebens, wie es der Tradition und Gewohnheit entspricht. Das gilt auch für die Kunst. Der Skeptizismus richtet sich gegen jede sekundäre Urteilsbildung über Kunst und das Schöne. Das trifft insbesondere die großen systematischen Entwürfe, die kosmische Sphärenmusiktheorie der Pythagoreer ebenso wie die fiktionalen Gehalte der Kunst, vor allem der Dichtung und Musik. Auch erkenntnistheoretische oder ethische Zuschreibungen zu Musik und Dichtung fallen unter das skeptische Verdikt. Dass also Musik Quelle der Freude sei oder Menschen veredle, oder dass gewisse Tonarten gefährlich seien, sind Meinungen, die sich nicht aufrechterhalten lassen. Epikur aus Samos war der Gründer einer weiteren Schule. Er wurde von Platonikern und Demokriteern ausgebildet und hörte auch bei Pyrrhon. Die Gründung der straff organisierten und sich streng an dogmatische Regeln haltenden Schule geschah vermutlich um 306. Sein geschlossenes Lehrgebäude legte Epikur in einer katechismusartigen Sammlung (kyriai doxai) und in zahlreichen anderen Schriften nieder, in denen er sich auch zu Musik und Rhetorik äußerte. Erhalten geblieben sind uns lediglich drei Lehrbriefe. Die bekanntesten römischen Anhänger der Schule waren Vergil, Horaz und Lukrez. Letzterer hinterließ ein vermutlich von Cicero herausgegebenes, in Hexametern verfasstes Lehrgedicht De rerum natura von hoher literarischer Qualität. Es ist ein »materialistisches Manifest, aber auch ein großes, ekstatisches Gedicht, das die Schönheit der Natur und die Wunder der Welt preist, eine epische Reise in rollenden Hexametern, die dem Leser nicht nur die Natur von den kleinsten Partikeln bis zur Unendlichkeit des Universums aufschließt, sondern auch den menchlichen Lebenszyklus nachverfolgt: […].« Stephen Greenblatt rankt

383

Griechenland

um die Wiederentdeckung dieses Lehrgedichts die Geschichte der Renaissance. Als Poggio Bracciolini die Abschrift vermutlich in Fulda fand und den Text aus der Verbannung im Giftschrank des Klosters befreite, begann für Greenblatt die Renaissance mit ihrem säkularen Denken. Noch viel mehr war dieser Text des Deisten Lukrez, der von einem handfesten Materialismus grundiert war, für die Aufklärung des 17. und 18. Jh.s von Bedeutung. Er wurde ins Französische übersetzt und genoss dort hohe Verehrung. Auch der Epikureismus basierte auf einer sensualistischen und materialistischen Ontologie. Er legte weniger Wert als etwa die Stoa auf logische Ableitungen. Logik hielt man für überflüssig. Demgegenüber galt die Wahrhaftigkeit der Sinne. Die Schuld an Sinnestäuschungen gab man allein der Vernunft. Dieses Vertrauen in das durch die Sinne erfahrbare Reale setzte das Bild einer gleichförmigen, teleologiefreien Welt voraus, wie sie Leukipp und Demokrit vertraten. Ein daraus drohender Determinismus, auch ein Ziel der Geschichte, wurde schlichtweg bestritten. Nur durch plötzliche Abweichungen in den Bewegungen der Atome ließen sich Veränderungen in der Welt erklären. Auch in der Universalienfrage war die Position der Epikureer »modern«. Allgemeinbegriffe gibt es nicht isoliert, sondern nur in den Dingen. In der Ethik ging es darum, mit den unvermeidlichen Beeinträchtigungen fertig zu werden und nicht darum, diese selbst zu vermeiden. Die Ethik Epikurs kulminierte in einem Lustbegriff, der das Freisein von Unlust bedeutete, das als Seelenruhe (Ataraxie) das höchste Ziel des Lebens sei. Im Hintergrund kann bei Epikur eine Harmonievorstellung ausgemacht werden, nach der alle vitalen Kräfte in rechter Weise zusammenwirken müssen. Das Gefühl, das dieser Zustand hervorruft, ist die Lust. Damit ist das Mittel zur Lust letztlich die Tugend. Ihre Einhaltung – Cicero hat dem den Kanon der vier Kardinaltugenden zugrunde gelegt – sichert die Unlustfreiheit. In eigenartiger Dialektik sollte eine Übereinstimmung gelingen mit dem asketischen Ideal der Seelenruhe und Selbstgenügsamkeit, aber auch mit einem Leben im Verborgenen, wo einem nichts zur Gefahr werden kann, mit dem Ruf des Horaz, den Tag zu nützen, denn die Last der ungewissen Zukunft löse nur wieder Unlust aus. Obwohl jede Luststeigerung jenseits der angezielten Unlustvermeidung verpönt blieb, wurde diese vermeintliche Bevorzugung der Lust eine Quelle der ältesten Polemikfigur, die es gegen Epikur gab und die offenbar von Dissidenten der Schule schon zu Lebzeiten Epikurs in Umlauf gebracht wurde: der Vorwurf eines simplen Hedonismus. In der Renaissance führte namentlich die Wiederentdeckung des Werkes von Diogenes Laertius, Leben und Meinung berühmter Philosophen, zu einer Revision dieses Vorurteils und zur Verteidigung des Epikureismus etwa durch den Humanisten aus Cremona, Cosma Raimondi, in seiner Defensio Epicuri. Bekannt geworden ist die Antwort des Epikur auf die größten, weil unausweichlichen und radikal unverfügbaren Bedrohungen: die Furcht vor dem Tod und den strafenden Göttern. Der Tod sei kein Übel, weil er uns nichts angehe, da er keine Empfindung mehr sei und es auch kein Leben nach dem Tod gebe. Die Furcht vor den Göttern durch Opfer zu beseitigen sei illusorisch, weil sich nach Epikur die Götter nicht um die Welt kümmerten. Etliche der epikureischen Argumente haben

Greenblatt 2011 VI.3.0.

Horaz, Oden 1, 11

Ferguson 2003, 370 Althoff Gerd in: Fuhrer/ Erler 1999, 44

384

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ebd., 36f

Stoizismus

Bloch 1972, 149ff

später christliche Apologetiker aufgegriffen und sie gegen die heidnischen Götter ins Treffen geführt. In dieser Kultur des Selbst hatte die Kunst offenbar keinen Platz. Kunst bringt keine Lust mit sich, daher ist sie überflüssig, ja sie gaukle dem Menschen mitunter gar falsche Illusionen vor, die der Bedürfnisbefreiung im Wege stünden. Materialismus und Sensualismus standen auch dem geistig Schönen im Weg. Musik und Dichtung soll Epikur als Lärm abgetan haben und es scheint, als hätten die epikureischen Aufklärer, ähnlich wie die Skeptiker, Sorge, die Kunst könnte ein Hort des Mystizismus sein. Insbesondere die dichterischen Darstellungen der Unterwelt zogen den Zorn Epikurs auf sich. Auch er verlangte daher das Verschwinden der Dichter aus dem Staat. Einem solchen Verdikt folgten aber keineswegs alle. Der aus Gadara (heute Jordanien) stammende epikuräische Dichter und Philosoph Philodem schrieb Traktate über Musik, Rhetorik und Dichtung (weiters einen verlorenen Traktat über Schönheit), in denen er über die durch Musik und Dichtung ausgelöste Freude im Rezipienten nachdachte. Philodems ästhetische Vorstellungen waren isofern elaboriert, als es nicht um Schmuck und nicht um Affekte ging. Was ein Gedicht gut und schön macht, ist die Verbindung von Worten und Inhalten. Die freudvolle Genugtuung stelle sich nicht im Ohr ein, sondern im Verstand. Zenon von Kition gründete in Athen seine Schule, die nach der Halle, in der er am liebsten seine Vorlesungen abhielt, der von Polyklet bunt freskierten Stoa Poikile, ihren Namen bekam und die berühmteste Philosophenschule wurde. Sie umfasste eine Reihe angesehener Vertreter, Kleanthes von Assos, den Systematiker Chrysippos von Soloi, der die Schule vor einem frühen Ende bewahrte, Panaitios aus Rhodos, dessen Schüler Poseidonios aus Apameia, vor allem den freigelassenen Phrygier Epiktet, Annaeus Seneca, den Erzieher Neros, der auch ergiebiger zur Ästhetik schrieb, und als prominenten Anhänger den Stoikerkaiser Marc Aurel. In der Stoa verbanden sich viele divergierende Ansichten zu einer doch einigermaßen gebundenen Ausrichtung. In der Ontologie vertraten die Stoiker einen Materialismus, wobei die Materie jedoch mit (göttlicher) Vernunft durchformt gedacht wurde. In kleinsten Vernunftkörperchen (logoi spermatikoi) liegt gleichsam der Informationsgehalt des Materiellen. Die Welt wurde als ein organisches Ganzes gesehen, ja als ein vernunftbegabtes Lebewesen, das entstanden war und vergänglich sei. Ewig ist nur ihr Grundelement, das Feuer, aus dem Luft, Wasser und Erde entstehen. Die in den Dingen wirkende Vernunft ist göttlich und sie sorgt für die Zweckmäßigkeit der Welt, die für den Menschen gemacht und auf ihn abgestimmt ist. Diese vernunftdurchformte Natur verweist nicht nur auf eine Wurzel bei den Kynikern, was die Natur betrifft, sondern sie macht die Stoa zu einer wichtigen Station auf dem Weg der dialektischen Naturauffassung. Der Primat der Vernunft ist die Grundlage der breit formulierten Ethik, die schließlich zum Markenzeichen der Stoa wurde. Ziel dieser Ethik ist es, im Einklang mit der (von göttlicher Vernunft durchformten) Natur zu leben. Das Glück besteht im Erreichen der selbst gewählten Zwecke und im Handeln nach dem, was einem »zukommt«, also der Pflicht. Panaitios schrieb ein Buch über

385

Griechenland

die Pflicht, das eine wichtige Vorlage für Ciceros De officiis war. Auf diese Weise sei ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur und damit in Harmonie möglich. Der erreichte Zustand entspricht der Glückseligkeit, die durch Affektfreiheit, also Apathie, charakterisiert wurde. Einerseits vermittelte die Stoa mit der Vorstellung der Göttlichkeit der Natur einen religiösen Aspekt, andererseits bürdete die anspruchsvolle Ethik dem Einzelnen hohe Lasten auf, die er nicht zuletzt in den Mysterienreligionen abzutragen suchte. Das Idealbild des Stoikers, wie es Marc Aurel in seinem Ratgeber und Lebensbuch Wege zu sich selbst formulierte, war der Weise, der in Stimmigkeit mit sich selbst in »stoischer Ruhe« und Gleichmut ein gottgefälliges, damit glückseliges Leben führt. Das Buch erlebte nicht nur in der Finanzkrise des beginnenden 21. Jh.s signifikant erhöhte Verkaufszahlen, es kursiert neuerdings in der alternativen Techno-Szene des Silicon Valley. Die Stoa scheint sich als einzige der hellenistischen Schulen ausführlicher mit kunstphilosophischen Fragen auseinandergesetzt zu haben. Ausgehend von einem kritischen Gottesbild verbat sie sich Abbildungen der Götter und den Bau von Tempeln. Die Kunst müsse sich an den kosmischen Harmonien ausrichten. Cicero berichtet, dass Zenon den Künstler als Zweitschöpfer deutete, der nach den Gesetzen der Natur (die vollkommene Künstlerin) und des Weltalls schafft. Also eher Demiurg als Mimesis! Insofern war der Nutzen der Kunst durchaus umstritten. Seneca sah in den freien Künsten nicht Sittlichkeit per se, sondern nur die Vorbereitung der Seele darauf. Dabei zeigte er Sympathie für die gewöhnlichen Künste (artes vulgares) – so wurden sie von Poseidonios genannt –, welche »in Handarbeit bestehen und mit der Beschaffung des Lebensunterhaltes befaßt sind; bei ihnen gibt es keine Vortäuschung von Würde, keine von Sittlichkeit.« Poseidonios hat ähnlich wie Panaitios einem unmittelbaren sinnlichen Empfinden des Schönen das Wort geredet. Beide waren längere Zeit in Rom. Nach Seneca genügt die Natur in ihren Hervorbringungen völlig. Technik und Arbeit, damit auch die Kunst sind Luxus und in der Nähe des Überflüssigen. Ob Geld glücklich macht oder nicht, müsste er indes gewusst haben. Denn man attestierte ihm zwar eine bescheidene Lebensführung, er galt aber als einer der reichsten Männer des Römischen Reichs. Sextus Empiricus als auch Philon von Alexandrien wiesen auf den Anteil der Künstlerpersönlichkeit hin, die hinter den Artefakten steht. Im Paragone von Ethik und Ästhetik blieb die Tugend der Schönheit stets übergeordnet und hier wieder die moralische Schönheit der körperlichen. Allerdings geht Schönheit mit Weisheit und moralischer Makellosigkeit zusammen. Acro Helenius, ein Grammatiker aus dem 2. Jh.p, pries in seinen Horaz-Kommentaren das überlieferte Wort, dass der Weise schön sei, selbst wenn er scheußlich ist. Die geistige Schönheit geht der körperlichen voraus, war hier die Botschaft. Cicero referierte stoisches Gedankengut, wenn er von der Fehlerlosigkeit der Welt sprach, die weise, vernunftbegabt (necesse est intellegentem esse mundum et quidem etiam sapientem) und damit gottgleich ist (et sapiens a principio mundus et deus habendus est). Das gilt für das Ganze ebenso wie für jeden Teil. Den Hintergrund bildet der traditio-

Cicero, de nat. deor. II, 57f

Seneca mor. 88, 20f

Ebd., 90, 16

Cicero, De nat. deor. II, 36

386

Die antike Welt – Griechenland und Rom

X.2.6.

Kleanthes, zit. nach Tatarkiewicz 1979, 235

Kyniker

2.4.3.3.2.

nelle Begriff der Symmetrie und Harmonie, wie ihn der logosgestütze Materialismus forderte. War die Natur von sich aus in ihren Teilen aufeinander abgestimmt, muss sich das vom Menschen Gemachte in seinen Teilen dem Ganzen anpassen. Der griechische Ausdruck aus der Rhetorik prepon, der im Lateinischen als aptum oder decorum (mit weiterem Bedeutungsrahmen als aptum) und im Deutschen mit Angemessenheit, richtiges Verhältnis (auch Anständigkeit) übertragen wird, hat sowohl eine ästhetische als auch eine ethische Bedeutung. Er drückt indirekt den höheren Wert der Naturschönheit gegenüber der menschengemachten aus. Geschichtlich bedeutsam mag der Hinweis sein, dass in der Stoa die Einteilung in freie (Dichtung, Musik) und gemeine Künste (z.B. Architektur) sowie in solche mit geistiger und solche, die mit physischer Anstrengung verbunden sind, aufkam. Dazu gesellten sich noch die unterhaltenden und bildenden Künste (ebenfalls Dichtung und Musik). Es gab in der Stoa, vor allem im Umkreis von Kleanthes, eine Diskussion um den Wert von Philosophie und Dichtung im Hinblick auf die Sprachform. Kleanthes hielt die gebundene Sprache für geeigneter, die Wahrheit wiederzugeben, »da die Prosa nicht den der Größe der Götter angemessenen Wortschatz besitze.« Kleanthes spielte zwischen Religiosität und Aufklärung. Er dichtete einen Hymnus auf Zeus, deutete ihn darin aber ziemlich abstrakt als Weltseele und Weltvernunft. Seine Theologie entsprach weitgehend einer Tendenz zu einer philosophischen Vernunftreligion im späteren Hellenismus. Der reiche metaphorische Wortschatz in der gebundenen Sprache für das Göttliche führte eine aufklärerische Theologie zur Forderung, die Dichtung allegorisch auszulegen, um Fiktion von der Wahrheit zu trennen. Die alte Vorstellung, dass mit der Dichtung »die Wahrheit« gesagt werden könne, besaß im Hellenismus keine Glaubwürdigkeit mehr. Diese Rolle übernahm die reflektierende Vernunft. Die Wirkung einer solchen der vernünftigen Reflexion unterliegenden Mythendeutung reichte bis zur allegorischen Bibelauslegung. Die Stoa wurde zur populärsten griechischen Schule in Rom. Neben diesen traditionellen Schulen, die ein philosophisches Gedankengebäude vertraten, gab es auch Bewegungen, die solche Ambitionen von vorneherein ablehnten. Bekannt geworden dafür sind die sogenannten Kyniker (griech. kynos/Hund). Sie seien als frühes Beispiel eines kulturellen Aktionismus herausgegriffen. Ins Leben gerufen von Antisthenes aus Athen im 5. Jh. mit den Schlagworten Bedürfnisreduktion und sittliche Einsicht, wurde die Bewegung radikal theoriefeindlich und lebenspraktisch. Diogenes von Sinope gilt schließlich als eigentlicher Kristallisationskern. Er vertrat die Auffassung, dass auch in der äußeren Lebensweise und nicht nur in einer anonymen inneren Haltung die vertretene Einstellung sichtbar sein muss. Diogenes stand für einen intelligenten Aktionismus gegen die Ideenwelt Platons. Er stellte dieser die harte Realität der naturgemäßen, animalischen Schicht des Lebens gegenüber und klagte damit raum- und zeitverhaftete Körperlichkeit ein gegen die Abstraktion einer Systemphilosophie. Kulturgeschichtlich könnte man in dieser Bewegung, in der einige Angehörige (Bion von Borysthenes) als Wanderprediger des bedürfnislosen Lebens auftraten, auch das Beschwören des vorzivilisatorischen Standes erkennen. Das drückte sich auch in der Bekleidung aus: »[…] the paradigmatic cloak of the

387

Griechenland

Cynic philosopher Diogenes communicated an anticonventional social vision by the philosopher who wore it.« Der Kynismus mit Krates von Theben, seiner Frau Hipparchia, vielleicht auch Onesikritos, der als Steuermann auf dem kaiserlichen Schiff arbeitete und eine Alexandergeschichte verfasste, dessen Sohn Philiskos aus Ägina, Bion von Borysthenes aus Olbia war zwar jeder geschriebenen Lehre gegenüber negativ eingestellt, jedoch wurden neue Formen des Literarischen kreiert: Sprüche, Anekdoten, Aphorismen, Ironie und Scherz und die sogenannten Diatriben, ein Stil, der dazu diente, (moralische) philosophische Probleme einem weiteren Kreis von Laien mit deftigem Witz und Beispielen aus dem Alltag nahezubringen. Diese Elaborate wurden neben dem körperbetonten Aktionismus zu eigenständigen Formen der Literatur, befrachtet mit einem hohen Maß an subversiver Funktion. Sie wurden in der Kulturgeschichte immer wieder aufgegriffen und gegen Systemansprüche eingesetzt.

Urbano 2013, 215

2.5.3. Die Religion des Hellenismus Der Hellenismus kannte keine eigenständige Religion, vielmehr versammelten sich in dieser Zeit verschiedene Rezeptionsformen sämtlicher altorientalischer Kulte. Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Carl Schneider charakterisierte die Paradigmen der verschiedenen Kulte, die sich im Hellenismus trafen, so: »Der Orientale interpretierte den höchsten Gott transzendent, der Grieche pantheistisch-mystisch, der Römer institutionell.« Kennzeichen der hellenistischen Religion war die synkretistische Originalität. Keine der alten Gottheiten wurde vergessen. Es gilt, was Christian Marek über das kaiserzeitliche Kleinasien sagt: »Dieser Erdteil hat fast alles aufgenommen, was zwischen Iran, Zweistromland, Ägypten und Mittelmeerraum geglaubt, gedacht, angebetet, verehrt und prophezeiht wurde.« Beinahe ist man versucht zu sagen: Religiöse Kulte wurden zur Handelsware und zum Exportartikel. Es war selbstverständlich, auch die jeweils fremden Götter zu verehren, zumal die verstärkte Mobilität die Lokalreligionen lockerte und sie einem globalen Austausch unterwarf. In den Villen der Vesuvstädte begegnet man der ganzen Vielfalt dieser alten und zeitgenössischen Kulte: dem Dionysoskult ebenso wie dem »Zeigen des Wassers« durch einen Osiris-Priester in einer Villa in Herculaneum. Gegen Ende des 3. Jh.s verstärkte sich das Interesse an einer heilsverheißenden religiösen Perspektive. Religionen erhielten einen starken teleologischen Charakter. Es ging um das Erreichen von Seelenruhe (im Sinne der hellenistischen Philosophen), Vereinigung mit Gott (im Sinne des Platonismus und späteren Neuplatonismus) oder um ein erneuertes Leben im Jenseits (nach der Lehre der Mysterienkulte und des jungen Christentums). Die Wiederbelebung alter Mysterienkulte profitierte von der Tatsache, dass diese keine übliche Polisreligion waren, sondern überregional vermarktet wurden, inhaltlich eine individuelle Erlösungsperspektive anboten und vor intellektueller Abstraktion weitgehend verschont blieben. Das waren Kennzeichen, die später ähnlich für das Christentum zutrafen. Der Kultort Eleusis etwa blieb auch noch im Römischen Reich ein religiöser Magnet. Sogar einige Kaiser ließen sich einweihen. Hadrian sorgte für die Erneue-

Schneider Carl in PWG IV, 437

Marek 2010, 631

IV.3.1.

388

Die antike Welt – Griechenland und Rom

II.2.3.1.

158 Kultaltar für die Göttin Astarte (1200–100a); JAM

II.2.3.2. Nagel Svenja in Kat. 2013a, 146

Colpe 2008, 87ff

rung der Prozessionsstraße von Athen zum Kultort. Dazu kamen der Dionysoskult, der Kult von Samothrake und etliche lokale Mysterien sowie die schon erwähnten mediterranen Fruchtbarkeitskulte. Sie befriedigten mit ihrer Botschaft vom neuen Leben nach dem Tod, mit der Erneuerung der in ihnen steckenden zivilisationsstiftenden Botschaft des heilgewährenden Zyklus der Natur den Bedarf an Hoffnung in unsicherer Zeit. Dazu kam das Spektakuläre, Geheimnisvolle und Affektgeladene. Die altorientalischen Gottheiten erlebten im Hellenismus eine Renaissance in griechischer Adaption. Darunter waren der phrygisch-thrakische Fruchtbarkeitsgott Sabazios, die thrakische Bendis, deren orgiastischer Kult unter Perikles nach Athen gekommen war, die ihr ähnliche, vermutlich ebenfalls aus Thrakien stammende Feld- und Fruchtbarkeitsgöttin Kotyto, die syrische Fruchtbarkeits- und allschaffende Muttergöttin Atargatis, die ägyptische Große Mutter und Weltgöttin Isis mit Osiris, dem Vegetationsgott über Leben, Sterben und Auferstehung, die altsemitische Astarte (vermutlich eine Weiterentwicklung der altbabylonischen Istar), der seinerseits synkretistische (Osiris+Apis) Heilgott Sarapis – er umfasste Züge des Zeus und Dionysos und wurde wegen der Fruchtbarkeit Ägyptens häufig mit einem Getreidemaß auf dem Kopf dagestellt. Er trat als Kosmokrator auf und gab damit einen Typus ab, der als Christus-Pantokrator im frühen Christentum wieder auftauchte. Weiters der iranische Sonnen- und Fruchtbarkeitsgott Mithras, der erst spät die Tod und Auferstehung-Typik erhielt. Der Isiskult war populär. Um 105a wurde der Isis auf dem Kapitol ein Heiligtum gestiftet. Der Kult war einige Zeit ein offizieller Kult und verbreitete sich im gesamten Reich. Allerdings war er nicht unumstritten und wurde daher zwischendurch wieder verboten und das Heiligtum zerstört. Im Jahr 43 ließen die Triumviri einen Neubau auf dem Marsfeld zu. Das erste ägyptische Bauwerk in Europa war das 1764 gefundene Iseum in Pompeji, das von Piranesi gezeichnet und von Goethe auf seiner Italienreise besucht wurde. Isis galt den Römern als All-Göttin (Panthea), nicht nur Hathor wurde in ihr mit verehrt, die gesamte Ein und Alles-Tradition kam hier ins Spiel. Für ihre bildliche Darstellung wurden die ägyptischen Konnotationen kaum übernommen, vielmehr zeigte sie sich »im klassischen, von griechisch-römischer Formensprache geprägten Gewand.« Osiris wiederum wurde zögerlicher aufgenommen als Isis. Im ursprünglich vorderasiatischen Vegetationsgott Adonis, der in der griechischen Mythologie einen Platz erhielt, dem phrygischen Paar der Kybele-Attis (Kybele war zugleich Hauptgottheit der Lydier; Große Mutter/Bergmutter?) sowie im ägyptischen Osiris kann man als gemeinsames Muster das Vegetationsthema in drei Kulturkreisen sehen, auch wenn im einzelnen die genealogischen Fragen komplex sind. Beispielsweise war, anders als Adonis (der ein Baal-Gott sein könnte), Attis zweigeschlechtlich mit Bezug auf die tellurische Erdkraft und war Osiris ein Hirt. Im Verlauf der Mythenbildung kam es dann zur Trennung von Potenzen und zur Ausbildung der uns geläufigen und handhabbaren Muster. Das alles ist ein weites Feld der Religionsforscher und soll hier nur erwähnt werden, um die komplexe Religionslandschaft im Hellenismus anzudeuten, zu der

389

Griechenland

schließlich als wichtigste Wettbewerber der Mithraskult, der Neuplatonismus und das Christentum traten. Als weiteres Angebot an individualisierter Religiosität tauchten im Schatten der großen globalisierten Kulte lokale, offenbar zusätzlich identitätsstiftende kleine Numena, vergöttlichte Zeichen, in üppiger Fülle auf. Es waren Götter mit »menschlicher Nähe«, Heilheroen und Heilande. Einige von ihnen sind berühmt geworden: Asklepios etwa, der in Epidauros, auf Kos und in Pergamon in wunderbaren Anlagen Stützpunkte hatte. Die Kultstätten waren Magneten eines Wallfahrtstourismus. Es wurden »göttliche Männer« verehrt: Homer, Platon, Hippokrates galten als gottgleich und zu solch gottmenschlicher Größe stiegen auch die römischen Kaiser auf, die ihr Standbild schließlich zur Verehrung in die Basiliken ihrer Forumsanlagen stellten. Eine Unzahl von Kultvereinen (ein solcher war bereits die Akademie Platons) diente der besonderen Förderung. Sowohl die Pluralisierung als auch die Privatisierung des Göttlichen beförderte andererseits eine monotheistische Tendenz, den Wunsch nach einem kosmischen Allgott, der sich einer allzu flachen Kategorialisierung entzog. Der Sol Invictus-Kult mit dem durch Soldaten verbreiteten Mithraskult war typischer Ausdruck solcher Absicht und er war lange ein ernster Konkurrent des jungen Christentums. Diese Strömung mündete in die Abstraktion des Spät- und Neuplatonismus.

Muth 1988, 186

IV.5.1.4.

2.5.4. Kunst und Ästhetik im Hellenismus Ähnlich wie der Diskurs in der Religion war auch der Diskurs in der Kunst durch Heterogenität gekennzeichnet. Kunst wurde zu einem »Megatrend« der Zeit. Angesichts der Flut von Kunstwerken und der anhebenden Ästhetisierung der Kunst antworteten zeitgenössische Intellektuelle kritisch und geradezu aufgeschreckt auf die spezifische Gestalt der hellenistischen Kunst. Die Richtung, die die Kunst im Hellenismus einschlug, war in der Musik bereits in früher Zeit vorbereitet worden. Musiker und Dichter (Melanippides von Melos, Phrynis von Mytilene) wandten sich von der einfachen Struktur des alten Kanons ab und rückten die Melodie auf Kosten des Rhythmus in den Vordergrund ihrer Kompositionen. Die Musik wurde generell freier und persönlicher und wertete das einzelne Instrument gegenüber dem Chor und dem Lied auf. Musik wurde zum Kunstwerk und bei den Aufführungen mit Applaus bedacht. Sie erhielt eine andere Funktion als in ihrer Entstehungszeit, wo sie in Mysterien eingebunden war oder als mathematisches Abbild der Welt- und Seelenharmonie verstanden wurde. Ähnliches vollzog sich in der Poesie. Die Dichtung wurde pluralistisch. Den klassischen Streit um ihre Wahrheit gab es im Hellenismus nicht mehr. Dichtung hatte nun andere Funktionen als jene, Wahrheit zu vermitteln. Freiheit, Phantasie, Kreativität, Individualität und Emotionalität traten in den Vordergrund, vor allem aber die Schönheit, die früher von epistemischen und moralischen Ansprüchen vollkommen überdeckt wurde. Und diese Schönheit beruht auf Schmuck und Vielfalt. Aus einem mimetischen Tun, sei es die umstrittene Nachahmung des Realen oder sei es die Nachahmung der Idee des Realen, wird eine freie phantasiegeleitete

Musik

2.1.3./2.2.3. Poesie

390

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Pseudo-Longinos, zit. nach Tatarkiewicz 1979, 284 Malerei

159 / 160 Detail und Seitenansicht des ­Alexandersarkophags; IAM

Schefold 1967, 125

Plinius, nat. hist. XXXV, 65f

Gestaltung. Die Erklärung dieser Phantasie – ob aus dem inneren oder äußeren Urbild gespeist oder ohne Referenz zu solchen – blieb sekundär (Seneca, Plutarch). Pseudo Longinus schrieb beinahe im Geist heutiger Spaßgesellschaft: »Jeder soll sich daran erfreuen, was ihm Spass macht.« Grundsätzlich hatte im Hellenismus die Malerei unter den Kunstgenres die Führung inne. Wir wissen um berühmte Maler, wie Apelles oder Protogenes, leider fehlen uns ihre Werke. Auf die berühmte Ausnahme der Mosaikkopie eines um 317 zu datierenden Bildes von Alexanders Sieg über den fliehenden Dareios wurde bereits

hingewiesen. An diesem Bild machte Karl Schefold in Abhebung vom zehn Jahre älteren Alexandersarkophag auch gleich die Wende zum hellenistischen Charakter der bildenden Kunst fest: Zerbrechen der klassischen Formen in fragmentierte, aber sprechende Details, Erfassen des Moments und geballte Komposition mit großer Raumentfaltung. Der gefüllte Moment trat an die Stelle der Zeitlosigkeit der Klassik. »Der Held vollzieht das Unvermeidliche im Sinn der Lehre der gleichzeitigen stoischen Philosophie, während er in der klassischen Tragödie am göttlichen Willen gescheitert war.« Richtiger wäre es wohl, hier statt des göttlichen Willens vom unpersönlichen Geschick (moira) zu sprechen, das jetzt durch die überragende Individualität Alexanders wenn nicht bereits durchbrochen, so jedenfalls gestört wird. Ein weiteres außergewöhnliches Beispiel sind die Fresken der makedonischen Gräber in Vergina. Der Fund in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts durch Manolis Andronikos war deshalb eine Sensation, weil eines der Gräber Philipp II. zugeschrieben wird. Vermutlich inspiriert von Grabbauten in Lykien, waren Fels- und gebaute Gräber mit farbigen Fresken und wertvollen Beigaben ausgestattet. Die kostbare Ausstattung dokumentiert den neuen Reichtum des makedonischen Königshauses. In allen Grabmalereien – und es handelte sich, gemessen an der Vasenmalerei, nun um das große Format – gab es Versuche des Illusionismus wie Verkürzungen und der Erzeugung von Raum und Volumen. Diese Instrumente dienten der möglichst naturgetreuen Mimesis. Auch die Emotionen abgebildeter Personen wurden detailgetreu nachgezeichnet. Erst vor solchem Hintergrund konnte es zu einem Wettstreit der Illusionsmalerei kommen, wie ihn die berühmte Legende von Parrhasios und Zeuxis schildert. Plinius hat sie uns überliefert. Zeuxis malte Trauben so täuschend echt auf die Leinwand, dass Vögel kamen, um sie anzupicken. Parrhasios antwortete mit einem perfekt gemalten Vorhang, den Zeuxis wegzuschieben versuchte und damit Parrhasios den Sieg überlassen musste. Aus hadrianischer Zeit (etwa 130p) ist eine faszinierende Fußbodendekoration erhalten geblieben, der sogenannte Ungefegte Raum (oikos asarotos). Es handelt

391

Griechenland

sich um die römische Kopie eines griechischen Mosaiks (das vom Künstler Sosos aus Pergamon im 2. Jh.a sogar signiert wurde), auf dem in einem Trompe-l’oeil-Effekt herumliegende Speisereste, Fischgräten, Hummerscheren, Geflügelbeine, Schneckenhäuser, abgebildet sind. Man kann sich vorstellen, dass die Aufregung ähnlich war wie bei einem Bild eines unabgeräumten Esstisches von Daniel Spoerri in einer heutigen Villa eines gut situierten Besitzers. Die reizvolle Pleinairmalerei hat man als »alexandrinisches Rokoko« bezeichnet. Luftige Gebäude, Gartenlauben, Pergolen, geschwungene Giebel tauchen als Sujets auf, erhalten geblieben in den großartigen Villen in Pompeji, nicht mehr griechisch und noch nicht römisch. Der Mensch und damit das ontologische und ethische Pathos treten zurück. Die in der Malerei vollzogene Eroberung des Raums kennzeichnete auch die Bildhauerei. Die Figurengruppen kannten keinerlei Abstraktionen mehr, sondern erschlossen energisch einen Raum mit ausladenden Bewegungen. Nicht mehr die den Kontrapost bestimmende Aufhebung der Bewegung in die harmonische Ruhe war jetzt maßgebend, sondern die Darstellung des Dynamischen selbst: »Versierten Bildhauern hellenistischer Zeit standen Repertoire und Erfahrungen zur Verfügung, die sie in die Lage versetzten, eine fliegend oder schwebend gedachte Gestalt in eine Skulptur umzusetzen.« Ähnlich wie für die Wende zur Perspektive in der Renaissance die Entdeckung des scheinbar unendlichen Raumes der Welt beachtenswert ist, weitete Alexander den Blick über die Grenzen der Polis hinaus. Auch die Themen veränderten sich gegenüber der Klassik. Alle Zustände des menschlichen Lebens und alle gesellschaftlichen Schichten wurden darstellungswürdig. Solche Paradigmenwechsel sind stets Kennzeichen einer Moderne und charakterisierten auch den Beginn der Moderne im 19. Jh. Die Auftraggeber »verbanden ihre Freude an thematischer Mannigfaltigkeit mit dem Gefühl, ihren Geschmack nicht mehr nach den Konventionen der Poleis richten zu müssen.« Das neue Pathos ließ sich vor allem in der Skulptur treffend umsetzen. Beispiel dafür sind die im ersten vorchristlichen Jahrhundert entstandene Laokoongruppe und die Gigantenschlacht von Pergamon. An der Laokoongruppe entspannen sich in der Neuzeit heftige Diskussionen im Zusammenhang mit der Idealisierung der griechischen Kunst. Als in den Achtzigerjahren des 19. Jh.s die Pergamonskulpturen in Berlin ausgestellt wurden, geriet die Szene der Kunsthistoriker in Aufruhr. Jacob Burckhardt, der gleich nach Berlin geeilt war, schrieb 1882 in einem Brief: »Diese Entdeckung hat den Archäologen ihre Systeme sauber durcheinander geworfen! Die halbe Aesthetik ist mit zu Boden gerüttelt; alles was über das Pathos im Laokoon geschrieben worden, ist Maculatur seitdem man diese fürchterlich herrlichen Evènements hat. […] ein Beißen, Hauen, Schlagen, Zerquetschen mit Hülfe von mächtigen Hunden und Löwen […] Alles sans ombre de générosité!« Angesichts des Schwelgens in Bewegung fühlte sich Burckhardt immer wieder an Rubens erinnert. Faktum ist, dass sich hier die ganze Emotion des hellenistischen Geistes und der Sinn, mit Raum umzugehen, eindrucksvoll zeigen. »Der Gesamteindruck wird

Bildhauerei

Knell 1995, 29

VIII.9.2.ff. Schulz 2008, 314

VII.4.2.4.2. VIII.10.3.

