Nacktheit: Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich 9783412330897, 3412174017, 9783412174019


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Nacktheit: Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich
 9783412330897, 3412174017, 9783412174019

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Literatur - Kultur - Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte In Verbindung mit Jost Hermand, Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe und Lutz Winckler herausgegeben von Inge Stephan und Sigrid Weigel Kleine Reihe Band 17

NACKTHEIT Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich

Herausgegeben von Kerstin Gernig

§

2002

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin. Für technische Unterstützung danken wir Ann-Sophie Briem und Henning Hube.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nacktheit: ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich / hrsg. von Kerstin Gernig. - Köln; Weimar; Wien: Böhlau, 2002 (Literatur - Kultur - Geschlecht: Kleine Reihe; Bd. 17) ISBN 3-412-17401-7 © 2002 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: Weibliches Brustbild, Gemälde von Bartolomeo da Venezia, tätig 1502-1546 in Ferrara (Städel, Frankfurt a. M.) Satz: Henning Hube, Berlin Druck und Bindung: Krips b.v., N L - Meppel Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in the Netherlands ISBN 3-412-17401-7

Inhalt

I. Einleitung Kerstin Gernig: Bloß nackt oder nackt und bloß? Zur Inszenierung der Entblößung

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II. Nacktheit als Diskurs und Performance Oliver König: Von geil bis gemütlich. Vergesellschaftete Nacktheit

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Hans Richard Brittnacher: Über Pornographie und Obszönität. Oder: Vom Altern der Begriffe

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III. Nacktkultur um 1900 Kerstin Gernig: Postadamitische Rache am Sündenfall? Nacktheit in Kultur- und Sittengeschichten der Jahrhundertwende

67

Maren Möhring: Ideale Nacktheit. Inszenierungen in der deutschen Nacktkultur 1893-1925

91

Andreas Schwab: Ohne Hintergedanken? Ambivalente Stilisierungen der Nacktheit auf dem Monte Verità

111

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Inhalt

IV. Andere Länder, andere Sitten Klaus-Peter Köpping: Heiligung durch Entgrenzung des tabuisierten Körpers. Der rituelle Exzeß in Theorien über Tradition und Moderne

131

Britta Duelke: Nakedfella oder Varianten der Nacktheit

167

Hyunseon Lee: Zweierlei Haut. Globalisierung und Nacktheit in Korea

185

Wolfgang Herbert: Tatauierungen als Ver-Kleidungen. Nackte und bunte Haut

205

V. Die Sprache der Enthüllung(en) Gabriele Brandstetter: Divested Interests Ökonomie der Entblößung in Arthur Schnitzlers "Fräulein Else" und Marina Abramovic' "Freeing the Body"

241

Hanno Ehrlicher: Ästhetik der Entblößung Rolf Dieter Brinkmanns literarische Nacktheitsinszenierungen zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie

273

VI. Nackt im Auge der Betrachter(in) Andrea Reichel: Wie nackt sind die Akte? Von himmlischen Hüllen und göttlichen Dessous

301

Jaqueline Bernd: Un/sichtbare Nacktheit. Zur kulturellen und ästhetischen Spezifik japanischer Comics

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VII. Auswahlbibliographie

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VIII. Autorenverzeichnis

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IX. Abbildungsnachweis

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I. Einleitung Bloß nackt oder nackt und bloß? Zur Inszenierung der Entblößung Kerstin Gernig

Sie trug lange Handschuhe, die bis zum Ellbogen hochreichten. Um einen davon auszuziehen, faßte sie ihn ganz oben am Rand und schob ihn rasch herunter, indem sie ihn wie eine Schlangenhaut, die man abstreift, aufrollte. Der Arm kam blaß, fleischig und rund zum Vorschein; so rasch entkleidet, erweckte er den Eindruck vollkommener und gewagter Nacktheit.1 Nacktheit ist nicht einfach der Zustand des Unbekleidetseins, sondern jeweils kontextualisierte Nacktheit. Bereits die umgangssprachliche Äußerung, 'daß Nacktheit das Natürlichste von der Welt sei', entspricht weniger einer Feststellung, als vielmehr einer implizit programmatischen Äußerung, wie sie von Anhängern des Nudismus hätte formuliert worden sein können. Der Unterscheidung einer schamlosen und schamhaften Bekleidung entsprechend ließe sich auch zwischen einer schamlosen und einer schamhaften Nacktheit unterscheiden. 2 Doch geht es in dem vorliegenden Band weniger um die Frage nach dem Verhältnis von Nacktheit und Scham, als viel1 2

Maupassant, Guy de: Stark wie der Tod. Übers, von Caroline Vollmann. Zürich 2001, S. 19. Vgl. König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990, S. 30.

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Kerstin Gernig

mehr um mediale Inszenierungen in verschiedenen Kontexten und Kulturen sowie deren jeweilige Bedeutungen. Hinsichtlich der Kontexte steht Nacktheit im Spannungsfeld erstens von öffentlicher und privater Sphäre, zweitens von christlichen Wertungen zwischen natürlicher Reinheit und selbstverschuldeter Sündhaftigkeit, drittens von gesellschaftlichen Wertungen, die von Primitivismus bis Dekadenz reichen, viertens von ästhetischen Darstellungen zwischen Idealisierung und Fetischisierung sowie fünftens von sexualpsychologischen Motiven zwischen Macht und Begehren, um nur einige Beispiele zu nennen, die in den verschiedenen Beiträgen unterschiedlich stark akzentuiert werden. Daß Nacktheit nicht einfach nur den Zustand des Entkleidetseins bedeutet, sondern geistesgeschichtlich höchst unterschiedlich bewertet worden ist, verdeutlicht die Geschichte der Sittenkodexe und Tabubrüche, die sich sowohl explizit als auch implizit in Kleiderordnungen, Diskursen, Gesetzen u.v.a.m. widerspiegeln, ebenso wie die Gegenüberstellung der griechischen Nobilitierung des nackten Körpers im Sport ("mens sana in corpore sano") und der christlichen Symbolik, die Nacktheit mit Erbsünde und Scham assoziiert. Wobei zu allen Zeiten unterschiedliche Körpereinstellungen nebeneinander bestanden. Das Phänomen der Nacktheit wurde kulturhistorisch in verschiedensten semantischen Oppositionspaaren diskutiert, um die es im folgenden gehen wird. Je nach Kontext wurde Nacktheit mit Schwäche oder Stärke, mit Schmerz oder Lust, mit philosophischen Idealen oder mit christlicher Moral in Verbindung gebracht. Dualismen wie Körper / Geist, Kultur / Natur, Zivilisation / Primitivismus bestimmen dabei die Darstellungen und Debatten als heuristische Konstruktionsmuster, die historisch, kulturell und ideologisch unterschiedlich konnotiert werden. Doch läßt sich das Verhältnis von Nacktheit und Kleidung nicht in eine einfache Analogie zu einem dieser Dualismen setzen, denn der Umgang mit und die Inszenierung von Nacktheit bewegt sich immer in diesem dialektischen Spannungsfeld. Deshalb geht es zunächst um die Frage, wodurch sich inszenierte Nacktheit als Blöße von der Inszenierung eines Aktes unterscheidet.

Bloß nackt oder nackt und bloß?

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Nackt oder Akt? Synonyme für das deutsche Wort 'nackt' lauten unbekleidet oder bloß.3 Im Englischen wird zwischen "naked" und "nude" unterschieden: The transformation from the naked to the nude is thus the shift from the actual to the ideal - the move from a perception of unformed, corporeal matter to the recognition of unity and constraint, the regulated economy of art. It is this process of transfiguration that renders the nude the perfect subject for the work of art.4

Diese Unterscheidung zwischen physischer und künstlerischer Nacktheit ist mit weiteren binären Oppositionspaaren verbunden wie Kultur und Natur, Vernunft und Leidenschaft, Subjekt und Objekt. Kenneth Clark unterscheidet die Begriffe folgendermaßen voneinander: "Nakedness is a mark of material reality; whereas nudity transcends that historical and social existence, and is a kind of cultural disguise."5 Ebenso macht auch John Berger in den 70er Jahren eine Unterscheidung zwischen Nacktsein, das konnotieren würde, man selbst zu sein, und Nacktheit in Form der öffentlichen Ausstellung eines Aktes. Er schreibt dazu: Ausgestelltsein bedeutet, die Oberfläche der eigenen Haut, die Haare des eigenen Körpers zu einer Verkleidung werden zu lassen, die - in dieser Situation - nicht mehr abgelegt werden kann. Der Akt ist dazu verdammt, niemals nackt zu sein; der Akt ist eine Form der Bekleidung. 6

Wenn der Akt auch als Form der Bekleidung betrachtet werden kann, gilt es, die Attribute zu entschlüsseln, die Nacktheit überhaupt erst in einen Akt verwandeln und die Attribute zu erkennen, deren 3 4 5 6

Vgl. Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh 1996, S. 1122. Vgl. zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung in den Lexika König, Oliver, S. 63-73. Saunders, Gill, S. 14. Clark, Kenneth: The Nude. A Study of Ideal Art London 1956, S. 16. (Deu.: Das Nackte in der Kunst. Köln 1958.) Berger, John / u.a.: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Dt. von Axel Schenck. Reinbeck bei Hamburg 2000, S. 51. (Originalausgabe: Ways of Seeing, 1972)

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Fehlen wiederum von Nacktheit sprechen läßt, da die Provokation des Aktes gerade in der Grenzüberschreitung von Privatsphäre und Öffentlichkeit gesehen worden ist, wobei die Sphären nicht allein räumlich, sondern vor allem symbolisch voneinander getrennt werden. Diese Symbolik wird durch entsprechende Attribute zum Ausdruck gebracht. Bewegen sich Nacktheits-Inszenierungen auch immer an der Grenze von Privatsphäre und Öffentlichkeit, verschiebt sich diese doch zugleich historisch durch die medialen Vermittlungen selbst. Intimstes wird medial inszeniert und in der Öffentlichkeit gezeigt. Diese Inszenierungen rekurrieren dabei auf eine lange Tradition an Aktdarstellungen und Tabubrüchen, so daß die Posen im Rahmen unserer visuellen Archive zum Teil Zitatcharakter bekommen und damit auch eine veränderte Form des Blicks provozieren. Es stellt sich deshalb weiterhin die Frage, ob mit der Erfindung der Bildmedien Photographie, Film, Fernsehen und Video der letzte Hauch allegorischer Verklärung der Nacktheitsinszenierungen verschwunden ist, so daß neue Legitimationsstrategien bei der öffentlichen Ausstellung von Nacktheit notwendig geworden sind. Im Anschluß an John Berger läßt sich die These aufstellen, daß bei der Inszenierung nackter Körper Nacktheit nicht mit Blöße gleichzusetzen ist, sondern vielmehr als Inszenierung der Wirkung von Entblößung zu lesen ist. Nacktheit wird durch die Inszenierung somit zu einer Art Gewand, das auch zur Konstruktion von Differenzen in bezug auf race, class und gender beiträgt.7 Die Nacktheit des zur Schau gestellten bzw. der Imagination anheim gegebenen Körpers hat dabei ebenso an dem Entwurf von Geschlechterordnungen Teil wie an der kulturell je unterschiedlichen Grammatik und Ethik des Blicks.

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Vgl. Bovenschen, Silvia: Kleidung. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel 1997, S. 231-242, hier S. 232f.

Bloß nackt oder nackt und bloß?

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Nacktheit - anthropologische Konstante oder genderspezifische Kategorie? Der für die christlich-abendländische Tradition zentrale biblische Mythos des Sündenfalls formuliert die Unterscheidung von Nacktheit als vorreflexivem Zustand und Nacktheit als erster Erkenntnis, denn als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, wurden sie sich als erstes ihrer Nacktheit bewußt. Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. [...] Und Gott der Herr rief Adam und sprach zum ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.8 Der Preis für die hinzugewonnene Klugheit war die Bewußtwerdung der eigenen Nacktheit und die damit verbundene Scham. Oder anders formuliert: Die erste Erkenntnis war das Bewußtsein der eigenen Nacktheit, das nicht folgenlos blieb. Denn dieser Zugewinn an Wissen veränderte das Verhalten Adams und Evas: sie flochten sich Feigenblätter und machten sich Schurze. Damit wurde die Nacktheit verhüllt, d.h. sie bedeckten mit den Schurzen zunächst vor allem ihre Geschlechtsteile. Adam und Eva schämen sich nach der Bewußtwerdung ihrer Nacktheit voreinander und vor Gott. Durch die Einführung des Feigenblattes wird diese Scham zugleich auf den Betrachter übertragen. 9 Somit beginnt das Spiel zwischen Verborgenem und Enthülltem, wobei die Aufmerksamkeit gerade auf das gelenkt wird, wovon sie abgelenkt werden soll. Der Reiz des Verborgenen war

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Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1969, Mose 3, 6-11. Vgl. zum Sündenfallmotiv: Bammes, Gottfried: Akt, S. 65, 72, 116. Bereits auf frühchrsitlichen Sarkophagen des 3.-4. Jahrhunderts n. Chr. Finden sich Darstellungen von Adam und Eva mit einem Feigenblatt. Vgl. Wünsche, Raimund: Das Feigen(n)blatt. Von pflanzlicher Schamverhüllung. In: Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern, Nr. 3/2000, S. 36. Vgl. Bammes, S. 72: Adam und Eva.

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damit in der Welt, der sich später zum Reiz des Verbotenen entwickeln sollte. Obgleich Nacktheit keine geschlechtsspezifische Kategorie ist, wird männliche und weibliche Nacktheit historisch unterschiedlich konnotiert. Es gibt eine Kulturgeschichte weiblicher Nacktheit, die nicht von patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen zu trennen ist. So schreibt Lynda Nead in der Einleitung zu ihrem Buch The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality that the female nude is not simply one subject among a whole range of subjects that artists have chosen to depict within the history of art; rather, it should be recognized as a particularly significant motif within western art and aesthetics.10 Die biblische Unterordnung der Frau unter den Mann kehrt in der Hierarchie von männlichem Betrachter und weiblichem Akt wieder. Während Adam und Eva gleichermaßen nackt voreinander standen, kristallisiert sich in der Ikonographie die Beziehung von einem angezogenen männlichen Betrachter und einem weiblichen Akt heraus, wodurch ein hierarchisches Gefalle geschaffen wird, das sich in der christlich abendländischen Tradition als eine postadamitische Rache am Sündenfall lesen ließe, insofern die im Paradies mit der Bewußtwerdung verbundene Scham demonstrativ zurückgenommen wird. Die Rache besteht nun darin, daß die Frau nicht einfach nackt ist, sondern nackt dem fremden Blick eines angezogenen Betrachters preisgegeben wird. Eva hat sich von der Schlange verfuhren lassen und ihrerseits Adam verfuhrt. Einmal aus dem Paradies vertrieben, zeigt sich Adam abgesehen von religiösen Darstellungen - Jesuskind, Kreuzigung, Heilige etc. - oder mythologischen Darstellungen - Ganymed, Neptun etc. - bis Ende des 19. Jahrhundert auf Gemälden und Photographien kaum noch nackt, während aber Eva ihres Feigenblattes beraubt wird. Somit kristallisiert sich in der christlichen Ikonographie der mit Leiden verbundene und in der mythologischen Ikonographie der mit Stärke assoziierte männliche Akt heraus. Wohingegen der weibliche Akt als ästhetisch-erotische Darstellung kein wirkliches Äquivalent in der Kunstgeschichte hat. Auch die

10 Nead, Lynda: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality. London, New York 1992. (Routledge) S. 2.

Bloß nackt oder nackt und bloß?

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Kunst hat dazu beigetragen, Geschlechtsrollenbilder zu entwerfen und Stereotypen zu tradieren. Da der Akt in der künstlerischen Darstellung besonders präsent ist, sollen am Beispiel der Kunstgeschichte einige genderspezifische Aspekte exemplarisch angeschnitten werden, um eine Folie für die interdisziplinär je unterschiedliche Thematisierung der Nacktheit zu entwerfen.

Nacktheit in der Kunst In der Kunstgeschichte lassen sich verschiedene Strömungen der Aktdarstellungen unterscheiden: anatomische Studien, Idealisierungen in der klassischen Antike und der durch sie begründeten Tradition, erotische und obszöne Darstellungen bis hin zur Ästhetik des Häßlichen und der Ästhetik der Homoerotik. Dem Brauch der Antike, den Mann vollständig nackt darzustellen, geht die Tradition voraus, Wettläufe ohne behindernden Lendenschurz auszutragen. Die griechische Plastik verkörpert somit nicht nackte Männlichkeit schlechthin, sondern den gestählten, kampffähigen Körper des Kriegers. In der Folge wurden Götter in der Gestalt von Athleten dargestellt und ein Athlet war wiederum würdig, einem Apoll zu huldigen. Bereits um 220 v.Chr. kennzeichnet die Skulpturen ein anatomischer Naturalismus, der auch die Genitalzone mit Akribie gestaltet. Dieser Naturalismus wird auf die antike Heilkunst und die sich entwickelnde Anatomie zurückgeführt." Erst nachdem der männliche Körper in voller Nacktheit bereits abgebildet worden war, entstanden auch nackte Frauengestalten. Mittelalterliche Theologen unterschieden vier verschiedene Formen der Nacktheit: die nuditas naturalis als natürlichen Zustand des nackt geborenen Menschen, wobei der Zustand der Unschuld durch Adam und Eva vor dem Sündenfall repräsentiert wird; die nuditas temporalis, d.h. die bewußte Entledigung weltlicher Güter, die durch Heilige repräsentiert wird, die sich öffentlich entkleiden, um ostentativ der Welt zu entsagen; die nuditas virtualis, die symbolisch-allegorische Darstellung von Unschuld, Reinheit und Wahrheit durch 11 Bammes, Gottfried: Akt. Das Menschenbild in Kunst und Anatomie. Stuttgart, Zürich 1992, S. 11 u. 56.

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eine nackte Frau und schließlich die nuditas criminalis, d.h. die symbolische Darstellung der sinnlichen Begierde, Eitelkeit und Sünde.12 Daß vom 12. bis zum 16. Jahrhundert Aktdarstellungen in Europa überwiegend auf Darstellungen des Jüngsten Gerichts bzw. auf Höllendarstellungen zu finden sind, verdeutlicht, daß Nacktheit moralisch konnotiert und als Zeichen fleischlicher Sünde in Strafrituale eingebettet wurde. Erst die Akte der Renaissance kehren zu den klassischen Idealen der griechischen Antike zurück. Allerdings entsprach die griechische Nacktheit nicht nur einem philosophischen, sondern auch einem damit verbundenen geometrisch-mathematischen Ideal, das in Proportionslehren von Audran u.a. festgehalten worden ist. Auch der nackte perfekte Körper der Renaissance symbolisierte ideale Konzepte wie Wahrheit (Sandro Botticelli) oder auch platonische bzw. göttliche Liebe (Vecellio Tiziano). Doch bleibt die Bedeutung des nackten Körpers auch in der Kunst ambivalent. Während Nacktheit in der klassischen Philosophie nicht mit dem Konzept der Sünde oder auch Erbschuld assoziiert ist, wird der weibliche Körper in der christlichen Tradition sowohl mit sexueller Verfuhrung bei Motiven wie "Susanne im Bade" oder "Bathsheba" als auch daran anschließend mit Sünde, Schuld und Scham konnotiert. Zu einem der folgenreichsten und langlebigsten genderspezifischen Stereotype zählte die Gegenüberstellung von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität. Diese Polarisierung der Geschlechter wird besonders deutlich auf Albrecht Dürers berühmter Darstellung "Der Zeichner des liegenden Weibes" aus dem Jahr 1538. Der Zeichner ist aktiv, indem er das weibliche, passiv daliegende Objekt dank seiner kreativen Intelligenz und motorischen Fertigkeiten in den Blick nimmt, vermißt und zeichnet. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß der Maler bei den meisten Aktdarstellungen aber ausgeblendet bleibt und der Körper der Frau dem Betrachter dargeboten wird: "The female nude is an object of desire, a focus of male sexuality."13

12 Vgl. Saunders, Gill: The Nude. A new perspective. London 1989, S. 9. 13 Saunders, Gill, S. 23.

Bloß nackt oder nackt und bloß?

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Der männliche Künstler konstruiert zu seinem eigenen Gefallen die perfekte Frau: "passive, receptive, available", wie Saunders schreibt. Während Männer handeln, 'erscheinen' Frauen. Die aktive Rolle der Verführerin hat Eva damit zu büßen, daß sie in der Folge zur Passivität verdammt wird. Dieser Passivität entspricht das Motiv der ruhenden, liegenden oder auch schlafenden Frau. Die liegende Pose suggeriert sinnliche Hingabe und sexuelle Erfüllung ebenso wie unbewußte Unschuld und schlummernde Begierden. 14 Was bleibt, ist das Spiel der Blicke zwischen Betrachter respektive Betrachterin und Betrachteter. Doch wo die Frau selbstbewußt aus dem Bild schaut, liegt auch schon Provokation in der Luft. Eines der berühmtesten Beispiele dafür ist Edouard Manets "Olympia". Es war nicht primär ihre Nacktheit, die Unmut provozierte, als vielmehr ihr selbstbewußter Blick, mit dem sie den Betrachter ansah. Encountering her bold and challenging stare he (der männliche Betrachter, KG) cannot project the guilt that in a Christian culture is the inevitable concomitant of sexual desire, onto her. Olympia does not collude with the male viewer by lowering her gaze in the modest, submissive way expected of women, especially naked women.15 Männliche Kritiker haben "Olympia" gerade diesen 'scham-losen' Blick vorgeworfen. Der selbstbewußte, fixierende, schamlose Blick galt jedoch als männliches Vorrecht. Mit der künstlerischen Darstellung weiblicher Nacktheit sind nicht nur ästhetische Normen etabliert worden, sondern auch eine spezifische Blickkultur: "The female nude not only proposes particular definitions of the female body, but also sets in place specific norms of viewing and viewers." 16 So werden auch anhand des voyeuristischen Blickes Geschlechterordnungen entworfen, widerrufen oder festgeschrieben. Claudia Öhlschläger schreibt über die "unsägliche Lust des Schauens": "Männliche Schaulust gründet auf der Voraussetzung einer asymmetrischen Geschlechterbeziehung ('starkes' versus 'schwaches' Geschlecht), sie impliziert die gewaltsame Kolonisierung des weiblichen Körpers. Oder sie ist Ausdruck eines

14 Vgl. Ingres "Odaliske", Tizians "Venus" in: Bammes, Gottfried: Akt, S. 108, 188 15 Saunders, Gill, S. 25. 16 Ebd.

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hinterhältigen Spiels mit den Empfindungen anderer."17 Doch neben der gewaltsamen Kolonisierung des voyeuristischen Blicks finden sich ebenso der heimliche, der zugewandte, der bewundernde, der begehrende oder auch der ästhetisch betrachtende Blick.18 Der männliche Akt wird dagegen als aktiv und dynamisch dargestellt. Das Modell wird entweder bei der Arbeit, im Kampf, gestikulierend oder in irgend einer Weise seine Muskeln zur Schau stellend gezeigt. Es geht beim männlichen Körper nach Saunders weniger um die Erscheinung des Körpers wie beim weiblichen Akt, als vielmehr um die Art, wie sein Körper funktioniert: The male body, while not constructed as the site of sexual pleasure, is often symbolic of phallic power. The whole body, muscular, potent, active, may come to represent the phallic power. Where softness, curves, smoothness are celebrated in a women's body, strength and muscular development are the requisites of the male. Like its female counterpart, the male nude is evidence of the way patriarchy has imposed, and continues to reinforce through a proliferation of visual imagery, a series of opposites to define sexuality: masculine versus feminine, active versus passive, sexual drive versus sexual receptiveness. 19

Eine Ausnahme von dieser dichotomischen Gegenüberstellung des tendenziell männlich mächtigen und des weiblich verwundbaren Körpers stellen allerdings die Christusfigur, der Heilige Sebastian oder auch Märtyrerfiguren dar. Das zentrale Bild der christlichen Religion ist der leidende, Erniedrigung, Bestrafung und Tod auf sich nehmende Christus.

17 Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg im Breisgau 1996, S. 18. 18 Gerade im Kulturvergleich wird deutlich, daß es auch eine kulturell unterschiedlich sozialisierte Geschichte des Blicks gibt. So schreibt Keyserling in seinem Reisetagebuch beispielsweise: "Der Japaner ist von Natur sittsam. Es wird ihm nie einfallen, ein ganz oder halb entblößtes Weib durch zudringliche Blicke zu belästigen, und wenn der Europäer seinem Beispiel folgt, bewegt sie sich vor seinen Augen ebenso natürlich und ungezwungen, wie vor ihren eigenen Landsleuten." Keyserling, Hermann Graf: Das Reisetagebuch eines Philosophen. München, Wien 1980, S. 273. 19 Saunders, Gill, S. 26.

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But images of the passive male nude resist the obvious associations: the crucified Christ connotes self-sacrifice, physical fortitude and heroism, not vulnerability and weakness. Though his nakedness symbolizes his adopted humanity, his divinity is reaffirmed by the ultimate invulnerability of the body rising from the dead, marked but whole.20 In der christlichen Kunst finden sich nackte Körper bei der Darstellung des Sündenfalls, der Vertreibung aus dem Paradies, dem Jüngsten Gericht, der Läuterung, in der Hölle und bei der Kreuzigung. Tod und Verdammung leiteten sich unmittelbar von der Sünde des Fleisches her. Doch auch die Darstellung des männlichen Körpers ist dabei nicht frei von erotischen Komponenten, beispielsweise bei Darstellungen des Heiligen Sebastian, die sich zwischen Schmerz und Ekstase bewegen. Anhand der Kunstgeschichte läßt sich, wie die wenigen Beispiele belegen, paradigmatisch zeigen, daß Nacktheit als Teil der conditio humana historisch, kulturell und genderspezifisch unterschiedlichste Semiotisierungen erfahren hat.21 Während sich die künstlerischen Nacktheits-Inszenierungen zwischen Leiden und Lust, Stärke und Schwäche, Mythologie und Religion, Idealisierung und Moralisierung bewegen, regeln Kleiderordnungen wiederum, was gesellschaftlich als nackt gilt und in der Öffentlichkeit gezeigt werden darf.

Nacktheit und Moral In den verschiedenen Gesellschaften spiegeln Kleiderordnungen, wie viel Haut und Haar von Kopf bis Fuß gezeigt werden darf. Korsett und Vatermörder, Dekollete und Minirock, Reizwäsche und Schleier spiegeln ein vestimentär codiertes je verschiedenes Verhältnis zur Nacktheit. Dabei kann Kleidung den Körper bekanntermaßen nicht nur verhüllen, sondern seine Silhouette auch besonders betonen. Somit spielt die Kleidermode für den Betrachter in unterschiedlichen Graden auf die darunter liegende Nacktheit an. So schreibt auch Ri20 Saunders, Gill, S. 27. 21 Vgl. zu weiblichen Aktdarstellungen Maiwald, Salean A.: Von Frauen enthüllt. Aktdarstellungen durch Künstlerinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 1999.

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chard Ungewitter über die Wirkung der weiblichen Kleidung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Trotz der bis unters Kinn reichenden Kleidung erscheint der Körper des weiblichen Geschlechtes 'nackter1, und zwar erotisch-nackter als ohne jede Kleidung. Während im letzteren Falle der ganze Körper sich gleichmäßig dem Auge darbietet, sieht man durch die Gewänder hindurch keine ganzen Körper mehr, sondern nur noch einzelne, ganz bestimmt ausgesuchte, geschickt zur Schau gestellte Teile: Hüften und Brüste, Hinterteile und Schenkelpartien. Und gerade diese den suchenden Männeraugen so prächtig auffindbar gemachten runden Formen sind die ausgesuchtest geschlechtlich reizenden, während die weniger erregenden Teile, ohne die eine harmonische Gesamtwirkung des Körpers doch nie denkbar ist, durchaus nicht zur Geltung kommen.22 Kleidung und Nacktheit sind zentrale Themen um 1900. Der Mediziner Carl Heinrich Stratz verfaßt ein Werk mit dem Titel Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung im Kontext der Diskussion der Reformkleidung. Das Werk beginnt mit einem Kapitel über Nacktheit. Schon die ersten Paragraphen verdeutlichen, daß die Thematisierung der Nacktheit angesichts eines überproportional ausgeprägten Schamempfindens eine Ventilfunktion hatte: Wie der wohlerzogene moderne Europäer sich vor dem Gerippe furchtet, das er beständig mit sich herumträgt, so schämt er sich des Körpers, der nackt in seinen Kleidern steckt. Es gilt als selbstverständlich, daß beide Geschlechter im öffentlichen Leben nur Kopf, Hals und Hände nackt tragen, daß innerhalb des Hauses, bei festlichen Gelegenheiten die Frau auch die Arme, die Schultern und einen Teil der Brüste nackt zeigt; alles andere aber bleibt verborgen, und wer mehr von seinem Körper sehen lässt, gilt als unanständig und schamlos. Dieselben wohlerzogenen Menschen aber, die ihren eigenen nackten Körper unanständig finden, bewundern - mit wenigen, besonders prüden Ausnahmen - den nackten Körper in der Kunst. Und schliesslich schämt auch der wohlerzogenste

22 Ungewitter, Richard: Nacktheit und Kultur. Neue Forderungen. Stuttgart / Köln 1979 (1913), S. 52f. Vgl. zur Bedeutung weiblicher Kleidung zwischen 1830 und 1914: Corbin, Alain: Kulissen: In: Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt/Main 1992 (Paris 1987), S. 419-629, insbes. S. 455.

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Mensch sich nicht seines nackten Körpers, wenn er allein ist. Schon aus diesen wenigen Tatsachen kann man schliessen, daß unser sogenanntes Schamgefühl mit der Nacktheit an und für sich gar nichts zu schaffen hat.23 Doch die Bedeutung der Nacktheit ist nicht von den jeweiligen situativen Kontexten zu trennen, in denen sie erscheint wie Hermann Graf Keyserling beim Vergleich von Ballsaal und Badehaus anschaulich vorführt: Unsere Frauen ziehen sich zum Ball beinahe nackend aus, mit der offenkundigen Absicht, zu reizen, würden aber vergehen vor Scham, wenn ein Fremder sie im Bade überraschte. Die Japanerin zeigt sich ohne Scham aller Welt entkleidet im Bad, gewänne es aber niemals über sich, sich zum Feste herausfordernd anzuziehen: auf die Absicht komme doch alles an [...].24 In historischer Perspektive wurde Nacktheit in Europa meist zum Stein des Anstoßes, wenn sie Intimität konnotierte, die sich öffentlich, also außerhalb der Privat- oder auch Intimsphäre zeigte, wobei allerdings auch Intimität kulturhistorisch je unterschiedlich erfahren wurde. So wurde die öffentliche Zurschaustellung von Intimität vor allem von der Kirche als sittengefahrdend und damit als sittenwidrig eingestuft. 1541 erhob sich die Kritik seitens der Kirche, als das von nackten Figuren wimmelnde "Jüngste Gericht" von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle enthüllt wurde. Clemens der III wollte die Fresken sogar abschlagen lassen. 25 Letztendlich genügte es aber, die Geschlechtsteile zu übermalen, so wie auch Christusfiguren mit Lendentüchern ausgestattet und Venusfiguren mit Kostümen versehen wurden. Wie stark sich das Konzept der Intimität im Zuge der Säkularisation gewandelt hat, ließe sich an der Geschichte des Films hervorragend vor Augen fuhren. Allein ein Vergleich zweier Filmsequenzen

23

Stratz, Carl Heinrich: Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung. Stuttgart (1900) 5 1922, S. 3. 24 Keyserling, Hermann Graf: Das Reisetagebuch, S. 574. 25 Vgl. zu den Schamübermalungen: De Vecchi, Pierluigi: Michelangelo. Köln 1991, S. 123.

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aus Viscontis Verfilmung des Leoparden von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der 1959 postum erschienen ist, historisch aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt und Stanley Kubricks Verfilmung der Traumnovelle von Arthur Schnitzler im Jahr 1999 mit Eyes Wide Shut mögen den Wandel der Inszenierung des Schamverhaltens im folgenden exemplarisch verdeutlichen.

Nacktheitsinszenierungen im Wandel Bad- und Badeszenen waren beliebte Motive zur Motivierung der Nacktheit nicht nur in der Aktmalerei, sondern auch in der Literatur und im Film.26 Das folgende Beispiel aus dem Leoparden von Lampedusa verdeutlicht die Rolle der Kirche für die Moralvorstellungen im 19. Jahrhundert und die aus ihnen resultierenden Folgen für den gesellschaftlichen Umgang mit der Nacktheit, insbesondere in Bezug auf das Schamverhalten, das sich in Gesten der Peinlichkeit wie gesenkten Blicken, Erröten u.ä.m. äußert bzw. auch expliziten Gesten, die die Scham zu verdecken suchen. Don Fabrizio nimmt ein Bad und wird währenddessen vom Pater Pirrone aufgesucht: Don Fabrizio war von der Eile Pater Pirrones beunruhigt; ein wenig darum und ein wenig aus Ehrfurcht vor dem priesterlichen Gewand beeilte er sich, aus dem Bad zu steigen: er rechnete damit, daß er das Badetuch umnehmen könne, bevor der Jesuit einträte. Aber das gelang ihm nicht - und Pater Pirrone trat gerade in dem Augenblick ein, da er, von dem seifigen Wasser nicht mehr verhüllt, von dem provisorischen Schweißtuch noch nicht umkleidet, sich völlig nackend aufrichtet wie der Farnesische Herkules, und dazu noch dampfend, während ihm vom Halse, von den Armen, vom Leib, von den Schenkeln das Wasser in Strömen herabfloß [...]. Das Panorama des Riesenfürsten im adamitischen Zustand war für Pater Pirrone unerhört, vom Sakrament der Buße auf die Nacktheit der Seelen vorbereitet, war er es weit weniger auf die der Körper; und er, der nicht mit der Wimper gezuckt hätte beim Anhören der Beichte, nehmen wir an, eines blutschänderischen Liebeshandels, wurde beim Anblick dieser unschuldigen Titanen-Nacktheit verwirrt. Er 26 Vgl. zum Motiv des Bades in der Malerei bei Edgar Degas u.a.: Corbin, Alain, S. 452.

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stammelte eine Entschuldigung und machte Miene, sich zurückzuziehen; aber Don Fabrizio, verärgert, daß er sich nicht beizeiten hatte bedecken können, wandte natürlicherweise seine Mißstimmung gegen ihn: 'Pater, seid nicht töricht! Gebt mir lieber das Badetuch und helft mir - wenn es Euch nicht mißfällt - , mich abzutrocknen.' Sogleich danach kam ihm ein kleiner Streit, den er einmal mit ihm gehabt, wieder in den Sinn. 'Und hört auf mich, Pater: nehmt auch Ihr ein Bad.' Befriedigt darüber, daß er jemanden, der ihm so viele moralische Ermahnungen zukommen ließ, eine hygienische hatte geben könne, wurde er wieder ruhig. Mit dem oberen Rand des Tuches, das er endlich erhalten hatte, trocknete er sich Haar und Hals, während ihm der gedemütigte Pater Pirrone mit dem unteren Rand die Füße abrieb.

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Während der Pater durch die Nacktheit des gleichen Geschlechts zur Zeit der Romanhandlung im 19. Jahrhundert noch zu irritieren ist, wie auch in der gleichnamigen historisierenden Verfilmung durch Visconti im Jahr 1962, schockiert die medial vermittelte Intimität der Eingangsszene aus Eyes Wide Shut höchstens noch den Zuschauer, nicht jedoch die Protagonisten selbst. Alice sitzt bereits für den bevorstehenden Ball geschminkt und im Abendkleid auf der Toilette, während ihr Gatte Bill im Spiegel sein Aussehen überprüft. Auf ihre Frage, ob ihre Frisur in Ordnung sei, antwortet er: "Sieht toll aus." Worauf hin Alice vom Klo aufsteht und verärgert sagt: "Du hast ja nicht mal hingesehen."28 Der Filmtitel Eyes Wide Shut entfaltet bereits in dieser Eingangsszene sein gesamtes Bedeutungsspektrum. Die Augen 'weit geschlossen', wirft Bill den narzißtischen Blick in den Spiegel. Doch eine derartige Szene, die im 19. Jahrhundert höchstens ein Voyeur zu sehen bekommen hätte, zieht in Zeiten einer inflationären Überflutung mit Nacktheitsdarstellungen kaum noch einen verstohlenen Blick auf sich. Daß Bill nicht hinschaut, während seine Frau auf der Toilette sitzt, könnte aber auch als Versuch gewertet werden, eine letzte Form der Intimssphäre zu wahren. Wie auch immer die Szene gedeutet wird, verdeutlicht sie, daß die mit der Nacktheit verbundenen Konnotationen nicht von der jeweili-

27 Giuseppe Tornasi di Lampedusa. Der Leopard. Übertragen von Charlotte Birnbaum. München O.A., S. 70f. 28 Kubrick, Stanley / Raphael, Frederic: Eyes Wide Shut. Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Frankfurt / Main 1999, S. 100.

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gen Blickökonomie zu trennen sind. Nacktheit ist dementsprechend auch nicht als anthropologische Konstante, sondern jeweils als Teil einer symbolischen Ordnung interessant.

Nacktheit - Jahrhundertwende 2000 Der Tabubruch ist salonfähig geworden, und das Thema 'Nacktheit' steht in gewisser Weise auf der Tagesordnung, wofür es allein in Berlin zahlreiche Beispiele im Jahr 2000 gab. Im Dezember dekorierte Claudia Schiffers Nacktheit, die nur mit Spitzenunterwäsche bekleidet war, Plakatwände, Litfaßsäulen und Bushaltestellen in ganz Berlin. Die überdimensionalen weiblichen Aktporträts von Helmut Newton waren bis zum 7. Januar 2001 in der Nationalgalerie zu sehen und lockten scharenweise die Besucher an, um durch Stöckelschuhe in Façon gebrachte Brüste, Hüften und Schenkel zu betrachten.29 Während die "demi monde" im 19. Jahrhundert ein Faszinosum darstellte, konnten im Vorweihnachtsgeschäft desselben Jahres Bücher mit Titeln wie Eroticon, Verbotene Aktbilder u.ä.m. in der Griffhöhe von Kinderhänden auf Ansichtstischen in den Buchhandlungen durchgeblättert werden. Fernsehsendungen wie Liebe Sünde liefen unszensiert im Abendprogramm und beim Zappen durch die Kanäle konnte man um Mitternacht auch auf den einen oder anderen "Pornofilm" stoßen. Richard Kämmerlings schrieb in der FAZ vom 6. November 2000 unter dem Titel Lustverlustanzeige'. Sollte sich in ferner Zukunft ein Mentalitätshistoriker unserer Epoche zuwenden, würde er beim Studium der überlieferten Fotodokumente, der Fernsehaufzeichnungen, der Bilddateienwracks auf ausrangierten Festplatten ohne Zweifel den Eindruck gewinnen müssen, daß wir in einer Zeit völliger sexueller Libertinage gelebt haben, in der nicht nur alle erdenklichen sexuellen Praktiken und alle denkbaren Konstellationen von Liebespartnern erlaubt waren, sondern auch alltäglich von jedermann und jederfrau ausgeübt wurden. Macht der gewissenhafte Forscher dann 29 FAZ, 31.10.2000, S. 54: Andreas Kilb: "Im Theater der Leiber".

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die Gegenprobe, [...] müßte er allerdings bemerken, daß irgend etwas nicht stimmen kann.30 Bei Festivals wie der Love-Parade wird öffentlich mehr als nur nackt getanzt, so daß der Kommentar in derselben Zeitung über den Christopher-Street-Day, den Namenstag der Schwulen und Lesben, lautete, daß er den Darstellern Gelegenheit gab, in der Öffentlichkeit Dinge zu tun, für die andere die Öffentlichkeit lieber meiden. Das bürgerliche Publikum, das die Straßen säumte, sah dem lebensnahen Aufklärungsunterricht, der ihm da geboten wurde, mit einer Mischung aus Neugier und Amüsement zu. Die halb oder ganz Nackten gaben Antworten auf alles Mögliche, nur nicht auf die zentrale Frage, warum Leute, die ihre sexuellen Obsessionen ungehindert in die Öffentlichkeit tragen können, immer noch als diskriminiert gelten.31 Am 9.12.2000 wurde in der FAZ unter dem Titel Nackt, wie sie sich schuf über die "pornographische Karriere" einer jungen Frau berichtet, die Nacktsein zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat. Ihre Karriere begann damit, daß eine Berliner Boulevardzeitung sie in Begleitung eines Photographen nackt auf die Straßen Berlins geschickt hatte, um "die Toleranz der Berliner gegenüber nackten Frauen zu testen". 32 Während pornographische Darstellungen in der Frühen Neuzeit noch eine politische Sprengkraft besaßen, erscheinen derartige Versuchsanordnungen nach der sexuellen Revolution der 68-Generation beinahe als harmloser Anachronismus. 33 Daß Nacktheit Konjunktur hat, zeigen auch Theaterstücke wie Körper oder S von Sasha Waltz in der Berliner Schaubühne, für die mit nackten Schauspielern auf den Plakaten geworben wurde, an denen die Passanten ebenso achtlos vorübergingen wie an den ClaudiaSchiffer-Plakaten. In den Sophiensälen erlebte Georges Batailles Stück Das Blau des Himmels, das in den 30er Jahren noch sittliche Grenzen verletzte, eine Reinszenierung, die kaum noch die Faszina-

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FAZ, 6.11.2000, S. 57: "Lustverlustanzeige" von Richard Kämmerlings. FAZ, 29.6.2000, S. 55. FAZ, 9.12.2000: "Nackt, wie sie sich schuf' von Iris Hanika. Vgl. Hunt, Lynn (Hg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne. Frankfurt/Main 1994.

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tion des Tabubruchs ahnen ließ.34 Anstelle der Provokation bleiben Gesten, die Zitatcharakter haben. In der Wochenzeitschrift DIE ZEIT vom 30.11.2000 wurde für das Kultmagazin Egoi'ste mit einem lesbischen Aktbild geworben, während es im Begleittext vielversprechend hieß: "Bühne der Pariser Szene - alle da: M. Houellebecq bis G. Depardieu (auch der nackt)."35 Der Zusatz "auch der nackt" ist dabei wie ein geheimes Versprechen in Klammern gesetzt. Die Titelgeschichte der Zeitschrift "Der Spiegel" im Dezember 2000, die über die "Sexspielvarianten" im 21. Jahrhundert berichtete, beginnt folgendermaßen: Mit großer Gelassenheit bewegt sich der Zeitgenosse durch die mit Reizen hoch gesättigte Sphäre des öffentlichen Sex. Auf der Straße begegnet er Gestalten, die sich sexy inszenieren, die Werbung konfrontiert ihn mit raffiniert präsentierten Körpern, in den visuellen Medien konsumiert er schamlose Bekenntnisse und Schaustücke. Beim Anblick eines Softpornos im Fernsehen wären seine Vorfahren nicht so gelassen gewesen: Der wilhelminische Mann hätte vermutlich die Kontrolle verloren, die Gattin sich von dem Schock kaum erholt.36

Die Erben der sexuellen Revolution reagieren dagegen nur noch gelangweilt oder lustlos. Da angesichts der inflationären Flut der Aktphotographie Blöße in der Werbung kaum noch Wirkung zeigt, kommt es deshalb vor allem auf die Posen an, die Produktwerbung mit Erotik assoziieren. So erregte eine Werbung für das Parfüm "Opium" mit einem nackten Modell den Unmut französischer Feministinnen, da die Frau noch immer als Sexobjekt vermarktet würde.37 Collier und Armband des Modells betonten seine Nacktheit, während die laszive Pose, Gestik und Mimik eindeutig sexuelle Assoziationsspielräume eröffnete. Gegen die u.a. von der Werbung propagierten normativen Schönheitsvorstellungen rebellieren die Darstellungen ungeschönter

34 Vgl. beispielsweise die Kritik in der FAZ, 27.11.2000: "Der Himmel ist Blau" von Christine Meiert. 35 DIE ZEIT, 30.11.2000, S. 69. 36 DER SPIEGEL, Nr. 48/2000, S. 180. 37 DER SPIEGEL, Nr. 48/2000, S. 344.

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bis häßlicher nackter und alter Menschen von Egon Schiele über Lucian Freud bis zu Diana Arbus. 38 Die Beispiele vom biblischen Mythos der Vertreibung aus dem Paradies bis zur Tyrannei der Intimität durch eine Flut an Aktdarstellungen in der Öffentlichkeit im vergangenen 20. Jahrhundert zeigen nicht nur, daß das Thema Nacktheit zu den zentralen Themen menschlicher Kulturgeschichte schlechthin zählt, sondern auch, daß Nacktheit erst als Inszenierung von Entblößung semantisch je unterschiedlich bedeutsam wird.

Nacktheit im Blick der Disziplinen Den verschiedenen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes liegen folgende Thesen zugrunde: erstens, daß es bei der Inszenierung von Nacktheit nicht um Blöße als solche geht, sondern um die Art der Entblößung, also das Spiel mit Ver- und Enthüllungen, das im Spannungsfeld von Privatsphäre und Öffentlichkeit in je unterschiedlicher Weise Tabus verletzt, je nachdem welche assoziativen und konnotativen Kontexte eröffnet werden. Die konnotativen Kontexte reichen dabei von der Mythologie und Religion über die Ästhetik und Medizin bis hin zur Erotik, Sexualität und Pornographie. Die zweite These lautet, daß die Darstellung von Nacktheit, die in religiösen und mythologischen Kontexten die ikonographische Tradition des christlichen Abendlands geprägt hat, immer dann zum Stein des Anstoßes geworden ist, wenn sie nicht mehr in symbolischen oder allegorischen Dimensionen eingebettet war. So brach Michelangelo mit den Konventionen der Darstellung, indem er nicht leidende, sondern potente, kräftige Menschen der Renaissance den Himmel der Sixtinischen Kapelle bevölkern ließ. Und schließlich hat sich drittens die Art der Provokation verändert. Es sind nicht nur die politischen Dimensionen der Pornographie der Frühen Neuzeit verschwunden und Bücher, die für Skandale gesorgt haben, wie Eduard Fuchs' Sittengeschichte oder auch James

38 Vgl. Leopold, Rudolf: Egon Schiele - Die Sammlung Leopold, Wien. Ausstellungskatalog u.a. der Kunsthalle Tübingen. Köln 1995, S. 277; Saunders, Gill, S. 8 u. 16.

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Joyce' Ulysses, in den Kanon integriert, sondern auch die Schockwirkung, die Aktszenen noch in den 50er Jahre auslösen konnten mit Filmen wie "Die Sünderin", ist mit der sexuellen Revolution der 70er Jahre durch die Gewöhnung an Nacktheit in der Öffentlichkeit verlorengegangen. Und wenn die Erben der 68er Generation als Typus des Gelangweilten hinsichtlich der Aktdarstellungen bezeichnet werden, hängt das sowohl mit der Gewöhnung an nudistische Happenings und Performances zusammen, als auch mit der Vermarktung der Nacktheit in der Werbung, durch die Nacktheit zum neuen Körper-Kapital avanciert ist und durchaus in Bourdieus Reihe von sozialem, kulturellem und monetärem Kapital eingereiht werden könnte. Bei den unterschiedlichen Einstellungen zur Nacktheit lassen sich soziokulturelle, alters- und geschlechtsspezifische Differenzen feststellen. Doch geht es in den folgenden Beiträgen weniger um soziale Praxen in Bezug auf Nacktheit, als vielmehr um ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Der interdisziplinäre Band dokumentiert die Beiträge der Tagung "Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen in historisch kulturvergleichender Perspektive", die im Januar 2001 im Rahmen des Graduiertenkollegs "Körper-Inszenierungen" der Freien Universität Berlin stattgefunden hat. Nacktheit wurde im christlich-abendländischen Kontext insbesondere im 19. Jahrhundert anders bewertet als im außereuropäischen, weshalb eine historisch-vergleichende Perspektive für die interdisziplinäre Thematisierung gewählt wurde, denn erst der synchrone und diachrone Kulturvergleich erlaubt, die mit Nacktheit verbundenen Moralvorstellungen und Tabus, Normen und Konventionen in ihrer jeweiligen kulturellen Semantik zu untersuchen. Das Thema Nacktheit wird aus soziologischer (Oliver König), literaturwissenschaftlicher (Gabriele Brandstetter, Hans Richard Brittnacher, Hanno Ehrlicher, Kerstin Gernig), historischer (Maren Möhring, Andreas Schwab), ethnologischer (Britta Duelke, Klaus-Peter Köpping), japanologischer (Jaqueline Berndt, Wolfgang Herbert), kulturwissenschaftlicher (Hyunseon Lee) und kunsthistorischer (Andrea Reichel) Perspektive untersucht. Nacktheit war und ist ein zentrales Thema der Kulturgeschichte, das nicht nur einer Randbemerkung für Wert befunden wurde, sondern regelrecht topisch in den verschiedensten Gattungen und Medien historisch kontinuierlich wiederkehrte. Der vorliegende Band

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setzt dabei folgende Schwerpunkte: Da die Inszenierung der Entblößung in verschiedenen Gattungen und Medien, Diskursen und Performances stattfindet, verfolgt der einleitende Beitrag von Oliver König die Frage, auf welche Art und Weise Nacktheit vergesellschaftet wurde und wird, d.h. mit anderen Worten, wie über Nacktheit in verschiedenen Diskursen - u.a. in wissenschaftlichen - gesprochen wird. Hans Richard Brittnacher untersucht das zentrale semantische Dreieck der mit Nacktheit verbundenen Konnotationen, nämlich erotische, pornographische und obszöne Literatur im Vergleich. Dabei geht es ihm einerseits um die unterschiedlichen Funktionen dieser Literatur in Bezug auf Aufklärung, Provokation, Tabubrüche, Skandale oder auch Stimulation und andererseits um das Altern der Begriffe. Auf die aktuellen Fragen der Jahrhundertwende 2000 folgt ein Rückblick auf die Jahrhundertwende um 1900, als Freikörperkultur und Naturverbundenheit zu neuen Grundsätzen der 'milieux libres' avancierten und diese mit den konventionellen Verhaltensnormen der Gesellschaft brachen.39 Kerstin Gernig untersucht Inszenierungsund Legitimationsstrategien für photographische Aktdarstellungen in Kultur- und Sittengeschichten der Jahrhundertwende, um zu zeigen, daß der enorme publizistische Erfolg dieser Werke ebenso wie die mit ihnen verbundenen Skandale und Prozesse charakteristisch für die Dialektik von Tabu und Tabubruch, Ver- und Enthüllung sowie von rigider Moral und reformerischen Befreiungsversuchen im 19. Jahrhundert waren. Dabei geht sie von der These aus, daß eine kulturvergleichende Perspektive eine Relativierung christlich-abendländischer Moralvorstellungen vorbereitet bzw. überhaupt erst ermöglicht hat. Um das Konzept der idealen Nacktheit der deutschen Nacktkultur von 1883 bis 1925 geht es Maren Möhring. In der lebensreformerischen Nacktkulturbewegung wurde ideale Nacktheit im Rekurs auf antike Statuen als Zeichen für Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit propagiert. Dieses Ideal sollte durch Nacktgymnastik angestrebt werden. In dem Beitrag geht es dabei vor allem um die rassistischen Implikationen des Nacktkultur-Diskurses, der zu einer 'denunziatorischen 39

Vgl. dazu auch Corbin, Alain: Kulissen, S. 423f.

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Physiognomik' im Kontext der Konzeption des 'neuen Menschen' beigetragen hat. Eine komplementäre Perspektive der Nacktkulturbewegung findet sich in dem Beitrag von Andreas Schwab, der die Ambivalenz der Nacktheits-Inszenierungen auf dem Monte Verità in der Schweiz behandelt. Die lebensreformerische Programmatik dieser Nacktkulturbewegung proklamierte Natürlichkeit der Nacktheit, mußte sich zugleich jedoch mit dem Vorwurf der erotischen Hintergedanken auseinandersetzen. Auf die europäische Perspektive der Nacktheitsproblematik um 1900 von Gernig, Möhring und Schwab folgt eine außereuropäische Perspektive aus ethnologischer, japanologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht. Klaus-Peter Köpping zeigt auf, daß die traditionell negative Assoziation von Nacktheit mit Primitivismus, Unzivilisiertheit und Sündhaftigkeit in Europa in außereuropäischen Kulturen die Vorzeichen verändert. Dabei steht die Thematisierung des rituellen Exzesses in theoretischen Ansätzen von Bataille, Bachtin und Baudrillard im Zentrum seiner Reflexionen, um die Dialektik postulierter Unreinheit des Körpers und der damit verbundenen Tabuisierung mit der Funktion der Überschreitung eben dieser Tabus im Ritual aufzuzeigen. Die Ambivalenz der mit dem Begriff Nacktheit verbundenen Konnotationen weist auch Britta Duelke in ihrem Beitrag zu einer nordaustralischen lingua franca nach, in dem es einerseits um die positive Assoziation der Nacktheit mit der präkolonialen Vergangenheit geht und andererseits um die negative Verbindung mit Wildheit, Gefährlichkeit, Schamlosigkeit oder auch Unzivilisiertheit. Sie weist die facettenreiche kulturelle Symbolik nach, die mit sozialer Differenzierung und moralischer Beurteilung je unterschiedlichen dynamischen Regeln folgen. Hyunseon Lee geht es in um die Thematisierung der Nacktheit in Korea in Vergangenheit und Gegenwart in der erotischen Kunst und in pornographischen Filmen. Sie zeigt auf, daß die Enttabuisierung des Themas für Koreas kulturkonservative Politik regelrecht revolutionären Charakter hatte. Zugleich verdeutlicht sie aber auch die Schattenseiten dieser Öffnung im Prozeß der Globalisierung am Beispiel der gewandelten Schönheitsvorstellungen.

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Das Phänomen der Tätowierung in Japan in Vergangenheit und Gegenwart behandelt Wolfgang Herbert zwischen Kriminalisierung einerseits und Ästhetisierung im Rekurs auf die japanische Holzschnittkunst andererseits. Aus sozialhistorischer und kulturvergleichender Sicht wird die gesellschaftliche Bedeutung des Phänomens der Tätowierung gedeutet, die die nackte Haut zugleich verziert und bekleidet. Auf die außereuropäische Perspektive von Köpping, Duelke und Herbert folgen Beiträge zur Sprache der Enthüllung(en) in der Literatur. Gabriele Brandstetter untersucht symbolische und korporale Überschreitungsszenarien und ihre Darstellbarkeit bei Arthur Schnitzler und Marina Abramovic, wobei sie vom Mythos Phrynes als Urszene ausgeht, in der die ästhetische Inszenierung des weiblichen Körpers als Evidenz der nackten Wahrheit auftritt. Hanno Ehrlicher geht es um die Bedeutung der Nacktheit für die 68er-Generation wie sie sich in den narrativen Inszenierungen Rolf Dieter Brinkmanns zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie, zwischen voyeuristisch-pornographischer Sehnsucht und exhibitionistischem Selbstdarstellungstrieb paradigmatisch manifestiert. Literarisch inszeniert wird vermeintlich sinnliche Unmittelbarkeit. Gezeigt wird die Beziehung zwischen dem provokativen Gehalt der auf Skandale hin angelegten Texte und dem Gegenpol der alles vereinnahmenden Kulturindustrie. Bei allen Beiträgen wird deutlich, daß die Bedeutung der Nacktheit im Auge der Betrachter(in) liegt. Um die Frage, wie nackt die Akte eigentlich sind, geht es in dem Beitrag von Andrea Reichel. Am Beispiel einer Kreuzigungsszene Hans Baidung Griens diskutiert sie u.a. die erotischen Aspekte des biblischen Motivs. Den Band beschließt der Beitrag von Jaqueline Bernd, in dem es ebenfalls um einen Aspekt der ikonographischen Tradition geht, allerdings im 20. Jahrhundert. Sie untersucht die Darstellung der Nacktheit in japanischen Comics respektive Mangas am Beispiel des Sehens und Übersehens, des Andeutens und Aussparens.