Burckhardt, zit. nach Kunze 1998, 82

392

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Schulz 2008, 311

Ebd., 312

Welles Bradford C. in PWG III, 565f Schefold 1967, 147

Ebd., 132f MacDonald 1986, 219–247 Knell 1995, 21

Neer 2013, 378

Zanker 1989, 65f

Wohlmayr 2011, 150

weniger durch die Einzelfiguren geprägt, sondern beruht auf dem durch mehrfache Parallelen und Diagonalen gekennzeichneten pyramidalen Aufbau.« Es ist eine reizvolle Beobachtung, dass die Ursache für das aus dem Lot geratene alte Ideal der Vermeidung von Emotionen im Wirken Alexanders liegen könnte, das der alten Weisheit des Maßhaltens Hohn sprach. Alexanders Lebenswerk wurde das neue Ideal für die Nachfolger, die mit Aufträgen, sein Wirken zu verherrlichen, der Kunst genau solche Impulse gaben. Die Gigantomachie des Altars von Pergamon ist geradezu ein Schulbeispiel hellenistischer Bildhauerei: »[…] bewegte Handlung, geballte Affekte […] schwere Leiber mit schwellender Muskulatur, verkrampfte Posen, lebhafter Faltenwurf der Gewänder, alles in einem präzis ineinandergefügten Bewegungsvorgang in einer Ebene zusammengeknotet.« Aber in dieser Figurengruppe ist eben auch »das griechische plastische Leben dem Gedanklichen gewichen […].« Eines der freiesten Werke der hellenistischen Bildhauerei ist uns in der Nike von Samothrake (um 190a) überliefert, ein vermutlich aus Rhodos stammendes Weihegeschenk im Heiligtum der chthonischen Kabiren in Samothrake: »Es ist vor allem das Gewand, das mit den Flügeln das Wunder der dämonischen Erscheinung in Licht und Luft empfinden läßt; […].« Kunsthistorikerinnen sprechen angesichts der Falten und Wirbeln bei dieser auf dem Sturmdeck eines Schiffes zur Landung ansetzenden Figur von einem barocken Gestus, der für viele Kunstwerke des Hellenismus zutrifft. Man kann ohne weiteres auch Ansätze der im Barock dann gepflegten Ambition zum Gesamtkunstwerk sehen: »Umgebende Landschaft, Standort und Gestalt der Nike sind deshalb Bestandteil einer sich gegenseitig steigernden Erlebniswelt.« Dazu kamen verspielte Szenen, wie das Liebesspiel der Aphrodite mit Pan, eine ins Frivole gehende Skulptur aus Delos (um 100a). Der phönizische Auftraggeber hatte es seinen eigenen Göttinnen (also der Astarte) geweiht und der Bildhauer zitierte klassische Werke, hier Praxiteles’ Aphrodite von Knidos. Diese Gruppe atmet ein wenig den Geist der Postmoderne. Ein besonderes Stück hellenistischer Kunst mit einer sehr komplexen Ikonographie ist die Trunkene Alte, eine abgetakelte Hetäre, die vielleicht ein Weihegeschenk für ein Dionysosfest darstellte. Paul Zanker hat darüber eine lesenswerte Studie geschrieben. Er deutet darin auch die zahlreichen Darstellungen hinfälliger Körper im frühen Hellenismus als eine künstlerische Reflexion auf die in den hellenistischen Philosophenschulen formulierten Sorge um sich selbst. Aber es gab auch eine Gegenbewegung, nämlich den Rückgriff auf die Klassik. Bei Plinius findet sich eine kritische Anmerkung zur frühhellenistischen Kunst, die im 2. Jh. in einer schlichteren, klassischen Form neuerlich erblühte. Unter der römischen Herrschaft trat in Griechenland ein neuer Klassizismus auf. Die Kopien der klassischen griechischen Vorbilder durch römische Künstler waren manchmal starrer als die Vorbilder. Die Nachfrage besonders nach griechischen Kunstwerken regte die Kopistentätigkeit mächtig an. In hadrianischer Zeit entstanden viele originalgetreue Marmorkopien griechischer Vorbilder. »Zum damaligen Zeitpunkt war das Bedürfnis, über ein großes Spektrum griechischer Statuenbildungen zu verfügen, deutlich gewachsen.«

393

Griechenland

Das Porträt wird im Hellenismus naturalistisch. Ab dem 4. Jh. erschienen auf Münzen, Standbildern und Malereien realistische Köpfe. Trotz dieser Wende zum Realismus hielten sich auch idealisierte Porträts, vor allem auf Grabstelen. Vermutlich im 3. Jh. begann der Brauch, Totenmasken abzunehmen. Lysistratos, der Bruder des Lysipp, soll damit begonnen haben. Das führt uns jedoch bereits in die spezifisch römische Kunst. Ebenso pluralistisch wie die Kunst war, wie eingangs erwähnt, auch die Deutung ihres Sinns. Es gab moralisierende Ambitionen, aber auch schlicht utilitaristische. Es gab eine formalistische Ambition und demgegenüber spiritualistische und idealistische Richtungen, die sich auf die alte Inspirationstheorie beriefen. Der Mimesisbegriff wurde manchmal nicht nur realistisch, sondern auch idealistisch verstanden. Er band die Phantasie des Künstlers an die geistige Idee zurück. Dion Chrysostomos griff zu diesem alten platonischen Instrument: »Wie Phidias behauptet, ist die Vorstellung des Gottes unabweisbar und angeboren, der Künstler besitzt sie dank dem Umstand, dass er gottähnlich ist. Die Idee bestand vor ihm, er ist nur ihr Dolmetscher und Lehrer.« Im Extremfall ist solcherart mimetische Kunst sogar der Rivale der Natur – so der Rhetor Kallistratos im 3. oder 4. Jh.p, von dem wir Beschreibungen von vierzehn berühmten Statuen erhalten haben. Von hellenistischer Baukunst spricht man in allgemeinster Fassung dann, wenn man Baudenkmäler im Auge hat, »die in Teilen griechisch geprägt oder auch nur griechisch beeinflußt sind […]«, die also ausdrücklich Mischformen mitumfasst. In der Architektur traten die sakralen Bauten zurück bzw. dienten in erster Linie politischer Identität und Repräsentation (Altar von Pergamon). Wichtig wurden Paläste, Theater, Stadien und die später in Rom grandios entworfenen Foren und Thermen. Neben den Theatern wurde das Hippodrom für die Pferderennen in den hellenistischen Städten beliebt, während die Griechen zu den blutigen Spektakeln in den römischen Amphitheatern keinen Zugang fanden. Es gab eine erste temporäre Architektur: Festzelte und Prunkschiffe für die diversen Feste und Umzüge. In Rom erregten mehrstöckige Wagen für die Triumphzüge Aufsehen. Zu solch spektakulären Bauten und ihrer Ausstattung gibt es einige Beschreibungen. Kallixeinos von Rhodos beschrieb das Nilschiff Ptolemäus IV., die Thalamegos. Gut kennen wir auch die Ausstattung des Festzeltes bei den großen Festumzügen des Ptolemäus II.: Geräte und Figuren, darunter Götterbilder, die, als Automaten konstruiert, den Opfergruß spendeten. Insofern kann man die hellenistische Architektur in der Tat als experimentell und in gewisser Hinsicht sogar als unfertig bezeichnen. Ähnlich wie die Skulptur wurde auch die Architektur barock, überladen, kolossal, dynamisch und griff eklektizistisch auf Stilelemente der Vergangenheit zurück. Es gab die Offenheit und das bewusste Spielen mit dem Raum in der Landschaft. Die Anlage für den Heilheros Asklepios in Kos (2. Jh.a) imaginierte in mehreren Terrassen beim Aufstieg zum Heiligtum einen Weg nach oben (und nach innen). Dort, wo es die Lage zuließ, wurde gerne die Akropolis zitiert, in monumentaler Weise in Pergamon.

Webster 1966, 198 3.3.

Dion, zit. nach ­Tatarkiewicz 1979, 333

Baukunst

Lauter 1986, 5

Hebert 1989, 140–145 Ebd., 145ff Lauter 1986, 287

394

Die antike Welt – Griechenland und Rom

161 / 162 Das um 130 zu Ehren Hadrians errichtete Stadttor in Gerasa, Jordanien und Detail

Schefold 1967, 145 Charbonneaux 1977d, 243

Mumford 1961, 223

Vielleicht könnte man den Zeusaltar von Pergamon als baukünstlerischen Höhepunkt des Hellenismus ansehen. Er hat nicht nur eine architektonische Seite, sondern auch eine kulturgeschichtliche. Es handelt sich bei dieser Kultstätte um einen Altar unter freiem Himmel, was die ursprüngliche Verehrung vor dem Tempelbau und Einführung des Kultbildes zitierte. Man darf vermuten, dass dabei philosophische Kritik an anthropomorphen Verkürzungen des Gottesbildes, wie sie auch in den hellenistischen Philosophenschulen, namentlich bei den Stoikern vorkam, eine Rolle spielte. Der Skulpturenfries kündet den Sieg des Zeus, der die kosmische Ordnung herstellt. Karl Schefold sah in diesem Höhepunkt hellenistischer Zeit bereits den Abschied von »der alten griechischen Art« eingeläutet: »In Pergamon sind Götter und Giganten nicht mehr die Mächte selbst, sondern Allegorien philosophischer Ideen […].« Ist das nun immer ein großes Auftrumpfen oder spiegelt sich in diesem Gefallen am Kolossalen »eine Art heimwehkranke[s] Insichzurückziehen?« Die Bemerkung passt auch für die Architektur der Mysterienkulte. Beim Kultbau der thrakischen Herrin der Natur in Samothrake handelte es sich um einen Rundbau aus dem 3. Jh., den größten Griechenlands. Der Kultraum war hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt, als ob er sein Geheimnis bewahren wollte. Es wurde oben auf die Bedeutung der Stadt im Hellenismus hingewiesen. Trotz oder wegen ihres monumentalen Charakters erhielt die hellenistische Stadt von Lewis Mumford keine guten Noten. Die Kreativität der frühen Stadtentwicklung sei verloren gegangen. »Je mehr technische Organisation und Reichtum zunahmen, um so weniger fanden die ideellen Zwecke der Stadt im täglichen Leben Ausdruck. Selbst der Geist begann zu hungern […] Museum und Bibliothek erhielten Vorrang vor Leben und Erfahrung […] die geistige Tätigkeit beschränkte sich mehr und mehr auf das Sammeln und Klassifizieren.« Diesem Befund könnte man die Rolle der Gymnasien entgegenhalten, die, gegenüber dem klassischen Griechenland nochmals aufgewertet, zu multikulturellen Zentren der Städte wurden. Auch die Bibliotheken waren nicht nur konservative Orte des Sammelns, sondern Forschungszentren. Mumford stellte sie als Stadt eines Absolutismus dar, der im Widerspruch zur Stadt der freien Bürger der griechischen Klassik stand. Er erklärte den ästhetischen Reiz und die Anmut der hellenistischen Stadt mit dem Wort von Karl Marx vom

395

Griechenland

Opium des Volkes. »Die neuen Herrscher lieferten Schönheit als Balsam oder Betäubungsmittel, um die tiefen Wunden zu heilen, welche die griechische Stadt beim Verlust ihrer politischen Freiheit und kulturellen Schöpferkraft davongetragen hatte.« Diese Einschätzung bekommt ihre Kraft aus dem Blick auf die ersten griechischen Städte, deren Wachsen gleichsam als faszinierender Spiegel der Bewusstwerdung des Geistes und der Entwicklung zu einer partizipativen Bürgergesellschaft angesehen werden kann. Dennoch bleibt die Sicht einseitig und verkennt den hohen kulturellen Rang der hellenistischen Stadt. Diesen würdigte Frank Kolb und sah in den Städten des Hellenismus den »Höhepunkt griechischer urbaner Architektur«. Auch dem ist – diesmal mit Blick auf die Globalisierung dieser Zeit, welche die Städte zu multikulturellen Knotenpunkten mehrfacher Kommunikation machte – schwer zu widersprechen. Letztlich kam es erst mit der hellenistischen Städtegründung zu einer urbanen Kultur, die freilich nicht nur sammelte und klassifizierte, sondern in Wissenschaft und Kunst echte und originelle Fortschritte brachte. Eine schöne Übersicht über die Ausstattung und »Möblierung« der hellenistischen Stadt (urban armatures), also über die Straßen, öffentlichen und privaten Gebäude, Treppen- und Grabanlagen, Tore und Bögen hat William MacDonald zusammengestellt. Besonders die Städte an der Küste Kleinasiens dürfen als außergewöhnliche Metropolen des Handels, der Kultur, der religiösen Kulte, der Administration und als Truppenstandorte gelten. Gerade in dieser globalisierten spätantiken Welt hatte eine gewisse Schematisierung der Stadt, die nicht zuletzt durch das hippodamische Muster, das sehr rigide und ohne Rücksicht auf die natürlichen Gegebenheiten angewandt wurde und das sich mit dem römischen Cardo-Decumanus-System gut verbinden ließ, auch Vorteile: »[…] raschen Aufbau, gute Erweiterungsmöglichkeiten, Übersichtlichkeit und Zweckmäßigkeit.« So gesehen haben in der Tat »die hellenistischen Herrscher […] den Römern vorexerziert, wie man die Vervielfältigung eines bestimmten Stadtbildes als vorzügliches Instrument einer raschen Verbreitung urbaner Zivilisation zu Zwecken der Herrschaftssicherung einsetzen kann.« Die Übersichtlichkeit war ein besonders praktischer Aspekt der hellenistischen Stadt: »In einer Handelsstadt, in der es stets von Seeleuten und auswärtigen Kaufleuten wimmelte, was es von nicht geringem Vorteil, daß man sich so leicht zurechtfinden konnte.« Der Decumanus Maximus als lange, von Geschäften gesäumte Säulenstraße erinnert an die heutigen shopping malls unserer Großstädte, die in allen Weltgegenden ein ähnliches Aussehen haben, sodass man sich schnell zurecht findet. »Ein Reisender zur Zeit des Kaisers Marcus Aurelius fand, ob in Trier (Augusta Treverorum), Nîmes (Nemausus), Timgad, Palmyra oder den zahlreichen Antiocheia, Seleukeia oder Laodikeia […] überall die gleichen Säulenhallen,

Ebd., 233

Kolb 1984, 121

MacDonald 1986 Marek 2010, 255f

Kolb 1984, 268

Mumford 1961, 227

163 Decumanus Maximus in Gerasa, Jordanien

396

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Papaioannou 1972, 213

Lauter 1986, 82

Neer 2013, 358

Plätze und Tempel wie in seiner Heimat.« In Tyros verlief die Säulenstraße auf dem Damm, den Alexander für die Eroberung der phönizischen Stadt hatte errichten lassen. Die großzügige Straßenachse »dürfte als eigenständiges Element der Stadtbaukunst eine hellenistische Entwicklung sein.« In diesen riesigen Avenuen fanden große Spektakel statt. Der Hellenismus schätzte öffentliche Festlichkeiten. »Das Fest der Ptolemäer sollte den Olympischen Spielen den Rang ablaufen. Sein Herzstück war eine ungeheuer verschwenderische Prozession mit Umzugswagen, kostümierten Tänzern, Personifikationen der griechischen Städte, Unmengen von Gold, Silber und Weihrauch, Freibier für die Massen, wilden Tieren, aufziehbaren Statuen und einem aufmerksamkeitsheischenden gigantischen Penis (Dionysos geweiht) von etwa 60 Metern Länge.« Bei der Krönung Ptolemaios II. (Philadelphos) zogen beinahe 100 000 Soldaten, Fußsoldaten und Reiter, Wagen mit exotischen Tieren und silbernen Gefäßen, aus denen orientalische Gerüche quollen, durch die Straße. Solche Paraden schlossen an die Prachtentfaltung der mesopotamischen Herrscher an.

3.0. Rom

164 Forum Romanum

Heuss Alfred in PWG IV, 16

Die Geschichte Roms ist die letzte einer antiken mediterranen Hochkultur und sie ist eine der erstaunlichsten. Die Frage nach dem Erfolg der Romanisierung, die auch nach dem Untergang des Römischen Reiches weiter ging, rührt an geschichtsphilosophische Glaubensüberzeugungen. Wie lässt sich die ungeheure Dynamik des Aufstiegs einer kleinen Siedlung auf ein paar Hügeln in mückenverseuchtem sumpfigem Land zu einem Weltreich erklären, in dem zuletzt über zweitausend Städte blühten? Insbesondere die Unterwerfung des kulturell wesentlich höher stehenden Vorderen Orients und des hellenistischen Ostens ist erstaunlich. War es das Versagen einzelner politischer Führungspersönlichkeiten, eines Philipp V. von Makedonien oder Antiochos III. von Syrien, oder war es die zwangsläufige Erneuerung einer in sich schwachen Kultur, die ihrerseits dem Osten nur übergestülpt worden war? Ganz zu schweigen von der Unterwerfung unzähliger Barbarenvölker, die zwar dem politischen Korpus des Römischen Reiches letztlich den Garaus machten, sich ihrerseits jedoch in der Akzeptanz der Romanisierung geradezu überboten. Auf der anderen Seite steht, dass schließlich auch in Rom, selbst zur Zeit der Eroberungen der halben Welt, der Hellenismus siegte und eine griechisch-römische Kulturgemeinschaft stiftete. Es ist daher gar nicht leicht, die Eigenständigkeit und Originalität Roms festzumachen, zu sehr gilt, was Alfred Heuss dazu anmerkte: »Die Römer traten ihren erstaunlichen Gang durch die Weltgeschichte mit keinem Formelement an, das nicht auch woanders in der einen oder anderen Weise angelegt gewesen wäre.« Und sein Schüler Jochen Bleicken sekundiert im Hinblick auf das griechische Vorbild: »Die gesamte römische Geschichte ist eine

397

Rom

einzige Periode der Durchdringung Roms mit griechischem Geist und griechischen Formen.« Denn Rom »öffnete sich bereitwillig nach beiden Seiten hin allen äußeren Einflüssen, denen aus dem Orient und aus dem Okzident. Es teilte sogar das Mittelmeer in zwei Bereiche, so wie es selbst vom Apennin durchschnitten wird, während die Alpen Schutz vor Übergriffen aus Nordeuropa boten.« Dass das Gesagte vor allem für Kunst und Architektur gilt, macht die Frage nach dem spezifisch Römischen in Kunst und Architektur für die Kunsthistorikerinnen brisant. Dazu passt vielleicht die Beobachtung, die jeder Romreisende heute machen kann. Dass es nämlich keine zweite Stadt auf der Welt gibt, die derart dicht mit Zeugnissen der Kunst und Architektur – von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart – durchsetzt ist wie Rom. Der Mythos, den diese Stadt ausstrahlte, zog über die gesamte Geschichte Künstler und Architekten in ihren Bann, sodass Schlüsselwerke der Renaissance, des Barock oder des Neoklassizismus dort zu finden sind. Was für jede Stadt gilt, gilt für Rom in extremer Weise, nämlich, dass die Stadt ein großer Palimpsest, ein mehrfach überschriebener Text ist – auch im Sinne der Bedeutung des palimpsychos, des ständigen Neubelebens und Neubeseelens.

Bleicken Jochen in PWG IV, 39 Barral i Altet Xavier in Bruneau u.a. 1991, 207 3.3.1.

3.1. Kontexte Es mag dieser Befund weniger überraschen, wenn man nicht aus den Augen verliert, dass die archaischen Wurzeln Roms auf der italischen Halbinsel altmediterraner Art waren. Dies gilt insbesondere für die etruskische Vergangenheit Roms, was Frank Kolb zu der Formel einer »etruskisch-griechisch-latinischen Kultursymbiose« brachte.

3.1.1. Das Auftreten der Italiker Die Apenninenhalbinsel war von alters her für sämtliche die Seefahrt beherrschenden Völker ein attraktives Ziel und sie war seit dem Neolithikum buntscheckig besiedelt. Im nördlichen Bereich, also primär in der Poebene, trat die Terramarekultur (lat. terra marna/fette Erde) auf – Siedlungen auf Pfählen (um vor dem Wasser geschützt zu sein) wurden mit Wällen umgeben und man erzeugte Keramik – mit Wurzeln im östlichen Mitteleuropa und in Gebieten der alpinen Seen. Diese Kultur förderte angesichts der nach wie vor ungeklärten ursprüngliche Besiedelung die Meinung, die Zivilisation sei tendenziell von Nord nach Süd erfolgt. Es geisterte sogar zeitweise die These herum, Rom sei über die Terramarekultur vom Norden aus besiedelt worden. Allerdings ist die Wissenschaft dieser These nicht gefolgt, sondern hat ihr Augenmerk auf die bronzezeitlichen Kulturen auf der italischen Halbinsel selbst gerichtet, die sich kontinuierlich aus neolithischen Stufen entwickelten und den Namen Apenninenkultur erhielten. Ob es nun indogermanische Invasoren waren oder autochthone mediterrane Elemente, welche letztlich am Anfang der römischen Geschichte standen, ist nach wie vor Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion zwischen »Invasionisten« und »Autochthonisten«. Je nach Vorliebe zu den Thesen der Einwanderung der Etrusker und Italiker konnte auch ein scharfer Gegensatz konstruiert werden »zwischen ›mediterranen‹ Etruskern und

Kolb 1984, 150

398

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Pallottino 1942, 36

Ebd., 65

2.1.

›europäischen‹ Italikern, der die Bevölkerung und die Geschichte des antiken Italien in einer Art dualistischem Schematismus synthetisiert hätte.« Massimo Pallottino lehnte in seinem Standardwerk über die Etrusker Theorien ab, die mit einem punktuellen Anfangsereignis experimentieren, und sah die »Genese der ethnisch-kulturellen Strukturen des antiken Italien« als »Endpunkt eines langen, komplexen und mühevollen Formationsprozesses.« Zu diesem Prozess gehörten auch Ereignisse einer Indoeuropäisierung Italiens von außen. Neben der (prähistorischen) Apenninenkultur gab es im 14. und 13. Jh. eine Präsenz von Mykenern in Unteritalien und an der westlichen Küste der Halbinsel, die den Niedergang Mykenes überdauerten.

165 Etruskische ­Malerei eines ­Symposiums (5. Jh.a), Tarquinia

3.1.2. Die Etrusker und das Ringen mit Rom

Prayon 1996, 38

Briquel Dominique in Kat. 2000b, 42–51

Um das erste Jahrtausend kam es zu großen, verwirrenden Volksverschiebungen und zum Vordringen der Indogermanen auf die Halbinsel. Besondere Bedeutung dabei erlangten die illyrischen und italischen Stämme. Auf ihrem Substrat begann gegen 900 mit der Villanovakultur (benannt nach den Ausgrabungen der Nekropolen in Villanova in der Nähe von Bologna durch Giovanni Gozzadini) in Italien die Eisenzeit. Ihre Träger dürften Etrusker gewesen sein. Sie wurde im 7. und 6. Jh. mit den Einflüssen aus dem Osten überwunden. Die Etrusker, ein Volk mit nicht-indogermanischer Sprache, über das (seit der Antike) viel gerätselt wird, dürften sich an der Schwelle des 9. zum 8. Jh. autochthon gebildet haben oder eingewandert sein. Für den Fall einer Einwanderung, die aus heutiger Sicht für eher unwahrscheinlich gilt, gibt es zwei konkurrierende Vorschläge: Sie könnten aus dem alpinen Zentraleuropa gekommen sein oder aber über das Meer aus dem Orient. Diese sogenannte etruskische Frage ist deshalb schwer zu entscheiden, weil es für alle Theorien Indizien gibt und weil hinter den Theorien komplexe Rezeptionsinteressen stehen. Diese schwierige Greifbarkeit auch durch

399

Rom

eine fehlende literarische Tradition führte zu einer grassierenden Mythenbildung. Festzustellen bleibt jedenfalls, dass die Etrusker die erste Zivilisation waren, »die im westlichen Mittelmeer unter dem Einfluss der Kulturen des östlichen Mittelmeeres entstand.« Egal, ob nun die Menschen aus dem Osten kamen oder nicht, Sitten, Kulte und (Kunst-)Gegenstände taten das jedenfalls: »Phönikern und Griechen haben die Etrusker es zu verdanken, daß sie aus prähistorischer Bedeutungslosigkeit erwacht und in kurzer Zeit zum führenden Kulturvolk Mittelitaliens aufgestiegen sind.« Es gab von antiken Schriftstellern durchaus Abhandlungen über die Etrusker, die aber alle verloren gegangen sind. Gerne projizierte man in die weitgehend unbekannte Kultur aufgrund der aufgefundenen Bilderwelt das luxuriöse Dasein eines lebensfrohen Volkes. Die hohe, dem Mann gleichberechtigte Stellung der Frau spiegelt sich in der Kunst deutlich. Das geographische Gebiet stimmte seit Beginn der historischen Zeit »mit jener von den Alten als Etruria bezeichneten Region überein[stimmt], also nicht nur dem tyrrhenischen Küstenstreifen, sondern auch dem gesamten Hinterland bis zum Tibertal und den Abhängen des toscanisch-emilianischen Apennin.« Aus den wichtigsten, in der Regel auf Hügeln gelegenen Siedlungen entstanden die etruskischen Städte. Ihre besondere Lage im Kernland (in der Poebene war es anders) lässt sich heute noch in Orvieto, Volterra oder Perugia nachvollziehen. Bei den Seestädten lag in aller Regel die zum Hafen gehörige Stadt in einiger Entfernung und gut befestigt im Landesinneren (Caere mit dem Hafen Pyrgi, einem Zentrum der etruskischen Piraterie, Tarquinia mit dem Hafen Graviscae, Vetulonia mit Salebro, Vulci mit Regisvillae usw.). Jedenfalls waren die Etrusker das wichtigste der vielen vorrömischen Völker und sie entwickelten sich parallel und in enger Verbindung mit der griechischen Kultur auf italischem Boden. Die Abhängigkeit der Etrusker von den Griechen wird lebhaft diskutiert. In Kunst und Architektur, deren erhaltene Werke eindrucksvoll sind, wenngleich sie nicht an die großen Vorgaben des Alten Orients heranreichten, ist diese Übereinstimmung unbestritten. Massimo Pallottino urteilte in seinem bis heute richtungsweisenden Buch folgendermaßen: »Etrurien nahm in seiner peripheren Position im Westen parallel zu Griechenland an der äußersten Ausarbeitung eines alten künstlerischen mediterranen Formenschatzes teil. Abgesehen von einigen originellen Zügen in der Grabplastik […] gibt es jedoch keinerlei Anzeichen für die Entstehung einer echten lokalen oder gar nationalen künstlerischen Tradition. Hier liegt in der Tat der entscheidende […] Unterschied zu Griechenland, das genau in dieser Zeit mit mächtigem kreativem Impetus die Formeln der alten Welt überwand und einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Universalkunst eröffnete.« Nun haben sich Bemühungen, der etruskischen Kunst möglichst eigenständige Aspekte zuzusprechen, gegenüber dem Stand der Wissenschaft im 19. Jh. unüberhörbar verstärkt. Für eine wesentliche Neuorientierung fehlen allerdings die Fakten. Daher sucht man die Originalität der etruskischen Kunst allenfalls in »dialektalen Färbungen« und in der Kombination von »unterschiedliche[n] stilistische[n] Erfahrungen.«

Abulafia 2011, 150

Prayon 1996, 47

Rallo Antonia in Kat. 2000b, 130–139

Pallottino 1942, 119

Ebd., 352

Martelli Marina in ­Cristofani u.a. 1995, 168

400

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Coarelli 2011, 42

I.4.3.1.

Kolb 1984, 147 Städte Prayon 1996, 85

2.3. Sprenger/Bartoloni 1990, 32f

Schollmeyer 2008, 79

Es soll also eine möglichst aktive Rolle bei der Gestaltung künstlerischer Vorbilder herausgestrichen werden: »Weit davon entfernt, rein mechanisch Importware zu imitieren, war sie [die etruskische Kultur; BB] das Ergebnis einer aktiven Akkulturation, die aus dem Vorbild das herausgriff, was sich in die lokale Kultur integrieren ließ.« In Mittel- und Norditalien gründeten die Etrusker eine große Zahl von selbständigen Stadtstaaten und bauten ein beeindruckendes Handelsnetz mit etlichen Kolonien vor allem im westlichen Mittelmeer auf. Solche Handels- und Kulturkontakte bestanden namentlich zur Nuraghenkultur auf Sardinien. Diese lag im näheren Revier der Etrusker vis-á-vis der kolonialisierenden Griechen und der expandierenden Phönizier, dem Tyrrhenischen Meer. Die bedeutendsten etruskischen Städte waren Tarquinia, Vetulonia, Populonia, Vulci und Caere, das ein (erstes nicht-griechisches) Schatzhaus in Delphi unterhielt. Der Tempelbau blühte, Maler- und Bildhauerschulen sprossen aus dem Boden. Das Verständnis der Stadt entsprach mehr und mehr demjenigen der griechischen Polis, auch wenn sie Frank Kolb in ihrer Sozialstruktur »eher an die sumerischen Stadtstaaten als an die griechische Polis« erinnert. Jedenfalls waren auch die etruskischen Städte »heilige, den Göttern geweihte und unter ihrem Schutz stehende Anlagen, und dementsprechend gab es streng einzuhaltende Vorschriften über die Gründungsriten und den Aufbau einer Siedlung.« Sie wiesen große Nekropolen mit opulenter Ausstattung auf – ein Hinweis auf den herrschenden Wohlstand. Ihre orientalisierenden Formen waren der Theorie einer Herkunft aus dem Osten durchaus zuträglich. In der Tat profitierte Etruriens Kunst und Architektur zunächst vom 8. bis zum 6. Jh. von orientalischen Einflüssen. Die älteste Monumentalplastik aus Cerveteri ist orientalisch geprägt. In der etruskischen Kunst unterscheidet man analoge Kunstperioden wie in Griechenland, man spricht daher auch von einer orientalisierenden Periode. Später waren die Vorgaben der Ionier, die in Unteritalien ihre Apoikien errichteten, wichtig. Vielleicht gab es auch direkte Kontakte zu Mutterstädten wie etwa Korinth mit seiner in dieser Zeit hochstehenden Vasenmalerei. Die Expansion Etruriens schloss im 7. und beginnenden 6. Jh. Rom ein. Parallel zur Villanovakultur (9./8. Jh.) hatten Latiner einige Hügel in sumpfigem Land nicht weit von der Küste besiedelt. Es war noch nicht die klassisch gewordene Siebenzahl: Palatin, Kapitol, Aventin, Coelius, Esquilin, Viminal, Quirinal, zu denen in der Zeit Aurelians weitere (Pincio, Gianicolo, Vatikan) dazu kamen. Die Etrusker eroberten diese agrarischen Siedlungen und bauten sie zu der von Königen regierten Stadt Rom aus. »Die verschiedenen Kleinsiedlungen auf dem Gebiet des heutigen Rom wurden erstmals durch die Etrusker zu einer Stadt zusammengefasst.« Es scheint, dass Rom als etruskische Siedlung einen ersten geschlossenen Charakter und eine Strukturierung in Forums- (das die griechische Akropolis und Agora verband) und Privatbereich erhielt. Ein erstes Tempelbauprogramm hub an und hatte neben der religiösen eine identitätsstiftende Ambition. Wie groß und bedeutend dieses »Rom der Tarquinier« (nach den latinisierten etruskischen Namen zweier sagenhafter Könige der Frühzeit) tatsächlich war, wird angeregt diskutiert, ein-

401

Rom

3.1.3. 166 Etruskische Tumuli in Cerveteri



deutige archäologische Fakten dazu sind spärlich. Jedenfalls war Rom bis in republikanische Zeit hinein eine etruskisch geprägte Kleinstadt. Vielleicht im Jahr 509 wurde der letzte etruskische König verjagt, 474 verloren die Etrusker die Seeschlacht von Kyme gegen die unteritalischen Griechen, was letztlich der Anfang vom Ende der etruskischen Ansprüche war. Über die Auswirkungen auf Rom sind wir schlecht informiert. Hier ist die Eroberung Vejis 396 durch Rom zu nennen, die nun ihrerseits den Beginn des Aufstiegs Roms markierte. Eine besondere Verdichtung erfuhren die etruskische Kunst und Architektur in den bereits erwähnten Nekropolen. Aus der Zeit um 700 stammen die ersten aus dem weichen Tuffstein geschlagenen Kammergräber (meist mit Tumuli überdeckt). In ihrer aufwendigen architektonischen Gestaltung ebenso wie in ihrer Ausstattung versammeln sie die etruskische Bildhauerei und Malerei. Berühmt geworden sind die Tomba Bernardini und die Tomba Barberini in Praeneste mit außergewöhnlichen Grabbeigaben, darunter orientalische Importe aus der Zeit um 650. Im Norden verbreiteten sich eher Tholosgräber mit Kraggewölben (eines der bedeutendsten bei Quinto Fiorentino). Die Kuppelgräber könnten aus dem ägäischen Raum über Sardinien nach Etrurien gekommen sein. Architektonisch waren die Grabanlagen nicht anders gebaut als die etruskischen Häuser. »Die Grabanlagen […] ahmen in ihrem Innern die Architektur des Wohnhauses nach.« Als nach 400 die Feuerbestattung wieder zunahm, errichtete man für die Urnen Felsnekropolen als Fassadengräber. Die Fassaden wurden vor allem in hellenistischer Zeit wie bei Palästen gestaltet. Eindrucksvolle Beispiele sind die aus dem späten Hellenismus stammenden, Tempelfassaden nachahmenden Felsgräber wohlhabender Familienclans in Karien, Lykien (Telmessos, Myra, Kaunos, Termessos), oder jene von Petra in Jordanien. Anders als von der griechischen Malerei sind uns von der etruskischen durch ihre geschützte Verwendung in Nekropolen zahlreiche Beispiele erhalten geblieben. Die Sepulkralkunst in echter Freskotechnik und al secco (daneben gab es auch Ausstattungen von Tempeln und Privathäusern in gleicher Technik) erreichte ihren Höhepunkt vom 6. bis in die Mitte des 5. Jh.s in der Grabmalerei rund um Tarquinia. Dort gab es tausende von Hypogäen, von denen etwa 60 samt Malereien noch erhalten sind. Die Hymnen der Kunsthistoriker auf diesen Nachlass überbieten sich geradezu: »[…] prachtvollste[n] Wandgemälde der Mittelmeerwelt außerhalb von Ägypten.« Oder: »[…] the setting for one of the most extraordinary

Bildhauerei und Malerei

Sprenger/Bartoloni 1990, 52f

Pallottino 1942, 112f Cristofani Mauro in Cristofani u.a. 1995, 38 Prayon 1996, 86

V.3.1.