II. Nacktheit als Diskurs und Performance Von geil bis gemütlich Vergesellschaftete Nacktheit Oliver König Tausend und eine Arten, über Nacktheit zu reden Wie viele Arten mag es geben, über Nacktheit zu reden? Je differenzierter die Praxen, desto differenzierter die Diskurse, so meine Annahme. Aber wer darf was wann und wo über wen sagen? Wie intim darf es sein, soll es sein, muß es sein? Darf es direkt sein? Zu direkt sollte es wohl nicht sein. Vor allem sollte der Redner sich mit dem Reden begnügen. Das aber kann er in vielfaltiger Weise. Und so weiß man nicht genau, ob das Reden mit seinem Handeln oder dem Handeln der anderen, über die er redet, etwas zu tun hat, und was es damit zu tun hat. Soll es mehr akademisch sein, gebildet und erbaulich, distanziert und soziologisch über den Dingen schwebend? Auf keinen Fall sollte es in einem akademischen Kontext billig, ordinär und marktschreierisch sein. Ein bißchen sexualisierend müßte es schon sein, sonst gilt hinterher noch das Thema als verfehlt. Und was gibt es Schöneres, als akademisch über das gänzlich Unakademische zu forschen, zu schreiben und zu reden? Darf es skandalisierend sein, oder wenigstens dramatisierend? Oder soll es doch lieber neutralisierend und banalisierend sein? Allzu drastisch sollte es auf keinen Fall

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sein. Oder sollte man sich gar an die goldene Regel halten, worüber man nicht reden kann, sollte man schweigen? Aber gibt es für Kulturwissenschaftler überhaupt etwas, worüber sie nicht reden können? Zumindest aber gibt es auch hier, ja gerade hier, ein Gefühl dafür, daß man über Nacktheit nicht einfach so reden kann, sondern z.B. über Ästhetische Inszenierungen in historisch kulturvergleichender Perspektive. Das neutralisiert schon einiges und schließt einige der genannten Möglichkeiten definitiv aus. Mein Thema ist die Vergesellschaftung von Nacktheit. Als Alltagsmenschen sind wir alle Spezialisten fürs Nackte, und als Akademiker sind wir keineswegs neutral, höchstens die Avantgarde der Nacktheits-Vergesellschaftung. Wie alle anderen auch brauchen wir als solche eine gegenseitige Vergewisserung darüber, wie wir jeweils über Nacktheit reden können und wollen. Der Schritt von der Wissenschaft zur Kulturindustrie ist klein, zumal bei einem so kulturindustriefahigem Thema wie Nacktheit. Gerade Nacktheit stellt ein Thema dar, über das mit den Mitteln des Alltagsdiskurses genauso gut gestritten werden kann wie mit den Mitteln der Großtheorie. Dieser Streit läßt sich um so besser aus fechten, je weniger empirisch fundiertes Wissen über ein Thema vorliegt. So erstaunt auch heute noch das weitgehende Fehlen von sozialwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Nacktheit. Ähnliches gilt für das Thema Sexualität1. Diese Lücke ist erklärungsbedürftig, z.B. in Anbetracht der ikonenhaften Rolle, die Nacktheit und Sexualität in den Medien spielt. Wenn akademisch über Nacktheit geschrieben wird, dann handelt es sich in der Regel vorrangig um kulturelle Deutungen ohne große empirische Basis. Als Forschungsthema ist Nacktheit ebenso wie Sexualität für den "harten" akademische Bereich nach wie vor nicht reputierlich. Das Problem des "Going native" mit dem Untersuchungsgegenstand lauert im Hintergrund als soziale Zuschreibung und Verdacht. Hinzu treten methodisch-methodologische Probleme. So stellt sich die akademische Beschäftigung mit Nacktheit in einen eigenartigen Gegensatz zum Gegenstand. Während die sozialen Akteure der Wunsch nach der körperlichen Konkretheit des Erlebens 1

Vgl. Laumann, Edward O. / Gagnon, John H. / Michael, Robert F. / Michaels, Stuart: The Social Organisation of Sexuality. Sexual Practices in the United States. Chicago/London 1994.

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und Empfindens antreibt, verwandelt Wissenschaft dies in die Abstraktheit ihrer Kategorien. Und noch mehr als in den Sozialwissenschaften sonst wirft die Beschäftigung mit dem Körper und seiner Nacktheit das Problem des "Going native" mit sich selbst auf, ein Problem, das etwas gemildert wird, je mehr kulturelle Artefakte Wissenschaft zwischen sich und die sozialen Akteure schiebt, über die sie etwas erfahren will. Über Aktkunst läßt sich besser forschen als über den Aktkünstler oder sein Modell. Über Pornographie läßt sich besser forschen als über den Produzenten, seine Darsteller und die Abnehmer der Produkte. Über Texte läßt sich besser forschen als über die bzw. mit denen, die diese Texte einmal produziert haben usw. Die Dynamik von Abwehr und Gegenübertragung ist der psychische Untergrund, aus dem sich die soziale Distinktion nährt, bzw. wird von dieser hervorgebracht und angetrieben.

Diskursive Kampffelder Wenn daher geschrieben oder gesprochen wird, dann können damit immer noch schnell Affekte freigesetzt werden. Ein wunderbares Beispiel für ein solches diskursives Kampffeld kam 1988 zur Auffuhrung, nachdem Hans Peter Duerr mit seinem Buch "Nacktheit und Scham" (1988) seinen Generalangriff auf Norbert Elias und seine Zivilisationstheorie gestartet hatte.2 Neben Duerr traten damals auf der greise Norbert Elias selber, einige seiner Schüler, und eine Fülle von Journalisten aus dem Feuilleton, unter anderem Ulrich Greiner von der Zeit. Wir werden ihm noch wiederbegegnen. Duerr wies in seinem Buch die Vorstellung von einem fortschreitenden Zivilisationsprozeß als einen Mythos zurück, der den Europäischen Staaten zur Rationalisierung eines gewalttätigen Kolonialisierungsprozesses gedient habe. Er zielte dabei vor allem auf die Annahme, im Verlauf dieses Zivilisationsprozesses seien alle körperlichen Verrichtungen und auch das Zeigen des nackten Körpers zunehmend aus dem öffentlichen in den privaten Raum verlagert worden und dies habe etwas mit einer allgemeinen Domestikation des Triebhaushaltes 2

Duerr, Hans-Peter: Nacktheit und Scham. Frankfurt/Main 1988. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Basel 1939.

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zu tun. Nacktheit und Scham seien vielmehr auch und gerade in "primitiven" Gesellschaften, aber auch in den europäischen Gesellschaften der Vergangenheit so eng miteinander verknüpft, daß diese Verknüpfung als "wesenshaft" angenommen werden müsse. Und weiter: Während Elias auch in unserem Jahrhundert keine Drosselung des Zivilisationsprozesses oder gar eine Mäßigung des gesellschaftlich erforderten Triebverzichts ausmachen kann, behaupte ich, daß eine Senkung der Triebkontrollen in der westlichen Gesellschaft allenthalben zu beobachten ist und erkläre dies durch die zunehmende Anonymität der Menschen in der modernen Massengesellschaft (wozu als weiteres Moment wohl kommt, daß eine auf universelle Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Konsumgesellschaft auch auf die Befriedigung so wichtiger Bedürfhisse wie etwa dem der Sexualität nicht verzichten kann).3 Damit ist der Kern des Konfliktes benannt: Haben wir es heute mit einer Senkung der Triebkontrollen zu tun, oder ist die "neue Freizügigkeit" vielmehr ein Zeichen für eine durchgesetzte Triebkontrolle, auf deren Hintergrund diese Freizügigkeit erst möglich wird. Schweres Kaliber also, dem ebenso schweres Kaliber vorausgegangen war und auch weiter nachfolgte. "Die Lektüre seines Buches ... gleicht dem eines Beichtspiegels", so Ulrich Greiner in der Zeit der Vorwoche 4 . Die gehobene Kulturindustrie rotierte, daß Pierre Bourdieu seine Freude gehabt hätte 5 . Es wäre bestenfalls erbaulich, wenn ich das Thema in ähnlicher Weise weiterfuhren würde, eben mit den Mitteln der Großtheorie. Stattdessen möchte ich Schritt für Schritt in die Niederungen der Alltagsdiskurse steigen. Tutti Frutti, erinnern Sie sich noch, Erdbeere, Hitnbeere und Kiwi, eine modernisierte Variante des guten alten Fernsehballetts, bei dem die Mädels jede Tanznummer damit beendeten, daß sie sich das Oberteil aufknöpften. Dazu eine lispelnde, blonde Assistentin mit holländischem Akzent, eine Italienerin mit einem Busen wie aus 3 4

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Duerr, Hans Peter: In der Rocktasche eines Riesen. Eine Erwiderung auf Ulrich Greiners Polemik. In: Die Zeit, 27.5.1988, S. 50. Greiner, Ulrich: Nackt sind wir alle. Über den sinnlosen Kampf des Ethnologen Hans Peter Duerr gegen den Soziologen Norbert Elias. In: Die Zeit, 20.5.1988, S. 54. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/Main 1982.

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einem Fellini Film, und Hugo Egon Balder, der Oberloddel der Nation, wie ihn die Fernsehkritik damals nannte. Als mir damals, vor ungefähr hundert Jahren, jemand aus dem Freundeskreis erzählte, auf RTL gäbe es ein Programm, da zögen sich die Leute aus, wollte ich es nicht glauben. Das hatte es in der ARD und ZDF Welt bislang nicht gegeben. Wenn nackte Haut, dann nur mit Kunstvorbehalt. Man würde sich geradezu wünschen, RTL würde "The Best of Tutti Frutti" heute nochmals wiederholen. Wahrscheinlich ergibt sich eine ähnliche Wirkung wie beim Wiedersehen von alten Star Treck Sendungen der 60er Jahre, als Captain Kirk seine Nachrichten ins Weltall in ein Bügeleisen sprach. So wie heute die Pornographie des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Patina einen eigentümlich kultivierten Eindruck macht, obwohl ihre Bildinhalte neueren Produkten um weniges nachhinken, so wird dies in 50 Jahren mit den Produkten von heute der Fall sein. Vielleicht wird man rückblickend Tutti Frutti als besonders gelungenes Produkt der Postmoderne im Fernsehen feiern. Denn ohne Witz war die Sendung tatsächlich nicht, da sie das Medium Fernsehen bzw. den öffentlichen Auftritt darin selber zum Thema hatte, also in gewisser Weise selbstreflexiv und selbstironisch auftrat. Und dies eben in einer radikalen Form. Das proletarische Gebrüll eines virtuellen Publikums "Ausziehen, Ausziehen" wurde hier programmatisch umgesetzt, ebenso wie der vielzitierte Spruch Andy Warhols vom Stardasein für 15 Minuten. Das haben auch die kulturellen Gralshüter aus dem anspruchsvollen Feuilleton gemerkt. Orginalton Ulrich Greiner 1992 in der Zeit: Überaus merkwürdig ist "Tutti Frutti". Die notorisch geschmähte Sendung bietet zum Thema Sex im Fernsehen einstweilen das Maximum. Die Attraktion der professionellen Stripteasetänzerinnen steht in kalkuliertem Kontrast zu den rührenden Entkleidungsritualen der jeweils um Punkte ringenden Amateure. Das Match zwischen exhibitionistisch schüchternen Hausfrauen und verwegenen Fahrlehrern einerseits und einem Ensemble kalt lächelnder Schönheiten andererseits ist eine Variante des Gegensatzes zwischen Kunst und Leben. Die Chancen sind ungleich, da die Kunst bekanntlich heiter und ernst das Leben ist, aber der Ausgang des alten Spiels ist keineswegs gewiß. Während die Profis sich ihrer eingeübten Animationseffekte sicher sein können, überraschen die Amateure den Zuschauer manchmal einfach dadurch, daß sie im Augen-

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Oliver König blick der größten Peinlichkeit einen Einblick in die schockierende Realität erotischer Selbstdarstellung gewähren. Möglicherweise hat diese Irritation zu einem Rückgang der Zuschauerzahlen und zur geplanten Absetzung der Sendung geführt.6

Eine interessante Analyse, die es ernst zu nehmen lohnt, fuhrt sie doch einige der Effekte vor, die sie zugleich zu beschreiben versucht. Der Schreiber grenzt sich zuallererst einmal ab von denen, die "notorisch schmähen", würde er doch sonst im Feuilleton der Zeit seine Aufmerksamkeit nicht einem so "überaus merkwürdigen" Produkt zuwenden, das ihm als Maximum an Sex im Fernsehen erscheint. Er fuhrt damit in einem Medium der "legitimen" Kultur die Macht der diskursiven Distanzierung vor. Es treten "kalt lächelnde" Professionelle gegen "rührende" Amateure an, was auf der Ebene des gänzlich Profanen, des "billigen" Unterhaltungsfernsehens, den sakralen Gegensatz zwischen Kunst und Leben re-inzeniert. Dies mildert die Direktheit des körperlichen Auftritts. Angemerkt sei hier, daß die Professionalität ganz in der Hand von Frauen war, Männer traten nur als Amateure auf und waren dadurch durchaus bevorteilt, weil ohne Konkurrenz. Es waren daher vor allem die weiblichen Amateure einem Wettbewerb ausgesetzt, dessen Regeln sie nur unvollkommen beherrschten, auch wenn sie sich bei der Auswahl ihrer Unterwäsche unübersehbar an professionellen Standards auszurichten versuchten. Vorgeführt wurde ihnen ihr Amateurstatus durch ihren jeweiligen Zwischengewinn, den "Strip" einer professionellen Stripperin mit dem ganzen Repertoire des "Tease". Naturbegabungen unter den Amateuren hätten eher irritierend weil zu professionell gewirkt und damit gerade jenen Kontrast getilgt, von dem die Inszenierung lebte. Stattdessen führten sie, die Amateure, mehr oder weniger freiwillig, die schreckliche Gemütlichkeit heimischer Wohn- und Schlafzimmerwelten vor, mit ihrer ganzen schockierenden Realität erotischer Selbstdarstellung. Schockierend ist sie vor allem deswegen, so Greiner, weil sie uns, dem davon peinlich berührten Zuschauer, die Kluft vorführt zwischen erotischen Aspirationen und den begrenzten Möglichkeiten ihrer Umsetzung. Gemildert wird diese Peinlichkeit für die Leser des Zeitfeuilletons ein wenig dadurch, daß sie dies an

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Greiner, Ulrich: Die veröffentlichte Intimität. Sex im Fernsehen. In: Die Zeit, 10.7.1992, S. 39.

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denjenigen festmachen können, die sich diesem Spiel hingeben, ohne es zu durchschauen, ja es zumeist noch nicht einmal bemerken. So treten denn auch bei Ulrich Greiner als Opfer der Inszenierung jene idealtypischen Figuren auf, die unmittelbar aus einer soziologischen (Lehr)Aufführung Pierre Bourdieus stammen könnten, die Vertreter des aufstrebenden Kleinbürgertums und seine geschlechtsspezifischen Entsprechungen bzw. Varianten, eben jene exhibitionistisch schüchternen Hausfrauen und verwegenen Fahrlehrer, die bevorzugt damals wie heute die Fernsehwelt von Tutti Frutti bis Hans Meiser bevölkern, und mit entsprechender Regelmäßigkeit im kritischen Feuilleton als Protagonisten des "neuen Exhibitionismus" vorgeführt werden. Der Tonfall des Diskurses wird dabei allmählich bei Greiner schärfer, so wie die entsprechende Medienforschung registriert, daß auch das Programm "schärfer" geworden sei. Das damalige Maximum an Sex im Fernsehen erscheint schon heute, nur zehn Jahre später, wie eine Erinnerung aus gute alter Zeit. Ohnehin sind es vor allem Zeitschriften, Video und jetzt das Internet, in dem sich der Markt der sexualisierten Nacktheit organisiert. Und während Greiner sich 1992 noch der Meinung eines Kritikerkollegen aus der FAZ anschließt, der anhand der ästhetisierten und entrückten Playmates aus Playboy Late Night darüber räsoniert, "Nacktheit im Fernsehen wirke keusch", so schreibt er acht Jahre später unter dem Eindruck einer Sendung von Wa(h)re Liebe, in der es um Intimschmuck geht: "Alles ist sichtbar, alles Oberfläche. Auf dieser Oberfläche, die von den Medien tausendfach gespiegelt wird, sehen wir die krampfhaften Zuckungen einer Gesellschaft, die sich planvoll entblößt", und diesmal sind es "die Sekretärin und der Bademeister, die Studentin und der Briefträger, die darauf brennen, sich öffentlich vorzufuhren, in welcher Pose und vor wem auch immer."7 Der Bruch zwischen Fernsehwelt und Lebenswelt, zwischen professioneller und amateurhafter Nacktheit, der in Tutti Frutti noch sichtbar schien, wird ersetzt durch den Gedanken einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Fernsehwelt, ein durchgehender Topos des intellektuellen Diskurses, bei Greiner jetzt ganz ähnlich wie vorher bei Duerr. Die sozialen 7

Greiner, Ulrich: Versuch über die Intimität. Von Ballermann bis zu "Big Brother", vom Internet bis zur Talkshow: Der neue Exhibitionismus grassiert. In: Die Zeit, 27.4.2000, S. 43.

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Akteure dieser Lebenswelt treten wieder in der bekannten kleinbürgerlichen Besetzung auf. Sie sind jetzt zugleich Opfer wie Täter, vor allem aber sind sie ziemlich dumm, da sie das Spiel nicht durchschauen sondern mitmachen. Unverstanden bleibt, daß sich hier eine spezifische Klugheit des Alltagsverstandes zeigt von Menschen, die ihre begrenzten Lebenschancen in einer ohnehin immer unberechenbarer werdenden Zeit zu verbessern versuchen, und zwar mit vollem Einsatz der körperlichen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen. Körperlichkeit und Nacktheit werden zu einem Medium der Arbeit, die zugleich Spaß sein soll. Die Akteure wissen zwar, daß die Chancen des Erfolges gering sind, aber diesen Spaß, es zumindest probiert zu haben, wollen sie sich nicht nehmen lassen. Die Lächerlichkeit, der sie sich dabei eventuell preisgeben, wird in Kauf genommen, verspricht sie doch wenigstens einen potentiellen Gewinn, im Gegensatz zu den vielen kleinen Lächerlichkeiten und Entwürdigungen des Alltages, denen sonst kaum zu entfliehen ist. Hinzu tritt der Gegensatz zwischen den körperlichen Ressourcen der Jüngeren und den diskursiven Ressourcen der Älteren. Die Rede vom Jugendlichkeitswahn benennt vor allem die Probleme derer, die diese Ressource der Jugendlichkeit nicht mehr besitzen. Das Bildungsbürgertum hatte für solchen körperlichen Einsatz immer schon wenig Verständnis und sieht nur kulturellen Niedergang, wenn ihm im öffentlichen Raum eine Konkurrenz erwächst, die ihr das Monopol über den legitimen Geschmack streitig macht. In diesem Kampf bedient sich die Rhetorik der Kulturkritik gerne bei der Soziologie. So fuhrt Ulrich Greiner, um seine Thesen zum veränderten Umgang mit Intimität zu belegen bzw. in ihrer Entwicklungslogik zu begründen, die Autoren an, die in diesem Zusammenhang gerne zitiert werden: Norbert Elias und den Zwang zum Selbstzwang, das Individuum im öffentlichen Austausch von Erving Goffman sowie die Tyrannei der Intimität von Richard Sennett, Hans Peter Duerr verständlicherweise nicht, obwohl er in diese Argumentation gut hineingepaßt hätte; ebenso wenig beachtet, aber sicherlich aus anderen Gründen, wird Pierre Bourdieu mit seinen Ideen zur Objektivierung der Objektivierung, die zur Selbstanalyse auffordern. Es tritt bei Greiner stattdessen Michel Houellebecq auf, derzeitiger literarischer Star eines radikalen Kultur- bzw. Sexualpessimismus.

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Mit diesem Ende in einem kulturpessimistischen Lamento sind wir nun wieder bei den Problemen einer soziologischen Analyse angelangt, die vermehrt gerade dann auftreten, wenn es ihr gelingt, sich in den öffentlichen Diskurs einzumischen, wird sie doch dadurch wieder zu einem Teil der Auseinandersetzungen, die sie zu beschreiben versucht. Dabei ist das, was z.B. Ulrich Greiner schreibt, keineswegs Unsinn bzw. uninformiert, im Gegenteil. Aber zugleich wird die soziologische Analyse umfunktioniert in eine moralische Botschaft. Diese funktioniert heute durchaus ähnlich wie vor 100 oder 50 Jahren. "Kaum jemand ist durch die 'Flut von Schmutz' selbst gefährdet, man ist vielmehr besorgt wegen der anderen, die das sehr wohl sind."8 Der wissenschaftliche bzw. soziologische Diskurs wird zu einem Medium moralischer Entrüstung, dies jetzt in einer aufgeklärten Variante, deren Funktion als Entrüstung dadurch schwieriger zu erkennen ist. Für die Diskurse über Körper, Sexualität, Nacktheit ist diese Dynamik typisch und lebt in den vielen kleinen Abwertungen weiter, mit denen die Phänomene der neuen Körperkulturen bedacht werden, und in denen fortlaufend vorgeführt wird, wie sehr sich doch der "reflexive" Geist über den "dummen" Körper erhebt. Beschleunigt wird dies durch die Massenmedien, die mit Bildern in Zeitschriften, Fernsehen, Film, Video, usw. sowohl das Material für diesen Diskurs produzieren, wie sie auch die Kommentierungen gleich mitliefern, denn die Medien reden am liebsten über sich selbst. Und während Greiner in seinen Überlegungen zu Tutti Frutti noch die Frage des Zusammenhangs zwischen Medienwelt und Lebens* und Alltagswelt thematisiert, verschwindet diese Thematisierung acht Jahre später. D.h. ein großer Teil des Diskurses über Nacktheit und Sexualität tendiert dazu, zu einem Diskurs über angenommene Medienwirkungen zu werden, und wird in dieser Kombination zu einem Diskurs über den moralischen Zustand der Gesellschaft. Die angenommenen Wirkungen der beschriebenen Praktiken sind dabei vor allem für "die Anderen" gefahrlich, die diese Gefahr aber nicht erkennen können, was sie ja gerade so gefährdet macht. Viel hat sich also nicht geändert, seitdem schockierte Viktorianer vor

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Steinert, Heinz: Sex, Lügen und Video. In: Kriminalsoziologische Bibliographie, 17. Jg., 1990, S. 67.

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den priapischen Ausgrabungen in Pompeji gestanden haben. "Ihre erste Frage war 'Was um Himmels willen haben sich die Römer dabei gedacht?'. Die zweite folgte sofort: 'Was wird geschehen, wenn dafür anfallige Leute so etwas sehen?'."9 Zwar haben sich die Auslösereflexe für diese Fragen geändert, die Grundstruktur aber bleibt. Heute werden die pompejischen Ausgrabungen als Kunst angesehen, so wie auch die schwülstige Salonmalerei des 17., 18. und 19. Jahrhunderts im Städtischen Museum ausgehängt zu einem großen Publikumserfolg wird, jüngst in Köln zu besichtigen in der Ausstellung "Faszination Venus", einer Ansammlung von zumeist ziemlich mittelmäßigen Bildern, gefüllt mit nackten Frauen und Männern, die hier als Bildungsgut getarnt beschaut werden konnten. Vor 50 Jahren wäre dies an einem solchen Ort nicht möglich gewesen, ohne Stürme der Entrüstung hervorzurufen. Ein etwas weniger bildungsbeflissenes Publikum surft derweil im Internet nach seiner Version der Venus. Die Beispiele lassen sich endlos fortsetzen, in denen die Kommerzialisierung von linken wie von rechten Kritikern beklagt wird. Diese Klage ersetzt die Klagen früherer Diskurse über Verrohung, Proletarisierung und Vermassung. Warum aber sollte gerade der Körper und seine Nacktheit davon ausgespart bleiben? Mit dem Ende der Verbotspolitik und der zunehmenden "Freisetzung" der Nacktheit wird diese quasi "demokratisiert", und die Auseinandersetzungen über sie gehen erst richtig los, dies nun allerdings nicht mehr in der Sprache des Verbotes, sondern in Form differenzierterer Grenzziehungen als Teil der Kulturindustrie in ihren legitimen und illegitimen Varianten. Die Nacktheit verliert darüber ihre utopische Qualität als Symbol für das "Andere", sie wird profan. Die soziologische Analyse läuft daher ins Leere, wenn sie einfach die Unterscheidungen übernimmt, die die sozialen Praxen selber hervorbringen. Sie sollte dies auch dann nicht tun, wenn sie auf Praxen stößt, die ihr nicht nur fremd sind, sondern durch die sie sich auch abgestoßen fühlt, z.B. bei den extremen Formen der Kombination von Sexualität und Gewalt, bei denen die Nacktheit zum Sinnbild der gequälten Kreatur wird. Es braucht hierfür nicht mehr ausführlich begründet zu werden, daß in solchen Produkten auch die strukturellen Grundlagen

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Kendrick, Walter, zit. n. Steinen, Heinz: Sex..., S. 67.

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der Geschlechterverhältnisse wieder auftauchen. Es wäre aber ebenso verfehlt, sie damit gleichzusetzen, wie dies in der Pornographiedebatte eine Zeit lang der Fall war. Auch die Annahme einer zunehmenden Verschärfung solcher Produkte ist empirisch zu überprüfen, trifft sie doch nicht so stringent zu, wie dies zumeist behauptet wird. Ähnlich wie bei Kriminalitätsraten kann für die Produkte der Sexindustrie eine Art Wellenbewegung festgestellt werden.10

"Life is a Beach" - Chili Out am Strand Wenden wir uns nach diesen harten Kämpfen einem anderen Szenario zu, das geradezu darauf ausgelegt ist, die Aufgeregtheit dieser Diskurse zum Schweigen zu bringen, die Arbeit des Körpers stillzustellen und sich der Lethargie und Leere zu überlassen: dem Strand als wahrem Ausdruck einer Utopie der Gegenwart, gänzlich diesseitig, wo der Gegensatz zwischen Sakralem und Profanem sich aufhebt in der endlosen Monotonie des Augenblicks, ein Gegenort zur Stadt, ein Territorium der Leere (Alain Corbin)", an dem Körper und Geist regredieren in einen Zustand wacher Schläfrigkeit. Der Strand ist eine originäre Erfindung des 20. Jahrhunderts, Gegenbild zu einer von Arbeit und Leistung geprägten Gesellschaft, die dieses Gegenbild aus sich heraustreibt. Noch unseren Großeltern wäre der Gedanke, Tage des Nichtstuns in der ihnen unwirtlich erscheinenden Übergangszone zwischen Land und Meer zu verbringen, eher fremd gewesen. Die Berge, ja, fremde Städte auch, aber dieses Nichts? Der durchgesetzten Arbeitsgesellschaft folgt die Urlaubs- und Freizeitgesellschaft und ergreift Arbeiter wie Angestellte, Bürger wie Kleinbürger. Die Urlaubsgeschmäcker mögen verschieden sein, der Strand erscheint als kollektives Symbol von Urlaub kaum mehr steigerungsfahig und steigerungsbedürftig. (Abb. 1) Es war und ist hier, wo seit eh und je die Hüllen fallen, erst ein bißchen, dann ein bißchen mehr, erst oben ohne, dann unten ohne. Mal kann man sich ausziehen, mal muß man es. Den institutionellen

10 Vgl. Steinert, Heinz: Sex..., S. 82. 11 Vgl. Corbain, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste. Frankfurt/Main 1994.

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Teilfreiheiten des öffentlichen Schwimmbades entflieht der wahre Kenner, um sich der durchschauten Illusion von Freiheit und Regellosigkeit am "wilden" Strand hinzugeben. Mit dem Überschreiten der Grenze - erst örtlich, dann kleidungsmäßig - , wird der habituelle Exhibitionismus legitim, weil von den stillen Regeln des Strandes eingerahmt. So fest diese einerseits sind, als "heimtückische Zwänge, implizite Regeln, erbarmungslose Klassifikationen, grausame Hierarchien"12, so sehr herrscht hier der Diskurs der Gleichheit und Toleranz, der den Akteuren hilft, ihr Bewußtsein über diese gegenseitige soziale Kontrolle einzuschläfern. Jeder kann tun, was er will, heißt es einerseits, um im nächsten Moment Geschichten zum besten zu geben über Abweichungen, angenehme und unangenehme, komische und erotische, eigene und fremde. Die Kontrolle der Körper und Gesten und vor allem des Blickes will beherrscht sein, will man sich den Vergnügungen ungestört hingeben, dem Sehen ohne gesehen zu werden, dem Fühlen des fremden Blickes, der flüchtigen oder nachdrücklichen Berührung des eigenen oder des fremden Körpers. Die Platzwahl ist zugleich die Wahl für die Kulisse und die Rolle, die man in ihr zu spielen gedenkt. Gleich vorne, wo die Plätze schnell voll werden, sind die Gruppen von Jugendlichen, die sich mit der Entblößung noch schwer tun, zu unsicher ist noch das Kapital, daß es zu zeigen gibt. Die Hosen der Jungen hängen zwar so tief, daß ihr Verbleib einem Wunder gleicht. Aber mehr erlaubt die prekäre Männlichkeit der Pubertät nicht. Sie ist schon genug beschäftigt, mit der einen oder anderen zarten Mädchenbrust fertig zu werden. Auch wollen sie dem Trubel und dem Ausgang näher sein, falls sich die Ruhelosigkeit durchsetzt. Zur wahren Lethargie ist die Jugend nur begrenzt in der Lage. Zwischen ihnen liegen die Faulen, die einfach den Weg scheuen, und die Ungeübten, denen die unbestimmte Weite des leerer werdenden Strandes unheimlich ist. Ein wenig weiter schon findet man die Familien mit Kindern und ältere Leute, an Bräune und Ausrüstung schnell als Kenner oder Neulinge zu erkennen. Hier plaziert sich auch die einzelne Frau, nicht zu nah am Eingang, um nicht als exhibitionistisch zu gelten, aber auch nicht zu weit in die Unsicherheit der Leere vordringend, genau balancierend zwischen freiem Platz und der Anwesenheit von unverdächtigen 12 Kaufmann, Jean-Claude: Frauenkörper, Männerblicke. Konstanz 1996, S. 238.

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Fremden, die ihr die nötige soziale Kontrolle gewährleisten, so daß sie sich einer ungestörten Entspannung hingeben kann. Noch etwas weiter weg dann die Pärchen, junge wie alte. Dazwischen einzelne Männer, nah genug dran, um noch etwas zu sehen, weit genug weg, um dies auch ungestört tun zu können. Das Blicken ist eine Sache von allen, vor allem aber der Männer. Sie sind Nutznießer einer Situation, in der es sich zu blicken lohnt, und zugleich Getriebene, wird der Blick doch freigesetzt, um sogleich einer Vielzahl von diffizilen Regeln unterworfen zu werden. Länge und Intensität und die gekonnte Inszenierung legitimer Intentionen erfordern Aufmerksamkeit. Die Kunst zu sehen, ohne zu sehen, den Blick schweifen zu lassen, ohne sich auf das Erblickte zu stürzen und daran kleben zu bleiben, der starre Blick auf einen Horizont, der in der Peripherie alles abtastet, der neutrale Blick, der sich auch nicht scheut, an der Schönheit eines weiblichen Körpers ein wenig länger heften zu bleiben, zeigt er doch erst dadurch seine Integrität und seine Könnerschaft, die Situation und sich selbst im Griff zu haben. Am Strand und hier nochmals besonders bei der Präsentation und dem Beschauen der "primären Geschlechtsmerkmale" läßt sich bestens die diffizile Austauschlogik und heimliche Komplizenschaft studieren, die das Verhältnis von Männern und Frauen prägt in einer Zeit, in der Beziehungen generell, aber vor allem die Paarbeziehung, brüchiger werden und einem ständigen diskursiven Bedeutungswalzer13 ausgesetzt sind. In dieser Situation macht es Sinn, zu wissen und gleichzeitig nicht zu wissen. Der Körper weiß, wie er sich zu setzen und zu legen, zu stehen und zu bewegen hat, der Geist aber, danach befragt, erzählt Geschichten, die all dies häufig nicht zu wissen scheinen. Diese Geschichten handeln vom banalen, vom schönen und vom sexuellen Körper und seiner Nacktheit. Das machen doch alle, das sieht man doch überall, heißt es allemal. Der (zumeist männliche) Voyeurismus wird bis zur äußersten Grenze banalisiert. Die Frauen sind zwar mißtrauisch dem Sehen der Männer gegenüber, bevorzugen aber die Banalitätsinterpretation solange es geht, um die Situation für sich angenehm zu halten. Wird eine unsichtbare und schwer zu definierende Grenze aber überschritten, breitet sich 13 Ebd., S. 307.

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schnell Entrüstung aus. Die offene Bewunderung der Männer für die Schönheit produziert hingegen eine Tendenz zur künstlerischen Sublimation, die den Blick, solange er sich unter Kontrolle hat, erlaubt. "Während das bewußte Individuum, das sich in der BanalitätsRolle gut eingerichtet hat, beim Anblick eines Busens nur dessen Unsichtbarkeit sieht, schaut sich ein heimliches Ich dessen Schönheit an und ein anderes, noch versteckteres, findet großen Gefallen an eher unzüchtigen Gedanken."14 Die Akteure am Strand verdeutlichen, daß zwar die Annahme einer fraglos gewordenen Norm hinfällig ist, es aber gleichzeitig unmöglich ist, "ohne Bezugnahme auf das Normale zu leben."15 Gesellschaft ist eine Fiktion, der wir nicht entfliehen können. Kaufmanns Studie über den Strand als Mikrokosmos führt vor, wie man über Nacktheit reden kann, ohne nur die Mechanismen der Distinktion diskursiv zu verdoppeln. Vorausgesetzt ist allerdings, daß die sozialen Akteure selbst befragt werden und zur Sprache kommen. Die Aufgabe des Soziologen ist es, diesen Diskurs der Akteure mit ihren Praktiken in Verbindung zu setzen, ihren eigenen wie denen der anderen. Geilheit und Gemütlichkeit, um es etwas profan auszudrücken, bzw. Sexualisierung und Banalisierung, erweisen sich gleichermaßen als basale Praktiken, die von den sozialen Akteure angeeignet werden müssen, wie andere Praktiken auch. Die Ästhetisierung kommt dabei, so Kaufmann, der Banalisierung zu Hilfe, um die Sexualisierung, die mehr Vorstellung als Wirklichkeit ist, auszubalancieren, und auf diese Art und Weise die "Strandruhe" zu sichern. Ob hierin auch jenseits des Strandes die gesellschaftliche Funktion der Ästhetisierung von Nacktheit zu sehen ist, wäre anhand anderer Situationen und körperlicher Praxen, sowie den von diesen Praxen hervorgebrachten kulturellen Artefakten und Diskursen zu überprüfen.

14 Ebd., S. 225. 15 Ebd., S. 291.

Abb. 1 Cote Aquitaine, Les Landes, Frankreich.

Über Pornographie und Obszönität Oder: Vom Altern der Begriffe Hans Richard Brittnacher

Der erste Teil der folgenden Ausfuhrungen gibt einen Einblick in den aktuellen Frontverlauf der Diskussion um die Pornographie und in die Geschichte des Genres. Der zweite Teil widmet sich Versuchen einer allzu leichtfertigen Rehabilitierung der Pornographie, der dritte Teil ihrer allzu vorschnellen Aburteilung.

Überblick "Stellen Sie sich vor" - so beginnt Catharine MacKinnon ihre unter dem Titel Only Words bekanntgewordene Philippika gegen die Pornographie in Bild und Schrift, daß über Hunderte von Jahren die traumatischen Erfahrungen, die sich Ihnen am stärksten eingeprägt haben, Ihr tägliches Leiden und Ihr Schmerz, der Mißbrauch, den Sie durchleben, der Terror, mit dem Sie leben, unaussprechlich sind [...] Sie wachsen damit auf, daß Ihr Vater Sie am Boden hält und ihren Mund verschließt, so daß ein anderer Mann einen fürchtbaren, reißenden Schmerz zwischen ihren Beinen verursachen kann. Als Sie älter sind, bindet ihr Ehemann sie ans Bett und tropft heißes Wachs auf ihre Brustwarzen und holt andere Männer dazu, die sich das ansehen, und er bringt Sie dazu, währenddessen zu lächeln.' Diese Vorgänge, die üblichen Inhalte jeder pornographischen Dutzendware, ob nun Buch oder Film, sind keine Metaphern, keine ima1

MacKinnon, Catharine: Nur Worte. Frankfurt/Main 1993, S. 9.

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ginären Inszenierungen sexueller Phantasien, sondern, so MacKinnon in ihrer Schmähschrift, verschwiegener pornographischer Alltag. In ihnen entlarvt sich die sexistische Praxis eines nur falschlich für angeschlagen gehaltenen Patriarchats, das mit brutaler Gewalt herrscht und seine Gewalt mit juristischer List absichert. Zu seinen tückischsten Winkelzügen gehört die Inanspruchnahme des Kunstvorbehalts für pornographische Darstellungen: Es seien schließlich, so die juristischen Befürworter der Pornographie, "nur Worte", nicht diese Gewalt selbst. MacKinnon behauptet das Gegenteil: Pornographie beschränkt sich nicht auf die Darstellung sexueller Gewalt gegen Frauen, sie ist Gewalt: Die mit Duldung des Gesetzes verübte Gewalt wird unter dem Schutz des Gesetzes abgebildet und mit Billigung des Gesetzes von Hand zu Hand weitergereicht; mit jeder Masturbation, dem letzten Zweck der Pornographie, werde die erste Schändung wieder erneuert.2 Wer unter Berufung auf den Kunstvorbehalt Pornographie verteidige, so der unmißverständliche Vorwurf MacKinnons, schände die Frau ein zweites Mal. MacKinnon polemisiert nicht nur mit beachtlicher rhetorischer Vehemenz, sondern in praktischer Absicht: Zusammen mit Andrea Dworkin, einer bekannten Aktivistin der Frauenrechtsbewegung, hat sie beim amerikanischen Bundesgerichtshof eine Klage eingereicht, die darauf abzielt, Pornographie von der im ersten Verfassungszusatz garantierten Redefreiheit auszunehmen. Sollte die Eingabe erfolgreich sein, können Frauen, die sich durch Pornographie beleidigt fühlen, auf Entschädigung klagen. Da der Tatbestand der Beleidigung sehr weit gefaßt ist, kann im Prinzip jede Frau klagen. Damit steigen, so das juristische Kalkül, die Kosten für mögliche Entschädigungen in so exorbitante Höhen, daß die Herstellung von Porno-

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MacKinnons Polemik berücksichtigt indes nicht, daß offene Gewalt im pornographischen Film die Ausnahme bleiben muß: "Der Pornofilm insgesamt enthält immer noch weit weniger Gewalt als das Mainstream-Kino. Die zentrale Dynamik des Pornofilms verlangt, daß Frauen als sexuell gierig geschildert werden, aber auch in ihrer Befriedigung vom Manne abhängig. Physischer Mißbrauch verletzt diese Dynamik." Lautmann, Rüdiger: Das pornographische Dilemma. In: Schuller, Alexander / Heim, Nikolaus (Hg.): Vermessene Sexualität. Berlin, Heidelberg u.a. 1987, S. 99-121, hier S. 111.

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filmen zu einem finanziellen Risiko wird, das kein vernünftiger Produzent mehr eingehen wird.3 Nach einer Minimaldefinition bedeutet Pornographie die explizite Darstellung von Geschlechtsteilen und sexuellen Handlungen zum Zweck der Stimulation von Leser, Betrachter oder Zuschauer. MacKinnons Totalverdächtigung der Pornographie ist weit entfernt, soviel dürfte offensichtlich sein, von der lange Zeit gültigen Behauptung, Pornographie sei die Stiefschwester der Aufklärung4 - sie kritisiere die Gesetze, die das Abbilden der Lust verbieten, greife die Konventionen an, die derlei ächten und attackiere die Hypokrisie, die derlei verschweige. Nach der moralischen und politischen Autonomie habe die Pornographie die Emanzipation des Körpers und seiner Bedürfnisse betrieben. Aus der Perspektive ihrer gutgläubigen Apologie hat sie sich sogar am Emanzipationskampf der Geschlechter beteiligt, weil ihre Darstellung erstmals die verborgene Wahrheit des weiblichen Begehrens enthüllt habe.5 Diese Position wird etwa von Historikern wie Robert Darnton6 oder Literaturwissenschaftlern wie Horst Albert Glaser vertreten.7 Offensichtlich schlägt das Pendel der Bewertimg der Pornographie nach beiden Seiten weit aus: In der Spannung zwischen der Aburteilung der Pornographie als einem justiziablen Delikt und ihrer Bewertung als einer von emanzipatorischer Energie beseelten Kunst

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Vgl. dazu: Vinken, Barbara: Das Gesetz des Begehrens - Männer, Frauen, Pornographie (= Einleitung). In: Cornell, Drucilla: Die Versuchung der Pornographie. Berlin 1995, S. 7-22, hier v.a. S. lOf. Vgl. etwa Brockmeier, Peter: Pornographie und Aufklärung. In: Mannheimer Blätter 9 (1974), S. 257-263. Vgl. dazu: Vinken, Barbara: Einleitung. Cover up - Die nackte Wahrheit der Pornographie. In: Vinken, Barbara (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. München 1997, S. 7-22, hier S. 8. Vgl. etwa Darnton, Robert: Denkende Wollust. Frankfurt/Main 1996. Ders.: Sex ist gut fürs Denken - von dem emanzipatorischen Potential der Pornographie: In: Lettre H. 27, 1994, S. 34-59. Glaser, Horst Albert (Hg.): Wollüstige Phantasie. Sexualästhetik der Literatur. München 1974. Kleine, Sabine (Hg.): Sade und .... Essays von Horst Albert Glaser aus dreißig Jahren. Stuttgart, Weimar 2000.

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zeigt sich eine für die Einschätzung des Genres charakteristische Ambivalenz.8 Das immer wieder zur Entlastung des inkriminierten Genres angeführte emanzipatorische Kapital erwarb sich die Pornographie bei ihrem Einsatz in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In den galanten Romanen des dixhuitieme, also jenen Büchern, die man nach einer Beobachtung Rousseaus "ne lit que d'une main",9 diente das pornographische Sujet nicht allein der mit der anderen Hand vorgenommenen Manipulation, sondern in erster Linie, darauf haben Historiker der Pornographie wie Jean Marie Goulemot oder Lynn Hunt hingewiesen, der Denunziation des sittenlosen Adels und des moralisch korrupten Klerus. Schlüpfrige Literatur wird mit besonderer Vorliebe fiktiven klösterlichen oder päpstlichen Druckerein untergeschoben,10 in einer Flut von Pamphleten wird am Vorabend der Französischen Revolution die Königin Marie Antoinette, in der Gebrauchsliteratur der Zeit sonst eher als eine Art schöne Seele gehandelt, hier wegen ihrer angeblichen erotischen Unersättlichkeit buchstäblich bloßgestellt; als besonders verwerflich erscheinen dabei die ihr mit großer Freude am Detail zur Last gelegten Eskapaden mit gleichgeschlechtlichen Liebespartnerinnen.1' Aus einer solchen Charakteristik des Adels als einer moralisch verkommenen und lüsternen Kaste leitet sich zwingend das empfindsame Selbstverständnis der bürgerlichen Kultur und der sentimentalen Liebesreligion ab: Bedrängt von einer lasterhaften Aristokratie berufen sich etwa Richardsons Heldinnen Pamela oder Clarissa auf die Tugend als eiserne Bastion moralischer Selbstvergewisserung. Diesem Tugendpathos entspricht der hohe Ausstoß an Briefromanen 8

Vgl. Bovenschen, Silvia: Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Anmerkungen zur Pornographie-Kampagne. In: Vinken, Barbara (1997), S. 5065. 9 Vgl. Goulemot, Jean Marie: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1993. 10 Vgl. Koschorke, Albrecht: Der Rückzug des Mannes aus dem Territorium der Lust. Nachwort zu: Gamiani oder Zwei Nächte der Ausschweifung (Alfred de Musset zugeschrieben), hg. von Michael Farin, Stuttgart 1992, S. 193-219, hier S. 193. 11 Hunt, Lynn: Obszönität und die Ursprünge der Moderne. In: Dies. (Hg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne. Frankfurt/Main 1994, S. 7-43, hier S. 32, S. 38.

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der Zeit, in denen geographisch weit voneinander entfernte Liebende12 sich in tränenseligen Episteln unendlicher Liebe und ewiger Treue versichern. Sah der Adel - in der pornographischen Karikatur, die sich das Bürgertum von ihm machte - , sein Ziel in der möglichst hohen Frequenz sexueller Aktivitäten mit wechselnden Objekten seiner Lust, beschwört das sentimentale Bürgertum die Intensität ewiger Liebe zu einem einzigen Partner. Diese Ideologie wird vom empfindsamen Roman und dem bürgerlichen Trauerspiel so konsequent ausbuchstabiert, daß sie auch vor dem Tod ihrer Protagonisten nicht zurückschreckt. Das literarisch vielleicht prominenteste Opfer nicht der höfischen Verfiihrungsgewalt, sondern einer Tugend, die über Leichen geht, wird bekanntlich Emilia Galotti.13 Die Monogamie, das romantische Liebesideal und die Identifizierung von Tugend mit sexueller Unschuld zählen zu den Lebenslügen des empfindsamen Zeitalters14 - denn auch eine Liebe wie die Werthers kann ihre Erfüllung, wenn nicht im Tode, nur Leib an Leib finden. Die literarische Kultur der Zeit jedoch hat die Rhetorik des Rühmens nur der Herzensaussprache angedeihen lassen; hier hat sie einem elaborierten Code des Austauschs von Seelen, von Empfindungen, von Blicken und bedeutungsvollen Gesten entwickelt - das Liebesspiel hingegen, der Austausch der Körpersäfte, die Berührungen und Verrenkungen der Leiber blieben unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des ästhetischen Bewußtseins. Die Gewalt des sexuellen Reizes, die Unmittelbarkeit physischer Erregung und die Umstandslosigkeit der sexuellen Entspannung taugten offensichtlich nicht zur Integration in einen Diskurs, der das Begehren, nicht seine Erfüllung auf Dauer stellen wollte.

12 Vgl. dazu Mattenklott, Gert: Schriftbilder. In: Ders.: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 132-162, hier v.a. S. 155-158. 13 So sehr fürchtet Emilia ihre Lust, daß sei den Tod aus der Hand des Vaters ersehnt: "Was Gewalt heißt, ist nichts; Verfuhrung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts." V, 7. Gotthold Ephraim Lessing: Werke Bd. II, Darmstadt 1996, S. 202. 14 Vgl. dazu Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und Künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main 1994.

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In einer am sexuellen Glück des Menschen strikt desinteressierten Gesellschaftsform blieb Pornographie marginal, ein buchstäbliches "Kavaliersdelikt", waren seine Konsumenten doch vornehmlich Männer, mochten auch die Texte, an denen sie sich delektierten, einem Gesetz der Gattung folgend, vorgeblich aus der Feder von Frauen stammen. Pornographische Romane gerieren sich bevorzugt als Autobiographien, die von gefallenen Mädchen erzählen, Opfer mißgünstiger Verhältnisse - wie John Clelands Fanny Hill - , oder als Lebensbeichten gealterter Matronen, die mit Pikanterien aus einem erfüllten Berufsleben zu unterhalten wissen wie etwa die Memoiren der Josephine Mutzenbacher.'5 Nur in Ausnahmen - etwa in Walters My secret Life - wendet sich auch ein männlicher Verfasser an seine Geschlechtsgenossen, um sexuellen Rapport zu erstatten. Für diese Literatur ist immer wieder eine nachträgliche Rehabilitierung gefordert worden, denn der hier artikulierte Körperdiskurs habe dem aufklärerischen Projekt die vernachlässigten oder sogar unterschlagenen Einsichten in die kreatürliche Seite des Lebens nachgetragen. Selbst dort, wo sie - wie etwa unter den Bedingungen der Zensur im viktorianischen England - heimlich bleibe, sei ihre sozialhygienische Bedeutung, die gelegentliche häusliche Suspendierung der Moral, kaum hoch genug einzuschätzen.'6 In dieser Rechtfertigung der Pornographie als einer unverzichtbaren Strategie im allgemeinen Emanzipationsdiskurs der Aufklärung oder zumindest ihrer Duldung als einer kathartischen Maßnahme artikuliert sich das Bild einer letztlich unproblematischen Sexualität. Allenfalls unter den Bedingungen der Repression neigt demzufolge das sexuelle Verlangen zu Devianz oder Gewalt.17 Im Naturzustand hingegen einer nicht verregelten und disziplinierten Sexualität erweise sich die erotische Appetenz als vitales Grundvermögen und anthropologische Voraussetzung des Glücks. Was in seiner puren physischen Präsenz nützlich und beglückend sei, könne als Abbil15 Vgl. Brittnacher, Hans Richard: Goldenes Herz, vergiftetes Geschlecht. Verfemung und Verklärung der Hure in Kunst und Literatur. In: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 2000, Bd. 5: Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts, hg. von Elfi Bettinger und Angelika Ebrecht, S. 147-168. 16 Vgl. Marcus, Steven: Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England. Frankfurt/Main 1979. 17 Vgl. Bovenschen, Silvia: Auf falsche Fragen..., S. 51.

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dung schwerlich Schaden anrichten.Wenn die Pornographie der von politischer oder moralischer Repression abgewürgten Sexualität wieder zum Leben verhelfe, sei dieser Beitrag zum Sozialfrieden nachdrücklich zu begrüßen statt zu ächten. Diese sozialhygienische Rehabilitierung der Pornographie trug dazu bei, über die ästhetische Armut ihrer Produkte großzügig hinwegzusehen. Hier sollen nur einige Stichworte daran erinnern: die mehr als durchsichtige autobiographische Fiktion, die wenig plausible Dominanz weiblicher Erzähler, die ermüdende Nachbildung des antiken Vorbildes der Hurengespräche, der zwangsläufig scheiternde Versuch, die isolierten sexuellen Akte ästhetisch zu integrieren, also die für die Gattung konstitituve Nummerndramaturgie zu überspielen, die ewigen Klischees der riesigen Penisse, der unzähligen Vaginas und der in Raserei vollzogenen Geschlechtsakte 18 und schließlich die Pedanterie eines Genres, das vorgibt, Enthemmung zu suchen, aber mit geradezu lexikalischer Gründlichkeit ein Register aller nur denkbaren sexuellen Positionen erstellen will.19 Ein anschauliches Beispiel für die Suche des Pornographen nach enzyklopädischer Vollständigkeit bildet de Sades Manuskript der Hundertzwanzig Tage von Sodom (1785), an dem der inhaftierte Marquis in der Bastille arbeitete. Um sein Werk vor den Wärtern zu verbergen, hat er ihm die Form eines Kassibers gegeben. Eine 11 Zentimeter breite und über 12 Meter lange Papierrolle verzeichnet über einen Zeitraum von 120 Tagen vier mal 150, insgesamt also 600 Perversionen. Das erste Quartal listet 150 eher durchschnittliche Perversionen auf, das zweite solche mit mehreren Partnern, das dritte die sogenannten kriminellen und das vierte schließlich die tödlich verlaufenden. 20 Die buchhalterische Obsession des pornographischen Autors für ein möglichst vollständiges Register der Lust und der blasphemische Wunsch des Freigeistes nach einer Schriftrolle der Ausschweifung finden in der Form des Manuskripts ihre Erfüllung.

18 Hunt, Lynn: Obszönität..., S. 34 19 Koch, Gertrud: Netzhautsex - Sehen als Akt. In: Vinken, Barbara (1997), S. 114128, hier S. 122f. 20 Vgl. dazu Brittnacher, Hans Richard: Delirien des Körpers. Phantastik und Pornographie im späten 18. Jahrhundert. Hannover 1998.

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Zur Kritik der Permissivität Die in aller Regel trostlose ästhetische Gestalt der Pornographie ist nicht der einzige Einwand gegen ihre behauptete emanzipatorische Leistung. Zumindest in drei Hinsichten muß sich das Plädoyer für die Pornographie der Naivität bezichtigen lassen. Es übersieht erstens die Konsequenzen, die sich aus der Einsicht in das "anthropologische Substrat" des Pornographischen ergeben, es verharmlost zweitens die Riskanz der Sexualität und es leugnet drittens den Umschlag der kritischen Dimension der Lust in die Affirmation des Zwangs zur Lust.

Erstens: Das "anthropologische Substrat" Es hat sich bewährt, bei pornographischen Texten und Bildern zwischen einer ästhetischen Bedeutung im engeren Sinne und einem anthropologischen Substrat zu differenzieren.21 In jedem pornographischen Text - noch mehr in Bildern und erst recht in Filmen fungieren einzelne Passagen oder Abläufe nicht nur in einem innerästhetischen Kontext, sondern eben auch als Auslöser sexueller Stimulationen.22 Dieses "anthropologische Substrat" des Pornographischen revidiert grundsätzlich jenes "interesselose Wohlgefallen", das seit Kant und der Philosophie des deutschen Idealismus die Autonomie des Kunstwerks zu verbürgen hat.23 Die Erfahrung pornographi-

21 Diese Unterscheidung wird erstmals diskutiert in der Auseinandersetzung mit dem Obszönen des Mittelalters im dritten Band der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik: Jauß, Hans Robert (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968, hier v. a. die Beiträge von H. R. Jauß (Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, S. 143-168) und von Wolf Dieter Stempel (Mittelalterliches Obszönität als literarästhetisches Problem, S. 187-206) und die entsprechenden Diskussionsprotokolle (S. 611-618). 22 Vgl. Gorsen, Peter: Das Prinzip Obszön. Kunst, Pornographie und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 102. 23 "Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit" ist der § 59 in Kants Kritik der Urteilskraft überschrieben, in dem die "Interesselosigkeit" als charakteristische und für die Autonomieästhetik folgenreiche Grundbestimmung des Ästhetischen

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scher Literatur ist mithin fast zwangsläufig ambivalent: Die kennerschaftliche Wahrnehmung des pornographischen Kunstwerks, von ästhetischer Distanz beherrscht, wird noch im gleichen Rezeptionsvorgang, sobald die sinnliche Erregung die Oberhand gewinnt, wieder aufgehoben. Der verführerische Gedanke, die ästhetische Leistung danach zu bemessen, wieweit ein Text bei aller sexuellen Stimulation noch ästhetische Distanz zuzulassen vermag, muß sich für ein Genre verbieten, das eben die sexuelle Erregung als Nachweis seiner ästhetischen Wirkung anstrebt. Die physische Erregung ist im Falle der Pornographie eben nicht die pathologische Kehrseite einer identifikatorischen Lektüre wie bei jenen jungen Männern, die sich nach der Lektüre des Werther in kanariengelben Hosen das Leben nahmen, sie ist vielmehr gewollt und ein Maßstab des ästhetischen Gelingens. 24 Das Argument des unvermeidlichen anthropologischen Substrats der Pornographie tangiert auch Überlegungen, die Susan Sontag 1962, in einem seinerzeit bahnbrechende Essay zur pornographischen Phantasie entwickelt hat. Sie spricht der pornographischen Literatur ästhetische Dignität zu, weil sie mit Verfremdungen arbeite, die nicht auf das Wiedererkennen einer alltäglichen Welt abzielen, sondern ihre Stimulationen aus bloßen Vorstellungen beziehe, aus ideellen Inszenierungen. In der Perspektive Susan Sontags erscheinen pornographische Romane wie die von Georges Bataille oder Dominique Aury als ästhetische Exerzitien, als Kammermusik des sexuellen Begehrens. Mit ihrer Behauptung, eine hohe Autoreferentialität sei ein charakteristisches Strukturmerkmal der Gattung, nähert sie die Pornographie dem Selbstverständnis der klassischen Moderne an. Für einstatuiert wird. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Gerhard Lehmann, Stuttgart 1963, S. 305-310, hier S. 309. 24 "Die sinnliche Wirkung künstlerisch gestalteter erotischer Motive auf den Beschauer ist ganz zweifellos [...]. Gerade diese Wirkung ist einer der wichtigsten Maßstäbe für ihre Qualität." Fuchs, Eduard: Geschichte der erotischen Kunst. Bd. 1, München 1908, S. 68. Den Zweck literarischer Pornographie hat der Marquis de Sade in den 120 Tagen von Sodom freimütig bekannt: "Viele der Verirrungen", heißt es in einer der Apostrophen an den Leser, "die du geschildert sehen wirst, werden dir mißfallen, man weiß es, aber es werden sich auch einige finden, die dich derart entzücken werden, daß es dir den Samen kosten wird, und das ist alles, was wir wollen." Marquis de Sade: Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder die Schule der Ausschweifung. Dortmund 1979, S. 88.

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zelne Werke des pornographischen Kanons mag dies zutreffen - für den Großteil dieser Literatur, und sei es auch nur für die wenigen Werke von Rang, ist sie eher abwegig. Die Mutmaßung schließlich, wegen der hohen Selbstbezüglichkeit dieser Literatur seien es "in erster Linie andere pornographische Bücher, an die das pornographische Buch den Leser denken lassen kann, nicht hingegen das unmittelbare Phänomen des Sexuellen"25 stellt sie den Sachverhalt der sexuellen Stimulation buchstäblich auf den Kopf. Nicht Erregung sei der eigentliche Zweck der Pornographie, suggeriert Susan Sontag damit, sondern die Vermittlung von Lektüreempfehlungen.

Zweitens: Das Risiko der Sexualität In einer anderen Hinsicht jedoch zeigen sich Susan Sontags Ausführungen dem allzu blauäugigen Vertrauen in die heilsamen Effekte der Pornographie überlegen. Während die Kompensationstheorie den Protagonisten der Pornographie als das kraftmeierische alter ego eines verklemmten Lesers sieht, erkennt Susan Sontag in ihm eher das Opfer der Sexualität. Damit verweist Sontag auf die von den Befürwortern pornographischer Freizügigkeit allzu geflissentlich übersehene Riskanz der Sexualität. Wenn MacKinnon von einer an sich unproblematischen Sexualität ausgeht, die erst durch ihre männliche Handhabung verdorben werde, verfällt auch diese Art des Feminismus dem Irrtum, Sexualität mit einer nur geringfügig intensivierten Zärtlichkeit zu verwechseln, also ihre elementare und gelegentlich auch verstörende Dimension zu leugnen. Wenn Pornographie das Ergebnis einer kulturelles Diskurses ist, der auf eine von der bürgerlichen Moral in den Himmel gehobene Weiblichkeit mit deren totaler Sexualisierung zum allzeit willigen Sexualobjekt im pornographischen Bild reagiert, dann bewegt sich auch MacKinnon mit ihrer Unterstellung einer guten weiblichen und einer bösen männlichen Sexualität im Rahmen einer von der Pornographie eifrig gepflegten Lüge. MacKinnon verdoppelt, was sie bekämpfen will.

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Sontag, Susan: Die pornographische Phantasie. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt/Main 1982, S. 48-87, hier S. 63.