167 Etruskische ­Grabmalerei in ­Tarquinia (5. Jh.a) Prayon 1996, 23

402

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Roncalli Francesco in Kat. 2000b, 344–363, hier 352 Pallottino 1942, 258

Prayon Friedhelm in Kat. 2000b, 334–343, hier 335

Sprenger/Bartoloni 1990, 67

168 »Ehepaar von ­Cerveteri« (6.Jh.a); MVG

Tempelbau

Donati Luigi in Kat. 2000, 312–333

moments in ancient western painting […].« Ähnlich Massimo Pallottino: »Dieser exzeptionelle Komplex von Denkmälern bietet uns die größte und wertvollste Serie von Dokumenten, die wir über die antike Malerei in der griechisch-italischen Welt von der archaischen bis zur hellenistischen Zeit besitzen.« Was Pallottino für den Komplex von Tarquinia angibt, gilt generell für die etruskische Grabmalerei, die Rückschlüsse nicht nur auf religiöse Vorstellungen mit hoch entwickelten Jenseitserzählungen, sondern auch auf das tägliche Leben und die sozialen Verhältnisse der Kultur ermöglichen: »Etruscan tomb paintings themselves are of a cultural and artistic importance unrivaled anywhere in the western Mediterranean.« Auch in der Malerei ist die Abhängigkeit von den griechischen Vorlagen (soweit rekonstruierbar) offensichtlich, ja vermutlich haben wir hier ein wertvolles Erbe griechischer Malerei, von der in Griechenland selbst nichts mehr vorhanden ist, vor uns. »Die Malereien spiegeln das Leben der aristokratischen Gesellschaft wider, der die Inhaber jener aufwendigen Gräber angehörten. Das Spektrum der dargestellten Szenen umfaßt Gelage, Spiele, Leichenfeiern, sportliche Wettkämpfe, Jagd, Fischfang, Musik und Tanz; nur vereinzelt gibt es mythologische Schilderungen und Bilder einer Totenklage.« Die Symposiumsszenen zeigen einen deutlichen Bezug zum griechischen Dionysoskult (Beispiel Tomb of Triclinum um 480 in Tarquinia). Ähnliche Motive finden sich in der hervorragenden Vasenmalerei, die weit­ gehend aus Griechenland importiert wurde. In den einschlägigen Museen Unter­ italiens stehen häufig Vasen aus den etruskischen Gräbern, die teilweise eine höhere Qualität aufweisen als jene in Griechenland. Im 4. und 3. Jh. ging nicht nur die Qualität deutlich zurück, auch die Themen wurden dunkler. Unter römischem Einfluss wurden nun die negativen Seiten des Todes thematisiert. Die skulpturale Kunst umfasste neben der Male­rei auch Architekturplastik, Grabstatuen und Weihegaben. Die Übereinstimmung mit griechischen Vorbildern in der Plastik ist unübersehbar. Als Neuerung brachten die Etrusker die Darstellung der Verstorbenen auf den Sarkophagen, eine Eigenheit, welche die Römer in ihrer Grabkunst übernahmen. Die Etrusker arbeiteten in Ton, Vulkangestein und waren Meister des Bronzegusses. Als einziger Künstlername ist uns jener des aus Veji stammenden Bildhauers Vulca überliefert, dem man Tätigkeiten in Rom nachsagte. Im späten 6. Jh begann schließlich mit dem Tempelbau eine bedeutende Architekturleistung in Etrurien, der sich parallel zum Privathaus und zu den Grabanlagen entwickelte. Auch hier lehnten sich die Formen an griechischen Vorgaben an und wie in Griechenland verwandte man am Anfang Holz (für die Säulen und das Gebälk), Lehmziegel (für die Mauern) und Terrakotta (für Dach und den reichen und bunten skulpturalen Schmuck), ehe man zum Steinbau überging. Eine gedrungene Form und große Säulenabstände ließen den etruskischen Tempel eher erdverbunden erscheinen. Als wichtigster Unterschied zum griechischen Tempel ist die Frontalität

403

Rom

und die damit verbundene Ausrichtung zum Platz vor dem Tempel zu erwähnen. Sie basiert auf einem bereits bei den Etruskern anhebenden Organisationsprinzip für den Raum, während bei den Griechen philosophisch eine abstrakte Sicht auf eine zeitlose Einheit dominierte. Um 470 begann – etwas zeitverzögert – die Klassik, ehe um 300 der Hellenismus – dieser jedoch vermittelt durch Rom – auch in Etrurien Einzug hielt. Die Zeiten in Etrurien waren schwieriger geworden und die Verbindung nach Griechenland lockerer. Trotzdem hielt die Kunst das Niveau und es blieb die Übereinstimmung mit der griechischen Kunst bestehen. Kunsthistorikerinnen loben die Architekturplastik in Orvieto, die Steinmetzarbeiten in Chiusi, die Grabmalerei in Tarquinia und die Bronzekunst in Vulci um die Wende ins 4. Jh. Der Hellenismus spielte in einer Zeit, in der die etruskischen Städte nicht mehr unabhängig waren. Sie ordneten sich in den künstlerischen Mainstream ein und es kam zu einer Massenproduktion von Sarkophagen, Urnen und Votivgaben als »Zeugnis für die Proletarisierung des etruskischen Menschen hellenistischer Zeit.« Die Darstellungen folgten einem Naturalismus praktisch ohne idealistische Überhöhung. Spätestens mit der Verleihung des römischen Bürgerrechts im Jahr 89a an die Etrusker endete die eigenständige etruskische Kunst.

3.1.3. Von der Gründung Roms bis zum Ende der Republik Die Legende (die in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s aufkam) schreibt die Gründung Roms den Zwillingen Romulus und Remus zu, die an der Südseite des Palatins von einer Wölfin und von Vögeln gesäugt und genährt wurden. Die Gründung soll (nach Terentius Varro) am 21. April 753 stattgefunden haben, was als Beginn der Zeitrechnung (ab urbe condita) die römische Zeiteinteilung begründete. In unseren Tagen machte kurz nach 2000 die Nachricht von der Entdeckung jener Grotte (Lupercale) auf dem Palatin die Runde, die in der Antike als Ort dieser Legende verehrte wurde. Diesen legendären Anfang betteten die philhellenischen Römer des 4. und 3. Jh.s, die ihre Abstammung auf die Griechen zurückführen wollten, noch in eine andere Geschichte ein und machten aus Romulus einen Nachfahren des Aeneas. Es war der römische Dichter Vergil, der den Römern diesen Gründungsmythos (Aeneis) schenkte, in dem er den trojanischen Prinzen und Sohn der Aphrodite/Venus, Aeneas, auftreten ließ. Dessen Sohn Ascanius (Stammvater des Geschlechts der Julier) wiederum gründete Alba Longa, die Mutterstadt Roms. Bei den Nachkommen dieses Geschlechts gab es eine Vestalin, die verbotenerweise dem Kriegsgott Mars Zwillinge gebar und sie in einem Körbchen auf dem Tiber aussetzte. Die von einer Wölfin gesäugten und einem Hirten großgezogenen Zwillinge wurden schließlich die Gründer Roms. Der Geschichtsschreiber Titus Livius zögerte nicht, in seinem Geschichtswerk Ab urbe condita diese Gründungsgeschichte zu referieren. Damit ließen sich neben Romulus und Remus alle Könige Roms auf Aeneas zurückführen und selbst Cäsar berief sich in halsbrecherischer Ahnenforschung auf diese Abstammung. Woher die Stoffe der Mythen stammten, wissen wir nicht. Die Abstammungs-

2.3.2.

Sprenger/Bartoloni 1990, 37

Ebd., 39

404

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Marek 2010, 286f

Cicero, De re publ. II, 10f

Königtum

Coarelli 2011, 49f Prayon 1996, 52

legende von Troja scheint in das 5. Jh. zurückzugehen, politisch interessant wurde sie, als sich Rom für Kleinasien zu interessieren begann. In antiker Zeit sah man im legendären Nachfolger von Romulus, König Numa Pompilius, den Schöpfer der religiösen Erzählungen und der Mythen. Die Legende machte ihn gegen jede historische Faktenlage gar zu einem Schüler des Pythagoras. Wie im Alten Orient waren auch für das Selbstverständnis der römischen Stadt legitimierende Mythenerzählungen wichtig. Und es zeigt sich an diesem Beispiel, welche Autorität die griechische Kultur und das zum Mythos gewordene und dementsprechend verehrte Athen in Rom hatten. Die archäologische Forschung bemüht sich sehr und durchaus erfolgreich, belastbare historische Grundlagen für die frühe Geschichte Roms zu finden und das Historische vom Mythischen zu trennen. Demnach scheinen es Latiner und Sabiner gewesen zu sein, die an diesem unwirtlichen Ort ohne natürlichen Hafen, aber immerhin an einer Tiberfurt gelegen (vielleicht eine Station auf der Händlerroute nach Veji), die Hügel in Besitz nahmen, die aus dem sumpfigen Schwemmgebiet des Tibers herausragten. Cicero lobte übrigens die topographische Lage Roms und die Weisheit der Gründer ausdrücklich. Etrusker schlossen die Streusiedlung um 575 zu einer Stadt (ein Zusammenschluss, den die Griechen synoikismos nannten) zusammen und gaben ihr den etruskischen Namen Rom. Die (nach der kanonischen Zahl) auf sieben Hügeln gebaute Stadt soll bis zum Ende des 6. Jh.s von sieben Königen auf einer Burg am Kapitol (dem kleinsten Hügel) regiert worden sein, wobei die drei letzten Etrusker waren. Es wurde unter ihnen eine Brücke über den Tiber (Pons Suplicius) geschlagen und Palisaden zum Schutz der Siedlungen in den Boden gerammt. Sie nahmen die Trockenlegung des versumpften Landes (cloaca maxima bzw. ihrer Vorgängeranlagen) in Angriff, sorgten für großräumige Pflasterungen und bauten die ersten Heiligtümer, die anfangs nur langsam die Form von Tempeln annahmen. Die Könige besaßen eine uneingeschränkte Macht (imperium), deren Zeichen ein um eine Axt gebundenes Ulmen- oder Birken-Rutenbündel (fasces) war. Die Form bereits der frühen Stadt verweist auf eine kaum zu übersehende ideelle Deutung. Die Stadt als eingefriedeter Bereich, der sie vom Umland trennt, kannte das Forum als Raum der gesellschaftlichen Aktivität und Legitimationssicherung und die Akropolis, den Sitz der schützenden Stadtgottheit. Zum Unterschied von den altorientalischen Städten war der Bewohner der römischen Stadt aber kein Untertan der Gottheit oder der Priester. Auf dem kapitolinischen Hügel dürfte im ältesten Tempel jener des Jupiter Feretrius (vermutlich unter dem König Numa) gewesen sein. Daneben entstand vermutlich unter Tarquinius Superbus der Tempel für den Jupiter Optimus Maximus (neben den zur Trias gehörenden Göttinnen Juno Regina und Minerva) mit dem Kultbild des Bildhauers Vulca. Dieser Tempel dürfte gewaltige Ausmaße gehabt haben und ein Produkt des Wettbewerbs mit den griechischen Städten auf der Halbinsel gewesen sein. Die Konzeption der gesamten Anlage, gewissermaßen der Masterplan der Stadt, oblag den Auguren, die dazu direkt die Götter befragten. Die alte Dialektik von materieller (Stichwort: »Speicherplatz agrarischer

405

Rom

Produkte«) und philosophisch-religiöser Grundlegung der Stadt, spielte auch hier eine Rolle. Frank Kolb will nicht ausschließen, dass es Griechen waren, die »einen siedlungsplanerischen Akt sakral legitimiert« haben. Um 510a soll es zur Absetzung des letzten etruskischen Königs durch den römischen Adel und zur Einführung der Republik (lat. res publica/Sache des Volkes) gekommen sein, die über einen längeren Zeitraum hinweg Gestalt annahm. Historiker verweisen beim Datum auf den wundersamen Zusammenfall mit der Vertreibung des Tyrannen Hippias aus Athen im gleichen Jahr und vermuten Geschichtskonstruktion und ein späteres Ende der Königszeit. Im Prinzip ging es um die Sicherung der Macht für die Patrizier gegenüber den in der Königszeit stark gewordenen niederen sozialen Schichten. Darin lag der Keim für die heftigen sozialen Auseinandersetzungen während der Republikzeit. An die Stelle der Könige traten zur Ausübung des Imperiums (der Herrschergewalt) zwei für ein Jahr gewählte Konsuln. Sie übernahmen das Rutenbündel als Machtsymbol. In Notzeiten konnten die Konsuln für eine begrenzte Zeit einen Diktator einsetzen, eine Regelung, von der immer wieder Gebrauch gemacht wurde. Daneben bildete sich eine Ämterhierarchie (Prätoren, Quästoren, Ädilen, Zensoren) zur Unterstützung der Konsuln bei der Führung des Staates. Ihnen stand als beratendes Gremium der Senat zur Seite. Die Amtsgewalt »wurde von den Begründern der Republik mithin keineswegs zerschlagen, sondern nur aufgeteilt.« Diese ausgeprägte Pointierung der Befehlsgewalt, deren Bezeichnung Imperium schließlich auch für das Riesenreich selbst verwandt wurde, gab auch der Kultur die Ausrichtung. Sie wurde – anders als in Athen – praktisch vollständig in den Dienst dieses Imperiums gestellt. Am Anfang nahmen die Patrizier mit Verweis auf ihre privilegierte Stellung zu den Göttern die wichtigen Ämter ein. Doch der Wettbewerb mit den selbstbewusst gewordenen Plebejern führte zu einer Transferierung der politischen Macht peu à peu an die Volksversammlungen (comitia), das eigentlich gesetzgebende Organ. 367 wurde das Amt des Konsuls auch für Plebejer geöffnet (zuerst einer der beiden Konsuln; 172a gab es zum ersten Mal zwei Plebejer als Konsuln). Dass, um diesen Ausgleich der politischen Interessen nachhaltig zu machen, auf dem Forum ein Tempel für Concordia (die vergöttlichte Eintracht) errichtet wurde, ist ein Beispiel dafür, wie sehr die Religion mit den Interessen der Politik verflochen war. Die Bürger Roms erkämpften sich zudem das Amt des Volkstribuns, der als Kontrolleur der Konsuln und Prätoren fungierte. Für diese für Rom charakteristische Aufteilung der Macht zwischen aristokratischem Senat und dem Volk erfand man das Kürzel SPQR (lat. senatus populusque romanus/Senat und Volk von Rom). Brennpunkt des politischen Geschehens war das Forum Romanum rund um das Senatsgebäude (Cura Julia) und das Versammlungsrund der Bürger (Comitium). Neben politischen und sakralen Bauten und Einrichtungen zur Rechtsprechung wurde auf dem Forum auch Handel betrieben, dort eher mit Luxusartikeln, während es daneben Märkte für Rinder (Forum Boarium), Gemüse (Forum Holitorium), Fische (Forum Piscarium) und einen Naschmarkt (Forum Cuppedinis) gab. In der Kaiserzeit realisierten die jeweiligen Kaiser ihre eigenen Foren, das Forum Romanum diente

I.4.3.4. Kolb 1984, 153 Republik

2.2.1.

Blösel 2015, 32

Forum Romanum

406

Die antike Welt – Griechenland und Rom

IV.1.2.

Harris William in ­Cristofani u.a. 1995, 58

Coarelli 2011, 119

nur mehr Propagandazwecken, was die Kaiser durch zusätzliche Bauten an diesem Ort freilich auch rege nutzten. Die ersten Jahrhunderte Roms waren geprägt von Kämpfen zur Konsolidierung der Herrschaft, in erster Linie mit den Etruskern, das neben der militärischen Auseinandersetzung auch Bündnisse mit den einzelnen Stadtstaaten (z.B. Caere) einschloss. Dieses Ringen gipfelte in der Eroberung von Veji 396, wodurch Rom sein Territorium mit einem Schlag verdoppelte. Veji war auf sich alleingestellt, vermutlich weil die anderen etruskischen Städte durch die aus dem Norden anrückenden Gallier unter Druck standen. Die Gallier drängten die Etrusker aus der Poebene auf ihr Kerngebiet zwischen Arno und Tiber zurück. Auch Rom erlebte eine unliebsame Begegnung, als 387 die Gallier die Stadt eroberten, der letzte Einfall eines fremden Volkes für 800 Jahre, als Alarich 410p die Stadt plünderte. Rom zog nach diesem Ereignis eine massive, elf Kilometer lange Mauer (Servianische Stadtmauer; Reste bei der Stazione Termini) auf, um sich vor solchen Geschehnissen zu schützen. Angeblich gab es eine Fraktion, die das zerstörte Rom überhaupt aufgeben wollte und für eine Übersiedlung in das blühende Veji warb. Der Wiederaufbau innerhalb dieser Mauern erfolgte pikanterweise weitgehend planlos und nicht nach der sonst überall angewandten Geometrie. Auf die Expansion Roms hatte dieser Vorfall jedoch kaum eine Auswirkung. Im 3. Jh. unterwarf Rom die etruskischen Städte endgültig und es kam eine »kulturelle Romanisierung« in Gang. 89a erhielten die Etrusker das römische Bürgerrecht. Die führende Schicht der Bevölkerung begrüßte die Eingliederung in den römischen Staat. Schon bei dieser Ausschaltung des mächtigsten Konkurrenten zeigte sich eine Wesensart Roms. Denn zum Beuteschema gehörte die Übernahme unzähliger Kulturleistungen der Etrusker. Wir werden in Kunst und Architektur, vor allem im Tempelbau, wieder darauf stoßen. Aber auch Sitten und Herrschaftszeichen, wie etwa der Brauch des Triumphzugs, waren etruskisch. Ebenso die umfangreiche Beschäftigung mit Mantik, die nicht nur zur Verquickung von sakraler und politischer Kompetenz der römischen Beamten führte, sondern auch der römischen Religion gegenüber der griechischen eine ausgeprägte Bodenhaftung in Politik und Gesellschaft verlieh. Nach den Etruskern unterwarf Rom die Latiner (381 die Stadt Tusculum) bzw. schloss mit ihnen Verträge (darunter das Foedus Cassianum, dessen Datierung umstritten ist) und in nach ihnen benannten und bis 290 dauernden Kriegen die Samniten in Mittel- und Unteritalien. Besonders nach den Samnitenkriegen stieg angesichts zahlreicher Gelübde die Zahl der Tempelbauten signifikant an. Man sprach in diesem Zusammenhang auch schon von einer »Siegestheologie«. Geweiht wurden die meisten dieser Tempel auf die in Rom als Victoria verehrte Siegesgöttin Nike und ihre personalisierten Eigenschaften, die schon im Hellenismus verbreitet waren. »Die gesamte politische, militärische und religiöse Struktur des römischen Staates jener Zeit drehte sich um eine Ideologie des Sieges, die ihren Höhepunkt in den Triumphzügen fand […].«

407

Rom

Die Expansion Roms ließ es im Süden an die Stadt Tarent im heutigen Apulien stoßen. Damit war die Front gegen die Griechenstädte eröffnet, die als durch interne Streitereien geschwächte Beute erschienen. Tarent holte sich Unterstützung des Königs von Epirus in Nordgriechenland, Pyrrhus I., der seinerseits Ambitionen auf das Land hatte. Zwei opferreiche Schlachten entschieden die Griechen für sich (»Phyrrhussieg«), ehe die Römer 275 bei Benevent triumphierten. Die Sieger beluden ihre Lastkarren mit griechischen Skulpturen aus Tarent und schafften sie nach Rom. Mit diesem Sieg hatte sich Rom in der mediterranen Welt als neuer globaler Mitspieler eingeführt. Zur Verbindung des immer größer werdenden Gebietes wurden zügig große Straßenverbindungen gebaut (Via Appia 312, Via Aurelia 241, Via Flaminia 220). Die Aneignung der Städte geschah in der Regel auf zweifache Weise: Entweder wurden sie zerstört und neu aufgebaut (colonia) oder als bestehende assimiliert (municipium). Der Aufstieg zur Weltmacht begann, nachdem die einzig verbliebene Großmacht im Mittelmeerraum, Karthago, besiegt werden konnte. Karthago war um 800 von den Phöniziern als Handelsstützpunkt gegründet worden und hatte sich bis zum 3. Jh. zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Metropole mit zahllosen Handelsniederlassungen im gesamten Mediterran entwickelt. Zur Frage, ob Karthago überhaupt an überseeischem Territorialbesitz interessiert war, gibt es in der Forschung widersprüchliche Antworten. Das Verhältnis zum aufstrebenden Rom war anfangs gut und basierte auf mehreren Verträgen. 264 jedoch begann ein Stellvertreterkrieg auf Sizilien zwischen dem von den Römern unterstützten Messina und dem von den Karthagern gestützten Syrakus. Die Römer siegten, was 262 den zwanzig Jahre währenden Ersten Punischen Krieg auf Sizilien auslöste. Im Verlauf dieses Krieges baute Rom seine erste Flotte, der die Zerstörung der karthagischen Flotte bei den Aegatischen Inseln nördlich von Sizilien gelang. Rom diktierte Karthago einen harten Frieden, der den Keim des Zweiten Punischen Krieges in sich barg. Karthago versuchte, seine Verluste durch die Ausbreitung nach Spanien wettzumachen. Die Überschreitung des Ebro als beiderseits akzeptierter Grenze der Interessenssphären durch Hannibal markierte den Kriegsbeginn des zweiten Krieges gegen Karthago (218–201), in dessen Verlauf es zum berühmten Marsch Hannibals durch Spanien und über die winterlichen Alpen (neueste Funde weisen auf die Route über den Col de la Traversette) Richtung Rom kam. Am Trasimenischen See ließ Hannibal die Römer in eine Falle laufen und schlug sie vernichtend. Das römische Heer war besiegt, der Weg nach Rom frei. Über die Frage, warum Hannibal es nicht eingenommen hat, wird noch heute angeregt diskutiert. Es wäre schön, könnte man Hannibals Kulturliebe dafür verantwortlich machen, dass er zwar Rom schwächen, ihm seine Bundesgenossen abspenstig machen, aber die ehrwürdige Stadt nicht zerstören wollte. So jedenfalls sah es der in höchster Not zum Diktator ausgerufene Quintus Fabius Maximus, der empfahl, Hannibal hinterher zu ziehen und die zu ihm übergelaufenen Städte wieder einzusammeln. Eine Feldschlacht hielt Fabius Maximus für aussichtslos. Rom hat es ihm, den man als Cunctator (Zauderer) verspottete, für das erste nicht gedankt. Er blieb der letzte gewählte Diktator.

Punische Kriege

408

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Hellenisierung Italiens

Seine Nachfolger versuchten es wieder mit einem großen Heer, das mit letzter Kraft zusammengekratzt wurde und eine dramatische Demonstration von Hannibals genialer Feldherrenkunst ermöglichte. Die Schlacht von Cannae am 2. August 216, bei der das karthagische auf ein doppelt so starkes römisches Heer traf, endete in einem furchtbaren Gemetzel – neben fast 50 000 römischen Soldaten blieben 80 Senatoren auf dem Schlachtfeld liegen. In höchster Not setzte Rom wieder auf Quintus Fabius Maximus. Zum Konsul gewählt, setzte er seine Taktik fort und hatte schließlich Erfolg. Er zermürbte die Karthager, schnitt ihnen den Nachschub ab, zerstörte die Ernten und hungerte sie aus. Publius Cornelius Scipio (Africanus maior) konnte auf dieser Grundlage den Krieg endgültig entscheiden. Er griff Karthago selbst an und schlug 202 den in höchster Not zurückgerufenen Hannibal bei Zama. Es war derselbe Scipio, der 194 in Rom die Ludi Megalenses gründete, die ersten der Magna Mater gewidmeten Festspiele für die philhellenische Oberschicht der Römer. Dieser Sieg machte Rom endgültig zur einzig verbliebenen »Weltmacht« des Mittelmeerraums. Auf dem Weg dorthin, scheute es sich nicht, die blühenden syrischen und griechischen Perlen auszutreten. Am schlimmsten traf es Karthago, das nach einer kaum erwähnenswerten (vermutlich von Rom provozierten) Übertretung der Vertragsbestimmungen 146 im dritten, auch in Rom selbst umstrittenen Punischen Krieg von Publius Cornelius Scipio (Africanus minor) unbarmherzig ausgehungert und ausradiert wurde, obwohl es alle Auflagen erfüllte und die Kriegsreparationen früher zurückgezahlt hatte als vereinbart. Der römische Senat befahl, jeden Ziegel zu zerschlagen und die zerstörte Stadt umzupflügen. Die Überlebenden wurden in die Sklaverei verkauft. Es ist dies die radikalste Auslöschung einer Erinnerung an eine kulturelle Hochblüte, die in der Geschichte denkbar ist. Die Auslöschung Karthagos geschah übrigens im gleichen Jahr 146, in dem auch Korinth dem Erdboden gleichgemacht wurde. Aus der Sicht vieler ehrenwerter Angehöriger der führenden Schicht hatte Rom mit diesem Akt die alte virtus-Vorstellung und jede hehre Überlegung von der Rechtmäßigkeit eines Krieges verraten. Die Rechtmäßigkeit eines Krieges aber war unter anderem eine Voraussetzung für die Bewilligung eines Triumphzuges durch den Senat. 197 siegte Rom bei Kynoskephalai über Philipp V. von Makedonien, 191 siegte Rom bei Magnesia über das Seleukidenreich, 168 siegte Rom bei Pydna endgültig über Makedonien. Das Reich fühlte sich befreit und stark. Allerdings verstärkte die Berührung mit dem Osten die Hellenisierung der Halbinsel. Dagegen erhob sich Protest von konservativen Eliten, etwa vom Konsul Cato dem Älteren. Cato kritisierte die Prunksucht der Politiker, namentlich ihre Liebe zu verherrlichenden Statuen. In seinem Geschichtswerk (die bewusst in lateinischer Sprache verfassten Origines, während ältere historische Werke noch auf Griechisch verfasst worden waren) verschwieg er penetrant die Namen der Feldherren und stellte die Siege als solche des römischen Volks dar. Auch die Übernahmen griechischer Stoffe in der Literatur, namentlich in den Komödien des Plautus, stießen auf Misstrauen. Cato beauftragte 184 den Bau der ersten Basilika in Rom (eine ältere

409

Rom

gab es bereits in Pompeji), der Basilica Porcia (nach Porcius Cato), auf dem Forum Romanum. 155 hielt der Leiter der Platonischen Akademie und Skeptiker Karneades von Kyrene Vorträge in Rom und schien vor allem die Jugend damit begeistert zu haben. Die konservativen Kreise um Cato betrieben erfolgreich die rasche Beendigung dieser »Philosophengesandtschaft«. Trotz dieser Widerstände war der Einfluss der Griechen nicht mehr aufzuhalten. Rom importierte die faszinierende Kultur des Ostens. Horaz sagte später: »Graecia capta ferum victorem cepit et artes intulit agresti Latio« (Das unterworfene Griechenland überwältigte den rauen Sieger und brachte die Segnungen der Kultur zu den unkultivierten Latinern). Wagenladungen an griechischen Kunstwerken zogen nach Rom, um dort bei den Triumphzügen stolz gezeigt zu werden. Mithridates VI., der lästige, sich immer wieder erhebende Gegenspieler Roms, sprach von den »plündernden Römern«, wie uns Sallust berichtet. Und Cicero zeigte in seiner Rede gegen Verres, der Plünderungen griechischer Kunstschätze in großem Stil durchführte, Verständnis für die Wut der Griechen darüber: »[…] für die Griechen aber war und ist nichts kränkender als derartige Plünderungen von Tempeln und Städten.« Es war gewiss auch das große Pathos, das die Römer mit ihrem Hang nach legitimierenden Erzählungen am Hellenismus schätzten. Formal bevorzugten intellektuelle Kreise in Rom freilich die griechische Klassik des 4. Jh.s. Nicht wenige Statuen, die heute in den italienischen Museen stehen, wurden aus dem Meer geholt. Sie stammen aus vollbeladenen Schiffen, die auf dem Weg nach Rom verunglückten. Der grandiose Fund der Krieger vor der Stadt Riace wurde bereits erwähnt. Neben Kunstwerken wurden auch ganze Bibliotheken nach Rom transferiert. »[…] es wurde unter reichen Römern geradezu Mode, in ihren Stadthäusern und Landvillen umfangreiche Privatbibliotheken zusammenzutragen.« Schließlich war Rom reicher mit griechischer Kunst bestückt als die Heimat der Exponate. »Rom war zum größten Museum für griechische Kunst geworden – und zu deren Grab, als die Urbs selbst von Plünderungen und Zerstörungen heimgesucht wurde.« Rom war vielleicht noch in anderer Hinsicht ein Grab der griechischen Kunst. Man schätzte sie als Statussymbol und als Medium der Selbstvermarktung. Eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Wesen von Architektur und Kunst vermisst man in Rom allerdings schmerzlich. Zahlreiche griechische Künstler und Architekten kamen im 3. Jh. aus verschiedenen Gründen (z.B. durch die Feldzüge des Scipio Asiaticus) nach Rom, ebenso wie stolze Römer der gehobenen Schicht, deren Kunstgeschmack sich auf die hellenistische Kunst ausgerichtet hatte, ihre Villen mit Mosaiken und Fresken ausstatten ließen und Sammlungen griechischer Skulpturen anlegten. 240 hatte Livius Andronicus, den Varro zum Begründer der lateinischen Literatur machte, die griechische Dichtung nach Rom gebracht und die Odyssee übersetzt. Plautus aus Sarsina und Terenz schrieben Komödien. Besonders Plautus übernahm dabei Stoffe aus den griechischen Vorlagen. Lucilius begründete die Satire, deren Wurzeln in den Kynismus und die griechische Satire zurückreichen.

Horaz, Epist. 208

Sauron 2013, 44–48 Cicero, Verr., 2,4,133

2.4.1. Greenblatt 2011, 70

Sauron 2013, 17

lateinische ­Literatur

410

Die antike Welt – Griechenland und Rom

2.6.1.

Ebd., 49

Schollmeyer 2008, 40 Sozialreformen

Baker 2006, 98f

Die Satire war stets ein Gegendiskurs gegen das große Literaturwerk, und zwar groß der Quantität und Qualität (das Ernste, Tragische und Systematische) nach. Der alexandrinische Ironiker Kallimachos von Kyrene pflegte zu sagen: »Ein großes Buch ist ein großes Übel« (mega biblion, mega kakon)! Die Satire stellte das Kleine, Gebrochene und Fragmentarische dagegen. In der Kaiserzeit karikierten Satiriker wie Horaz, Persius oder Juvenal die Kaiser und das Leben in der Großstadt. Sie waren parteiisch und politisch inkorrekt. Horaz ergriff Partei für Oktavian und richtete seinen Stift gegen Kleopatra, die er ein fatale monstrum (ein verhängnisvolles Ungeheuer) nannte. Ein weiterer Schub von gebildeten Menschen kam nach den großen Kriegen gegen Griechenland und Makedonien nach Rom. Die in Italien ansässigen Bauhütten und Bildhauerateliers (artifices oder plastai) konnten sich über mangelnde Aufträge nicht beklagen. »Die Ankunft griechischer Künstler sollte das nunmehr romanisierte Italien binnen weniger Jahrzehnte in eines der aktivsten künstlerischen Zentren der antiken Welt verwandeln, mit einer unvergleichlichen Fülle an bemalter Terrakottaplastik in sämtlichen von den Griechen ersonnenen Stilen.« Im 3. und 2. Jh. fanden sich zahlreiche orientalisierende und ägyptische Motive. »Die gegenseitigen Beeinflussungen auf diesem Gebiet waren insgesamt gesehen enorm, zumal die Handwerker im ganzen Reich tätig gewesen sind und in ganzen Gruppen geschlossen von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte reisten.« Es gab in den Bauhütten und Ateliers eine gut funktionierende Aufgabenteilung. Im Inneren verschärften sich die sozialen Konflikte. Die große Zahl der Kriegsgefangenen machte die Sklaven und deren Arbeit immer billiger. Leidtragende waren die freien Bauern, die verarmten und sich das Land von Großgrundbesitzern abkaufen lassen mussten. Die Verteilung des wachsenden Wohlstandes war einseitig. Tiberius Gracchus, obwohl aus einer vornehmen Familie der römischen Nobilität, betätigte sich als sozialreformerischer Volkstribun. Gegen den massiven Widerstand der Nobilität plante er die Enteignung von Land zugunsten der Kleinbauern. Sein Vorgehen war wenig zimperlich. Er setzte verfassungswidrig einen anderen widerstrebenden Volkstribun ab, hebelte die Kompetenzen des Senats aus und wollte sich, auch verfassungswidrig, 133 wiederwählen lassen, um seine Reformen abschließen zu können. Es kam zum Eklat, ein Mob, darunter auch Senatoren, zogen mit Knüppeln zum Kapitol und erschlugen 300 Menschen. Bei den Toten lag auch Tiberius. Tiberius’ jüngerer Bruder Gaius, brillanter Redner und Agitator, führte das Vermächtnis seines Bruders fort, nahm sich allerdings – bei einem Aufstand in die Enge getrieben – das Leben. Rom war dabei, im 2. Jh. für den Aufstieg zur einzigen Supermacht des Mittelmeerraumes und für den angehäuften Reichtum einen hohen Preis zu bezahlen. Der Preis war, »wie ein damals lebender konservativer Senator vielleicht gesagt hätte, der Verlust von Gerechtigkeit, Anstand und Ehre […].« Dieser Verlust, verbunden mit Korruption und Machtgier, führte schließlich zum Zusammenbruch der Republik. Beide Parteien, die konservativen Aristokraten des Senats (Optimaten) und die Partei der Volksversammlung (Popularen), glaubten, im aufgeheizten Klima nach der Grac-

411

Rom

chen-Affäre den Staat im Namen der »Freiheit« vor dem jeweiligen Gegner beschützen zu müssen. Aus den heftigen Wirren der Folgejahrzehnte, wo die italische Halbinsel auch durch Kriege gegen abgefallene Bundegenossen massiven Schaden erlitt, arbeitete sich Lucius Cornelius Sulla nach oben. Er errang nach einigen Erfolgen im Bundesgenossenkrieg im Osten einen ersten Sieg gegen den aufständischen Mithridates VI. von Pontos (der seinen Namen übrigens auf den persischen Gott Mithras zurückführte), zerstörte und plünderte die Heiligtümer in Epidauros, Olympia und Delphi, plünderte im Jahr 86a Athen (dabei fielen ihm, wie in 2.4.3.3.1. berichtet, die Schriften des Aristoteles in die Hand), erkämpfte sich die Macht auf der Halbinsel, überschritt bei seiner Rückkehr nach Rom demonstrativ die heilige Grenze des Pomeriums, ließ sich zum Diktator ernennen und führte gegenüber einem paralysierten Senat brutale Säuberungen durch. Neue Gesetze drängten die Popularen zurück, beschränkten die Macht der Volkstribunen und stärkten vice versa die Autorität des Senats (in dem freilich auch Plebejer saßen; es ging ihm also mehr um die Institution als um Parteien). 79 trat er als Diktator ab und zog sich in das Privatleben auf sein Anwesen bei Pozzuoli zurück. Zur Legitimation seiner blutigen Herrschaft startete Sulla ein großes Bauprogramm. Er ließ die Curia erneuern – Zeichen der Restauration des Senats –, renovierte mehrere Tempel und führte den Kult der Venus Felix (der glückbringenden Venus) ein. Er stellte sich damit den Römern als den durch die Göttin Erwählten vor. Rom entdeckte in dem konservativen Klima seine Liebe zur Geschichtsschreibung, die sogenannten jüngeren Annalisten (die älteren beschrieben bereits den Punischen Krieg – noch in griechischer Sprache) mit stark ausgeschmückten Werken traten auf. Sie wurden freilich von den späteren Geschichtsschreibern Sallust, Livius und Tacitus nochmals in den Schatten gestellt. Die hellenistischen Philosophenschulen fassten Fuß in Rom. Der Epikureer Lukrez war einer der ersten populären Vertreter. Allerdings blieb die Lehre Epikurs in Rom wegen der vermeintlichen Genussverherrlichung den meisten suspekt. Beliebter in der römischen Aristokratie war hingegen das Gedankengut der Stoa, das von Panaitios von Rhodos in die Stadt gebracht wurde. Wir wissen von Kontakten zwischen Panaitios und Scipio dem Jüngeren und seinem Kreis sowie zu Pompeius. Poseidonios traf mit Cicero zusammen, der 87/77 zu seinen Vorlesungen nach Rhodos kam, nachdem er vorher in Athen Antiochos von Askalon in der Akademie gehört hatte. Nach Sullas Rückzug wurden seine Reformen wieder zurückgebaut. Der aus dem Hause der Sergier stammende Politiker Lucius Sergius Catilina, der als Statthalter seine afrikanische Provinz gründlich ausgebeutet hatte, zettelte einen Staatsstreich an, der durch die berühmten Reden Ciceros in letzter Minute vereitelt wurde. Auch die Entwicklungen an der Peripherie des Reiches samt der die Wirtschaft schädigenden Plage der Seeräuberei bereiteten Sorgen. Dazu kam in den Jahren 73 bis 71 ein vom thrakischen Gladiator Spartakus angeführter Aufstand, der an der Existenz des Imperiums rüttelte. Eine Armee von über 100 000 Mann war schließlich nötig, um die lange unterschätzte Rebellion, der sich viele Landlose und Sklaven anschlossen, niederzuschlagen.

2.6.2.

3.4.1.

Spartakus-­ Aufstand

412

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Marek 2010, 626ff

Hasenfratz 1998, 80f

Marek 2010, 372

Gaius Julius Cäsar

Der Aufstand wirft ein Schlaglicht auf ein unappetitliches Kapitel der römischen Unterhaltungsindustrie. Die Gladiatorenspiele waren auf der italischen Halbinsel entstanden. Die Griechen blickten mit Verachtung auf sie und auch auf andere grausame Sitten wie die Todesurteile durch wilde Tiere (damnatio ad bestias). Allerdings fanden diese Spektakel in spätantiker Zeit in den kleinasiatischen Städten, wo sie mit der römischen Kultur importiert wurden, durchaus auch ihre Anhänger. Die Gladiatorenspiele dürften ursprünglich auf etruskische Totenkulte, nämlich auf Menschenopfer bei Begräbnissen, zurückgehen. 105 erlaubte der Senat Gladiatorenspiele auch unabhängig von Begräbnissen. Inzwischen waren sie zu einem tödlichen Schauspiel verkommen. Es gab regelrechte Gladiatorenställe, von denen die Kämpfer an Unternehmer für Auftritte in den Circus-Arenen vermietet wurden. Crassus und Gnaeus Pompeius hießen die beiden Bezwinger des Spartakus-Aufstandes und sie starteten ihre Karriere als Konsuln mit dem Versprechen, die Sullanischen Einschränkungen der Popularen rückgängig zu machen. Pompeius säuberte innerhalb weniger Monate das gesamte Mittelmeer von der Piraten-Plage, schlug den sich immer wieder erhebenden Mithridates endgültig und ordnete den Orient neu. Er brüstete sich damit, 1000 Festungen und 900 Städte erobert und 39 Städte gegründet zu haben, und bereitete dem römischen Senat das Wechselbad der Gefühle Entsetzen und Triumph. Entgegen verbreiteter Befürchtungen in Rom entließ der mächtige Mann seine Truppen, als er wieder italischen Boden betrat, gesetzeskonform bis auf den letzten Mann. Sein Triumphzug ermöglichte Rom einen noch nie dagewesenen »Schaufensterblick auf den Orient.« Auch er adelte seine Karriere mit der Begründung eines Tempelkults, diesmal für die Venus Victrix (die siegreiche Venus). Seine Forderungen nach Versorgung der Veteranen und nach Ratifizierung der von ihm entworfenen Verträge mit dem Orient wurden aber zurückgewiesen. Der letzte des aus Alba Longa stammenden Patriziergeschlechts der Julier, Gaius Julius, ein ehrgeiziger und als extravagant geltender junger Mann, absolvierte die übliche Ämterlaufbahn im Schatten dieser Entwicklungen. Mit besonders aufsehenerregenden Spielen und Gadiatorenkämpfen wusste er sich die Gunst der Bevölkerung zu sichern. Im Jahre 60 regte er ein Triumvirat zwischen ihm, Pompeius und Crassus an und wurde ein Jahr später Konsul. Anders als üblich erhielt Cäsar nach seinem Konsulat drei Provinzen für fünf Jahre als Statthalter, darunter Gallien, sodass er in Ruhe eine Machtbasis aufbauen und ein großes Vermögen anhäufen konnte. Am 10. Januar 49 überschritt er mit seinem Heer verbotenerweise den Grenzfluss zwischen seiner Provinz und Rom, den Rubikon, und zitierte – angeblich auf griechisch – die Worte des Menander: »Hoch fliege der Würfel« – üblicherweise in einer falschen Übersetzung wiedergegeben: »Der Würfel sei geworfen« (lat. alia iacta esto). Das bedeutete Bürgerkrieg gegen den verbliebenen Triumviratspartner Pompeius! Crassus hatte auf der Suche nach einem größeren militärischen Coup bei einem vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Parther eine schmähliche Niederlage erlitten und war 53 dabei umgekommen. Das große Rätselraten über die Motive des ideologisch anscheinend eigenschaftslosen Mannes soll bei diesem knappen Überblick nicht ausgeführt werden. In Rom

413

Rom

hatten einige einflussreiche Senatoren, an erster Stelle der sittenstrenge, die alte römische virtus verherrlichende Stoiker Marcus Porcius Cato, vor dem aufstrebenden Cäsar gewarnt, ohne ein Rezept gegen dessen Skrupellosigkeit zu besitzen. Jetzt schrillten dort die Alarmglocken. Der Senat floh mit Pompeius und der Flotte nach Griechenland. Cäsar schlug sie bei Pharsalus ein Jahr später. Pompeius wich nach Ägypten aus, wo ihn Ptolemäus XIV. ermorden ließ. Cäsar folgte und setzte die im Volk ungeliebte Kleopatra – sich in Thronstreitigkeiten der Ptolemäer einmischend – als Alleinherrscherin ein. Rastlos sicherte Cäsar das Reich, besiegte die Reste der Pompejaner in Spanien, womit der Bürgerkrieg als beendet galt, und wurde 44 als immerwährender Diktator (dictator perpetuus) und Divus Julius (göttlicher Julius) Alleinherrscher. »Der Senat hatte damit nach mehr als fünf Jahrhunderten aufgehört, das politische Zentrum Roms zu sein.« Am 15. März 44 (den Iden des März) fiel er einer Verschwörung zum Opfer. Er starb pikanterweise unter einer von ihm gestifteten Statue des Pompeius. Der von den Mördern erwartete Beifall »klang seltsam gedämpft.« Die Nobilität war ambivalent, die plebs urbana entsetzt darüber, den großen Wohltäter verloren zu haben. Cäsar war nicht nur genialer Stratege, sondern auch ein (unter anderem auf Rhodos) ausgebildeter Rhetor und Schriftsteller. Die Beschreibungen seiner Kriege (De bello Gallico) bedienen sich einer einfachen, klaren Sprache, eine Strategie, die man auch mit jener Luthers verglichen hat. Von Gedichten und einer Tragödie sind nur fragmentarische Reste erhalten. Cäsar sorgte für eine entsprechende Selbstvermarktung durch den Bau eines eigenen Forums, gleich hinter der Curia. Die Anlage war auf den Tempel der Venus Genetrix, der mütterlichen Venus, ausgerichtet, der Cäsar seinen Sieg im Bürgerkrieg (der mit der Schlacht von Pharsalos zu Ende gegangen war) danken wollte. Cäsar schuf den Urtyp der späteren Kaiserforen. Einer der engagierten Bildhauer war Arkesilaos, neben Pasiteles einer der angesehensten Künstler des 1. Jh.s.a. Cäsar begann damit, temporäre Säulenhallen zu errichten, um die großen Mengen an gesammelten Kunstschätzen dort unterzubringen, also eine museale Einrichtung für die Kunst. Dies war ein Beispiel, dem in dieser letzten Periode der Republik viele andere folgten. Er plante wohl auch eine erste öffentliche Bibliothek, die aber erst nach seinem Tod um 40a realisiert wurde.

3.1.4. Die Kaiserzeit Der Cäsarismus führte zur letzten Phase Roms, zum Kaisertum. Erstmals hatte eine Herrscherpersönlichkeit sich in eine »sakrale Sphäre« entrücken lassen. Bilder des Gottes Julius, der neben Iupiter zum Staatsgott aufstieg, mit Cäsars Gesichtszügen waren bei Prozessionen aufgetaucht und er selbst schritt in der purpurnen Kostümierung der alten Könige einher. Zwei Jahre nach seiner Ermordung folgte die offizielle Apotheose, was seinem Großneffen Oktavian den Titel Sohn Gottes (Divi filius) einbrachte. Diese Selbstinszenierung Cäsars fand in dem 1902 mit dem Nobelpreis geadelten Geschichtswerk Theodor Mommsens (Römische Geschichte) eine

Blösel 2015, 245 Dahlheim 2010, 21

Greenblatt 2011, 70f

414

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Rebenich 2006

Augustus

Horaz, Oden, III,2

Baker 2006, 161f

kongeniale Würdigung. Für Mommsen war Cäsar geradezu der personifizierte Hegelsche Weltgeist am Ende der untergegangenen Republik. Aber die römische Geschichte ging weiter. Mit der Ermordung Cäsars war der Weg frei für die Neuordnung und Konsolidierung des Reichs, die Cäsars auf dem Palatin geborener Großneffe und adoptierter Erbe Gaius Octavianus (nach der Adoption nannte er sich Gaius Julius Cäsar und nach der Vergöttlichung Cäsars: Gaius Julius Divi filius Cäsar) energisch anging – mit dem Einsatz großer Geldmittel, die nötig waren, um das Volk auf seine Seite bringen und eine schlagkräftige Armee ausstatten zu können. Dabei verstand er es, die ungebrochene Aura des großen Mannes (bis hin zur Gottessohngeschichte) zu nutzen. Er vermochte die Stimmung gegen die Cäsarmörder in Rom zu verstärken und ließ sie der Reihe nach ermorden. Das im Jahr 43a ausgerufene Zweite Triumvirat (Oktavian, Lepidus und Antonius) leitete mit umfangreichen Proskriptionslisten das blutige Ende der Republik ein. Eines der ersten Opfer war Cicero, der am 3. Dezember 43 umgebracht wurde und dessen Kopf Antonius auf dem Forum Romanum zur Schau stellte. Im Jahr 32 schlug Oktavian gemeinsam mit Marcus Antonius bei Philippi die Cäsarmörder Brutus und Cassius. Einer bekam bei dieser Schlacht lange Beine und desertierte vor dem Grauen. Es war der Haus- und Hofpoet Horaz, der später in einer Ode die Worte drechselte: »Dulce et decorum est pro patria mori« (Süß ist’s und ehrenvoll, sterben fürs Vaterland), ein Spruch, aus dem der britische Dichter Wilfred Owen 1917 (veröffentlicht postum 1920) angesichts der Gräuel des Ersten Weltkriegs ein eindrucksvolles Gedicht machte. Aber, wie so häufig, verändert die Fortsetzung den Sinn: »Auch den Flüchtling ereilet der Tod, verschont nicht die Ferse und den feigen Rücken weibischer Jünglinge.« Antonius überließ dem jungen und kränkelnden Oktavian Spanien und Rom, während er selbst in den Osten zog und Lepidus nach Afrika. Als Antonius sich im Orient einzurichten begann und römisches Gebiet der zu seiner Ehefrau gewordenen Kleopatra schenkte, hatte auch er einen Rubikon überschritten. Oktavian zog nach Ägypten und trieb ihn in den Selbstmord. Nicht anders erging es der letzten ägyptischen Pharaonin, deren schneller Positionswechsel und deren Umgarnungskünste bei Oktavian erstmals versagten. Ägypten war römische Provinz geworden. Die entscheidende Seeschlacht hatte im Jahr 31 bei Aktium in Nordwestgriechenland stattgefunden und es wurde ein leichter Sieg für Oktavian und seinen Admiral Agrippa. Die römische Propaganda stilisierte den Sieg im Sinne eines »Zusammenprall[s] der Kulturen« als Sieg der tugendhaften westlichen Kultur über die verweichlichten und unmoralischen Ausschweifungen des Orients. Für manche Historikerinnen endet mit dieser Schlacht offiziell der Hellenismus, aber die Hellenisierung großer Teile Kleinasiens, darunter auch Anatoliens, ging unvermindert weiter. Oktavian selbst wollte kein Rubikonerlebnis und legte im Jahr 27 theatralisch die eroberten Gebiete dem Senat zu Füßen. Formal gemahnte dies an die Wiederherstellung der Republik, realpolitisch war er freilich der machtvollste Faktor der römischen Politik geworden, zumal das Militär die Loyalität zu Cäsar auf Oktavian

415

Rom

übertrug. Die Kaiserzeit schlich sich, so könnte man sagen, in den Gewändern der Republik ins Imperium. »Die übriggebliebene republikanische Hülle des Römerstaates füllte Oktavian schließlich seit dem Jahr 27 mit etwas Monarchischem: dem Prinzipat.« Oder wie es Stefan Rebenich formulierte: »Eine Art Monarchie errichten und sie als Republik ausgeben – nicht nur das ist Gaius Oktavius Augustus gelungen.« Mit Blick auf die von Augustus angeregten Baumaßnahmen auf dem Forum Romanum, die vordergründig im Dienst der Festigung der Republik standen, lässt Frank Kolb auf die Frage, was »die Formel von der Wiederherstellung der Republik in der augusteischen Ideologie bedeutete«, antworten: »die Instrumentalisierung der Werte und Institutionen der Republik im Dienste des neuen dynastisch-monarchischen Systems.« Nach der Rückkehr vom Sieg über Antonius weihte Oktavian den Tempel für den neuen Gott Cäsar auf dem Forum Romanum ein. »Ein neuer Gott erhob sich über dem Forum, und der lebende Herrscher war sein Sohn – divi filius! Das politische Gedächtnis hätte nicht zielgerichteter eingesetzt werden können.« Im gleichen Jahr 27 einigten sich Senat und Oktavian auf den Ehrentitel Augustus (lat. augurium/ Deutung göttlicher Zeichen: der Erhabene). Er konnotierte eine Nähe zum Göttlichen und deckte sich mit Oktavians Selbstverständnis als filius Divi. Schritt um Schritt stutzte er – beraten von einem handverlesenen Gremium – die republikanischen Einrichtungen erheblich zurück. 23 legte er das Konsulat nieder und ließ sich die Vollmachten eines Volkstribunen übertragen, vier Jahre später jene des Konsuls – er sammelte die Machtbefugnisse verschiedener Ämter, die er offiziell gar nicht bekleidete. Im Jahr 12 wurde ihm der Titel Pontifex Maximus und zehn Jahre später der Titel Pater Patriae verliehen. Er selbst nannte sich Princeps, der erste Bürger, daher spricht man bei der Monarchie des Augustus auch vom Prinzipat. Dieses krönte er mit einem langen relativen Frieden und einer kulturellen Blüte. Es war jene pax romana, die man als Testamentsvollstreckung des Hellenismus im römischen Weltreich auffassen kann. Dabei ist der Begriff Friede aber cum grano salis zu nehmen, denn wirklicher Friede herrschte so gut wie nie in den vier Jahrzehnten seiner Regierungszeit. Es spiegelte sich dabei eher die Erfüllung einer großen Friedenssehnsucht der Bevölkerung, die die Ankündigung eines Goldenen Zeitalters in der Aeneis auf diese Zeit projizierte, wofür die willfährigen Poeten (Vergil, Horaz, Ovid) nicht müde wurden, die Propagandatrommel zu rühren. Augustus wusste seine Vision zu inszenieren. Im Jahr 17a fand das größte Spektakel statt, das Rom je erlebt hatte: Griechische und lateinische Theateraufführungen, Wagenrennen, Tierhetzen, Kulthandlungen, in deren Mitte Augustus persönlich für die Magna Mater ein Schwein opferte. Die Wiederbelebung der alten Feste und Sitten war ihm ein großes Anliegen. »Der tiefere Sinn der Feier […] war eine allgemeine geistige Erneuerung und damit verbunden die Läuterung des gesamten römischen Staates.« Die blutige Zeit der Selbstzerfleischung in Bürgerkriegen und

Blösel 2015, 270 Rebenich 2014

Kolb 2006, 135

169 Divus Augustus (1. Jh.p); MAN

Hölscher 2006, 114

Demandt 2009, 403

Baker 2006, 156f

416

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Kunst und ­Architektur

2.4.

Cumont Franz in Grenier 1948, 195

Eck 2014, 101f

politischen Morden sollte auf diese Weise gesühnt werden. Der Wohltäter Augustus suggerierte einen Bezug zur frühen Republik, in Wahrheit bereitete er ein neues Zeitalter Roms vor. Ohne großen Widerstand konnte Augustus einschneidende Reformen umsetzen, darunter Moral- und Sozialgesetze, und die Aufstellung des ersten Berufsheeres (28 Legionen und eine Elitetruppe, die Prätorianergarde). Die konservative Moral, die nun Platz griff und in der man die erstaunliche Persönlichkeitsveränderung des Oktavian zu Augustus erkennen konnte, machte manchem Dichter große Mühe. Publius Ovidius Naso hielt sich in seinem Werk Ars amatoria (Liebeskunst) nicht an die neue Sexualhygiene und erdreistete sich auch noch, das zeitgenössische »Eiserne Zeitalter« zu kritisieren. Er wurde dafür 8p in das unwirtliche Provinznest Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Wenngleich manche Literaturwissenschaftler an der Historizität dieser Geschichte zweifeln und sie für ein literarisches Narrativ halten, fanden die Klagen des Dichters über dieses Schicksal einen langen Niederschlag. Auch Kunst und Architektur erhielten eine neue programmatische Ausrichtung. Der Pomp der späten Republik, aber auch des Hellenismus wurde zurückgedrängt und die zeitlose Klarheit der Klassik als Vorbild reaktiviert. Augustus startete im Sinne eines Wohltäters (Euergetes) ein gewaltiges Bauprogramm für Rom. Dabei beanspruchte er die Wiederherstellung von 82 Heiligtümern auf eigene Kosten. Er selbst war Mitglied aller Priesterschaften. Augustus hat in der Tat eine »Allianz von Thron und Altar« geschmiedet. Zeitgenössische Literaten sprachen in Anlehnung an das Goldene Zeitalter von »goldenen Tempeln«. Er selbst rühmte sich, aus einer Stadt aus Backsteinen eine aus Marmor gemacht zu haben. Im 2. Jh.a hatte man die Steinbrüche von Carrara auszubeuten begonnen, sodass nur mehr der bunte und nicht mehr der weiße Marmor mühsam und kostspielig aus Nordafrika, Kleinasien und Griechenland herbeigeschafft werden musste. Die großen Bauwerke vermochte Augustus mit großem Aplomb in den Deutungsrahmen der Geschichte der selbstbewussten Weltmetropole und ihres Princeps zu stellen. Dazu gehörte der Bau einer Residenz auf dem Palatin, die von seinen Propagandadichtern bescheiden als Haus des Augustus (Domus Augusti) bezeichnet wurde. In der Tat wurde sie erst von den Nachfolgern mit maßlosem Luxus ausgebaut. Sie lag inmitten sakraler Bauten und war über eine Rampe mit dem ebenfalls von Augustus errichteten Tempel des Apollon verbunden, der erste Tempel Roms aus weißem Carrara-Marmor. Die erläuternde Programmatik wurde in den erzählenden Reliefs transportiert. Dazu kam das Augustusforum, das unmittelbar an das Forum Romanum anschloss und etliche Neubauten auch dort und auf dem Forum Iulium (das erste Kaiserforum Cäsars) einschloss. Auf seinem eigenen Forum ließ Augustus eine von Aeneas ausgehende, mehr als hundert Statuen umfassende Ahnengalerie aufstellen. An mehreren Stellen tauchte unübersehbar die legendenhafte Mutter des Aeneas, Venus, auf. In der Mitte befand sich der Tempel des Mars Ultor (des Rächers), der die Erinnerung an die Bestrafung der Cäsar-Mörder in der Schlacht bei Philippi lebendig hielt.

417

Rom

Eine nachhaltige Weichenstellung auf dem Weg zur Vergöttlichung der Kaiser bedeutete die im Jahr 30/29a den Hellenenbünden in Westkleinasien erteilte Erlaubnis, ihn zusammen mit der Göttin Roma in Tempeln zu verehren. »Der Princeps hat das Forum [Romanum; BB] zu einem Platz ummodelliert, dessen architektonisches Ensemble die Triumphe und den Kult der neuen Dynastie feierte, und er hat dabei auch die Gebäude republikanischen Ursprungs in den Dienst der Glorifizierung der Familie der Julier gestellt.« Ein dritter Schwerpunkt waren die Bauten auf dem Marsfeld. Unter den in Auftrag gegebenen Bauwerken war der Friedensaltar (Ara Pacis Augustae), 9a geweiht und mit hochwertigen, auf griechische Motive zurückgehenden Reliefs versehen – vermutlich auch von griechischen Künstlern (aus Kleinasien?), aber im Stil römischer Hofkunst gemacht. Auf ihnen wird dem Frieden und der Fruchtbarkeit gehuldigt. In unmittelbarer Nähe schuf er sich ein knapp 50 Meter hohes und 90 Meter im größten Duchmesser umfassendes rundes Grabmal, das er – dem Weltwunder von Halikarnass nachempfunden – als Mausoleum bezeichnete. Er wählte exakt jenen Ort, an dem nach alten Berichten die Grabanlagen etruskischer Könige lagen. Die Verbindung von Ara Pacis und Mausoleum konnte als gewaltige Sonnenuhr genützt werden, zu der Augustus einen Obelisken als Zeiger beitrug (Augustus brachte insgesamt vier Obelisken nach Rom). Möglicherweise fiel genau am 23. September, dem Geburtsdatum Oktavians und zugleich Herbstäquinoktium, der Schatten in die Mitte des Altars. »In diesem Fall wäre die Geburt des Augustus mit der durch den Globus des Obelisken symbolisierten Weltherrschaft und der durch den Princeps herbeigeführten Pax Augusta verknüpft worden.« Die astronomische Ausrichtung ermöglichte also Bezüge der Bauten zu einschneidenden Daten der Lebensgeschichte des Kaisers. »Selten ist ein neues Zeitalter dermaßen inszeniert worden.« Die Nachfolge des Augustus gestaltete sich schwierig, weil die julisch-claudische Dynastie eine Art Erbmonarchie anstrebte. Die Kaiser hatten vor allem damit zu tun, ihre Macht zu sichern und die Nachfolge zu regeln, worin die Dynastie nicht zimperlich war und reihenweise Konkurrenten, Senatoren Mütter, Söhne und Ehefrauen ermordet wurden. Diese Zustände beeinträchtigen die Führung des Reiches kaum, denn der Apparat funktionierte inzwischen weitgehend ohne die jeweiligen Herrscher. Sie setzten allenfalls Akzente. Ähnliches gilt für die Kunst. Es gab keine Kaiserkunst im engeren Sinn, aber die Kaiser drückten ihr ihren jeweiligen Stempel auf. In der Kunstgeschichte hat es sich mangels unterscheidbarer Stile eingebürgert, Kunstperioden mit Dynastien in Beziehung bringen. Nach einer anfänglichen Fortsetzung unter Tiberius und einer sich anschließenden langsamen manieristischen Veränderung des augusteischen Kunstprogramms kam es unter dem in Kunstdingen ambitionierten Nero zu einer Neuausrichtung der Kunst. Unter dem Einfluss seiner engsten Berater, des Kommandanten der Prätorianergarde Sextus Afranius Burrus und des Philosophen Lucius Annaeus Seneca, konnte Nero das Reich am Anfang seiner Regierung zu einer neuerlichen Blüte führen. Er war der beliebteste Kaiser seit Augustus. Die Stimmung kippte, als Nero 59p

Eich 2014, 57

Kolb 2006, 134f

2.4.2.

Ebd., 131 Wohlmayr 2011, 213

Nero

418

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Baker 2006, 88

Ebd., 204

Juvenal, Sat. III

Domus Aurea

L’Orange 1973, 319

3.3.3.

Andreae 2012, 157 MacDonald 1982, 41

seine ehrgeizige Mutter Agrippina umbringen ließ und damit das ausgleichende Regulativ zu seiner latenten Verrücktheit verlor. Neros eigenartige Vorlieben ergaben sich aus einer überbordenden Verehrung der griechischen Kultur. Selbst ein guter Kithara-Spieler und Sänger, wollte er in Rom endgültig die griechische Kultur einführen. Statt Gladiatorenkämpfen sollten Sängerwettbewerbe wie im alten Athen stattfinden. 66p machte er eine Reise durch Griechenland und nahm an Sängeragonen und an Wagenrennen teil und wurde stets zum Sieger erklärt, auch als sein Wagen vor der Ziellinie zusammenbrach. Dieses zweifelhafte Gebaren stieß in Rom auf Unverständnis, denn dort war die Meinung über die griechischen Künste geteilt. Für die »feschen Trendsetter der Schickeria« waren die griechischen Künste »höchster Ausdruck der Kultiviertheit« und der »Gipfel der Zivilisation«, die konservativen Eliten befürchteten in der Kultur der fernen römischen Provinz mit ihrer Homoerotik und Schauspielerei den Verlust der römischen Moral. Roms Verhältnis zum Orient war ähnlich zwiespältig wie jenes der Griechen. Einerseits löste der feine Lebensstil und die hohe Kultur der Völker im Osten Bewunderung aus. Eben dieser feine Lebensstil galt den Römern aber auch als dekadent und anstößig. Entschärft wurde die Orientrezeption in Rom alleine dadurch, dass weite griechischsprachige Gebiete zum römischen Weltreich gehörten, denn »in den Tiber fließt längst Syriens Fluß, der Orontes, […]«, dichtete Juvenal. Orientalisch diente nun als Schimpfwort für die ungeliebten Kaiser Roms: Caligula, Nero, Elagabal. Nach dem großen Brand im Jahr 64, der unzählige Kulturgüter unwiederbringlich zerstörte, erließ Nero eine Reihe von Vorschriften zum Feuerschutz beim Wiederaufbau. Straßenbreite, Laubengänge (zum Schutz herabfallender brennender Teile), Beschränkung der Stockwerke. Er nützte das zerstörerische Ereignis für eine Neugestaltung Roms, bei der ein gigantischer Palast (Domus Aurea) das Machtzentrum des Kaisers anzeigen sollte. Der Palast wies Teile auf, die kaum anders denn als Zitate des altorientalischen Sonnengottkultes und der Deutung der Stadt als Abbild des Kosmischen interpretiert werden können. Etwa eine ständig um ihre Achse sich drehende Rotunde vice mundi (wie die Welt), wie Sueton feststellte. Darüber hinaus beinhaltete er allerhand technisches Brimborium wie eine Decke, aus der Blumen und Parfum auf die Gäste regneten. Kunstgeschichtlich bedeutsam war der Bau wegen der Abkehr vom Klassizismus des Augustus und der neuen Hinwendung zum Illusionismus, zu hellenistischen (»barocken«) Formen und wuchernden Ornamenten. Der bis zu Groteskenmalerei reichende Stil wird auch als Vierter Pompejanischer Stil bezeichnet. Die Domus Aurea nimmt in der Kunstgeschichte daher einen wichtigen Rang ein: »Unter gesellschaftlichen und moralischen Gesichtspunkten betrachtet, bleibt der Bau der Domus Aurea so verwerflich, wie die Zeitgenossen ihn gesehen haben […] Unter universalgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet, bleibt das Goldene Haus nicht nur wegen seiner Wirkung auf die Kunst der Renaissance, sondern auch wegen des Einblicks, den es in die Entwicklung römischer Wölbungsarchitektur gewährt, ein epochales Haus.« Es scheint zu gelten, »that the Roman revolution in architecture was in fact first expressed in the Domus Aurea […].«

419

Rom

Der sich der Figur Nero bemächtigende Größenwahn stieß auf den Widerstand des Senats und des Volkes und bald kam das Gerücht auf, Nero selbst habe das Feuer gelegt. Dieser wiederum schob die Schuld den Christen in die Schuhe, die in großer Zahl gekreuzigt und dem Feuertod überantwortet wurden. Alle diese Vorgänge fußen historisch auf wackeligem Fundament und sind bis heute ungeklärt, zumal sich der Kaiser außerordentlich um die Linderung der Not der Katastrophenopfer bemühte. Nach der Ermordung Neros und dem »Vierkaiserjahr« 69p setzte sich in den blutigen Machtkämpfen Vespasian aus dem Geschlecht der Flavier durch. Er kümmerte sich um den Wiederaufbau der zerstörten Teile Roms (Kapitol) und regte den Bau eines Amphitheaters an (seit dem Mittelalter wurde es nach einer von Hadrian dorthin versetzten 35 Meter hohen, vom griechischen Bronzegießer Zenodorus angefertigten Kolossalstatue des Helios-Nero Kolosseum genannt), einer der »flavischen Imponierbauten« auf dem zugeschütteten künstlichen See in den ehemaligen Privatgärten Neros. Sein Nachfolger Titus stellte es mit den Geldern des im Jüdischen Krieg erbeuteten Tempelschatzes fertig. Das vor allem durch seine Organisation und seine technischen Raffinessen außergewöhnliche Bauwerk, in dem 50 000 Menschen Platz fanden, wurde im Jahr 80 mit einem hunderttägigen Fest eingeweiht, bei dem 5000 Tiere bei den Darbietungen getötet wurden. 523 fand (bereits vor weitgehend leeren Rängen) die letzte Tierhatz statt. Das über alle Zeit bewunderte Bauwerk blieb der Nachwelt einigermaßen gut erhalten. Unüblich war die Lage mitten in der Stadt. Aus Sicherheitsgründen und wegen des hohen Publikumszuzugs aus der Umgebung lagen die Amphitheater in der Regel am Stadtrand oder gar außerhalb der Städte. Titus ließ Teile der Domus Aurea abreißen und in ihrer Stelle Thermen errichten (Titus-Thermen). Mit Domitian, der Rom durch rege Bautätigkeit seinen Stempel aufdrücken wollte (er stiftete nach griechischem Vorbild die Kapitolinischen Spiele und baute dazu ein Stadion, die heutige Piazza Navona), endete die flavische Linie, obwohl der Kaiser einen riesigen Regierungssitz der Flavier (Domus Flavia) auf dem Palatin errichten ließ. Zur Anlage gehörte eine lange Rampe, die vom Forum Romanum bis zum Tempel der Magna Mater auf dem Palatin führte. Die unlängst restaurierte und 2015 zu einem Teil der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Rampe wird als Fluchttunnel bezeichnet. Wozu das Bauwerk wirklich diente, ist allerdings keineswegs geklärt. Es handelte sich um das erste Exemplar des Typus Herrscherpalast und nicht mehr um eine kaiserliche Villa. Kaiser Septimius Severus erweiterte das Palastareal bis zum Circus Maximus. Die prachtvolle Ausstattung des Palastes fiel dem Raub der Fürsten und Päpste der frühen Neuzeit zum Opfer. Die Palastwache Domitians (der sich dominus et deus nennen ließ) beendete 96p – aller vermeintlichen Fluchtrampen zum Trotz – sein Leben. Die Erinnerung an ihn wurde gelöscht (damnatio memoriae). Nach dem kinderlosen Nerva brach die Zeit der Adoptivkaiser an, bis Mark Aurel mit seinem Sohn Commodus wieder auf eine dynastische Lösung setzten konnte. Mit Trajan und Hadrian kamen zwei Provinzialen auf den Thron. Beide waren ebenfalls bedeutende Bauherren und mit ihnen begann die Blüte eines letzten gol-

Hahn 2006

Kolosseum

Eich 2014, 102

Trajan und ­Hadrian

420

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Gibbon 1776–1788 170 Szene auf der ­Trajanssäule

Andreae 2012, 187

Baker 2006, 294 MacDonald 1982, 79 Andreae 2012, 191 171 Ziegelgebäude auf dem Trajansforum; Rom 3.3.2.3.