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Sexualität beschränkt sich nicht auf physische Zärtlichkeit und noch weniger auf die quietschvergnügte Akrobatik, als die sie vom Hardcore-Video dargestellt wird, sie hat auch eine dunkle Seite, von der mitunter auch weibliche Protagonisten in Romanen weiblicher Autorinnen phantasieren - etwa die Titelheldin aus Pauline Reages bzw. Dominique Aurys Madame O. Wer dieses düstere Verlangen leugne, trägt dazu bei, Sexualität zu "den Zimperlichkeiten einer Streichel- und Fummelerotik" zu verniedlichen.26 Jede von bestimmten Zwecken entbundene Sexualität enthält ein hohes Maß an destruktiver Energie, kennt, wie Walter Benjamin einmal bemerkt hat, "den Begriff des Genug überhaupt nicht".27 Durch nichts ist erwiesen, daran hat Albrecht Koschorke erinnert, "daß Lust eine besonders innige Bindung an den Akt der Befreiung unterhält."28 Nur die wenigsten Pornographen haben den destruktiven Impuls der Sexualität zugestanden, einer immerhin, der Marquis de Sade, ist auch "der ultimativen logischen Möglichkeit von Pornographie nachgegangen [...]: der Vernichtung des Körpers, dem wahren Ort der Lust, im Namen des Begehrens."29 Während sich das Pornographische auf eine letztlich gefällige Darstellung der Erotik kapriziert hat, die von angeblich geschmackvollen Aktfotos im Playboy bis zu den Hardcore-Produktionen der Video-Branche reicht, hat sich der ursprünglich kritische Impuls in die Kunst des Obszönen gerettet. Zwar bedient auch der VideoMarkt die eher unansehnlichen Bedürfnisse eines abweichenden sexuellen Geschmacks, aber auch dieser Mut zum Häßlichen geht konform mit den Gesetzen des Marktes und den Bedürfnissen einer Kundschaft, die ihrer in die Jahre gekommenen Sexualität mit allerlei Abwechslung auf die Sprünge helfen will. Die obszöne Literatur hingegen hat immer den ihr zugewiesenen Platz im Reservat heimlicher Duldung verweigert - das Obszöne will den Skandal, greift den eingespielten gesellschaftlichen Konsens an, verletzt Tabus, hinterfragt Normen und Konventionen. Das Obszöne sucht nicht den schnellen Reiz und die schnelle Entspannung, lügt sich nicht die Vi26 Bovenschen, Silvia: Auf falsche Fragen..., S. 64. 27 Zit. nach Gorsen, Peter: Das Prinzip Obszön..., S. 29. 28 Koschorke, Albrecht: Die zwei Körper der Frau. In: Vinken, Barbara (1997), S. 66-91, hier S. 85. 29 Hunt, Lynn: Obszönität..., S. 32.

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sion unproblematischer Verfügbarkeit zurecht, sondern beharrt auf seiner Einsicht in die trostlose soziale und biologische Verfassung der menschlichen Natur. Deshalb gelangen hier auch die von der Pornographie unterschlagenen, abstoßenden und schockierenden Seiten der menschlichen Sexualität zur Darstellung. Der Autor obszöner Bücher flüchtet sich nicht in verschämte Anonymität, sondern bekennt sich selbstbewußt zur schamlosen Abweichung: Im Land der Heuchler darf sich der obszöne Literat, selbst ein dirty old man wie Charles Bukowski, als Ehrenmann verstehen. Das Obszöne will der heterosexuellen Normalität eher die Lust austreiben als sie ihr schenken: Es attackiert die Gleichheit der Geschlechter, die selbstverständliche Aufteilung der Rollen, die Nützlichkeit des sexuellen Aktes, die Ästhetik der daran beteiligten Körper. Während die Pornographie die Anerkennung der geleugneten Schönheit der Sexualität verlangt, beharrt das Obszöne auf ihrer Häßlichkeit, ihrer Anstößigkeit und ihrer Unverfügbarkeit. Das Obszöne ist gewissermaßen eine Travestie des Erhabenen: die Unbedingtheit, die Gewalt des Überfalls, die Plötzlichkeit, der Schock, die Radikalität des Geschehens, der Absturz in eine Erfahrung des Absoluten, der Schwindel, die Unberechenbarkeit - all dies kann auch im Erlebnis sexueller Erfüllung geschehen. Doch dient es hier nicht dazu, dem Subjekt die Unhintergehbarkeit seiner Intelligibilität zu demonstrieren und damit die Geltung des Sittengesetzes glanzvoll zu bestätigen; hier wird vielmehr das unbändige Verlangen von Körpern nach anderen Körpern als unausweichliches Triebschicksal beschrieben, das den Beteiligten eher den Verstand raubt als ihnen die Unantastbarkeit ihrer Vernunft zu bestätigen. Den Kategorien bildungsbürgerlicher Erbaulichkeit, Heroismus und Entsagung, stellt das Obszöne Vitalität und unendliches Begehren als seine Leitbegriffe entgegen.

Drittens: Von der Lust zum Zwang Doch gehören die bislang referierten Überlegungen eher zur Vorgeschichte der Pornographie. Denn mittlerweile hat die Pornographie eine vor Jahren noch für unmöglich gehaltene Akzeptanz in den Medien gefunden. So unterschiedliche Theoretiker wie Lyotard, Neil

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Postman oder Giorgio Agamben kommen im Befund einer universalen Pornographisierung der Gesellschaft überein. Die Werbung ist längst schon von der Logik des Obszönen beherrscht,30 Pornostars schlagen Karrieren als Popsängerinnen ein und zieren mit Kurzauftritten Familienshows, in den Talkshows des Nachmittagsfernsehens verbreiten sich Rentner offenherzig über ihre Vorlieben für Lackstiefeletten und Intimschmuck. Von der erschütternden Dimension der Sexualität ist hier nur mehr wenig zu spüren - eher herrscht eine in ihrem ostentativen Gleichmut fast schon unheimliche Gemütlichkeit des Sexuellen - alles ist erlaubt, alles geht, alles ist "easy". Die Warnung, die Foucault 1975 in seinem Buch Sexualität und Wahrheit ausgesprochen hat, "Glauben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt",31 hat mittlerweile an Gewicht gewonnen - denn das Plädoyer für größere Freizügigkeit im Umgang mit sexueller Freizügigkeit hat zu einer Art öffentlichem Terror mit Freizügigkeit gefuhrt: Von Reklametafeln und Bildschirmen grinst uns täglich eine gutgelaunte Pornographie an und fordert uns zum Mittun bei sexueller Fitneß und Fröhlichkeit auf: Nach der "make love not war"-Idylle der Hippie-Ära wird in diesem "anything goes" der sexuellen Permissivität eine weitere Variante der von Herbert Marcuse auf den Begriff der "repressiven Entsublimierung" gebrachten Gewalt sichtbar. In dem Maße freilich, in dem die Pornographie salonfähig wird, löst sie sich auf. Schon de Sade hat gewußt, wie unverzichtbar die Tugend fürs Laster ist. "Es ist immer nur so viel Glück möglich [...], wie Verbote zu brechen sind und [...] alles Glück hört auf, wenn man ihm sein Unrecht nimmt."32 Mittlerweile hat die Pornographie, wohl nicht zuletzt durch die Entwicklung der Videobranche, die offenbar die sexuelle Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellt, eine zwar universale Verbreitung gefunden, aber dabei einen erheblichen Teil ihrer vormals so provozierenden Wirkung eingebüßt. Angesichts dieses Sachverhalts ist es absurd, auf die Argumente MacKinnons, die sich von der sexuellen Trostlosigkeit der HardcoreVideos zu Überlegungen einer juristischen Behaftung der Pornogra30 So der Befund von Willemsen, Roger: Über das Obszöne. In: Vinken, Barbara (1997), S. 129-148. 31 Zit. nach Bovenschen, Silvia: Auf falsche Fragen..., S. 50. 32 Zit. nach Gorsen, Peter: Das Prinzip Obszön..., S. 9.

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phie verleiten läßt, mit der Apologie der Pornographie durch Susan Sontag zu antworten, die bei Pornographie an Jean Genet oder Paolo Pasolini denkt. Die moralische Integrität, mit der MacKinnon gegen die Pornographie zu Felde zieht, ist unstrittig - umgekehrt sind die Behauptungen von der Harmlosigkeit pornographischer Darstellungen in ästhetiktheoretischer Hinsicht zumindest strittig und in moralischer Hinsicht bedenklich, weil unter der Gewalt, von der Sexualität erfüllt ist, auch ihre Abbilder leiden. Aber bei allem Respekt für den Kreuzzug von MacKinnon dürfen ihre Einsichten doch nicht das letzte Wort in der Debatte zum Umgang mit der Pornographie bleiben.

Kritik am Verbot Zumindest vier Aspekte des pornographischen Komplexes werden von MacKinnon übersehen oder falsch bewertet: Die Existenz homosexueller Pornographie, die theoretische Schlichtheit ihrer behavioristischen Grundannahmen, die schief gesehene Rolle des männlichen Protagonisten und schließlich neue Tendenzen des Pornographischen beeinträchtigen die Triftigkeit von MacKinnons Argumentation. Erstens: Während der weitaus größte Teil der Pornographie heterosexuell codiert ist, bedient ein kleineres Segment auch den homosexuellen Markt. Die homosexuelle Pornographie ist nur im Detail, nicht in der Sache von den Heteropornos unterschieden: In der pragmatischen Dimension, der Erzeugung eines sexuellen Reizes, stimmt sie mit diesen überein. Auch sie beliefern ihre Kunden mit einer klischeegesättigten Nummerndramaturgie, auch in den hier inszenierten Kopulationen nehmen die Akteure passive und dominante Positionen ein usf. Sie ähneln den Heteropornos bis aufs I-Tüpfelchen, nur daß alle Rollen ausschließlich von Männern - bzw. in lesbischen Pornos ausschließlich von Frauen - besetzt sind. Damit wird MacKinnons Behauptung hinfällig, das Wesen der Pornographie bestehe in der Entwürdigung und Degradierung von Frauen. Wenn sie hingegen im Homosexuellen-Porno die Übernahme des heterosexuellen Rollenrepertoires erkennt, muß sie sich ein dogmatisches Sexualverständnis nachsagen lassen und zudem ihre Position einer

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grundlegenden männlichen Suprematie in der Pornoindustrie relativieren. Zweitens: MacKinnon "konstruiert das männliche Begehren nach dem Modell des Pawlowehen Hundes"33 - der Anblick einer pornographischen Szene führt nach dem stimulus-response-Schema unweigerlich zu sexueller Erregung, und diese sexuelle Erregung nach dem gleichen behavioristischen Modell unweigerlich zu sexueller Gewalt. Es gehört zu den älteren ideologiekritischen Einsichten, daß die Pornographie die sexuelle Disposition der Geschlechter umlügt. Die Pornographie behauptet, was empirisch mehr als zweifelhaft ist: die Frau will immer, der Mann kann immer. Die zweite dieser Lügen hat sich jedoch auch MacKinnon zu eigen gemacht: Die Rolle des Mannes als dominanter Liebhaber, der durch seine sexuelle Kraft die Frau zur Geschlechtlichkeit erweckt, womit er sich seinen Status als das erhabene, kontrollierende, schöpferische Subjekt bestätigt, wird ihm, wenn auch nicht im pornographischen Tonfall der Bewunderung, sondern im feministischen der Verachtung, auch von MacKinnon zugeschrieben. Statt die Ideologie der Pornographie zu analysieren, übernimmt MacKinnon gewissermaßen dankbar deren falsche Grundannahmen, um daraus eine geschlechtsspezifische Kritik der pornographischen Moral der Pornographie abzuleiten.34 Drittens: Wenn es auch außer Frage steht, daß sich das pornographische Szenario einer männlichen Perspektive verdankt, daß sogar die serialisierten Produktionen der Videobranche vornehmlich männliche Seh-Sehnsüchte geradezu am Fließbande abfertigen, hat doch der Mann in der Pornographie seine Glanzzeit hinter sich. "Konnten die Libertins des Ancien régime noch ihre soziale Überlegenheit ausspielen und einen teils herablassenden, teils sachlichen Umgang mit den Objekten ihrer Lust pflegen, so betritt der bürgerliche Protagonist gleichsam mit gesenktem Kopf die Arena. Immer mehr sexuelle Initiative wächst der Frau zu, und immer mehr wird der Mann zumindest scheinbar zur Randfigur in diesem von ihm selbst in Szene gesetzten Spiel."35 Gewiß verlangt es die männliche Perspektive, daß das Auge der Kamera eher den Körper der Frau erfaßt als den des Mannes, aber auf dem weiblichen Körper liegt auch 33 Vinken, Barbara: Cover up, S. 11. 34 Vgl. auch Butler, Judith: Schmährede. In: Vinken, Barbara (1997), S. 92-113. 35 Koschorke, Albrecht: Die zwei Körper..., S. 86.

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der Glanz der Inszenierung. Und während die Gesichter der Männer kaum gezeigt werden, will sich die Kamera den Orgasmus der Frau, so wie er sich in ihrem Gesicht abzeichnet, auf keinen Fall entgehen lassen. Die eher unansehnlichen männlichen Darsteller, die "wenig imponierenden Identifikationsfiguren [deuten] darauf hin, wie sehr sich die Hauptzielgruppe der Konsumenten durch eigene Phantasmen in Bedrängnis gebracht fühlt, wie sehr sie mit einem fast feierlichen Respekt vor dem zurückweicht, was ihr als Wunschbild vor Augen steht."36 Diese Überlegung Koschorkes findet ihre Bestätigung in den vielfaltigen Formen einer pornographischen Alltagskultur, die sich wie konzentrische Ringe um die Wachstumsbranche Pornographie gelegt haben: Auf Erotik-Messen verteilen weibliche Pornostars Autogramme wie früher nur Schriftsteller oder Schlagerstars; unzählige Fanclubs erweisen einzelnen Pornodiven eine fast kultische Verehrung, wobei für die Fans im Umgang mit ihren Stars die Berührungstabus einer aristokratischen Distinktionskultur gelten; in der Sado-Maso-Szene ist die Rollenverteilung von weiblicher Domina und männlichem Sklaven so obligatorisch wie in Rollenspielen, die den weiblichen Akteuren den Habitus einer unantastbaren Hoheit verleihen. Mit MacKinnons Vorstellung des pornographischen Szenarios, in dem männliche Zuchtmeister über gedemütigte Frauen triumphieren, ist diese Entwicklung nur schwer zu begreifen. Viertens: Bei der umfassenden Pornographisierung der Gesellschaft fallen zunehmend Selbstdarstellungen der Sexualität auf, die bislang in sexologischen Handbüchern mit dem Etikett körperferner Perversionen versehen waren. In erster Linie gehört dazu der Fetisch-Bereich, in dem sich das sexuelle Verlangen stärker auf das Accessoire als seinen Träger - oder seine Trägerin - richtet; der Voyeurismus hat an Prestige gewonnen und etabliert sich zunehmend als eine keimfreie sexuelle Praktik; auch in der Mehrzahl sadomasochistischer Kontake geht es gerade um die Vermeidung des Austauschs von Körpersäften; hautenge Latex- oder Gummianzüge unterbinden die Vereinigung der Körper und fordern Lust explizit als Selbstgenuß; zahlreiche Rollenspiele beziehen ihren besonderen Kitzel gerade aus der Verweigerung der sexuellen Vereinigung; von den Möglichkeiten, die sich einem kontaktfreien Cybersex und der virtu-

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Ebd., S. 88.

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eilen Erotik abgewinnen lassen, schwärmt die Branche schon seit Jahren; flagrant wird die Verbreitung einer sich zunehmend vom Körper isolierenden Sexualität in dem mittlerweile flächendeckenden Angebot zur Triebabfuhr, das der Telekom zu ihren Gewinnen verhilft. In diesen Varianten sexueller Lust spielt die leidenschaftliche oder auch aggressive Konfrontation der beiden Geschlechter und ihrer Körper eine immer geringere Rolle - MacKinnon hat, so gesehen, einer Pornographie den Krieg erklärt, die bereits den Rückzug angetreten hat. Tatsächlich hat sich mittlerweile die Pornographie in der kulturellen Wahrnehmung einen Rang erobert, der Rückschlüsse auf eine fast schon beklemmende Harmlosigkeit ihrer Produkte erlaubt: Nacktheit, lange verpönt und noch in den 70er und 80er Jahren eher eine Rarität auf dem Bildschirm, präsentiert sich mittlerweile flächendeckend als natürliche, sportliche, jugendliche und unschuldige Erotik aus eigenem Recht - und zeigt dabei eine sonderbare Komplizenschaft von Exhibitionismus und Voyeurismus unter dem Diktat der Medienwelt. Die Selbstdarstellung des pornographischen Gewerbes auf Erotik-Messen unterscheidet sich nur noch im Mehr an nackter Haut von Schlagerwettbewerben oder der Animation in Großdiskotheken. Aus dem parfümierten Halbdunkel der Boudoirs ist die Pornographie ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit getreten und verbreitet statt schwüler Stimmung die gute Laune eines Breitensportevents. Nur noch selten noch kommt es in dieser fröhlichen Aufgeräumtheit, die sich ihrer Toleranz unerschütterlich sicher scheint, zu Verstörungen, die noch an den einstigen Skandal des Obszönen erinnern. Zumindest auf zwei Ausnahmen sei abschließend kurz hingewiesen. Bret Easton Ellis hat mit seinem 1991 erschienenen Roman American Psycho für einen Skandal gesorgt, der nicht nur verbissene Tugendwächter nach dem Zensor rufen ließ. Der Roman Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt, 1906 anonym erschienen, dessen jeweilige Neuauflagen immer schon von Verboten begleitet waren, ist auch in den letzten Jahren wieder mehrfach Gegenstand juristischer Auseinandersetzung gewesen. Beiläufig sei angemerkt, daß die Verfasserschaft so ungeklärt nicht ist, wie es die Fama des anonymen pornographischen Kunstwerks will. Mit einiger Wahrscheinlichkeit

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stammt der Roman aus der Feder von Felix Saiten, einem Vertreter der Wiener Moderne, der als Autor des weltberühmten Kinderbuchs "Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Wald" bekannt geworden war. Seine Zeitgenossen waren von der Autorschaft Saltens, die er selbst zeitlebens leugnete, so überzeugt, daß sie ihm den wenig schmeichelhaften Beinamen eines "Rehsodomiten" verliehen.37 Was die beiden Texte, die sonst nichts miteinander gemein haben, zu Gegenständen besonderer Empörung qualifiziert, sind Darstellungen einer devianten Sexualität, mit der sich auch das freimütigste Publikum nicht ohne weiteres anzufreunden vermag. Im Fall von American Psycho sind es gewaltpornographische Passagen, die zwar nicht einmal ein Zehntel des voluminösen Romans ausmachen, aber doch von solcher Brutalität und Präzision sind, daß nur ein abgebrühter Leser davon unbeeindruckt bleiben kann. Im Fall der Mutzenbacher ist es der Sachverhalt des Inzests, genauer des sexuellen Mißbrauchs der Tochter durch den eigenen Vater und die von dem minderjährigen Mädchen behauptete große Lust bei ihrer Schändung, die eine mittlerweile in Fällen der Pädophilie hellhörige Gerichtsbarkeit aktiv werden ließ und immer wieder zu Beschlagnahmungen des Romans führte. Gewiß handelt es sich bei American Psycho um eine Satire auf die Reagan-Ära, die deren unbarmherzige Ökonomie in der verdinglichenden Gewalt abbildet, mit der Pat Bateman, der psychisch retardierte Held, Frauen zur Tode foltert. Und gewiß fehlt es der Mutzenbacher nicht an Empathie für sexuelle Not, an atmosphärischem Reichtum und an historischer Dichte, die dem Roman zumindest historischen Repräsentanzwert verleihen. Doch geht es mir eben nicht um die ästhetische Entschuldigung der Pornographie und die Behauptung ihrer Unschädlichkeit, sondern im Gegenteil um die Anerkennung ihres Risikos. Inmitten der vergnügten Indifferenz, des bereitwilligen Einverstandenseins mit allem, was in seiner polierten Oberflächlichkeit nach Belieben gedankenlos und rücksichtslos sein darf, wenn es nur mediale Aufmerksamkeit einbringt, erwerben sich vielleicht auch die unmoralischen, risikoreichen Texte der Pornogra37 Vgl. den instruktiven und amüsanten Beitrag von Dietmar Schmidt und Claudia Ölschläger: "Weibsfauna". Zur Koinzidenz von Tiergeschichte und Pornographie am Beispiel von "Bambi" und "Josefine Mutzenbacher". In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne, H. 2 (1994), S. 237-286.

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phie, die an die Verzweiflung des sexuellen Begehrens und seine desintegrierende Kräfte erinnern, eine gewisse Größe. Durch Verbote lassen sich Bücher oder Filme beseitigen, aber keine Empfindungen. Zur Exekutive gehört zwingend die Blindwütigkeit - wer den Staat anruft, muß mit dem Schlimmsten rechnen. Mag sein, daß eine kulturell produzierte Ungleichheit der Geschlechter von der Mainstream-Pornographie immer noch auf spektakuläre Weise bestätigt wird - aber mit der Abschaffung der Abbilder werden sich kaum die Urbilder ändern. Eine Gesellschaft, die sich das Risiko der Pornographie nicht zumuten will, es sogar via Dekret verbieten wollte, droht sexuelle und ästhetische Uniformität. Mit anderen Worten, pornographische Darstellungen sollen nicht deshalb erlaubt bleiben, weil sie harmlos sind, sie sollten vielmehr nicht verboten werden, obwohl sie gefährlich sein können.

III. Nacktkultur um 1900 Postadamitische Rache am Sündenfall? Nacktheit in Kultur- und Sittengeschichten der Jahrhundertwende

Kerstin Gernig

Wie facettenreich das Thema der Nacktheit in historischer Hinsicht ist, hat niemand besser als Oliver König in seiner gleichnamigen Studie gezeigt.1 Ebenso hat Hans Peter Duerr in seinem vierbändigen Werk Der Mythos vom Zivilisationsprozeß eine enorme Materialfülle zu den Themen Nacktheit und Scham in kulturanthropologischer Perspektive ausgebreitet.2 Im Anschluß an diese prominenten Spezialisten der 'Nacktheitsproblematik' werde ich mich im folgenden darauf beschränken, einige Aspekte, die die Thematisierung, Inszenierung und Bewertung der Nacktheit in Kultur- und Sittengeschichten der Jahrhundertwende kennzeichnen, aufzuzeigen. Nacktheit avancierte zu einem der zentralen Themen schlechthin um die Jahrhundertwende. Weshalb allerdings Themen wie Nacktheit, Erotik, Sexualität und Prostitution in dieser Zeit in Kultur- und Sittengeschichten vehement und leidenschaftlich thematisiert worden sind, wird erst vor dem Hintergrund der Moral- und Sittenkodizes der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verständlich. Der Mentali1

König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1991.

2

Vgl. Duerr, Hans Peter: Bd. 1: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfurt/Main ( 2 1988); Bd. 2: Intimität. (1994); Bd. 3: Obszönität und Gewalt. (1995); Bd. 4: Der erotische Leib. (1999).

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tätshistoriker Alain Corbin bezeichnete das 19. Jahrhundert auch als neugieriges Jahrhundert, "das stets mit einem Auge oder Ohr am Schlüsselloch hing."3 Die Schlüssellochperspektive verspricht das Erspähen, wenn nicht von Verbotenem, so doch zumindest von Privatem oder auch Intimem. Erst das Verbotene macht den Reiz und erst das Tabu ermöglicht den Tabubruch. Und so erklären Kleiderordnungen, Sitten- und Moralkodizes auch, weshalb der Akt durchs Schlüsselloch bzw. in Kultur- und Sittengeschichten gesucht werden mußte. Im 19. Jahrhundert kristallisierten sich vielfaltige Rituale zur Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit heraus. Aufschlußreich dafür ist u.a. die Geschichte der Mode, die Konventionen und Riten des öffentlichen Auftritts spiegelt.4 So verlangte die viktorianische respektive wilhelminische Moral in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine immer rigidere Einschnürung und Verhüllung des Körpers. Die Kleiderrituale veränderten sich. Vom engen Halsausschnitt bis zum Knöpfstiefel wurde der weibliche Körper unter vielfachen Hüllen zunehmend verborgen.5 Der Sittenhistoriker Eduard Fuchs konstatiert in diesem Zusammenhang in seiner Illustrierten Sittengeschichte aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: "das Hauptwesen des äußeren Anstandes besteht in der möglichst restlosen Ausschaltung alles Geschlechtlichen im öffentlichen Gebaren."6 Sexualität, als Gegenpol rationalistischer Lebensführung, wurde als Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung betrachtet, weshalb versucht wurde, sie so weit wie möglich zu tabuisieren. Um erotischen Konnotationen vorzubeugen, wurden Euphemismen für Körperteile und Kleidungsstücke gleichermaßen erfunden. So hießen die rüschenschweren, wadenlangen Unterhosen der Damen im Engli3

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Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt/Main 1992 (Paris 1987). Darin: Alain Corbin: Kulissen, S. 422. Vgl. dazu auch Alain Corbin: Kulissen, in: Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg. Frankfurt/Main 1992 (Paris 1987), S. 419-, hier S. 458ff. Vgl. Boehn, Max von: Die Mode eine Kulturgeschichte vom Barock bis zum Jugendstil. München "1989, S. 236-339 Fuchs, Eduard: Illustrierte Sittengeschichte. Ausgewählt und eingeleitet von Thomas Huonker. 6 Bde. Frankfurt/Main 1995, Bd. 5; Das bürgerliche Zeitalter 1, S. 90.

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sehen unspeakables oder auch inexpressibles, während Brust und Busen im Deutschen nur noch als Büste und das Geschlecht der Frau, wenn überhaupt, als Scham bezeichnet wurden. 1893 wurde in Holland das Aufhängen weiblicher Leibwäsche in der Öffentlichkeit verboten und 1898 in Philadelphia beschlossen, jeden Hinweis auf Damenunterwäsche zu vermeiden. 7 Dementsprechend war eine Frau auch nicht schwanger, sondern in "anderen Umständen". Zentrales Kennzeichen der die wilhelminische Doppelmoral kennzeichnenden Prüderie war, selbst das Harmloseste immer latent zweideutig wahrzunehmen. Eduard Fuchs und viele seiner Zeitgenossen wie auch Hermann Graf Keyserling haben die Jahrhundertwende als eine Zeit charakterisiert, in der die gesamte Phantasie von erotischen Vorstellungen gesättigt war, so daß selbst Aktskulpturen öffentlicher Brunnenanlagen anrüchig werden konnten: Alles Nackte ist verpönt, denn es ist schamlos, ist Nudität. Vor einer nackten Statue oder einem Bilde mit nackten oder halbentkleideten Figuren stehen zu bleiben, verrät unsaubere Wünsche und Begierden. Anständige Menschen kennen nur den bekleideten Menschen. 8

(Abb. 1) Doch auch der bekleidete Mensch vermag sich bekanntlich durchaus erotisch zu inszenieren, sei es durch figurbetonte Kleidung wie das die Taille einschnürende, Brust und Hüften besonders betonende Korsett, sei es durch die Inszenierung eines Geheimnisses, das es unter Krinoline und Unterröcken zu entdecken galt, sei es durch raffinierte Decolltés und Dessous, die durch die Bewegungen entsprechend zur Geltung gebracht wurden. Und so schreibt Fuchs auch über die Psychologie der weiblichen Kleidung: Der Zweck der Oberkleidung ist stets Verführung im allgemeinen, der der Dessous vor allem Verführung des einzelnen und Stimulans des begünstigten Mannes. Je tiefer man daher in die Untergründe der weiblichen Kleidung eindringt, um so komplizierter und zugleich die Sinne berauschender wird diese: Spitzen, Stickereien Bänder, Schleifen, duftige Batiste, raffinierte Farbenkontraste usw. Es steckt natürlich ein sehr tie-

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Vgl. dazu auch Stratz, Carl Heinrich: Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung. Stuttgart (1900) 5 1922, S 6f. Fuchs, Eduard: Illustrierte Sittengeschichte, Bd. 5: Das bürgerliche Zeitalter I, S. 95. Vgl. auch ebd., S. 92.

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Kerstin Gernig fer Sinn in alledem. [...] Es ist in der Tat eine der wichtigsten Lösungen der der Frau von der Natur zugewiesenen Aufgabe: sich bei ihren Werbungen durchaus passiv gegenüber dem Mann zu verhalten und ihn doch aufs raffinierteste zu verführen und vor allem immer von neuem unwiderstehlich in ihren Bann zu zwingen.9

Der Verpackungskünstler Christo hat also durchaus nicht als erster die Psychologie des Verborgenen durchgespielt. Erst die Verhüllung reizt die Phantasie und provoziert das komplementäre Bedürfnis der Enthüllung. Dieses Verhältnis von Kleidung und Nacktheit scheint an Raffinement im Fin de siècle seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Dazu ein beredtes Beispiel aus Hermann Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen (1914-1918): [...] es ist nicht zu viel zu behaupten, daß die Luft auf einem 'bal blanc' in Frankreich schwüler ist, als die in einem japanischen Freudenhaus. Nichts gibt es an der europäischen Frau, vom durchbrochenen Strumpf bis zur Reinheit und Unschuld, die sie zur Schau trägt, das nicht aufs raffinierteste darauf berechnet wäre, das Begehren des Mannes zu reizen; jedes Kleidungsstück mehr, das sie anlegt, wirkt als eine Aufforderung mehr, es ihr abzuzwingen. Und da unsere soziale Kultur, was immer man sage, ihren eigenthümlichen Charakter der Rolle verdankt, die das Weib in ihr spielt, so ergibt das eine Zuspitzung des ganzen Daseins auf das Erotische hin. Und er schließt mit der provokativen Feststellung: die Prüderie des Puritaners bedeutet genau dasselbe wie der Zynismus des Libertins. So sehr, daß, wie mein chinesischer Freund ganz richtig bemerkte, unser Bekenntnis zum Ideal der Keuschheit recht eigentlich der Exponent unserer maßlosen Sinnlichkeit ist.10

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Fuchs, Eduard: Illustrierte Sittengeschichte, Bd. 5: Das bürgerliche Zeitalter I, S. 162. Vgl. auch Paul Schultze-Naumburg: Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung. Leipzig 1903, S. 141: "vielmehr geht die Korsettracht von dem Bedenken aus, daß der Busen ein Reizmittel für den Mann ist und dazu möglichst gross erscheinen soll. In demselben Sinne bezweckt sie das Hervordrängen der Hüften und Herausdrängen des Unterleibs."

10 Keyserling, Hermann Graf: Das Reisetagebuch eines Philosophen. München, Wien 1980, S. 566. Vgl. dazu auch Gernig, Kerstin: Plädoyer für Kurtisanen. Zur narrativen Inszenierung weiblicher Körper in Graf Hermann Keyserlings

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Wer sich also mit dem Thema der Nacktheit um die Jahrhundertwende beschäftigt hat, schrieb in einer Atmosphäre, in der es knisterte. Während die Mode den nackten Körper im Sinne dieser Doppelmoral bekleidete, verdeutlichten Zensur und Gesetzesvorschriften das Ringen um moralische Standards. Und so durften auch die allein fur Maler bestimmten Aktphotographien, auf die sich beispielsweise Camille d'Olivier oder Alexandre Quinet Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich spezialisiert hatten, nicht in der Vitrine ausgestellt werden: Études d'après nature autorisée(s) sans exposition à l'étalage. 1 ' Doch gerade die Erfindung der Photographie hat die mit Intimität konnotierte Nacktheit in die Öffentlichkeit getragen. Die neue Technik der Photographie ermöglichte es nicht nur, Bilder vom nackten menschlichen Körper in großer Zahl herzustellen, sondern auch, sie in aller Ruhe unabhängig vom Objekt zu betrachten. Eine neue Methode der erotischen Stimulierung kam auf, und das Begehren beschleunigte sein Tempo; man denke nur an den 'Akt von 1900'. Diese Entwicklung blieb auch dem Gesetzgeber nicht lange verborgen; schon 1850 wurde das Verkaufen unzüchtiger Photographien in der Öffentlichkeit unter Strafe gestellt. Nach 1880 konnte der Photo-amateur auf den professionellen Mittelsmann verzichten; er lockerte die einstmals starre Pose vor der Kamera und öffnete sein privates Leben soweit wie nur möglich für das Objektiv, das nun unersättlich alles Intime auf die Platte bannte.12

Zu den Gesetzerlassen zählte auch die sog. "Lex Heinze", die 1892 in Deutschland verabschiedet wurde und gegen Schriften und Darstellungen in Kunst und Wissenschaft zielte, die ohne unzüchtig zu

'Reisetagebuch eines Philosophen'. In: Tebben, Karin (Hg.): Frauen-KörperKunst. Inszenierungen weiblicher Sexualität in der Literatur um 1900. Göttingen 2000, S. 191-209. 11 Bonnefoy, Françoise / Govignon, Brigitte: Le corps et son image. Photographies du dix-neuvième siècle. Texte: André Rouillé. Notices: Bernard Marbot. Nancy 1986, S. 49. Vgl. zur Ambivalenz von Aktphotos auch: Jäger, Jens: Gesellschaft und Photographie. Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839-1860. Opladen 1996, S. 201-205. 12 Alain Corbin: Kulissen, in: Perrot, Michelle, S. 434f.

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sein, das Schamgefühl vermeintlich gröblich verletzten.13 Dabei wurden nicht nur Aktphotographien im allgemeinen, sondern auch Darstellungen in Kunst und Wissenschaft oder auch Brunnenanlagen und Aktskulpturen in der Öffentlichkeit als das Schamgefühl verletzend eingestuft.14 Dementsprechend hatte das Feigenblatt im ausgehenden 19. Jahrhundert Hochkonjunktur. So wurde in der Glyptothek in München und andernorts die männliche Nacktheit unter Feigenblättern versteckt, die erst nach dem Ersten Weltkrieg, im Vatikan sogar erst in den 70er Jahren entfernt wurden.15 Während das Feigenblatt als Symbol des Triumphes der christlichen Sittlichkeit über die heidnische Antike Einzug hielt, Blütenstengel und Gewandzipfel über die Schamteile gemalt wurden, blieben Gegenstimmen naturgemäß nicht aus und Karikaturisten machten sich über den Sittlichkeitswahn ihrer Zeit lustig, der Polizisten angeblich erlaubte, Kunstpostkarten der Venus von Milo als obszön zu beschlagnahmen. Richard Ungewitter, einer der prominentesten Propagandisten des Nudismus neben Heinrich Pudor, bezeichnet das Jahr, als die Lex Heinze dem Deutschen Reichstag von der Kirche empfohlen worden ist, als einen der dunkelsten Zeitabschnitte menschlicher Geschichte und inauguriert sein ideologisches Gegenprogramm in Form eines mehrbändigen Plädoyers für den Nudismus als Lebensform. Die Tragweite der Lex Heinze bringt er folgendermaßen auf den Punkt: Alles, einem sittlichen Menschen 'natürlich' Erscheinende, in das irgend eine moralisch-minderwertige Person ihre eigenen 'unzüchtigen' Gedanken hineinlegt und als 'gröblich schamverletzend' dann empfindet, wird auf Antrag dieser befangenen Person bestraft.16

13 Vgl. Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Berlin 1983, S. 257. 14 Vgl. dazu Ungewitter, Richard: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung. Nacktheit und Kultur. Neue Forderungen. Zwei Bücher in einem Band. (Stuttgart 1907.) Reprint Köln-Lövenich 1979, Bd. I, S. 93. 15 Vgl. dazu: Wünsche, Raimund: Das Feige(n)blatt. Von pflanzlicher Schamverhüllung. In: Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern, Nr. 3/2000, S. 3039. 16 Ungewitter, Richard: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, ... Bd. I, S. 73.

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Als Gegenbewegung gegen das puritanisch gestimmte 19. Jahrhundert entwickelten sich um die Jahrhundertwende verschiedene reformatorische und anarchistisch-individualistische Strömungen. Die Faszination, die dabei von dem Thema der Nacktheit und ihrer Darstellung ausgegangen ist, muß im Zeitalter der Tyrannei der Intimität17 nicht erst in Erinnerung gerufen werden. Doch haben sich historisch die Konnotationen in Bezug auf die für das 19. Jahrhundert zentralen Distinktionsmerkmale race, class und gender verändert. Zu den prominentesten Verfechtern des Themas zählten im deutschen Sprachraum u.a. die bereits zitierten Autoren Richard Ungewitter und Eduard Fuchs sowie der Mediziner Carl Heinrich Stratz oder auch die Anthropologen Heinrich Ploss und Paul Bartels. Es wurden viele Werke zu benachbarten Themen wie Sexualität und Prostitution um 1900 auch aus dem Englischen und Französischen ins Deutsche übersetzt, wie beispielsweise Studies on Psychology of Sex von Havelok Ellis oder auch die sechsbändige Histoire de la Prostitution von Pierre Dufour, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Als Propagandist des Nudismus verfaßte Richard Ungewitter zahlreiche Werke, deren Titel bereits als gesellschaftlicher Sprengstoff aufgefaßt wurden, da er nicht davor zurückscheute, im Titel den Begriff Nacktheit zu verwenden. So lauten die Titel: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung (1907), Nacktheit und Kultur. Neue Forderungen (1913), Nackt. Eine kritische Studie (1916) oder auch Nacktheit und Moral. Wege zur Rettung des deutschen Volkes (1925). Ein lateinischer Titel wäre weniger skandalös erschienen, wie die 1887 in 2. Auflage erschienene Abhandlung Psychopathia Sexualis von Krafft-Ebing dokumentiert.18 Diese Provokation des geltenden Sittenkodex führte dazu, daß Ungewitters Werk das gleiche Schicksal ereilte wie auch Eduard 17 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt/Main 1996 (Original: The Fall of Public Man, New York 1974). 18 Die Justiz entschied noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, daß jemand, der Latein lesen könne, moralisch weniger bedroht sei als ein anderer, der dieser ehrwürdigen Sprache nicht mächtig ist im Zusammenhang mit der Frage ob die Ars amandi in deutscher Übersetzung erscheinen dürfe. Vgl.: Welt, 10.11.1962 "Zensur? Pornographie und Kunst!" von Jost Nolte.

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Fuchs sechsbändige Illustrierte Sittengeschichte (1909-1912), nämlich als Bestseller jahrelang mit Prozessen von der Justiz verfolgt zu werden. Die Hauptanklage galt den Abbildungen nackter Menschen, die als unzüchtig eingestuft worden sind, so daß Ungewitter nachzuweisen hatte, daß das erotische Moment gerade nicht im Vordergrund stand. Der Beschluß zur Beschlagnahmung der Schrift Kultur und Nacktheit wurde abgelehnt, da sie "in einzelnen Stellen anstößig, aber in der Gesamttendenz nicht auf Lüsternheit gerichtet ist".19 Dieses Urteil wurde mit dem künstlerischen Wert der Photographien begründet. Daß Ungewitters Schriften allerdings ein unzüchtiger Charakter attestiert wurde, zeigt, daß Nacktheit ein provokatives, wenn nicht gar tabuisiertes Thema war. Auch bei Fuchs erregte die Vielzahl der Aktbilder, die sein Werk illustrierten, Anstoß. Doch all diese Schriften wie auch die von dem Arzt Carl Heinrich Stratz für ein interessiertes Laienpublikum verfaßten Bücher Die Schönheit des weiblichen Körpers (1898), Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung (1900), Die Rassenschönheit des Weibes (1901) oder auch Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst (1914) sowie die anthropologischen Studien Das Weib in der Natur- und Völkerkunde (1884) von Heinrich Ploss und Paul Bartels wurden zu Bestsellern. Zu diesem Erfolg dürfte wesentlich die Fülle der Aktphotographien beigetragen haben. Die wilhelminische Doppelmoral tabuisierte bzw. zensierte die ungeschminkte Darstellung von Nacktheit, deren erotisch-sexuelle Konnotationen als eminent gesellschaftsbedrohend wahrgenommen wurden. So heißt es auch im Vorwort von Richard von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis: Wie das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden werden kann, bis zur Aufopferung des eigenen Ich, so liegt in seiner sinnlichen Macht die Gefahr, daß es zur mächtigen Leidenschaft ausarte und die grössten Laster entwickle. Als entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan, der Alles versengt, verzehrt, einem Abgrund, der Alles verschlingt - Ehre, Vermögen, Gesundheit.20

19 Ungewitter, Richard: Nacktheit und Kultur. Neue Forderungen. Stuttgart / Köln 1979 (1913), S. 2. 20 Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis. Stuttgart 1886, S. 2.

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Um erotischen Konnotationen vorzubeugen, dienten künstlerische und wissenschaftliche Zwecke als verbreitete Legitimationsstrategien für Aktdarstellungen und -photographien in Sittengeschichten und ähnlichen Abhandlungen. 21 Wenn Nacktheit auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt zum Stein des Anstoßes wurde, war doch zugleich mit der Erfindung der Photographie die Tabuisierung ihrer Darstellung kaum noch möglich. (Abb. 2 & 3) Die Nebeneinanderstellung von Skulptur und lebendem Modell diente Stratz dazu, die anatomische Naturtreue der Skulptur einerseits und das von ihr verkörperte Schönheitsideal andererseits am lebenden Modell zu überprüfen, um - wie es im Vorwort zu seinem Werk Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst heißt - eine naturwissenschaftliche Kunstbetrachtung zu institutionalisieren.22 Der Vergleich ist Vorwand und Legitimation der photographischen Aktdarstellung, die einer besonderen Rechtfertigung bedurfte, da ihr die allegorisch-mythologische Dimension im Gegensatz zur Malerei fehlte. Um diese fehlende Dimension zu kompensieren, posierten die Modelle in Anlehnung an aus der Kunstgeschichte tradierten Posen. Stratz hebt allerdings selbst hervor, daß bereits die mythologischen Darstellungen der Dianen, Psychen und Nymphen nur Vorwand für die Darstellung weiblicher Nacktheit waren. 23 Jede Pose ist damit spezifische Inszenierung der Nacktheit, die die Nacktheit wiederum in unterschiedliche semantische Zusammenhänge stellt. Orientiert sich die Photographie auch an der Malerei und Skulptur, so weist sie doch einen zentralen Unter-

21 Fuchs weist allerdings darauf hin, daß auch das sexualwissenschaftliche Werk Mann und Weib von Havelock Ellis in England als unzüchtig verboten war. Vgl. Fuchs, Eduard: Illustrierte Sittengeschichte, Bd. 5: Das bürgerliche Zeitalter I, S. 100. Vgl. zur Tabuisieurng der Nacktheit auch Paul Schultze-Naumburg: Die Kultur des weiblichen Körpers, S. 15: "Aber woher auch soll man den Körper kennen. Unsere Lebensformen haben zum unbekleideten Körper eine ignorierende oder gar negierende Stellung genommen. In der Schule wird der Mensch über seinen Körper, der doch auf Lebenszeit der materielle Träger seines ganzen Seins ist, gar nicht oder so gut wie gar nicht unterrichtet." 22 Vgl. Stratz, Carl Heinrich: Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst. Berlin 1914, S. 2. Stratz verweist auf andere Autoren, die eine vergleichbare interdisziplinäre Kunstbetrachtung angestrebt haben. 23 Stratz, Carl Heinrich: Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst, S. 183.

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schied auf, daß sie nämlich das abwesende Geschlecht der Frau, ihr Scham- und Achselhaar wieder ins Blickfeld einführt. Dieser kleine Unterschied war im 19. Jahrhundert teilweise dafür ausschlaggebend, ob Aktdarstellungen als schamverletzend eingestuft wurden oder nicht.

Nacktheit, ein genuin weibliches Attribut? Seit 1860 hatten sich Photostudios in den entferntesten Weltgegenden wie Japan etabliert. Zwischen 1880 und 1920 wurden unzählige sogenannt "ethnographische" Aktphotos angefertigt 24 und ab 1880 setzte sich auch die Illustration der Bücher mit Photographien zunehmend durch. Mit der Erfindung der Photographie wurde der nackte perfekte Körper, der in der Malerei u.a. ideale Konzepte wie Wahrheit oder platonische Liebe symbolisierte, durch den realen Körper mit all seinen Unterschieden in Bezug auf Rasse, Geschlecht, Alter, Gesundheit, Norm und Abweichung in die ikonographische Tradition eingeführt. Allerdings orientieren sich die Posen anthro- und ethnologischer Photographien, deren Publikation autorisiert wurde, häufig an antiken Skulpturen. Fritz Kramer geht sogar so weit zu behaupten, daß es den Europäern bis zum Ersten Weltkrieg nicht möglich war, exotische Akte jenseits des seit der Antike überlieferten Kanons darzustellen: "Europäische Künstler projizierten auf die Menschen anderer Kulturkreise die klassische Asymmetrie der Ganzkörperdarstellung, bei der es ein Stand- und ein Spielbein geben muß." 25 In diesem Kontext fallt die Dominanz weiblicher Aktphotographien auf, die wiederum prozentual den Frauen gewidmeten Publikationen wie den bereits zitierten Werken Die Rassenschönheit des 24 Vgl. Steiger, Ricabeth / Taureg; Martin: Sleeping Beauties: on the use of ethnographic photographs. In: Taureg, Martin / Ruby, Jay (Hg.): Visual Explorations of the world. Selected papers from the international conference on visual communication. Aachen 1987, S. 315-331. 25 Kramer, Fritz W.: Zwischen Kunst und Wissenschaft: Zu Ethnologie und Exotismus der Jahrhundertwende, in: Hauschild, Thomas (Hg.): Ethnologie und Literatur. Kea. Zeitschrift ftir Kulturwissenschaften, Sonderbd. 1. Bremen 1995, S. 1128, hier S. 11.

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Weibes oder auch Das Weib in der Natur- und Völkerkunde entsprechen. Wenn Nacktheit auch kein genuin weibliches Attribut ist, so ist Nacktheit doch zumindest in der Geschichte der Ikonographie eine der gängigsten weiblichen Attribuierungen. Die Autorschaft liegt im 19. Jahrhundert dabei in der Hand des sog. "starken Geschlechts", das das sog. "schwache" bzw. "schöne Geschlecht" malt, photographiert, analysiert, beschreibt und definiert. Bei dieser asymmetrischen Konstellation der männlichen Schaulust und der weiblichen Ausstellung können die Positionen des betrachtenden Subjekts und des betrachteten Objekts zwar prinzipiell vertauscht werden, doch gibt es auch eine historisch entstandene "vergeschlechtlichte" Struktur der Dialektik von Sehen und Gesehen-Werden.26 Es sind auf dem Bild selbst abwesende, angekleidete Photographen oder Maler, die die Nacktheit der Frau inszenieren. Dabei wird weibliche Nacktheit durch die Posen der Inszenierung häufig mit Hingabe, Scham, Verwundbarkeit oder auch Unterlegenheit assoziiert.27 Stratz rechtfertigt in der Einleitung zu seinem Werk Die Rassenschönheit des Weibes, weshalb er sich bei der Thematik der Schönheit allein auf die Darstellung der Frau konzentriert hat, "weil nämlich das Weib die Gattung in reinerer Form vergegenwärtigt, während beim Mann die Individualität zur höchsten Ausbildung gelangt."28 Diese Form der geschlechtsrollenspezifischen Konstruktionsmuster sind im Rahmen der gender studies ausführlich aufgearbeitet worden.29 In Bezug auf Aktbilder ist jedoch hervorzuheben, daß sie hierarchische Verhältnisse zum Ausdruck bringen, die ästhetisch zugleich sublimiert werden. Somit spiegelt sich ein gesellschaftspolitischer Objektstatus im medialen wider. Die Kategorien race, class und gender prägen auch Stratz' Darstellungen. So formuliert bereits der erste Satz der Einleitung ras26 Vgl. Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg im Breisgau 1996, S. 137. Vgl. dazu auch Farwell; Beatrice: Manet and the Nude. A Study in Iconography in the Second Empire. New York u.a. 1981, S. 28-53. 27 Vgl. Saunders, Gill: The Nude. A new perspective. London 1989, S. 7: "'Nude' is synonymous with 'female nude' because nakedness connotes passivity, vulnerability; it is powerless and anonymous." 28 Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart 221941, S. III. 29 Vgl. Braun, Christina von / Stephan, Inge (Hg.): Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2000.

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senideologische Prämissen: "Die weiße Rasse besitzt als höchststehende die vollkommenste Schönheit; je nach ihrer Entwicklungsstufe nähern sich ihr die anderen durch das Maß ihrer Vorzüge."30 Indem die Höherwertigkeit der sog. weißen Rasse postuliert wird, ist eine eurozentrische Perspektive als Maßstab der Beurteilung alles Gesehenen bereits vorgegeben. Gemessen an einem eurozentrisehen, idealtypischen, normativen Maßstab lassen sich die Anderen damit nur noch im Modus des Defizitären wahrnehmen. Durch die vermeintliche Evidenz der nackten Wahrheit in Form von Hautfarben sowie der Einteilung in primitive und höherentwickelte Gesichtszüge und Körperformen werden somit hierarchische Verhältnisse begründet. Aktphotographien bekommen im Kulturvergleich ethnologischer Schriften Beglaubigungscharakter, die auch zur Konstruktion hegemonialer Strukturen beitragen, wobei die Photographie eine parallele mediale Vereinnahmung zur politischen und ideologischen darstellt. Die Darstellung und Betrachtung von Aktphotographien rechtfertigt Stratz in dreifacher Weise. Einerseits geht es ihm als Arzt um die medizinische Dimension, also darum Gesundheitsschäden, die durch Korsett, Schuhe u.ä.m. bedingt sind, aufzuzeigen. Im Kulturvergleich zeigt er verschiedenste Deformationen des weiblichen Körpers auf, zu denen die geschnürten Füße einer Chinesin ebenso wie die eingeschnürte Taille einer Deutschen oder auch die vernarbten Körper von Lundamädchen aus Angola zählen.31 Andererseits geht es ihm um die Rekonstruktion der Schönheitsideale in der Kunst, wobei er die Venus von Medici zum normativen Vorbild eines Rassenideals erklärt. Und schließlich geht es ihm im Kulturvergleich um die Bestimmung eines "natürlichen Rassenideals", womit die photographische Reproduktion ebenfalls explizit legitimiert wird: "Um das natürliche Rassenideal in Fleisch und Blut zu bestimmen, ist man auf die Betrachtung schöner Frauen und die Vergleichung photographischer Wiedergaben angewiesen."32 Um aber im gleichen Atemzug dem Verdacht des Voyeurismus vorzubeugen, wird der Vorrang der Physiognomie vor der Physis betont: 30 Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes, S. 1. 31 Vgl. Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes, S. 94ff, 220f; ders.: Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst, S. 183. 32 Ebd., S. 17.

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Es gehört ein großes Maß an Objektivität dazu, um auch an dunkeln primitiven Weibern körperliche Schönheiten erkennen und würdigen zu können, um so mehr, als wir Europäer selbst im eigenen Heim gewohnt sind, nur nach dem Gesicht zu urteilen und auch bei weißen Frauen für die höchsten Vorzüge des Körpers blind sind, wenn das Gesicht uns nicht gefällt. 33

Aufgrund der Auflagenzahlen und der stetigen Neuauflagen von Stratz' Werk Die Rassenschönheit des Weibes wurde vermutet, daß die Photographien trotz derartiger Äußerungen als "Ethnoerotik" konsumiert worden sind. Doch auch wenn die Photographien mit der europäischen Aktphotographie der Zeit teilweise übereinstimmen, bestehen doch große Unterschiede zur dezidiert erotischen Photographie. Die erotische Photographie spielt nicht nur mit dem Verhältnis von Verborgenem und Enthülltem, sondern wählt auch kokettere Posen und Blicke. 34 Der Vorteil von Stratz' Werk bestand gegenüber der erotischen oder auch pornographischen Photographie der Zeit aber darin, daß der wissenschaftliche Anspruch des Werkes dem Publikum erlaubte, Nacktbilder zu betrachten, ohne dabei in Verruf zu geraten. 35 Geht man auch davon aus, daß nicht die Nacktheit als solche, sondern die Art der Entblößung erotisch wirkt, bleiben die Übergänge dennoch fließend. So heißt es bei Françoise Bonnefoy über die Photographie im 19. Jahrhundert: "L'effet érotique est donc un effet d'écriture photographique qui relève moins de l'exposition que du dévoilement, moins de la proximité que d'une dialectique de l'écart, moins du documentaire que du fictionnel."36 Doch auf welche Art die Phantasie beim Betrachter von Akten stimuliert worden ist, dessen waren sich allein die Verfasser der Lex Heinze ganz sicher. Während die erotisch-pornographische Aktphotographie die Moralvorschriften der Epoche eindeutig überschritt, blieb die Grenze zur künstlerisch-wissenschaftlichen Aktdarstellung 33 Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes, S. 53. 34 Vgl. beispielsweise Hill, Charlotte / Wallace, William: Erotikon. Erotische Kunst und Literatur aus aller Welt. Köln 1999, S. 182f, 392fff. 35 Vgl. dazu auch Jäger, Jens: Gesellschaft und Photographie. Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839-1860. Opladen 1996, S.

201. 36 Bonnefoy, Françoise / Govignon, Brigitte: Le corps et son image, S. 49.

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progressiv und verschwommen. Genau diese Doppeldeutigkeit war Bedingung ihrer Wirksamkeit sowie Alibi der Überschreitung: "le passage de l'image dite convenable à celle que réprouve la morale et les bonnes moeurs est en effet graduel."37 Doch angesichts der repressiven Sexualmoral ging es bei den zitierten Büchern nicht primär um Aktphotographie als erotische Stimulanz, sondern um die Befreiung von dem christlich-abendländischen Moralkorsett - so meine These - , weshalb auch die kulturvergleichende Perspektive eine zentrale Rolle spielte.

Nacktheit im Kulturvergleich Bei den komparatistischen Kultur- und Sittengeschichten lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen feststellen. Einerseits wurde Nacktheit als habituelles Gewand bei anderen Kulturen innerhalb teleologischer Modelle mit einem noch unüberwundenen Naturzustand bzw. Primitivismus assoziiert. So heißt es beispielsweise in dem Kapitel zur Anthropographie in dem Physikalischen Atlas von Heinrich Berghaus, der 1852 in zweiter Auflage erschienen ist: Völlig nackt geht nur derjenige Mensch, der, auf der allerniedrigsten Stufe der Kultur, als Wilder, in den Urwäldern und auf den Gras-Gefilden Südamerika's und in den Einöden und auf den Blachfeldern Südafrikas und Australien^ umherirrt, um durch den Ertrag der Jagd oder des Fischgarns sein jammervolles, mehr thierisches als menschliches Dasein zu fristen.38

Diese sog. ursprüngliche, primitive Nacktheit besaß auf Völkerschauen im 19. Jahrhundert eine ganz besondere Attraktivität. Andererseits erlaubte der kulturbedingt differente Umgang mit der Nacktheit aber gerade auch eine Relativierung der vertrauten Moralvor37 Bonnefoy, Françoise, S. 80. 38 Berghaus, Heinrich: Physikalischer Atlas. Eine, unter der fördernden Anregung Alexander's von Humboldt verfasste, Sammlung von 93 Karten, auf denen die hauptsächlichsten Erscheinungen der anorganischen und organischen Natur nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung bildlich dargestellt sind. 2 Bde. 2. Bd., Abt. 7 Anthropographie, No 3. Planiglob zur Übersicht der verschiedenen Bekleidungs-Weise der Bewohner des ganzen Erdbodens, S. 3.