De Albentiis Emidio in Bussagli 2007, 111

denen Jahrhunderts (das mit dem Tod des Antoninus Pius 161p endete). Trajan eroberte im Osten von den Dakern und Parthern neue Gebiete, während das Reich an den Rändern der unterworfenen Teile zu bröckeln begann. Er verstand sich bei seinen Eroberungen im Osten als Nachfolger Alexanders. In seiner Regierungszeit erreichte das Römische Reich die größte Ausdehnung. An diese Stelle passen die schönen Worte, mit denen Edward Gibbon sein epochales Geschichtswerk über den Untergang des Römischen Reichs beginnen lässt: »Im zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung umfasste das Römische Reich die schönsten Gebiete der Erde und den kultiviertesten Teil des Menschengeschlechts. Die alte Glorie und disziplinierte Tapferkeit schützten die Grenzen dieser weiträumigen Monarchie.« Plinius der Jüngere feierte Trajan in seinem Panegyricus als Ideal des guten Herrschers und als Garanten von Freiheit und Sicherheit. Während der ausgedehnten Reisen Trajans durch das Imperium waren ihm seine Gattin, eine Anhängerin der Schule Epikurs, seine Schwester und deren Tochter große Stützen bei der Führung des Reichs. Reihenweise erlebten Kaiser und ihre Gattinnen nun eine Himmelfahrt. Der grandiose erzählende Bericht auf der Trajanssäule (deren Sockel der Aufnahme der Asche des verstorbenen Kaisers diente) unterschied sich von dem auf der etwa acht Jahrzehnte jüngeren Säule des Marc Aurel auf der Piazza Colonna neben stilistischen Eigenheiten (schärfere Abhebung vom Hintergrund) inhaltlich durch den »fundamentale[n] Umbruch von Angriff auf Verteidigung.« Trajan ließ von seinem aus Damaskus stammenden Architekten Apollodoros auf den Ruinen der Domus Aurea das größte Forum der Stadt errichten, Thermen und ein »Einkaufszentrum« mit bis zu sechsstöckigen Geschäftshäusern. »The Markets were the creation of a brilliant and audacious designer, a master of architectonic form and the new structural technology.« Die Trajansmärkte gelten als »Inbegriff römischer Baukunst«. Das Forum, in dessen Konzeption manche Forscher die Orientierung an einem Militärlager erkennen, zumal Apollodoros ein Militärbaumeister war, wurde an der Stirnseite von der Basilika Ulpia (Gentilname Trajans) abgeschlossen. Es war insgesamt ein »eindrucksvolles System der Selbstdarstellung, um das römische Volk im Zaum zu halten.« Vor allem die Anlage der Läden zeigen die Möglichkeiten des seit einigen Generationen praktizierten Ziegelbaus. Dazu kam die Technik des Gussbetons zwischen aus Ziegeln erstellten Schalungsmauern, die von unregelmäßigen (opus incertum) zu regelmäßigen (opus reticulatum) Verbänden fortschritten. Diese Betontechnik erstaunt Ingenieure noch heute wegen der beeindruckenden Festigkeit. Es war eine Revolution in der Bau-

421

Rom

kunst und ließ ganz neue Bauaufgaben zu, vor allem große Gewölbe und Kuppeln (Pantheon). Das Trajansforum, das sich bereits neben die Titusthermen zwängen musste, war zugleich das letzte Exemplar dieser Architekturidee. Der Platz in der Stadt war aufgebraucht und die nachfolgenden Kaiser mussten sich mit anderen pointierten Bauwerken, darunter die für die Öffentlichkeit geschaffenen Thermenanlagen, zufrieden geben. Oder aber sie bauten ihre Fora in den Provinzen. Der erste Afrikaner auf dem römischen Thron, Septimius Severus, etwa wählte seinen Geburtsort Leptis Magna in Libyen für ein großes kaiserliches Forum. Antoninus Pius baute eine riesige Thermenanlage in dem in dieser späten Zeit wieder zu einer blühenden Stadt aufgebauten Karthago direkt am Meer. 117 bestieg der in Rom (?) in eine Familie aus der Provinz Italica in Südspanien hineingeborene Hadrian den Kaiserthron. Aufsehen erregte sein kurz getrimmter Bart, der ihn als griechischen Philosophen erscheinen ließ. Hadrian war Philhellene (der sogar 112 in Athen das Amt des Archonten ausübte) mit besonderer Liebe zur Philosophie Epikurs und Amateurarchitekt, der im gesamten Reich Bauwerke in Auftrag gab. 121 errichtete er der Venus und der Roma einen Tempel. In Tivoli entstand eine 100 ha umfassende Villenanlage. Sie war auf »exquisite, spielerische und künstlerische Weise […] eine grandiose Landkarte der Orte, die der Kaiser im Laufe seines Lebens besucht hatte«. Das Mausoleum des Hadrian (Engelsburg), eine Nachahmung jenes des Augustus, wurde vom Nachfolger Antoninus Pius vollendet. In Großbritannien schulterte er die Herkulesaufgabe einer 118 km langen Grenzbefestigung (Hadrianswall) mit Wachtürmen, befestigten Toren und Heerlagern. Schließlich baute Hadrian – vermutlich (aber unsicher) nach Plänen des schon erwähnten, dem Vorgänger Trajan ergebenen Architekten Apollodoros von Damaskus – an der Stelle des vom Feldherrn und Konsul Marcus Vipsanius Agrippa um 25a zu Ehren Augustus’ errichteten (später von Domitian erneuerten) Tempels zur göttlichen Allmacht, das Pantheon (118). In der noch heute lesbaren Bauinschrift nennt es den ursprünglichen Stifter Agrippa. Die Funktion des Bauwerks ist bis heute unklar, zumal es sich ja nicht um einen Tempel im strengen Sinn handelte. Man kann aber davon ausgehen, dass der griechische Gestus des Zentralbaus nach dem kosmischen Einheitsprinzip und der Himmelssymbolik der knapp 44 Meter messenden Kuppel (deren knapp 9 Meter große Öffnung den unmittelbaren Bezug zum Himmel herstellt), unter der sich die den Römern und Griechen gemeinsamen Gottheiten versammelten, Hadrian bewusst war, zumal er gerne in griechischen Gebieten als Bauherr von Kultbauten auftrat. Bisweilen wird auf eine Uneinheitlichkeit des Baukörpers, griechisch inspirierter Vorbau – römischer Innenraum, hingewiesen.

172 Hadrian aus Perge (2. Jh.p); AAM 173 M ­ ausoleum ­Hadrians (»Engelsburg«) Hadrian

2.6.2.

Baker 2006, 311

Pantheon

422

Die antike Welt – Griechenland und Rom

174 Mark Aurel; EM

2.6.2.

Andreae 2012, 229

In Athen, das er dreimal in seiner Amtszeit besuchte, baute er engagiert: eine Bibliothek, einen neuen Markt, einige Tempel und ein Prunktor aus Marmor. Wie schon erwähnt, konnte er den monumentalen Zeus-Tempel, der bereits im 6. Jh. begonnen worden war, im Jahr 132 persönlich einweihen. Diese historische Konstellation ist geradezu symbolisch für die Verflechtung der griechischen und römischen Kultur im Hellenismus. Der griechische Osten wurde geradezu mit Hadrianstatuen überschwemmt. Zum Abscheu der römischen Aristokraten glaubte Hadrian, auch in seiner Liebesbeziehung zu einem Knaben aus der Bosporus-Gegend, Antinous, Nachahmung griechischer Gepflogenheiten üben zu müssen. Als der Junge 130 unter ungeklärten Umständen im Nil ertrank, war Hadrian zutiefst getroffen. Wie bereits in II.3.2.5. geschildert, ließ er zum Entsetzen der Juden im Jupiter-Tempel in Jerusalem eine Statue seines Geliebten aufstellen und ihn als Gott verehren. Der Schicksalsschlag veränderte Hadrians Persönlichkeit. Er zog sich in den letzten Lebensjahren in düsterer Stimmung auf sein Landgut in Tivoli zurück. In Todesahnung bestimmte Hadrian noch mehrere, teils minderjährige Männer zur Thronfolge. Es war dies das Prinzip der Adoptivkaiser, das sich um den bestgeeigneten Kandidaten bemühte, nachdem die dynastische Nachfolge als gescheitert galt. Der unmittelbare Nachfolger Antoninus Pius förderte vor allem die Städte in den Provinzen und vermochte die Blüte des Reichs zu verlängern. Die Architektur folgte dem hadrianischen Geist des rezipierten Hellenismus. Kunsthistorikerinnen machen in der antoninischen Zeit »barocke« Tendenzen aus – besonders auffällig im Osten. Eine außergewöhnliche Reife erlangten die nordafrikanischen Mosaiken. Mit Marc Aurel saß ein stoischer Philosoph auf dem Thron. Ihm verdanken wir die erste monumentale Reiterstatue Roms. Ursprünglich vergoldet, überdauerte die Bronzeskulptur (um 165p) die Zeiten nur, weil man sie lange für eine Statue des christlichen Kaisers Konstantin hielt. Papst Paul III. stellte sie auf den von Michelangelo gestalteten Platz vor das Kapitol, wo sie heute als Kopie noch immer zu bewundern ist (das Original steht im Hof des Konservatorenpalastes der Kapitolinischen Museen). Verschiedentlich mutmaßt man, dass unter dem rechten Huf des Pferdes ursprünglich ein besiegter Barbar lag. Wir hätten dann das alte Motiv des die Feinde besiegenden Herrschers vor uns. Große Beachtung fand seine autobiographische und stoisch-philosophische Reflexion, die unter dem Titel Selbstbetrachtungen auf verschlungenen Wegen zu uns gekommen ist, obwohl sie gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Kunsthistorikerinnen orten in dieser Zeit einen deutlichen Stilwandel, den Bernard Andreae etwa bei der Marc-Aurel-Säule festmacht. Das Relief vertiefte sich, sodass sich das Gezeigte scharf und plastisch vom Hintergrund abhob. Emotionen und Bewegungen wurden heftiger zur Schau gestellt als vorher. Nach Andreae ließen sich »Phänomene der Transzendenz, des Blickes hinter die vordergründige Natur, kurz die übersinnlichen Erfahrungen besser erfassen und anschaulich nahe bringen.« Die These einer vorgeführten Transzendenz wird bisweilen konterkariert durch jene von einem verbreiteten Pessimismus oder gar von einem Ausdruck von Angst in

423

Rom

der Spätantike. Nicht überall wird das so gesehen. Emidio de Albentiis sieht auch in der Trajanssäule pathetische Effekte und meint, dass der »ideologische Unterschied zwischen den beiden Denkmälern« erst noch »bewiesen werden« muß. Die Unterschiede führt er eher auf pädagogische Interessen zurück. Eine andere Argumentationslinie bemüht den umstrittenen Begriff des Manierismus in diesem Zusammenhang. Paul Veyne, der den Stilwandel am Triumphbogen des Septimius Severus festmacht, wiederum spricht von »Populismus«. Da man an dieser Stelle einen ersten Schritt von der Antike in die Spätantike sieht (ein zweiter erfolgte demnach um 300 mit dem Konstantinsbogen), wird das Thema unter IV.2.0. nochmals aufgegriffen. Marc Aurel brach wieder mit dem Adoptivkaisertum und setzte seinen Sohn Commodus im Kindesalter als neuen Regenten ein. Nach dessen Ermordung verhedderte sich Rom in undurchsichtige Wirren. Um das Jahr 193 gab es fünf Kaiser, von denen vier Mordanschlägen zum Opfer fielen. Dieses Schicksal traf die meisten der nun folgenden, teilweise noch als Kinder zu Kaisern gemachten Nachfolger. Schließlich rief das Heer Septimius Severus zum Kaiser aus, dem Senat blieb nur mehr die Zuschauerrolle. Die Severische Dynastie konnte in Rom noch einmal bauliche Akzente setzen. Mehr noch profitierte der Geburtsort des Septimius Severus, Leptis Magna, das ein neues Forum unter reichlicher Verwendung von buntem Marmor und Architekturdekor erhielt. Der Sohn des Septimius Severus, Caracalla, baute in Rom große Thermenanlagen (die heute am besten erhalten sind), ein riesiges »Freizeitzentrum«. Im 3. Jh. begann der Limes zu bröckeln. Erste Anzeichen der großen Völkerwanderung machten sich bemerkbar. Zugleich wurde durch lokale Rekrutierungen das Heer zunehmend bis in die obersten Ränge barbarisiert. Das Ende der severischen Kaiser und der Anbruch der (von Jacob Burckhardt 1853 so genannten) »Soldatenkaiser« (die ältere Forschung zählte auch die Severer zu den Soldatenkaisern), die sich mehr um militärische Angelegenheiten kümmerten als um Kultur, gingen mit einer Stagnation in Kunst und Bautätigkeit einher, sogar die Ziegelproduktion in Rom kam zum Erliegen. Eine Ausnahme bildeten die Porträtbüsten, die schon auf Grund der Machtlegitimation und Propaganda für die Kaiser wichtig waren. Die Porträts sollten entschlusskräftige oder abwägende, aber immer positive Hoffnung ausdrückende Diener am Ganzen zeigen. Dabei gab es aber durchaus Unterschiede. Bei den Soldatenkaisern »folgten fast 50 Jahre lang Gesichter von Autokraten aufeinander, denen längst jenes Charisma fehlte, das einmal – wie im Fall des griechisch gebildeten Marc Aurel – Resultat eines angemessenen intellektuellen Horizonts war.« Die Legitimität der Kaiser entkoppelte sich im Weiteren von der realen politischen Bodenhaftung. Der Cäsarenwahn erreichte Höhepunkte. Spätestens seit Lucius Septimius Severus leiteten die Kaiser ihre Legitimität nicht mehr vom Senat ab, sondern vom göttlichen Charisma. »Die Institution des Kaisertums füllte sich zunehmend mit religiösen Elementen, die sie über gewöhnliche Sterbliche hinaushoben.« Caracalla verlieh 212 oder 213 in der Constitutio Antoniniana allen freien Einwoh-

Albentiis Emidio de in Bussagli 2009, 133

Wohlmayr 2011, 326

IV.2.0.

De Albentiis Emidio in Bussagli 2004, 145

Seston William in PWG IV, 490

424

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Eich 2014, 242

V.3.1.

Pfeilschifter 2014, 22

nern des Reichs das römische Bürgerrecht. Mit dem gleichen Bescheid wurden alle religiösen Kulte dem römischen Staatskult eingegliedert. Dies unterstützte die Vereinheitlichung und Perfektionierung des Systems Rom, der zivilen und militärischen Bürokratie, der Infrastruktur, des Finanzwesens, des Handels und schließlich auch eines konzentrierten Kulturraums von Einheit in der (provinziellen) Vielheit. Dies zu einer Zeit, wo sowohl an den Außengrenzen, vor allem im Norden und im Orient, die Erosionen ernst wurden und die Rivalitätskämpfe der einzelnen Dynastien und der hohen Verwaltungsorgane besorgniserregend zunahmen. Im Lauf des 3. Jh.s wurde das Imperium »von einem expandierenden Staat zu einem in der permanenten Defensive.« Im Osten stürmten die Perser und im Westen die Germanen gegen die Grenzen des Reichs. Das Persische Reich wurde vom Sasaniden Ardaschir mit der Eroberung des Partherreiches 224 neu gegründet (Neupersisches Reich). Es bestand bis zur Mitte des 7. Jh.s, als das Reich an die Araber fiel. Dem Druck der Sasaniden versuchte sich Gordian III. noch einmal entgegen zu stellen, doch die letzte Schlacht ging verloren und der Kaiser fand den Tod. Im Westen fielen die Franken und Alemannen in sich wiederholenden Raubzügen ein. Um 260 erreichte eine Gruppe der Alemannen sogar Rom. Geldentwertung und Rezession waren Folgen der hohen Kosten, die für die Verteidigung aufzubringen waren. Die Unsicherheit in Rom war inzwischen so groß geworden, dass Aurelian ab 270 eine neunzehn Kilometer lange Mauer mit 350 Wehrtürmen um die Ein-Millionen-Stadt errichten ließ. Die Nervosität verbreitende Einsicht, dass das Wachstum des Reichs nicht unendlich fortsetzbar ist, mag manch sonderbaren Einzelweg erklären helfen. Der Philhellene Egnatius Galienus hoffte auf die Rettung aus dem Chaos durch die Renaissance der griechischen Philosophie. Er war Archont von Athen, ließ sich in die Eleusinischen Mysterien einweihen und holte den großen Neuplatoniker Plotin aus Alexandrien an den Hof. In der Tat scheint die Struktur des Neuplatonismus dem Bedürfnis nach Sicherheit entgegengekommen zu sein. Aurelian wiederum machte den Sol Invictus zum Reichsgott. Aber es gab auch handfeste Reformen. Rom reagierte auf die Angriffe auf seine Grenzen, setzte auf mobile Einsatztruppen und verstärkte die Verteidigungsanlagen. Zudem holte man sich die Feldherren jetzt aus den Reihen erfahrener Offiziere und nicht mehr aus den Reihen der Senatoren, »von glücklichen Ausnahmen abgesehen, im Grunde militärische Dilettanten.« Mit dem Amtsantritt des Diokletian, zugleich das Ende der Soldatenkaiser, lässt man gemeinhin die Spätantike beginnen, der ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Er war ein ambitionierter Reformer in Verwaltung und Steuerpolitik und vermochte auf den von den Soldatenkaisern gelegten Grundlagen das Reich militärisch (nicht zuletzt durch die Einführung einer Tetrarchie) zu festigen. Im nächsten Abschnitt wird auch die Geschichte um Flavius Valerius Constantinus zu erzählen sein, der 306 zum Augustus ausgerufen wurde. Mit ihm, zugespitzt auf die Legende, dass er sich beim Kampf gegen Maxentius an der Milvischen Brücke zum Christentum bekehrt habe, fand die große Wende zum Christentum statt. 330 gründete er im Osten, der schon längst das eigentlich Zentrum des Mittelmeerraums geworden war, Konstantinopel.

425

Rom

3.2. Römische Religion Die römische Religion ist ein komplexes Gebiet mit vielen nach wie vor ungeklärten Fragen. Das gilt bereits für den Begriff selbst. Robert Muth führte ihn zurück auf das verloren gegangene Verbum religere, achtsam sein, sich sorgfältig kümmern. Diese Etymologie steht nicht im leeren Raum. Vielmehr will Muth damit ein Charakteristikum der römischen Religion stark machen, nämlich die Überzeugung der Römer, dass sie in der Kommunikation mit den Göttern eine besondere Bevorzugung genössen. Dieses Kommunikationsprivileg wurde ab der augusteischen Zeit geradezu zur Reichsidee. Grundsätzlich scheint es so zu sein, dass die Religion für den Römer einen höheren Stellenwert hatte als für den Griechen. Ausgangspunkt dieses Charakteristikums war der Begriff des numen. Numen bedeutete ein erkennbares Zeichen, mit welchem die Gottheit ihren Willen kundtut. Diese Zeichen wurden schließlich personalisiert. In den Privathäusern standen Bilder der Schutznumina des Hauses und der Fluren (Penaten für Hausvorräte, Laren für Haus und bestimmte Orte). Das Göttliche blieb handgreiflich, es wurde nicht nach der intellektualistischen Tendenz in Griechenland in eine übergeschichtliche Theologie und Philosophie bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert. Die Götter manifestierten sich konkret in der Geschichte. Das war die Voraussetzung dafür, dass der Römer praktisch jede Handlung von einem göttlichen Patronat begleiten lassen konnte. Die Auslegungsrituale stammten aus etruskischer Zeit. Diese Manifestationen göttlichen Willens spiegelten bei den Etruskern die göttliche Ordnung des Kosmos. Das Ordnung-Schaffen des Gottes des Alten Orients wurde gleichsam auf den gesamten Kosmos übertragen. Philosophisch könnte man darin – nicht unähnlich dem berechenbaren Gott der frühen Neuzeit – die Strategie der Vermeidung einer völligen Willkür der Götter verstehen. Jedes Ereignis unterlag »einer bestimmten Einordnung und damit auch einer relativen Vorhersehbarkeit innerhalb einer ganzheitlichen Struktur, die den gesamten Kosmos einbezieht […] Das Hauptuntersuchungsinstrument in diesem geordneten, aber komplexen Kosmos aus Zeichen ist die Ausrichtung des Raums und seine Einteilung in Sektoren nach einem rationalen Plan. /[…] Wie der Himmel in Sektoren unterteilt war […] wird in der Tat der orbis terrarum nach einem System astronomischer Koordinaten gegliedert […] anhand derer sich ein rationales Unterteilungssystem ausrichtet.« Die Feststellung des göttlichen Willens in der Beziehung von Gottheit und Mensch erfolgte in einem geregelten Rahmen (disciplina). »Der disciplina zugrunde liegt in erster Linie die peinlich genaue Erforschung des göttlichen Willens […].« Die Auguren, später die Priester, wandten die auf den Alten Orient zurückgehenden Methoden der Himmelszeichen- und Vogelflugdeutung (auspicium), der Eingeweideschau (haruspicina) oder der Interpretation von Blitzen (fulgurales) und des Hörens auf das Bäumerauschen an. Dieses Privileg sicherte den Priestern eine wichtige Stellung in Politik und Gesellschaft. Den höchsten Rang der Priester hatte der Pontifex Maximus (oberster Priester) inne. Der Titel ging ab Augustus auf den Kaiser über und im 4. Jh. auf die Päpste. Hinter der anhebenden Vergöttlichung der

Muth 1988, 222ff

Ebd., 203

Usener 1949

VII.2.2.1.

Simon Erika in Cristofani u.a. 1995, 139/150 Pallottino 1942, 314

426

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Eich 2014, 179

Cicero, de nat. deor. 1,3 Vegetationskult

Eliade 1976, II, 104f

abstrakte Entitäten

Göttergestalten

Kaiser standen in erster Linie propagandistische Interessen. Eine spirituelle Funktion kam den Kaisern nicht zu. »In den zahlreichen Zaubertafeln, Amuletten und privaten Votivtafeln, die aus der Antike erhalten sind, wird regelmäßig eine bunte Vielfalt göttlicher Potenzen um Hilfe angerufen, aber niemals der Kaiser.« Die religiöse Restauration des Augustus kaschierte wohl, dass die religiösen Kulte ihre innere Überzeugungskraft weitgehend verloren hatten. Sie fanden zwar statt, wurden aber kaum mehr ernst genommen und bei Bedarf auch manipuliert. Die Intellektuellen sahen die Vorzüge der Religion eher in soziologischen Fakten als in solchen des Glaubens. Cicero verwies in einer kritischen Replik auf die seiner Meinung nach atheistischen Epikureer auf die negativen Konsequenzen des Atheismus für die Ordnung der res publica. In der Spätzeit Roms gingen die religiösen Impulse eher von der Peripherie als vom Zentrum aus. Am Anfang war das anders gewesen. Die römische Religion begann schlicht. Sie rankte sich um bäuerliche Vegetationskulte. Der harmonische Verlauf der Naturzyklen wurde zur Norm, ihre Verletzung beschwor die Rückkehr zum Chaos. Es gab ein Vertrauen in die Macht von Riten. Im letzten Monat des römischen Kalenders (Februar) fanden kollektive Reinigungszeremonien statt, die die Erneuerung des Jahres als rituell nachvollzogene Neuschaffung von Welt symbolisierte. Das Jahr war gesäumt von Kultterminen und auch der Alltag forderte mehrere täglich zu vollziehende religiöse Handlungen. Besonders galt dies für den Staatskult. Viele staatliche Kultpraktiken hatten im Privatkult – angeführt vom pater familiae – seine Wurzeln. Der Vesta-Kult, seit dem Ende der Republik ein Staatskult, hatte seine Wurzeln im Herdkult des Privathauses. Möglicherweise gehört in diese Rubrik auch die Vergöttlichung abstrakter Entitäten wie der Fortuna (Glück), Victoria (Sieg), Spes (Hoffnung), Pax (Friede), Concordia (Eintracht), Salus (Heil), Fides (Bündnistreue) und viele andere mehr. Mit solchen Entitäten eignete sich die römische Religion hervorragend für ihre Funktionalisierung auf politische Interessen. Der Kaiser konnte seine Friedensliebe demonstrieren, indem er die Kulte von Pax und Salus förderte, während jene für Mars (Krieg) im Hintergrund blieben. Anfangs waren die Göttergestalten wenig profiliert, sie wurden bilderlos verehrt. Erst aus der Berührung mit den Griechen bildeten sich Individualitäten heraus. Die archaische Schicht der römischen Religion zeigte die indogermanische Dreiheit in der Göttertriade Jupiter, Mars und dem Gott der Fruchtbarkeit und Prosperität, Quirinus. Das entsprach der aus dem Griechischen bekannten Einteilung in magisch-juristische Herrschaft, kriegerische Schutzfunktion und Lebenssicherung. Der gesellschaftspolitische Reflex schlug sich nieder (in Analogie zu Platons Staatsutopie) in der Einteilung in die Stände der Priester, Krieger und Bauern (indische Parallele: brahma, ksatriya, vaisyra). Schließlich wurde das griechische Pantheon de facto zur Gänze übernommen. Oberster Gott war der Himmels- und Vatergott Jupiter. Vielleicht war das Jupiter-Bild, das um 580a von Vulca geschaffen worden ist, eines der ersten Bildnisse und eröffnete die bildliche Verehrung der Götter zugleich mit dem Tempelbau. Der Tempel war ein Wohnhaus des Gottes, der in seiner Statue repräsentiert war (griech. naos/Haus; lat. aedes).

427

Rom

In Rom wurde auch die Große Mutter verehrt. Kultbezirke der Mater Matuta (Mutter des Morgens), als Göttin des Frühlings und der Geburt, reichen bis ins 6. Jh. zurück. Einer der bekanntesten Kultbezirke für die Magna Mater lag in Ostia. Der Kult war bei Frauen beliebt, weil sie zum (ebenfalls in Ostia stark vertretenen) männerbündischen Mithraskult keinen Zugang hatten. 204 wurde aufgrund eines Orakelspruchs ein anikonischer Kultstein der Kybele nach Rom entführt und 191 der Tempel für die Magna Mater – dies war zugleich ein Deckname für die Herrin der Tiere, Kybele, um die orientalische Konnotation etwas zurückzunehmen – auf dem Palatin geweiht. Es gab ein mehrtägiges Frühlingsfest der Überwindung des Todes durch neues Leben, in dessen Verlauf unter orgiastischer Musik auch Entmannungen vorgenommen wurden. Dies geschah in Erinnerung an die Kastration des göttlichen Jünglings Attis, der von der in ihn verliebten Großen Mutter Kybele in den Wahnsinn getrieben worden war und sich in eine Pinie verwandelte. In Abbildungen wurde immer wieder der auferstandene Attis gezeigt. Die Eunuchenpriester (sie waren kastriert, weil auch Kybele ursprünglich ein Zwitterwesen war) demonstrierten damit ihre exklusive Hingabe an die Göttin. Da römischen Priestern diese Praktik untersagt war, dürfte es sich um phrygische Priester (phrygisch galt in Rom als trojanisch) gehandelt haben – analog zur Herkunft des Mythenkomplexes. Anders als in Griechenland gab es in Rom ein hierarchisch organisiertes Priestertum mit vielen Funktionen. Solche Kultgeschehen für die Große Mutter oder Kybele-Prozessionen wurden immer wieder dargestellt, in Fresken, aber auch figürlich in diversen Gebrauchsgegenständen der Priester. Die Rituale dieses orientalischen Kults, namentlich die Stierkastrationen und -tötungen (Genitalopfer für die Göttermutter), wurden gerne bei den Kirchenvätern in antiheidnischer Polemik ausführlich und in Übertreibungen beschrieben. Dies vermutlich auch deshalb, weil das Hauptfest des Kybele-Kults, in dem es um die Auferstehung der toten Natur ging, auf das Frühjahrsäquinoktium fiel, also in die Zeit des christlichen Osterfestes. Augustus baute später seinen Sitz neben diesen Tempel der Magna Mater, die auch als trojanische Urmutter galt, was als endgültige Aneignung der Troja-Idee durch Rom angesehen werden kann. Diese Idee war, wie oben erwähnt, von Vergil in augusteischer Zeit den Römern in Form des Nationalepos Aeneis geschenkt worden. In ihm wird die Abstammung des Romulus auf den trojanischen Prinzen Aeneas zurückgeführt. In den Anfängen des Kults tauchten im Orient wurzelnde Mythen von intimer Beziehung bzw. Hierogamien des Königs mit der Göttin auf. Filippo Coarelli interpretiert die Hierogamie als Identifizierung von König und Göttin und stellt sie in einen größeren Zusammenhang: Die Inthronisation des Königs im Namen der Gottheit kam im Orient bekanntlich einem Sieg über die Feinde gleich. Nach Coarelli haben die Tarquinier von den Etruskern den Triumphzug als Zeichen der siegreichen Rückkehr vom Niederschlagen der Feinde übernommen. Das Ziel der Züge war stets der Tempel des Iupiter Optimus Maximus auf dem Kapitol. »In dem archaischen Triumph fand jedoch vor allem eine Identifizierung des Königs mit Iupiter statt. Die Insignien dieser Zeremonie lassen keinen Zweifel aufkommen.«

Große Mutter

Hasenfratz 2004, 84

Erbelding Susanne in Kat. 2013a, 96f

3.1.3.

Triumphzug

Coarelli 2011, 66

428

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Muth 1988, 210

Clauss 1999, 335f IV.8.0.

Mysterienreligion

2.6.2.

Auffahrt Christoph in Kat. 2013a, 17

Die Triumphzüge römischer Feldherrn und Kaiser waren in der Tat religiöse Rituale. »Der als Triumphator siegreich in Rom einziehende Feldherr, angetan mit dem festlichen Gewand, mit welchem das Standbild des Jupiter Optimus Maximus im kapitolinischen Tempel bekleidet war, wie dieser auf einer Quadriga stehend und sein Szepter haltend, wurde von den Römern als Vergegenwärtigung dieses Gottes erlebt, der auf der Via Sacra über das Forum Romanum zu seinem Tempel am Kapitol hinauffuhr.« Die göttliche Verehrung des Kaisers war ein Erbe aus dem orientalischen und ägyptischen Osten. Diese Verehrung erstreckte sich auch auf das den Kaiser und die Götter repräsentierende Bild. Eine wahre Flut von Bildern ergoss sich über Tempel, Plätze, Theater, Thermen. Auch auf Münzen, Gemmen und Schmuckstücken, ja sogar Opferbroten und Opferkuchen wurde der Kaiser abgebildet. Vor solchen Bildnissen wurde geopfert und die Strafen für Entweihungen (Nacktheit, Urinieren vor Bildnissen, Mitführen von Münzen in Latrinen und Bordellen) waren drakonisch. Der eingangs angesprochene Verlust der Glaubwürdigkeit von Religion verband sich schließlich mit dem affektlosen Gottesbild aus dem griechischen Hellenismus. Dies schuf ein emotionales Vakuum, das vermutlich für den großen Erfolg der ekstatischen Mysterienreligionen in der Spätzeit mitverantwortlich zeichnete. Sie befriedigten die Suche nach persönlicher religiöser Erfahrung und boten eine Antwort auf die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod. Die Religion erlebte eine Individualisierung. An die Stelle der res publica trat die Sorge um sich selbst im Sinne der hellenistischen Philosophenschulen. Dies richtete sich zwangsläufig auch gegen den Staat. Die Mysterien waren dem Zugriff des Staats entzogen und er verfolgte sie zuweilen. 186a wurden die Mysterien durch einen Senatsbeschluss teilweise verboten bzw. streng reguliert. Auf die heikle Rezeption der orientalischen Kulte wurde bereits bei der Besprechung des Hellenismus hingewiesen und dies wird nochmals Thema sein in der Spätantike. Nach dieser Vorlage ging man später auch gegen das Christentum vor, dem man ähnlich orgiastische Handlungen unterstellte. Diese knappe Auflistung zeigt, dass auch die Religion, wie generell die römische Kultur, einen eklektizistischen Charakter hatte. Daher stellt sich die Frage nach der Beurteilung dessen, was in diesem Zusammenhang Originalität bedeutet. Es geht um die Bereitschaft, Fremdes aufzunehmen und kreativ in das eigene Kraftfeld einzubauen. Spätestens nach der Constitutio Antoniniana mit seiner Eingliederung aller Kulte in den Staatskult (ausgenommen war das monotheistische Christentum) kann freilich kaum mehr von einer eigenständigen römischen Religion gesprochen werden. »Nicht Krise und Untergang, sondern Konkurrenz, Produktivität und Wachstum bestimmen den religiösen Sektor.« Dazu gehörte auch der religiöse Tourismus zu Kult- und Mysterienorten inklusive des Ausprobierens solcher religiöser Diätetik. Vorstellungen zum Weiterleben nach dem Tod wurden auf einfachem Niveau bereits früh reflektiert. Zunächst glaubte man, die Verstorbenen würden in ihren Gräbern leben, wodurch auch eine Verbindung zwischen Lebenden und Toten am Grab möglich sei. Das Totenmahl mit den entsprechenden Opfergaben fand direkt am Grab statt, in dessen prunkvoller Ausstattung sich der Reichtum der Besitzer widerspiegelte.

429

Rom

Für die späte Entwicklung, vor allem für die Rezeption des Christentums, ist eine auch in der römischen Religion latente Tendenz zu einer Monolatrie, etwa beim Kult des Sol Invictus, erwähnenswert. In diese Zeit des späten Römischen Reichs fällt auch das Ende des uralten Rituals der Tieropfer. Die vielleicht vordergründigste Ursache war die Entmachtung der Wahrsager, die man bei jedem Opfer für die Eingeweideschau benötigte. Die Opfer wurden abstrakt und handlich. Man konnte nun Münzen, Weihrauch, Kerzen opfern. Vor solchen Entwicklungen könnte man die These vertreten, wie sie Christoph Auffahrt zugespitzt hat: »Der Grund, warum am Ende ein bestimmtes Christentum die Verwandlung der Mittelmeerwelt von der Spätantike zum Frühen Mittelalter geprägt hat, liegt wohl weniger in der Christianisierung des Römischen Reiches, sondern in der Romanisierung des Christentums.«

Ebd., 19

3.3. Kunstphilosophische Aspekte der römischen Kunst und Architektur Es ist kein leichtes Unterfangen, in der römischen Kunst und Architektur kunstphilosophische Gehalte auszumachen. Das liegt nicht nur daran, dass bereits die Eigenständigkeit der römischen Kunst und Architektur ein Problem ist, es gab auch, anders als in Griechenland (wenngleich dort vieles verloren gegangen ist), so gut wie keine Reflexionen über Kunst und Architektur – abgesehen von der prominenten Ausnahme des Architekturtraktats von Vitruv. Dazu kommt noch, dass uns nur wenige Signaturen von Künstlern erhalten sind. Die römische Kunst – so scheint es – wurde kaum reflektiert, sie ist gewissermaßen anonym. Die Künstler und Architekten Roms sind »unsung heroes, shrouded by anonymity.« Umso mehr wurde die Kunst für Zwecke des Staates und der Kaiserdynastien instrumentalisiert.

3.4.3.

Jones 2009, 19

3.3.1. Charakteristika römischer Kunst Angesichts der Abhängigkeit von etruskischen und griechischen Vorbildern stellt sich der Kunstgeschichte seit langem die Frage nach dem Spezifischen einer römischen Kunst und Architektur. Eine unbestrittene Antwort darauf gibt es nicht. Klar ist allenfalls, dass eine spezifisch römische Kunst ein spätes Phänomen ist. Theodor Kraus meinte in dem einschlägigen, 1967 erschienenen Band der Propyläen Kunstgeschichte, dass es »vor dem 2. Jahrhundert v. Chr. eine eigentlich römische Kunst nicht gegeben hat.« Kunstphilosophisch erklärt sich die Verzögerung nicht zuletzt dadurch, dass sowohl die religiösen Vorstellungen als auch die mythische Überlieferung eine griechische Prägung aufweisen. In dem Moment, in dem sich am ehesten eine römische Kunstform charakterisieren ließe, brach der Hellenismus an und damit erst recht wieder die Übernahme griechischer Formen. Die Kunstgeschichte lässt die römische Kunst meist zur Zeit Sullas beginnen. Zu dieser verbreiteten Usance gab es die deutlich artikulierte Gegenmeinung einer Minderheit, die von einer frühen italischen Kunst, frei von griechischen Einflüssen, ausgeht. Einem solchen Dualismus wird neuerdings ein feineres methodisches Instrumentarium entgegengesetzt. Grundsätzlich sind sich die meisten Kunsthistorikerinnen einig, dass eine von griechischem Kontext unabhängige Kunst auf der

Kraus 1967, 11

430

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ebd., 14 Andreae 2012, 78

Kraus 1967, 16

Wohlmayr 2011, 13

Ebd., 75/77

Behandlung des Raums

3.2.

italischen Halbinsel nicht existierte. Die Forschungen zur Kunst der vorrömischen Völker liefern dazu eindrucksvolle Belege. Es geht eher darum, das einfache Kausalverhältnis von »Einfluss« und »Abhängigkeit« auf einen differenzierteren, von originärer Gestaltungskraft getragenen Bezug zu verändern. Oder wie dies ebenfalls Theodor Kraus ausdrückte: »Antrieb und Leben erhielt die hellenistische Kunst nur noch durch Rom. […] Wenn nun aber Schöpfungen ohne inneren Bruch gelingen, kann man ›griechisch‹ und ›römisch‹ nicht mehr als Gegensätze sehen, und es wäre falsch zu sagen, es geschehe nichts anderes, als daß Griechen römische Themen ins Bild umsetzen.« Man hat es also in der römischen Kunst »auf jeden Fall mit zwei Erscheinungen zu tun, mit der Kunst des Erhaltens der griechischen Weltsicht und mit der Repräsentation der eigenen.« Zusätzlich erschwert wird eine Bestimmung der römischen Kunst dadurch, dass es wegen der vielen Einflüsse von außen anders als in der griechischen Kunst keinen Verlaufsweg von Stilen von einer Archaik über eine Klassik zu einer »barocken« Stilform gab. Man begegnet in der römischen Kunst häufig der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.« Deshalb behilft man sich mit einer Kennzeichnung durch die historischen Kontexe und spricht etwa von einer spätrepublikanischen, augusteischen oder antoninischen Kunst. Mag auch der neuere Zugang zum Problem ein feineres Fingerspitzengefühl aufweisen, für die Bestimmung dessen, was römische Kunst nun ausmacht, hilft das kaum weiter. Die im Verlauf der Republik erkennenbaren Charakteristiken einer spezifisch römischen Kunst werden mit eher unscharfen Begriffen beschrieben: »ausgesprochen zukunftsorientiert«, »technisch innovativ«, »neuartige Aufgabengebiete der Baukunst«. Für Wolfgang Wohlmayr ist das älteste erhaltene freskierte Familiengrab, jenes der Fabier auf dem Esquilin vom Ende des 4. Jh.s, »eines der bedeutendsten Dokumente der Kunstentwicklung im republikanischen Rom« und »eines der ersten eigenständigen römischen Kunstwerke«. Abseits solcher Motivsuche der Kunsthistorikerinnen sei aus kunstphilosophischer Sicht der Fokus auf ein zentrales Motiv gelegt, das Kunst und Architektur gegenüber den griechischen Vorlagen erheblich veränderte und das als typisch römisch angesehen werden kann: die Behandlung des Raums. Der Grieche betrachtete den Raum tendenziell als Leere, in die eine Entität nahezu autark – als Widerspiegelung der kosmischen Einheit – gestellt wurde. Allerdings kann man den (eher seltenen) Tempelbauten in der Landschaft eine strenge Beherrschung des Raums zuschreiben und der griechische Theaterbau ist ohnehin in die Landschaft einbezogen. Für den Römer war der Raum aber ein Bezugssystem, mit dem gearbeitet werden musste. Kulturgeschichtlich mag sich dies in der griechischen Anhäufung von Poleis widerspiegeln, während die Römer ein Flächenreich zu organisieren wussten. Bereits die Etrusker hatten ihrem Kosmos ein komplexes Koordinatensystem eingeschrieben. Ein Körper steht stets in einem Verhältnis zu diesem Raum und mehrere architektonische Körper stehen untereinander in einer bestimmten Beziehung. Im Zusammenhang mit einem bei der Raumgestaltung zwangsläufig auftretenden Illusionismus ist die Frontalität ein spezifischer Aspekt von Raum. Was aus griechischer Sicht

431

Rom

als Entartung angesehen werden könnte, wird zu einem neuen kreativen und doch aus alten Wurzeln bewusst gewählten Zugang zum Raum. Diese führte nicht nur zur Axialität, damit Frontalität (mit Ausbildung einer Fassade) von Bauwerken, sondern veränderte das hippodamische System auf die Decumanus-Cardo-Ordnung und führte zu einer spezifischen Form des Städtebaus. »Große Verkehrsachsen fügten die einzelnen Viertel zu einem Ganzen zusammen und führten als breite Alleen auf monumentale öffentliche Bauten zu. Kolonnaden, Tor- und Triumphbögen sowie Podiumstempel betonten die Prinzipien der Axialität und Frontalität.« Selbst die einfache Wand wird in den Händen der römischen Baumeister zu einem Element des Raums, diesem unter- und eingeordnet. Theodor Kraus hat das Gemeinte treffend beschrieben: »Eine griechische Quadermauer ist stets ein plastisches Gebilde, wirklich gefügt und gebaut. Die römische dagegen wird in ihrer amorphen Struktur zur Raumgrenze ohne körperlichen Eigenwert. Ihren Kern muß sie hinter einer Verkleidung verbergen. […] Eine Architektur, die sich solcher Mittel bedient, konnte als ihr Ziel nicht den plastischen Baukörper sehen, sondern mußte es in der Gestaltung des Raums suchen […].« Besonders klar wird diese Neudefinition der Architektur in den Terrassenanlagen, wo man mit aufwendigen Substruktionen arbeiten musste und die Wirkung schließlich in der Fassade lag, deren Sinn letztlich die Eröffnung eines Raums ist. Es war bereits die Rede von der speziellen Sicht der Etrusker auf den Raum, der stets vom Kosmischen her entschlüsselt wurde. Dies taten auch die Griechen, aber – anders als die Griechen – legten die Etrusker gleichsam das hippodamische System auf den Kosmos aus und zwar so, dass »the geometrically ordered heavenly macrocosmos was reflected in the earthly microcosmos.« Diese Sicht würde an der archaischen kosmischen Bedeutung der Kreuzform anschließen. Die Orientierung geht von den vier Kardinalpunkten aus. In der Städteplanung hieß der vom Kreuzungspunkt von Decumanus (Ost-West-Achse) und Cardo (Nord-Süd-Achse) aus gesehene nördliche Raum »hinterer Teil« (pars postica) und der südliche »vorderer Teil« (pars antica). Vom Cardo aus betrachtet war der linke östliche Teil, jener des Sonnenaufgangs, der glückliche (pars sinistra/familiaris), der rechte westliche, jener des Sonnenuntergangs, der unheilbringende (pars dextra/hostilis). Die auf ein Zentrum (das als Kreuzungspunkt kosmischer Linien definiert ist) hin orientierte Achse ist daher ein »kennzeichnende[s] Merkmal der römischen Architektur.« Mit diesem auf etruskischen Wurzeln beruhenden Raumverständnis überwanden die Römer die autonome Polis der Griechen. Sie bezogen den Raumentwurf auf das gesamte Reich und schlossen die Städte durch große Straßenanlagen zusammen. Trotz dieser gleichsam makrokosmischen Sicht (auf den Raum) blieb die Polis ein Ort höchster Dignität. Der Stadtentwurf knüpfte rituell beim Städtebau der Etrusker an und ihrem festen kultischen Regelwerk (ritus etruscus) für jede Neugründung. Die Römer zelebrierten jene alte Identitätsstiftung, wie wir sie aus dem altorientalischen Selbstverständnis der Stadt kennen. Die Gründung einer Stadt blieb in früher römischer Zeit die »Wiederholung der Kosmogonie«. Eine mit dem Pflug rituell gezogene Furche (sulcus primigenius/pomerium) grenzt den zu errichtenden

Decumanus-­ Cardo-Ordnung

Kolb 1984, 268

Kraus 1967, 29

Steingräber Stephan in Kat. 2000b, 293 I.3.2.

Pallottino 1942, 315f Norberg-Schulz 1979, 42 Stadtentwurf

Steingräber Stephan in Kat. 2000, 290–311, bes. 293ff II.1.2.2.1. Eliade 1976, II, 100

432

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Blösel 2015, 13

I.4.3.4. 175 Janus von der Agora in Smyrna, röm.; AMI

Speyer 2007a, 55 II.1.2.3.

Sprenger/Bartoloni 1990, 42

176 Stadttor von Volterra, etruskisch (4. Jh.a)

Bogen und Gewölbe

Pallottino 1942, 335

Ort der Stadt vom Umfeld ab. Das Pomerium, diese »grundsätzlich so scharfe Grenze zwischen dem Drinnen und Draußen […]«, blieb die sakrale Grenze Roms, die Feldherren bei ihrer Rückkehr in die Stadt nicht überschreiten durften. Als Remus über die gezogene Furche Roms sprang, bezahlte er diesen Frevel mit dem Leben. Viele Überlieferungen des Gründungsmythos Roms (Titus Livius, Ovid, Plutarch) berichten vom Brauch, den Pflug dort, wo Tore die Mauer durchbrechen, anzuheben. Das Stadttor war aufgeladen mit symbolischer Bedeutung und hatte einen Bezug zum rätselhaften altrömischen Gott Janus. Er war der Gott der Durchgänge und Tore sowie des Anfangs. Die Zusammenhänge sind ungeklärt, Janus dürfte aber mit religiösen Spekulationen um das Tor aufgeladen gewesen sein. Mit dem Tor verbunden war auch eine urtümliche Symbolik der Jenseitsreise. Schließlich war Janus ein ursprünglicher Allgott, dessen Viergesichtigkeit durch Beiworte wie quadrifrons und quadriformis noch zumindest terminologisch bewahrt wurde: »Wie einzelne antike Schriftsteller betonen, blickt Ianus nach den vier Himmelsrichtungen.« Im Schnittpunkt von Cardo und Decumanus markierte die Opfergrube (mundus) in der angedeuteten Vertikalachse das Zentrum und die Verbindung von Himmel und Erde. Mit der Ablösung des Chthonischen markierte die Akropolis diese Verbindung von Himmel und Erde. Die Akropolis der etruskischen, im hippodamischen System angelegten, südlich von Bologna gelegenen Bergstadt Marzabotto hatte keinerlei defensive Schutzfunktion. Sie war schlicht der heilige Ort der Stadt und diente der Legitimation einer feudalen, auf göttlicher Ordnung beruhenden Gesellschaftsstruktur. »Der Grundriß von Marzabotto […] zeigt besonders deutlich die Abhängigkeit von der griechischen Art der Stadtplanung.« Dieses auf religiöser und kosmischer Grundlage errichtete ästhetisch-geometrische Konzept wurde nicht nur bei den Städten, sondern auch bei Militärlagern, Foren und Palästen (Split), ja sogar größeren Villenanlagen (Tivoli) durchgehalten. Ausgerechnet die Millionenmetropole Rom beließ es bei einschlägigen Gründungsmythen und entzog sich in ihrer wild wuchernden Dynamik jeder versuchten Ordnung. Ein weiteres architektonisches Element, das eine spezifisch römische Architektur begründet, ist der Bogen. Er stammt aus dem 4. Jh. aus Griechenland (vermutlich nach orientalischen Vorbildern), wurde dort vor allem im Hellenismus verwandt und zum Gewölbe aggregiert. Stets haftete ihm die Nachrede an, ungriechisch zu sein. Bogen und Gewölbe tauchen bereits im etruskischen Bereich auf, waren aber keine etruskische Erfindung. Die Architektur dort nahm »Elemente alten orientalischen Ursprungs auf, perfektioniert sie und übersetzt sie in monumentales Format.« Tatsächlich hielten die Griechen solche Formen immer für fremd und ihrer geradlinigen Geometrie abträglich. Der Grieche folgte aus bereits besprochenen Gründen einer architektonischen Ordnung, die

433

Rom

Stützen, Säulen, Gebälk und Lastverteilungen ein mathematisches System aus Harmonie und Proportion zugrunde legte. Der Römer handhabte diese Elemente unabhängig von einer höheren rationalen Ordnung pragmatisch und frei. Jedenfalls ungriechisch war die Verbindung von Säule und Bogen. Sie rechtfertigt sich nicht aus konstruktiver Logik, musste daher ästhetische Gründe haben. Bei Zweckbauten wie Brücken und Aquädukten genügen reine Bogenkonstruktionen, während für sakrale und repräsentative Bauten der rhetorisch-ästhetische Überschuss von Säule und Bogen Verwendung fand. Man kann darin eine Befreiung vom »Zwang der klassischen Säulenordnung« sehen. Die Verbindung dieser beiden Bauelemente war ebenfalls nachhaltig: »Sie mutet an wie ein Vorspiel zu nachantiken, zu mittelalterlichen Formen« und sie spielte auch im Bau der christlichen Basilika eine grundlegende Rolle. Im Zusammenhang mit der Erfindung des Zementmauerwerks (opus caementicium) im späten 2. Jh.a, einem gewaltigen Technologieschub, führte der Bogen in Form des Gewölbes zu neuen konstruktiven Möglichkeiten, die eine Vielzahl von Bautypen zuließ. Mit Bogen, Arkade und Gewölbe ließen sich riesige, beliebig gegliederte Baukörper realisieren wie Thermen, Theater, vielstöckige Mietshausanlagen, Repräsentationstore oder Einzelprojekte (Maxentius-Basilika, Pantheon). Das ermöglicht aber auch scheinbar spielerisch-dekorativ das Zitieren historischer Stilformen in ein und demselben Gebäude. So stehen beim viergeschossigen Flavischen Amphitheater/Kolosseum wie beim Marcellus-Theater die drei griechischen Säulenordnungen in drei Etagen unterhalb einer als Attika ausgebildeten vierten Etage übereinander. Ein für die weitere kunstphilosophische Betrachtung vor allem der Gewölbe und Kuppeln wichtiges Kapitel war die Deutung von Rotunden in den Tempelbauten. Anhand von Beispielen von Fortuna-Heiligtümern auf dem Marsfeld und in Praeneste (Palestrina) diskutiert Gilles Sauron die Rotunden-Form solcher Heiligtümer. Ihre Platzierung an höchster Stelle des Bauensembles prädestiniert das Heiligtum als Zeichen für die himmlische Sphäre. Diese Stellung »muss in den Augen derjenigen, die in jener Zeit mit der Bedeutung architektonischer Formen vertraut waren, den Rundtempel mit der ›ersten‹ Fortuna zum Abbild der himmlischen Wohnstatt einer Göttin erhoben haben, die als Bewahrerin von Komos und Zeit galt.« Sauron verweist in diesem Zusammenhang auf die Dichtung des aus Kalabrien stammenden Quintus Ennius, oft als »Vater der römischen Poesie« bezeichnet. Dieser war ständig bemüht, zwischen der Himmelswölbung und dem Bogen in der Architektur einen Zusammenhang herzustellen, sodass übliche Redewendungen wie jene von der »Wölbung des Himmels« (cava caeli) in der Metaphorik der Dichtung des Ennius gründeten. Wölbung und Himmel waren zu einem großen Thema geworden und

Müller/Vogel 1974, 209

Kraus 1967, 121

177 Maxentius-­ Basilika; Rom 178 Säulenordnung am Kolosseum; Rom

Sauron 2013, 153

434

Die antike Welt – Griechenland und Rom

IV.6.2.1.

bildeten einen bemerkenswerten Hinweis für die Deutung der Kuppel in den christlichen Zentralbauten.

3.3.2. Architektur

Philipp H. 2012, 51

Ebd., 49

Sauron 2013, 10; Sinn 2006, 425f 3.3.2.2.

Auf die entscheidenden Weichenstellungen in der römischen Architektur, die Behandlung des Raums, den kreativen Umgang mit Fassade, Bogen, Gewölbe wurde gerade allgemein verwiesen. An dieser Stelle geht es um einen knappen Überblick über die Anwendungsseite der theoretischen Vorgaben. Nicht wenige sehen in der Architektur das innovativste Genre der römischen Kunst mit der nachhaltigsten Wirkung. Wie bereits im allgemeinen Teil festgehalten, kennen wir kaum Architekten aus römischer Zeit. Die meisten der überlieferten Namen gehören zu griechischen Baumeistern. Das lateinische architectus war ein griechisches Lehnwort (architekton). Der Ausdruck taucht erstmals um 200a auf. Die gesellschaftliche Stellung der Architekten schwankte. Es gibt Hinweise auf ein schlechtes Prestige. Andererseits scheinen sie aber auch eine hohe Wertschätzung genossen zu haben, waren gebildet und wurden von den Kaisern für die Realisierung ihrer Träume engagiert, auch wenn sie »nie als ›geniale Entwerfer‹ gefeiert« wurden. Dass Künstler und Architekten von den Schriftstellern so spärlich erwähnt wurden, könnte daran liegen, dass man in ihnen künstlerische Konkurrenten sah. Da Künstler und Architekten abhängig von Auftraggebern waren, galten sie zum Unterschied von den Grundbesitzern und selbst von den kleinen Bauern als unfrei. Bauinschriften loben demgegenüber den Magistraten, der den Bau überwachte, oder sie preisen den Bauherren. Ihnen kam letztlich der Ruhm zu. Das Fachwissen stammte zuerst von den Etruskern, dann von den griechischen Experten. Ein solcher, nämlich Hermodoros von Salamis, baute um 140a den ersten vollständigen Marmortempel in Rom. Apollodoros von Damaskus, der für Kaiser Trajan und seinen Nachfolger Hadrian baute, war einer der bedeutendsten Architekten der Kaiserzeit. Aber auch er findet in vielen Schriften, welche das Trajansforum loben, keine Erwähnung. Ein wichtiger Charakterzug von Bauwerken war ihr Nutzen (utilitas). Zur Rechtfertigung des Bauens reichte nicht eine freie Ästhetik aus, vielmehr musste ein Nutzen nachgewiesen werden. Gemeint war das Wohl für die Gesellschaft. Dabei wurde nicht selten auf eigenwillige argumentative Konstruktionen zurückgegriffen. Pompeius baute das erste Theater aus Stein auf dem Marsfeld in Form einer Treppe zum Tempel der Venus Victrix und unterlief damit das Verbot fester Theaterbauten, was den Bann brechen ließ. Ein Vorteil dieses Kriteriums mag gewesen sein, dass es in Rom gegenüber den bisherigen Hochkulturen eine wesentlich größere Zahl von Bautypen gab. Eine höhere Differenzierung der Gesellschaft ermöglichte es, fern von allzu strikten Kanones und Schemata diese breite Nachfrage durch ein ebenso differenziertes Angebot zu befriedigen. Dass wir in Rom vergeblich einen Ablauf von Stilformen suchen, wurde ebenfalls bereits gesagt. Die Architektur folgte der Handschrift der jeweiligen Führungs­clique

435

Rom

im Zentrum und entwickelte eine spezifische Eigenart in den Provinzen. In Rom veränderte sich die Charakteristik – grob gesprochen – von einer gewissen Strenge und Ordnung im Sinne einer Besinnung auf die Tugenden des alten Rom unter Augustus zu überladenen und barock hellenistischen Formen in der späteren Kaiserzeit.

3.3.2.1. Der römische Tempel Ähnlich wie in Griechenland wurden auch in Rom in früher Zeit (überwiegend chthonische) Gottheiten ohne Kultbauten an Altären oder in Höhlen und Hainen, zudem meist bilderlos, verehrt. Berichten zufolge sollen solche Kulte auf dem Marsfeld außerhalb der Stadtgrenzen bis in republikanische Zeit hinein praktiziert worden sein. Der Ausdruck templum (griech. temenos) bezeichnete ursprünglich den vom Augur mit seinem Krummstab (Lituus) in den Himmel gezeichneten Raum zur Beobachtung des Vogelflugs. Dadurch ordnete er den Raum in Beziehung zum Tempel. In weiterer Bedeutung war der Tempel – ähnlich wie im Griechischen – der ausgeschnittene, dem göttlichen Kult geweihte Raum, während das Bauwerk selbst als aedes (Haus) bezeichnet wurde. Vor dem Tempel, der Wohnstatt der Gottheit (mit Götterbild, Kultzubehör und Weihegeschenken), befand sich der Opferaltar, um den sich die Gemeinde versammelte. Für die Zelebration des Kults gab es Priester mit dem Pontifex Maximus an der Spitze und weitere spezialisierte Kulthelfer. Die römische Tempelarchitektur hatte eine eigenständige Komponente, weil die Tempel, anders als die griechischen Vorbilder in Sizilien und Unteritalien, stets richtungsbezogen entworfen wurden. Hier orientierten sich die Römer an den etruskischen Vorgaben. In ihren Bauten ließ sich gegenüber dem in sich ruhenden, die Autarkie des griechischen Kosmos ausdrückenden Baukörper die Dynamik des Rituals nachvollziehen. Im griechischen Tempel verdichtete sich die Idee der Polis als Abbild des göttlichen Kosmos. Die römische Architektur schuf demgegenüber ein auf den Gesamt­ raum der Stadt bezogenes Gebilde und folgte nicht den mathematischen Gesetzen des Kosmos. »Ein römischer Tempel wird grundsätzlich raumbeherrschend eingesetzt; er kontrolliert seine Umgebung.« Schon der etruskische Tempel bestand in der Regel aus einer dreigliedrigen Cella (später ein einheitlicher Cellaraum), der eine Vorhalle vorgelagert war. Ein solcher Typus war vermutlich der Jupiter-Tempel auf dem Kapitol, vielleicht der älteste berichtete Tempel in Rom aus der Zeit des legendären zweiten Königs und Zivilisationsstifters Numa Pompilius oder doch erst ein Auftrag des letzten etruskischen Königs Lucius Tarquinius Superbus. Der Tempel stand üblicherweise auf einem Podium und war über eine breite Freitreppe erreichbar. Der (etruskische) Zug zur Axialität und Frontalität führte zur Ausbildung einer Fassade, für deren Gestaltung man im Hellenismus Anregungen fand. Manchmal wird der Cellaraum mit dem Peripteros verbunden, wie bei dem gut erhaltenen, in augusteischer Zeit entstandenen provinzialrömischen Forumstempel in Nîmes (Maison Carrée).

Kähler 1964a, 24f Schollmeyer 2008, 13

2.3.2.

Wohlmayr 2011, 38

436

Die antike Welt – Griechenland und Rom

179 Maison Carrée in Nîmes (Augusteischer Klassizismus)

Ebd., 205

3.4./3.4.3.

Andreae 2012, 98

Schollmeyer 2008, 66

Am Anfang bestand der Tempel aus Holz oder Ziegelmauerwerk mit farbenprächtig bemalter Terrakotta-Dekoration, ehe beides in Kalkstein und Marmor ausgeführt wurde. Nach dem Bericht Vitruvs war der erste Marmortempel in Rom, wie oben erwähnt, der nach 146a für den Sieger über Makedonien, Quintus Caecilius Metellus Macedonicus, von einer griechischen Bauhütte (Architekt Hermodoros von Salamis) errichtete Tempel des Jupiter Stator (der die Flucht hemmende Jupiter). Weite Hallen umgaben diesen Tempel, in denen der siegreiche Feldherr griechische Kunstwerke aufstellen ließ. Es handelte sich bei dieser Porticus Metelli auf dem Marsfeld um das erste Kunstforum Roms. Auch bei den Kultbildern war Griechenland ein Vorbild. Viele Götterfiguren wurden als Raubgut direkt von den griechischen in die römischen Tempel transferiert. Augustus verstand die Ausstattung der Tempel, etwa der Apollo-Tempel auf dem Palatin und auf dem Marsfeld mit alten griechischen Götterbildnissen, als Nobilitierung. »Ganz im Sinne traditioneller römischer Triumphalkunst präsentierte sich der Apollobezirk am Marsfeld nach seiner frühaugusteischen Erneuerung geradezu als Aufbewahrungsstätte für gefeierte Werke der Plastik.« Die Bezogenheit der Tempel auf den Stadtraum trug dazu bei, dass in einer res-bestimmten römischen Kultur der Tempel kontextbezogen und das Ritual um die Götter ein Teil des gesellschaftlichen Alltags blieb. Die Tempel boten Gelegenheit der medialen Selbstdarstellung für die Eliten des Staates, sei es durch den Bauauftrag oder durch Präsentation in Bildnissen und Votivgaben. Mehr noch als in Griechenland waren sie multifunktionale Orte der Kommunikation und des öffentlichen Lebens, vor allem jene auf den Foren. Ähnlich wie in Griechenland erfüllten die großen Tempel in Rom die Funktion von Schatzhäusern. Das erste dürfte der vielleicht noch auf Tarquinius Superbus zurückgehende, um 500 geweihte Tempel des Saturn auf dem Forum Romanum gewesen sein. Leider sind uns aus antiker Zeit keine ausführlichen Baubeschreibungen von Tempeln erhalten. Als einzige Quellen, die diesen Anspruch am ehesten erfüllen, können Vitruvs De architectura und Pausanias’ Hellados Periegesis (er beschrieb die griechischen Tempel der Kaiserzeit) gelten. Ansonsten gibt es nur summarische Schilderungen und Bauinschriften (tituli operum locorumque publicorum), die freilich in der Regel nur die Stifter und den Anlass der Errichtung nennen. Beim Ausbau des Kriegshafens Misenum, gegenüber Puteoli (Pozzuoli) gelegen, wurde, wie auch bei dem von ihm gebauten Tempel von Puteoli, nicht der bedeutende Architekt Cocceius erwähnt, sondern der Stifter Lucius Calpurnius Piso. Diese Inschriften dienten nicht primär der Bauwerksbeschreibung, sondern waren Propagandainstrumente. Vor allem in der späteren Republik lieferten sich die durch Eroberungen zu Reichtum gelangten Feldherren einen Wettbewerb mit Prestigebauten. In der Kaiserzeit ging das Monopol der Tempelbauten auf die Kaiser über, die von Kommissionen (curatores aedium sacrarum) beraten wurden.

437

Rom

Mit den zunehmenden Kulturkontakten in der Kaiserzeit und im Hellenismus erfuhr der etruskische Grundtyp vielfache Variationen. Auffallend sind dabei das geschlossene Giebelfeld mit dem skulpturalen Schmuck, die Erhöhung der Säulenzahl und die Reduktion der Cella auf einen einzigen Raum – nun alles nach griechischem Vorbild. Rundtempel und die Terrassenform von größeren Heiligtümern wurden dabei immer auf Frontalität gebracht und dem Cardo-Decumanus-Schema unterworfen. Nicht überraschend gab es in dem riesigen Reich auch jede Menge von lokalen Sonderformen, vor allem in den peripheren nördlichen und nordafrikanischen Provinzen. Neben dem axial ausgerichteten Tempel kannte Rom auch den Rundbau. Es handelte sich oft um einen Ringtempel mit der die Cella wie einen Schrein umschließenden Ringhalle. Diese Sakralbauform wurde vor allem für den Kult chthonischer Gottheiten verwandt. Im runden Vesta-Tempel hüteten die Vestalinnen das heilige Herdfeuer. Besonders grandios ist das erhalten gebliebene Pantheon. Architekt könnte jener Apollodoros von Damaskus gewesen sein, der beim Bau des Trajansforum beteiligt war und der gleichzeitig ein Kritiker von Hadrians architektonischen Visionen gewesen sein soll. Allerdings darf man annehmen, dass Hadrian selbst mit seinem großen Interesse an Architektur maßgeblichen Einfluss auf die Planung nahm. Durch eine dreischiffige Vorhalle mit acht frontalen Säulen gelangt man in einen Rundbau. Der die Kuppel tragende Mauerring, in den eckige und halbrunde Exedren eingelassen sind, hat eine Dicke von sechs Metern. Die kassettierte Kuppel aus dem neu entwickelten Gussbeton hat einen Durchmesser von 43,30 Metern (die größte Kuppel bis zur Neuzeit). Dies entspricht zugleich der Entfernung vom Fußboden zum Scheitelpunkt. Die kassettenüberzogene Kuppel verbirgt die aufwendigen Kon­ struktionselemente und strahlt eine ruhige kosmische Harmonie aus. In der Mitte der Kuppel wurde eine runde Öffnung zur Belichtung ausgespart. Das Dach war ursprünglich – wie viele Dächer von Tempeln – mit vergoldeten Bronzeziegeln gedeckt, die Constantius II. 336p nach Konstantinopel schaffte. Es war nicht nur ein Zentralbau des gesamten Götterhimmels, sondern auch »Mittelpunkt des Kaiserkultes und […] Thronhalle des Kaisers.« Als Pantheon im engeren Sinn des Wortes wurde die Besiedelung mit Gottheiten ständig größer. Man stellte das neue Raumverhältnis sozusagen in den Dienst der vielen neuen (auch orientalischen) Götter (templum deorum omnium). Das Pantheon mit seinem ursprünglichen Vorhof wurde zum immer wieder zitierten Vorbild vor allem von Sakralbauten. Ansonsten waren Rundtempel als Grabbauten üblich. Sie leiteten sich vom altmediterranen Typus des Hügelgrabes (Tumulus) ab, das die Etrusker übernommen hatten. Beispiele sind das 44 Meter hohe Mausoleum des Augustus, das Grabmal Hadrians oder das Mausoleum des Diokletian in Split.

Rundbau

3.1.4.

180 Pantheon; Rom

Wohlmayr 2011, 283

438

Die antike Welt – Griechenland und Rom

3.3.2.2. Öffentliche und private Bauten 181 Theater von Orange (augusteische Zeit)

Theaterbau

2.3.2.

Kähler 1964b, 5

Zanker 2014, 110

Die Vielfalt der römischen Bauschöpfungen lässt einige Blicke auf diese angeraten erscheinen. Das jeweilige Selbstverständnis der einzelnen Genres offenbart mitunter auch zum Philosophischen neigende Erzählungen. Den Sakralbauten am nächsten standen die römischen Theaterbauten. Schon bei den Griechen hatte sich das Theater aus dem religiösen Mysterion herausgebildet. Der griechische Architekt nützte beim Bau der Theater die natürlichen Gegebenheiten. Das Szenegebäude stand dem Zuschauerbereich gegenüber. Der Römer schloss Zuschauerraum (cavea), Spielfläche (orchestra) und Szenegebäude (skene) zu einem frei im Raum stehenden Gebäude zusammen. Die Anfänge des römischen Theaterbaus waren bescheiden. Konservative Kreise konnten den Bau von festen, nicht-temporären Theaterbauten eine Zeit lang verhindern. Sie hatten als Stätten des Vergnügens einen zweifelhaften moralischen Ruf. Einfache Holztribünen dienten den Zuschauern von Theateraufführungen und Gladiatorenspielen. »Das Theater wird erst allmählich Architektur.« Erst Pompeius gab im Jahr 61a das erste in Stein gebaute Theater in Auftrag. Dieser Ort des Volkes befand sich mitten in einer Anlage, die Pompeius und seine Siege verherrlichte. Um die kritischen Kreise in der Nobilität nicht allzu sehr zu desavouieren, suchte er nach tarnenden Ausflüchten. Er bezeichnete – wie im vorletzten Kapitel berichtet – die Zuschauerränge als Treppen zu dem an der Spitze gelegenen Tempel der siegreichen Venus. Über dem Zuschauerraum standen häufig Altäre oder kleine Tempel, die an die ursprüngliche religiöse Konnotation erinnerten, später zudem der Verehrung des Kaiserhauses dienten. Wie bei manch anderen Dingen war auch beim Theaterbau

182 / 183 ­Amphitheater in Arles (1. Jh.p), Modell; MAA

das freizügige Pompeji Rom um ein Jahrhundert voraus. Dort gab es bereits ältere Theaterbauten im hellenistischen Stil. Im Laufe der Zeit verlor das Theater seine religiösen Wurzeln und wurde zu einer Kulturform sui generis. Marcus Pacuvius und Lucius Accius schufen erste literarische Werke für das Theater. Anfangs noch derb und burlesk, passten sie sich schnell an das differenzierungsfähige römische Publikum an. Wegen seiner Beliebtheit wurde das Theater ein attraktives Bausujet für die Kaiser.

439

Rom

Beim Pompeius-Theater kam die kanonische römische Säulenordnung zur Anwendung. Bei der 32 Meter hohen Fassade standen dorische, ionische und korinthische Halbsäulen und Pilaster übereinander. Die dahinter liegenden gewölbten Gänge bestanden aus römischem Gussmauerwerk. Ausgedehnte Hallenbauten ergänzten den Theaterbau. Augustus baute auf dem Marsfeld ein bereits von Cäsar geplantes ähnlich großes Theater, das er nach seinem verstorbenen Neffen Marcellus benannte. Die Charakteristiken der römischen Architektur waren keineswegs für jeweilige Genres reserviert. Die Ordnungen der Sakralarchitektur fanden sich problemlos in der privaten Architektur der Wohnhäuser und Villen wieder. Noch mehr verschwammen die Unterschiede zwischen privaten Anwesen und Residenzen. Die gewaltigen Villenanlagen der Kaiser unterschieden sich allenfalls durch die Ausdehnung und die großzügigen umgebenden Parklandschaften von den Residenzen in der Stadt. Die sogenannte Domus Augusti war eine luxuriös ausgestattete Residenz-Stadtvilla, umgeben von Tempeln, namentlich dem ebenfalls von Augustus inaugurierten Apollo-Tempel. Die Freskierung im Inneren der Domus zeigte per­ spektivische Architekturmotive im Sinne des Zweiten Pompejanischen Stils. Eingebettet waren Mythengeschichten, also Motive des Dritten Stils von Pompeji. Nero ließ die Anlage des Augustus für seine Domus Aurea auf den Esquilin (die Gärten des Maecenas einschließend) und Aventin erweitern, Vespasian öffnete Teile des riesigen Geländes wieder für das römische Volk. Ähnlich wie Augustus auf dem Marsfeld errichtete Vespasian eine Forumsanlage (Forum Pacis), mehr Parkanlage als klassisches Forum, im Stil einer griechischen Agora, und ließ dort Skulpturen der berühmtesten griechischen Bildhauer aufstellen. »Rom imitiert so in gewissem Sinn eine Agora, den Marktplatz einer griechischen Stadt.« Das römische Haus, zunächst dem ägäischen Megaron (Vorhalle, Herdraum, Rückraum) nachempfunden, war nicht um den Innenhof zentriert, sondern axial angelegt. Das Atrium hatte als zentral gelegener, lichter Empfangsraum große Bedeutung. Es war auch der Ort religiöser Kulte um die Hausgottheiten, die Penaten und Laren. Bereits in der Zeit der Republik waren die bevorzugten Orte für die Häuser der Senatoren und hohen Beamten in der Nähe des politischen und religiösen Zentrums, auf dem Palatin, der Via Sacra und auf den benachbarten Arealen des Forum Romanum. Die bewusst gewählte Sichtbarkeit sollte die Karriereambitionen unterstützen und die Transparenz der Amtsträger sicherstellen. An Fassaden und Türen waren Beutestücke aus Feldzügen und Ehrenzeichen befestigt, »sichtbare[n] Zeichen vergangener und gegenwärtiger Erfolge in Politik und Krieg […].« Besonders anspruchsvolle Häuser entstanden dort, wo sich wohlhabende Bauherren niederließen, wie etwa in den Vesuv-Städten. Die Atrien waren verschwenderisch mit bunten Marmorsäulen ausgestattet und gemalte Scheintüren spiegelten eine riesige Hausanlage vor. Das alte Familienhaus dominierte. Es gab keine (fünfstöckigen?) Mietskasernen, wie sie sich etwa in Ostia fanden. William L. MacDonald nennt sie – etwas freundlicher – »apartment houses«. Wichtig waren den Römern

Wohnhäuser und Villen

3.3.3.