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Stellungen, die Nacktheit im 19. Jahrhundert eben weitgehend mit Unsittlichkeit gleichgesetzt haben. So wird in den Kultur- und Sittengeschichten der verschiedensten Couleur refrainartig die europäischen Moralvorstellungen diametral gegenüberstehende Bedeutung der Nacktheit in Japan bestaunt und gepriesen. Das folgende Beispiel ist aus Stratz Werk Die Rassenschönheit des Weibes, findet aber unzählige Pendants in Georg Buschan Kulturgeschichte, Pierre Dufours Geschichte der Prostitution oder auch den Japanreiseberichten der Zeit: Sehr verschieden ist die Auffassung über die Nacktheit der Japaner. Manche halten nach ihren beschränkten, europäischen Begriffen Nacktheit und Unsittlichkeit für dasselbe, und schreien über die Sittenlosigkeit der Japaner, weil sie dort mehr nackte und halbnackte Menschen gesehen haben, als in ihren vier Pfählen zu Hause. Ein künstlerisches Gefühl für die Schönheit des nackten menschlichen Körpers haben die Japaner, gleich allen Mongolen, nicht, ebensowenig übt der Anblick weiblicher Nacktheit an und für sich einen sinnlichen Reiz auf sie aus. Sie betrachten die Nacktheit da, wo sie von Sitten und Gewohnheiten vorgeschrieben ist, als natürlich und selbstverständlich. Dies ändert sich freilich in Gegenden, wo sie mit Europäern in regelmäßige Berührung kommen, an Küstenplätzen, wie Yokohama, Nagasaki usw.; dort verbirgt das sittsame Weib seinen Körper nicht vor ihresgleichen, sondern vor dem Blick der Europäer und der durch sie demoralisierten Landgenossen. Die Dschonkina, ein mit Gesang begleiteter japanischer Nationaltanz, während dessen die tanzenden Mädchen sich völlig entkleiden, ist von der Regierung in allen Küstenplätzen verboten worden, nicht weil er an und für sich unsittlich ist, sondern weil er durch den europäischen Einfluß unsittlich aufgefaßt wurde und dadurch entartete. Eine derartige Aufführung, die ich trotz des Verbotes in einer Hafenstadt zu sehen bekam, hatte mit dem echten Nationaltanz, dem ich im Innern des Landes beiwohnte, ungefähr ebensoviel gemein, als der niedrigste Tingeltangel mit einer klassischen Oper. Der Japaner ist von Natur sittsam. Es wird ihm nie einfallen, ein ganz oder halb entblößtes Weib durch zudringliche Blicke zu belästigen, und

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w e n n der Europäer s e i n e m B e i s p i e l folgt, b e w e g t sie sich vor seinen Augen

e b e n s o natürlich und u n g e z w u n g e n ,

w i e vor ihren

eigenen

Landsleuten. 3 9

Japan wurde um die Jahrhundertwende, vorbereitet durch den Japonismus, zum außereuropäischen Referenzmodell, das eine verhaltene Kritik der dekadenten europäischen Gesellschaft erlaubte. Dabei wurde der unterschiedliche Umgang mit der sog. natürlichen Nacktheit beim Baden, der künstlerischen Nacktheit auf Gemälden und beim Tanz sowie der erotischen und sexuellen Nacktheit beim Geschlechtsverkehr und im Zusammenhang mit der für das 19. Jahrhundert zentralen Frage der Prostitution hervorgehoben. Gegen Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts beschreiben viele Reiseberichte den Schock, den die Reisenden traf, die mit ansehen mußten, wie japanische Männer, Frauen und Kinder Adam und Eva gleich, ohne Feigenblatt und mit größter Nonchalance miteinander badeten. Freiherr von Hübner berichtet beispielsweise stolz, daß es ihm mit Gewalt gelungen sei, die Männer baden zu lassen und die Frauen davon zurückzuhalten.40 Die Beschreibungen der Reiseberichte erwähne ich in diesem Zusammenhang, da sie in die Kultur- und Sittengeschichten als teilweise zentrale Materialbasis Eingang gefunden haben. Es ist allerdings hervorzuheben, daß trotz der topisch wiederkehrenden Verwunderung über gemischtgeschlechtliche Badehäuser keine einzige Photographie den Befund belegt, sondern statt dessen drei badende Frauen in Anlehnung an das Motiv der drei Grazien zu einem beliebten Photosujet wurden (Abb. 4).41 Die Grammatik des Blicks in bezug auf die Wahrnehmung der Nacktheit wird von den Reisenden meist erst um die Jahrhundertwende zur Kenntnis genommen. Dementsprechend schreibt Keyserling, daß es in Europa mehr zu bedeuten hätte, wenn eine Frau ihren Schuh zeigte, als wenn sich eine Japanerin ausziehen würde, da alles

39 Stratz, Carl Heinrich: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart, S. 273. 40 Hübner, Alexander Freiherr von: Ein Spaziergang um die Welt. Zweiter Teil: Japan. Leipzig 1889, S. 7. 41 Zum Mythos des schamlosen Nacktbadens in Japan vgl. Duerr, Hans Peter: Bd. 1: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfürt/Main 2 1988, S. 116fff. Zum antiken Motiv der drei Grazien vgl. Bammes, Gottfried: Akt. Das Menschenbild in Kunst und Anatomie. Stuttgart 1992, S. 104.

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von der damit verbundenen Einstellung abhängen würde. 42 Hinsichtlich der sexuellen Nacktheit notiert er ferner: Für die Japaner versteht es sich von selbst, daß die geschlechtlichen Bedürfnisse befriedigt werden, im Akte selbst sehen sie nichts Häßliches; die Mädchen kommen sich nicht ehrlos vor, die den Beruf wahlloser Nächstenliebe ausüben. Und da sie also denken und empfinden, so haftet nicht allein ihnen selbst nichts Unreines, Häßliches an - der Gast nimmt einen Abglanz ihrer Reinheit aus dem Bordelle mit nach Haus. Wie tief steht unser typisches Empfinden in diesen Dingen unter dem japanischen! Allerdings ist es ein objektiver Übelstand, daß es Prostituierte gibt[...]. 43 Das christlichen Moralvorstellungen entsprechende Bewertungsmuster natürlicher Reinheit versus sündhafter Nacktheit verliert in Japan seine Geltung. Während exotische Nacktheit in den kolonisierten Weltteilen häufig mit primitiver Ursprünglichkeit assoziiert wurde, entzog sich die Nacktheit in Japan derart plakativen hierarchischen Gegenüberstellungen und wurde dadurch zu einer Herausforderung für die westliche Kultur. So schoben sich zwischen die begehrte Nacktheit und das moralische Verbot künstlerisch und wissenschaftlich gerechtfertigte Darstellungen und Abhandlungen wie Sittengeschichten, medizinische Abhandlungen über weibliche Kleidermode, Aufklärungsbücher über das Leben des Weibes u.ä.m. Doch erst Richard Ungewitter geht einen bedeutenden Schritt weiter, indem er Nacktheit nicht nur zeigt, sondern als Lebensideologie proklamiert und einfordert. Dabei verkehrt er das bürgerliche Argumentationsmuster, indem er Nacktheit als den eigentlich natürlichen Zustand und Kleidung dagegen als gesellschaftliches Degenerationsphänomen bezeichnet. Im Vergleich mit Stratz sind drei Aspekte bei Ungewitter besonders hervorzuheben. Erstens: Vor der Folie eines genealogischen Modells, das gemeinhin als sukzessiver Prozeß der Zivilisation beschrieben wurde, hält Ungewitter ein leidenschaftliches Plädoyer für die Nacktheit nicht als zu überwindenden, sondern als wiederzugewinnenden Zustand. Zweitens: Indem er

42 Keyserling, Hermann Graf: Das Reisetagebuch eines Philosophen, S. 568. 43 Ebd., S. 563.

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die Scheuklappen des Puritaners ablegt, ist Nacktheit für ihn weder mit Primitivismus, noch mit Sündhaftigkeit behaftet, sondern jeweils in einer kulturell bedingten symbolischen Ordnung integriert. Und drittens: Indem er zur Nacktheit vor dem Sündenfall zurückkehrt, führt er auch den feigenblattlosen Adam wieder in die Ikonographie ein. Zwei der berühmtesten Akte Ungewitters sind zweifelsohne das Selbstbild am Schreibtisch bzw. auf Skiern im Schnee, um zu demonstrieren, daß Kleidung weder durch bestimmte Handlungen, noch durch ein bestimmtes Klima primär motiviert werden. Ungewitter greift für die Illustration seiner Werke auf Amateurphotographien aus dem Kreis der Nacktkulturanhänger zurück, die gegenüber der sog. ethnologischen Photographie eine eigene Bildsprache entfalten. Ungewitter wehrte sich nicht nur explizit gegen die "Scheinheiligkeit und Sittenheuchelei" der Moralprediger seiner Zeit, sondern versuchte auch, die erotische Dimension der Nacktheit wieder zu rehabilitieren.44 der Mensch war nackt geworden und blieb nackt durch die auslesende Liebeszuchtwahl, weil der unbekleidete Mensch [...] immer auch der erotische Mensch war, es in unseren Tagen noch ist und zukünftig auch bleiben wird.45 Es läßt sich zusammenfassend festhalten, daß der enorme publizistische Erfolg der Kultur- und Sittengeschichten ebenso wie die mit ihnen verbundenen Skandale und Prozesse die für das 19. Jahrhundert charakteristische Dialektik von Tabu und Tabubruch, von Ver- und Enthüllung sowie von rigider Moral und reformerischen Befreiungsversuchen spiegeln. Dabei hat gerade die kulturvergleichende Perspektive eine Relativierung christlich-abendländischer Moralvorstellungen vorbereitet bzw. überhaupt erst ermöglicht. Worin besteht nun die 'Postadamitische Rache am Sündenfall?' Die Rache an der mit dem Sündenfall in die Welt gekommenen Scham und Schamverhüllung besteht darin, daß die Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in rasanter Geschwindigkeit von den verschiedensten Medien und Gattungen männlicher Provenienz 44 Ungewitter, Richard: Nacktheit und Kultur, S. 6. 45 Ungewitter, Richard: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, ... Bd. I, S. 16.

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entkleidet wird, während der männliche Betrachter zumindest auf den Gemälden der Zeit weitgehend bekleidet bleibt. Ob es sich dabei allerdings wirklich um eine 'Rache' oder nicht vielmehr um den Versuch gehandelt hat, zu paradiesischen Zuständen zurückzukehren, sei zur Diskussion gestellt.46

46 Es gibt durchaus auch Aktphotographien von Männern in naturgeschichtlichen, anthropologischen und ethnologischen Abhandlungen der Jahrhundertwende. Vgl. beispielsweise Stratz, Carl Heinrich: Naturgeschichte des Menschen. Stuttgart 3 1922 (1904)

Abb. 2

Venus von Medici und Mädchen mit verschämter Haltung.

Abb. 3

Venus Kallipygos und Rückenansicht eines 17jährigen Mädchens.

Abb. 4

Badende Japanerinnen.

Ideale Nacktheit Inszenierungen in der deutschen Nacktkultur 1893-1925

Maren Möhring

"Nackende Menschen - Jauchzen der Zukunft" lautet der Titel einer 1893 von Heinrich Pudor (1865-1943) publizierten Schrift, die gemeinhin als Anfangspunkt einer eigenständigen Nacktkulturbewegung gilt.1 In dieser lebensreformerischen Bewegung wurde Nacktheit zum zentralen Moment einer ersehnten "Rückkehr zur Natur" erklärt. Nacktheit fungierte als Signifikant für Natürlichkeit.2 Dabei war es eine ideale Nacktheit — so der Titel eines mehrbändigen, 1915-1923 erschienenen Foto-Bildbandes aus dem Verlag der Schönheit —, die in Abgrenzung von einem sexuell konnotierten Unbekleidetsein propagiert wurde.3 Abgesehen davon, daß eine 'künstlerisch veredelte' Nacktheit den Verdacht der Unsittlichkeit bzw. der Pornographie ausräumen sollte, verweist der Terminus ideale Nackt-

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Der Begriff Nacktkultur geht auf Pudor zurück, der 1906 den Katechismus der Nacktkultur sowie drei Broschüren mit dem Titel Nackt-Kultur publizierte. Die Bezeichnung Freikörperkultur wurde in Abgrenzung zu den 'anrüchigen' Nackttänzen und -variétés erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt (vgl. Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974, S. 95). "Nacktheit ist nun einmal natürlich. " Vgl. Warum nackt? in: Kästner, Wilhelm (Hg.): Der Kampf der Lichtfreunde gegen die Dunkelmänner. Berlin 1911, S. 25. In den Quellen findet sich auch der Begriff der "künstlerische(n) Nacktheit", z.B. bei Stratz, Carl Heinrich: Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung. Stuttgart 1904, S. 30.

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heit auch auf ein utopisches Moment in der Nacktkultur: auf das "Jauchzen der Zukunft".4 Im folgenden sollen verschiedene Aspekte und Bedeutungsdimensionen idealer Nacktheit in einer zentralen nacktkulturellen Körperpraktik, nämlich in der Nacktgymnastik, untersucht werden. Hier waren es v.a. die Gymnastiksysteme des dänischen Leutnants Jens Peder Müller (1864-1983) und der US-amerikanischen Ärztin Bess Mensendieck (1864-1958), die in der Nacktkultur rezipiert wurden. Müllem und mensendiecken wurden (über die Nacktkultur hinaus) zu Synonymen für das Betreiben von Nacktgymnastik.5 Durch regelmäßige Übung sollte der von der modernen Zivilisation 'deformierte' Körper (wieder) in einen 'natürlichen' Zustand versetzt werden. Das Vorbild für den Naturkörper bildete die antike Statue in ihrer idealen Nacktheit. So galt es, eine möglichst "große Ähnlichkeit mit den antiken Statuen"6 herzustellen: "mach aus dir solch ein Kunstwerk", lautete die nacktkulturelle Forderung.7 (Abb. 1) In der Nacktgymnastik, die einzeln oder in der Gruppe, im Lichtluftbad oder bei offenem Fenster zuhause zu praktizieren war, ging es um ein kontinuierliches "Nach4

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Bei den (häufig von Sittlichkeitsvereinen angestrengten) Prozessen gegen die nacktkulturelle Zeitschrift Die Schönheit und die Publikationen Richard Ungewitters, einem Protagonisten der Nacktkultur, ging es v.a. um die Frage, inwieweit die (meist photographischen) Repräsentationen von Nacktheit künstlerischen Wert besäßen oder nicht. - Zur Diskussion um die Lex Heinze, d.h. die Verschärfung des §184a des Strafgesetzbuches, am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Mast, Peter: Künstlerische und wissenschaftliche Freiheit im Deutschen Reich 18901901. Umsturzvorlage und Lex Heinze sowie die Fälle Arons und Spahn im Schnittpunkt der Interessen von Besitzbürgertum, Katholizismus und Staat. Rheinfelden 21986, S. 139-190. Vgl. Spitzer, Giselher: Der deutsche Naturismus. Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik. Ahrensburg bei Hamburg 1983, S. 186. Zum Müllerschen Gymnastiksystem vgl. Bonde, Hans: I.P. Muller. Danish Apostle of Health. In: The International Journal of the History of Sport 8 (1991), S. 347-369 und Wedemeyer, Bernd: Starke Männer, starke Frauen: eine Kulturgeschichte des Bodybuildings. München 1996, S. 15f. Diese Ähnlichkeit weise J.P. Müller in außerordentlichem Maße auf, wie in der Vorrede zur deutschen Ausgabe betont wird: Müller, J. Peder: Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit iur die Gesundheit. Leipzig, 14. durchges. u. erw. Aufl., 1904, S. 4. Guttzeit, Johannes: Kunst und Moral. In: Die Schönheit 19 (1923), S. 416.

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üben" der antiken Statuen (wie Mensendieck es formuliert), also um eine langfristige, pädagogisch angeleitete Körperbildung.8 War die Statuennachahmung als "Nacheiferung schöner Vorbilder" konzipiert, so läßt sich die Nacktgymnastik in dieser Hinsicht als mimetische Körperpraktik beschreiben.9 Das "mimetische Begehren", das sich hier ausspricht, ist immer (auch) ein Begehren nach dem eigenen Körper und damit unerläßlich für das, was ich als nacktkulturelle Körperdisziplinierung bzw. -normalisierung bezeichnen möchte.10 Die in den antiken Statuen verkörperte ideale Nacktheit fungierte als (ästhetische) Norm, die - obgleich in letzter Konsequenz unerreichbar - die Körpernormalisierung in der Nacktkultur regulierte. Ideale Nacktheit diente als (imaginäre) Vergleichsgröße und damit als Motivation für die nacktgymnastischen Verbesserungs- und KorrekturArbeiten am eigenen Körper. Während es sich bei der idealen Nacktheit, so Nikolaus Himmelmann, um "eine seit der Renaissance geläufige künstlerische 8

Mensendieck, Bess M.: Körperkultur der Frau. Praktisch hygienische und praktisch ästhetische Winke. München 51912, S. 8. Wenn vom "Umsatz der Kunst in das lebendige Menschenmaterial" die Rede ist (ebd., S. 65), so sind Übersetzungsleistungen angesprochen, die in der intermedialen Konstellation StatueMenschenkörper notwendig werden. Vgl. dazu Möhring, Maren: "...ein nackter Marmorleib". Mimetische Körperkonstitution in der deutschen Nacktkultur oder: wie läßt sich eine griechische Statue zitieren? In: Gutenberg, Andrea / Poole, Ralph (Hg.): Zitier-Fähigkeit. Tagungsband des 6. Symposiums des Münchner Graduiertenkollegs "Geschlechterdifferenz & Literatur" 1999. Zum körperlichen Übersetzungsprozeß bei der tänzerischen Lektüre antiker Statuen in der Tanzreform um 1900 vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt/Main 1995. 9 Ungewitter, Richard: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, morlischer und künstlerischer Beleuchtung. Stuttgart 1907, S. 85 (Herv. v. mir). Der Terminus Nacheiferung verweist auf eine platonische Pädagogik-Konzeption, welche Mimesis als Wettstreit mit genau kontrollierten Vorbildern faßt. Vgl. Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 2 1998, S. 41. 10 Zur Disziplinierung und Normalisierung des Körpers vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main s1989. Zum mimetischen Begehren, welches das Begehren nach dem betrachteten Körper wie das Begehren, der eigene Körper möge ebenso werden, umfaßt, vgl. Wildmann, Daniel: Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des 'arischen' Männerkörpers im 'Dritten Reich'. Würzburg 1998, S. 61, der diesen Begriff von Birgit Erdle übernommen hat.

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Konvention" handelt, "einen Menschen gegen die Realität nackt darzustellen, um ihn der Alltagssphäre zu entrücken" 11 , ging es der Nacktkultur gerade um eine Verwirklichung des Ideals im Alltag. Das 'Idealische' der antiken Statuen wurde zu einem durchaus praktischen Ziel erklärt. Nach Himmelmann ist die ideale Nacktheit kein antikes Muster. Vielmehr gründet sie auf einer modernen Interpretation der antiken Bildwerke. 12 Der nacktkulturelle Rekurs auf die Antike war an Winckelmann und Goethe geschult; die antiken Statuen fungierten auch um 1900 noch als "Muster des Menschentums". 13 Ideale Nacktheit war dabei v.a. mit einer zeitenthobenen Natürlichkeit des menschlichen Körpers verbunden 14 , antike Schönheitsnormen galten zugleich als Naturnormen. 15 Damit war die propagierte "Rückkehr zur Natur" in ästhetischer Hinsicht gleichbedeutend mit der Hinwendung zum antiken Griechenland: Antike und Natur fungierten (austauschbar) als Stellvertreter für ,den verlorenen Ursprung', und Nacktheit versprach dem modernen Menschen Teilhabe an eben jener Ursprünglichkeit. Wenn im Nacktkultur-Diskurs um 1900 die Antikerezeption der Zeit um 1800, samt ihrer Rhetorik der Natürlichkeit, wieder aufgerufen wird, dann lassen sich die nacktkulturellen Versuche zur Re-Naturalisierung als (differente) Wiederholung ähnlicher Versuche um 1800 beschreiben. 16 Der nackte Naturkörper stellt noch immer ein 11 Himmelmann, Nikolaus: Ideale Nacktheit. Opladen 1985, S.13. 12 Ebd., S. 13 und 23. Zu der auch in der griechischen Antike nur in begrenztem Rahmen zulässigen Nacktheit vgl. Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham. Frankfurt/Main "1992, S. 13ff. Eine kritische Auseinandersetzung mit Duerr und Himmelmann bietet Thommsen, Lukas: Nacktheit und Zivilisationsprozeß in Griechenland. In: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 438ff., der ebenfalls den "Ausnahmecharakter realer Nacktheit" in der Antike betont (ebd., S. 445). 13 Pudor, Heinrich: Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung zur Kunst und zum Leben. Leipzig 1902, S. 46. 14 Zur Zentralität der Diskussion um die ideale Nacktheit um 1800 und erneut um 1900 vgl. Himmelmann, Nikolaus (1985), S. 20. 15 Die "Idealform des klassischen Altertums und der Natur" wurden in eins gesetzt. Vgl. Putz, Anton: Kunststil und Schönheit. In: Die Schönheit 19 (1923), S. 259. 16 Das antike Griechenland und der (Rousseausche) 'natürliche Urzustand' hatten bereits in der deutschen Klassik die beiden zentralen Referenzpunkte der Kulturkritik gebildet. Zu den um 1900 in der Nacktkultur wiederholten Versuchen der Re-

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gegen 'adligen Putz' gerichtetes bürgerliches Konzept dar, erfahrt aber um 1900 einige bedeutsame Umformulierungen. Zwar ist die antike Nacktheit in der Nacktkultur noch immer Signifikant eines natürlichen und wahrhaftigen Menschentums, wie immer wieder mit Verweis auf Goethe betont wird.17 Dieses für antik erachtete Menschheitsideal zu verwirklichen, wird durch eine verstärkt rassentheoretisch ausgerichtete Antikerezeption nun aber zunehmend zu einem rassenhygienischen Projekt. Nacktheit wird, so meine These, im Nacktkultur-Diskurs zu einem zentralen Moment eines ästhetischen Rassismus und einer denunziatorischen Physiognomik.'8 Im historischen Kostüm der idealen antiken Nacktheit beginnt sich eine moderne, in eugenisch-biopolitischem Dienst stehende Nacktheit zu artikulieren. Im Rekurs auf das tradierte "Bildungsmuster" der antiken Statue sollte der moderne "neue Mensch" antizipiert werden.19 Dieser Problematik möchte ich mich im folgenden in zweifacher Hinsicht nähern: Zunächst soll kurz die nacktkulturelle Antiken-Rezeption um 1900 auf ihre rassistischen Implikationen hin befragt werden (ästhetischer Rassismus). Idealschöne Nacktheit ist als 'Auszeichnung' allein der sog. 'nordischen Rassen' konzipiert. Die ästhetische Kategorie der idealen Nacktheit ist damit von rassentheoretischen, also auch naturwissenschaftlichen Diskursen nicht zu trennen. Diesen für die Nacktkultur um 1900 bedeutsamen Diskurs-Verschränkungen möchte ich in einem zweiten Teil am Beispiel der naturalisierung vgl. Grisko, Michael: Freikörperkultur und Lebenswelt - Eine Einleitung. In: ders. (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vorund Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel 1999, S. 10. 17 Zur Popularität dieses Zusammenhangs in der Nacktkultur vgl. Andritzky, Michael: Einleitung. In: ders. / Rautenberg, Thomas (Hg.): "Wir sind nackt und nennen uns Du". Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern - eine Geschichte der Freikörperkultur. Giessen 1989, S. 6. 18 Zu beiden Begriffen vgl. Brittnacher, Hans Richard: Der böse Blick des Physiognomen. Lavaters Ästhetik der Deformation. In: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen 1995, S. 127-146. 19 "Nun ziehet ein, ihr alle, Hand in Hand / Als neue Menschen in die alten Fluren!" (Bomhard, Ludwig: Das Paradies der Zukunft. In: Deutsch-Hellas 2 (1908), S. 29). Zur "Statue als Bildungsmuster" vgl. Neumann, Gerhard: Der Körper des Menschen und die belebte Statue. Zu einer Grundformel in Gottfried Kellers Sinngedicht. In: ders. / Mayer, Mathias (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg/Br. 1997, S. 565.

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Nacktgymnastik und der sie begleitenden sog. nackten Gattenwahl nachgehen, d.h., anhand einer biopolitischen Praktik, in der Ästhetik und Medizin, künstlerischer und ärztlicher Blick konvergieren und Nacktheit v.a. als Sichtbarmachung von Normabweichungen fungiert {denunziatorische Physiognomik). Ideale Nacktheit wird also in zweierlei Hinsicht thematisiert werden: Nach der Darlegung der rassistischen Imprägnierung dieses für antik erachteten Körperideals sind Nacktgymnastik und nackte Gattenwahl als Projekte zur Verwirklichung dieses Körperideals zu diskutieren. Ideale Nacktheit fungiert hier als Vergleichsmaßstab, an dem eine aktuelle, defizitäre Nacktheit gemessen wird.

Ideale Nacktheit als Rassezeichen. Die nacktkulturelle Antikerezeption oder: das griechische Germanentum Auf "den Spuren eines Winckelmann an Alt-Hellas anknüpfend", suchte man qua Nacktkultur "ein Neu-Hellas"20, ein "Deutsch-Hellas"21 herbeizufuhren. Die Winckelmannsche Antikerezeption wurde in der Nacktkultur insofern fortgesetzt, als man ein griechisches, nicht römisch-französisches Nachahmungsmuster präferierte.22 Neben dem antifranzösischen Ressentiment ist die Ablehnung Roms seitens der vornehmlich norddeutschen, protestantischen Nacktkultur dabei (auch) im Kontext des Kulturkampfes und seiner Nachwehen zu sehen. Das Winckelmannsche Paradigma wurde in der Nacktkultur um 1900 nun aber mit Nietzsche gelesen; Winckelmann galt als "Vorläu20 Nachruf für Dr. med. Johannes Große. In: Die Schönheit 25 (1930), S. 491. 21 So der Titel einer in den Jahren 1907 und 1908 in Berlin erschienenen Nacktkultur-Zeitschrift. 22 Daß hier in Ansätzen bereits die Idee einer reinen Kulturnation enthalten war, zeigt Wiedemann, Conrad: Römische Staatsnation und griechische Kultumation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann. In: Mennemeier, Franz Norbert u.a. (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Tübingen 1986, S. 177f. Zu den bereits Mitte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen formulierten 'antieuropäischen' Mustern, die Deutschland gegen (West-) Europa stellten, vgl. Burgdorf, Wolfgang: "Chimaere Europa". Antieuropäische Diskurse in Deutschland (1648-1999). Bochum 1999.

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fer Nietzsches mit seinem hohen Liede vom Übermenschen".23 Es war also nicht mehr allein die klassische Norm, die man in den Statuen verkörpert sah. Auch das Andere des Klassischen — das Archaische, das Barbarische, das Dionysische — galt es nun, in den antiken Statuen zu lesen.24 Für die nietzscheanische Antikerezeption der Nacktkultur läßt sich damit m.E. die Bezugnahme auf ein "doppeltes Griechenland" (ein sonnenhaft-apollinisches und ein dunkel-dionysisches) konstatieren, die Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy als deutsche Tradition der Antikerezeption herausgestellt haben.25 Pudor fuhrt Sparta explizit als barbarisches Vorbild an: Wir müssen solches Fühlen und Empfinden [...] erst wieder verstehen lernen. Denn können wir es heute verstehen, wenn die Spartaner als Krüppel geborene Kinder töteten und alte Männer und Frauen in den Wald schleppten und ihrem Schicksal überließen? Wir nennen das brutal und barbarisch. Aber Voraussetzung zu dieser Anschauung war der Glaube an die Jugend und an die Kraft. [...] Es gibt heute keine Menschen mehr, denen der Gedanke unerträglich ist, faltig, grau und trocken zu werden und gleichsam wie ein Schandfleck die in jedem Frühling sich neu verschönende Erde zu verunstalten.26 Die antiken Statuen konnten zu Vorbildern des neuen Menschen nicht zuletzt deshalb werden, weil man in ihnen (bzw. ihren mensch23 Abeking-Höfer, C.: Der Schatzheber antiker Schönheit. In: Die Schönheit 19 (1923), S. 52. 24 So sind in nacktkulturellen Texten nietzscheanisch inspirierte Absagen an die "mechanisch und glatt gewordene Klassizität" (Unus, Walther: Moderne Schönheit-Propheten XXXII: Reinhold Begas, in: Die Schönheit 8 (1910), S. 62) zu finden, verbunden mit der Forderung nach einem neuen "griechische(n) Idealismus" im Sinne von Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (so Pudor, Heinrich (1902), S.I26). - Diesen ästhetischen Normstreit verhandele ich ausfuhrlich in meinem Dissertationsprojekt Nackte Marmorleiber und organische Maschinen. Der natürliche Körper in der deutschen Nacktkultur, 1893-1925. 25 Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe / Nancy, Jean-Luc: Der Nazi-Mythos. In: Weber, Elisabeth / Tholen, Georg Christoph (Hg.): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren. Wien 1997, S. 158-190. Zu (der Rezeption von) Nietzsches Antikerezeption sehr instruktiv auch Mattenklott, Gerd: Nietzsche und die Ästhetik der Verzauberung. In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 48 (1996), Heft 4, S. 485-503. 26 Pudor, Heinrich: Spartanische Erziehung. In: Kraft und Schönheit 10 (1910), S. 290.

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liehen Modellen) das Produkt einer eugenischen und auch 'rassischen' Auslese sah. Um die antike Statue Anfang des 20. Jahrhunderts als nachahmenswertes Vorbild behaupten zu können, mußte sich in ihr auch eine 'rassische Hochwertigkeit' verkörpern. Entsprechend figurierten die Griechen (nicht nur) im Nacktkultur-Diskurs als "alte Arier".27 Martin Bernal hat in Black Athena beschrieben, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts in der klassischen Altertumswissenschaft das antike Modell für die Erklärung der Herkunft der Griechen, das die semitischen und ägyptischen Einflüsse auf die griechische Kultur hervorgehoben hatte, von dem arischen Modell ersetzt worden ist, welches stattdessen die Bedeutsamkeit der dorischen (d.h. 'nordischen') Einwanderung betonte.28 Im nacktkulturellen Philhellenismus wurden entsprechend die semitische und die ägyptische Kultur abgewertet und die "Stammverwandtschaft" der Griechen mit den zeitgenössischen 'Germanen' behauptet.29 Bereits Winckelmann hatte eine besondere Affinität von Deutschland und Griechenland beschworen. Diese wurde in der Nacktkultur nun substantialisiert, indem nicht mehr (allein) eine Verwandtschaft etwa der Sprache, sondern des Blutes konstatiert wurde. Analog zur indogermanischen Ursprache wurde das gemeinsame Urvolk der 'Arier' konstruiert.30 Der Schriftsteller und Rassentheoretiker Joseph Arthur de Gobineau (18161882), auf den in nacktkulturellen Texten immer wieder verwiesen wird, hatte Textstellen antiker Autoren gesammelt, in denen blondes Haar und blaue Augen bei den Griechen erwähnt sind.31 Entspre27 Lanz-Liebenfels, Jörg: Nackt- und Rassenkultur im Kampfe gegen Mucker- und Tschandalakultur. Rodaun bei Wien 1913, S. 5. Paradigmatisch vollzog sich die Verschmelzung von 'Arier' und Hellene in der im Nacktkultur-Diskurs textlich wie bildlich omnipräsenten Gestalt des Prometheus, der gemäß griechischer Mythologie an einem Felsen im Kaukasus, dem vermeintlichen Ursprungsort der 'Arier', gekettet war, weil er den Göttern das Feuer gestohlen hatte. 28 Vgl. Bernal, Martin: Schwarze Athene. Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike, Band 1: Wie das klassische Griechenland 'erfunden' wurde. München, Leipzig 1992. Für eine sehr grundlegende Kritik an Bemals Thesen siehe Lefkowitz, Mary R.(Hg.): Black Athena Revisited. Chapel Hill, NC 1996. 29 Alt-Hellas und seine Wiederkehr. In: Die Schönheit 19 (1923), S. 309-310. 30 Vgl. Mosse, George L.: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Frankfurt/Main 1991, S. 42. 31 Vgl. Rawson, Elizabeth: The Spartan Tradition in European Thought. Oxford 1969, S. 334.

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chende Passagen werden in der Zeitschrift Die Schönheit 1913 als "anthropologische Beschreibungen, die auf die physische Beschaffenheit der griechischen Rasse manches aufklärende Licht" würfen, behandelt.32 Auch die Weiße der Marmorstatuen wurde als Beweis für die Hellhäutigkeit der Griechen beschworen.33 Die genannten "Schönheitszeichen" sollten die Griechen als überlegene 'Rasse' ausweisen. Die Verschmelzung von Griechen- und Germanentum34 läßt sich auch in den Bildern des Jugendstil-Malers Fidus finden, die sämtliche nacktkulturelle Publikationen über Jahrzehnte schmückten und beständig (Prä-) Figurationen des neuen Menschen lieferten, der sich aus einer idealen germanischen Stärke und griechischen Schönheit zusammensetzt. Ideale Nacktheit fungiert hier gleichsam als Rassezeichen der Germanen wie der Griechen.35 Die "Dignität [...] eines 'Adels der Menschheit'" sollte sich in dieser idealen Nacktheit zeigen36, die damit in scharfem Kontrast zu einer den sog. Naturvölkern zugeschriebenen 'primitiven' Nacktheit stand. Zudem wurde (ideale) 32 Blondes Haar und blaue Augen bei den Griechen. In: Beiblatt zur Schönheit 11 (1913), S. 178. 33 In Glykera, in: Deutsch-Hellas 2 (1908), S. 130, ist von "schneeigen Statuen" die Rede. Gleichzeitig ist das nacktkulturelle Lichtluftbad einer derjenigen Orte, an denen sich das neue Schönheitsideal der gebräunten Haut etabliert. Allerdings heißt es warnend: "man übertreibe die Sonnenbäder nicht, so daß der Körper nachher wie ein Hottentottenleib aussieht" (Bol, Krulle: Schönheit und naturgemässe Lebensweise. In: Die Schönheit 3 (1905), S. 720). 34 Klaus Wolbert untersucht diesen Aspekt in der Kunst des Nationalsozialismus, zeigt aber auch, daß er bereits in der Lebensreform um 1900 thematisiert wird. Vgl. Wolbert, Klaus: Die Nackten und die Toten des Dritten Reiches. Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus. Giessen 1982. 35 Auch die Bilder von Fidus wurden, allerdings weitaus seltener als die antiken Statuen, von Nacktkulturistlnnen nachgestellt. Zu Fidus vgl. Schuster, Marina: Fidus - ein Gesinnungskünstler der völkischen Kulturbewegung. In: Puschner, Uwe (Hg.): Handbuch zur "Völkischen Bewegung", 1871-1918. München 1999, S. 634-650. 36 Vgl. Wolbert, Klaus (1982), S. 241. Entsprechend heißt es 1907 in einem Aufruf zur Gründung eines "arischen Ritterbund(es) " in der Schönheit: "Eine große Vereinigung von Edelmenschen, die die Ideale der Arier zum reinsten Ausdruck bringen wollen, wäre ein zeitgemäßer Gedanke. Die Schönheit der Griechen, die Stärke der Germanen, der Geist der Inder - diese Trinität gäbe eine schöne Mischung." Grävell: Rassenzucht. In: Die Schönheit 5 (1907), S. 25.

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Nacktheit mit Reinheit, auch Rassereinheit, assoziiert37 und mit der Idee einer rassischen Wiedergeburt der Nation verbunden. Die Griechen, die als Jugend der Menschheit firmierten38, dienten als Vorbild für die ersehnte " (d)eutsche Verjüngung".39 Figurierte ideale Nacktheit in den nacktkulturellen Rassentheorien also als nordisches Rassemerkmal, so wies sie auch eine andere - funktionale - Dimension auf. Denn in den rassentheoretischen, den anthropologischen und ethnologischen Diskursen der Zeit diente Nacktheit auch als Sichtbarmachung von sog. Rassezeichen — die wiederum erst Produkte dieser Sichtbarmachung waren. Nacktheit ermöglicht(e) eine Begutachtung des Körpers, die nicht nur bei der Vermessung 'fremder' Körper, sondern auch für die 'eigene' Körperbildung in der Nacktkultur von Bedeutung war.

Nacktheit als Sichtbarmachung Als Begründung für die (fast) völlige Nacktheit bei der Körperübung, dem Spezifikum der Nacktgymnastik, wird neben der größeren Bewegungsfreiheit und der verbesserten Hautatmung das Argument genannt, daß der eigene sowie andere Körper im nackten Zustand besser zu beobachten seien. Die nackten Körper sollten "den prüfenden Blicken" dargeboten werden, um die (körperlichen) "Fehler wahrnehmen und abstellen zu können, da ohne Erkenntnis keine Einsicht und Besserung möglich ist".40 Eine ununterbrochene (Selbst-) Überwachung des Körpers konnte durch die Nacktheit in zuvor nicht bekanntem Maße gewährleistet werden. Es galt, "den Körper freizumachen, ihn aufmerksam auf seine Minderwertigkeiten

37 Reinheit in der bzw. durch die Nacktheit wurde dabei im sittlichen wie im hygienischen Sinne verstanden. Zu den rassistischen Implikationen der Reinheit im abendländischen Denken, nämlich zu den diskursiven und imaginären Verknüpfungen von 'Weißsein1 und Reinheit vgl. Dyer, Richard: White. London, New York 1997, S. 22. 38 "Der Gedanke an das alte Hellas wirkt fast wie eine Erinnerung an frohe Jugendtage der Menschheit." Renatus: Griechisches und germanisches Empfinden. In: Die Schönheit 14(1917), S. 65. 39 Hotzel, Curt: Deutsche Verjüngung. In: Die Schönheit 14 (1917), S. 506-510. 40 Ungewitter, Richard (1907), S. 15.

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zu betrachten und ihn vergleichsweise zu beurteilen und bewerten".41 Die anvisierte totale Sichtbarkeit sollte zum Motor normalisierender, die körperlichen 'Defekte' korrigierender Maßnahmen werden: Heute legt leider noch der größte Teil der Menschheit mehr Gewicht auf die Kultur der Bekleidung - der Kleider - als auf die des Körpers und dies sehr zum Schaden der allgemeinen Volksgesundheit [...]. Wird man aber Gelegenheit haben, gut gebaute Körper anstatt nur gut gearbeiteter Kleider zu sehen, sodaß (sie) man auch hier Vergleiche anstellen kann, dann wird auch ebenso natürlich der Wunsch rege werden, danach zu trachten, seinen oder seiner Kinder Körper ebenso zu bilden. Dadurch wird allmählich wieder eine gesündere, kräftigere, und formenvollendetere Generation geschaffen. 42

Das mimetische Begehren, der eigene Körper möge ebenso schön wie der beobachtete "gut gebaute Körper" (eines Menschen oder einer Statue) werden, wird dadurch in Gang gehalten, daß der eigene körperliche Zustand stets als defizitär definiert ist, die aktuelle Nacktheit des Körpers nach ihrem Abstand zur anvisierten idealen Nacktheit bewertet wird. Noch die kleinsten Abweichungen vom Ideal gilt es zu erkennen. Dieser normierende Blick ist das Resultat einer langwierigen Blickschulung. Mensendieck etwa fordert eine "sorgfaltige [...] Erziehung des Auges", um so das "Eigenurteil für das Normale" auszubilden.43 Gegen das Blickprivileg von Experten gerichtet, sollten die Nacktgymnasten und -gymnastinnen selbst einen ästhetisierenden

41 Dadurch hoffte man, zu einer "uneingeschränkten Normalität zu finden." Schulte, Robert Werner: Körper-Kultur. Versuch einer Philosophie der Leibesübungen. München 1928,40. 42 R. v. S.: Körperkultur, Nacktkultur, Nacktlogen, Nacktschaustellungen. In: Kraft und Schönheit 8 (1908), S. 322f. Erst wenn der Mensch wieder nackt sei, wisse man, "wie er aussieht" und könne man wieder "für ihn sorgen, an ihm korrigieren und bessern. " Wahr, Konrad: Nacktheit und Sittlichkeit. In: Deutsch-Hellas 2 (1908), S. 6. 43 Mensendieck, Bess M.: Mein System. In: Pallat, Ludwig / Hiller, Franz (Hg.): Künstlerische Körperschulung. Breslau 1923, S. 39. Schließlich wollte man der Situation Abhilfe verschaffen, daß "kaum jemand in der Lage" sei, "einen wirklich normalen, schönen Körper schätzen und würdigen zu können" (Möckel, Gustav: Wie beurteilt man männliche Körperschönheit? In: Kraft und Schönheit 5 (1905), S.2f.).

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und medizinisch-hygienischen Blick erlernen: "Warum sollen nur Ärzte und Künstler schauen? Weshalb nicht auch Laien? "44 Die gesundheitlichen wie ästhetischen 'Mängel' wurden dabei mit einer spezifischen Scham gekoppelt. Nicht mehr das Nacktsein 'an sich' war Grund zur Scham; schämen sollte man sich nun allein ob eines "mangelhaft entwickelten oder bereits verbildeten Körpers".45 Die geringe Zahl an weiblichen Mitgliedern in den Nacktkultur-Vereinen wurde vornehmlich über eine solche (für berechtigt erachtete) Scham erklärt: "Die meisten Damen genieren sich ihrer verschnürten Taille und anderer körperlicher Mängel wegen".46 Die Scham angesichts von gesundheitlichen wie schönheitlichen 'Fehlern' wurde im Nacktkultur-Diskurs als natürliche Scham diskursiviert.47

Die nackte Gattenwahl als biopolitische Inszenierung von Nacktheit Diese individiduelle Körperdisziplinierung und -normalisierung war immer auch mit der biopolitischen Regulierung der Gesellschaft verbunden. So wurde der qua Nacktheit hergestellten, neuartigen Sichtbarkeit des Körpers auch eine eugenische und rassenhygienische Funktion zugeschrieben. Um einen sog. 'degenerierten Nachwuchs' zu verhindern, sollten sich potentielle Ehepartnerinnen vor der Hochzeit gegenseitig nackt mustern und dabei die "Schönheits"- wie 44 Mensendieck, Bess M. ( 5 1912), 93. 45 Seitz, J.M.: Die Nacktkulturbewegung. Ein Buch für Wissende und Unwissende. Dresden 1923, 85. Hinsichtlich der Regulation sexueller Gelüste hat Oliver König gezeigt, daß die "Forderung nach Übereinstimmung von Ideal und Realität" besonders für Frauen gegolten habe. König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990, 58. Dieser geschlechtsspezifische Befund läßt sich für die in der Nacktkultur instituierte Scham ob eines 'fehlerhaften' Körperbaus bestätigen. 46

Kästner, Wilhelm (Hg.): Der Kampf der Lichtfreunde gegen die Dunkelmänner. Berlin 1911, S. 59. 47 Nach Ungewitter ist es "wohl verständlich, wenn sich jemand schämt, sich nackt zu zeigen, dessen Leib verunstaltet ist. Hat er durch 'eigene' Schuld, durch Nachlässigkeit oder Modetorheiten diese Verhängung verschuldet, so ist die Scham 'doppelt' berechtigt." Ungewitter, Richard: Nacktheit und Schambegriff. In: Deutsch-Hellas 1 (1907), S. 169.

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"Entartungszeichen" am Körper des bzw. der anderen studieren. Man ging davon aus, daß "(d)egenerierte Menschen [...] nackt dermaßen abstoßend" wirkten, "daß sie von normalen Menschen niemals bei der Gattenwahl berücksichtigt" würden.48 Nacktheit diente also der Sichtbarmachung von Abnormalitäten, die allererst über den normierenden Blick konstituiert worden waren. Diese nackte Gattenwahl dachte man sich dabei als eine Art 'Nebeneffekt' der Nacktkultur. Das 'gemeinsame Nacktleben' sollte gleichsam nebenbei eine "geschlechtliche Zuchtwahl" ermöglichen, die an (Erb-) Gesundheit und Schönheit orientiert war.49 Nackt könne "jede kleinste Krankheit des beobachteten menschlichen Wesens" gleich richtig erkannt werden50, "(b)ei völliger Nacktheit" (d.h. auch der Geschlechtsorgane) würden "besonders Geschlechtskrankheiten leichter erkannt".51 Neben dem Erkennen von Syphiliskranken ging es bei der nackten Gattenwahl auch darum, den unsichtbaren Juden an seiner Beschneidung ausfindig zu machen.52 Die Sichtbar-

48 Seitz, J.M. (1923), S. 118. Zu der für die Moderne symptomatischen Identifizierung von Körperlichkeit und Sichtbarkeit, die erst die "hinreichende Gewißheit für Identifizierungen und Diskriminierungen" schaffte, vgl. Stichweh, Rudolf: Der Körper des Fremden. In: Hagner, Michael (1995.), S. 177. 49 Bund der Lichtfreunde: Unsere Stellung zur Nacktheit. In: Kraft und Schönheit 23 (1923), S. 129. Krüger, Arnd: There Goes This Art of Manliness. Naturism and Racial Hygiene in Germany. In: Journal of Sport History 18 (1991), 156, erklärt mit dieser rassenhygienischen Komponente die im internationalen Vergleich relativ hohe Akzeptanz des Naturismus in Deutschland. 50 Helmer, Franz Alfons: Nacktheit und Persönlichkeit. In: Der Mensch 1 (1914), Heft 2, S. 23. 51 Lanz-Liebenfels, Jörg (1913), S. 12. So konstatiert Pudor, Heinrich: Nackt-Kultur. Bd. 2, Berlin 6 1906, S. 4, daß "(s)chon der Kontrolle wegen" neben den Sozialhygienikern und Biologen auch die Anthropologen verlangen müßten, "daß gerade das Geschlechtsorgan unbekleidet wird". 52 Auf die mythische Verbindung von beschnittenem Penis und Syphilis hat Sander Gilman aufmerksam gemacht. Vgl. Gilman, Sander L.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 286. In der nackten Gattenwahl wurde das Zeichen jüdischer Männlichkeit, der "circumcised penis, that invisible but omnipresent sign of the male's Jewishness", das ansonsten unsichtbar war, lesbar gemacht. Gilman, Sander L.: The Jew's Body. New York, London 1991, S. 192. Zu den antisemitischen Implikationen der nackten Gattenwahl vgl. auch Krüger, Arnd: Art of Manliness..., S. 156.

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keit der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sollte in jedem Falle die Fortpflanzungsfahigkeit überprüfbar machen: Wir haben auch gesehen, daß die Kleider Formen vortäuschen, deren Entwicklung für die Beurteilung des Wertes der betreffenden Menschen als Geschlechtswesen von ausschlaggebender Bedeutung sind, deren Nichtvorhandensein den betreffenden Menschen als Geschlechtswesen wertlos oder minderwertig erscheinen lassen würde.

Die besten Kinder würden von denjenigen gezeugt, "deren Geschlechtscharakter am deutlichsten ausgeprägt ist". Letzteres sei "ganz besonders beim Weibe erforderlich, bei dem durch breites Becken und gut entwickelte Brust die Befähigung zum Mutterberuf auch äußerlich zum Ausdruck" komme.53 Die nackte Gattenwahl war somit eine selbst in die Hand genommene Überprüfung der Gesundheit der zukünftigen Eheleute — eine Überprüfung, die in Form der bei der Heirat vorzulegenden Gesundheitsatteste in den 1920er Jahren weit über die Nacktkultur hinaus zu institutionalisieren versucht wurde.54 Diese moderne biopolitische Maßnahme wurde dabei historisch legitimiert über den Verweis auf einerseits Thomas Morus' Utopia, in der eine nackte Gattenwahl entworfen wird55, andererseits im Rekurs auf das antike 53 Seitz, J.M. (1923), S. 116f. Es ist vornehmlich die Gesundheit der Frauen, die in den nacktkulturellen Texten thematisiert wird. So berichtet A. Klaus von einer Frau, die eine Krankheit "gewissermassen als Mitgift in die Ehe gebracht" habe: "Aber Mann, sagte ich, haben Sie denn gar nicht einmal danach getrachtet, den Körper ihrer Frau zu sehen ohne Hülle, um sich zu vergewissern, ob sie auch gesund sei und fähig zur Mutterschaft?". Klaus, A.: Was war die Schuld? In: Deutsch-Hellas 2 (1908), S. 178f. 54 In Deutsch-Hellas heißt es 1907: "Ich finde es ferner nicht sittlich, daß bei den Eheschliessungen alle möglichen Papiere, nur kein Gesundheits-Attest der zukünftigen Ehegatten verlangt werden, daß man somit gewissenlos, wissentlich da und dort die kommende Generation belasten last (sie)." (Blasius, A.: Wo sind die Ankläger? In: Deutsch-Hellas 1 (1907), S. 130). Zur Diskussion um die Einfuhrung von "Ehetauglichkeitszeugnissen" in Deutschland vgl. Weindling, Paul: Health, race and German politics between national unification and Nazism 18701945. Cambridge 1989, S. 361ff. und Herlitzius, Anette: Frauenbefreiung und Rassenideologie. Rassenhygiene und Eugenik im politischen Programm der "Radikalen Frauenbewegung" (1900-1933). Leverkusen 1995, S. 78ff. 55 Vgl. Seitz, J.M. (1923), S. 115. Enthüllungspflicht der Brautleute vor der Ehe. In: Geschlecht und Gesellschaft 1 (1906), S. 36f.

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Griechenland, wo bei Wettspielen die griechische Jugend regelmäßig nackt von den Göttern wie den Menschen gemustert und auf ihre Gesundheit und Schönheit hin überprüft worden sei.56 Das gemeinsame Nacktsein von Männern und Frauen ließ sich so eugenisch-rassenhygienisch rechtfertigen und auch als Mittel gegen Homosexualität anfuhren: Bisher sähen nur "Männer Männer und Weiber Weiber nackt", diese "Gelegenheit, da es keine andere gibt, macht Diebe, d.i. Päderasten und Lesbierinnen".57 Im nacktkulturellen gemischtgeschlechtlichen Beisammensein hingegen konnte ein heterosexuell ausgerichteter, biopolitisch imprägnierter Liebesblick erlernt und wirksam werden. Auf der Haut galt es nun, die "Schönheits"- und "Entartungszeichen" zu entziffern, wobei es weniger um eine sukzessive Lektüre ging, als vielmehr um ein Erspähen, das, wie Michel Foucault schreibt, auf Anhieb "den zentralen und entscheidenden Punkt" trifft, den Anschein zerbricht und denunziert,58 Im Lesen der "Schönheits"- wie "Entartungszeichen" am nackten Körper konvergierten ein künstlerischer und ein ärztlicher Blick, mit deren Hilfe eine Ent-Erotisierung der Nacktheit bewerkstelligt werden sollte. Den pornographischen Blick auf den nackten Körper galt es, durch den (vermeintlich nicht voyeuristischen) Blick des Künstlers und des Arztes zu ersetzen: Der Künstler sieht an einem nackten Menschenkörper eben nur die Schönheit desselben, seine Sinnlichkeit ist dabei vollständig ausgeschaltet ebenso wie beim Arzte, der noch viel intensiver den nackten Menschenkörper ansehen und untersuchen muß.59

56 Vgl. Große, Dr.med. Johannes: Schönheit, Gesundheit, Kraft und Körpererziehung der Griechen. In: Die Schönheit 19 (1923), S. 307. In dem Text Mein erstes Luftbad heißt es andererseits: "Ich hatte geglaubt, man würde meinen Körper betrachten, ihn mustern; doch nichts von alledem war der Fall, man schien ihn überhaupt nicht zu sehen. Fast ärgerte ich mich darüber." Schmidt-Blankert, Frau Dr.: Mein erstes Luftbad! In: Kästner, Wilhelm (1911), S. 65. 57 Lanz-Liebenfels, Jörg (1913), S. 7. Ähnlich bei Kästner, Wilhelm: Koedukation und Nacktkultur. In: Revolution und Nacktkultur. Ein Vortrag von Hugo Peters und anderes. Dresden 1919, S. 55. 58 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/Main 1988, S. 136. 59 R. v. S.: Körperkultur (Fortsetzung). In: Kraft und Schönheit 9 (1909), S. 74. Zur "Disziplinierung des pornografischen Blicks" im Kontext biopolitischer Maß-

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Die nacktkulturelle Blickschulung, Distinktionsmerkmal gegenüber 'unsittlichen' Betrachterinnen von Nacktheit, ist in ihrer Verfugung von ärztlichem und künstlerischem Blick als Teil eines neuzeitlichen Blickregimes zu identifizieren. Bereits in der frühneuzeitlichen Anatomie und ihren Sezierpraktiken hat sich diese Blickkonstellation auf den nackten Körper etabliert.60 Sie ist um 1900 aber nochmals historisch-spezifisch auf der visuellen Folie der Photographie zu betrachten. Es ist nicht zuletzt die Photographie, die im 19. Jahrhundert als Medium der Sichtbarmachung (von Devianz) diskursiviert und mit einem Wahrheitsanspruch ausgestattet wurde, die der nacktkulturellen Sichtbarmachung ihre Wirkungsmacht verleiht. Nacktheit als Sichtbarmachung partizipiert an der Autorität des photographischen Mediums.61 Wenn die nackte Gattenwahl verhindern sollte, "daß kerngesunde Menschen sich mit maskierten und herausstaffierten Ruinen paaren und minderwertigen Nachwuchs erzeugen"62, wenn Kleidung also verdeckt und maskiert, gar als "materialisierte Lüge"63 charakterisiert wird, dann ist ganz selbstverständlich immer auch der Topos der nahmen vgl. Wenk, Silke: Der öffentliche weibliche Akt: eine Allegorie des Sozialstaates. In: Barta, Ilsebill u.a. (Hg.): Frauen, Bilder, Männer, Mythen. Kunsthistorische Beiträge. Berlin 1987, S. 230. Vgl. a. Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln 1996. In der Forschungsliteratur wird die These der Entsexualisierung von Nacktheit häufig übernommen. Vgl. z.B. Rothschuh, Karl Eduard: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegungen. Stuttgart 1983, S. 127. Rothschuh hält die Nacktdarstellungen Fidus' für "ganz unerotisch". Dagegen räumt Dames zeitgenössisch ein, daß "ohne eine leise, unbewußte Erotik, die jedem gesunden und natürlich denkenden Menschen von Natur aus inne wohnt, ein eigentlicher Genuß der nackten Schönheit nicht denkbar und auch nicht wünschenswert ist." Dames, Hermann: Schönheit. In: Deutsch-Hellas 2 (1908), S. 58. 60 Vgl. Jütte, Robert: Die Entdeckung des "inneren" Menschen 1500-1800. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien 1989, S. 244ff. 61 Lalvani, Suren: Photography, Vision, and the Production of Modern Bodies. New York 1996, S. 34, beschreibt die Photographie im Hinblick auf ihre (v.a. zu Beginn des 20. Jahrhunderts) zentrale Funktion innerhalb disziplinarer Sichtbarkeitsregime. Zur Sichtbarmachung von Devianz in der Photographie vgl. ebd., v.a. S. 87-137, sowie Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München 1999. 62 Bund der Lichtfreunde: Unsere Stellung..., S. 129. 63 Seitz,J.M. (1923), S. 116.

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nackten Wahrheit mit aufgerufen. Nackt würden sich die Menschen "in ihrer wahren Beschaffenheit" zeigen. 64 Das klassische Diktum, der nackte Mensch sei der wahrhaftige Mensch, wird im darwinistischen Szenario der nackten Gattenwahl umformuliert. Der nackte Mensch ist wahrhaftig nun insofern, als er seine körperlichen 'Mängel' nicht mehr verstecken kann und dadurch seine biologische Beschaffenheit (vermeintlich) transparent macht. 'Rassen'- wie Geschlechtszugehörigkeit65, Fortpflanzungsfahigkeit wie auch 'Degeneration' sollten qua Nacktheit offensichtlich werden. Trotz aller Enthüllungs- und Enttarnungsrhetorik erweist sich die nackte Haut letztlich aber nur als eine weitere, eine Transparenz verunmöglichende Hülle - wie es die Nacktkulturistlnnen selbst aussprechen, wenn sie die nackte Haut als "Naturkleid" oder "Lichtkleid" bezeichnen.66 "Auch die Nacktheit zeigt noch Falten", wie Michel Serres schreibt.67 Wenn man die nacktkulturellen Praktiken des Sehens als (historisch-spezifische) "Prozeduren des Wahren"68 betrachtet, dann läßt sich die nackte Wahrheit in der Nacktkultur (auch) als Abweichung von der (idealen) Norm charakterisieren. Wenn es heißt, in der Nacktheit trete des Menschen "wahrer Wert oder Unwert [...] ganz

64 Helmer, Franz Alfons: Nacktheit..., S. 23. An anderer Stelle heißt es: "Der wahre Mensch ist der nackte Mensch. Der Mensch in Kleidern ist etwas Unwahres. " Warum nackt?, S. 19. 65 Hammer-Tugendhat, Daniela: Körperbilder - Abbilder der Natur? Zur Konstruktion von Geschlechterdifferenz in der Aktkunst der Frühen Neuzeit. In: L'Homme 5 (1994), S. 45, beschreibt am Beispiel der Aktkunst, wie Nacktdarstellungen mithalfen, die Geschlechterdifferenz als natürliche zu konstituieren; sie werde "als 'natürliche' am nackten Körper demonstriert". 66 An dieser Stelle ließe sich mit Vogl die ideale Nacktheit in ihrer Funktion als Schleier diskutieren, als "idealisierende [...] Verschleierung: Verhüllung der Enthüllung einer Leere", welche eine "schiere Nacktheit" verdecke, "an der sich die Gewalt des Todes endlos wiederholt". Vogl, Joseph: Der Text als Schleier. Zu Stifters 'Der Nachsommer'. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 307ff. Zum Tod als "absoluter Hüllenlosigkeit" vgl. auch Böhme, Hartmut: Enthüllen und Verhüllen des Körpers. Biblische, mythische und künstlerische Deutungen des Nackten. In: Hauskeller, Michael (Hg.): Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme. Frankfurt/Main 1998, S. 281. 67 Serres, Michel: Die fiinf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Übers, v. Michael Bischoff. Frankfurt/Main 1998, S. 105. 68 Deleuze, Gilles: Foucault. Frankfurt/Main 21995, S. 91.

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sicher zu Tage"69 und der (Un-)Wert Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer biopolitischen Kategorie geworden ist, dann wird mittels des Blicks auf den entblößten Körper auch über den 'Lebens(un)wert' eines Menschen entschieden. Ideale Nacktheit verweist dann immer auch auf den durch rassenhygienische Zuchtwahl zu erzeugenden neuen Menschen, der sich seines Körpers nicht mehr zu schämen braucht.

69 Helmer, Franz Alfons: Nacktheit..., S. 22.

Abb. 1 Lebensgroße Statue des Bildhauers Bögebjergs.

Ohne Hintergedanken? Ambivalente Stilisierungen der Nacktheit auf dem Monte Verità

Andreas Schwab

Gemeinhin wird mit dem Monte Verità ein unverkrampftes Verhältnis zum nackten Körper und der Sexualität assoziiert. Bis heute besitzt der Monte Verità einen gewissen 'Ruf. Das Leben in der Kolonie am Lago Maggiore sei befreit, anarchisch und im ständigen Gegensatz zur normierten bürgerlichen Welt stehend gewesen. Bei den Recherchen für mein Thema bin ich oft in dieser oder ähnlicher Form auf den Monte Verità angesprochen worden, begleitet von Blicken oder Gesten, die mit 'vielsagend' treffend umschrieben sein mögen. Es ist nicht zu übersehen, daß in der Rezeption des Monte Verità die Nacktkultur eine wichtige Rolle spielt. Die schwarzweißen Fotografiegn von spärlich bis gar nicht bekleideten Sonnenbadenden haben die kollektive Erinnerung an die Kolonie in Ascona sogar entscheidend geprägt. Der Umgang mit der Nacktheit auf dem Monte Verità war aber recht vielschichtig. In diesem Beitrag soll es darum gehen, die Bedeutung der Nacktkultur und die unterschiedlichen Einstellungen zum nackten Körper auf dem Monte Verità zu untersuchen. Im ersten Teil geht es um die zeitgenössischen Einstellungen zur Nacktheit. Wie sahen und erklärten die lebensreformerischen Autorinnen und Autoren ihre Vorliebe für den nackten Körper? Welche Vorstellungen verbanden sich für sie mit dem Gedanken an die Befreiung des Körpers von Korsett und einengenden Moden? Daraufhin soll in einem zweiten Teil die ambivalente Haltung des Publikums zur Nacktheit thematisiert werden. Anders als die lebensreformerischen Autoren es behaupteten, war in den Augen vieler Außenste-

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hender der nackte Körper von der Erotik nicht so eindeutig abzutrennen. An mehreren Beispielen wird die Unterscheidung zwischen betonter "Natürlichkeit' des nackten Körpers und der angeblich aufreizenderen Halb Verhüllung hinterfragt. Im dritten und letzten Teil wird es darum gehen, die Funktion der Nacktheit für den Monte Verità zu untersuchen. Da sie zu einem konstituierenden Merkmal für den 'Berg der Wahrheit' wurde, erhielt sie eine kommerzielle Seite, die für das Sanatorium von gewisser Bedeutung war. Die Verbreitung der Fotografien mit den nackten Kurgästen in den Luftbädern, machte es möglich, daß unbeteiligte Zuschauer an der Nacktheit anderer teilhaben konnten, ohne daß sie sich selbst entblößen mußten.

Lebensreformerische Einstellungen zur Nacktheit Die genau im Jahr 1900 gegründete lebensreformerische Siedlung Monte Verità in Ascona im schweizerischen Tessin wandelte sich bald nach der Zersplitterung der Gründungsgruppe und dem Scheitern der Gemeinschaftsutopie zu einem vegetabilischen Sanatorium. Das Gründerpaar Henri Oedenkoven und Ida Hofmann, die in freier Ehe zusammenlebten, ließen Lufthütten, Wohnhäuser, Luft- und Sonnenbäder errichten, damit ihre Gäste die Kur auf eine angenehme Weise verbringen konnten.1 Die Nacktkultur auf dem Monte Verità ist, bei aller Individualität in der Ausgestaltung, stets unter diesen Prämissen einer Kuranstalt ausgeübt worden.2 Die Kur, die auf dem Monte Verità für die zahlenden Gäste angeboten wurde, war spezifisch naturheilkundlich und lebensreformerisch ausgelegt. Als wichtigstes Kurprinzip galt ein strikter Vegetabilismus, mit dem auf alle tierischen Produkte, auch Milch, Eier und 1

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Standartwerke über den Monte Verità: Landmann, Robert: Monte Verità, Ascona. Die Geschichte eines Berges. Berlin 1930. Szeemann, Harald (Hg.): Monte Verità. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Locamo, Milano 1978. Green, Martin: Mountain of Truth. The Counterculture begins, Ascona 1900-1920. London 1986. Giò Rezzonico, Giò (Hg.): Antologia di cronaca del Monte Verità. Locamo 1992. Andere, weiterfuhrende Bewegungen der Nacktkultur, wie sie besonders Rudolf von Laban auf dem Monte Verità pflegte, werden in diesen Aufsatz nicht behandelt.

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Honig verzichtet wurde. Rohkost galt als einzige dem Menschen zuträgliche Nahrung, da er von Natur aus ein 'Frugivor' und kein 'Leichenfresser' sei. Das Schlafen in den Lufthütten, die im schwedischen Blockhausstil erbaut und auf dem Gelände des Monte Verità verstreut waren, gehörte zur Kur, die 'ganzheitlich' alle Lebensbereiche der Patienten umschließen und sie zu einem neuen Körperbewußtsein fuhren sollte. Das war ein radikal anderer Zugang als der der wissenschaftlichen Ärzte, die sich der Heilung von einzelnen Organen verschrieben hatten und es nach Ansicht der Naturärzte verpaßten, die krankmachenden Einflüsse dauerhaft zu überwinden. Im Prospekt des Sanatoriums Monte Verità von 1905 war das Credo der naturheilkundlichen Medizin in folgende Worte gefaßt: "Kein Mensch, und sei es der begabteste Arzt, kann Kranke heilen, denn nur die Natur allein heilt."3 Neben der Ernährung war die Frage nach der richtigen Kleidung - oder eben der Verzicht auf Kleider überhaupt - ein weiterer wichtiger Punkt der Kur auf dem Monte Verità. Gegen die einengenden Zwänge der zeitgenössischen Mode und besonders des Korsetts hatte die Gründerin Ida Hofmann ausgiebig polemisiert: Anstatt unsere Kleider nur als Schutz gegen Witterungseinflüsse zu betrachten und sie unserem ganz persönlichen Geschmack anzupassen, erdulden wir in gedankenloser Nachäffung der Geschmacklosigkeit Einzelner, die Fesseln der Mode mit all' ihren Marterinstrumenten, des Korsets, der Handschuhe, der Schuhe, der Brennscheere, der Stehkragen, Cravatten und Steifbürste, mit all' ihrem Ballast an komplizierten Haartrachten, an Kleidern kompliziertesten Zuschnitts, an Spitzen, Knöpfen, Bändern, Haken, Hüten, Schleiern, Gürteln u.a.m.4

Sie vertrat dagegen die Meinung, daß eine bewußte Einfachheit und Reduktion aufs Wesentliche für die Menschen viel zuträglicher wäre, als die üblichen Marterinstrumente der Schönheitspflege. In dieser Meinung besaß sie in Leo Tolstoi ein prominentes Vorbild. Dessen 3

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Prospekt Sanatorium Monte Verità, o.D. (ca. 1905) aus Landesbibliothek Bern Vereinsarchiv 18630. Jütte, Robert: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. München 1996, S. 3 2 ^ 1 . Hofmann, Ida: Vegetabilismus! Vegetarismus! Blätter zur Verbreitung vegetarischer Lebensweise. Bellinzona 1905, S. 6.

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einfaches Landleben auf Jasnaja Poljana, sein Verzicht auf jeglichen Luxus und seine Naturverbundenheit waren Punkte, die auf dem Monte Verità aufgegriffen wurden. 5 Auf dem Monte Verità bürgerte sich das Tragen von 'Reformkleidern' ein. Auf vielen Fotografien sind sie heute noch zu sehen. Die Apostelgewänder, wie die Reformkleidung auch genannt wurde, waren aus einem durchlässigen Leinenstoff gefertigt und ließen den Trägern die volle Bewegungsfreiheit. Wichtig war, daß der Haut die Möglichkeit zu atmen gelassen wurde. In der Cooperativa, im Genossenschaftsladen des Monte Verità, wurden solche Kleider und die dazu passenden Sandalen verkauft. Die Vorliebe für die 'Reformkleidung', die als Gegenbewegung zur herrschenden Mode entstanden war, wurde mit hygienischen Argumenten begründet und durchgesetzt. Der Mensch kommt nackt zur Welt und sollte nackt und uneingeengt leben. Durch Tausende von Poren entledigt er sich fortwährend einer Unmasse organischer Abfalle in Form von Gasen und von Schweiß. [...] Somit sind dicke, gestärkte oder eng anliegende Kleidungsstücke teilweise hindernd für den Zutritt von Luft an die Haut.6 Der freie Zugang der Luft zur Haut sei eine unumgängliche Voraussetzung für gesundes Leben. Nacktheit war in dieser lebensreformerischen Argumentation letztlich bloß der Verzicht auf die störenden, einengenden Kleider. Sich nackt zu bewegen, zu turnen, sei die gesündeste Form der Körperbewegung; wenn sie auch nicht vollständig schicklich sei, so empfehle sich wenigstens das Tragen der Reformkleider als Ersatz. Insofern war die Nacktkultur nur eine Fortsetzung von dem, was mit der Reformkleidung begonnen wurde, nämlich die Befreiung von den letzten störenden Hüllen, um den freien Zugang des Heilfaktors Luft zur Haut zu gewährleisten. Aber das alltägliche Leben auf dem Monte Verità wurde keineswegs von der Nacktkultur dominiert. Zum Essen, zu den gesellschaftlichen Anlässen wie Vorträgen und Konzerten oder auch zum Tennisspiel erschienen alle Angestellten und Gäste in angezogenem Zustand. Für die Besorgungen und Einkäufe, die die Monte Verita5 6

Hanke, Edith: Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion um die Jahrhundertwende. Tübingen 1993, S. 182-185. Landmann, Robert (1930), S. 152.

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ner in das Dorf Ascona führten, galten sogar noch strengere Kleiderordnungen. Dafür, so war die ungeschriebene Vereinbarung mit den Dorfbewohnern, mußten die Waden und die Oberkörper von Männer und Frauen züchtig bedeckt sein.7 Am meisten kam die Nacktkultur auf dem Monte Verità in den Sonnenkuren zum Tragen. Henri Oedenkoven hatte zwei, nach Geschlechtern getrennte 'Lichtluftbäder' auf dem Gelände des Monte Verità anlegen lassen. (Abb. 1) Darüber hinaus gab es 'Glassonnenhallen', die den Kurgästen das Sonnen auch bei kühlerem Wetter ermöglichen sollte. Diese 'Lichtluftkuren', die von den 'Sonnenkuren' von Arnold Rikli abgeleitet waren, wurden nackt ausgeübt. "Die Einrichtung unserer Anstalt ermöglichen es, Licht und Luft in unbeschränktem Maße zu geniessen. Dazu dienen vor allem: Zwei weit ausgedehnte, dichtumschlossene Lichtluftparks, einer für Männer, einer für Frauen, jeder 15000 qm gross", hieß es im Prospekt. In ihnen könnten die Kurgäste '"frei von aller lästigen Kleidung' im Grase ruhen, laufen, turnen, spielen, Garten- und andere Arbeiten verrichten."8 Die Demonstration der Nacktheit, für die der Monte Verità so bekannt war, fand also nicht in der freien Natur, sondern in einem betont antierotischen Rahmen statt. Die 'Lichtluftbäder', die es nicht nur auf dem Monte Verità gab, waren sehr streng in eine Männerund Frauenabteilung getrennt. Ihre hohen Bretterwände, die auf den Fotos heute noch sichtbar sind, sollten jeden unzüchtigen Blick auf das andere Geschlecht verunmöglichen.9 Von den lebensreformerischen Autorinnen und Autoren wurde immer wieder betont, wie 'natürlich' und rein die Nacktheit sei.10 Sie sei der Urzustand der Menschen und deshalb seien alle unsittlichen Vorurteile gegenüber der Freikörperkultur unangebracht. Erotik, nach Meyers Lexikon von 1897 die Kunst der Liebe, hätte mit einer 7

Grohmann, Adolf: Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a. S. 1904, Nachdruck Ascona 1997, S. 7. 8 Prospekt Sanatorium Monte Verità, V 18630. 9 Rothschuh, Karl E.: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung. Stuttgart 1983, S. 90-97. Reich illustriert: Schär, Otto: Sonnenkraft und Lebenskraft. Das Licht in der Heilkunde. Bern 1907. 10 König, Oliver: Die Nacktheit beim Baden. In: Grisko, Michael (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel 1999, S. 43-68, hier S. 60.

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richtig verstandenen Nacktkultur nichts gemein; nichts wurde vehementer geleugnet als die sexuellen Aspekte der nackten Haut." Nacktkultur wäre sittlich, dies sogar im Gegensatz zu dem lüsternen Treiben in den Städten und hätte deswegen mit einer schmutzigen Hintertreppenerotik nichts gemeinsam. Nacktheit und das sexuelle Verlangen seien zwei strikt voneinander abgetrennte Sphären. Erst die halbverhüllte Zurschaustellung des Körpers, wie sie die Prostituierten in den Städten pflegten, die aufreizende, zwielichtige (im wahrsten Sinne des Wortes) Betonung der Formen rufe eine unanständige Lüsternheit hervor. Dem gegenüber wurde die Nacktheit als die 'natürliche' Ausdrucksform des menschlichen Körpers stilisiert und in vielen künstlerischen Darstellungen verarbeitet. "Das Thema "Nacktheit' erfahrt in künstlerischen Kreisen eine hymnische, vitalistische Deutung, in der Kraft, Gesundheit und Schönheit (als bewußt gesetzte Gegenpole zum Fin-de-siècle-Thema Décadence, also dem Verfall der Gesellschaft und ihrer Kultur) zu den dominierenden Werten erhoben werden."12 Die künstlerische Verarbeitung der Nacktheit lebte von diesem Gegensatz zwischen Reinheit und Verworfenheit. In den Arbeiten des Künstlers Fidus, der 1907 mehrere Wochen auf dem Monte Verità verbrachte, ist dieser Dualismus ständig präsent. In vielen seiner Zeichnungen und Gemälde tauchen nackte Menschen auf, die stets in betont keuschen und unschuldigen Positionen abgebildet werden. Sein berühmtestes Bild, das Lichtgebet, zeigt in einer Halbrückenansicht einen nackten jungen Mann, der sich gegen den Himmel reckt. Die bewohnten Gegenden hat er längst hinter sich gelassen, er steht auf einer Bergkuppe, über ihm nur die Wolken, aus denen die gleißende Sonne hervorbricht.13 Das männliche Schönheitsideal, das sich in diesem Gemälde offenbart, trägt deutlich asketische und antierotische Züge. Hart, straff, 11 Linse, Ulrich: Zeitbild Jahrhundertwende. In: Andritzky, Michael / Rautenberg, Thomas(Hg.): "Wir sind nackt und nennen uns Du". Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Giessen 1989, S. 10-26, hier S. 19. 12 Schneider, Uwe: Nacktkultur im Kaiserreich. In: Handbuch zur völkischen Bewegungen. Hg. v. Uwe Puschner u.a., München 1996, S. 411-435, hier S. 415. 13 Über die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Fassungen des Lichtgebets siehe: Frecot, Janos / Geist, Johann Friedrich / Kerbs, Diethart: Fidus 18681948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München 1972, S. 288-301.

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sehnig und auf eine höhere Macht fixiert, hat dieser junge Mann nicht viel gemein mit einer lüsternen und aufreizenden Darstellung der Nacktheit. Vielmehr deutet seine Pose auf eine kultische Abgeschiedenheit und Versunkenheit hin. Nacktheit ist hier eine Chiffre für die Inszenierung des weltvergessenen Übermenschentums, des Strebens nach Höherem, der geistigen und körperlichen Höherentwicklung. Die erhebenden, weihevollen Züge, die Fidus der Nacktheit gibt, passen gut zu seinen Plänen für Tempelbauten, die er auf dem Monte Verità und anderswo realisieren wollte, die aber nicht zustande gekommen sind.' 4 Dies wurde von mehreren Autoren als Sinnsuche bei einer 'transzendentalen Obdachlosigkeit' interpretiert.15 Die neureligiösen Züge, die diese Sinnsuche annahm, gipfelten in einer Bewegung, die zum 'neuen Menschen' hinführen sollte. Mit diesem Begriff umschrieb der Religionswissenschaftler Gottfried Küenzlen das säkulare Fernziel, das anstelle des scheinbar überkommenen Gottglaubens am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt worden sei. In einem asketischen Reinigungsritual hätten sich die Menschen ein Programm zur Selbstverbesserung auferlegt, das sie stufenweise in die Erlösung hätte führen sollen. Das sei die religiöse Dimension einer Jugendbewegung, die eine Art von 'Übermensch' an die Stelle eines früher sakralen Ideals setzte.16 In der Nacktkultur auf dem Monte Verità sind, etwa in den Bildern von Fidus, die die ansonsten bilderlose Casa Anatta verzierten, diese Ansätze ebenfalls auszumachen. Da Nacktheit in der lebensreformerisehen Argumentation ständig mit den Wörtern 'Gesundheit' und 'Reinheit' verbunden wurde, konnte dies zu einem Schönheitskult und zu einer Verherrlichung der Jugend fuhren. Dies machte die Anhänger der Freikörperkultur po14 von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel. Zur Mission der Selbstbesinnung. In: Szeemann, Harald (Hg., 1978), S. 91-93. Kurzmeyer, Roman: Viereck und Kosmos. Künstler, Lebensreformer, Okkultisten, Spiritisten. In Amden 1901-1912. Wien 1999, S. 147-178. 15 Der Ausdruck von Georg Lukacs findet sich bei Ulbricht, Justus H.: Lichtgebet und Leibvergottung. Annäherungen an die Religiosität der Freikörperkultur. In: Grisko, Michael (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel 1999, S. 141-178, S. 148. 16 Küenzlen, Gottfried: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994, S. 157.

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tentiell empfanglich für eugenische und rassische Diskurse, indem mit der Propagierung eines idealen, normierten Körpers, alle anderen ausgegrenzt wurden, die diesen Anforderungen nicht genügten. Dies in der Verbindung mit einem sozialdarwinistischen Leistungsdenken konnte als Grundlage für eine Weltanschauung dienen, die Andersrassigen und Behinderten das Lebensrecht absprach. Und da zumeist Männer die Standards setzten, war der Freikörperkultur ein Frauen diskriminierender Zug inhärent. Da sich derartige Ausgrenzungsmechanismen direkt auf die Körper richteten — sie normalisierten und standardisierten — waren sie schwierig zu unterlaufen.17 Diese Diskurse über Reinheit und Gesundheit haben indes nicht die gesamte Diskussion über die Nacktheit auf dem Monte Verità dominiert. In diese Richtung weisen höchstens der offizielle Ausschluß von Tuberkulösen und Epileptikern aus dem Kurbetrieb des Monte Verità, wie es im Prospekt festgeschrieben war.18 Auf der anderen Seite setzte sich Ida Hofmann stark für die Rechte der Frauen ein, deren Unterdrückung sie in deutlichen Worten anprangerte.19 In den Kategorien, die auf dem Monte Verità aufgestellt wurden, läßt sich keine eindeutige Verwendung der Nacktheit erschließen; einerseits wurde sie wie selbstverständlich und ohne großen rhetorischen Aufwand im Kurbetrieb eingesetzt und andererseits war sie ein Gegenstand, an dem sich viele verschiedene ideologische Positionen aneinander rieben.

17 Möhring, Maren: Wie erarbeitet man sich einen natürlichen Körper? Körpernormalisierung in der deutschen Nacktkulturbewegung um 1900. In: 1999. Zeitschrift fiir Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2, 1999, S. 86-109, hier S. 105-108. Wedemeyer, Bernd: 'Zum Licht'. Die Freikörperkultur in der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik zwischen Völkischer Bewegung, Okkultismus und Neuheidentum. In: Archiv flir Kulturgeschichte 1999, Heft 1, S. 173-197, hierS. 179. 18 Prospekt Sanatorium Monte Verità, V 18630. 19 Hofmann-Oedenkoven, Ida: Wie gelangen wir Frauen zu harmonischen und gesunden Daseinsbedingungen? Ascona 1902.

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Antierotische Nacktheit? So einleuchtend die Einstellung zur Nacktheit von Ida Hofmann und anderen auf dem Monte Verità auch scheinen mag, bleibt dennoch verwunderlich, weshalb die Nacktkultur inszeniert werden mußte. Wäre es allein um die hygienischen und gesundheitlichen Aspekte der Nacktheit gegangen, hätten doch kaum Postkarten vom Monte Verità mit Aktfotos gedruckt und verkauft werden müssen. Aber Nacktheit bekam nach 1900 mit der Verbesserung der Technik der Abdrucke ein öffentliches Forum. Nach der Jahrhundertwende war die großflächige Verbreitung von Nacktfotografien in spezialisierten Zeitschriften aufgekommen. In der von Karl Vanselow herausgegebene Reformzeitschrift 'Die Schönheit' posierten in jeder Nummer nackte Männer und Frauen (mehr Frauen) in der freien Natur.20 Von der Kolonie Monte Verità in Ascona sind schon kurz nach der Gründung im Jahr 1900 erste Nacktbilder durch die Presse und Postkartenverkauf in die Öffentlichkeit gedrungen. Der Konsul Salomonson verkaufte auf dem Monte Verità Postkarten, auf denen er nackt bei Gartenarbeiten abgebildet war, mit dem darunter stehenden Spruch "Die Schande hat uns gekleidet, die Ehre wird uns wieder nackt machen."21 (Abb. 2) Die Inszenierung der Nacktheit in Bild und Schrift verweist auf andere Aspekte der Nacktheit, die in der lebensreformerisehen Diskussion selbst kaum vorgekommen sind. Dazu gibt es vom Monte Verità eine Anekdote, die ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zur Nacktheit wirft. Wenn sie auch anekdotentypisch übertrieben und nur im Kern wahr sein mag, sind die Einstellungen zum nackten Körper, die sich in ihr enthüllen, doch bemerkenswert. Henri Oedenkoven hatte Maria Adler, einer Mitarbeiterin, für die er freundschaftliche Gefühle hegte, 1909 ein Grundstück am Rande seines Sanatoriums Monte Verità geschenkt. Als die Freundschaft auseinanderbrach, beschloß Maria Adler, sich an ihrem ehemaligen Mentor zu rächen. Da das Grundstück juristisch unanfechtbar auf sie überschrieben war, konnte sie frei darüber verfugen. Da faßte sie folgenden Plan: 20 Frecot, Janos: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben. In: Fotogeschichte 15 (1995), S. 37-46. 21 Abbildung in Landmann, Robert: Monte Verità. (Überarbeitet von Ursula von Wiese). Frankfurt/Main 1978, S. 39.

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Die Hauptanziehungskraft und ein notwendiger Bestandteil des Monte Verità waren die eingezäunten Luftbäder. Maria Adlers Absicht ging dahin, auf ihrem Grundstück, so beschränkt es im Raum auch war, ein Hotel bauen zu lassen. Und zwar sollte es - und mußte es, da sonst kein Platz vorhanden gewesen wäre - ein Hochbau werden. Mindestens sechs Stockwerke. Und oben sollte ein flaches Dach sein. Von dort aus, das war ihr teuflischer Plan, sollte man bequem in die Luftbäder blicken können; das Nacktbaden in der Sonne, das auf dem Monte Verità so wichtig genommen wurde, sollte auf diese Weise unterbunden werden. 22

Weil ein sechsstöckiges Hochhaus in dieser Art aber zu teuer gekommen wäre, ließ Maria Adler statt dessen zwei Aussichtstürmchen auf einem dreistöckigen Bau errichten. Als die Casa Semiramis, wie sie das Hotel bei der Eröffnung 1910 nannte, eröffnet wurde, waren diese Türmchen mit Aussichtsterrasse die Attraktion, weil von ihnen ein direkter Blick auf die Luftparks möglich war, wo sich die Kurgäste nackt sonnten. Die Mitarbeiter und Gäste des Sanatoriums fühlten sich gezwungen, verborgene oder durch Gestrüpp verdeckte Stellen des Luftparks aufzusuchen. Eine unangenehme Nervosität herrschte auf dem Monte Verità; die meisten Menschen dort besaßen nicht dieselbe Gleichgültigkeit gegen fremde Blicke wie die ersten Naturmenschen. 23

Die Möglichkeit, beim Luftbad in nacktem Zustand beobachtet zu werden, wurde offenbar von den Kurgästen als störend empfunden. Anders als die abgehärteten "Naturmenschen', die an neugierige Blicke gewöhnt waren, fürchteten sie um ihre Intimität. Nacktheit blieb für sie mit Schamhaftigkeit behaftet. Nacktheit als Kurmittel ja, doch nicht vor den voyeuristischen Blicken anderer. Aber die Casa Semiramis hat sich trotz der attraktiven Aussicht nicht nur auf die Luftbäder sondern ebenso auf den Lago Maggiore nicht rentiert, Bau und Unterhalt mußten für Frau Adler zu teuer gekommen sein. Nach eineinhalb Jahren mußte sie Konkurs anmelden. Oedenkoven übernahm das Hotel für 36000 Franken und verleibte es seinem vegetabilischen Betrieb ein. Als erstes ließ er die beiden

22 Landmann, Robert ( 1930), S. 161. 23 Ebd. S. 162.

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Türmchen abreißen, die ihn so gestört hatten. Damit war die Intimität seiner Gäste wieder gewahrt. An dieser Anekdote wird deutlich, daß es um Nacktheit und um Erotik eine gesellschaftliche Auseinandersetzung gab. Dies bestätigt die Meinung von Michel Foucault, der im viktorianischen Zeitalter ein Wuchern der Diskurse über den Sex entstehen sah. Die Repressionshypothese, wonach alle Äußerungen über Sexualität im Zeitalter der bürgerlichen Doppelmoral verpönt gewesen wären, stellt Foucault ein viel subtileres Modell gegenüber. Sexualität sei in einen Diskurs eingebunden worden, der sich nach den Möglichkeiten der Macht organisiert und dadurch eine ausgrenzende Form gegen mißliebige Arten der Sexualität angenommen habe.24 Peter Gay, der aus vielen Tagebüchern aus dem 19. Jahrhundert zitiert, kommt im Grunde genommen zu einem ähnlichen Schluß, wenn auch mit deutlich weniger negativen Vorzeichen. Sexualität und Erotik war für ihn ein Teil des bürgerlichen Lebensstils, war durchaus mit Lust verbunden und nicht selten alles andere als 'weihevoll' und 'erhebend'.25 Nach der Jahrhundertwende erlebten populäre Aufklärungsbücher von Ärzten, Hygienikern und Sexualwissenschaftern eine massenhafte Verbreitung. Auguste Forel, Ywan Bloch und Magnus Hirschfeld setzten sich für eine Enttabuisierung der Sexualität ein.26 Dem großen Diskurs über Sexualität, Erotik und Nacktheit konnte sich auch die Freikörperkultur, wie sie auf dem Monte Verità praktiziert wurde, nicht entziehen. Ihre Bedeutung mußte gesellschaftlich ausgehandelt werden. Indes gingen die Ansichten, wie Nacktheit moralisch zu bewerten sei, auseinander. Denn es war keineswegs so, daß Nacktheit generell auf Zustimmung gestoßen wäre. Die Lebens24 "Alles in allem geht es darum, den Fall einer Gesellschaft zu prüfen, die seit mehr als einem Jahrhundert lautstark ihre Heuchelei geißelt, redselig von ihrem eigenen Schweigen spricht und leidenschaftlich und detailliert beschreibt, was sie nicht sagt, die genau die Mächte denunziert, die sie ausübt, und sich von den Gesetzen zu befreien verspricht, denen sie ihr Funktionieren verdankt." Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main 1983, S. 18. 25 Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986, S. 147. 26 Bloch, Iwan: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. Berlin 1908. Forel, August: Die sexuelle Frage. Zürich 1904. Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde. Auf Grund dreissigjähriger Forschung und Erfahrung. 4 Bde., Stuttgart 1926-1930.

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reformer mochten immer wieder betonen, wie 'natürlich' und 'echt' die nackte Bewegung in der 'freien' Natur sei, wie sehr sie sich unterschiede von der lüsternen Halbverhüllung der Prostituierten in den Städten. Geglaubt wurde ihnen nicht immer. Zwar war die Akzeptanz in bürgerlichen Kreisen zunehmend größer, doch sollte die Stärke der Gegenbewegung nicht unterschätzt werden. Der Nacktkultur war immer noch ein Außenseiterstatus beschieden, das wird deutlich an den sensationshaschenden Artikeln, die immer wieder neu über den Monte Verità verbreitet wurden. In weiten Teilen der Bevölkerung, der katholischen wie der protestantischen Kirche, bei den sich im 19. Jahrhundert formierenden Sittlichkeitsvereinen und in den konservativen Parteien setzte eine nicht zu unterschätzende Gegenbewegung ein. 27 In Traktaten wurde die Verluderung der Sitten, die sich ständig ausbreitenden Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhöe angeprangert. Um dem Entgegenzuwirken müsse der amtlich verordneten Doppelmoral etwas entgegengesetzt werden, Bordelle müßten geschlossen werden, die öffentliche Nacktheit müsse möglichst eingeschränkt werden. 28 Dennoch lassen sich zwischen diesen offenbar entgegengesetzten Positionen einige gemeinsame Wurzeln entdecken. Beide waren aus einer Modernitätsfurcht, aus Angst vor unübersehbaren zivilisatorischen Entwicklungen zu ihrer Position gelangt. Dem modernen Schmutz, den Krankheitserregern in den offenen Abwässern und in der Verluderung der Sitten wurde der Kampf angesagt. 29 Viele Vertreterinnen und Vertreter der Sittlichkeitsbewegung legten ein eiferndes Verhalten an den Tag, das dem der Lebensreformer in nichts nachstand. Nacktheit, von den Lebensreformern, als das 'Reine' und 'Schöne' begrüßt, wurde von der Sittlichkeitsbewegung mit ähnlichen Argumenten als unmoralische Aufreizung verteufelt. 27

Vgl. die Prozesse, die um 'unzüchtige' Stücke wie Schnitzlers Reigen geführt wurde. Marcuse, Ludwig: Obszön. Geschichte einer Erinnerung. Zürich 1984. 28 Puenzieux, Dominique / Ruckstuhl, Brigitte: Medizin, Moral und Sexualität. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhöe in Zürich 1870-1920. Zürich 1994. Ulrich, Anita: Bordelle, Strassendimen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Zürich 1985. S.a. Paulus, Franz: Folgen unsittlicher und sittlicher Lebensführung in ihrer Bedeutung für die Volkswohlfahrt. Berlin 1898. Paulus gehörte zur Emigrantengemeinde in Ascona. 29 Mesmer, Beatrix: Ausgeklammert - Eingeklammert. Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Basel 1988, S. 121-125.

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Insgesamt führte dieser gesellschaftliche Diskurs um die Nacktheit dazu, daß die 'Reinheit' keineswegs automatisch der Freikörperkulturbewegung zugeordnet wurde. Im Tessin war die Nacktheit der "Naturmenschen' nicht immer gerne gesehen. In einem Artikel in der Tessiner Zeitung wurde über den Mitbegründer des Monte Verità, Gusto Gräser, berichtet: Verhaftung: In der Via Ramogna wurde gestern nachmittag der bekannte Propagandist der Nacktkultur Gustav Gräser verhaftet. Er trug eine allerdings im höchsten Grade auffallige 'Bekleidung', die einen großen Teil des Körpers unbedeckt ließ. Obwohl wir für eine zweckmäßige Körperkultur und Natürlichkeit sehr eingenommen sind, eine derartige Herausforderung der Sitte empfinden wir als sinnlos und unmoralisch.30 Im Text, den Adolf Grohmann 1904 über die Vegetarier-Ansiedelung Monte Verità verfaßt hat, wird augenscheinlich, daß die Gründe dieser moralischen Empörung nicht immer außerhalb zu suchen sind. Grohmann beschreibt Lotte Hattemer, die zur Gruppe der Gründer des Monte Verità gehörte, auf folgende Art: Die Tochter eines höheren norddeutschen Beamten entzweit sich mit 17 Jahren mit ihrem Vater und verlässt ohne Geld das Haus. [...] Bei den Genossen ruft sie zwar sehr verschiedene Gefühle hervor in ihrer üppigen Gesundheit und Jugendkraft, durch ihre sehr grosse Freiheit des Benehmens (bei voller Sittlichkeit), ihrer Gutmüthigkeit, ihren stürmischen Freundschaftsgefühlen und äusserst lebhaftem Wesen, ,sie hat den Teufel im Leib': aber Alle achten sie, die meisten haben sie sehr lieb.31 Auf der einen Seite betont Grohmann die 'große Freiheit des Benehmens' und ihre 'üppige Gesundheit', um in der Klammerbemerkung sofort darauf hinzuweisen, daß ihr Benehmen stets im Rahmen der 'vollen Sittlichkeit' geblieben sei. Mit dem Ausdruck 'sie hat den Teufel im Leib' spielt Grohmann auf etwas an, das er in der Folge nicht weiterführt. Doch, da es schon einmal ausgesprochen ist, hat er den Leserinnen und Lesern seiner Broschüre genug Anstoß gegeben, sich ihren Teil dabei zu denken. Die gezielten Provokationen, die ständig halb zurückgenommen werden, muten bei ihm beinahe als

30 Tessiner Zeitung, 24.7.1909. 31 Grohmann, Adolf (1904), S. 44.

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System an, nämlich als Spiel der Verbindung zwischen Nacktheit und Erotik, wie er sie eigentlich nach außen immer zurückgewiesen hat. Bei Erich Mühsams Schrift über den Monte Verità liegt der Fall ähnlich: Nacktheit gab - bei aller betont keuschen, ja aseptischen Einstellung - unterschwellig doch immer zu erotischen Fantasien Anlaß. Über die Bewohnerin des Monte Verità Elly L. schrieb Mühsam: Elly ist das strikte Gegenteil der Lotte. An ihr ist nichts Erkünsteltes, nichts Gemachtes, nichts Forciertes. Aber eine vollendete Zigeunernatur ist sie, wie man sie unter Frauen selten findet. [...] Sie ist ein Weib, das nicht mehr sein will, als ein Weib und grade darum mehr ist, als die meisten Weiber. Den Moralbegriffen der Kreise, denen sie entstammt Elly ist eine deutsche Professorentochter - , steht sie mit den denkbar freisten Anschauungen gegenüber und ist dabei weder auf den Vegetarismus noch auf sonst einen Ismus versessen. Daß sie die grösste Freiheit in der Auffassung des Lebens mit der grössten Freiheit von allen absonderlichen Originalitäten verbindet, das ist ihre einzige und nicht geringe Originalität.32 Interessanterweise wurden die Monte-Veritaner, die merkwürdigen Bewohner des Monte Verità, von der einheimischen Bevölkerung ähnlich gesehen. Die Fremden, die sich ganz anders verhielten, als es die mehrheitlich katholischen Tessiner gewohnt waren, wurden mit dem Ausdruck 'Baiabiott' bedacht, was soviel wie Nackttänzer bedeutete. Giorgio Vacchini, der Chronist von Ascona, erklärt den Namen folgendermaßen: So bekamen die Monteveritani gesamthaft den Namen 'Baiabiott'. Ich erkundigte mich bei vielen Leuten nach der Bedeutung des Spitznamens 32 Mühsam, Erich: Ascona. S. 56f. Die handfeste Erotik, die der außenstehende Erich Mühsam in Elly L. verkörpert sah, ist bei ihm oft begleitet von einer patriarchal biologistischen Festschreibung der Frauenrolle auf Gefühlsleben, Mütterlichkeit, usw., was einem Ausschluß aus allen 'männlich' konnotierten Bereichen wie Literatur, Politik und Siedlungsprojekten gleichkommt. Van den Bert, Hubert: Acht Thesen zu Erich Mühsams Überlegungen zur 'Frauenfrage' und seiner literarischen Darstellungsweise von Frauen in der Periode 1900-1914, mit entsprechenden Stellen aus Mühsams Werk. In: Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 3, 1991, S. S. 29-56, hier S. 30-32.

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und bekam verschiedene Erklärungen, wobei eines immer gleich blieb, nämlich die Bedeutung 'nackt' für 'biott'. Eine Auswahl der Erklärungen: 'Sie waren immer nackt...', 'Sie liefen auch im Wald nackt herum...', 'Sie nahmen nackt Sonnenbäder auf den Felsen...', 'Sie wagten es, in den Gassen des Dorfes mit nackten Brüsten, Armen und Rücken herumzugehen...' und die Schlußbemerkung war meist: 'Alle im Dorf machten ihnen Beine.'33 Von dieser außenstehenden Perspektive wurden die Bewohner des Monte Verità keineswegs immer so rein und sittlich angeschaut, als sie sich selbst gerne darstellten. Nacktheit erregte in den Gassen von Ascona Anstoß. Das war aber nicht nur eine Fremdzuschreibung, sondern hatte Gründe, die ebenso auf dem Monte Verità selbst zu suchen sind. Was theoretisch fein säuberlich getrennt war, die reine, keusche Nacktheit gegenüber der reizüberfluteten Großstadt mit ihren Prostituierten, besaß als theoretisches Postulat mehr Gewicht als in der praktischen Umsetzung. Nacktheit behielt ihre erotische Komponente, trotz aller Vehemenz mit der die Autoren der Lebensreformbewegung dies verneinten. Sonst wäre eine religiös und sittlich motivierte Gegenbewegung, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, überhaupt nicht denkbar. Im gesellschaftlichen Diskurs mußte die Bedeutung der Nacktheit immer wieder neu ausgehandelt werden.

Die Bedeutung der Nacktheit für den Betrieb des Monte Verità Wie Nacktheit genau bewertet wurde - ob als gesundheitliches Erfordernis oder eher als ein sakulärreligiöses Konzept - auf jeden Fall war sie ein zentraler Faktor auf dem Monte Verità. 'Naturmenschen' und nackte Sonnenbadende erregten ein Aufsehen, welches für das Sanatorium Monte Verità nicht bedeutungslos war. Durch die Bilder und Zeitschriftenartikel, die vom Monte Verità verbreitet wurden, wurde ein bestimmtes 'Image' vom Sanatorium vermittelt, in welchem die Nacktkultur eine wichtige Rolle spielte. Da sie so eindeutig 33 Vacchino d'Ascona (Giorgio Vacchini): Monte Verità im Urteil der Bevölkerung. In: Szeemann, Harald (Hg., 1978), S. 80-84, hier S.82f.

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mit dem Monte Verità assoziiert wurde, bekam sie eine kommerziellen Bedeutung, die die einzelnen Diskussionsstränge überlagerte. Eine wichtige Voraussetzung für die mobilisatorische Wirkung der Nacktheit war das Aufkommen der Fotografie und ihrer massenhaften Reproduktion in Zeitschriften. Die Schwarzweißfotografie ist denn auch das bevorzugte Medium der Nacktkultur geworden.34 Durch diese neu aufgekommenen technischen Möglichkeiten wurde die Nacktkultur medialisiert und dadurch auch Menschen zugänglich gemacht, die sich persönlich niemals getraut hätten, in ein Lichtluftbad zu gehen. Die Astlöcher im Bretterzaun oder die freie Sicht auf die Bäder vom Hotel Semiramis aus wurden durch den Abdruck von Nacktbildern vom Monte Verità institutionalisiert, so daß die Bretterwände eigentlich obsolet wurden. Gerade durch diese Bilder wurde die Grenze zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum verwischt, durch sie wurde auch Unbeteiligten ermöglicht, einen Blick in das sagenhafte Sanatorium zu werfen. Deshalb sind diese Bilder für die Rezeption des Monte Verità bis heute entscheidend geblieben. Sie entwarfen vom Monte Verità eine 'befreite' und leicht aufrührerische Kolonie, die sich von den bürgerlichen Normen der Gesellschaft emanzipiert hatte.35 Das bedingte aber, daß der antierotische Rahmen, der von den lebensreformerischen Autoren konstruiert wurde, nicht allzu perfekt saß. Die Nacktbilder, die vom Monte Verità bekannt wurden, strahlten immer mehr aus als eine nüchterne Kuratmosphäre. Janos Frecot spricht in diesem Fall von einer 'Verweltlichung' der Schönheitsbewegung und einer kommerzielle Steuerung und Abschöpfung verdeckter erotischer Bedürfnisse.36 Auf dem Monte Verità fällt auf, daß gerade Autoren wie Erich Mühsam oder Adolf Grohmann, die auf dem Monte Verità nur kurze Zeit verbrachten, versucht waren, die erotischen Aspekte der "Naturmenschenkolonie' herauszustreichen. Erst dies machte aus dem Monte Verità eine Kolonie, die einen wir34 Schneider, Uwe: Nacktkultur im Kaiserreich, S. 79. Siehe ebenso zur Zeitschrift 'Die Schönheit': Frecot, Janos: Die Schönheit..., S. 37-46. 35 Schwab, Andreas: Das Terrain ist besetzt. Mythos Monte Verità. In: Bodmer, Hans Caspar u.a. (Hg.): Monte Verità, Landschaft, Kunst, Geschichte. Frauenfeld 2000, S. 27-50. 36 Frecot, Janos: Die Schönheit..., S. 43.

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kungsvollen Gegensatz zur übrigen Welt abgab. Ihre Schilderungen für Leute, die den Monte Verità nicht aus persönlicher Anschauung kannten, lebten von diesen exotischen Elementen, wozu Nacktheit zu zählen ist. Für die Betreiber des Sanatoriums, Ida Hofmann und Henri Oedenkoven, war der Umgang mit der Nacktheit schwieriger. Die sensationshaschenden Berichte über die 'Naturmenschenkolonie' mußten sich für sie geschäftsschädigend auswirken. Ihnen war daran gelegen, ein Rohkostsanatorium zu führen, das genug zahlende Gäste anzog, damit sie von diesen Einnahmen ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Ein allzu offener Umgang mit der Nacktheit war gegen ihr Interesse, obschon sie natürlich vom Aufsehen, das die Fotos und die Artikel über den Monte Verità erregten, auch wieder profitierten. Ihre Position gegenüber der Nacktheit war insgesamt ambivalent, aber ganz bestimmt setzten sie sich gegen eine erotisch aufgeladene Nacktheit, die ihren Betrieb in ein schiefes Licht rückte, zur Wehr. Sie legten sich eine Strategie zurecht, nach der sie auf alle in ihren Augen unsachlichen Artikel über den Monte Verità mit einer Gegendarstellung antworteten. Die Broschüre von Mühsam wurde in einer Anzeige in der Vegetarischen Warte vom 8. Dezember 1905 mit folgenden Worten bedacht: Es ist eine Schande, daß eine Buchhandlung, welche den Vegetarismus 'unsere Sache' nennt (was übrigens der Tatsache nicht entspricht) ein solches Werk empfiehlt. Die Charakterschilderungen sind, mit Ausnahme einiger richtiger Beobachtungen, ganz falsch und beweisen nur die dekadente Richtung des Verfassers, der einige der geschilderten Persönlichkeiten kaum kennt, weil sie jeden Verkehr mit ihm ablehnten. Seit 5 Jahren arbeiten wir hier ohne Lärm an der Lösung und Verbesserung der sozialen und hygienischen Lebensbedingungen und werden das Resultat unserer Erfahrungen im geeigneten Augenblick veröffentlichen. In der in Kürze erscheinenden Broschüre Monte Verità, Wahrheit ohne Dichtung von Ida Hofmann-Oedenkoven (einem unserer Mitglieder) hoffen wir gegen die gewissenlosen Gerüchte und Behelligungen neugieriger Aufdringlinge Stellung zu nehmen. Der Präsident der Vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verità Henri Oedenkoven-Hofmann. Oftmals wurde der Verwalter des Betriebs, A. E. de Beauclair, der zugleich Maler war, mit dem Verfassen einer Gegendarstellung be-

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Andreas Schwab

auftragt. Rührig setzte er sich für Oedenkoven und sein Sanatorium ein: Eine Kolonie ist gar nicht diese Ansiedlung des Monte Verità! [...] Der Eigentümer ist Henri Oedenkoven, der (bei Rickli von hartnäckigem Leiden beireit) ein feuriger und beredter Verfechter unserer Lebensreformbewegung ist. Als Schönheitsapostel und Vernunftsmensch will er aber gar nichts mit denen zu tun haben, die der Devise leben: zurück zur Natur! Er haßt, wie wir alle auf dem Monte Verità, die wir unter Oedenkoven mit Freude arbeiten, jene Naturmenschen und Primitiven, und macht sich alle praktische Kultur zunutze; er hat seinen eigenen künstlerischen Geschmack und hat sich eine Villa errichtet, die dem Kunstästheten Schulze-Naumburg gefallen müßte! Von Primitivität, Nacktheit usw. ist als auf dem Monte Verità keine Rede.37 So ist bei den Betreibern des Monte Verità ein Dualismus in Bezug auf die Nacktheit zu erkennen. Sie befürworteten Nacktheit als Kurprinzip und moderne hygienische Lösung, wollten aber mit einer Kolonie nackter Naturmenschen nichts zu schaffen haben. Schon so war die Lebensreformbewegung, wie sie Hofmann und Oedenkoven in extremis vertraten, eine Position einer Minderheit, die von ihren Vertretern einiges an Standfestigkeit bedurfte. Die Außenseiterposition begünstigte aber elitistische Ansichten, die oftmals direkt mit dem gesunden Körper in Verbindung gebracht wurde: Der ästhetische und starke Körper suggerierte Erfolg, Leistung, Gesundheit, Belastbarkeit und positive Identität. Ein auf den Körper bezogenes säkularreligiöses Konzept verspricht somit den Anhängern, zur Elite der Gesellschaft zu gehören. Es ist daher kein Wunder, daß sich die körperorientierten Lebensreformer als neue gesellschaftliche Avantgarde verstanden; damit kompensierten sie ihren Außenseiterstatus und betrieben ihre Selbststilisierung zur Elite.38 Hofmann und Oedenkoven wollten sich nur nicht den Ruf ihres seriösen Gesundheitsinstituts durch eine unabsehbare lüsterne Negativpropaganda gefährden lassen. 37 Zit. nach Landmann, Robert (1930), S. 121. 38 Wedemeyer, Bernd: Der 'neue Mensch' als säkularreligiöses Heilsziel. In: Nowak, Cornelia / Schierz, Kai Uwe / Ulbricht, Justus H. (Hg.): Expressionismus in Thüringen. Facetten eines kulturellen Aufbruchs. Jena 1999, S. 178-185, hier S. 181.

Ohne Hintergedanken?

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Aber Nacktheit war nicht einzig in einen 'Reinheitsdiskurs' eingebunden, wie es Künstler wie Fidus und die Vertreter der FKKBewegung gerne gesehen hätten, sondern gehörte zum Kuralltag auf dem Monte Verità. Von da aus floß die Bewegung, die sich unter starken ideologischen Vorzeichen gegen die Gesellschaft gewandt hatte, später kommerzialisiert in sie zurück. Das ist bei der Freikörperkultur ebenso zu beobachten wie bei der Fitneßbewegung oder der vegetarischen Ernährung. Die Rückbesinnung auf ein angeblich natürlicheres Körpergefühl, das mit der Nacktheit verbunden sein sollte, verweist deshalb auf einen Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen, die es einer gewissen Schicht von Leuten erlaubte, für einige Wochen ins Tessin in Urlaub zu fahren. Die Nacktheit in ihrem gesellschaftlichen Kontext um 1900 war in sich ambivalent, die größere räumliche Mobilität, die verbesserten Publikations- und Verbreitungsmöglichkeiten waren Faktoren, die ebenso zum geschilderten Umgang mit ihr gefuhrt hatten, wie die weltanschaulichen Einstellungen, mit denen sie begründet wurde.

IV. Andere Länder, andere Sitten Heiligung durch Entgrenzung des tabuisierten Körpers Der rituelle Exzeß in Theorien über Tradition und Moderne Klaus-Peter Köpping

Therefore we find corruption enshrined in sacred

places.1

Die Provokation durch den Körper "Korruption", hier im Kontext einer spezifischen ethnographischen Beobachtung eines Trauerrituals als "Verwesung" von Organischem, von körperlichen Ausscheidungen, verstanden, wird von Mary Douglas in ihrer Studie von 1966, Purity and Danger, mit diesen provokativen Worten zum unabdingbaren und notwendigen Bestandteil des Heiligen erklärt. Indem sie damit die Transgression durch "Korruption" - auch im metaphorischen Sinne von "Verderbnis durch das Fleischliche" zum universalen Kriterium erklärt, bietet sie eine Bestimmung des Heiligen, die nicht nur unserem gegenwärtigen Normalverständnis diametral entgegengesetzt zu sein scheint, 1

Douglas, Mary: Purity and Danger. Harmondsworth 1966=1984, S. 179. Alle Zitate im Text folgen der englischen Ausgabe. Deutsche Ausgabe: Reinheit und Gefährdung. Berlin 1985.

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sondern sie untergräbt damit auch jene absolute Unterscheidung zwischen dem Heiligen und Profanen, die den Grundtenor vieler moderner Gesellschaftstheorien wie der von Dürkheim bildet. Da beide, das Alltagsverständnis wie die sozialwissenschaftlichen Theorien, auf einer christlichen Grundlage aufbauen, scheint die Einbeziehung dessen, was in dieser Lehre als Anathema gilt, nämlich die Transgression durch Körperlichkeit, sei es durch konkrete und imaginäre "Fleischeslust", durch Verwesung oder durch Blutvergießen, unsere als selbstverständlich angenommenen Prämissen über das Sakrale in Frage zu stellen. Bevor ich diese Prämissen eines christlich-abendländischen Denkens kritisch hinterfrage, und auch die häufig geäußerte Vorurteilsstruktur, daß es in christlichen Ritualen keine Transgressionen gäbe - es bestehen in der Tat hinreichend Gründe, die Prämisse des Ausschlusses der Transgression zu bezweifeln, da zumindest Diskrepanzen zwischen den theologischen Diskursen einer schriftgelehrten Elite und den konkreten volksreligiösen Praktiken bestehen - , ist es jedoch zunächst notwendig, die Ausgangsposition des Arguments von Douglas hinsichtlich der Idee der verunreinigenden Korruption darzustellen. In der angeführten Studie geht es Douglas darum, den Nachweis dafür zu erbringen, daß es in allen bekannten Gesellschaften zwar eine klare Unterscheidung zwischen dem Reinen und dem Verunreinigenden gibt, daß diese Unterscheidung aber nicht äquivalent oder parallel zu der zwischen dem Heiligen und dem Profanen verläuft. Die Logik der binären Oppositionen von Eigenschaften von Handlungen und Dingen ergibt sich für Douglas zunächst aus der Gemeinsamkeit von Vorstellungen über Differenzierungen, die in allen Gesellschaften ein notwendiger Bestandteil eines symbolischen Systems sind, das sowohl im säkularen wie im rituellen Bereich zum Tragen kommt. Es scheint so, als würden universell bestimmte Dinge und Handlungen, die mit körperlichen Funktionen zu tun haben, als tabuisiert in dem Sinne eingestuft, daß sie wegen ihres Gefahrenpotentials mit Sanktionen belegt werden, und zwar auch und gerade im alltäglichen Handeln. Die Korruption, die vom Körperlichen ausgeht, ist nur ein Teil eines Systems, das alles Verunreinigende als "Schmutz" auszugrenzen versucht, Schmutz hier metaphorisch verstanden als eine Störung

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jener kulturtragenden und Handlungssicherheit versprechenden Ordnung, die sich in den Symbolsystemen von Kategorisierungen und Konzepten über die Realität niederschlägt. Differenzierungen und Diskriminierungen sind aber zugleich konstitutiv für die Hierarchisierung von Begriffen und sozialen Beziehungen. Die Beseitigung von Schmutz ist daher nichts anderes als ein Symbol, Indiz oder Symptom, Ungereimtheiten, die in jedem Klassifikations-System auftauchen müssen, ein- oder auszugrenzen und damit unschädlich zu machen. Jede Ungereimtheit oder Anomalie im System ist als Störfaktor gefährlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung als kollektiv bindendem Kanon, da sie Unsicherheit mit sich bringt. Da aber alles Leben voll von Unvorhersehbarkeit ist, müssen Konzept-Systeme immer wieder mit den Unwägbarkeiten, den Zufällen, Unfällen, Ereignissen, auch den Stimmungen und Begierden von Menschen, die nicht planbar sind, irgendwie fertig werden, kurz die Risiken des Kontingenten bewältigen. Das hervorragende Mittel, mit solchen Risiko-Faktoren des Lebendigen fertig zu werden, sind Rituale, die den Störfaktor "Schmutz" eliminieren, oder wenn die Handlung schon stattgefunden hat, neutralisieren sollen. Einer der hauptsächlichen Störfaktoren ist aber eben der menschliche Körper, der in seinen inneren unbewußten und vom Willen unbeeinflußbaren physiologischen Mechanismen genauso wenig voll beherrschbar ist wie in seiner äußeren Form, durch die er in die Welt hineinragt und diese wiederum vereinnahmen kann, der sowohl mit "fremden" Körpern Kontakt aufnimmt (wozu alle Kommunikationskanäle von der Sprache bis zur Gestik gehören) wie "Fremdkörper" in sich aufnimmt (wozu alle Sinnesrezeptoren genauso wie Nahrung und Krankheiten gehören können). Körperlichkeit als Unreinheit wird als gefahrlich eingestuft und muß daher nicht nur vom Heiligen ferngehalten werden, sondern auch im Bereich des Alltäglichen mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen abgegrenzt werden, so daß Übertretungen in diesem profanen Bereich auch mit rituellen Sanktionen versehen sind. Wenn dann aber schon die normale Körperlichkeit als Ursache gefährlicher Verunreinigungen angesehen wird - und ihre Sanktionierung durch die rituelle Sühnung damit doch auf einen besonderen Bereich des Heiligen als grundlegender und die gesamte Realität konstituierender

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Ordnungsstiftung verweist dann erscheint uns die bewußte Einfuhrung verunreinigender Praktiken in das Umfeld des Religiösen umso erstaunlicher. Um die Logik dieser Systematik des symbolischen Denkens und Handelns außer-europäischer Kulturen in ihrer Sinnhaftigkeit zu verstehen, ist es aufschlußreich und normale ethnologisch-vergleichende Praxis, zunächst einen Zugang durch eine Reflexion über unsere eigenen kulturellen Sensibilitäten zu versuchen. Dies ist auch der Weg, den Douglas beschreitet, indem sie zunächst einmal provokativ darauf verweist, daß wir alle Formen der Regulierung und des Umgangs mit Verunreinigendem in Betracht ziehen sollten. Darum schlägt sie vor, die Vorschriften der Reinheit und Unreinheit des Alten Testaments durchaus mit den uns gegenwärtigen alltäglichen Vorstellungen und Handlungen des Wegwischens von Schmutz in Beziehung zu setzen. Denn beide Handlungen verweisen auf ein symbolisches System von kollektiven Ordnungsvorstellungen in derselben Weise wie eine Buschmann-Frau ein neues Lager in ein männliches und ein weibliches Quartier dadurch aufteilt, daß sie einen Pfahl in die Erde rammt. Der Unterschied vieler symbolischer Ordnungssysteme zu unserem eigenen besteht nur darin, daß wir verschiedene Domänen des Handelns unterscheiden, während in anderen kulturellen Ordnungen noch eine Einheitlichkeit allen Handelns und die Abhängigkeit einer Domäne des Handelns von anderen angenommen wird. Wie Mary Douglas es überspitzt ausdrückt: "Our rituals create a lot of little sub-worlds, unrelated. Their rituals create one Single, symbolically consistent universe". 2 Verunreinigungsideen und damit zusammenhängende Vermeidungsstrategien sind dann auch Ausdruck der Angst vor dem Verwischen von Grenzen konzeptioneller Art, die Unordnung in das kosmisch-rituell fundierte System von Kategorisierungen des Lebens (einschließlich der sozialen Beziehungen) bringen und damit zu Handlungsverunsicherung fuhren würden. Wenn wir uns unserem eigenen System der Ausschließung des Verunreinigenden im religiösen Rahmen zuwenden, kommen in der Tat durch diese Rückwendung auf fremde Ordnungssysteme Zweifel auf, ob sich das Vorurteil gegen Körperlichkeit und verschiedene körperliche Zustände innerhalb des Heiligen in unserer Kultur nicht

2

Douglas, S. 69.