Wohlmayr 2011, 104

Stein-Hölkeskamp 2006, 302

MacDonald 1986, 253

440

Die antike Welt – Griechenland und Rom

184 Europa auf dem Stier, Casa di Giasone (20–25p), Pompeji; MAN Baldassarre u.a. 2002, 76

Wohlmayr 2011, 194

185 Karyatiden in der Villa Hadrians in Tivoli

gute Belüftung sowie Durchsichten, die den Blick durch Räume und (mitunter mehrere) Peristyle in die Gartenanlagen oder die Landschaft führten. Die Villenarchitektur in Kampanien, in Pompeji und Herculaneum, ist ein eigenes Genre der Privatarchitektur. Die staat­l iche Beschränkung des Luxus im republikanischen Rom zog viele Angehörige der gehobenen Gesellschaft in diese relativ unabhängigen und lebensfrohen Städte. Bevor das samnitische Pompeji unter Sulla 80a zur römischen Kolonie wurde, war es eine hellenistische Stadt im Sinne der globalen Üblichkeit. Enge Handelsverbindungen mit Griechenland hatten einen intensiven Kulturaustausch im Gefolge. Die wohlbetuchten (und philhellenischen) Patrone der Handelshäuser sahen in der hellenistischen Kultur »eine Möglichkeit der Nobilitierung und Einführung in die ›internationale Szene‹ […].« Sie bauten sich riesige Villen und ließen diese mit dem Luxus der hellenistischen Welt ausstatten. Dabei verschmolz das (römisch-italische) Atriumhaus mit dem (griechischen) Peristylhaus (geschlossener Innenhof mit umgebender Säulenhalle) zu einer Villenanlage. Bei den Gärten lagen die Vorbilder ebenso in Griechenland oder man blickte bewundernd auf die Gärten der führenden Schicht in Karthago. »Bei näherer Betrachtung erweisen sich die römischen ›Villenwelten‹ demnach als sorgfältige Adaptionen hellenistischer Vorbilder. […] Die Villenkultur der republikanischen Zeit wird geprägt durch Persönlichkeiten, die ganz offenkundig ihren unabhängigen Lebensstil zur Geltung bringen wollten.« Die Villenkultur, die sich schließlich auch in der Umgebung Roms durchsetzte, wurde durchaus als eine Gegenkultur gegen die Geschäftigkeit der Hauptstadt im Sinne eines otium versus negotium wahrgenommen. Diese Orte wurden auf der einen Seite zu einem für die Intellektuellen spannenden Schatz aus Architekturzitaten griechischer Vorbilder (Gymnasium, Palästra), auf der anderen Seite entsprechend kritisch beäugt. Dass die Villa schließlich auch in der Stadt selbst Platz erhielt, mag auf diese Spannung von otium und negotium verweisen und auf eine Neuausrichtung der Stadt, in der neben der Geschäftigkeit auch das gute Leben gelebt werden durfte. Die Stadt musste allerdings ihren moralischen Anspruch, der ihr als göttliche Stiftung zukam und sich in einwandfreiem Arbeitsleben und Pflichterfüllung niederschlug, erst zurückfahren, um sich auch als Ort des Vergnügens und der Muße darstellen zu können. Die Stadt als große Theaterbühne (wie spätestens seit Augustus ein Programm) war längst in den hellenistischen Städten des Ostens vorgespurt. Die großen Anlagen der Kaiser waren eine Versammlung sämtlicher Baukörper, welche die römische Architektur bot. Die Gesamtanlage ließ Durchsichten und Ausblicke in die Natur zu, ein romantisches illusionsgeladenes Konzept, ähnlich jenem der Illusionsmalerei, die die Wände der Villen schmückte. Ein eindrucksvolles Beispiel des Ineinandergreifens von Architekturgenres ist der Alterssitz des Diokletian in Split. Kompakter als die Villa Hadrians in Tivoli, fasst diese Anlage die gesamten

441

Rom

römischen Architekturleistungen zusammen: »die Bautypten Castrum und Palatium, Terrassenanlage, Fassadengliederung, Seevilla, Villa rustica, Zentral-, Gewölbe-, Kuppelbau, Thermen, Basilica, Podiumtempel, achsiale Höfe und Säulenstraßen, ein alles überragendes Mausoleum, das die zeitlose historische Bedeutung des Grabinhabers anschaulich machen sollte.« Nicht nur in der Architekturform, auch für die Ausstattung der Villen war Griechenland das Muster. Manche Villen folgten in ihrer Anlage einem philosophischen Konzept. Bei der 1750 vom Schweizer Ingenieur und Archäologen Karl Weber in Stollengrabungen erschlossenen, berückend schön gelegenen Villa dei Papiri in Herculaneum (benannt nach einer riesigen Bibliothek von Papyrusrollen) geht man (nicht nur was die gesammelte Literatur betrifft) für Anlage und Ausstattung von einem epikuräischen Leitfaden aus. Vermutlich hat sich der oben erwähnte epikuräische Dichter und Philosoph Philodem von Gadara dort (als Gast des Besitzers Lucius Calpurnius Piso?) längere Zeit aufgehalten. Vielleicht handelte es sich sogar um seine eigene Bibliothek. Die Villenkultur der Renaissance konnte bei diesen Vorbildern nahtlos anknüpfen. Die römische Architektur wurde nicht zuletzt berühmt durch den hohen technischen und ästhetischen Stand der Zweckbauten, neben Markthallen und Amphitheatern auch Brücken, Wasser- und Abwasserleitungen, Thermenanlagen. Für die erstaunliche Bauqualität spricht, dass etliche römische Brückenbauten und Aquädukte bis heute im Einsatz sind. Es ist nach wie vor ungeklärt, wie die römischen Ingenieure dermaßen komplexe Aufgaben lösten, wie sie sich etwa beim Pont du Gard (vermutlich 1. Jh.p) stellten. Die Wasserleitung versorgte die Stadt Nîmes und sie durfte auf einen Kilometer nur ein Gefälle von 24 cm aufweisen. Rom wiederum dürfte die bestversorgte Stadt der Zeit gewesen sein. Knapp ein Dutzend Äquädukte lieferten enorme Mengen an Wasser in die Stadt, sodass nach Berichten statistisch gesehen jeder Römer mit fast 1000 Liter Wasser pro Tag versorgt war (bei einer Million Einwohner um 100p). Besonders hoch entwickelt und differenziert waren die privaten und öffentlichen Badeanlagen, die auf griechische Vorbilder zurückgingen. Die mit Hypokaustenheizungen temperierten Anlagen kannten verschiedene Wärmebereiche bis hin zu saunaähnlichen Hitzeräumen (Laconicum). Der Bau von beheizten Bädern begann in den Villen in Kampanien. Zur Zeit des Augustus entstanden die ersten Thermen in Rom. In der Kaiserzeit verfügte Rom über ungefähr 200 öffentliche Bäder. Besonderen Wert legte man auf eine qualitätvolle Gestaltung der Innenräume. Der Standard an Hygiene war so hoch, dass man davon ausgehen kann, dass selbst einfache Leute im antiken Rom bessere Wohnbedingungen vorfanden als die Menschen in den großen Städten des 19. Jh.s.

Andreae 2012, 281f

VI.4.1.2./VI.7.3.4. Zweckbau

186 Pont du Gare zwischen Nimes und Avignon Brinke/Kränzle 2006, 52f

Wohlmayr 2011, 168

Kolb 1984, 194

442

Die antike Welt – Griechenland und Rom

3.3.2.3. Die Basilika IV.5.2.ff.

II.2.6.

IV.5.2.

Ein Blick auf die römische Basilika, die zum unmittelbaren Vorbild für den bevorzugten Kirchenbau des konstantinischen Christentums wurde, schließt den Überblick über die römische Architektur ab. Die Basilika diente in Rom als städtischer Zweckbau, als Markthalle, Gerichts- und Versammlungssaal, Kaufhalle, Börse oder Ausstellungshalle. Über die Ursprünge wird lebhaft diskutiert. Dass die Grundform weit in den Orient zurückreicht und sich namentlich in Ägypten findet, gilt als unbestritten. Der Weg nach Rom ist indessen weniger klar. Die Basilika dürfte im Zug der Hellenisierung Roms im 3. Jh. Eingang in die Städte gefunden haben. Sie setzte die Funktion der griechischen Stoa als Multifunktionshalle fort. Man kann sie als einen gedeckten Hof bzw. eine überdachte Prozessionsstraße mit verschiedenen Dachlösungen deuten. Axialen Schiffen gingen Umgangsschiffe voraus, die den Hallencharakter noch stärker zur Geltung brachten. Für Rom gelten als erste Daten der Bau der (noch nicht aufgefundenen) Basilica Porcia 184 und jener der Basilica Aemilia 179 sowie die Errichtung der ersten provinzialrömischen Basilika von Cosa (150). Die Basilica Aemilia wurde auf einem Vorgängerbau (Basilica Fulvia) errichtet und galt später als eines der luxuriösesten Bauwerke. Sie war unter anderem der Sitz der römischen Zentralbank. Die Basilika war demnach als ein eher spät entwickelter Baukörper an Orten öffentlichen Lebens Bestandteil der Foren. Die Basiliken wurden nach dem Muster der Basilica Aemilia als mehrschiffige Längsbauten entworfen, bei denen der Mittelraum über die durch Säulenreihen abgetrennten Seitenschiffe hinausragte. Das Licht kam durch Obergadenfenster in das Mittelschiff. Man betrat die Basilika durch eine Vorhalle. Ihre Achse ist auf die gegenüberliegende Längsseite und das dort isoliert untergebrachte Tribunal, das sich später zu einer halbrunden Exedra (Apsis) ausbuchtet, ausgerichtet. Dieser Typus war das Vorbild für die christlichen Basiliken. Die stark an das Hypostyl in Karnak erinnernde Basilika Ulpia des Trajansforums (107–113) gilt für viele Basiliken in den Provinzen als Vorbild. Mit ihr trat auch eine wesentliche Neuerung auf: die Einwölbung, die die großen Saalbauten der Kaiserzeit auszeichnete. Ein eindrückliches Beispiel dieser Neuerungen ist die unter Kon­ stantin vollendete Maxentiusbasilika (306p). Die Tonnen- und Kreuzgewölbetechnik ermöglichte eine maximale Öffnung der Mauern und einen riesigen Hallencharakter im Inneren. Dadurch trat die übliche Gliederung in Hauptraum und Seitenschiffe oder Umgänge zugunsten eines gewaltigen einheitlichen Raumprospekts zurück. Das reichlich einfallende Licht brachte die prunkvolle farbige Marmorverkleidung zum Leuchten als Rahmen der zur Verehrung aufgestellten riesigen Kaiserstatue. Die Maxentiusbasilika repräsentierte einen erheblich fortgeschrittenen Typus. Das frühe Christentum, das sich für die Basilika als Kultraum entschied, setzte demgegenüber auf den konventionellen Typus, auf den mit einfachem Holzdach eingedeckten Hof. Hinter der römischen Basilika stand kaum ein philosophisches Konzept, so wie dies im Frühmittelalter im Gefolge der neuplatonischen Lichtmetaphysik und Emanationslehre der Fall war. Hier scheint es um pragmatische Lösungen gegangen zu sein.

443

Rom

3.3.3. Skulptur und Malerei Ähnlich wie in der Architektur orientierten sich in Rom die bildenden Künste an den etruskischen und griechischen Vorbildern. Der Ahnherr der römischen Gens Fulvius, Marcus Fulvius Flaccus, transferierte als Konsul nach der Eroberung von Volsinii 264 nicht weniger als 2000 Bronzestandbilder nach Rom. Das wirft ein Licht auf den hohen Stand der etruskischen Kultur, aber auch auf die Tatsache, wie sehr Rom »für viele Jahrhunderte Teil der italisch-etruskischen Kunstkoiné« blieb. Der durch die Eroberungen und Raubzüge akquirierte neue Wohlstand ermöglichte im 3. Jh. den Aufbau von Künstlerwerkstätten und die Wahl vornehmerer Materialien. Vor allem alle Arten von Marmor kamen nun verbreitet zum Einsatz. Zuerst wurde er aufwendig aus Griechenland importiert, ab dem 2. Jh. begann man, die Steinbrüche von Carrara auszubeuten. Über den Zuzug griechischer Künstler nach den Eroberungen im Osten wurde bereits berichtet. Rom war begierig nach griechischer Kunst und verschaffte auch den Künstlern in Griechenland volle Auftragsbücher. In der Tat hatte die griechische Kunst ein langes Nachleben in Rom, »als Sammlerstück, Kuriosität für Gelehrte, Statussymbol, als Vergnügen für kultivierte Männer und Frauen einer imperialen Macht und als Touristenmagnet […].« Auch auf die Plünderungsaktionen wurde bereits hingewiesen. Es gab Raubgrabungen, die Beutestücke wurden in Rom verschachert. Um 44a gelangten auf diese Weise Unmengen an Vasen aus den Nekropolen von Korinth nach Rom. Die barockisierende Art der hellenistischen Bronze- und Marmor-Skulpturen ließ die altrömischen Terrakottafiguren altbacken und aus der Zeit gefallen erscheinen. Titus Livius kritisierte die verbreitete Usance, über die alten, künstlerisch unbeholfenen Götterbilder aus Ton zu spotten: »Denn schon allzu viele höre ich die Ausschmückung von Athen und Korinth preisen und bewundern und über die tönernen Giebelfiguren der römischen Götter lachen.« Er mahnte an, die Würde des Alten zu schätzen. Doch der neue Trend war nicht aufzuhalten: Im Jahr 158a wurden Berichten zufolge auf dem Forum Romanum unzählige Statuen »abgeräumt«, nicht etwa aus Platzmangel, sondern weil die neue hellenistische Stilform repräsentativer und feierlicher war als die alte Schlichtheit. Dies galt auch für den Skulpturenschmuck an den Tempeln, der üppig ausfiel und ein Spiegel des Wohlstandes und der zunehmenden Kulturkontakte war. Vitruv übte daran deutliche Kritik. Solche Zweifel an der Tugendhaftigkeit angesichts des exhibitionistisch zur Schau gestellten Reichtums gab es bereits in Athen, wo Solon dem einen Riegel vorschob. Die Themenpalette in der Bildhauerei war groß und umfasste profane wie religiöse Themen – und die römischen Künstler (bzw. die griechischen Künstler in Rom) arbeiteten mit allen möglichen Materialien. Weil die Nachfrage nach griechischen Skulpturen so groß war, begann die Kopistentätigkeit. Inwieweit diese als eigenständige Kunst gelten darf, ist eine heikle Frage. Viele Kunsthistorikerinnen sehen jedenfalls bei den römischen Kopisten einen eigenen Stilwillen. Größe und Konzeption wurden verändert, aber auch der Stil dem jeweiligen Zeitverständnis angepasst. »Ko-

Schollmeyer 2008, 59

Neer 2013, 380 3.1.3.

Livius, Ab urbe cond. 34,4,4

Wohlmayr 2011, 81 Vitruv 1981, 333ff 2.2.1. Bildhauerei

444

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Andreae 2012, 75

IV.2.0.

Relief

Kähler 1964a, 14

187 Porta Nigra in Trier (um 170p)

Andreae 2012, 188



188 / 189 E­ hrenbogen in Orange, Frankreich (um 10p?); Detail

pien sind demnach ebenfalls historisch einzuordnende Kunstwerke.« Bisweilen veränderte sich sogar der Sinn des Dargestellten. Aus der griechischen Göttin Aphrodite konnte eine römische Kaiserin werden. Was das Porträt anbelangt, scheint der Realismus bei den Etruskern nicht allzu weit entwickelt gewesen zu sein, während die Italiker den Kopf durchmodellierten. Das realistische Porträt erreichte den Höhepunkt in der spätrepublikanischen Zeit. Die späten Kaiserporträts ab dem 2. Jh.p relativierten diesen Realismus wieder. Es ging nicht so sehr um die Darstellung einer individuellen Person, sondern um die idealtypische Darstellung der Funktion. Dieser Idealtypus sollte zudem das psychologisch-geistige Wesen erfassen. Immerhin vermögen Kunsthistorikerinnen, stilistische Eigenarten der Porträts einzelner Herrscherhäuser festzustellen. Kaiserliche Büsten wurden als Repräsentationsbildnisse im ganzen Reich verbreitet. Das skulpturale Werk der Römer erreichte seine Krönung im Relief, das seine Anwendung in der Architektur und Sepukralkunst fand. Die Entwicklung zum Relief entsprang nicht zuletzt dem spezifischen Umgang mit den Statuen: Diese standen meist an Wänden und in Nischen. Wie die Fassade in der Architektur bildete sich auch bei der Plastik eine Schauseite heraus. Sie gewann im Späthellenismus zunehmend »Reliefcharakter«. In gewisser Weise entspricht das der Entwicklung beim Theater. Die Spieler, die in Griechenland noch in der kreisrunden Orchestra aufgetreten waren, spielten im hellenistischen Theater auf dem Proskenion. Sie wurden vor der Kulisse des Szenengebäudes gleichsam zum Relief. Die Anwendung des Reliefs gelang auf den seit dem 2. Jh. gestalteten Sarkophagen, vor allem an Tempelfronten und Triumphbögen, Mauern und Toren (Porta Nigra), sowie an anderen Trägern (Trajanssäule). Dabei sind die Triumphsäulen neben den Triumphbögen eine besonders eigenwillige Schöpfung der römischen Kunst. Bernard Andreae vergleicht die Säulen mit einer überdimensionierten Papyrus-Buchrolle, die »man verzeihe den Vergleich – wie ein riesiger Fliegenfänger aus dem zylindrischen Behälter gezogen ist und auch für Analphabeten durch seine Bildersprache lesbar und verständlich wird.« In der ebenfalls um diese Zeit verbreiteten Sarkophagkunst werden die Darstellungen in Formeln übersetzt. Vor allem mit den Kriegen gegen die Markomannen begann eine Serie von Schlachtensarkophagen, besonders eindrucksvoll solche aus dem 3. Jh. Es sind herausragende Exemplare erhalten wie der Große Ludovisische Schlachtensarkophag, der eine Gotenschlacht beschreibt. Auf die Funktion des Reliefs, das jeweilige Programm der gewünschten Kunstoption zu transportieren, wurde bereits im Zusammenhang mit Augustus hingewiesen. Die augusteische Bildkunst war mit ihrem Rückgriff auf Geschichte und Mythos auf Legitimation durch die Tugenden des alten Rom angelegt. Augustus

445

Rom

nützte die unter 3.2. erwähnte Eignung der römischen Religion für die Positionierung politischer Interessen und förderte die Kulte von Pax, Concordia und Salus (einen Mars-Tempel hat Augustus allerdings auf seinem Forum auch errichten lassen). Die politische Programmatik wurde unmittelbar mit der religiösen verknüpft und Kunst und Architektur waren Medien der Kommunikation. Augustus ließ zudem Statuen von sich und seiner Familie in großem Stil anfertigen und im gesamten Reich aufstellen. Die Porträts waren wenig naturalistisch, sondern folgten einer politischen Botschaft, die die Einheit des Staates und die von Augustus propagierte Ordnung umfasste. Die programmatische Ambition reichte bis zur Funktion der Ornamentik. »Die außerordentliche Qualität der Ornamentik sollte insgesamt zu einem Synonym für die erneuerte Kunst unter dem ersten Kaiser Roms werden.« Sind wir über das skulpturale Werk durch zahlreiche erhaltene Beispiele gut unterrichtet, ist der Bestand am empfindlichen und leicht zerstörbaren malerischen Werk eher lückenhaft. Allerdings gibt es aus einzelnen Fundsituationen eine reiche Ausbeute von hochkarätigen Meisterwerken. Die frühesten Maler Roms waren Etrusker oder Griechen, die ihre Werke nach griechischer Manier signierten. Malerei wie Bildhauerei emanzipierten sich aus ihrer Funktionalisierung auf die Architektur rasch. Schließlich gewann das gerahmte Bild in den Villen der gehobenen und kunstsinnigen Schicht einen festen Platz. Einer der ersten nachweisbaren römischen Maler war der Adelige Quintus Fabius (4. Jh.), der einen der Göttin Salus (personifiziertes Wohlergehen) während des Zweiten Samnitenkrieges geweihten Tempel freskierte und deswegen den Beinamen Pictor erhielt. Nach Auskunft des Dionysios von Halikarnassos folgte Quintus Fabius Pictor, der sich auch einen Namen als erster (in griechischer Sprache schreibender) Geschichtsschreiber gemacht hatte, einem klassischen und nicht dem zeitgenössischen impressionistisch-hellenistischen Stil. Wenn man vom schnellen Umschlagen von Lob zum Tadel über Quintus Fabius auf das Sozialprestige von Künstlern schließen wollte, kann dieses nur ambivalent gewesen sein. Anders als die lobende Erwähnung bei Dionysios häufen sich in den römischen Quellen aus den ersten Jahrzehnten der Kaiserzeit abfällige Kommentare. Diese Zeit bewertete die bildende Kunst als Handarbeit und ein Geschäft der Sklaven vorwiegend negativ. Die Zeit der Hochschätzung der Künstler wäre dann allenfalls die Republik gewesen, während später zwar Kunstwerke geschätzt, deren Hersteller jedoch einer niederen Tätigkeit bezichtigt wurden. Diese seltsame Inkongruenz mag ein wenig erklären, dass weder Künstler noch Architekten, wohl aber die Auftraggeber für die Resultate belobigt wurden. Das Aufkommen der Villenkultur bedeutet auch für die Malerei eine Zäsur, erschloss sich doch dadurch ein großes Aufgabengebiet. Auch hier gab es einen breit angelegten Transfer von Griechenland nach Rom. In den Pinakotheken der römischen Villen waren die mythologischen und historischen Motive des Orients verbreitet. Das ist nicht zuletzt ein wichtiger Schlüssel für die Bildung der Theologie des jungen Christentums, versammelten sich doch die ersten Christen in den Häusern wohlhabender Römer und hatten die kulturellen Erzählungen der orientalischen

Wohlmayr 2011, 193

Malerei

446

Die antike Welt – Griechenland und Rom

IV.3.3.

pompejanischer Stil

Mielsch 2001

190 Fresko aus der Villa Arianna; MAN

Welt vor sich. Aus der Sparte des Tafelbilds ist uns nur ein einziges (eher unbeholfenes) Kaiserbild erhalten geblieben, das in Temperamalerei den Kaiser Septimius Severus mit seiner Frau Julia und den Söhnen Caracalla und Geta (dessen Gesicht später einer damnatio memoriae zum Opfer fiel) zeigt. Anders verhält es sich mit der Wandmalerei, von der etliche Beispiele erhalten geblieben sind. Die Casa della Farnesina, ein Stadtpalais, das unter den Gärten der aus der Renaissance stammenden Villa Farnesina liegt, versammelt eine herausragende Freskenkunst mit reichen Stuckdekorationen aus dem 1. Jahrzehnt vor Christus. Die Bildnisse sind inspiriert vom friedlichen und glücklichen Landleben, deren uns seit Ägypten begleitenden Motive Vergil in seiner Georgica beschrieb – mit Seitenblick auf das Friedenszeitalter des Augustus. Besonders grandios sind die Fresken- und Mosaikwerke aus den Vesuvstädten, von denen ein großer Teil durch die für die zeitgenössischen Betroffenen schrecklichen Umstände im Jahr 79p nahezu unversehrt auf uns gekommen ist. Die reiche Ausbeute ermöglichte es dem Archäologen und Pompeji-Ausgräber August Mau, vier pompejanische Stile zu unterscheiden. Die Einteilung behielt bis heute ihre Gültigkeit und wird in groben Zügen für den gesamten hellenistischen Raum angewandt. Der Erste Pompejanische Stil, auch »Mauerwerkstil« genannt, vom 3. bis zum Ende des 2. Jh.s, war ein hellenistischer, damit »internationaler« Stil. Es vermischte sich Malerei mit Ritzungen und Stuck. Mauerwerk wurde mit illusionistischen Effekten wie Schattenfugen dargestellt. Es folgte ab etwa 100a ein malerischer, mit dem Illusionismus von Trompe-l’œil-Effekten arbeitender »Architekturstil« mit Scheinarchitektur und Landschaftsblicken. Dieser in Rom etwas früher als im Pompeji auftretende Zweite Pompejanische Stil, der besonders in den Villen wohlhabender Römer beliebt war, reichte bis in die augusteische Zeit. Herausragende Beispiele dieses Stils fanden sich in der Casa dei Misteri in Pompeji (in der Glanzzeit der Villa um 60a), im Haus des Augustus, in der Casa dei Grifi in Rom und in der Villa von Boscoreale. Er ist aber auch in nahezu allen Provinzen, von Spanien bis Ägypten und Kleinasien, nachweisbar. Es gibt Vermutungen, dass die Wegbereiter des Zweiten Pompejanischen Stils, darunter der Konsul, Historiker und philhellenische Dichter Quintus Lutatius Catulus mit seinem Wohnhaus auf dem Palatin, auf den bereits erwähnten griechischen Theatermaler des 5. Jh.s Agatharchos zurückgriffen. Im dritten Stil, auch »ornamentaler Stil«, bereicherten ab etwa 15a mythologische Themen (solche gibt es freilich in allen Stilen) die Theater- und Architekturlandschaften samt reicher Ornamentik. Dabei spielte auch die orphische und platonische Tradition eine gewisse Rolle, namentlich die eschatologischen Mythen. Dies lässt sich ebenfalls in der Casa dei Misteri, weiters in der Casa della Farnesina und in der 1973 entdeckten Villa der Poppaea in Oplontis nahe Pompeji nachvollziehen.

447

Rom

Der vierte Stil (»Phantasiestil«) schließlich brachte eine reiche, manchmal barockisierende Ornamentik. Man findet bei ihm sämtliche in den anderen Stilen verwandten Elemente, wie sie in der Domus Aurea zu reicher Diskussion Anlass geben. Die auftretende Illusion, die farbenfrohe Dekoration und die Übertreibungen wurden bereits bei den Zeitgenossen eifrig diskutiert. Vitruv, der im siebten Kapitel Kunst eher auf Mimesis einengte, beklagte einen »entarteten Geschmack« (iniquis moribus). »Denn man darf nicht Gemälde gutheißen, die nicht der Wirklichkeit ähnlich sind.« Solche Überlegungen sind zeitlos. Es gab sie in der Renaissance, der Gotik und beim Streit um das Ornament im 20. Jh. Auch wilde und widernatürlich deformierte Lebewesen und Ungeheuer kamen vor, wie sie unter anderem der Philosoph Empedokles für den Anfang der Welt beschrieben hatte, Beschreibungen, welche jene Römer, die solche Bebilderungen in Auftrag gaben, offenbar kannten und bewunderten. Die ästhetische Funktion des Ornaments bietet bis heute Stoff der Diskussion. Handelt es sich um ein reines Spiel der Formen oder steht eine Idee dahinter? Eine originelle Deutung dazu hat Gilles Sauron beigesteuert. Er lotet vorsichtig aus, ob es sich bei der Ornamentik um eine »traditionelle griechische Ikonografie« handelt, »in der man der Monstrosität breiten Raum einräumte.« Ornamentik wäre dann Zeichen des Chaotischen, das mit Furcht erregenden Gigantendarstellungen verglichen werden könnte. Der Dekor vermittelte »eine im Entstehen begriffene Welt nach den dichterischen Visionen eines Empedokles […] ganz nahe am Ursprungschaos […].« Sauron sieht diese einfache Gleichung im neuattischen Dekor allerdings so vordergründig nicht gegeben: »Die Ornamente vermitteln das Bild einer völlig dem Chaos preisgegebenen Welt; grundlegende Naturgesetze wie die Trennung von Tier- und Pflanzenreich, der Arten untereinander oder das Gesetz der Schwerkraft gelten hier nicht mehr.« Beides also, Monstrosität und Chaos – Sauron spricht von einer »Ästhetik des Chaos« – wären die Ideen, die hinter dem Dekor stünden. Das ist eine originelle Deutung einer ansonsten einfach als antiklassisch eingestuften Praxis: »Das Bauornament steigert den unklassischen Charakter der flavischen Architektur sehr effektvoll.« Sauron verfolgt sein Anliegen bis in die Deutung von Tischgestellen samt den darauf präsentierten Silberwaren. Mit Verweis auf einschlägige Stellen bei Plutarch und Clemens von Alexandrien, stand der Tisch auch für die Erdscheibe und die Silberwaren repräsentierten die aus der Erde entstandenen Gegenstände. Abseits von kosmologischen oder religiösen Kontexten traf dies auch ein politisches Interesse: »Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Bilderwelt des Weltenursprungs ein zentrales Thema der römischen politischen Propaganda der späten Republik berührte: die Vorstellung, dass mit dem Kontext der wiederkehrenden Bürgerkriege, die seit den Gracchen die Realität Roms prägten, ein neues Zeitalter für die Menschheit und selbst für die Welt anbräche.« In der Tat gab es in dieser Zeit bei Dichtern und Auguren einen ausgeprägten Diskurs über die Ankunft eines neuen Zeitalters, das gleichzeitig vom Chaos der Zeitläufte und Bürgerkriege bedroht erschien.

3.1.4.

Vitruv 1981, 337

Das Ornament

Sauron 2013, 256

Ebd., 265

Ebd., 256

Kraus 1967, 60

Sauron 2013, 265

448

Die antike Welt – Griechenland und Rom



191–194 Mosaiken aus den hellenistischen Villen in Paphos (2./3. Jh.p), Zypern

Ebd., 102

Mosaik-Kunst

Andreae 2003, 309

Pesando Fabrizio/­ Guidobaldi Maria Paola in Bussagli 2007, 53 II.1.2.2.1.2. 195 Szene aus dem ­Nilmosaik; MAP

2.6.4.

Andreae 2003, 126–159

Um 60a taucht erstmals ein neues Genre in der Münzkunst auf: Darstellungen römischer Bauwerke samt Inschrift. Als eine der ersten derartigen Motive wurde die Basilica Aemilia gezeigt. Gilles Sauron sieht in dieser von den griechischen Vorbildern abweichenden Formensprache ein Zeichen für den Anspruch der Stadt Rom (urbis) auf die Weltherrschaft (orbis) und für das Ende der Republik eine Formensprache, »die ausgehend von den Stilen und ikonografischen Traditionen Griechenlands auch die latinische Tradition miteinbezog.«

Eine der großartigsten Leistungen der römischen Kunst war die Mosaik-Kunst. Sie entwickelte sich seit dem 5. Jh. und erreichte in hellenistischer Zeit den Höhepunkt in Rom. »Die antiken Bildmosaiken umfassen eine Entwicklung von mehreren hundert Jahren in einem Raum, der von Alexandria in Ägypten bis nach Spanien reicht.« Die kunsthistorische Behandlung ist schwierig, weil in vielen Fällen unklar ist, ob es sich um Kopien griechischer Malereien oder um eigenständige musivische Kunst handelt. Dazu kommen komplexe Datierungs- und Deutungsfragen. Für uns ist die Kunstform interessant, weil hier der Grundstein für die überragenden Arbeiten in Byzanz gelegt wurde und weil hier besonders viele Einflüsse aus dem Alten Orient nachweisbar sind. Der Schritt führte von den Fußboden-Mosaiken zu den Wänden und Decken. Eine ganze Reihe von Mosaiken haben besondere Berühmtheit erlangt: das bereits erwähnte Alexandermosaik, das Nilmosaik von Palestrina, das vielleicht aus einer alexandrinischen Werkstatt stammt und dessen Datierung ungeklärt ist (die Vorschläge reichen vom 2. Jh.a bis zum 2. Jh.p), der ungefegte Raum von Sosos aus Pergamon, das Kentaurenmosaik aus der Villa Hadriana (2. Jh.p). Beliebt bei den Römern waren Fischmosaike, vor allem wenn sie in Baderäumen verlegt wurden und in nassem Zustand die ganze Farbenpracht entfalteten, sowie Vögelmosaike. Letztere bezogen sich auf die mythischen Geschichten rund um die Vögel. Auch hier waren es hellenistische Werkstätten, vermutlich mit dem Attalos-Erbe aus Pergamon nach Rom gekommen, welche die außergewöhnlichen Mosaike in den Villen (in der Casa del Fauno fand man sieben Bildmosaike,

449

Rom

darunter auch ein Fischmosaik) herstellten. Die größte Meisterschaft entwickelte die musivische Kunst in Byzanz. In den christlichen Basiliken wurde die Mosaikkunst auch mit kunstphilosophischen Funktionen aufgeladen. Bereits die Etrusker hatten in ihren Stadthäusern enkaustische Malereien von ihren Vorfahren aufgestellt. Der aus einem vornehmen Haus stammende Geschichtsschreiber Polybios, der im Zuge der Makedonienkriege als Geisel in das Haus des römischen Feldherrn und Philhellenen Lucius Aemilius Paullus gelangte, beschrieb diesen von den Etruskern übernommenen Bilderkult: »Wenn sie ihn dann begraben und ihm die letzte Ehre erwiesen haben, stellen sie das Bild des Verstorbenen [ten eikona] […] in einem hölzernen Schrein auf [xylinda naidia]. Das Bild [eikon] ist eine Maske [prosopon], die mit erstaunlicher Treue die Bildung des Gesichts und seine Züge (?) wiedergibt.« Die Bilder »der wegen ihrer Taten hochgepriesenen Männer« wurden vor der Rednertribüne, auf der man die Taten des eben Verstorbenen würdigte, aufgereiht, »als wären sie noch am Leben und beseelt […].« Ob bei den Leichenzügen auch Masken (nach dem Ausdruck prosopon) oder gar lebensgroße Puppen mitgetragen wurden, erscheint durch Augenzeugenberichte als wahrscheinlich. Die Beschreibung dieser Praktiken passt weitgehend auch auf die römischen Mumienporträts, mit denen formal die Ikone begann. Ab dem 1. Jh.p begann die Mumienporträtmalerei, von der uns Beispiele in blühender Frische überliefert sind. Es war Mode geworden, dass wohlhabende Römer sich in Ägypten mit der Kraft der dortigen Osiris-Magie bestatten ließen. Es handelt sich um eine bei Plinius erstmals erwähnte enkaustische Malerei, die bis ins 4. Jh. betrieben wurde. Sie hatte offenbar den Sinn, die Identität des Verstorbenen bei seiner Auferstehung zu sichern. Vom 2. bis ins 3. Jh. veränderte sich das römische Porträt. Wie bereits oben beim skulpturalen Werk erwähnt, kehrte es sich ab von der detailgetreuen Physiognomie: »Die Form beginnt zu transzendieren, indem die plastische Substanz einer inneren, nicht mehr organischen Bewegung unterworfen wird.« Möglicherweise war dieser Wechsel, der die »Transzendenz der Ikone vorbereitete«, mit dem Beginn der göttlichen Verehrung des Kaiserbildes kausal verbunden. Das Bild ersetzte die Statue in dem dem Kaiser geweihten Tempel. Es hatte die Würde seiner vollständigen Repräsentation.