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nur auf einen theologischen, also schriftkulturellen und elitären Diskurs bezieht, der zwar in den Praktiken der offiziellen Kirche als Institution zu hegemonialer Vorherrschaft gekommen ist, aber mit den volksreligiösen konkreten Vorstellungen und Praktiken kaum etwas gemeinsam hat. So spielten sich in den mittelalterlichen Kirchfesten, vor allem um die Fasten- und Karnevalszeiten "inoffizielle" (aber von kirchlichen Autoritäten geduldete) Bräuche ab, die die Körperlichkeit genauso betonten wie es zu Umkehr-Ritualen in Form des sogenannten "Eselsmessen" kam. Das Problem der körperlichen Stigmata, des Nachvollzugs des Leidens, wie auch die theologisch-kosmologische Grundidee einer Menschwerdung der Gottheit, scheinen in jene Sphäre zu gehören, in welcher Grenzverwischungen auch in christlichen Praktiken zum Durchbruch kamen und noch kommen. Wir können nur feststellen, daß eine Orthodoxie, die eine Orthopraxis des Ausschlusses des Körperlichen postuliert und die sich damit in den von ihr selbst gelegten Schlingen einer Prämisse der Höherwertigkeit der geistlichen Bestimmtheit des Menschen verfangen hat, die Problematik der Transgression nie endgültig durch einen Regelkanon wird bewältigen können, wie die ausführlichen Disputationen über Exorzismen, Besessenheit, Stigmata und Wunder zeigen. Damit sieht sich die hegemoniale Theologie mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie sie jene Gesellschaften haben, die an Hexen als Schadensverursacher glauben und nicht aufhören, nach diesen zu suchen, um die ideale Weltordnung aufrechtzuerhalten.3 Auf der anderen Seite bieten alle Systeme, die bestimmte Praktiken oder Ideen als Grenzüberschreitungen und bestimmte 'marginale' Personengruppen als 'Grenzverwischer' postulieren, genau den Spielraum, sich des Verschmutzenden als Form der Subversion oder des Widerstandes zu bedienen. So kann selbst der Gründungsmythos der Orthodoxie, wie der des Sündenfalls durch Sexualität, von Dissidenten innerhalb der christlichen Praktiken durch Rückbezug auf andere Maximen unterwandert werden, wie es z.B. russische Adamiten durch ihre kultische Nacktheit taten, die sie mit der orthodoxen Maxime der Nichtigkeit und Demut des Menschen vor Gott legitimier-

3

S. das Beispiel der von Douglas ethnographisch erforschten Lele, Douglas, S. 171.

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ten. Der Ursprung der Ambiguitäten, der Ambivalenzen und der Anomalien von symbolischen Systemen, die eine Realitätsordnung als kollektiv verbindliche herstellen, hängen jedoch nicht nur mit dem Zufälligen und den Unvorhersehbarkeiten des konkreten Lebens, dem Kontingenten, zusammen, sondern mit einem Merkmal, das mit der Vieldeutigkeit der symbolischen Verweise zu tun hat (Symbole sind nicht nur ambi-, sondern polyvalent und beziehen ihre Wirkungskraft gerade aus dieser Vieldeutigkeit). Wie das soeben erwähnte Beispiel zeigt, assoziieren verschiedene Gruppen in verschiedenen Kontexten ganz andere Bedeutungsverweise mit demselben Begriff oder derselben Geste oder performativen Äußerung: so kann Nacktheit zugleich Unschuld wie Begierde, Demut wie Erkenntnis symbolisieren. Dasselbe gilt für die körperlichen Begierden oder Attitüden: der endlose Kampf der christlichen Theologie mit dem griechischen Begriff des Eros, der je nach Kontext als positiver Trieb zum Erkennen von Schönheit begriffen werden kann oder als jenes Begehren, das die göttliche Seele durch die fleischliche Hülle von ihrem Pfad zur Tugend oder Erlösung ablenkt, ist ein gutes Beispiel für die sich wandelnden Sinngebungen. Hinzukommt, daß die Symbolsysteme selbst nicht der klassifizierenden Kontrolle unterliegen, zumindest nicht der eines hegemonialen Gesetzgebers. Die Zeichen verselbständigen sich häufig und werden zu frei-flottierenden Signifikanten, denen kein bestimmtes, ganz sicherlich kein kontextfreies Signifikat oder Bedeutungselement, geschweige denn ein konkreter Gegenstand oder Zustand zugeordnet werden kann. Diese werden vielmehr häufig durch ein Spiel mit Lautähnlichkeiten oder durch Erfahrungszufälle von sozial Handelnden jeweils neu erfunden, ohne in ihrer Gesamtheit oder ihrer Ableitung bewußt reflektiert zu werden. Insofern finden wir sicherlich in allen Gesellschaften verschiedene Interpretationsgruppen, die in dauernder Auseinandersetzung und Verhandlung über die Sinngebung von Konzepten stehen. Das Beispiel des erotischen oder unschuldigen nackten Körpers zeigt dann auch, wie sich Orthodoxien mit Heterodoxien auf der Grundlage derselben symbolischen Konzepte um die Interpretationsmacht streiten, wobei z.B. im Falle der Ablehnung der Sexualität durch die Kirche im religiösen Raum ein interessanter Kompromiß gefunden wurde. Wie Peter Brown zeigen kann, einigte sich die christliche

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Orthodoxie nach der extremen Ablehnung von sexueller Betätigung und dem übertriebenen Jungfräulichkeitskult, wie er von Enkratiten im 2. Jahrhundert als direkter Weg zur Heiligkeit gefordert wurde, auf einen pragmatischen Diskurs, der der Tatsache der Fortsetzung des Lebens auf der - wenn auch verachteten - Erde Rechnung trug, aber die Sexualität durch strikte Regeln und Pädagogisierungsmaßnahmen zu zähmen versuchte, ohne sie jedoch im Ritual zuzulassen. 4 Nach wie vor bleibt es jedoch fraglich, ob eine Ablehnung von Körperlichkeit so pauschal im christlichen Ritual als ein Fehlen der Transgression behauptet werden kann: ich verweise hier nur auf die mimetische, manchmal symbolisch, manchmal repräsentativ durch Ikonen oder performativ ausgeführte Nachahmung von Leiden. Dies verweist auf die Problematik der Transgression in einer ganz anderen Modalität, auf die ich in diesem Zusammenhang nicht weiter eingehen möchte. Es sei nur als Hypothese - nicht unbedingt im Widerspruch, aber als Extension der Arbeit von Mary Douglas - die Frage aufgeworfen, ob die imitatio Christi, die ja besonders bei Mystikerinnen des späten Mittelalters so prominent in Erscheinung tritt, nicht genau mit jenen rituellen Transgressionen gleichzusetzen ist, von denen Mary Douglas spricht oder die so prominent in den naserümpfenden Hinweisen auf sexuelle und orgiastische Riten bei Naturvölkern auftauchen. Daß die europäischen Gelehrten sich mit besonderer Vorliebe der sexuellen Körperlichkeit im religiösen Umfeld widmeten, mag in sich selbst wiederum ein interessantes Symptom für die Attitüden der westlichen Wissenschaften und ihre Realitätswahrnehmung oder die Scheuklappen sein, mit denen sie diese Realität konzipierten. Insofern stehen wir mit allen Verallgemeinerungen über andere Gesellschaften vor einem Interpretationsproblem der Reichweite der Aussagen, und dies betrifft auch das Vorurteil über die Ausschließung der Körperlichkeit aus dem orthodoxen westlichchristlichen Ritualkanon. Mary Douglas weist daher in ihrem Schema auch darauf hin, daß verschiedene Gesellschaften den Schmutz, also das Risiko der Unordnung, an anderen Handlungen, Gegenständen oder Attributen und Punkten der sozialen Ordnung

4

S . zu Clemens von Alexandria: Brown, Peter: Die Keuschheit der Engel. München 1994, S. 138 ff.

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festmachen, die häufig mit der spezifischen Beschaffenheit der gesellschaftlichen Struktur zu tun haben. Mag die Ausgrenzung des Körpers in seinen erotischen Formen aus dem Bereich des Heiligen in der christlich-theologischen Vorstellung noch begründbar gewesen sein, so stieß die Vorstellung, daß weltliche Verunreinigung durch Körperlichkeit rituell geahndet werden müsse oder gar geahndet werden könne, schon bei den Gelehrten des 19. Jahrhunderts auf völliges Unverständnis, ein ähnliches Unverständnis, mit dem wir aus heutiger Sicht auf die Sitten der Körperverhüllung der Viktorianer zurückschauen. Für das 19. Jahrhundert war es sicherlich eine Frage der Etikette, der sozialen Schicht und des guten Geschmacks, wieviel Haut man wo zeigte, aber es war nicht mit dem Stigma einer kosmischen Gefahr verbunden, obwohl es immer Stimmen gab, die den Untergang der Kultur an solchen Kodifizierungen und der Angst vor dem "Sittenverfall" festmachten (ein beliebtes Thema auch von Endzeit-Kulten). Diese Ausgrenzung des Körperlichen ist hinsichtlich der Verwesung und des Ekels eigentlich erst eine Erscheinung der Moderne seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, da hier ein viel beschriebener Wandel der Sinneswahrnehmung seit der Renaissance und noch einmal seit der Einfuhrung von Hygiene-Maßnahmen seit dem 18. Jahrhundert stattgefunden hat. So weist Greenblatt darauf hin, daß selbst in der Zeit der Reformation vor allem die Sphäre des Exkrementalen in Form der Skatologie zum Standard-Genre eines Streits der Diskurse auch und gerade zwischen Theologen wie Thomas Morus und Martin Luther gehörte, selbst wenn die Sexualität in der utopischen Welt von Morus bereits nahe dem Lustgefühl des Stuhlgangs angesiedelt wurde und beide Sphären generell bereits als theologische Zeichen für die Nichtswürdigkeit des Menschlichen standen. 5 Andere Studien zeigen, wie sich unser Geruchsempfinden gegenüber

5

S. Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten. Berlin 1991 Es ist überhaupt zu beachten, daß sich sowohl eine Veränderung der Sinnes Wahrnehmung abgespielt hat wie eine ideologische Neu-Zuordnung von Diskursen des Erlaubten und NichtErlaubten. So könnte hinter den skatologischen Unterhaltungsformen der Humanisten und Reformatoren wie Rabelais, Erasmus oder Luther und Morus durchaus auch eine Kontinuität mit der Tradition des "philosophischen Symposiums" gesehen werden, in dem die Elite ihre Art des Lizentiösen auslebte, während "das Volk" seinen Stammtisch hatte.

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dem der Menschen der Zeit der französischen Revolution durch das hygienisch-technische Umfeld insofern verändert hat, als man im 18. Jahrhundert den Gestank von verwesenden Kadavern oder Leichen, von Kot in den Straßen und Treppenhäusern noch nicht als ekelhaft wahrnahm. 6 Für andere Aspekte der Körperlichkeit scheint die Tabuisierung im Alltäglichen für die Moderne der Nach-Viktorianer noch schwerer nachvollziehbar, vor allem hinsichtlich des Stellenwertes von Sexualität und Nacktheit, wenn selbst sexuelle Praktiken in medialen Repräsentationen oder theatralen Performanzen, im mimetischen wie tatsächlichen Nachvollzug, beinahe zur Norm und zum Identitätsmerkmal für das Theater der Avantgarde geworden sind. 7 Wie können dabei also noch Grenzen überschritten werden? Finden wir in der Moderne das Ende der Möglichkeit der Transgression? Jedoch können wir uns mit dieser Überschreitung, ohne daß wir ihre Logik zunächst einsehen, noch vertraut machen, wenn wir uns die Reaktion auf die Einbeziehung von Nacktheit und Sexualität in die Sphäre des Religiösen vor Augen halten, selbst wenn das Religiöse nur theatral dargestellt wird. So gibt es auch in unseren modernen Gesellschaften nach wie vor immer wieder einen Aufruhr, oft gefolgt von staatlich-juristischen Sanktionen gegen Blasphemie, wenn Maria als erotische Frau oder Christus als farbige Person oder das Abendmahl als eine Runde von Pennern, dem "Abschaum" der Menschheit, inszeniert oder repräsentiert werden. Ist diese Reaktion schon bei theatralen und künstlerischen Aufführungen zu beobachten, so finden wir die Tabuisierung des Sexuellen in der Ikonographie oder Liturgie des Heiligen im Bewußtsein der Gläubigen noch stärker inskribiert, auch wenn die Tabuisierung unter anderen ontologischen Prämissen stattfindet. So findet man es eben nicht nur unschicklich, als der Etikette widersprechend oder als

6

S. z.B. Corbin, A.: The Foul and the Fragrant. Cambridge, Mass. 1986. S. auch Classen, Constance: Worlds of Sense. London 1993.

7

Beispiele hierfür ließen sich häufen, jedoch genügt wohl der Hinweis auf Rushdie wie auf die Reaktion auf Filme wie "The Life of Brian" oder "Dogma", wobei sich allerdings die Medien-Aufmerksamkeit so sehr auf die Reaktionen jener Staaten konzentrierte, die anscheinend keine Trennung von Politik und Religion im Sinne einer säkularen Verfassung kennen, daß die moralische Ambivalenz des "aufgeklärten" Westens häufig übertüncht wurde.

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Beleidigung unserer Idee und unseres Ideals des Heiligen, es mit dem Körperlichen zu vermischen oder gesellschaftliche Außenseiter zu religiösen Ikonen zu machen (wodurch die Verbürgerlichung des Gottesdienstes den Transgressionen der Gründungsdokumente des Christentums untreu wird, in denen die Essensregeln der rabbinischen Ritualisten genauso außer Kraft gesetzt wurden wie es Sündern, Prostituierten und Ausgestoßenen gestattet wurde, "heilig" zu sein und zu werden). Damit ist das Körperliche als Verunreinigung zwar aus dem Religiösen herausgefiltert, aber es gilt weder dort noch in seiner inzwischen im konkreten Alltag zur Normalität gewordenen semi-öffentlichen Orgienhaftigkeit als gefahrbringend. Der Kommentar Baudrillards mag hier zutreffen, daß wir eine Umwandlung von Erotik als Spiel mit dem Zeichenhaften in eine Sexualität als materieller Konkretisierung in unserer Alltagskultur vorfinden, die zugleich auf deren "Ungefahrlichkeit" verweist. 8 Zum einen finden wir demnach Körperlichkeit ihrer Potentialität im Religiösen durch Symbolisierungen beraubt: das konkrete Blutopfer wird nur noch als symbolische Handlung vollzogen, oder, wenn es als theatrale Veranstaltung wie durch Performanzkünstler mit Tieren oder am eigenen Körper aufgeführt wird, ob mit christlichem oder antikem Verweisungszusammenhang, als - wohlgemerkt - 'gegen den guten Geschmack' verstoßend auch noch immer strafrechtlich geahndet. Zum anderen wird der Körperlichkeit die Symbolkraft oder der Glaube an seine disruptive oder regenerative Wirkkraft für die gesamte Ordnung der Realität genommen, indem wir sie zur 'Alltäglichkeit' des Normalen heruntergespielt haben, in der sie keine Gefahr darstellt und eben nicht mehr tabuisiert werden muß. Insofern sind die transgressiven Momente der Körperlichkeit stark reduziert worden. Wo andere kulturelle Konzepte 'Gefahr' spüren, empfinden wir nur 'Ekel'.

Körperliche Ansteckungsgefahren Insofern besteht für uns nach wie vor das Problem eines Verständnisses solcher Vorstellungs- und Handlungslogiken, die den Körper S. Baudrillard, Jean: De la Seduction. Paris 1979.

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mit Schmutz gleichsetzen, die gleichermaßen das Gefahrliche des Schmutzes postulieren, dann aber genau dieses Element in bestimmte Rituale einbauen. Vor allem haben wir Probleme damit, das Handeln des Körpers als gefahrbringende Ansteckung zu begreifen. Dies kann nur in einer Kosmologie verstanden werden, in der die menschlichen Agenten durch ihr Handeln einen Einfluß auf die Konstituierung der Wirklichkeit haben. Es gibt nur einen Sinn, wenn das, was es zu vermeiden oder auszumerzen gilt, da es die Ordnung stört, auch in seiner ambivalenten Wirkung verstanden wird: Schmutz als Teil jenes Chaos, das die Ordnung stört, ist eben auch ein Element, aus dem sich die Realität erneuem kann, ja erneuern muß, um nicht zu versteinern. Wir können uns vielleicht im gegenwärtigen Zeitpunkt noch einigermaßen mit der Idee des Kontagiösen von verwesenden Dingen anfreunden, jedoch wenig mit der Idee der spirituellen Ansteckung anfangen. Das Bewußtsein für die Verbindung von Verwesung mit Ansteckung scheint wieder verstärkt zum Vorschein zu kommen, wenn wir die Diskussionen um das Auftauchen von Maul- und Klauenseuche oder BSE in Betracht ziehen. Plötzlich gibt es eine Ansteckung, die vom Organischen ausgeht, auch wenn wir dies in einen Diskurs von Krankheitserregern kleiden, aber das 'Unreine' der Futterzuführung ist in der Argumentationskette über Ursachen nicht unbedeutend und daher vergleichbar mit den minutiösen Schutzregeln von Brahmanen, welche Art von Essen sie zu sich nehmen: wo wir heutzutage Schutzanzüge und Atemmasken benutzen, schützt man sich in rituellen Systemen durch Tabus! Die Maßnahmen, die ergriffen werden, z.B. durch Quarantäne und Verbrennen des infizierten Organischen, scheinen auf Handlungsebenen zu verweisen, die in anderen Kulturen mit rituellen Praktiken verbunden sind: Ausgrenzung, Eindämmung und Zerstörung durch Feuer, das Ausmerzen von Verunreinigungen, die deshalb gefahrlich sind, weil sie das die Ordnung des Realen ultimativ legitimierende Religiöse bedrohen und den Kosmos ins Ungleichgewicht bringen. In unserem KonzeptKosmos verweist jedoch Ansteckung eindeutig auf ein hygienisches Gesundheitsrisiko, und dies dürfte auch der Grund gewesen sein, warum die Gelehrten seit dem 19. Jahrhundert die indigenen Denksysteme einer Verwechslung von Hygiene und Religion ziehen. Die Idee der spirituellen Ansteckungsgefahr kann nur unter der Voran-

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nähme einer agentiven Kraft zwischen kosmischen und menschlichen Handlungs- und Zustandsebenen verstanden werden und im Glauben an die Effektivität ritueller Handlungen, die eine Kontinuität der kosmischen Ordnung garantieren, für die jene Zufälligkeiten, die wir als das Kontingente des Lebens bezeichnen, eine Störung darstellen, wobei die Störungen durch die rituelle Ordnungsstiftung selbst zuerst definiert sind, durch diese aber auch bereinigt werden. Diesen Ordnungsfunktionen eines Regelwerks für die Beseitigung von Verunreinigungen widmet die vergleichende Ethnographie von Mary Douglas ihr Hauptaugenmerk. Sie argumentiert, daß es eben nicht eine Konfusion des Denkens darstellt, wenn im Bereich des Heiligen in den meisten Gesellschaften minutiöse Vorschriften und Regeln etabliert werden, die körperliche Ein- und Ausgänge durch strikte Tabus schützen, die mit dem Essen, den Ausscheidungen, der Berührung vor allem andersgeschlechtlicher Körper oder der Verwesung des Körpers im Tod sowie den verschiedenen Körperausflüssen, einschließlich des Blutes, zu tun haben. Noch Robertson-Smith hatte 1889 argumentiert, daß das "primitive Denken" die Stufe der "Wildheit" erst dann überwunden hätte, wenn es Unterschiede zwischen dem Heiligen und dem Unreinen mache. 9 Es bedurfte der Fortschritte der historischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über unsere eigenen Gesellschaftsordnungen und deren Wandlungen, um einzusehen, daß die "primitiven" Begriffseinteilungen und die Vorschriften über die Vermeidung von Körperlichkeit in den Bereichen von Religion und Alltagsleben nicht ganz so arbiträre Zuschreibungen sind, als welche Robertson Smith sie ansah. Die Arbeiten von Elias und Foucault können hier als paradigmatisch angeführt werden. 10 Aber sie zeigen meist nur die Geschlossenheit der Handlungslogik, wie sie in der westlichen Gesellschaft auf der Grundlage antiker und christlicher Ideenwelten innerhalb eines elitären Kanons der Schriftkultur nicht nur zu einer Restriktion des Körperlichen an sich geführt hat, sondern wie es auch zu einer Differenzierung von Domänen gekommen ist, durch welche das Körperliche vom Religiösen abgelöst wurde. Der Körper wurde in der Wis-

Robertson Smith, W.: The Religion of the Semites. 1889, S. 142 ff. 9 10 S. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde., Frankfurt 2 1978. Foucault, Michel: The History of Sexuality. Bd. 1. Harmondsworth 1981.

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senschaft als Diskursfeld von eigenständiger Bedeutsamkeit und historischer Wandelbarkeit entdeckt."

Der 'nackte' Wilde als Leitdifferenz europäischer Kulturtheorien Wie wir sehen, waren und bleiben die Konzepte und Handlungslogiken fremder Kulturen hinsichtlich der Körperlichkeit für vergleichende Kulturtheorien eine Herausforderung an das Selbstverständliche. Die Bedeutsamkeit dieser Frage wurde klar ersichtlich, als soziologische Theorien die Universalität der Separation von Heiligem und Profanem postulierten. Noch problematischer scheint die Postulierung eines neuen Paradigmas, das die Einbeziehung von Verunreinigung in das Heilige zur Grundlage hat. Der Körper kann in sehr verschiedener Hinsicht als Metapher für das Denken über Gesellschaft benutzt werden. Er kann als eine nach außen hin geschlossene individuelle Einheit verstanden werden und daher als Metapher für die Geschlossenheit eines "gesellschaftlichen Körpers" oder einer "politischen Körperschaft" gelten, von der alle Gefahren von außen abgehalten werden müssen, 12 eine Denkfigur, die auch die modernen Staatstheorien seit Hobbes beeinflußt hat. Der Körper kann des weiteren als ein intern differenziertes System des Lebenden aufgefaßt werden, wie er in den Theorien über Gesellschaften als "organischen Systemen" in Anlehnung an physiologische Analogien durch Spencer und seine Nachfolger postuliert wurde. Die dritte Metapher des Körpers als des Ortes der Transgression, des Überschreitens von Mensch und Welt, des Eindringens der Welt und des Ausuferns des Körpers, ist die Form der Analogien, die in der provokativen Äußerung des Eingangszitats zum Tragen kommt. Mit dieser theoretischen Sicht hat sich nur eine oft überse11

S. dazu Feher, F (ed.).: Fragments for a History of the Human Body. 2 Bde. N e w York 1989. Dazu auch aus soziologischer Sicht Featherstone, Mike / Hepworth, Mike / Turner, Bryan S. (eds.): The Body. Social Process and Cultural Theory. London 1991. Für eine historische Aufarbeitung siehe Gallagher, Catherine / Laqueur, Thomas (eds.): The Making of the Modern Body. Sexuality and Society in the Nineteenth Century. Berkeley 1987.

12

S. Douglas, Mary: Natural Symbols. London 1970.

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hene Minderheit neuerer Kulturtheorien auseinandergesetzt. Vor allem Michael Bachtin und Georges Bataille haben sich mit diesen Formen der konzeptionellen wie der Handlungslogik des Heiligen als Ort der Transgression durch den Körper in seinen verunreinigenden Eigenschaften beschäftigt und entsprechende Kulturtheorien des Unterschieds zwischen Tradition und Moderne entwickelt. Diese theoretischen Ansätze sollen im folgenden daher mit Vorrang behandelt werden, da sie die Paradoxien des 'normalen Systems' der binären Oppositionen aufzeigen und gleichzeitig auflösen, also eine andere Sicht des Heiligen implizieren. Dabei kommt es zu erstaunlichen Ähnlichkeiten auf der Grundlage ganz unterschiedlicher historischer und ethnographischer Daten, während die Schlußfolgerungen über transgressives Verhalten in der Sphäre des Religiösen zwischen Bachtin und Bataille erheblich divergieren. Wenn ich hier schon meine Schlußfolgerungen vorweg zusammenfassen kann, dann würde ich postulieren, daß Bachtin das Kontingente der Körperlichkeit als Instrument subalterner Gruppen versteht, sich gegen eine konkrete Status-Ungleichheit zumindest zeitweise zur Wehr zu setzen. Bataille sieht dagegen vor allem die Transgression durch Körperlichkeit im Heiligen als zeitweilige Notwendigkeit zur Erneuerung gesellschaftlicher Wirklichkeit an, die eine ontologische Grundlage für die Arbeitswelt mit ihren dort notwendigen Tabus bildet. Bachtin optiert für eine eher soziologische und ästhetische Interpretation, Bataille rekurriert auf eine Ontologie des Gesellschaftlichen, für die die Ausschweifung eine notwendige Voraussetzung ist. Trotz aller Unterschiede der kulturtheoretischen Sichten, verweisen die Ansätze von Douglas, Bachtin und Bataille auf ein Ärgernis, das in den Vorstellungen anderer Kulturtheorien noch eine bedeutende Rolle zu spielen scheint, nämlich das Ärgernis des "nackten Wilden". Diese Vorstellung ist, wie ich nur kursorisch aufzeigen kann, von zentraler Bedeutung für eine komparative Rückwendung von diesen anscheinend außergewöhnlichen anderskulturellen Praktiken zu jenen diskriminierenden Ansichten über "Primitivität", die immer noch und immer wieder an den Körperkonzepten und an körperlichen Transgressionen im Heiligen festgemacht werden. So bereiteten Sitten und Gebräuche, die die Transgression im Heiligen zur Regel erheben, bereits den klassischen theoretischen Systemdenkern

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großes Kopfzerbrechen, denn sie scheinen auf eine kategoriale Vermischung oder Verwechslung zu verweisen und - das ist bedeutsam für die metaphorische Behandlung von Schmutz - gleichzeitig eine Amoralität von Handeln und Denken zu implizieren. Eine solche Einstellung finden wir nicht nur bei Robertson Smith und Frazer, sondern auch bei Morgan, wenn er in seinem Werk Ancient Society von 1877 auf die Vorstufe polygamer Heiratsformen verweist, die er in einer Form des ungeregelten Auswechseins von Sexualpartnern als Kriterium des mittleren Stadiums der Barbarei zu erkennen glaubte, aufgrund von missionarischen Berichten, die behaupteten: The natives had hardly more modesty or shame than so many animals. Husbands had many wives, and wives many husbands, and exchanged with each other at pleasure.13 Der "nackte Wilde" hat im westlichen Diskurs für lange Zeit genauso wenig eine "wertfreie", will sagen kontextuell verstehende Behandlung erfahren wie der "einfache Bauer", oder die "schmutzigen Riten" der Antike, die immer einem orientalischen Import zugeschrieben wurden. So finden wir noch bei Max Weber eine Wiederholung des alten Vorurteils der Schamlosigkeit der sexuellen Sitten beider: Auf der Stufe des Bauern ist der Geschlechtsakt ein Alltagsvorgang, der bei vielen Naturvölkern weder die geringsten Schamgefühle zuschauenden Reisenden gegenüber noch irgendwelchen als überalltäglich empfundenen Gehalt in sich schließt.14 Es scheint, daß sich der Diskurs über andere Kulturen vornehmlich an der postulierten unterschiedlichen Einstellung zur Körperlichkeit festgebissen hat, so daß das gesamte Feld des Tabus zu einer Leitdifferenz der Theorie-Entwicklung über Moderne und Tradition geworden ist. Während man auf der einen Seite von der geistigen Verwirrung oder der Unmoral der Primitiven und der niederen Stände ausging, sprach man auf der anderen Seite dem "Naturmenschen" eine ungebrochene Beziehung zur Körperlichkeit zu, eine Einstellung, die noch immer mit der "Unverdorbenheit" des "nackten Wilden" operiert, wie wir sie als Folie für Kulturkritik an der eigenen vom Kör13 Morgan, Henry Lewis: Ancient Society. New York 1877, S. 428, zit. von einem Dr. Bartlett, o.d., über die Sandwich Insulaner (heute Neu-Kaledonien). 14 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Köln 1964, S.468.

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perlichen entfremdeten Gesellschaftsform von Rousseau bis Baudrillard vorfinden (die Gleichsetzung von Primitiven mit Kindern, die ebenfalls ein Topos des Kultur-Evolutionismus in seiner paternalistischen, missionarischen Form war, ist in der Logik der Oppositionen beinahe so etwas wie eine Vermittler-Idee). Diese Vorstellung beruht auf der fälschlichen Zuschreibung von geringer Bekleidung zu einer Idee der "Natürlichkeit", wobei verkannt wurde, daß Körper in allen Kulturen nie nackt in der Alltäglichkeit des Öffentlichen gezeigt werden, sondern durch kleinste Differenzierungen eine andere Zuschreibung und Markierung des "Kulturellen" aufweisen, die von der Tätowierung bis zur kulturell eingeschriebenen Blickvermeidung reichen kann. Der von Baudrillard noch immer angeführte mythische Eingeborene, für den ein nackter Körper angeblich genauso natürlich (und "unschuldig") ist wie das Gesicht, da "alles Gesicht ist", verkennt diese kulturellen Verkleidungen. 15 Nacktheit, wenn sie denn auftaucht, ist genau so sehr eine Maske wie die Gesichtszüge der Selbstrepräsentation nie das "nackte Gesicht" zeigen; sie ist immer eine kulturell eingeschriebene Kategorie, die entweder nur Kindern, also vor-sozialisierten Individuen, zugestanden wird oder die bewußt als anti-kulturelles Merkmal eingeführt wird, wenn z.B. Initianden während der Pubertätsrituale, bevor sie zu vollen sozialen und damit verantwortlichen Personen erklärt werden, auf eine Stufe des Vorkulturellen zurückgeführt werden, indem man ihnen die Kleider wegnimmt oder sie zwingt, auf dem Boden wie Kleinkinder oder Tiere zu kriechen oder gar eine vorsprachliche Existenz durch sinnlose Laute darzustellen. Zwar sagen die Regelsysteme nichts über die Verhaltensweisen von kulturellen Kollektiven direkt aus, sie sind vielmehr eher Symptome oder Zeichen dafür, wo Gefahren und Risiken gesehen werden, aber auch Indikatoren für eine Idealwelt, und zugleich geben sie uns Hinweise darauf, was in der Vorstellung der Gruppe anscheinend die konkrete Realität zu sein scheint. Der Fehler der kulturwissenschaftlichen Evolutionstheorien, die von Bauern und Primitiven als niedrigeren Kulturstufen aufgrund der beobachteten oder berichteten Unbesorgtheit hinsichtlich der Körperlichkeit ausgingen, beruht zumindest auf einer Verkennung von transgressivem Verhalten. In den

15

Vgl. Baudrillard.

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meisten ethnographisch genauer belegten Fällen finden wir im normalen Alltagsverhalten eine extreme Ausgrenzung von Körperlichkeit, über die das transgressive Verhalten wiederum indirekt insofern Aufschluß gibt, als es das normalerweise Unerlaubte offen legt. Regelsysteme sind daher auch nur im Rückbezug auf die strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft verständlich. Die Rituale, die die Idealordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen versuchen, sind dabei so etwas wie Neutralisierungsstrategien gegenüber der chaotischen Realität der Körperlichkeit. Dies wird sehr deutlich an Beispielen von gesellschaftlichen Systemen, bei denen die Grundregeln in Paradoxien von Verhaltensregulierungen festgefahren sind. So haben die Bemba, eine matrilineare Gesellschaft in Afrika, eine ausgesprochene Furcht vor der Gefahr, die für sie von der Sexualität ausgeht. Während sich jedoch ein Ehepaar durch Waschungen von dieser Verunreinigung rituell lösen kann, ist dies nicht möglich im Falle eines Ehebruchs oder von außerehelichem Geschlechtsverkehr. Diese Vorstellung schränkt jedoch die freie Ausübung von sexuellen Handlungen in keiner Weise ein. Aber jede Frau, die Essen kocht, wird ein neues Feuer anmachen, wenn ein Mann sich der Kochstelle nähert, aus dem Verdacht heraus, daß der Mann Ehebrecher sein könnte, wodurch das gekochte Essen vor allem für Kleinkinder tödlich sein könnte. Die BembaFrauen sind also dauernd dabei, neue Feuerstellen anzuzünden. Die Vermutung der ehebrechenden Männerwelt ist dabei natürlich nicht zu trennen vom Selbstbild der Frauen, die sich einen Ehebruch jederzeit zutrauen, was jedoch auf den sozialstrukturellen Prämissen beruht. Das rituelle Anmachen immer neuer Feuerstellen ist also ein Symptom für die Wahrnehmung der sozialen Realität, ohne daß diese dadurch geändert würde. Die strukturelle Grundlage ist die Tatsache, daß matrilineare Gesellschaften mit matrilokaler Wohnfolge ihre Ehemänner immer aus anderen Dörfern beziehen, also diese Männer auch mit großer Aufmerksamkeit verwöhnen müssen, während die Erbfolgerechte von den Männern für die Kinder ihrer in anderen Dörfern wohnenden Schwestern gelten. Die Männer sind also nur Besucher in matrilokalen Haushalten, und sie ziehen bei Vernachlässigung schnell wieder in ihre Geburtsdörfer zurück, wodurch die politische Einheit von Dörfern, die auf dem Ehebündnis

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aufgebaut ist, leiden würde. Das soziale System ändert sich hier nicht, genau so wenig, wie die Frauen sich aus Angst vor körperlichsexueller Gefahr (eine ideologische Prämisse) zurückhaltender benehmen, sondern sie neutralisieren die Gefahr durch das rituelle Wechseln von Feuerstellen. Wie Douglas dazu kommentiert, zeigt die Angst vor der rituellen Gefahr, die solche Gruppen der Sexualität zuschreiben, etwas über die reale disruptive Kraft derselben im sozialen System. 16 In einem solchen interpretativen strukturellen Kontext müssen auch die Transgressionen, von denen Mary Douglas im Eingangszitat spricht - "therefore we find corruption enshrined in sacred places" - verstanden werden. Denn genau wie ihr Vorgänger Franz Steiner in seinem oft unterschätzten Werk Taboo von 1956' 7 hatten bereits die Arbeiten von Evans-Pritchard, von Gluckman und gleichzeitig mit Douglas von Victor Turner aufzuzeigen versucht, wie der Regelbruch der Transgression, der Überschreitung, die im Alltag nicht erlaubt und auch nicht kontrollierbar war, in der rituellen Sphäre ihren spezifischen Sinn dadurch erhielt, daß die Grenzen der Normalität durch diese "Rituale der Rebellion" oder durch "das Lizentiöse im Ritual" wiederholt zum Bewußtsein gebracht wurden, damit aber gleichzeitig die bestehende Ordnung neu bestätigt wurde. 18 Das extreme Beispiel, auf das sich das erwähnte Zitat bezieht, zeigt vielleicht nicht nur die Logik oder auch die Paradoxie des Normalen von Tabuisierungen in unseren eigenen gesellschaftlichen Regulierungen auf, 19 sondern verweist genau auf das Mißverstehen der Paradoxie der Transgression des Normalen in anderen kulturellen 16 Ebd., S. 152 ff., mit dem Beispiel der Bemba aus der Ethnographie von Audrey Richards: Chisungu. London 1956. 17 Steiner, Franz: Taboo. London 1956. Zu Steiners Bedeutung für die britische Sozialanthropologie siehe Adler, Jeremy / Fardon, Richard (eds.): Franz Baermann Steiner, Selected Writings. 3 Bde. New York, Oxford 1999. 18 S. dazu Evans-Pritchard, E.E.: Some Collective Expressions of Obscenity in Africa, 1929, in: Evans-Pritchard: The Position of Women in Primitive Societies and Other Essays. London 1965, S. 76 ff. Gluckman, Max: Custom and Conflict in Africa. Oxford 1956. Turner, Victor: The Ritual Process. Chicago 1969. Für die Unterschiede dieser Sichten siehe auch Köpping, K.P.: Obszönität. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim 1997, S. 568 ff. 19 S.Brown, Peter, S. 138 ff.

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Zusammenhängen. Das angebliche Fehlen dieser Transgressionen in unserer eigenen modernen Gesellschaft wird dann wieder in einigen Zivilisationstheorien zu einem Defizit stilisiert, indem man die Ausdifferenzierung von Lebensdomänen - z.B. als "Entzauberung" der Welt durch zunehmende Säkularisierung dieser Domänen - insofern als Gefahr ansieht, als diese Mittel zum Zweck werden könnten (z.B. die Ausübung von Sexualität um der Lust willen). 20

Transgression und die normale Logik von TabuSystemen Der einschlägige Fall einer Transgression durch das Verwesende des Körperlichen, den Mary Douglas als paradigmatisch aus der modernen Ethnographie zitiert, betrifft die Totenriten der Nyakyusa, wie sie von Monica Wilson beschrieben wurden. 21 Die Nyakyusa, die sonst außerordentlich schmutzbewußt sind und alle Körperausflüsse mit außerordentlichen Restriktionen versehen (wie Menstruationsblut, Exkremente, Sexualausflüsse oder Säfte von toten Körpern), und die der Auffassung sind, daß nur Verrückte Schmutz und Fäkalien essen, unternehmen bei Todesfallen ein Ritual, in welchem sie bewußt eben das tun, Schmutz zu essen und sich damit wie Verrückte aufzuführen. Dabei werden Schmutz und Tod gleichgesetzt: The rubbish is the rubbish of death, it is dirt... Let it come now...Let it not come later, may we never run mad.22 Wie Douglas es interpretiert, handelt es sich hier darum, den Wahnsinn, den der Tod für die Überlebenden bringen könnte und würde, 20 Auf das Problem der Trennung von Diskursen und Praktiken bei sogenannten Primitiv-Völkern kann hier nicht weiter eingegangen werden. Jedoch stehen solche degenerativen Theorien der Moderne auf tönernen Füßen, wenn man den Zusammenhang, aber auch die Trennung von Diskursen, Uber rituelles Handeln und profane Sexualität bei sogenannten "Naturvölkern" in Betracht zieht. Die Sprache der profanen Lust kann dabei nicht von der poetischen Mimesis der rituellen Gesänge getrennt werden. S. dazu: Malinowski, Bronislaw: The Sexual Life of Savages of North-Western Melanesia. London 1929. Berndt, R.: Three Faces of Love. Melbourne 1976. 21 Wilson, Monica: Rituals and Kinship among the Nyakyusa. Londonl957. 22 Wilson, S. 53.

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abzuwenden. Man verhält sich wahnsinnig, nicht um den Tod, sondern um den Wahnsinn zu vermeiden. 23 Douglas verweist in ihrer Schlußfolgerung auf die hier vorliegende notwendige Verknüpfung von Heiligem und Profanem, indem das Verunreinigende des Todes, die ultimative Verwesung des Körpers, bewußt in heilige Handlungen eingebunden wird, ja sie sogar erfordert, um die Handlung zu einer rituell wirksamen zu machen. Dahinter steht für Douglas das Bewußtsein vieler Völker, daß das Heilige nicht von der Natur, in diesem Falle der verwesenden Natur des dahinsiechenden und sterbenden Körpers getrennt werden kann. Spuren davon finden wir auch im christlichen Bereich in den Handlungen jener Heiligen, die zunächst für ihre Handlungen oft für verrückt erklärt wurden, bevor sie sich im religiösen Diskurs die Anerkennung als "Heilige" erringen konnten oder ihnen dieser Status zugesprochen wurde, wie im Falle von Franz von Assisi, der sich im Dreck wälzte und seine "Schwester Tod" willkommen hieß. Douglas interpretiert dies als das Bewußtsein der Handelnden oder der betroffenen kollektiven Gruppen, die existentiellen Gegebenheiten nicht als blinde Notwendigkeit aufzufassen, sondern ihre Zustimmung zu diesen als Notwendigkeit und Kontingenz des Lebens (von Krankheit z.B.) durch freiwillige Bejahung in der rituellen Handlung auszudrücken. Douglas knüpft damit an eine Idee von Franz Steiner an, der darauf aufmerksam machte, daß der Terminus "Taboo", der nach den Reisen von Cook in alle europäischen Sprachen übernommen wurde, durch seine Ambivalenz der Bedeutungsbelegung ein Verständnisproblem für die Europäer, nicht für die Polynesier darstellte. Sowohl in den rituellen wie den Ordnungssystemen des Alltags der Einwohner der Polynesischen Inseln spielte der Begriff des Tabus eine zwiespältige Rolle, deren Bedeutungsebenen in beinahe gegensätzliche Richtungen zu weisen schienen. Auf der einen Seite wurden alle Dinge und Personen als Tabu betrachtet, denen wie den Göttern, den Heiligtümern oder den Herrschern die unbestimmte Energie des mana innewohnte, die das gesamte Universum durchflutete, deren man aber durch besondere Geschicklichkeit, Wagemut, Kriegsglück oder durch Status und Abstammung, aber auch durch

23

Douglas, S. 177, nach Wilson, S. 80 ff.

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rituelle Handlungen, teilhaftig werden konnte. Dinge und Personen mit dieser Kraft konnten aber nicht berührt werden, ohne daß 'normale' Personen wie von einem elektrischen Schlag schwer verletzt wurden. Die Tabu-Vorschriften bezogen sich aber auch auf etwas, das dem Heiligen entgegengesetzt scheint: Frauen durften mit Männern nicht öffentlich zusammen essen, menstruierende Frauen mit ihren Männern vor einer Jagd- oder Kriegsexpedition nicht schlafen. Für Steiner lag die Logik der Verbindung dieser Begriffe in der Idee der Gefahr einer Übertragung oder "Ansteckung", die für die Gemeinschaft von der Entgrenzung des Heiligen wie des Schmutzigen ausging. Douglas entwickelt diese Ansätze weiter, indem sie die Vorstellungen vom Risiko, die in den meisten gesellschaftlichen Systemen über den Körper als Ansteckungsherd bestehen, durch den Rückbezug auf die Metaphorik von "Schmutz als einer Sache am falschen Platz" als eine Aussage über die Unordnung des realen Lebens interpretiert, welches dann durch rituelle Regeln einer Ordnung unterworfen wird. Aber jede Klassifikation bringt solche Ungereimtheiten hervor: Verbote, Tabus und rituelle wie säkulare Regeln der Beseitigung oder Ausgrenzung von Unreinheiten sind nichts weiter als Versuche, aller Anomalien des Zufälligen, die mit dem Leben zu tun haben, Herr zu werden, was jedoch nie vollständig gelingen kann. Diese Anomalien, z.B. die Verwischung der Grenzen von Menschen, Tieren Und Göttern oder Geistern werden entweder real entfernt (durch Reinigungshandlungen säkularer wie ritueller Art) oder konzeptionell aus dem Weg geschafft, wenn man z.B. die bei den Nuer des Sudan angenommene Anomalie der Zwillingsgeburten dadurch beseitigt, daß man die menschlichen Zwillinge zu Nilpferden erklärt und im Fluß versenkt. Verunreinigung ist daher nie als ein isoliertes Element anzusehen: Where there is dirt there is system. Dirt is the by-product of the systematic ordering and Classification of matter, in so far as ordering involves

rejecting inappropriate elements.24 Für die "Ansteckungsgefahr" des Körpers ist das Beispiel der Wahrnehmung des Todes bei den Nyakyusa daher ein gut gewähltes Bei24 Douglas, 1984, S. 35.

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spiel, da es auf die Gefühlsebene der Ansteckung durch Emotionen rekurriert, auf Stimmungen wie Mitleid oder Trauer, derer man Herr werden muß, um nicht vor Schmerz wahnsinnig zu werden. Insofern ist der Wahnsinn eine andere Form der Ansteckung, die nur durch das willentliche Ausführen wahnsinniger Handlungen bewältigt werden kann.

Das Geheime der rituellen Exzesse und der voyeuristische Blick Die Verbindung von Tod und Wahnsinn bei den Nyakyusa findet seine äquivalente Logik in der griechischen Mythe des Pentheus um die Einführung des Dionysischen Kultes, wie sie uns noch in den Bacchai des Euripides begegnet. Wer dem schwärmerischen Gotte in seinem rituellen Wahnsinn, seiner Verzückung und seinem Rausch folgt, mit den rituellen Handlungen der Omophagie, des Rohverzehrs von Wild, das mit den Händen von den tanzenden Mänaden zerrissen wurde (dem Ritual des Sparagmos), wird mit seinen Wohltaten überschüttet werden. Wer sich ihm jedoch widersetzt, wird mit jenem echten Wahnsinn geschlagen werden, in welchem der Handelnde ungewollt wahnsinnige Taten vollbringt. Es kommt also zu einer "Ansteckung" in der Form des Umschlags von der rituellen zur realen Handlung, wie das Zerfetzen von Pentheus durch seine Mutter Agave, die dann durch den Gott aus ihrem "natürlichen" echten Wahn - im Gegensatz zum rituell induzierten Rausch - geweckt wird, um ihrer Tat ansichtig zu werden. Es ist dies eine der ersten Quellen, die eine Bestrafung von Voyeurismus und Unglauben oder Skepsis bei heilig-geheimen Riten bescheinigen. Hier eröffnet sich eine sehr bedeutsame Linie der Wahrnehmung von Körperlichkeit in ihrer erotischen Komponente, die in der europäischen Diskussion seit der griechischen Antike eine lange Entwicklung durchlaufen hat, wie sie in Theorien über die Verbindung von Kunst und Gesellschaft als "Ökonomie des Skopischen"

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(des Blicketauschs) kontrovers behandelt wird. 25 Die gesamte Kontroverse kann in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden, aber einige Verbindungslinien zu außer-europäischen Vorstellungen und Praktiken ergeben sich aus dem Bezug zum Geheimen von Ritualen, einem Komplex, der im Umfeld der Riten der Aborigines Australiens als "Geschäft" (business) des "Secret-Sacred" oder GeheimHeiligen bezeichnet wird. Der Sinn dieser Verheimlichung erschließt sich wiederum am ehesten durch den Rückbezug auf unsere eigenen Traditionen und Sensibilitäten, obwohl vielleicht die Mysterienkulte Griechenlands uns ebenso fern liegen wie die Riten von Naturvölkern. Die Bedeutsamkeit des erotischen und voyeuristischen Blicks, des Spiels von Verbergen und Enthüllen von Körpern, ergibt sich für die Antike aus der engen Verbindung der Praktiken des täglichen Lebens und der Theorien von Ästhetik und Erotik. Als ökonomischsoziale Beziehung taucht sie in der Form der Wertschätzung der Rolle und des Status von Frauen j e nach ihrer Zugänglichkeit für den öffentlichen Blick auf, wo ihre Positionierung im Haushalt, auf der Straße und in Theater oder Tempel, je nach ihrer Rolle mit Kleiderregeln wie mit Blickkontakt-Kontrolle und Zurschaustellung oder dem Verbergen von Körperteilen verbunden war. Die Ökonomisierung der Statusposition in Verbindung mit der Sichtbarkeit des weiblichen Körpers geht auf die Äußerung von Sokrates über den Besitz des Schönen zurück: Wir aber begehren schon jetzt das zu besitzen, was wir gesehen haben, und wir gehen fort mit heimlicher Begierde.26 Wie Davidson mit Recht ausfuhrt, geht es hier nicht um einen Gabentausch, sondern um einen des Sehens und Gesehenwerdens, denn Sokrates fragt ganz dezidiert danach, wer wohl mehr von der Begeg-

25

S. Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979. Für die Anwendung auf die Praktiken des Verbergens von Frauenkörpem im antiken Griechenland siehe Davidson, James N.: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Darmstadt 1999. 26 Zitiert aus dem Phaidon, nach Davidson, James N.: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Darmstadt 1999, S. 15. Zur Beziehung von Imagination und konkreter sinnlicher Realität im Sokratischen Verständnis des Eros und seiner Verbindung mit "Erkenntnis", vor allem der Abgleichung von Verlangen nach und Besitzen von Schönheit, siehe Schmid, Wilhelm: Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste. Frankfurt 2000, S. 130 f.

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nung profitiere, die betrachtete Hetäre oder der betrachtende Mann. 27 Wenn wir noch in der klassischen Philosophie eine so starke Betonung der Schöpfung der Ideale aus dem Spiel von Verhüllung und Sichtbarmachung finden, dann mag der Sprung zur Geheimhaltung solcher Rituale, die mit der Fortsetzung des Lebendigen zu tun haben und deren Wirkkraft als mimetische Performanz auf die Realität mit ihrem Verbergen vor den Blicken verbunden ist, für unser Verständnis nicht mehr ganz so unüberwindlich erscheinen. Das erfordert jedoch wiederum, im Gegensatz zur Einstellung der Gelehrten des 19. Jahrhunderts, die Attitüde der Annahme der Gleichwertigkeit von Denken, Handeln und Reflexion zwischen sogenannten "primitiven" Philosophien oder Theologien und unserer eigenen Tradition. So finden wir auch in den meisten außer-europäischen Gesellschaften viele Rituale mit Geheimhaltung belegt, die mit Fruchtbarkeit und Sexualität zu tun haben, die mit symbolischen und realen Repräsentationen von Fortpflanzung und ihren Organen aufgeladen sind und in deren säkularem Umfeld auch erotisch-obszöne Gesänge stattfinden. Solche Praktiken sind uns aus den Frauenfesten Griechenlands zu Ehren der Demeter durch die Komödien des Aristophanes bekannt, oder nur indirekt von den Bezeichnungen für die Göttin Aphrodite als "porne", als Hure, als Loch, von "Schönem Hintern" usw. ablesbar. 28 So können wir aus Bruchstücken das Geheimnis der heiligen Riten der Thesmophorien, der Frauenfeste im Tempel der Demeter, zusammensetzen: die Frauen entsagten für eine kurze Periode der ehelichen Pflichten, um sich mit der Erde ohne Feuer und auf dem Boden liegend zu vereinen, wobei es am Ende des Ritualablaufs zu obszönen Reden und Gesängen (Aischrologien) kam. 29 Das Geheimnisvolle der vor den Augen der Männer verborgenen rituellen Handlungen der Frauen wird uns durch das voyeuristische Interesse einer Figur der Komödie nahegebracht, da der Mann,

27 Zur Entwicklung der "Ökonomie des Skopischen" in verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte der Ästhetik und Literatur, siehe Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Freiburg 1996. Ebenso Marx, Anna: Das Begehren der Unschuld. Freiburg 1999. 28 S. Grigson, Geoffrey: The Goddess of Love. London 1978. 29 Für eine strukturalistische Analyse siehe Detienne, Marcel: The Gardens of Adonis. Hassocks 1977.

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der das gerne sehen möchte, von den Frauen lächerlich gemacht und verprügelt wird. 30 Aber wir haben über diese und andere Mysterien-Kulte Griechenlands sehr wenig konkrete Hinweise oder Beschreibungen, da sich überraschenderweise sowohl Herodot, der sonst über alle möglichen Gerüchte und fremden Praktiken plauderte, als auch Plutarch, obwohl oder gerade weil er Eingeweihter der Eleusinischen Mysterien war, über diese Aspekte ausschweigen. Von Herodot haben wir - wohlgemerkt über die fremden ägyptischen Kulte solcher Art - die Begründung vorliegen, daß man über diese Dinge, da sie das Heilige berühren, nicht sprechen sollte. Dies ist nicht nur, wie vielleicht bei Plutarch vermutbar und verständlich, ein Rückbezug auf das Geheime von im eigenen Kulturkreis als wirksam betrachteten heiligen Riten, deren Ausplaudern nicht nur Blasphemie und Sakrileg gewesen wären, sondern auch die Wirksamkeit der Rituale beeinträchtigt hätte. Bei Herodot scheint vielmehr eine Hochachtung vor dem Geheimnis des Heiligen des Fremden durch, die dem "imperialen Blick" der europäischen Moderne fremd geworden ist. Bis heute kämpfen die Aborigines Australiens in Gerichtshöfen für das Geheimhalten ihrer heiligen Riten. 31

Bachtins groteske Leiblichkeit Das Problem des Kontingenten des Lebendigen in seiner körperlichen Unbegrenzbarkeit wird für Bachtin geradezu zum Ausgangspunkt, die Bedeutung und Funktion der Entgrenzung innerhalb von 30

Für die Kritik verschiedener Interpretationen des Demeter-Kultes, strukturalistischen wie psychoanalytischen, siehe auch Köpping, K.P.: Unzüchtige und enthaltsame Frauen im Demeterkult. In: Duerr, H.P. (Hg.): Die Wilde Seele - Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux. Frankfurt 1987, S. 85-123.

31

Der Begriff ist eine Anspielung auf Mary Louise Pratts Buch "Imperial Eyes". London 1992. Ich verstehe imperial hier als die Hegemonie der Wissenschaft, der säkularen Neugier und des um sich greifenden medialen Kontroll- und Informationsblickes. Siehe auch Virilio, Paul: Die Eroberung des Körpers. Frankfurt 1996, w o er die Horrorvision eines den Körper umschließenden Augapfels heraufbeschwört, S. 160. Zur Problematik der rituellen Geheimhaltung bei Aborigines siehe Köpping, K.P.: Religion in Aboriginal Australia. In: Religion, vol. 11: 367391, 1981.

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heiligen Zeiten in der spätmittelalterlichen Karnevals- und Lachkultur herauszuarbeiten. 32 Für Bachtin steht - auf der Folie der Werke von Rabelais - jedoch die disruptive Kraft der Körperlichkeit im Vordergrund, die mit der Vorstellung und Performanz jenes Leibes zu tun hat, der sich beinahe amöbenhaft an verschiedene Umgebungen und andere Körper anpassen kann, aber auch ein zerfließender ist. Diese Körperlichkeit wurde nach Bachtin von der Volkskultur metaphorisch sowohl als subversive Kraft gegenüber dem Ernst der weltlichen Ordnungs-Hierarchien ausgerichtet, beschwor aber gleichzeitig die generativen und kreativen Momente einer Lebensbejahung als Überwindung der Furcht vor kirchlichen und weltlichen Autoritäten und der Sterblichkeit selbst herauf. In der Lachkultur des Volkes erkämpften sich die Unterdrückten oft genug diese "Zeitinseln" der utopischen Freiheit von der alltäglichen Routine des Gehorchens, die immer wieder nach dem Fest einsetzte. Nach Bachtin wurde die Lachkultur von jenem grotesken Leib bestimmt, der sich in einem ununterbrochenen Austausch mit der Welt und mit anderen Körpern befindet, der immer ein werdender (und vergehender) ist, in dem sich Geburt und Tod vereinen, der durch seine Öffnungen die Welt in sich verschlingt, und der von anderen Leibern verschlungen wird. Diesen Leib sieht Bachtin in der Moderne durch die gesetzte Rede und die Etikette zur "tauben Fläche" verkommen: Während der spätmittelalterliche Mensch den Körper in seiner Formveränderbarkeit und in seinen unwillkürlichen Trieben als Metapher der Unordnung in eine groteske Gestalt brachte, durch Auffuhren von übertriebenen Analogien zwischen dem Gesicht und dem Unterleib, durch die Betonung von überdimensionalen Nasen (Phallen) zum Beispiel, machte er eine Aussage über das kollektive Leben, das sich zwar der Obrigkeit unterwerfen muß, aber in der imaginären und zeitweise performativen Realitätsumkehrung sein "wahres" Denken darüber zum Ausdruck bringt. Im Gegensatz dazu ist die Entwicklung eines individuellen und geschlossenen Leibes eine Errungenschaft der Neuzeit, in der das Geschlechtsleben, das Essen und Trinken und die Ausscheidungen ihre Bedeutung völlig verändern, indem sie auf der Ebene des priva-

32

B a c h t i n , M i c h a i l M . : Literatur und Karneval. Frankfurt 1 9 9 0 .

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ten Milieus sich vollziehen und und auch in der Öffentlichkeit immer mehr konventionell eingeschränkt werden. 33 Auflösbarkeit, Unbegrenzbarkeit, Unwillkürlichkeit, oder Unbeherrschbarkeit können aber auch als Zeichen dauernder fließender Veränderlichkeit, Umwandlung und Neuformierung fungieren, also für die Idee von Kreativität, Wandel und Transformation durch Werden und Vergehen eingesetzt werden. Damit verweist Bachtin auf das transformative Potential von Körperlichkeit, die durch performative Akte eine kollektive Bewußtseinsveränderung herbeiführen kann: 34 ...aus diesen festtäglichen Lichtblicken des menschlichen Bewußtseins bildete sich eine andere, eine nichtoffizielle Wahrheit über die Welt und den Menschen aus, die das neue Selbstbewußtsein der Renaissance vorbereitete.35

Bachtin sieht damit die Chance und das Potential des Körpers, sozialen Widerstand metaphorisch auszudrücken, aber es bleibt eben, ganz im Sinne der Rebellion im rituellen Kontext naturvölkischer Performanzen, ein durch Rituale begrenzter Rahmen von Raum und Zeit, der jedoch durch seine Festlichkeit eben auch ausserhalb von historischer Zeit- oder Raumbegrenzung steht, als ein Reich des Imaginären, in dem das passieren kann, was normalerweise konkret nicht vorkommen kann. Solche rituellen Rebellionen können jedoch, wie andere historische Arbeiten zeigen, in einigen Fällen auch zur realen revolutionären Umwandlung des Systems führen, zu jener Transformation, die ein Umschlagen einer kosmologischen Wahrheit

33

Bachtin, S. 22.

34

Es kann natürlich nicht ganz übersehen werden, daß Bachtins Interpretation auf der Idealisierung und Strukturierung eines Humanisten wie Rabelais aufbaut. Aber auch Rabelais' mögliche Intentionen einer Kritik an bestehenden theologischen Spitzfindigkeiten, an Paradoxien und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit können nicht von der belegbaren subversiven Real-Anwendung solcher Praktiken durch subalterne Klassen ablenken. Es ist höchstens jener HyperStrukturalismus, den sich Rabelais erlaubt, der dem Bewußtsein der Agierenden des Mittelalters fremd gewesen sein mag, der für moderne Intellektuelle zunächst das Interesse hervorruft. Für die Relevanz der subversiven Kritik an Autoritäten durch literarische und künstlerische Performanzen in einem modernen Arbeiter Milieu, siehe Mintz, Jerome: Carnival Song and Society. London 1997.

35

Bachtin, S. 24.

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in existentielle Einsicht und von gespielter Kritik zu sozialer Aktion beinhaltet. 36 Diese "schmutzigen Riten", um Greenblatts Ausdruck zu benutzen 37 , finden ihren Bedeutungszusammenhang in der von den Ausfuhrenden wahrgenommenen Ambiguität des realen sozialen Lebens mit seinen unauflösbaren Spannungen zur konzeptionellen Ordnung. Indem sie das Risiko performativ zum Ausdruck bringen, vereinen sich die Akteure wiederum um die Ordnung, die durch rituelle Handlungen die Grenzen des Möglichen zum Bewußtsein bringt. Es gibt immer Grenzfälle zwischen Protest und transformativen sozialen Aktivitäten, in denen jedoch die Elemente einer Performanz als theatralem Spiel nicht leicht auszumachen sind. So beschreibt Christopher Hill jene fliessenden Übergänge, in denen englische Dissidenten ihrem Protest gegen die bestehenden Werthierarchien dadurch Ausdruck verliehen, daß sie sich splitternackt auf den Marktplätzen postierten und ihre flammenden Reden hielten. Sie spielten einerseits mit dem bestehenden Strafkodex, der Nacktheit nur dann erlaubte, wenn Wahnsinn nachweisbar war. Dieser Wahnsinn war aber offensichtlich für die Behörden, so daß viele Dissidenten in der Tat zunächst straffrei ausgingen. 38 Man könnte argumentieren, daß sie geschickt mit den Paradoxien des eigenen Systems spielten. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß sie als Enthusiasten wahrscheinlich sich wirklich vom Geist besessen glaubten. Ihr Wahnsinn hatte also Methode.

Bataille und die Transformation durch erotischen Exzeß im Heiligen Einen ganz anderen, wenn auch verwandten Ansatz vertritt Bataille, der vom Heiligen als dem Ort der zeitweiligen Übertretung, insbesondere im Bereich der Sexualität, ausgeht, wobei diese Grenzüberschreitung zu einer Transformation von Individuum und Gesellschaft führen kann. Auch für Bataille gibt es die Dialektik von Ordnung und Auflösung, wobei die Welt der Ordnung die der Arbeitswelt ist.

36

Davis, Natalie Z.: Society and Culture in Early M o d e m France. Stanford 1965.

37

Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten. Berlin 1991.

38

Hill, Christopher: Worlds Upside-Down. Harmondsworth 1967.

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In dieser Welt bestehen für ihn die Verbote, und diese Verbote haben meist mit der Restriktion von Gewalt, vornehmlich aber von Sexualität zu tun. 39 Darin besteht der Widerspruch der Idee des Verbotes selbst: es ist nicht so sehr der Körper, der zur Übertretung durch seine physiologischen Eigenschaften anreizt - der ist bei Bataille die biologische Grundlage - , sondern die sozial geforderte Einhaltung von Verboten, die dazu reizen, übertreten zu werden. Ohne Übertretung und Anreiz dazu gibt das Verbot keinen Sinn, denn "das Verbot ist dazu da, übertreten zu werden", nach einem Zitat von Marcel Mauss. Bataille verbindet jedoch das Gefühl der Angst, die durch das Verbot hervorgerufen wird, mit der Lust an der Übertretung, besonders im Bereich des Erotischen, das sich dadurch erst etabliert, und zwar als außergewöhnliche, ja heilige Macht: Die Erfahrung führt zur vollendeten, zur geglückten Übertretung, die das Verbot aufrechterhält, und zwar um es zu genießen. Die innere Erfahrung der Erotik verlangt von dem, der sie macht, eine nicht weniger große Sensibilität gegenüber der Angst, die das Verbot begründet, als für das Verlangen, das zu seiner Übertretung fuhrt. 40

Für Bataille gibt es jedoch eine starke Verbindung zwischen den Verboten: die hauptsächlichen gegen Mord und Gewalt wie gegen die Ausübung des Erotischen weisen auf das Bewußtwerden und die Wahrnehmung der Verbindung von Leben und Tod und derjenigen von Erotik mit dem Tod hin. Alles Leben tendiert zur Kontinuität von diskontinuierlichen Individualitäten, aber die endgültige Kontinuität wird nur durch den Tod garantiert. Zum Kernpunkt der Erfahrung des Menschen gehört das Bewußtsein über die Gewaltsamkeit des sexuellen Spiels: das in den Fortpflanzungsorganen entfesselt wird, öffnet sie sich der unpersönlichen Gewaltsamkeit, die sie von außen überströmt. 41

Diese Tendenzen versuchen die meisten Gesellschaften, durch Verbote, die im Heiligen angesiedelt sind, in den Griff zu bekommen. Dadurch erhalten alle Akte, die dort stattfinden, nämlich die teilweise erlaubten, oft geforderten und als notwendig erachteten Über39

Bataille, Georges: Der Heilige Eros. München 1979.

40

Ebd. S. 35 (Betonung von Bataille).

41

Ebd., S. 86.

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tretungen, wie das Opfer, das Element des Attraktiven wie des Widerstrebens: Das Verlangen bezieht sich nicht mehr auf den Gegenstand, [...]. Der Gegenstand ist verboten, er ist heilig und gerade das Interdikt, mit dem er belegt ist, hat ihn dem Verlangen nahegebracht.42 Man könnte Batailles System so verstehen, daß der Wandel vom tierischen Sexualtrieb zur menschlichen Erotik durch die Einsetzung von Verboten zustande kommt, die in ihrer Absolutheit im Heiligen angesiedelt sein müssen: Die Grundlage der Erotik bildet die sexuelle Aktivität. Nun wird jedoch über diese Aktivität ein Verbot verhängt. Es ist unvorstellbar! Es ist verboten, sich zu lieben? Es sei denn, man tut es im geheimen.43 Für Bataille besteht der Unterschied der Erotik zum Sexualtrieb des Tieres - im Gegensatz zu den sozialwissenschaftlichen Rationalisierungstheorien über die Moderne, für die, wie ich oben andeutete, die Lust als Zweck eine Degeneration von Zivilisation darstellt - in der Verfolgung der sinnlichen Lust als Ziel in sich selbst, denn: Wenn die Erotik der Zweck unseres Lebens ist, dann steht die nützliche sexuelle Aktivität im Gegensatz zu ihr. Das bewußte Streben nach Fortpflanzung kann zu einer jämmerlichen Mechanik werden, die der Arbeit der Säge gleichkommt.44 Es geht Bataille um die Überwindung der Ordnung der Vernunft, vor allem der Rationalisierung. Auch die Behandlung der Erotik durch die Sexualwissenschaften ist für ihn eine degenerative Erscheinung dessen, was man mit Horkheimer und Adorno vielleicht den "Wahnsinn der Vernunft" bezeichnen könnte: Bataille möchte mit seinen Arbeiten zur Erotik die Nähe derselben zum Tode herausarbeiten. Auch er sieht wie Bachtin das Groteske in körperlichen Grenzüberschreitungen: "So spannt sich das Leben zwischen hemmungslosem Gelächter und Tränen". 45 Aber es ist die Wohllust der Erotik, die dieses Delirium so nahe dem grenzenlosen Schrecken des Todes er42 S. 68. 43 Ebd. 44 Bataille, Georges: Die Tränen des Eros. München 1981, S. 22. 45 Ebd., S. 22.

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scheinen läßt, und diese kann uns daher von den "Kindereien der Vernunft"46 hinwegfuhren, jener Vernunft, "die nie verstand, ihre Grenzen auszumessen".47 Die Nähe der öffentlichen Brechung von Tabus, vor allem sexueller Tabus, zu jener Unordnung, die der Tod mit sich bringt - ein Bewußtsein, das wir in vielen Gesellschaften nachdrücklich symbolisiert finden, wie die oben angeführten Beispiele zeigen - , ist auch für Bataille, der sich hier stark auf die Arbeit seines Kollegen Caillois stützt48, ein paradigmatischer Punkt, an dem die Entfesselung der Gewalt als Mechanismus der Übertretung zutage tritt. So gehören alle Freiheiten der Übertretung, die im Sakralen erlaubt werden, eben zur Welt "des Festes, der Herrscher und der Götter".49 Es ist vor allem die Übertretung, die mit dem Exzeß verbunden ist, die für Bataille das menschliche Bewußtsein in seiner Akzeptanz der Grenzen des Gesellschaftlichen wie der tragischen Fülle des kontingenten Lebens gewahr werden läßt: Der Gipfel des Seins offenbart sich in seiner Ganzheit nur in der Bewegung der Übertretung: durch sie geht das Denken, auf die Entwicklung des Bewußtseins durch die Arbeit gegründet, schließlich über die Arbeit hinaus und erkennt, daß es sich ihr nicht unterordnen kann.50 Bataille argumentiert mit zwei Prämissen, zum einen mit der biologischen Gegebenheit der Triebhaftigkeit des Menschen, zum anderen mit der Verschwendung der Natur im Prozeß der Schöpfung. Beim Menschen werden diese Triebe oder Naturgesetzlichkeiten zunächst im ersten Falle verneint durch die Umwandlung von Trieb in Erotik und die damit verbundenen Gebote, diese nur im Bereich des Intimen oder des Heiligen zur Erfüllung zu bringen, während die Naturkraft des Exzesses sich dann als kulturell umgeformter Trieb einstellt, wenn der Mensch ein Bewußtsein von und eine Sehnsucht nach der Überwindung der Diskontinuität des individuellen Körpers verspürt, der nur kommunikativ, durch Sprechen oder Sexualität, die 46 Ebd. 47 Ebd. 48 S. Caillois, Roger: L'Homme et le Sacre. Paris 1950. Siehe Bataille: Der heilige Eros, S. 47 und 62. 49 Bataille: Eros, S. 63. 50 Ebd., S. 271.

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Kontinuität mit anderen herstellen kann, ohne jedoch jene andere Kontinuität, die das Leben zum Tode hin definiert, ausschalten zu können. Der Exzeß im Überschreiten von Verboten, die in der Arbeitswelt Gültigkeit haben, ist in der Welt des Religiösen angesiedelt, weil das Bewußtsein der Vergänglichkeit über diese Welt hinausweist und hinausstreben muß. Die Arbeitswelt ist eine des Akkumulierens von Gütern, der Vorsorge und des Sparens für magere Zeiten, während die heilige Welt die des Überflusses, der Verschwendung und der Verausgabung ist, ein Überwinden des Todes durch mimetische Hinwendung zum Tode. Wie auch Sombart für den klassischen Kapitalismus feststellte, ist diese Welt den Praktiken der Verschwendung gegenüber äußerst feindselig eingestellt, ja die Arbeitswelt haßt den Luxus geradezu, aber, so argumentiert Bataille, diese Arbeitswelt ist eine Notwendigkeit für das Bestehen von Gesellschaft überhaupt.51 Der Aspekt der Verschwendung in der kulturellen Sphäre, zu der die Erotik und das Opfer zählen, ist für Bataille das Paradigma für jene "unproduktive Verausgabung", zu der auch alle Kulte und Riten sowie Kriege und auch perverse Sexualpraktiken gehören. Erst durch diese Verschwendung erreicht der Mensch echte Souveränität, d.h. Befreiung vom Reich der biologischen Notwendigkeit, die er zunächst mit den Tabus negiert hat, sondern nunmehr endgültig durch die Übertretung der Tabus selbst, wodurch die Transgression zu einer Negation der Negation wird. Gleichzeitig warnt Bataille jedoch vor der Überhöhung der Bedeutung des Heiligen als reiner Kategorie, denn der Hintergrund der profanen Welt bleibt auch in Orgien, Festen und Opfern bestehen, z.B. als Kalkulation für solch instrumentale Ziele wie die Erhaltung der Fruchtbarkeit der Felder. Im Laufe der Performanz von exzessiv festlichem Handeln nimmt das Fest einen Eigenwert, eine Eigendynamik an. Da aber der Genuß genauso zu einer intensiven consommation wie das Opferfeuer (metaphorisch "die verzehrende Leidenschaft") führen kann, das alles "verzehrt", bleibt die Verschwendung, deren endgültiger Punkt der Tod ist, so furchterregend, daß wir meist vor ihr zurückschrecken.

51 S. Sombart, Werner: Der Bourgeois. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 249 ff.

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Die subversive Entgrenzung von Diskursen In den hier vorgestellten theoretischen Ansätzen von Douglas, von Bachtin und von Bataille finden wir, wie ich zu zeigen versuchte, drei unterschiedliche Formen, mit dem Paradox der Transgressionen im Heiligen in einer kulturvergleichenden Sicht umzugehen. Douglas sieht in dem Versuch, Anomalien des jeweiligen kulturell kodierten Systems zu beseitigen, die im Konzept des Schmutzes ihren Ausdruck finden, die zentrale Rolle ritueller Regeln. Die Transgression gibt dem Heiligen zudem noch einen spezifischen Stellenwert dadurch, daß sie im Alltag durch rituelle Sanktionen tabuisiert werden muß und dadurch als Gefahrenquelle gebändigt wird. Die KonzeptSysteme der Ordnung weisen aber gleichzeitig auf das Bewußtsein von der Kontingenz des Lebendigen hin, auf das zur Erneuerung der Ordnung als chaotischer aber wirksamer Kraft zurückgegriffen werden muß. Systeme, die auf der Prämisse der kosmischen Ordnung und ihrer Beeinflußbarkeit durch menschliche "Agency" (bewußt reflektiertes und als wirksam erachtetes Handeln) beruhen, versuchen, durch jene Transgressionen des Normal-Regelhaften die Macht des Unregelmäßigen in den Dienst der Normen zu stellen. Bachtin dagegen sieht in den Entgrenzungen der Körperlichkeit in der mittelalterlichen Lachkultur eine Subversion, einen utopischen Freiraum für subalterne Gruppen, sich gegen den Ernst, die Autorität und die Furcht aufzulehnen. Bataille wiederum sieht in Transgressionen die Grundlage für die Etablierung und Wahrnehmung von Verboten an sich, die in der Welt der Arbeit gelten und nur im Heiligen als eine Art "höheres Sakrileg" zeitweise gebrochen werden können, wobei Angst und Begehren im Verbot selbst begründet sind. Für ihn ist die Transgression im körperlichen Exzeß der Verschwendung vor allem durch Erotik und Opfer ausgedrückt. Alle drei kulturvergleichenden Theorien sehen das Problem der in unserer eigenen Tradition unterdrückten Körperlichkeit im Heiligen, was zu einer Verarmung hinsichtlich einer spezifischen Kraft des Körpers, nämlich jener der Regeneration durch Sexualität geführt hat, wodurch auch das, was man mit Ritualen erreichen könnte, nämlich sowohl Kontrolle wie Betonung der Bedeutsamkeit des Bezeichneten verliert. Aber diese - wenn auch historisch nicht immer eindeutige - Ablehnung der sexuellen Eigenschaften des Körperli-

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chen verweist auf eine noch weiterfuhrende Problemstellung: es scheint, daß die christliche Tradition immer ein Problem mit dem Ambivalenten, dem Uneindeutigen, dem Chaotischen hatte, das als Kraft der Regeneration von vielen Gesellschaften zur Bewältigung von Krisen oder Krankheiten zur Erneuerung der kosmischen Ordnung bewußt herbeigeführt wurde, in Repräsentationen, ikonischen und performativen Darstellungen. Es bleibt zu fragen, ob die Betonung des Leidens in den Vorstellungen unserer eigenen Tradition eine gleichwertige Transgression im Heiligen bedeuten könnte, wenn schon die Lebensdomänen sich so weit verselbständigt haben, daß der Anwendung von Körperlichkeit in der Alltagswelt keine Bedeutung mehr beigemessen wird. Es bleibt zu bedenken, daß in der westlich-aufgeklärten, rationalisierten und säkularisierten Welt eine Massen-Hinwendung zu Kulten stattfindet, die besonders mit Zuständen der körperlichen Manipulation operieren, die von Heilpraktiken bis zu dissoziativen oder Auflösungs-Zuständen wie Trance und Besessenheit reichen. Meldet sich hier durch fremd-religiöse Verkleidungen die Suche nach spirituellem Einbeziehen des Körpers wieder? Und findet diese Spiritualisierung des Körpers oder die Somatisierung der religiös-rituellen Domäne eine so große Resonanz, weil dem Körper im Alltag in all seinen Facetten kein spiritueller Wert mehr zugemessen wird? Diese Fragen sind genauso schwierig zu beantworten wie die einer Verbindung von orthodoxen und heterodoxen Praktiken hinsichtlich der Einbeziehung oder Ausschaltung des Körperlichen aus der Domäne des Heiligen. Bei näherem Hinschauen mit einem ethnographisch verfremdeten Blick fallen uns eher die Besonderheiten unserer eigenen Praktiken und ihrer Begründungszusammenhänge auf, aber auch die Widersprüche zwischen verschiedenen Praktiken und am häufigsten die zwischen einem offiziellen Diskurs und den konkreten Praktiken. Antworten auf die Fragen nach den mit sich verändernden Körperbildern und -praktiken zusammenhängenden sozio-strukturellen Bedingungen werden nicht so schnell empirisch eindeutig gelöst werden können. Wir müssen uns auch damit zufrieden geben, daß wir es kaum mehr mit geschlossenen, kohärenten Symbol-Systemen zu tun haben. Wie Greenblatt uns zur Vorsicht mahnt, können wir Symbolsysteme nur in ihrer Gleichzeitigkeit oder in ihrer Zirkulation oder konkurrierenden Selektivität aufzeigen,

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nicht in ihrer aufeinander bezogenen Kausalität oder historisch notwendigen Abfolge.52

52 Greenblatt, S. 12 f.

Nakedfella oder Varianten der Nacktheit Britta Duelke

1987, ein Jahr nachdem der Bau des sogenannten Aboriginal Arts Centre auf einer ehemaligen katholischen Missionsstation im tropischen Norden Australiens feierlich eingeweiht worden war, nahm eine ältere Frau europäischer Herkunft ihre Arbeit dort auf. Von Haus aus Lehrerin war sie als sogenannter art advisor angestellt worden. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, die Leitung des Kunstzentrums zu übernehmen, d.h. die Geschäfte zu fuhren, bestimmte Fertigkeiten wie Mal-, Batik- und Textildrucktechniken zu vermitteln und - da ihre Tätigkeit seinerzeit direkt der damaligen Schuldirektorin des Orts, der Mutter Oberin eines katholischen Nonnenordens unterstand - zusätzlich Sorge zu tragen, daß die ganze Angelegenheit in einer missionsverträglichen und damit an christlichen Grundwerten orientierten Atmosphäre stattfand. Am Tag nach ihrer Ankunft kam es zu einem für lokale Verhältnisse höchst unüblichen Protest. Eine Gruppe von sechs meist älteren Aborigines-Frauen trat ihr gegenüber: Regelrecht zu einer Front formiert, bedeuteten sie der Kunstlehrerin gleichermaßen unvermittelt wie unmißverständlich, daß sie keinerlei Interesse daran hätten, im Kunstzentrum zu arbeiten, daß niemand sie zwingen könne, sich auszuziehen und nackt herumzulaufen. Man wolle seine Ruhe haben, und die gerade angekommene Lehrerin solle die Kommune umgehend verlassen. Die gleiche Aktion wiederholte sich während der nächsten Tage. Der Protest, so erzählte mir die damals boykottierte Frau später1, konzentrierte sich vor allem auf die Nacktheit. Immer wieder sollen 1

Die hier beispielhaft beschriebenen Ereignisse fanden im Jahre 1987 statt und wurden mir Ende 1989 von unterschiedlich involvierten Personen bei Erhebungen zur sogenannten oral history erzählt. Auch die beiden nachfolgenden Beispiele, die die Initiation und die Erzählungen über die sogenannten 'nackten Busch-Abo-

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die Frauen lautstark darauf beharrt haben, daß sie Scham hätten, daß sie Kultur hätten, daß sie nicht wie andere Leute nackt herumlaufen würden, daß sie nicht daran dächten, ihre Häuser zu verlassen, um draußen unter laubgedeckten Unterständen - sogenannten humpies zu schlafen, daß sie weiterhin Feuerzeuge benutzen wollten und daß man ihnen das elektrische Licht nicht einfach abschalten dürfe. Mit der ortsüblichen Verzögerung griffen nach einiger Zeit Vertreter des kommunalen Ortsrats2 in die ganze Sache ein, und es kam zu ersten Vermittlungsgesprächen, die deutlich machten, daß es hier nicht nur um ein simples Mißverständnis ging. Die protestierenden Frauen ihrerseits erzählten mir zwei Jahre nach dem Vorfall, daß ihr damaliger Widerspruch auf einigen Hintergrundinformationen beruht habe. Sie hätten gehört, daß sich das 'weiße' Interesse an den indigenen Kulturproduktionen gemeinhin nur auf die traditionelle Kunst konzentriere, und daß man diese nur dann schätze und mit entsprechenden Preisen versehe, wenn sie oldfashioned style, d.h. unter traditionellen Umständen bzw. von traditionellen Aborigines produziert worden sei. Zwar entsprach die Emphase auf Traditionen durchaus dem Selbstverständnis der hier involvierten Frauen, nur schlössen sie - einem quasi-holistischen Denkprinzip folgend - daraus auch, daß sie, mit der Aufnahme des Betriebs im neuerrichteten Kunstzentrum, mit der Moderne brechen müßten, daß sie ihre Häuser verlassen und in humpies ziehen sollten, daß man ihnen Strom und Wasser abstellen und verbieten würde, Streichhölzer bzw. Feuerzeuge zu verwenden. Im Zentrum ihrer Überlegungen aber habe seinerzeit die Sorge gestanden, daß man von ihnen fordern könne, ihre Kleider, zumindest aber ihre Oberteile auszuziehen, daß man sie zwingen könne, fortan in traditionell-authentischer Manier und vor aller Augen nackt bzw. barbusig - eben

2

rigines' betreffen, stammen aus dem Jahre 1987 und sind damit Rekonstruktionen von Erzählungen. Bei letzteren handelt es sich um alljährlich wiederkehrende Ereignisse, die ich mit meinen eigenen Eindrücken und Erfahrungen bei Aufenthalten in den Jahren 1989 bis 1991, 1992, 1994, 1996 und 1998 vergleichen konnte. Der Ort wurde 1955 als katholische Missionsstation gegründet. Im Zuge nationalstaatlicher Reformen wurde seit den 1970er Jahren eine graduelle Selbstverwaltung eingeleitet, die zu einer gewissen Säkularisierung der lokalen Administration führte. Nominell ist der Ort heute eine autonome, von einem Ortsrat (Aboriginal Council) geleitete Kommune, obgleich die Bezeichnung 'Mission' aus verschiedenen Gründen ihre Gültigkeit behielt.

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als nakedfella - durch die Kommune zu marschieren. Unter diesen Umständen wollte keine der Frauen irgend etwas mit dem Zentrum zu tun haben: Es solle dem Erdboden gleich gemacht werden schließlich sei man an Kleider gewöhnt, habe Kultur und Scham und einige führten überraschenderweise ins Feld, daß es ihnen als guten Katholiken ohnehin untersagt sei, sich ihrer Kleider zu entledigen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit mir fügten die Frauen erklärend hinzu: Sicher, früher sei man little bit naked und little bit wild gewesen, habe Kleidung im eigentlichen Sinne nicht gekannt, habe sie aber, anders als die wirklich wilden 'Stämme' der Umgebung, auch nicht gebraucht - damals seien eben die Regeln, die den nackten vom entblößten Körper unterscheiden, naturgemäß und stringent eingehalten worden. Heute, in that modern world, hätten sich die Regeln verschoben, die Leute hätten keine Scham mehr, anders als früher würden sie auf ungebührliche Weise starren und den Blick nicht mehr senken, und damit verbiete sich jedwede Form der Nacktheit von selbst. Sie seien eben nicht wie die bekanntermaßen rückständigen Aborigines-Frauen anderer Regionen, die bemalt und barbusig in die Öffentlichkeit träten, oder wie einige lose weiße Frauen, die nackt an irgendwelchen Stränden herumlägen bzw. noch schlimmer - unzureichend bekleidet in Aborigines-Kommunen auftauchten, um ihre Solidarität mit einem vermeintlichen Naturvolk bzw. ihre Nähe zur Natur insgesamt zu demonstrieren. Mit den Vermittlungsgesprächen durch die Repräsentanten des Ortsrats versiegten die Proteste, und inzwischen repräsentieren die damals protestierenden Frauen - selbstredend adäquat bekleidet den stabilen Kern des örtlichen Kunstzentrums. Gut einen Monat nach den damaligen Protestaktionen reisten die gleichen Frauen - wie jedes Jahr während der Trockenzeit - in eine Nachbarkommune, die seit langem für Missionare und andere unliebsame Weiße gesperrt war, um dort - wie üblich - an Initiationszeremonien teilzunehmen. Ganz der regionalen Sitte entsprechend bemalten sich die Frauen und tanzten für die Initianden - und zumindest die älteren unter ihnen hielten sich an den ortsüblichen Bekleidungsstil und tanzten ohne Oberteil. Die alten Frauen konnten Kleidern zwar durchaus etwas abgewinnen, waren aber - anders als die jüngeren, die sich weigerten, die Oberteile abzulegen bzw. nur mit Büstenhalter tanzten - nie durch die Missionsschule gegangen.

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Schließlich waren die Initiationszeremonien grundlegender Bestandteil des überlieferten Kulturguts, manifester Kern der eigenen Kultur. Schon immer hatten die Frauen für die Initianden getanzt, früher hatte es keine Kleidung gegeben und genau deswegen legte man auch hier die Oberteile ab. In diesem Zusammenhang soll das Wort nakedfella nicht ein einziges Mal gefallen sein. Wenige Wochen nach den Initiationszeremonien häuften sich Ereignisse, die die Bewohner der Kommune zutiefst beunruhigten und zu gesteigerter Aufmerksamkeit veranlaßten. Wie jedes Jahr zu Beginn der Regenzeit, wenn die Hitze fast unerträglich wird, die Zahl der lokalen Konflikte merklich ansteigt und die ersten Regenfalle die Gräser und Büsche in kürzester Zeit so zum Treiben bringen, daß der weite Blick gehindert und die Landschaft unübersehbar wird, setzten auch die allabendlich mit Spannung erwarteten Reden von nackten und wilden Busch-Aborigines ein, die man in der Nähe der Kommune gesichtet habe. Immer abends im Zwielicht oder nachts tauchten die Gestalten auf, einzeln oder zu zweit, höchstens mit einem naga, einem Lendenschurz bekleidete Männer, die gelegentlich einen Speer in der Hand trugen und deren Brust, Rücken und Oberschenkel mit den traditionellen Inzisionen, den symboltragenden Ziernarben versehen waren ... ganz wie früher. Vorsicht schien geboten, denn die nackten Wilden hätten nur eines im Sinn, zu überfallen und zu töten bzw. mittels bestimmter Verfahren körperliche Substanzen zu extrahieren, was den Opfern einen schleichenden Tod, den Tätern aber ein überaus wirkungsvolles und gefährliches magisches Mittel einbringe. Man selbst, so hieß es, habe von solchen verwerflichen Tätigkeiten im Zug der neuen Zeit längst Abstand genommen und sehe sich ihnen hilflos ausgeliefert. Die nackten Wilden seien reine Hinterwäldler, Fremde aus fernab liegenden unwirtlichen Regionen, zwischen ihnen und der ansässigen Bevölkerung gebe es keinerlei Beziehungen. Mit der Moderne gänzlich unvertraut, verfugten sie noch vollständig über das alte Wissen, lebten wie früher vom Jagen und Sammeln, sprächen nur die eigenen Sprachen, jede Kommunikation - auch in Kriol3, der regionalen lingua franca 3

'Kreolisch' und 'Pidgin' sind Bezeichnungen für Kontakt- und Mischsprachen. Das linguistische Unterscheidungskriterium ist, ob eine Kontakt- oder Mischsprache als Muttersprache einer Sprachgemeinschaft genutzt wird oder nicht. Anders als beim sogenannten Pidgin-Englisch, das ausschließlich zu bestimmten Zwecken

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sei unmöglich. Es handelte sich schlicht um nakedfella, gleichermaßen bewunderte wie gefurchtete Relikte einer anderen Zeit, an die man sich selbst noch gut erinnern konnte. Ihre nackte wilde Fremdheit stand außerhalb des eigenen Sozialen, stand dem eigenen historisch gewachsenen 'Jetzt' als ein 'neues Fremdes' gegenüber. Zugleich aber konnte man sie kategorisieren, ihre Taten im Rahmen eines 'alten Eigenen' vorhersagen, sie waren Spiegelbild und Kontrapunkt, Identifikations-, Verfremdungs- und Entfremdungsmedium in einem. Wie die drei Beispiele zeigen, verweist die Nutzung oder Meidung des Kriol-Terminus' nakedfella (abgeleitet vom Englischen naked fellow) auf je unterschiedliche Sinn- und Relevanzstrukturen.4 Je nach Kontext markiert nakedfella für die knapp dreihundert Aborigines-Bewohner dieser sehr heterogen, aus Migranten zusammengesetzten Kommune - in der Sprecher von insgesamt zehn verschiedenen indigenen Sprachen zusammenleben - je spezifische temporale, räumliche, moralisch-ästhetische und soziopolitische Bezüge. In seiner referenz-semantischen Flexibilität ähnelt er anderen KriolSchlüsselwörtern5, die im Alltag der Kommune auch jenseits der Kleiderdebatten eine Rolle spielen. Was jedoch den Begriff nakedfella vor Ort auf besondere Wiese idiomatisch kennzeichnet, ist zum einen ein mehrdimensionaler historischer Rekurs, der auf das Eigene, das Andere und das Aneignen des Anderen verweist, zum anderen (etwa beim Handel zwischen verschiedensprachigen Gruppen) verwendet wird, entwickelten sich die kreolischen Sprachen im Laufe der Zeit zu eigenständigen Sprachen, die zu Muttersprachen für die nachwachsenden Generationen wurden. Das im Northern Territory und im nördlichen Westaustralien gesprochene Kriol ist eine besondere Variante der australischen Kreol-Sprachen und dient sowohl der Kommunikation mit Europäern als auch mit Aborigines aus anderen Sprachregionen. Je nach Region variiert es in der Zusammensetzung von Englisch und den jeweiligen indigenen Sprachen. Es handelt sich dabei um kein sogenanntes 'Onkel-Tom-Englisch', sondern um eine in jedweder Hinsicht eigenständige Sprache, wobei speziell grammatische Formen aus den australischen Sprachen hergeleitet werden. Duelke, Britta:'... same but different...': Vom Umgang mit Vergangenheit - Tradition und Geschichte im Alltag einer nordaustralischen AboriginesKommune. Studien zur Kulturkunde, Bd. 108, Köln 1998, S. 257ff. 4

5

Vgl. Berger, Peter / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main. 1984 (= '1966), S. 84ff. Dazu gehören etwa Begriffe wie culture, tradition,family etc.

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sein Potential, soziokulturelle Grenzen und damit die Felder für Projektion und Gegenprojektion abzustecken. Seine spezifische Relevanz - auch für seine neueren repräsentativen und inszenatorischen Bedeutungshorizonte - erhält nakedfella jedoch nicht in der Tatsache des Ablegens, sondern in der noch immer gepflegten Erinnerung an das Anlegen von Kleidung. Die alten Leute erinnern sich noch heute, wie sie, ihre Eltern und Großeltern während der ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts ihre jeweiligen Heimatgebiete verließen und in die Region einwanderten, die heute ihren Wohnraum darstellt. Damals hatte sich die Nachricht von exotischen weißen Neuankömmlingen im Busch wie ein Lauffeuer verbreitet, und so machten sie sich auf, selbst einen Blick auf die europäischen und chinesischen Goldsucher, Farmer und Krokodiljäger zu werfen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mehr oder minder sporadisch in dem Gebiet auftauchten.6 Der Grund für die damaligen Migrationen war die Attraktivität des Neuen, das Bedürfnis, innovative und damit wertvolle Güter und wertvolles Wissen zu monopolisieren. Für die meisten Migranten, so sagen sie selbst, wurde das Bedürfnis nach einigen Gütern der Weißen, hauptsächlich Tee, Zucker und Tabak, so stark, daß sie nicht mehr zurückkehrten. Einzelne Gruppen etablierten spezielle Allianzen mit je spezifischen Weißen, verblieben in deren Dienst und Fron und bildeten regelrechte Enklaven.7 Die Bindungen an einzelne europäische Siedler bedeuteten aus der Perspektive der Migranten, ausschließliche Anrechte auf den jeweils einzelnen nebst dessen Güter und Objekte zu haben und andere von der Aneignung der Ressourcen auszuschließen. Die Weißen hatten Regeln, nach denen sie Güter erwarben und verteilten; den Aborigines oblag die Deutung und Integration dieser Regeln in die eigenen, lange etablierten Kategorien, die wesentlich an Reziprozitätsprinzipien orientiert waren. Man deutete den Erhalt von Gütern als Rekompensation für 'richtiges' Verhalten, was, wenn man so will, zu einem manifesten Bestandteil der lokalen Realitätskonstruktionen, zu einem sogenannten 'Cargo-Denken' gehört: 6

7

Im Unterschied zu einigen anderen Regionen Nord- und Zentralaustraliens ist hier der Beginn der Kontaktperiode durch eine aktive Zuwanderung in die von Weißen besiedelten Gebiete charakterisiert. Duelke, Britta (1998), S. 188ff. S.a. Berger, Peter / Luckmann, Thomas (1984), S. 28,42.

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Richtiges Verhalten schafft die Bahn, auf der die ersehnten Güter Einzug halten.8 Allerdings waren nicht allein rein materielle Aspekte der Grund dafür, daß man in der Region verblieb und eher selten in die eigenen Heimatgebiete zurückkehrte. Noch heute wird aus den Geschichten über diese Zeit deutlich, welches Prestige Aborigines damit verbanden, sich mit 'weißen Lebens- und Umgangsformen' auszukeimen, wie wichtig es für den Status einzelner oder spezifischer Gruppen war, souverän mit den Weißen und den mit ihnen assoziierten Objekten umzugehen.9 Diejenigen, die an dieser Wissensökonomie nicht teilhatten und über keine Expertise verfügten, etwa die Nachzügler, wurden als sogenannte bush-myalls[0, wild'n'naked blackfella oder eben als Hinterwäldler diskreditiert, als Unruhestifter in einer neuen Ordnung, nicht zuletzt aber als neidgetriebene und damit gefährliche Konkurrenten, denen man häufig genug magische Tötungsabsichten unterstellte, gegen die man sich nicht mehr zur Wehr zu setzen wußte." Der Wissens- und Prestigegewm« stand einem nicht 8

Sturmer, John R. von: The Politics of Residence. In: Australian Institute of Aboriginal Studies (Hg.): Aborigines and Uranium. Consolidated Report on the Social Impact of Uranium Mining on the Aborigines of the Northern Territory. Canberra 1984, S. 109: Vgl. auch Taussig, Michael: Mimesis und Alterität: Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Hamburg 1997 (' 1993), S. 55-108. 9 Stanner, W.E.H.: Culture Contact on the Daly River. Unpubl. M.A. thesis. University of Sydney 1934, S. 53ff. Vgl. Simmel, Georg: Zur Psychologie der Mode. In: ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Hg. u. eingel. v. Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt. Frankfurt/Main 1983 ('1895), S. 133ff. 10 Myall ist ein ursprünglich aus dem Dhaiuk (Gegend um Sydney) stammender Begriff in der Bedeutung 'ein Fremder', 'Aborigines von einem anderen Stamm'. Der Terminus wird heute bedeutungsgleich im australischen Englisch und im Kriol genutzt. Aborigines, die im Umfeld der weißen Siedlungen leben, bezeichnen mit myall vor allem diejenigen, die im Busch verbleiben und einen quasi-traditionellen Lebensstil beibehalten. Myall wird als Adjektiv im Sinne von 'fremd', 'feindlich', 'wild', 'unzivilisiert' und 'ignorant' verwendet. Neben den negativen Konnotationen und einer gewissen Herablassung schwingen immer auch Anerkennung und Angst mit. Mit myall assoziiert man auch ein althergebrachtes Wissen, das man gleichermaßen schätzt und fUrchtet, letzteres, weil man sich den magischen Techniken, die Bestandteil dieses Wissens sind, wehrlos ausgeliefert sieht. 11 Duelke, Britta (1998), S. lOlf, 134. Vgl. Morphy, Howard und Frances Morphy: The 'Myths' of Ngalakan History: Ideology and Images of the Past in Northern Australia. Man, n.s., 1984, 19 (3).

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unbedeutenden Wissensver/wii gegenüber: Die 'nackten' Nachzügler und Hinterwäldler wurden mit einem Wissenskomplex assoziiert, von dem man sich distanziert fühlte, den man 'vergessen' zu haben schien, was eine höchst widersprüchlich bewertete, letztlich aber verstärkte Bindung an die Weißen zur Folge hatte. Zu den geschätzten Objekten gehörten speziell auch bislang unbekannte Materialien, wie Stoffe und eben Kleidung. Die überaus bereitwillige Adaption von europäischer Kleidung, so die Erinnerung einiger älterer Leute, wurde jedoch nicht durch eine plötzliche Bewußtwerdung der Nacktheit im biblischen Sinne ausgelöst12: Der unbekleidete Körper war nicht das Gegenteil des bekleideten Körpers. Die Körper Erwachsener waren nie 'nackt' gewesen, sondern mit Inzisionen, Bemalung und anderer Dekoration 'bedeckt' bzw. mit den signifikanten Zeichen versehen, die über Alter, Status und - nicht zuletzt - individuellen Geschmack ausfuhrlich Auskunft gaben.13 Anders als in den Projektionen der Weißen, die hinter dem unbekleideten Körper Schamlosigkeit und hinter dieser wiederum zügellose Promiskuität witterten, war der kleiderlose Körper an sich nicht schambesetzt.14 Aus der Innenperspektive einzig schambesetzt war 12 Solche Deutungen waren üblicherweise unter Missionaren gebräuchlich, gehörten aber wohl eher in den Bereich eines wishful thinking. Ein typisches Beispiel findet sich in der Beschreibung von Violet Turner (Ooldea. Melbourne 1950, S. 4) über eine von 1933 bis 1952 bestehende Missionsstation in Südaustralien: "Seeing the white people clothed, the natives became ashamed of their own nakedness, and with no knowledge of hygiene they donned old clothing given to them by their white friends, wearing it until it hung in filthy tatters around them". Es wird sich kaum um eine 'Instant'-Bewußtwerdung gehandelt haben, denn auch hier gilt, daß man eine zugrundeliegende Norm zunächst einmal genauer kennen muß, um sich einer Normenverletzung zu schämen, siehe dazu auch Nedelmann, Brigitta: Georg Simmel: Emotion und Wechselwirkung in intimen Gruppen. In: Friedhelm Neidhardt (Hg.): Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25. Opladen 1993, S. 193. 13 Vgl. Goody, Ester / Goody, Jack: The Naked and the Clothed. In: Hunwick, John / Lawler, Nancy (Hg.): The Cloth of Many Colored Silks: Papers on History and Society Ghanaian and Islamic in Honor of Ivor Wilks. Evanston, 111. 1996, S. 70, 86 fur Beispiele aus Ghana. 14 Die von beiden Geschlechtern gelegentlich getragenen Haar- oder Federgürtel, die an der Taille befestigt und mit herabhängenden 'Troddeln' oder Objekten versehen waren, trugen eher dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Geschlechtsorgane zu ziehen, als sie davon abzulenken, siehe dazu auch Berndt, Ronald M. /

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nur der entblößte Körper, d.h. der Körper, bei dem zu verhüllende Körperteile dem Blick freigegeben waren. Dies betraf bei Frauen das von den Labien 'bedeckte' innere Genitale sowie bei beiden Geschlechtern den von den Gesäßbacken 'bedeckten' Anus. Der zirkumzidierte Penis erwachsener Männer war bezeichnenderweise davon ausgeschlossen. Um die Differenz zwischen schamfreier "Nacktheit' und schamloser 'Entblößung' zu erkennen, war keine Ansichtigwerdung eines mit europäischer Kleidung verhüllten Körpers notwendig. Unzählige Mythen berichten von Verhüllung und Entblößung, von der Einfuhrung des richtigen Gehens, des richtigen Sitzens, Bückens, vor allem aber des richtigen Tanzens. Hier unterschied und unterscheidet man deutlich zwischen den urzeitlich-mythischen Protagonisten (meist verkörpert durch Frauen), die, je nach Tanzstil, eben korrekt und schön, mit mehr oder minder geschlossenen Beinen zu Tanzen verstanden, und denen, die die Beine öffneten und den inneren Teil ihrer Genitalien dem entsetzten Blick der anderen freigaben.15 Die in diesem mythischen Moment empfundene Scham der gleichermaßen mythischen Zuschauer löste eine Entscheidung für die Zukunft aus, eine Entscheidung für oder gegen das Wissen, für oder gegen ästhetische Präsentation, für oder gegen Kultur, die noch heute ihre Gültigkeit besitzt.16 Die rezenten Erzähler dieser häufig wiederholten Mythen müssen ihre Zuhörer nicht gesondert darauf verweisen, daß sich die eigenen Vorfahren seinerzeit richtig entschieden hatten und man seitdem, im Gegensatz zu vielen Anderen (Weißen wie AboriBerndt, Catherine H.: A Preliminary Report of Fieldwork in the Ooldea Region, Western South Australia. Oceania, 1942, 12 (4), S. 319f. Spencer, Baldwin: Wanderings in Wild Australia. 2 Bde. London 1928, S. 223. 15 Bei den gegensätzlichen Protagonisten der auf das Tanzen bezogenen Mythen handelt es sich einmal um den in Nganggikurunggurr (einer im nordwestlichen Northern Territory gesprochenen Sprache) als Ardityipi bezeichneten (mythischen) Bandicoot (Isodon macrourus) und um den, wegen seines peinlichen Tanzstils besonders gut memorierten Agamarakulkul, den (mythischen) Northern Quoll ('Native Cat', Dasyurus hallucatus). 16 In vielen australischen Mythen sind die mythischen Zuschauer - die Zeugen mythischer Vorkommnisse also - genauso wichtig wie die eigentlichen Protagonisten. Die positiven oder negativen Reaktionen der mythischen Zuschauer auf die Vorkommnisse entsprechen den mythischen Normensetzungen einer Wertegemeinschaft. Die Normen werden im Mythos festgelegt, begründet und durch ihn weitergegeben.

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gines), streng darauf achtete, die Bloßlegung der Genitalien zu vermeiden. Europäische Kleidung, so unkomfortabel sie zum Teil war, diente als Schmuck und Prestigeobjekt, sie erleichterte bestimmte Bewegungen, auch das Sitzen und Tanzen, und unterband damit die Gefahr der schon immer tabuisierten Offenlegung oder Entblößung bestimmter Körperteile. Auch schützte Kleidung vor etwas, was man bis heute mit dem Auftauchen der Weißen verbindet und was typischerweise von fremden Aborigines, mit denen man es aufgrund der neuen Lebensumstände verstärkt zu tun hatte, übernommen wurde, und das war der schamlose und gerichtete Blick, das Starren, das nach wie vor als Ausdruck größter Kulturlosigkeit gewertet wird.17 Neben den bereits genannten objektbezogenen, den wissensökonomischen und damit auch statusorientierten Gründen hatte die Adaption von Kleidung also durchaus auch pragmatische Gründe, letztlich aber immer Gründe, die auf die eine oder andere Weise mit kulturspezifischen Vorgaben zu verbinden waren. Die Übernahme von Kleidung hatte während dieser frühen Phase des Kulturkontakts allerdings auch ihre Grenzen. Kam es doch zu einer kurzfristigen Rückkehr in die eigenen Gebiete, erfolgte diese gemeinhin unter Aufgabe der Kleidung.18 Man zog sich aus, verwahrte die Kleider sicher in großen Astlöchern, um sie - bei der Rückkehr in die Lager der Weißen - wieder anzulegen. Das Anlegen oder Tragen bzw. das vollständige oder partielle Ablegen von Kleidung markierte einen Domänenwechsel, der, wenn auch modifiziert, bis heute eine gewisse Gültigkeit besitzt. Die eigene Domäne steht für die eigenen Regeln, den Ausschluß des fremden Blicks. Galt es in der einen Domäne, Anteil an einem spezifischen und innovativen Wissenskorpus zu haben, der die Teilhaber von anderen Aborigines differenzierte und damit domänenspezifischen Status sicherte, waren beim Wechsel der Domänen, etwa bei der Rückkehr in die eigenen

17 Die Bedeutung, die hier dem 'Blick des Anderen' beigemessen wird, weist durchaus Parallelen zu Sartres Konzeption des Blicks im Sinne einer 'bemächtigenden Objektivierung', einer schamerzeugenden Fremdbestimmung auf, siehe Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontotogie. Reinbek bei Hamburg 1998 (' 1943), S. 457-538, bes. S. 474ff. 18 Solche Rückwanderungen wurden von Weißen wie Aborigines jeweils mit unterschiedlichen Konnotationen going walkabout genannt.

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Gebiete, andere domänenspezifische Repräsentations-, Status- und Wissenskonzeptionen gefragt. Das Ablegen der Kleidung signalisierte einen Wechsel und markierte die Grenzziehung: hier zwischen 'schwarz' und 'weiß'. 19 Als die katholischen Herz-Jesu-Missionare 1955 ihre Dépendance eröffneten, siedelten sich die Migranten auch aus sozioökonomischen Gründen permanent auf der Mission an. Wieder kam es zur Bildung einer, wenn auch diesmal sehr heterogenen Enklave mit eigenen Regeln und einer spezifischen Wissensökonomie, die die drinnen, von denen draußen trennte. 20 Kurz nach der Gründung der Mission, d.h. mit dem Erscheinen der Nonnen, der 'Schwestern vom göttlichen Herzen Jesu', entstand die Missionsschule mit 'Internat'. Man separierte die Schulkinder von den Eltern, belegte auch partielle Kleiderlosigkeit mit massiven negativen Sanktionen und achtete neuerlich auch strikt darauf, daß Frauen ihre Brüste permanent bedeckten. 21 Man unterband das traditionelle Zeremonialleben soweit als möglich, man nahm seinen gottgegebenen zivilisatorischen Auftrag ernst und belohnte jeden noch so geringen Erfolg - nicht nur mit Verweisen auf die Gottgefalligkeit, sondern auch über die Distribution rarer Güter. Die Kinder, die durch die Missionsschule gingen und dadurch konkreter mit europäischen Wert- und Schamkodizes vertraut waren, begannen mehr oder minder erfolgreich darauf zu achten, daß sich die älteren Generationen, vor allem die Frauen, wenigstens in der Öffentlichkeit und den neuen Regeln nach adäquat bedeckten. Nicht allein die Missionare, auch der inzwischen leichtere Zugang zu den Medien, zu Kinofilmen und Zeitschriften machte deutlich, daß der Busen in der dominanten Gesellschaft gewissermaßen zu den Genitalien gerechnet wurde, daß dessen Entblößung sexuell konnotiert und somit schambesetzt war. Man richtete sich danach. Dessen ungeachtet fielen und fallen, früher 19 Zur Konzeption von Domänen siehe auch Sturmer, John R. von: The Social Impact of Mining. In: Australian Institute of Aboriginal Studies (Hg.) Aborigines and Uranium. Consolidated Report on the Social Impact of Uranium Mining on the Aborigines of the Northern Territory. Canberra 1984, S. 219ff. 20 Dazu Duelke (1998), Kap. 4 und 5. 21 Hierin unterschieden sich die Praktiken der einzelnen Denominationen. Auf der von Moraviern (Presbyterianern) 1904 gegründeten Mission von Aurukun (Cape York Peninsula) etwa konnten Frauen durchaus barbusig bleiben (John von Sturmer, persönl. Mitt.).

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wie heute, unter den Älteren die Oberteile - zumindest im Schutze der Dunkelheit oder wenn sichergestellt ist, daß keine Fremden auf der Bildfläche erscheinen was kleine Hinweise darauf gibt, daß man die Missionsregeln einzuhalten verstand.22 Das gilt bis heute auch für andere, jeweils domänenspezifische Regeln: So können Kinder im Vorschulalter in der Nähe des eigenen Hauses problemlos unbekleidet herumlaufen. Jedes unvermutete Auftauchen eines fremden Weißen oder Missionars aber löst quasi-ritualistische Invokationen von umstehenden Erwachsenen aus, die umgehend nakedfella oder naked baby rufen.23 Damit wird zum einen ein gewisses Understatement von den Weißen eingefordert (him just baby, d.h. zumindest bedingt 'a-sexuell'), zum anderen aber werden die Transgressionslinien sowohl des Weißen als auch des Kindes wirkungsvoll markiert.24 Umgekehrt tragen die Frauen, vor allem in der Altersgruppe ab 40 Jahren, noch heute ausnahmslos und ungeachtet des Klimas ganz im Stil der 1950er und 1960er Jahre schwarze Synthetikunterröcke unter ihren Kleidern. Bezeichnenderweise fallt bei rein 'familiären' Jagd-, Sammel- oder Fischzügen, d.h. dann, wenn niemand 'starren' kann, vereinzelt die Oberbekleidung, nicht aber der Unterrock, dessen unschätzbarer Vorteil eben die schon immer eingefor-

22 Im Gegensatz zu den Männern war das Tragen von engen Hosen bei Frauen seit jeher aufgrund der Betonung bestimmter Körperteile verpönt. Daß auch weite Hosen noch immer mit einem gewissen Stigma versehen werden, ist nicht allein auf den Einfluß der bis heute ausschließlich kleidertragenden Nonnen zurückzufuhren, sondern eine unerschütterbare Reminiszenz an das 1911 verabschiedete, wenngleich in den 1950er Jahren längst aufgehobene Gesetz, das das Tragen von Männerkleidung durch Aborigines-Frauen unter Strafe stellte (Northern Territory Aborigines Act [S.A.], 1910 [No. 1024 of 1910]; Aborigines Act [S.A.], 1911 [no. 1048 of 1911]. S.a. Rowley, C. D.: The Destruction of Aboriginal Society. Aboriginal Policy and Practice, 1. Canberra 1970, S. 219f. McGrath, Ann: 'Born in the Cattle': Aborigines in Cattle Country. Sydney 1987, S. 51). Über das Gesetz sollte seinerzeit verhindert werden, daß Weiße oder Asiaten Aborigines-Frauen in Männerkleidung in die für sie gesperrten Lager einschmuggelten. Dahinter stand weniger der Schutz der gemeinhin als black velvet bezeichneten Frauen, sondern vielmehr die Sorge um den Erhalt der Rassereinheit. 23 Ähnliches gilt nach John von Sturmer (persönl. Mitt.) fiir Aurukun, Cape York Peninsula. 24 Vgl. auch Trigger, David S.: Whitefella comin': Aboriginal Responses to Colonialism in Northern Australia. Cambridge 1992, S. 79-103.

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derte sichere und permanente Bedeckung der sogenannten private parts ist. Unter dem Missionseinfluß reduzierte man die 'Heimatgänge', das bislang zu solchen Gelegenheiten übliche, kollektive Ablegen der Kleidung aber wurde komplett eingestellt. Wie Zeitzeugen berichten, war man bis dahin längst an Kleider gewöhnt und wollte sie nicht missen. Hinzu kam, daß die neue Omnipräsenz Gottes und sein überall, auch im Busch waltender Blick, der gelegentlich zu einer gewissen Starre gerinnen konnte, derartige Rückfälle verbot. Mit der dauerhaften und einflußreichen Präsenz der Missionare, der verbesserten Infrastruktur und den damit einhergehenden, häufigeren Kontakten zum etwa 200 km entfernten Urbanen Zentrum begann man vor Ort, eine Außenperspektive der eigenen Gesellschaft sehr viel intensiver wahrzunehmen. Zusehends wurde deutlich, daß man in den Augen der Anderen als kulturlos und primitiv, als naturhaft und lasziv galt, und daß sich diese Einschätzung - neben Klischees wie dem fehlenden Arbeitsethos, der Promiskuität oder anderen 'exotischen' Kulturäußerungen - vielfach am Tragen bzw. am Zustand der Kleidung festmachte. Richtig, d.h. im europäischen Sinne vollständig bekleidet zu sein, wurde das Medium, sich auch kollektiv nach außen zu präsentieren. Kam es zu den in dieser Region höchst seltenen Kontakten mit Aborigines-Gruppen, die verstärkt im Busch verblieben waren, so war das erste, worauf man nun achtete, diese mit den Regeln der eigenen Lokalität, maßgeblich aber den Kleidungsregeln vertraut zu machen und sie umgehend mit adäquater Garderobe auszustatten. Man handelte 'christlich', indem man bedeckte, man schämte sich der 'Nackten' wie man sich früher nur der 'Bloßen' geschämt hatte und demonstrierte dies auch.25 Der seinerzeit innovative und 'intraethnisch' relevante wissensökonomische Wert von Kleidung war zwar nicht ganz verfallen, inzwischen aber wurde eine 'interethnische' Variante hervorgehoben. Zusehends reflektierte man nicht nur das Sein, sondern auch das WahrgenommenSein26, was bei den Repräsentationen der eigenen sozialen Welt und den Demonstrationen des spezifischen Lebensstils der Kommune 25 Dazu auch Myers, Fred: Pintupi Country, Pintupi Self: Sentiment, Place and Politics Among Western Desert Aborigines. Washington, Canberra 1986, S. 39-41. 26 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1999 ('1979), S. 754f.

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fortan eine immer bedeutendere Rolle spielen, zugleich aber auch die feinen Unterschiede zu den jeweils Anderen betonen sollte.27 Die in den späten 1960er und 1970er Jahren einsetzende sogenannte sexuelle Liberalisierung, die zunehmende Nacktheit der weißen Gesellschaft, wurde unter den Missionaren wie den Missionsbewohnern mit Schrecken zur Kenntnis genommen und als Verfall der Sitten und des Anstands gewertet. Man fürchtete die Transgressionen in die eigene Domäne, die Konfrontation mit den schamlosen, häufig auch entblößten weißen nakedfella, die gelegentlich in der Kommune auftauchten. Man witterte hinter allem eine zügellose Promiskuität und sexuelle Übergriffe, die die eigenen und immer schon streng eingehaltenen Regeln zu gefährden schienen. Die Schamlosigkeit und Ignoranz der Anderen repräsentierte die Kulturlosigkeit und Gefahr, die man schon immer an der Peripherie des eigenen Erfahrungsraumes ansiedeln konnte, wobei es inzwischen fast gleichgültig schien, ob die "Nackten' schwarz oder weiß waren.28 Die vor Ort lange etablierte Bedeutungsvielfalt von nakedfella wurde in jüngerer Zeit durch eine nationalpolitische Aufwertung indigener Kulturäußerungen und nicht zuletzt durch die touristische Vermarktung der 'Aborigines-Kultur' um weitere Varianten ergänzt. Neuerlich, und eng mit hochdisputierten Themen wie Landrechten und der sogenannten Native Title-Gesetzgebung verknüpft, steht "Nacktheit' auch für eine Art von indigener Authentizität, die es mittels der von außen geforderten Zeichen nachzuweisen gilt.29 Seitens 27 Vgl. ebd., S. 277f. 28 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/Main 21977 ('1939), Bd. 1, S. 189. 29 Im Zuge der Reformen der 1960er und 1970er Jahre propagierte man eine Integrationspolitik, die sich auch im Umgang mit Aborigines niederschlagen und die vormaligen Strategien von 'Ausrottung', 'Separation' und 'Assimilation' ablösen sollte. 'Multikulturalismus' wurde zum Schlagwort der Zeit, nachdem sich ein zumindest gradueller Wandel in der Bewertung von 'traditionellen' und/oder 'ethnischen' Repräsentationen und Identitätsäußerungen abzeichnete, eben jenen 'Erscheinungen', die vorher die Grundlage massiver Diskriminierungen dargestellt hatten. In diese Liberalisierungsphase fielen auch bestimmte 'Aborigines-Gesetzgebungen', u.a. die Verabschiedung des Landrechtsgesetzes von 1976 im Northern Territory, wonach Aborigines Landansprüche auf der Grundlage traditioneller und spiritueller Bindungen geltend machen können. Die 1993 verabschie-

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der dominanten Gesellschaft wurden hier Projektionen freigesetzt, die sich nur unwesentlich von den doppelsinnigen 'historizisierenden Stimmungswerten' und Antiquisierungen unterscheiden, die Baudrillard in Zusammenhang mit alten oder als alt bewerteten Objekten beschreibt. 30 Solche, von außen kommenden Forderungen nach einer 'Essentialität', die gemeinhin am Bild des Ursprungs-, land- und naturnahen, bumerang-werfenden, didgeridoo-spielenden, irgendwie spirituellen und mit magischen Fähigkeiten versehenen 'Eingeborenen' orientiert sind, haben jedoch ihre modernistischen Grenzen. Die Freisetzung bzw. die gewünschte Repräsentation des vereinnahmten Anderen - also des authentischen und das heißt hier immer des traditionellen Aborigines - verlangen, wie bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Sydney im September 2000 eindrucksvoll vorgeführt wurde, nicht den wirklich 'nackten', sondern den naga-, also den lendenschurztragenden Mann und die nur mit einem Hüfttuch bekleidete Frau.31 Die Darstellung 'nackter' Aborigines gilt im Zeitalter der political correctness als rassistisch.

dete und bundesweit gültige Native 7Yi/e-Gesetzgebung verlangt gleichermaßen Nachweise quasi-traditioneller Bindungen. 30 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge: Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/Main, New York 1991 (' 1968), S. 95-109. In diesem Zusammenhang sind weitere Komponenten solcher Projektionen erwähnenswert. Die neuerlich so häufig artikulierte Erkenntnis, daß alle Kulturen 'hybride' Strukturen aufweisen und permanent Innovatives/Tremdes' integrieren, scheint für den 'aboriginalen' Kontext nur bedingt zu gelten. Mehr oder minder liebgewonnene Vorstellungen der 'Anderen' als Repräsentanten von 'alten', 'frühen' ('steinzeitlichen'), 'reinen', 'statischen' und damit 'authentischen' indigenen Kulturen bleiben hier so beharrlich bestehen, daß Abweichungen, Modifikationen oder (historische) Veränderungen des vermeintlichen 'Urzustandes' in der Gegenwart weniger als quasi-normale 'Veränderungsprozesse' betrachtet, sondern als 'Fälschung' oder 'Verlust' (vorzugsweise 'Identitätsverlust'!) gewertet und gemeinhin unter 'moribunden' bzw. 'morbiden' Aspekten diskutiert werden. Die Problematik solcher Konzeptionen wird besonders im Zusammenhang mit traditionellen Landrechten und Landanspruchsverfahren deutlich, weil sie dort weitreichende politische und juristische Konsequenzen haben, siehe Duelke, Britta (1998), S. 172ff. S.a. dies.: Die Spritze oder Dispute über das Essentielle: Randständige Beobachtungen eines Übergangsprozesses. In: Schomburg-Scherff, Sylvia / Heintze, Beatrix (Hg.): Die offenen Grenzen der Ethnologie: Schlaglichter auf ein sich wandelndes Fach. Frankfurt/Main 2000, S. 129ff. 31 Vgl. dazu auch König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990, S. 323ff.