IV.5.2.2. Mumienporträtmalerei

Polybios, zit. nach Sauron 2013, 103/104

IV.8.1.f.

Plinius, nat. hist. XXXV, 149

IV.2./IV.8.1.ff. Kähler 1964a, 187

3.4. Konzepte der Kunstphilosophie und Ästhetik Dass uns von den Römern keine Kunsttraktate und nur ein einziger Architekturtraktat überliefert sind und dass wir auch kaum Kenntnisse von solchen Traktaten haben, wurde bereits festgestellt. Auch in anderen Schriften gibt es nur spärliche Aussagen zu kunstphilosophischen oder ästhetischen Fragen. Was es hingegen gibt, sind einerseits literarische und amateurhafte Beschreibungen von Bau- und Kunstwerken und andererseits einige reizvolle Motive für eine nachhaltige künstlerische Umsetzung. Gaius Plinius der Ältere, der während einer Hilfeleistung beim Vesuvausbruch am 24. August 79 (nach neuesten Funden könnte der Ausbruch auch erst im Spätherbst gewesen sein) ums Leben kam, war ein bedeutender Kompilator, der mit seinen in weiten Reisen angelegten Sammlungen zu einer wichtigen Autorität bis ins

Gaius Plinius der Ältere

450

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Plinius nat. hist. XXXIV, 51f Pausanias

Terentius Varro

Vergil

Felsner 2010, 157 Brandt 2005, 84f

Kolb 1984, 178

Mittelalter wurde. Er verfasste das enzyklopädische Werk Naturalis Historia (Naturkunde), in der er auch Bauwerke der gesamten antiken Welt (ausgehend von den Pyramiden) sowie knapp 200 Gemälde und Statuen in Rom beschrieb. Sosehr wertvolle (wenn auch unzuverlässige) kunsthistorische Informationen über Kunstwerke und Künstler auf diese Weise überliefert wurden, eine tiefergehende kunstphilosophische Auseinandersetzung sucht man in den Referierungen des Plinius vergeblich. Besonders angetan schien er von täuschender Naturnachahmung und von spektakulären technischen Meisterleistungen wie der dünnsten Linie oder der feinsten Lasur gewesen zu sein. All das schätzte er vor allem in der griechischen Kunst der Klassik. Im Hellenismus sei die griechische Kunst schwach geworden, ehe sie in der 156. Olympiade, also etwa um 154a, wieder erblühte. Ähnlich wertvoll wie Plinius ist für die Kunstgeschichte Pausanias, den man den Periegeten nennt, den Beschreiber von Ländern. In seiner zehnbändigen Beschreibung Griechenlands (Hellados Periegesis) brachte dieser Reiseschriftsteller einem gebildeten philhellenischen Publikum in Rom nicht nur die Landschaften, sondern auch Gebäude, Architekturschmuck und Kunstwerke detailliert nahe. Viele Künstlernamen können wir durch seine Berichte zuordnen. Auch hier fehlt eine tiefere kunsttheoretische Auseinandersetzung. Terentius Varro verfasste einen Traktat zu den freien Künsten, darunter ein Buch über die Architektur. Der Text ist verloren und wir kennen ihn auch nicht näher aus anderen Referenzen. Eher um Motive ging es bei Vergil, einem der gefeierten Dichter der römischen Klassik. In den Bucolica, den Gesängen der Rinderhirten, beschrieb oder evozierte er Seelenlandschaften, geradezu virtuelle Welten neben den realen. Dies wurde zu einem nachhaltigen Impuls für die Kunst. »Mit Vergil steht so schon am Beginn der Arkadien-Ästhetik eine vollständig artifizielle Welt. Diese Künstlichkeit setzt sich in den späteren Hirteninszenierungen bis in die Schäferromane und Pastoralemalerei der Neuzeit fort.« Arkadien, so Reinhard Brandt, war stets die Heimat der Kunst. Nicolas Poussin habe in seinem berühmten Bild Et in Arcadia Ego den Künstler verherrlicht, der durch sein Werk den Tod überwindet. Das Fehlen expliziter ästhetischer Konzepte kann kaum überraschen. Einerseits mag es ein Spiegel der unübersehbaren Flut von Kunstwerken sein, die sich in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten vor allem im Osten in den öffentlichen Raum ergoß. Sie hatten »damals gewissermaßen die Funktion inne, die heute Posters zukommt.« Über ein solches, eher nur oberflächliche Konsuminteressen befriedigendes Massenmedium scheint es tatsächlich müßig, abseits von Lobeshymnen auf die technische Perfektion tiefschürfende kunstphilosophische Analysen anzustellen. Zudem folgten die Römer ja nicht nur in Kunst und Architektur den griechischen Vorgaben, sondern auch bei den philosophischen Konzepten. Besonders die Positionen der hellenistischen Philosophenschulen gingen praktisch nahtlos in die römische Sicht auf ästhetische Fragen ein – ein wenig nach dem Rosinenpicker-Motto des Marcus Fabius Quintilianus: »eligere ex omnibus optima« (von allem das Beste auswählen).

451

Rom

Am ehesten findet man Beiträge zu ästhetischen Fragen in den Lehren zur Rhetorik, die von den römischen Autoren in größerem Umfang traktiert wurden. Der Rhetorik verdanken wir auch die ersten Ekphraseis, literarische Beschreibungen von Werken der bildenden Kunst. Von Philostrat aus Lemnos, der in Rom als Rhetor auftrat und am kaiserlichen Hof des Septimius Severus verkehrte, stammen vermutlich neben zahlreichen anderen Schriften auch Bildbeschreibungen (Eikones). Es handelt sich um didaktisch und rhetorisch geschickt formulierte Erklärungen zu 65 Bildern einer Sammlung in einer neapolitanischen Villa. Die Ekphraseis sind begleitet von Erklärungen mythologischer Szenen. Das Werk, das seinen Erstdruck bei Aldus Manutius erfuhr, VI.2.0. hatte eine reiche Rezeption. Quintilian verfasste nach seinem Vorbild Cicero und auf dessen Spuren die wichtigsten Werke zur Rhetorik (Institutio oratoria) und die hellenistische Enkyklios Paideia, die Literaturform der Enzyklopädie. Dabei ging es ihm darum, die Rhethorik als eine Kunst (ars) zu legitimieren. Dies ergebe sich daraus, dass in der Rhetorik etwas »methodisch, das heißt in einer bestimmten Ordnung zustande zu bringen« ist. Zudem bestehe die Kunst der Rhetorik aus widerspruchsfreien und auf Nützlichkeit ausgerichteten Wahrnehmungen und habe theoretische und praktische Anteile und die gute Rednerkunst bestehe aus Inhalt und geschliffener Sprache. Die »allgemein verbreitete Bildung« blieb ein Ideal und legte schon früh den Gedanken eines Ensembles von Fächern vor, wie ihn später Martianus Capella aufnahm. Er wird im frühen lateinischen Mittelalter eine wichtige Rolle spielen. Kunst war für Quintilian lehrbar – unter Vespasian leitete er die erste Hochschule für Rhetorik. Gemeint war dabei der Erwerb der Regeln der praktischen Wissenschaft Rhetorik. An den guten Redner werden viele Anforderungen gestellt, ähnlich, aber nicht so weitgehend wie dies Vitruv für den Künstler und Architekten vorsah. Was dem ingenium des einzelnen Redners anheimgestellt blieb, war die dem jeweiligen Anlass einer Rede angemessene (iudicium) Anwendung der Regeln. Quintilian zählte eine ganze Reihe von Charakterisierungen einer Rede auf, die nach der Wiederentdeckung der antiken Literatur in der Renaissance (etwa von Cris­ toforo Landino) auch auf die bildende Kunst angewandt wurden.

Philostrat aus Lemnos

Quintilian

Quintilian, Inst. Or. II, 17, 41

Fuhrmann 1994, 93 V.2.1.

VI.6.3.

3.4.1. Cicero Marcus Tullius Cicero, der brillante Redner und Stilist, Staatsmann und Philosoph, wurde von Theodor Mommsen in dessen großer Römischen Geschichte als Cäsar-Gegner ziemlich schäbig behandelt. Aber Cicero war nicht nur Politiker. Es war jener Kopf, der am ambitioniertesten (griechische) philosophische Theorien nach Rom brachte, um deren genaue Kenntnis er sich durch mehrere Reisen an die Akademie (78) und zu den Stoikern nach Rhodos (78/77) sehr bemühte. Er scheute sich auch nicht mehr, dem Skeptizismus des Akademiehaupts Arkesilaos zu folgen, einer Bewegung, die zwei Generationen vorher in Rom noch verpönt war. Wichtig war Cicero allerdings weniger wegen seiner Sammlung von griechischen philosophischen Versatzstücken als vielmehr durch die Vorlage einer avancierten Lehre der Rhetorik. Die Bedeutung der Rhetorik lag in ihrer vornehmen Aufgabe für die res publica.

Rhetorik

452

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Cicero, Or. II, 8ff

Cicero, De orat. III, 195 Cicero, De nat. deor. II, 150

2.4.3.2.3.

Cicero, Tusc. I, 64

Das Ziel des perfekten, wissenschaftlich gebildeten Redners ist die eloquentia (Beredsamkeit, Gewandtheit). Mit dem in mehreren Werken über die Redekunst (De inventione, Orator, De Oratore) beschriebenen Instrumentarium des Redners legte Cicero ein Vermächtnis vor, das über viele Jahrhunderte in der Architektur adaptiert wurde. Immer wieder betonte Cicero, dass Ingenium und Übung allein zu wenig sei, sondern es wissenschaftliche Kenntnisse und entsprechende Unterweisung (eruditio) brauche. Die Figur des universell wissenschaftlich gebildeten Architekten wurde in der Tradition von Vitruv bis Alberti aufgegriffen. Im Schoße der Rhetorik beschrieb Cicero auch die Schönheit. Als Liebhaber der Klassik begründete er sie mit der alten ontologischen Harmonielehre. Die Schönheit von Tönen oder gestalteten Formen entspreche der Übereinstimmung ihrer Maßund Zahlenverhältnisse mit denen der menschlichen Seele. Cicero war aus diesem Geist heraus ein strikter Gegner eines jeden Manierismus und überzogenen illusionistischen Expressionismus (wie er für den Hellenismus typisch war). Letztlich fungierte für ihn das geistig Schöne – mit ausdrücklichem Verweis auf die Ideen Platons – deutlich über jeder sinnlichen Schönheit: »[…] jenes, das weder mit den Augen noch mit den Ohren noch mit irgendeinem Sinn aufgenommen werden kann, das wir vielmehr allein im Geiste erfassen […].« Aber er relativierte dieses konservative Prinzip durch Verweis auf die Sinnlichkeit. Das Schöne wirke durch sein Aussehen (sua specie commovet) und bezaubere die Augen (oculos movet et delectat). Solche Argumente gehören auf die Rezeptionsseite. Jeder Mensch hat einen verborgenen Sinn (sensus) für das Schöne und die Kunst. Dieser ermögliche eine Beurteilung unabhängig von einer besonderen Theorie oder von angelernten Kenntnissen. Auge, Ohr und Hände seien geschickt »zum Malen, zum Formen eines weichen, zum Behauen eines harten Materials« und sie eignen sich dazu, »den Saiteninstrumenten und den Flöten Töne zu entlocken«. Kunst hatte für Cicero als eine ars viel mit Regeln zu tun und nur teilweise kam die kreative und genialische Seite zu ihrem Recht, wobei er sich grundsätzlich um ein Gleichgewicht zwischen Regel und Inspiration bemühte, welche platonisch verstanden wurde. Der Platonismus diente hier als Antidot gegen einen verbreiteten Materialismus (wie etwa im Epikuräismus). Denn Inspiration und Eingebung führen zu objektiver Schönheit, weil der Künstler nach inneren Vorbildern schafft. Über allen Überlegungen blieb Harmonie und Proportion die unhinterfragbare Basis. Von dort her muss auch der Mimesisaspekt verstanden werden, wenn in der Rede literarische und moralische Vorbilder nachgeahmt werden. Philosophie wird derart sogar zur »Mutter aller Künste«, zumal vollendete Schönheit – wie gerade gehört – nicht durch die Sinne, sondern durch den (himmlischen) Geist erfasst wird. Cicero, der in seinen Reden stets als großer Moralist auftrat – mit Hang zur Selbstgefälligkeit –, wertete das moralisch Schöne als Angemessenheit und prägte dafür den Begriff decorum. Decorum (griech. prepon), was sich in der Ästhetik zu weiteren Bedeutungen wie aptum (passend), ordine (Anordnung) bis zum ornamentum (Schmuck) ausdehnte, hatte ursprünglich einen moralischen Akzent. Wie das Schöne

453

Rom

als »reizvolle Einheit« entspricht auch das Angemessene der »Ordnung (ordo), innere[n] Festigkeit (constantia) und Mäßigung (moderatio) in allen Worten und Taten.« Zum Schönen gehören das Nützliche und das Schmückende, also Würde oder Ernst (dignitas, gravitas) und die Anmut (venustas, suavitas). Die Schmuckelemente einer Rede, die für Emotionen und Affekte der Hörer verantwortlich zeichnen, unterliegen aber einer Ordnung (aptum). Sie steuern damit auch die Stillage einer Rede. Ein hoher Stil bewegt (movere), ein mittlerer erfreut (delectare), ein niederer belehrt (docere). Der gute Rhetor setzt diese Stile je nach der Angemessenheit (decorum) ein. Die Kunst des Überzeugens beruht demnach sowohl auf Verstand und Inhalt als auch auf Emotion, also sprachlicher Form. Eine sophistische Form der Rhetorik wird hier durch den Verweis auf inhaltlichen Ernst aufgerüstet. Der gute und weise Redner hat die Aufgabe, Moral und die Weisheit des Staates zu fördern. Diese Einteilung in drei Stillagen tauchte in der Geschichte öfters auf, etwa im Architekturtraktat Albertis, wo sie auf verschiedene Gebäudetypen angewandt wurde. Auch der Dreiklang, der bei Cicero ebenso wie bei Quintilian Rhetorik ausmachte, Inventio (Erfindung), dispositio (Gliederung des Stoffs) und elocutio (Stil), diente später der Beschreibung der Aufgaben der Architektur. Ausführlich fiel seine klassifikatorische Ambition aus, was den Kunstbegriff betraf: Es gibt freie – sie verlangen größere geistige (und nicht körperliche) Anstrengung und bringen größeren Nutzen – und dienende (sogar schmutzige) Künste. Wladyslaw Tatarkiewicz stellte über die positive Bestimmung der freien Künste eine Analogie zu den heutigen »schönen Künsten«, einschließlich der Architektur, her. Weiters gibt es notwendige Künste und solche, die nur der Annehmlichkeit dienen. Interessanter noch als diese scholastisch anmutende Klassifikation scheint die im Anschluss an die Stoa gewählte Priorität der Schönheit der Natur gegenüber jener des vom Künstler Geschaffenen. Zweifellos liegt in diesen verstreuten Äußerungen ein prächtiges Stück Aufklärung und zeitgenössische Moderne. Vor allem in der Hinwendung auf einen »künstlerischen Sinn« (statt der angeborenen Idee des Schönen) mag man mit erheblichem Optimismus einen ersten Ansatz für die »neuzeitliche Theorie vom ›künstlerischen Sinn‹ und vom ›Schönheitsempfinden‹« erkennen. Allerdings bleiben die Äußerungen insgesamt aus vielen, auch sich widersprechenden Quellen geschöpft, wenngleich Cicero versuchte, sie zu einem einigermaßen plausiblen Erklärungsmuster von Kunst und dem Schönen zu versammeln. Es reicht jedenfalls aus, in Cicero einen undogmatischen, aufgeschlossenen, eklektizistischen Kommentator und Schriftsteller zu sehen, der sich mit Kunst auseinandersetzt, sie vielfältig schematisiert und positiv zu ihr steht.

3.4.2. Horaz und Ovid Die Dichtung des 65a in Apulien geborenen Horaz bildete in augusteischer Zeit einen der Höhepunkte der klassischen Latinität. Von ihm ist der erste vollständige literaturtheoretische Text der Antike (die Poetik des Aristoteles ist nur in Teilen erhalten) auf uns gekommen. Die in Hexametern und für ein größeres interessiertes

Cicero, De off. I, 98

VI.7.3.2.2.

Cicero, De orat. II, 79

Tatarkiewicz 1979, 240

Ebd., 244

454

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Töchterle Karlheinz in Sexl 2004, 45

Kemmann Ansgar in ÄKPh, 405

Flashar 2013, 180

Horaz, poet. 247

Flashar 2013, 179

Publikum, also »in der Art urbaner Konversation« abgefassten Briefe unter dem Titel Ars poetica haben eine über die Dichtung hinausgehende Relevanz für die Ästhetik. Die pragmatische Form einer Briefliteratur findet ihre Entsprechung in einer eher auf die Kunstpraxis als die Theorie ausgerichteten Beschäftigung mit den einschlägigen Fragen: »[…] die Briefe sind, bei aller Gedankenfülle, eher Demonstrationen dessen, worauf es nach H. in jeder Kunst letztlich ankommt: ein permanentes Ausbalancieren widerstreitender Gesichtspunkte, die Realisierung einer angemessenen Mitte zwischen den Extremen.« Dazu passt, dass eines der wichtigsten aus seinem Werk herauslösbaren Prinzipien der Ästhetik (entfaltet vorzüglich an der Dichtung) die Angemessenheit (decorum) ist. Man könnte diese geradezu als kulturelles Paradigma des sich auf die Tugenden des alten Rom besinnenden Programms des Augustus identifizieren. Sie spielte auch im Architekturtraktat des Vitruv eine wichtige Rolle. Zudem drückt sie das Regelwerk aus, welches das ingenium zügelt. »Es ist eine Regelpoetik mit zahlreichen Geboten und Verboten.« Dies sichert das Gleichgewicht zwischen Nachahmung und Erfindung. Zwar legte Horaz Wert auf das ingenium des Dichters, aber eine allzu freizügige Ausdeutung wird stets abgefangen durch das Regelsystem. Dies war für Horaz das griechische Vorbild: »Nehmt ihr euch zu Mustern die Griechen; nehmt sie zu jeder Zeit zur Hand, bei Tag und Nacht.« Die Ars poetica war derart auch eine Transferleistung klassischer, hellenischer Dichtungstheorie in die römische Welt. Mit dem griechischen Vorbild steht nach Horaz jede zeitgenössische Dichtung automatisch in Konkurrenz. In diese Ambivalenz von Regel und Kreativität gehört für Horaz auch, dass der Dichter erfreuen (delectare) und nützlich sein (prodesse) soll, eine Formel, die er aus einem verlorenen Werk des Peripatetikers Neoptolemos von Parion übernommen haben dürfte.

3.4.3. Vitruv

Kruft 1985, 20

Jones 2009, 33–47

Der unter dem Gentilnamen Vitruv (nur dieser ist gesichert) bekannte Marcus Vitruvius Pollio ist vermutlich der wirkgeschichtlich bedeutendste Architekturtheoretiker. »Ohne Kenntnis Vitruvs ist die gesamte architekturtheoretische Diskussion der Neuzeit – zumindest bis ins 19. Jh. – nicht verständlich.« Über sein Leben ist kaum etwas bekannt. Er scheint in Kampanien geboren worden zu sein und aus bescheidenen Verhältnissen zu stammen, genoss aber eine gute Bildung. Vitruv erlebte den Bürgerkrieg und war im Heer Cäsars mit dem Bau von Kriegsmaschinen beschäftigt. Eine Zeit lang betrieb er dies auch noch unter Augustus, arbeitete dann an Wasserbauprojekten in Rom. Den Ruhestand, der Vitruv aufgrund großzügiger Pensionszahlungen durch Augustus ein freies Leben ermöglichte, nützte er in den Jahren zwischen 33 und 22 für das Verfassen seiner Zehn Bücher über die Architektur (De architectura libri decem), die er dem Kaiser widmete. Der Traktat, der nicht frei von Widersprüchen und Irrtümern ist, dürfte in der Antike keine besondere Rolle gespielt haben, denn es ist uns weder sein Name noch

455

Rom

sein Todesjahr überliefert. Vielleicht war er den Zeitgenossen zu konservativ. »He was a conservative for whom the best architecture was found in the past […] Clearly he disliked modern ideas […].« Allerdings gab es einige Rezeptionen in der Spätantike, etwa bei Marcus Cetius Faventinus und bei Palladius Rutilius. Im Mittelalter war die komplexe, mit vielen griechischen Fachausdrücken durchsetzte Schrift durch den eingetretenen Verlust dieser Bezeichnungen praktisch unverständlich. Erst in der Renaissance, in der die Schrift wiederentdeckt wurde, konnte Vitruv durch begleitende literarische und archäologische Studien zur Antike lebhaft rezipiert werden. Man versuchte die Unklarheiten kreativ zu lösen. Es gab eine Menge von Übersetzungen und Kommentierungen. Manche davon bebilderte man mit Hilfe der neuen Drucktechnik des Holzschnitts. Vermutlich war die Schrift bereits ursprünglich mit Bildern versehen, aber entsprechende Quellen sind verloren. Die Hilflosigkeit, eine adäquate Fachterminologie zu entwickeln, führte in der Rezeption des frühen 20. Jh.s zur Vorstellung eines ungebildeten und mit den griechischen Vorlagen überforderten Autors. Auch wenn sich die Konfusion in seinem Werk nicht beschönigen lässt, ist der Respekt vor Vitruv, der in einer umfangreichen Schrift ein Bild der Architektur mit wissenschaftlichem Anspruch entwickelte, inzwischen sehr gewachsen. Vitruv beginnt seinen Traktat mit einer kulturphilosophischen Erörterung des Anhebens jeder Architektur. Als sich die Menschen rund um das Feuer versammelten und sesshaft wurden, bauten sie ihre ersten (Laub)Hütten, Nester und Höhlen, die sie ständig verbesserten. Dieser originelle Einstieg legte unter anderem die Grundlage für das von Vitruv inaugurierte und später breit diskutierte Paradigma der sogenannten Urhütte. Vitruv behandelte in seinem Werk eine große Palette von Fragen: Städtebau, Werkstoffkunde, Sakral- und Monumentalbauten, Privatgebäude, Innen und Außenverputze, Dekoration, Wandmalerei, Wasserversorgung. Es ging auch um astronomische und astrologische Fragen. Zudem gehörte zur Baukunst (aedificatio) auch Uhrenherstellung (gnomonice) und Maschinenbau (machinatio). Bei der Uhrenherstellung ging es um die Sonnenuhren, die als unmittelbarer Verweis zur kosmischen Ordnung verstanden wurden. Zudem gehörte zur Architektur neben dem Entwerfen auch Bauleitung und Ingenieurleistungen. Der Architekt musste aus seiner Sicht technische (fabrica) und theoretische (ratiocinatio) Fähigkeiten – und zwar in dieser Reihenfolge – haben. Vitruv ging zwar nicht so weit wie Pytheos, aber auch er verlangte vom Architekten umfangreiche wissenschaftliche Kenntnisse (disciplinae) in Geometrie, Perspektive, Entwerfen, Optik, Arithmetik, Geschichte, Musik, Medizin (um gesund zu bauen), Baurecht und Astronomie. Nur so kann Architektur zu einer wahren Wissenschaft (scientia) werden und nur der Architekt, der sich diesem Bildungsgang unterwirft, erreicht die höchste Stufe der Architektur (summum templum). In der Renaissance, die zwar ebenfalls den Künstler zum Wissenschaftler machte, gab es neben Bewunderung auch ironische Bemerkungen zu solchen Anforderungen, etwa von Alberti. Vitruv legt gleich im ersten Buch seines Traktats die drei Anforderungen an eine gute Architektur vor, die bis heute Gültigkeit besitzen: Festigkeit (firmitas), Be-

MacDonald 1986, 248

VI.6.4.2.

Vitruv 1981, 79ff

2.4.2.

Borsi 1981, 318 Vitruv 1981, 31 VI.7.3.2.2.

456

Die antike Welt – Griechenland und Rom

Ebd., 45

Biermann 1997, 33

Kruft 1985, 26

von Engelberg 2004, 244 VI.7.3.4.

Vitruv 1981, 27

quemlichkeit (utilitas) und Schönheit (venustas). Gute Architektur basiert auf der Festigkeit der Konstruktion und der Qualität des Materials, sie muss eine gute Benützbarkeit und Funktionalität bieten und in einer künstlerisch anspruchsvollen Form realisiert sein. Mehr ist dazu bis heute nicht zu sagen. Sehr viel aber ist zu sagen zum differenzierten Verständnis dieser Anforderungen. Der letztgenannte Aspekt, die Ästhetik des Bauens, wird von Vitruv nochmals in sechs Aspekte aufgeschlüsselt. Sie ist von den griechischen Harmonievorstellungen bestimmt. Das beschreibende Fachvokabular mischt lateinische und griechische Ausdrücke. Die ordinatio (griech. taxis) ist die nach einer Maßeinheit (modulus) durchgeführte Proportioniertheit des Gesamtbaus. Die dispositio (griech. diathesis) meint den Entwurf des Baus und dessen Umsetzung im Hinblick auf den umgebenden Kontext. Es brauche dazu Nachdenken (cogitatio) und Kreativität (inventio). Die eurythmia hat eine rezeptionsästhetische Komponente. Sie meint den anmutigen Eindruck, den ein wohlproportioniertes Gebäude auslöst. Die symmetria als Einklang aller Teile für das Ganze schafft genau diesen Eindruck der Eurythmie. Insofern könnte man die symmetria »als das Ergebnis einer guten ordinatio interpretieren.« Oder noch einmal anders, wenn auch mit ähnlicher Intention: »Die Begriffe ordinatio, eurythmia und symmetria sind verschiedene Aspekte des gleichen ästhetischen Phänomens, wobei man ordinatio als das Prinzip, symmetria als das Ergebnis und eurythmia als die Wirkung bezeichnen könnte.« Als fünftes und sechstes Prinzip der Ästhetik zählt Vitruv decor (griech. prepon) und distributio (griech. oikonomia) auf. Decor meint ein »fehlerfreies Aussehen eines Bauwerks«, wie Vitruv sagt. Gemeint ist die Angemessenheit der dekorativen Elemente. Darüber hinaus soll jeder Teil des Bauwerks zur gewünschten Sprache (oder zur Symbolik) des Bauwerks beitragen. In dieser Frage, die analog mit den rhetorischen Lehren behandelt wird, äußerte sich eine Konservativität im Sinne der Rückbesinnung auf klassische Formen. Vitruv verherrlichte die Tempel der Griechen und lehnte die barockisierenden Dekorationen der hellenistischen Welt sowohl in Architektur wie in der Kunst ab. Diese Forderung der Angemessenheit hat Palladio später verstärkt und sie bei seinen Bauten zu realisieren versucht. Zur Angemessenheit gehört auch der Aspekt der Stillage. Vitruv schreibt den Säulen im Kontext ihrer Herkunftslegenden und ihrer formalen Charaktere Eigenschaften zu und bestimmt sie jeweils für die passenden Aufgaben. Mars und Herkules werden die dorische, Diana und Bacchus die ionische, der Venus und den Quellnymphen die korinthische Säule mit ihrer Zartheit und Verspieltheit zugedacht. Solche für Intuition und Geschmack offene Überlegungen führt die oikonomia weiter. Da geht es um soziale und kultische Rahmenbedingungen und um das Umgehen mit topographischen Gegebenheiten. Das Bauwerk spiegelt in seiner Gestalt den Bauherrn (dominus) wider: »Und im ganzen müssen die Einrichtungen der Gebäude immer den Bewohnern angemessen ausgeführt werden.« Vitruvs Vorstellungen der Symmetrie und Harmonie lassen viel Spielraum. Kritiker sehen darin Redundanzen und Widersprüche. Mark Wilson Jones versucht das

457

Rom

aufzulösen, indem er die sechs Prinzipien so interpretiert, dass die ordinatio zur symmetria, die dispositio zur eurythmia und die distributio zum decor führt. Die strengen mathematischen Proportionen können nach Vitruv verändert werden, wenn die Betrachterperspektive das erfordert, also um der venustas willen. Das wiederum könnte man als Forderung der eurythmia gegenüber einer strengen symmetria deuten. Nach einer solchen Deutung würde die eurythmia ähnlich wie das decorum auf einen Rezeptions- und Wirkungsanteil abheben. Vitruv gründete die Prinzipien tatsächlich auf objektive Zahlenverhältnisse und gleichzeitig auf die menschlichen Proportionen. Hatte bereits Polyklet den Körper des Menschen vermessen und aus den idealen Symmetrien desselben Schönheit begründet, so löste Vitruv den Körper geometrisch auf. Im dritten Buch seines Traktats – ausgerechnet jenem über die Tempel – führte er den Beweis über die vollendete Harmonie des menschlichen Körpers, den man mit ausgestreckten Armen und Beinen einem Kreis bzw. Quadrat einschreiben könne. Man nannte das die »vitruvianische Figur«. Die Idee, den menschlichen Körper in den kosmischen Kreis einzuschreiben, ist revolutionär und wurde in der Renaissance begierig aufgenommen. Ein großer Teil der Architektur, vor allem auch deren sakraler Teil, schloss an der idealen Proportion des Menschen an. Francesco di Giorgio arbeitete in dieser Weise. Am berühmtesten wurden die Zeichnungen Leonardo da Vincis. Dieser von einigen weiteren Renaissancekünstlern bearbeitete homo ad quadratum spiegelte in der Renaissance das Anliegen des Humanismus wider. Die Sache gründet eine Dialektik, einerseits die menschliche Proportion (antihumanistisch) als Teil des geordneten und göttlichen Kosmos zu betrachten, andererseits die menschliche Proportion (humanistisch) zum Vorbild selbst für den Kirchenbau zu nehmen. Die gesamte Lehre von den Proportionen leitet Vitruv von den menschlichen Verhältnissen ab: »Wenn man sich also darüber einig ist, daß die Zahlenordnung von den Gliedern des Menschen hergeleitet ist […].« Eine Unterscheidung in männliche und weibliche Größenverhältnisse dehnte er auch auf die Säulenordnung aus. Die dorische Ordnung passt zum Männlichen, die ionische zum Weiblichen. In die Säulenordnung spielt auch die Naturmimesis hinein. Die sich verjüngenden Säulen werden mit Bäumen verglichen, auch dies eine Gleichsetzung, die noch in der Neuzeit öfters angestellt wird. Eine weitergehende Säulenordnung gibt es bei ihm nicht. Eine solche wurde später, vor allem von Alberti, in die Vitruvrezeption gebracht.

3.4.4. Pseudo-Longinos Mit Pseudo-Longinos bezeichnet man einen unbekannten Autor, der aufgrund von stilistischen Eigenheiten seines Werks dem 1. Jh.p zugerechnet wird. Er hinterließ eine außerordentlich wirkmächtige dichtungstheoretische Schrift mit dem Titel Peri hypsous (eigentl. Über den Höhepunkt, auch: Vom Erhabenen). Dieses Werk wurde deshalb so bedeutend, weil es die Grundlage für eine ästhetische Konzeption legte, die auch in Architektur und bildender Kunst eine große Rolle spielte, nämlich das Konzept des Erhabenen. Der unbekannte, jedenfalls sehr gebildete Autor wurde vor

Jones 2009, 40f Vitruv 1981, 271

Biermann 1997, 34

Vitruv 1981, 139

VI.7.0.f.

Wittkower 1949, 20f

Vitruv 1981, 143

458

Die antike Welt – Griechenland und Rom

VII.4.2.1.

Longinus 1988, 5

Ebd., 7

Ebd., 17

Schönberger Otto in Longinus 1988, 138

VII.5.2.4./VII.6.3.3.

allem durch eine Übersetzung Nicolas Boileaus 1674 nachhaltig bekannt, während eine Rezeption im Altertum nicht nachweisbar ist. Beim Erhabenen geht es um eine besondere Wirkung jenseits reiner Schönheit, vordringlich in der Rhetorik. »Ich [muß] wohl nicht erst weitläufig ausführen, daß die erhabenen Stellen Vollendung und Gipfel sprachlicher Gestaltung sind […].« Das Erhabene meint den Höhepunkt und Gipfel einer Rede, die den Zuhörer durch Pathos und Enthusiasmus in Ekstase und bacchantischen Taumel versetzt: »[…] während das Erhabene [hypsos], wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart.« Auch eine sanftere, anagogische Komponente schrieb Longinos dem Erhabenen zu: »Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene [hypsous] von Natur aus emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt […].« Mehrere Quellen gibt es dem Autor zufolge für die Erzeugung des Erhabenen: Aus der Veranlagung des Dichters speist sich das Erhabene durch die Kraft und das Vermögen, ein großes Pathos zu erzeugen. Der Redner will damit den Zuhörer nicht etwa überzeugen, sondern ihn überwältigen. Weitere Ursachen für das Erhabene liegen weniger in einer Anlage, sondern sind erlernbar. Dazu gehören der Einsatz von rhetorischen Figuren, die Auswahl von Worten und sprachlichen Wendungen und die Formulierungskunst. Es paaren sich die alten Anteile, das ingenium und die techne. Das, was hier als erlernbar angesehen wird, sind die traditionellen Bestimmungsfiguren aus der Rhetorik (ornatus). »Er vertritt keine reine Inspirationstheorie, sondern betont, daß zur künstlerischen Vollendung Anlage und Talent ebenso nötig sind wie Studium, Methode und Technik.« Der Autor schließt seinen systematischen Überlegungen noch solche zur Vereinbarkeit von Kunst und politischer Ordnung an und kommt zu einer ambivalenten Bewertung der demokratischen Gesellschaftsform. Einerseits sei bedeutende Kunst ein guter Nährboden für freiheitliche Ordnungen, andererseits führten solche Ordnungen zu einem Genusskult und zur Verehrung des Modischen. In der späteren Rezeption des Erhabenen, etwa bei Edmund Burke, tritt das das Schreckenerregende in den Vordergrund und gibt eine Grundlage für die ausführliche Besprechung des Erhabenen bei Kant ab.