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Vor Ort führte der scheinbare Wandel in der gesamtgesellschaftlichen Bewertung von 'Tradition' und "Nacktheit' zu höchst ambivalenten und selektiven Valorisierungen und Reifikationen32 der eigenen Kultur und bestätigte einmal mehr, daß beide Phänomene, 'Traditionalität' und "Nacktheit", in den intra- und interethnischen Diskursen des multikulturellen und multiethnischen Australien stetiger und konfliktreicher Ausdruck sowohl einer Erinnerungs- als auch einer Gegenkultur sind. Mit der vermeintlichen Wertsteigerung, die neuerlich mit den Repräsentationen der 'traditionellen Kultur' einhergeht, erlebten sowohl die Kunstproduktionen als auch das auf der Mission lange unterdrückte Zeremonialwesen eine 'Renaissance'. Diese bewirkte auch eine zumindest partielle Revision der Bewertungen des 'traditionell, unbekleideten Körpers'. Auf der Mission wurde die vermeintliche 'Wende' der dominanten Kultur lokalspezifisch umgesetzt: Man weigerte sich in einem Sinnkontext den 'nackten primitiven Hinterwäldler' zu verkörpern, man nahm in einem anderen einen Ortswechsel vor, um die alten Rituale zu zelebrieren, um zu tanzen und dabei die Brust freizumachen. Die neuerlich revitalisierte, auch indigenisierte 'traditionelle Nacktheit', die, wie gehabt, weiterhin streng von der Blöße differenziert wird, wurde in bestehende symbolische, je orts- und domänengebundene Sinnhorizonte integriert, um - neu verortet - repräsentativer Ausdruck des Eigenen oder Anderen zu werden. Während in den 'ethnisch' gemischten Alltagskontexten der sich als traditionell-modern verstehenden Kommune das Ablegen von Kleidung weiterhin restriktiv gehandhabt und negativ konnotiert wird, wählt man einen Ortswechsel, eine für Weiße gesperrte Kommune, den Kontext eines Rituals oder etabliert gewissermaßen Privatsphären, in denen Kleidung bedeutungsvoll abgelegt werden kann. Wie Elias, Bourdieu, König und Neckel aus je unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Erkenntnisinteressen heraus für 'unsere' Gesellschaft deutlich zu machen versuchten, bewirkten die historischen Wandelprozesse im Umgang mit Nacktheit bzw. Scham weniger eine Nivellierung als vielmehr eine Verfeinerung, eben eine

32 Vgl. Thomas, Nicholas: The Inversion of Tradition. In: American Ethnologist, 1992, 19(2), S.213ff.

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Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Unterschiede.33 Auch in der gesellschaftlichen Praxis der hier vorgestellten Kommune gilt, daß nakedfella nicht gleich nakedfella ist, daß die Präsentation, Repräsentation oder Verweigerung von TStacktheit' an spezifische zeitgebundene Bedeutungshorizonte sowie intra- und interethnische Kontexte gekoppelt ist. Dafür stehen die eingangs angeführten drei Beispiele, die, obwohl sie zeitlich relativ dicht beieinander lagen, nicht nur in bezug auf den sozialen Raum variierten, sondern sich auch im 'Zitieren' von je spezifischen historischen Sinnkomplexen und Erinnerungen sowie in deren moralischer Bewertung unterschieden.34 Die Ambivalenzen von Wahrnehmung, Verhalten und Beurteilung von Verhalten35 verweisen hier jedoch gleichzeitig auch auf spezifische Wertkonsistenzen, die an Kriterien des Raums (den Domänen) sowie der sozialen und/oder kulturellen Nähe oder Ferne ausgerichtet sind, an den hier zwar immer fluktuierenden, aber in seinen Fluktuationen durchaus stabilen sozialen Klassifizierungen und Grenzziehungen. Entsprechend ist aus lokaler Perspektive keine 'große Linie der Transformationen' - wie sie etwa Elias nachzeichnen wollte - ersichtlich, zumindest nicht für die eigene Kultur. Im Gegenteil, hier verweist man auf eine spezifische Normenbezogenheit und ihre gesellschaftliche Umsetzung, indem man verdeutlicht, daß man ohnehin bestehende Schamkonzeptionen gewissermaßen formal (etwa über Kleidung) erweiterte, neu verortete, im Kern aber nicht modifizierte. Selbstredend kann man vor Ort die historischen Wandelprozesse und Veränderungen benennen und reflektieren, weiß aber, ge33 König, Oliver (1990), S. 324. Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt/Main 1991, Kap. 10 und 11. Bourdieu, Pierre (1999), S. 355ff. Vgl. auch Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/Main 1997 ('1980), S. 250ff. Elias, Norbert (1977), Bd. 2, S. 317ff. 34 Wiedenhofer, Siegfried: Erinnerte Tradition und tradierte Erinnerung in Humanismus und Reformation. In: Assmann, Aleida / Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/Main 1993 ('1991), S. 309. Scharfe, Martin: Erinnern und Vergessen: Zu einigen Prinzipien der Konstruktion von Kultur. In: Bönisch-Brednich, Brigitte / Brednich, Rolf / Gerndt, Helge (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen, 5. Schriftenreihe der Volkskundlichen Kommission fur Niedersachsen e.V., 6. Göttingen 1991, S. 41. 35 Vgl. Bourdieu, Pierre (1999), S. 277ff.

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rade im Bereich der Alltagsmoral auf die eigenen stabilen zivilisatorischen Eigenschaften zu verweisen: Soziale Zwänge, Selbstzwänge, Triebregulierung und ausgeprägtes Schamverhalten waren schon immer Bestandteil des Eigenen, wodurch es sich eben vom Anderen unterschied und unterscheidet.36 Heute konnotiert das Ablegen von Kleidung auf positive Weise eine auch emotionsgeladene und authentisierende Erinnerung an die präkoloniale Vergangenheit, steht aber gleichermaßen - und mehr oder minder negativ bewertet - für das Andere, das 'Fremde', 'Wilde', 'Unzivilisierte', 'Gefährliche' oder 'Schamlose', das sich u.a. in 'wilden Busch-Aborigines', 'todbringenden Hexern' und 'Weißen' verkörpert. Die fluktuierende Grenzziehung verläuft je nach Kontext und Ort an durchaus überbrachten, immer aber vom ethnozentri sehen Blick bestimmten Kriterien, nämlich, ob der unbekleidete Körper Nacktheit oder Blöße, Nähe oder Ferne indiziert. Die nur scheinbar problemlosen Scheidungen in Domänen, die Distinktionen des Eigenen und Anderen haben jedoch ihre Grenzen. Die alljährlich und quasi-rituell wiederkehrenden, narrativen Inszenierungen der 'nackten wilden Fremden', die gewissermaßen vor der eigenen Haustüre erscheinen, die gleichermaßen geschätzte wie gefürchtete Erinnerungen heraufbeschwören, weil sie das Andere im Eigenen verkörpern37 und wie ein Spiegelbild für die latente Auseinandersetzung von Mimesis und Alterität stehen, vermengen die Domänen und zeigen, daß die Wertambivalenzen in der strukturell durchaus nachhaltigen Kleiderfrage auch hier keineswegs aufgehoben sind.

36 Vgl. dazu Elias, Norbert (1977), Bd. 1, S. 206f. Ebd., Bd. 2, S. 312-341, 398f. Vgl. auch Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1. Frankfurt/Main 1988. Ders.: Intimität. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2. Frankfurt/Main 1990. 37 Vgl. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/Main 1990 (1988), S. 199ff.

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Hyunseon Lee In einer Filmrezension von Merten Worthmann zu dem Film Baisemoi (Fick mich) aus Paris 2000 heißt es: [Der Film lebt] einzig durch die Provokation, die er auslöst. An sich ist er nur ein totes und leeres Stück Spekulation. Aber wenn Zuschauer davor zurückzucken oder (wie in Frankreich) eine Indizierungsstelle zum Gegenschlag ausholt und das Werk in die Pornokinos verbannt - muß dann nicht etwas dran sein? Es ist nichts dran. Dieser Film bemüht sich weder um eine Handlung noch um Charaktere. Er bemüht sich nur um die Zuschauererregung. Insofern funktioniert er tatsächlich pornographisch.1 Dieses Zitat hätte auch aus einer Filmkritik zu dem Film Die Lüge (Lies) aus Seoul 1999 stammen können. In einer diesbezüglichen Filmkritik aus der New Yorker Time vom 25.10.1999 heißt es: In diesem Film gibt es Spannungen, künstlerische Distanz, Leidenschaft und Begehren, Gewalt, also alles, was zum Sexfilm gehört. [...] Die perversen Sexualakte können den Zuschauern Ekel und Angst einjagen, aber solche Gefühle können den Menschen auch helfen, gesund zu werden. Die Pflicht der Kunst liegt ursprünglich darin, die Menschen zu erschrecken, zu erregen und zu erwecken. (Übers, v. H.S. LEE) Die Filmkritiken zu den Filmen Baise-moi und Die Lüge aus Seoul sind austauschbar. (Abb. 1)

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Die beiden Filme sind zwar in unterschiedlichen "Global Cities" und kulturellen Kontexten, doch mit ähnlichen Themen entstanden. Sie stellen nackte Körper und offensive gewalttätige Sexszenen direkt ins Zentrum und riefen damit heftige Oppositionen hervor und lösten die bekannte Debatte aus, ob das überhaupt noch Kunst oder nicht vielmehr Pornographie sei. Betrachtet man dieses Phänomen genauer, werden die kulturellen und sozialen Differenzen deutlich. Der Fall Baise-moi wurde zu einem Skandal und führte zu dem in Frankreich seltenen Fall der Zensur. Der Fall Die Lüge wurde zu einem Sonderfall und erregte Aufsehen, weil er in Korea nicht verboten wurde, obgleich ein Verbot derartiger Inszenierungen normal gewesen wäre. Der nackte Körper gehört nämlich in der koreanischen Öffentlichkeit nicht zur Normalität, geschweige denn die offene Darstellung von Sexualakten. Der Film Die Lüge wurde international gezeigt und positiv aufgenommen, während er in Korea jedoch verrissen wurde. Das diente nun den Verteidigern des Films als Beweismaterial für seine künstlerische Qualität. Nachdem der Filmautor Sun-Woo Chang und die Filmproduction shincine zuerst wegen der pornographischen Produktion angeklagt und der Film beschlagnahmt wurde, hob man die Anklage später wieder auf und der Film durfte gezeigt werden: Der Film sei keine Pornographie, man könne hier keine Obszönität finden, lautete der Freispruch. Der Film errege nur unangenehme Gefühle, aber keine sexuelle Lust. Das Gericht wies sogar darauf hin, daß das Wertungskriterium für Pornographie historisch variabel sei. Da die koreanische Gesellschaft durchaus in der Lage sei, derartige Sexszenen zu 'verdauen', könnten die Zuschauer selbst besser beurteilen als das Gericht, wie sie den Film einstufen würden.2 Dieses Urteil ist ein gutes Zeichen für eine verheißungsvolle Zukunft der koreanischen Autorenfilme, darüber hinaus für die Zukunft der Kunst überhaupt, zumal der Roman Sag mir die Lüge (1996), der als Drehbuch des Films diente, als Porno beschlagnahmt und der Romanautor Jung-Il Chang zuvor als Pornoautor verurteilt wurde. Der Freispruch des Films darf nun als eine endlich verdiente Anerkennung der Autonomie der Kunst in Süd-Korea gepriesen werden. Dabei spielt die künstlerische Qualität des Films eine geringere 2

Zit. Internet Hankyoreh. 30.6.2000.

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Rolle. Wichtiger ist, daß der koreanische Film endlich die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks gewonnen hat, der auch auf internationaler Ebene erfolgreich rezipiert wird. So ist die Tatsache, daß der Film Die Lüge freigegeben wurde, ein Zeichen des Sieges der Kunst über den moralischen Anspruch sowie den Eingriff des juristischen Diskurses. Die Globalisierung scheint Korea erreicht zu haben, auch im Bereich der Kultur und der Kunst, so daß die Thematisierung von Sexualität und Nacktheit kein Tabu mehr darstellt. Unter dem Motto der Autonomie der Kunst und der Globalisierung darf also der nackte Körper in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Verspricht das tatsächlich, daß in der koreanischen Gesellschaft die lange ersehnte kulturelle Globalisierung in absehbarer Zeit gelingen wird? Impliziert das nicht, daß die Nacktheit zur Selbstverständlichkeit einer globalisierten Kunst/Kultur gehört, die bisher in der traditionellen koreanischen Öffentlichkeit kaum zu sehen war? Festzuhalten bleibt, daß der nackte Körper in aktuellen koreanischen Mediendiskursen ständig zur Debatte steht. Und dies ist m.E. in Verbindung mit den Diskursen über die Globalisierung zu betrachten. Im folgenden möchte ich diskursanalytisch an Beispielen historischer wie jüngster ostasiatischer, hauptsächlich koreanischer Mediendiskurse und Kunstprodukte die Fragen behandeln, in welchen Formen Nacktheit (bisher) inszeniert worden ist, gegen welche Normen sie in der asiatischen Kultur verstößt, welche Nacktheiten dabei 'westlich' codiert werden, und welche Rolle der nackte Körper im Globalisierungsprozeß spielt. Koreanische Mediendiskurse und Kunstprodukte stehen im Mittelpunkt meiner Beobachtungen. Diese sollen als Exempel für die ostasiatische Kultur stehen. Abgesehen davon, daß Korea, China und Japan trotz aller Distinktionen zum selben Kulturkreis gehören nicht zuletzt wegen der gemeinsamen chinesischen Schriftkultur - , spielt m.E. Ostasien in der globalen Kultur eine wichtige Rolle, auch wenn es in den Medien meist nur in grob verallgemeinernder Form repräsentiert wird. Oft wird nicht zwischen Chinesen, Japanern und Koreanern unterschieden und in den exotistischen Diskursen über den Fernen Osten ist die koreanische Kultur m.E. kaum präsent. Ich möchte deshalb mit dem, wenn auch weitgehend unbekannten und konturlosen koreanischen Fallbeispiel die Nacktheit in der ostasiati-

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sehen Kultur zur Diskussion stellen und zugleich den europäischen exotistischen Diskurs über Asien in Frage stellen. Asien bezeichnet aus europäischer Sicht eher einen imaginären als einen der Realität entsprechenden Ort. Asien, das vom Nahen Osten über die Türkei, Zentralasien, Südasien bis zum Fernen Osten reicht, fungiert als leeres Zeichen, das kein passendes Signifikant mehr bezeichnet, dessen Signifikat jedoch je nach Kontext durchaus funktioniert. Auch wenn Asien ein für eine geographische Abgrenzung kaum brauchbarer Begriff mehr ist, ist es durchaus lokalisierbar, vor allem in exotistischen Diskursen. Ich beobachte, daß es in den medialen Diskursen über Ostasien meist um binäre Oppositionen geht, die sich variabel entfalten, wie z.B. westliche Zivilisation vs. fernöstliche Kultur, europäische Moderne vs. asiatische Tradition, Christentum vs. Buddhismus etc. Edward Saids kulturtypologische Unterscheidung 'Orient' - hauptsächlich Islam - vs. 'Okzident',3 läßt sich auf Ostasien im Verhältnis zum westeuropäischen Kulturkreis (einschließlich dem amerikanischen) übertragen. Die Ostasiatinnen treten als kollektive Instanz auf, so wie Europa oder Amerika und dessen Bevölkerung und Kultur in Asien als Sammelbegriff für den Westen fungiert. Solche Binäroppositionen dienen dazu, das Eigene und das Fremde kulturell zu definieren. Sie sind typisch für jede Form von Exotismus und Kulturalismus, aber besonders charakteristisch für den Japonismus, der auf dem Gegensatz 'Japan vs. Westen' beruht, auf den die Medien und die Literatur zurückgreifen.4 Diese Art Dichotomie kennzeichnet den exotistischen Diskurs in bezug auf die Nacktheit in Asien. Es gibt sogar einen westlichen Mythos von der 'Erotik des Ostens', und er lebt m.E. von den kli-

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Vgl. Said, Edward: Orientalism. New York 1979. Daß die Japonismen zum Teil von den Japanern selbst produziert werden, die dann durch die Medien die Vorurteile reproduzieren, sieht man besonders deutlich am Buch von Oguro. Er vergleicht Mentalitäten und Denkweisen von Deutschen und Japanern, und zwar mit einer Kette von Binäroppositionen wie "Deutsche Wortabhängigkeit und japanische Relativität des Wortes", "Das Nein der Deutschen und das Ja der Japaner" in bezug auf zwischenmenschliche Grundhaltungen, "Deutsche Ideologiegläubigkeit und japanische Modeabhängigkeit" etc. Vgl. Oguro, Tatsuo: Ihr Deutschen, wir Japaner. Ein Vergleich von Mentalität und Denkweise. Düsseldorf (u.a.) 1985.

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scheehaften bzw. projizierten Vorstellungen über die "verhüllte" Körperkultur im Osten, vor allem wenn es sich um Fernost handelt. Der englische Schauspieler Jeremy Irons berichtet von dem Helden im Film M. Butterfly (1993), dessen Rolle er selber gespielt hat: Ein "Mann, der sich in eine ganze Kultur verliebt (hat). Er ist so fasziniert von seiner 'Butterfly', daß er es über Jahre hinweg akzeptiert, sie nie nackt zu sehen. Ich persönlich finde übrigens, daß in unserer Gesellschaft Nacktheit ohnehin überbewertet wird. Ich teile mit Gallimard eine Vorliebe für das Verschleierte, Unbekannte, Geheimnisvolle. Dunkelheit und ein schweres Parfüm - das ist erotischer als nacktes Fleisch". 5 Diese Bemerkung an der Schnittstelle von Alltagsdiskurs und Populärkultur zeigt ein Bild von Asien, das verhüllt Erotik des Fernen Ostens und nackte westliche Sexualität gegenüberstellt. Hier finden jene südostasiatischen Kulturen wie Thailand oder Indonesien keinen Platz, in denen Nacktheit keineswegs unnormal gewesen ist, zumal Verhüllungen angesichts des Klimas unpraktisch wären. Während in den exotistischen Diskursen über den Fernen Osten die asiatische unenthüllte Erotik - sei es im alten oder im neuen Zeitraum - hoch gepriesen und gesucht wird, wird sie heutzutage vor Ort jedoch vermißt. Sogar in der ostasiatischen Kultur selbst wird das Verschwinden der Erotik beklagt. Statt Erotik ist von Sexualität die Rede und der 'sexy body' ist im Trend, was m.E. mit der sogenannten Globalisierung zusammenhängt. Ich verstehe unter 'Globalisierung' ausschließlich den seit dem Niedergang der Sowjetunion in den achtziger Jahren und ihrem schließlichen Zusammenbruch zu beobachtenden neuen und bisher wohl stärksten Schub einer ökonomischen, sozialen und kulturellen Integration des gesamten Weltsystems, wobei westliche Tendenzen (insbesondere amerikanische) deutlich dominieren. Mit den globalisierten Medien bzw. Künsten sind jene medialen Praxen gemeint, die sich den Weltmarkt zum Ziel gesetzt haben und auf der kulturellen

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Prüßmann, Karsten: Jeremy Irons. Gentleman und Verführer. München 1995, S. 281. Siehe zu den Analysen des Films M. Butterfly und der Oper Madame Butterfly, Lee, Hyunseon: Butterfly Global. Mediale Inszenierungen von 'Rassendifferenz'. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft, 2001 (im Erscheinen).

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Ebene den unvermeidlichen Globalisierungsprozessen hinsichtlich Produktion und Rezeption gerecht werden wollen. Es ist kein Geheimnis, daß die ökonomische Globalisierung notwendigerweise von der kulturellen Globalisierung begleitet wird. Ob auf kultureller Ebene nicht nur eine Homogenisierung stattfindet (in Form der 'McDonaldisierung'), sondern auch die 'Globalkultur' in komplexen Prozessen lokale Traditionen und Kulturformen aufnehmen wird, ist noch umstritten. Fest steht jedoch, daß im Rahmen der enorm komplexen kulturellen Globalisierung eine lokale Rezeption global populärer kultureller Artefakte und Kommunikationsformen stattfindet. Obwohl oder vielleicht gerade weil eine Universalisierung im Sinne einer Vereinheitlichung von Lebensstilen, kulturellen Symbolen und transnationalen Verhaltensweisen in der Globalkultur kaum aufzuhalten ist, wird der Wunsch nach dem Erhalt der Verschiedenheit der Kulturen größer. Interessant ist nun die Frage, wie es mit der Globalisierung in nichtwestlichen Ländern steht. Wenn die Globalisierung tatsächlich in kontinuierlichem Zusammenhang mit der Internationalisierung bzw. Kolonialisierung des 19. Jahrhunderts zu sehen ist, darüber hinaus sogar als Fortsetzung damit zu identifizieren wäre, mag es bedenklich, vielleicht absurd erscheinen, wenn die Globalisierungskampagne gerade in den Exkolonie- bzw. Nicht-Großmachtländern eifrig propagiert würde. Aber gerade dies geschah. Während seine Vorgänger auf die nationale Identität großen Wert legten, hatte der südkoreanische Ex-Präsident Young-Sam Kim "Sekyewha" (= Globalization, also Globalisierung) zu seiner Hauptpolitik erhoben. Während seiner Amtszeit, Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, wuchsen die wirtschaftlichen Investitionen Koreas auf dem Weltmarkt sprunghaft an, weshalb Korea zu den sogenannten Tigerstaaten gezählt wurde. Sowohl Touristen als auch Delegationen aus allen gesellschaftlichen Sektionen reisten in die euroamerikanischen Länder, um die wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Westens kennenzulernen. Das war sozusagen der Weg zum Aufstieg zur "ersten Normalitäts-

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klasse" oder der Weg von der "protonormalistischen" zur "flexibelnormalistischen" Gesellschaft.6 Bekanntlich ist dieser Versuch durch die wirtschaftlichen Krisen - sprich IMF, gerade das Symbol der ökonomischen Globalisierung - eine Zeitlang aufgehalten worden und auch kritische intellektuelle Stimmen zur Globalisierung sind lauter geworden. Man sah bald ein, daß die von der Regierung propagierte Globalisierung auf einem naiven Traum der Internationalisierung basierte und mit der tatsächlichen Globalisierung kalter Markt- und Kapitallogik der Weltgesellschaft wenig zu tun hatte. Dennoch hinterließ der Nachholbedarf der Koreaner nach der verpaßten (Post-)Moderne bzw. das Bedürfnis nach der Teilnahme an der globalen Kultur zahlreiche Spuren. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Globalisierung ist zum Schlagwort in den koreanischen Medien- und Alltagsdiskursen geworden. Zahlreiche neue Vokabeln sollen in das Lexikon eingeführt werden wie global etikett, global tour, global gate, global mart, global Service, global star, globalplayer etc. Es war kein Scherz, als einige Schriftsteller forderten, daß Englisch zur zweiten Muttersprache werden sollte. Die Englisch-Sprachkenntnisse seien Vorraussetzung für die Globalisierung der koreanischen Gesellschaft. Es ist unschwer festzustellen, daß Globalisierung hier mit Amerikanisierung gleichgesetzt wird. Unter unzähligen Ereignissen, die der weltverändernde Prozeß mit sich gebracht hat, möchte ich hier auf die Globalisierung des menschlichen Körpers aufmerksam machen, die die traditionellen Schönheitskriterien umgekehrt und tatsächlich ein neues Körperbild produziert hat.

Zur Globalisierung von Schönheitsvorstellungen Die koreanischen Kleinkinder kommen auch ohne 'Stäbchen' gut aus, die als Kollektivsymbol für traditionelle koreanische Eßkultur mit Kimchi oder Reis - eine Notwendigkeit für die älteren Koreaner fungieren. Im Gegenteil, die westlichen geradezu globalisierten Er6

Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997, S. 75f.

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nährungsweisen wie die wortwörtliche McDonaldisierung (seien es Sandwich, Hamburger, Cheeseburger, McPizza, Big Mc, Milch) beeinflußten ihr Längenwachstum (scheinbar). Die kleinen Eltern versuchten mit aller Ernsthaftigkeit ihre Kinder größer werden zu lassen, vor allem mit Veränderungen des Eß- und Lebensstils. In der Tat sei die Durchschnittsgröße der Koreaner in den jüngeren Generationen erheblich gestiegen (statistisch belegt sind bei den ca. 12Jährigen wohl über 160cm längst überschritten). Hier spiegelt sich auch die koreanische Veränderung der Einstellung zur Schönheit wider. Die Verwestlichung der Gesellschaft machte das westliche Schönheitsideal in Asien allgemein gültig, nämlich groß, kräftig, sportlich, weiße Hautfarbe, sexy body, westliche Gesichter (große Augen und Nase) etc. Die fernöstlichen bzw. asiatischen 'Schönen' gibt es nicht mehr, allenfalls in der Volksrepublik China oder NordKorea. Die schönen Menschen in den ostasiatischen Medien tragen euro-amerikanische Züge. Früher lautete das Argument, die japanische Männerwelt habe historisch eine Auswahl der zarten, zerbrechlichen Frauen als ihr Schönheitsideal gefordert und körperlich stabile Frauen benachteiligt.7 Dieses Argument betrifft auch das koreanische Frauenbild, obgleich der starke, große, üppige Frauenkörper in der traditionellen bäuerlichen Kultur bzw. Arbeiterklasse bevorzugt wurde. Denn hier mußte der weibliche Körper u.a. ein dienender, produzierender Körper sein, vor allem nützlich für die Produktion des Nachwuchses. Heute aber hat sich der westlich geprägte Frauenkörper, mit dem Größe, Gesundheit, Nacktheit und Sex assoziiert wird, auch in der ostasiatischen Kultur durchgesetzt, in der einst - ganz abgesehen vom Sex-Appeal - der kleine, schmale, schüchterne und versteckte Körper als schön galt und Zierlichkeit, Zerbrechlichkeit, runde weiche Körper- und Gesichtsform zur Schönheit gehörten. (Abb. 2, 3, 4) Die Globalisierung des menschlichen Körpers, wie ich das nenne, erfordert allerdings eine viel differenziertere Betrachtungsweise, als es zunächst erscheint. Wie läßt sich die Nacktheit in der asiatischen Kultur im Zeitalter der Globalisierung deuten? Handelt es sich um ein rein importiertes westliches Phänomen, wie es oft angenommen 7

Oguro, Tatsuo, S. 91.

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wird? Wie kam die Nacktheit in den alten ostasiatischen Medien/Künsten zum Ausdruck? Und inwiefern läßt sich der nackte Körper als 'westlich' bezeichnen, obwohl auch in den traditionellen asiatischen Künsten und Kulturen sowohl nackte Körper als auch das umstrittene Phänomen der 'Pornographie' zu beobachten sind? Das Schönheitsideal ist bekanntlich keine anthropologische Konstante, sondern ein kulturelles Produkt. Wie die Idealvorstellung der Japaner, so Oguro, die Japanerinnen durch Jahrhunderte hindurch zu einem 'Kunstwerk von Frau' nicht nur in geistiger, sondern auch in biologischer Hinsicht geformt hat,8 hat sich auch das westliche Schönheitsideal in Europa erst seit dem 18. Jahrhunderts herausgebildet.9 Die Akzentuierung klassischer Schönheit, die den nackten griechischen Skulpturen entspricht, führte zu einem Stereotyp, das der explizite und implizite Rassismus bis heute nicht aufgegeben hat. Dieses westliche Schönheitsideal hat m.E. längst kapitalistische ostasiatische Länder wie Korea, Japan, Taiwan und Hongkong erobert, wie der Schönheitswettbewerb und die Schönheitsoperation als Modeerscheinungen exemplarisch zeigen. Und auch dort werden die Schönheitskriterien bzw. Stereotypen heute besonders durch die Medien maßlos fabriziert, und zwar in Verbindung mit der Werbung und den Marketing-Strategien. Gefragt ist nun nicht nur ein schönes Gesicht, sondern auch - vielleicht sogar in erster Linie - ein gut gebauter Körper. Der global body soll groß, schlank, sportlich und sexy sein und glatte, straffe, weiße Haut haben. Skov und Morean halten es in ihrer Untersuchung über die Verhältnisse zwischen japanischen Frauen und Medien für wichtig, daß die japanischen Models bereits biologisch fast 'westlich' wirken, und ein bestimmter Typus des 'weißen' ausländischen Models in der japanischen Werbung dominiert.10 Nur bedingt zutreffend erscheint die Meinung der Schauspielerin Gong Li, die im Ausland als "Inbegriff der attraktiven chinesischen Frau" 1 ' gilt: Sie möchte sich als ernsthafte Schauspielerin nicht vor der Kamera ausziehen, weil der Beg8 9

Ebd. Vgl. Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt/Main 1990, S. 43f. 10 Skov, Lise/Moeran, Brian: Women, Media and Consumption in Japan. London 1995, S. 54. 11 Vgl. Der Spiegel. 9/1997.

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riff 'Sex' in der Erziehung einer chinesischen Frau nicht sehr positiv konnotiert ist. Auch in Korea wurde früher das Wort 'sexy' verpönt. Es galt als ein westliches Phänomen, als unmoralisches unanständiges Ding, was der alten asiatischen Hochkultur keineswegs entsprach, ebenso wie Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit, Händeschütteln, nackte Füße, zu enge kurze Kleider (Mini-Röcke oder gar Bikinis). Der sexy Body ist mit seiner nackten Zurschaustellung erst in den letzten Jahren zum begehrtesten Körper überhaupt geworden. Dies ist geradewegs die Umkehrung einer Sichtweise, nach der die Nacktheit - assoziiert mit der Kategorie 'Sexualität' - als obszön, unanständig oder gar als vulgär galt. Diese alte Sichtweise beruht m.E. auf der konfuzianistischen Tradition der Chosun-Dynastie seit dem 15. Jahrhundert, in der eine strenge Sexualmoral herrschte und die Sexualität angeblich sogar unterdrückt worden sein soll. Die neue Chosun-Dynastie (1392-1910), die als sogenannte LeeDynastie die alte Koryo-Dynastie (918-1392) umwälzte, machte den Konfuzianismus zur Staatsreligion bzw. -Philosophie, nach der das Volk richtig gezügelt, dressiert und diszipliniert werden sollte. Er machte die strenge Sexualmoral und die Unterscheidung der männlichen und weiblichen Geschlechterrolle schon ab 7. Lebensalter zur Norm. Während die Frauen als einer niedrigen Klasse angehörend degradiert wurden, wurden die Söhne privilegiert. Töchter, Frauen und Witwen wurden gleichermaßen zum Gehorsam gezwungen. Überlieferungen aus der Literatur weisen jedoch darauf hin, daß im alten Korea die Sexualität keineswegs unterdrückt wurde. Darstellungen nackter Körper - sogar mit Geschlechtsorganen - sind in verschiedenen Künsten zu finden, sei es in der Wandmalerei der Steinzeit, der Bronzezeit oder als Erdskulpturen aus der Shilla-Dynastie (Tou\ entstanden ca. 5.-6. Jh.). In der Koryo-Dynastie durften Männer und Frauen nach der Staatsreligion des Buddhismus und des Taoismus gemeinsam im Fluß baden und Witwen abermals heiraten. Sogar vom Einfluß des Tantra ist die Rede, das die Liebeskunst lehrte. Selbst Buddha ist immer in halber Nacktheit zu sehen. Auch in der ihrer Nachfolgerin, also der Chosun-Dynastie findet man 'erotic paintings' und nackte 'Phallusstatuen' (Namgunseok), die wie Obeliske vor allen Dörfern aufgestellt wurden. D.h., selbst in dieser puritanischen Dynastie fanden Sexualität und Nacktheit trotz Unter-

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drückung und Verboten - wenn auch kanalisiert, ihren Platz und Ausdruck. Obwohl durch den Einfluß der chinesischen Malerei bedingt, gewann die koreanische erotische Malerei rasch an Eigenständigkeit. (Abb. 5) In der Young-Jung-Jo Periode des 18. Jahrhunderts, der sog. Renaissance der koreanischen Kultur, setzte u.a. der Maler Hong-Do Kim das Leben des Volkes in Szene, während der adelige Maler Yoon-Bok Shin das Liebesleben (bzw. die Sexualkultur) der höheren Klasse (Yangban) malte. Als z.B. die gesamte asiatische Welt von der puritanischen, konfuzianischen Kultur bestimmt wurde und eine Prüderie wie im viktorianischen England herrschte, entlarvte der Maler Shin mit seinem zarten Pinsel den ebenso hemmungslosen wie heuchlerischen Umgang der Staatsmänner und des Adels mit den Ki-Saeng (eine Art koreanische Geisha) und Prostituierten. Die künstlerische Qualität der koreanischen Malerei wird damit gerechtfertigt, daß sie weder der Lehre der Sexualtechnik noch der Stimulation der Zuschauer dient. Sie beruht eher auf dem reflektierten naturphilosophischen Denkhorizont des Taoismus bzw. des Prinzips von Yin und Yang, die das Prinzip der Geschlechter symbolisieren soll. Weitere Elemente wie Humor, Romantik und Humanismus etc. verhindern, daß sie Pornographie werden, die der japanischen oder chinesischen Malerei zugeschrieben wird. 12 Chosun's Sex-Kultur wird in eigenartiger Weise in der erotischen Malerei präsentiert. Hier sieht man nackte Körper mit ausgestelltem Genitalbereich, die alle im Dienst der Liebe stehen. Um mit Michel Foucault zu sprechen, ist hier tatsächlich eine asiatische ars erotica zu sehen. Es gibt Foucault zufolge zwei weitverbreitete Methoden des Umgangs mit der Sexualität. Die Kulturen Indiens, Chinas oder Roms hatten eine ars erotica, d.h. eine Liebeskunst. Hier wird "die Wahrheit aus der Lust selber gezogen, sie wird als Praktik begriffen und als Erfahrung gesammelt." 13 Dagegen gibt es in Europa eine scientia sexualis, d.h. eine Sexualwissenschaft, in der an die Stelle von Lust und Liebe das unendliche Reden über sie getreten ist. Im 19. Jahr12 Seo, Jung-Gul: Die Sexualität in der koreanischen Malerei (Nachwort). In: Kim, Bok-Ki (Hg.): Korean Erotic Paintings. Seoul 2000. 13 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. (1976). Frankiurt/Main 5 1991, S. 74f.

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hundert haben die Diskurse über Sexualität und die Analyse jedes Gedankens und jeder Handlung in bezug auf sie, die modernen Wissenschaften vom Menschen, die sog. Humanwissenschaften mitgeprägt. Die diskursiven Zugriffe auf den Sex breiteten sich regelrecht explosionsartig aus und kristallisierten sich im sog. "Sexualitätsdispositiv": ein Dispositiv, das die Geschichte weit umspannt, da es den alten Geständniszwang mit den Methoden des klinischen Abhorchens zusammenschaltet. Und erst auf Grund dieses Dispositivs hat als Wahrheit des Sexes und seiner Lüste eine Sache wie die 'Sexualität' auf den Plan treten können. Die 'Sexualität': Korrelat jener langsam entwickelten diskursiven Praktik, die die scientia sexualis darstellt.14 Die Sexualität schien den Schlüssel zur individuellen Gesundheit, Pathologie und Identität zu liefern und die tiefste Form der 'Wahrheit' über ein Individuum oder die Menschen im allgemeinen zu sein.15 Sie wurde deshalb einem Prozeß zunehmender 'Diskursivierung' unterworfen. Im Anschluß an Foucault meine ich, daß der nackte Körper in der modernen europäischen Kultur der Diskursivierung der Sexualität in Form der sciencia sexualis unterworfen ist. Er soll in erster Linie zur Herstellung der totalen Transparenz der Gesellschaft dienen. Das Panopticon-Modell läß sich auf die Nacktheit übertragen, die stets mit 'Sexualität', aber auch mit 'Wahrheit' assoziiert wird. Es wird nicht zufällig von der 'nackten Wahrheit' gesprochen, die für völlige Transparenz und absolute Aufrichtigkeit steht. In der asiatischen Kultur wurde dem nackten Körper nicht die Funktion der Herstellung der totalen Transparenz der Gesellschaft zugeschrieben, wie die erotische Malerei exemplarisch zeigt. Das Besondere der koreanischen erotischen Malerei liegt darin, daß vollständige Nacktheit vermieden wird. Es geht weder um den Willen zum Wissen noch um Sexualität oder Sex an sich. Es handelt sich eher um Erotik als Spiel und Philosophie. Sexualität ist dabei nur ein Element des menschlichen Lebens. Ende des 19. und Anfang des 20.

14 Ebd. S. 87-88. 15 Vgl. dazu auch Lee, Hyunseon: Geständniszwang und .Wahrheit des Charakters' in der Literatur der DDR. Diskursanalytische Fallstudien. Stuttgart/Weimar 2000.

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Jahrhunderts läßt sich feststellen, daß Sexualität stärker thematisiert wird. Als Pornographie gelten jene (Kunst-)Produkte, in denen nackte Körper als Sexualobjekte stimulierend zur Schau gestellt werden. Sie steht daher immer wieder in der koreanischen Öffentlichkeit zur Debatte, sogar vor Gericht, wie das jüngste Beispiel des Films Die Lüge (1999) zeigt, der großes Aufsehen erregte. Obwohl die koreanische erotische Malerei der Darstellung des menschlichen Lebens allgemein dient, zu dem Sexualität selbstverständlich hinzugehört, galt sie als Pornographie und war bisher wegen ihrer Obszönität öffentlich nicht zugänglich. Selbst für die kunstwissenschaftlichen Untersuchungen blieb sie unzugänglich, wie das Thema 'Sexualität' oder 'Erotik' überhaupt. Erst im Jahr 2000 wurde die erste Sammlung von Erotic Paintings veröffentlicht. Es ist jedoch kein Zufall, daß diese erotische Malerei gerade neuerdings erscheinen durfte, sondern ist m.E. symptomatisch für die Liberalisierungs- bzw. Befreiungsprozesse Koreas im Trend der Globalisierung. Nicht nur der westliche Körper, sonder auch der koreanische nackte Körper hat im Bereich der Kunst bzw. unter dem Motto der Autonomie der Kunst, wenn auch unter Schwierigkeiten, endlich seinen Platz gefunden. Hierbei dient die Bezeichnung 'Erotik' als ein starkes Argument für die Rehabilitierung des nackten Körpers in der erotischen Malerei. So muß man Foucaults These zum Diskurs der Sexualität bzw. der Sexualwissenschaft recht geben, wenn er dieses Wissen im modernen Westen ansiedelt. In Korea fehlte das Sexualitätsdispositiv vollständig, insofern es bis vor kurzem keinen Diskurs über Sexualität gab. Der Fall Die Lüge und die mit der neuerlichen Veröffentlichung verbundene Umwertung der erotischen Malerei markieren m.E. insofern einen Wendepunkt, als damit endlich der nackte Körper - befreit von Moralvorstellungen - in der koreanischen Kultur zugelassen wurde, auch wenn dies unter der Bedingung, Kunstwerk zu sein, geschah. Doch gibt es Grenzen: so wird häufig der Blick auf Genitalbereiche gestrichen, ebenso wie als unmoralisch geltende Szenen wie die Sexstelle des Hauptdarstellers mit der alten Geisha in dem japanischen Film Im Reich der Sinne von Nagisa Oshima. Hierin kommt einerseits zum Ausdruck, daß der nackte Körper oder die nackte Haut nicht neutral, sondern kulturell codiert ist. Nach

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einem aktuellen Bericht wurde gegen einen Lastwagenfahrer eine Anklage wegen einer obszönen Handlung erhoben, weil er auf der Autobahn nackt gegen einen Stau demonstriert habe. Andererseits impliziert dies, daß das Tabu des nackten Körpers eng mit der Tabuisierung des Sexualitätsdiskurses zusammenhängt, infolge der puritanischen neokonfuzianischen Tradition der Chosun seit dem 15. Jahrhundert und wiederum durch den Einfluß des Christentums im 20. Jahrhundert. Foucaults These zum Diskurs der Sexualität bzw. der Wissenschaft des Sex' trifft auf den modernen Westen zu.16 In Korea fehlte jedoch m.E. das Sexualitätsdispositiv vollständig, geschweige denn der Diskurs bzw. das Reden über Sexualität. Es ist deshalb kein Wunder, wenn gerade neuerdings die Diskursivierung des Sexes in Süd-Korea massiv in Gang gesetzt wird. Nach der erotischen Malerei von Yoon-Bok Shin und dem Film Die Lüge möchte ich noch auf den Schriftsteller Kwang-Soo Ma aufmerksam machen, der Professor für koreanische Literatur war. Er schrieb Texte, die gesellschaftliche Tabus schonungslos verletzt und häufig heiße Reaktionen provoziert haben.

Professor Ma provoziert mit Pornographie Die Provokation seines Romans Lustige Sarah (1995) führte zur juristischen Zensur. 1995 wurde er wegen Pornographie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und seiner Professur enthoben, weil sein Roman die sexuelle Lust der Leser stimulierte, sie sexuell erregte bzw. die sexuelle Scham und Sexualmoral verletze. Die Sarah-Affäre wurde zur Staatsaffäre, zum Anlaß heftiger öffentlicher Diskussionen. Ma gilt als exzentrischer Autor, als westlicher Individualist, als politisch liberal und ästhetisch avantgardistisch. Er spaltet die Lager: Hier die Empörung seiner Gegner, dort der Konsens progressiver Intellektueller. Der Diskurs über die Sexualität sollte unbedingt auch in Korea geführt werden, hieß es, und Ma wurde zum Märtyrer für 16 Siehe zum Diskurs über die Sexualität bei Foucault, Lee, Hyunseon: a.a.O., S. 33f.

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die sexuelle Freiheit erklärt und zugleich zum ersten Intellektuellen, der mit seiner institutionellen Position als Professor ernsthafte Auseinandersetzungen über Sexualität überhaupt ermöglicht hat, weil er mit der nackten Wahrheit der Sexualität die heuchlerische Doppelmoral der koreanischen Gesellschaft enthüllen wollte. Der Gegenstand der Attacke wurde nun vor allem diese Doppelmoral. Unter den unzähligen Stimmen, die Ma kritisiert oder verteidigt haben, sei eine Stimme angeführt, die m.E. in höchst interessanter Weise den Kern der Sache berührt. 1995, als der Präsident Kim Young-Sam die "Sekyewha" (Globalisierungs)-Politik angekündigt hat, schrieb ein Student, man frage sich, ob es möglich wäre, ohne die herkömmlichen Denkhorizonte aufzugeben und ohne neue Denkmodelle zu errichten, am Prozeß der Globalisierung teilzunehmen.17 Unter der Globalisierung der Unterdrücker sei zu verstehen, daß Madame Emmanuel's Sexspiel als liberal, das der Youngcha (gängige Vorname wie Steffi oder Tanja) aber als Ausschweifung gilt. Die Globalisierung sei nicht möglich, wenn die Sexuallbeziehung der Lady Chatterley als Kunst und die der Lustigen Sahra als Porno gesehen würde. Die Globalisierung sei hingegen möglich, wenn die sexuelle Freiheit der Youngcha auch akzeptiert würde. Die Schauspielerin Kab-Sook Seo hat im Jahr 1999 ihren autobiographischen Bericht Auch ich möchte die Hauptdarstellerin einer Pornographie sein veröffentlicht. Darin hat sie in erster Linie ihre sexuellen Erfahrungen, Lüste und Liebesgeschichten enthüllt. Bereits die Tatsache, daß sie eine geschiedene Frau war, warf kein gutes Licht auf ihr Buch. Von Prüderie oder Zurückhaltung kann keine Rede sein. Über dieses Geständnisbuch empörte sich die ganze Nation, so wie 1999 über ein privates Videotape der bekannten Fernsehmoderatorin Hyun-Kyung Oh, die auch als Modell arbeitet. Das Video dokumentierte ihren ausgiebigen Sex mit ihrem Ex-Liebhaber und wurde erst nach 10 Jahren durch eine illegale Kopie der Öffentlichkeit zugänglich. Der Fall Miss Oh war fatal, weil der Videofilm nicht für die Öffentlichkeit sondern nur zum privaten Zweck gedacht war. Wieso hat sie die Sexstellen filmen lassen, obwohl sie damals (also um 1990) wissen mußte, daß die Sitte noch streng war? Die weibli17 Zit. nach http://myhome.netsgo.com/jivejive/Book9.htm

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che Keuschheit vor der Ehe galt und gilt noch immer als offizieller Moralkodex in der koreanischen Kultur. So war die Empörung der Nation kein Wunder. Die einstige Miss Korea, die koreanische Schönheit, Tugend und Anstand international vertreten sollte, hat nicht nur das Tabu gebrochen, sondern dies sogar mit Lust und Vergnügen. Durch ihre öffentliche Bekanntheit sorgte sie für internationales Aufsehen. Sanktionen folgten: Miss Oh wurde wie eine Kriminelle behandelt, ihre Auftritte fast alle verboten und sie flüchtete in die USA. Doch der Videofilm wurde illegal von einem Drittel der Koreaner gesehen. Die Bücher von Seo wurden in Millionenauflage verkauft, auch wenn ihr Ruf dahin war. Seo setzt sich weiter für die Befreiung der unterdrückten Sexualität und für freie Liebe ein und machte einen Nacktfotoband, der allerdings nicht veröffentlicht werden durfte, so wie der von der bekannten Schauspielerin Hee-Sun Kim. Kim, die als jugendliches Idol gilt, fuhrt seit Monaten einen spektakulären Prozeß gegen den Photographen, der sie angeblich zwangsweise photographiert habe. Auch der Fall Ji-Young Baik erregte Ende letzten Jahres eine Sensation. Die Sängerin Baik, ebenfalls ein Jugendidol, wurde beim Sex mit ihrem Liebhaber von diesem ohne ihr Wissen gefilmt und dieser Film - bekannt als 2. Miss Oh - wurde illegal im Internet veröffentlicht. Statistisch soll bewiesen sein, daß dieser Film im Jahr 2000 im Internet am meisten besucht worden sei.18 Der Fall Baik macht deutlich, daß der nackte Körper im Cyber Space am meisten begehrt ist. Das Internet avanciert zum Ort par excellence von Pornos, ohne Kontrolle, ohne Moralansprüche, ohne Scham. Die Inszenierung und Besichtigung des nackten Körpers ist dort gang und gäbe. All diese Ereignisse tragen zur Diskursivierung des Sexes bei, weil sie nicht nur begierig konsumiert werden und voyeuristische Lust befriedigen, sondern auch weil ständig darüber debattiert wird. Der Diskurs über den Sex bzw. die Sexualität hat Konjunktur. Was ist aus dem Schimpfwort 'ein westliches Phänomen' geworden? Gibt es das überhaupt, den unmoralischen Westen? Bis vor kurzem galt doch das Schlechte/Unanständige als westlich, sei es der Kuß in der Öffentlichkeit, der sexy body, der nackte weibliche Ober18 Vgl. www.eratowomen.com/canet024.htm.

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körper und Brüste in den Bildschirmmedien, enge, kurze, tiefausgeschnittene Kleider, Homosexualität ebenso wie Kontaktanzeigen in der Zeitung oder im Internet, Scheidungen, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Freizügigkeit in Gesprächen, individualistisches Verhalten wie Dutsch Pay, Gruppensex, Tänzerinnen in der Bar, völlig nackte Körper am Strand oder gemischte Sauna, ausländische Models in der Werbung etc.. Auf die Diskrepanz zwischen Moral und Lust, Tradition und Moderne weist auch die Washington Post hin, wenn sie von den Videoereignissen der Sängerin Baik oder Miss Oh berichtet; in Korea herrscht eine Doppelmoral, wenn die Koreaner einerseits dermaßen über (vorehelichen) Sex empört sind, sie aber andererseits die Nacktbilder im Internet begeistern. Schließlich zähle Korea zu den Ländern, in dem das Internet am meisten benutzt wird.19 Der nackte Körper hat auch in Korea Konjunktur. Doch stellt sich die Frage: Wäre das eine gelungene Globalisierung, wenn ein koreanischer Baise-moi in englischer Originalsprache in Seoul oder auch in Paris ohne Verbot gezeigt werden dürfte?

19 Vgl. Washington Post. 27.12.2000

Abb. 1 Aus dem Film »Die Lüge« (1999)

Abb. 2

Miss Korea beliebte Gesichtsform.

Abb. 3

Abb. 4 Miss Korea Computer-Schönheit.

Miss Korea traditionelle Gesichtsform.

Abb. 5 Hong-Do Kim, 18. Jh.

Tatauierungen als Ver-Kleidungen Nackte und bunte Haut

W o l f g a n g Herbert

Art can never exist without Naked Beauty displayed. (William Blake)

Introitus Tätowieren ist in. Oder vielleicht muß in Bälde gesagt werden: war in. Das mittels spitzer Instrumente bleibende Einbringen von Farbpigmenten unter die Haut (= Tätowieren) ist durchaus Moden unterworfen. Die 90er Jahre brachten einen veritablen Tattoo-Boom aus den USA und Europa nach Japan, der dort sichtbare Spuren auf den Häuten Jugendlicher hinterließ. Das kann im Kontext eines "neuen" Körperkultes gesehen werden, der auch im Piercing von Kopf bis Genitalien seinen Ausdruck fand oder im Branding, dem Einsengen von Narben. 1 Diese können auch durch Scarring regelrecht in die Körperoberfläche eingraviert werden — übrigens eine archaische Methode des Körperschmuckes, die von etlichen afrikanischen Stammeskulturen dem auf dunkler Haut weniger sichtbaren Tätowieren vorgezogen worden war. Auch Implanting gehört zu diesen körpermanipulierenden Techniken mit Dekorationsabsicht: das EinfuhDazu gehören zweifelsohne viele Dinge mehr: die ganze Fitness- und WellnessWelle, das Body-Styling mit diätetischen und sportiven Mitteln, künstliche Sonnenbräune und Haarefärben etc. Letzteres war auch unter Jugendlichen in Japan bis zur Jahrtausendwende demier cri - plötzlich waren sie zuhauf blond, kastanienbraun - oder rot-, selbst blau- und grünhaarig.

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ren von Metall unter die Epidermis zur Schaffung von Mustern und ganzen Schriftzügen. Diese körpermodifizierenden Techniken laufen auch unter dem Titel Body-Art. Der Tätowiertrend ist somit nur Teil einer umfassenden Instrumentalisierung des Körpers und der Reklamation der Rechte auf das eigene Erscheinungsbild, die Sloterdijk als "Design-Individualismus" bezeichnet hat.2 Auch wird vermutet, daß (in Japan) ein Wandel in der Einstellung zum Körper diesen zu einer kontrollierbaren Kommodität umzufunktionieren trachte, von "Somatisierung der Emotionen" und der Formung von Subjektivitäten via Körper ist die Rede.3 Die Großinterpretationen muß ich den maitres de pensée der Kulturkritik überlassen. Ich beschränke mich hier auf das Feld der Hautdekoration per Nadelstich, die jüngst im Sog obig angedeuteter Tendenzen oder als eines derer Verstärkungselemente rasant an Popularität gewonnen hat.

Souvenirs auf der Haut: Südseefahrer und Japanreisende Die genaue Bedeutung und Etymologie der Vokabel 'Tätowieren' ist nicht einspruchsfrei geklärt. Fest steht, daß das Wort in Europa erstmals durch James Cook 1774 in der Form "tattaw" vorgestellt worden war. Es soll in Tahiti "Wunden schlagen" bedeuten oder onomatopoetisch auf das Geräusch beim Einbosseln der Farbe unter die Haut anspielen.4 Schon 1691 wurde von Drapier der erste hautver2 3

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Sloterdijk, Peter: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliviera. München, Wien 1999, S. 12. Getreuer-Kargl, Ingrid: "Verändertes Körperbewusstsein in Japan? Ein Panel-Bericht von der JA WS-Sektion bei der EAJS-Konferenz in Lahti, Finland", Minikomi. Informationen des Akademischen Arbeitskreis Japan 3/2000 (September, Universität Wien), 31-34, hier S. 33; Clammer, John: "Received Dreams: Consumer Capitalism, Social Process, and the Management of Emotions in Contemporary Japan", in: Eades, Jerry S. / Gill, Tom / Befu, Harumi (Hg.): Globalization and Social Change in Contemporary Japan. Melbourne 2000: 203-223, hier S. 213f. Friederich, Matthias: Tätowierungen in Deutschland. Eine kultursoziologische Untersuchung in der Gegenwart. Würzburg 1993, S. 14f. Die deutsche Schreibweise schulde sich einem Transponierungsfehler aus dem Englischen, wobei "vollkommen unmotiviert" ein "w" eingeführt worden sei (Wilhelm Joest zitiert

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zierte Südseeinsulaner nach Europa gebracht. Ihm folgten zahlreiche Eingeborene, bis 1775 von Fourneaux, dem Kapitän eines Schiffes, das mit Cook's Expedition die Welt umsegelt hatte, Omai, einen ganzkörperpunktierten Prinzen aus der Südsee, mitgebracht hatte. Dieser wurde zum exemplarischen edlen Wilden stilisiert, an Höfen und in höheren Gesellschaften zur Schau gestellt, womit er einige Berühmtheit erlangte. Im Umfeld der Französischen Revolution soll es dann zu einem starken Anstieg der Tätowierungen gekommen sein.5 Im 19. Jahrhundert wurden ganzkörpertätowierte Männer und Frauen zu beliebten Jahrmarktattraktionen. Unter ihnen waren in der Fremde Gestrandete, Beachcombers, Hochstapler oder Fakire, die mit den abenteurlichsten Geschichten aufwarteten und für Kurzweil unter den Schaulustigen der Jahrmarktbacchanalien sorgten. Um die Jahrhundertwende und bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die Tätowierpraxis als "epidemische Manie" beschrieben und mehrfach auf diese als Modeerscheinung in Deutschland hingewiesen.6 Es waren nicht nur mobile Berufsgruppen wie Seefahrer, Kaufleute und Soldaten oder Angehörige zwielichtiger Milieus, die sich hautverzieren ließen. Auch unter dem Adel war es durchaus en vogue, sich ein Hautbild machen zu lassen. Einige Hochwohlgeborene kamen auf ihren Reisen bis nach Japan, wo in Yokohama in zwei lizensierten Tätowieretablissements quasi für den Export Häute von Ausländern gestochen werden durften. Berühmt wurde der Meister Horichö, zu dessen Kunden der spätere englische König George V. gehörte, welcher ihn 1881 als junger Seeoffizier aufgesucht hatte. Auch die Königin Olga von Griechenland und als Zarewitsch der spätere Nikolaus II. von Rußland sowie die Herzoge von York und Edinburgh ließen sich von Horichö ein kleines Hautbild machen. Diplomaten und Damen der Gesellschaft sollen in Japan

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in Friederich 1993: 15). Parallel zum "Tätowieren" hat sich die Transkription "Tatauieren" denn auch gehalten. Oettermann, Stephan: Zeichen auf der Haut: die Geschichte der Tätowierung in Europa. Hamburg [1979] "1994, S. 45f. Friederich, S. 20f.

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ebenfalls zur Kundschaft der Tätowierer gezählt haben.7 Horichö's Ruf gelangte bis nach London, wo sich der Tätowierer Donald McSutherland ('"1926) von seinen Arbeiten stark inspirieren ließ. Er soll es denn auch in der Kunst der Abschattierung, einer japanischen Spezialität, zu großer Kunstfertigkeit gebracht haben — ein frühes Beispiel westöstlicher Wechselwirkungen im Bereich der Hautbildnerei. Tätowieren war hingegen zu dieser Zeit — ein halbes Jahrhundert nach einer beispiellosen Hautdekormode — in Japan längst (seit 1872) offiziell verboten. Dieses Verbot stellte sich als paradox und kontraindikativ heraus. Es ist ein kurioses Ergebnis einer mißverständlichen Aneignung des fremden Blickes. 1854 wurde Japan nach einer mehr als zweihundert Jahre langen Phase der Selbstisolation 'geöffnet'. 1868 wird das Schogunat gestürzt und eine konstitutionelle Monarchie errichtet. Das Inselland stürzt sich eilends und überhastet in Industrialisierung und militärische Aufrüstung, mit dem Wunsch mit den westlichen Mächten gleichzuziehen und diese zu überholen. Um die nötige Anerkennung zu erheischen, wurden allerlei westliche Gepflogenheiten (Kleidung, Essen, Tanzveranstaltungen etc.) ausprobiert und zur Schau getragen. Unter keinen Umständen sollte der Eindruck entstehen, daß rückständige, barbarische (= aus dem westlichen, geborgten Blickwinkel) Sitten in Japan herrschten. So wurde das Tätowieren untersagt, aber auch z.B. die Präsentation von mächtigen Holz- oder Steinphalli als Kultobjekte in Schreinen. Das gemischte Baden von Männern und Frauen wurde gleichermaßen verboten wie öffentliches Urinieren (letzteres — bis heute von Männern fröhlich praktiziert — bezeugt, wie sehr Gesetze veritabel in den Wind geschrieben sein können). Beim Tattoo-Verbot gab es sogar Razzien sowie Geld- und Haftstrafen. Dabei wurden auch viele Tätowiervorlagen zerstört, was seinerseits als barbarisch gelten darf (auch solche von Kuniyoshi oder

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Martischnig, Michael: Tätowierung ostasiatischer Art. Zu Sozialgeschichte und handwerklicher Ausführung von gewerblichem Hautstich in Vergangenheit und Gegenwart in Japan. Wien 1987, S. I i i .

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Toyokuni. 8 Der berühmte Tattookünstler Horiuno wurde im Alter von 82 Jahren (!) verhaftet, sein Werkzeug und seine shita'e (PausSkizzen) wurden konfisziert. Er mußte eine Geldbuße zahlen und vier Tage Arrest absitzen. 9 Dennoch war das Verbot nicht nur wirkungslos, sondern in seiner Intention und Stoßrichtung völlig daneben gegangen. Die nach Japan kommenden und gekommenen Ausländer waren von den Hautzeichnungen nämlich hingerissen und begeistert. Sie wurden deshalb in eigens für sie geduldeten Tattoo-Studios bedient. Diese Faszination mag auch mit der Entdeckung Japans in der Kunst um die Jahrhundertwende zusammenhängen. 10 Im Japonismus wird ein völlig neuer Blick eingeübt, man läßt sich von den neuen Sehmöglichkeiten erschüttern. Für den Jugendstil werden Motive aus der Fauna, die kühne Linienführung mit an- und abschwellendem Duktus oder Wellenmotive vorbildhaft. Eine andere Räumlichkeit, eine Neubestimmung des Verhältnisses von Bildfläche und Darstellung oder Randüberschneidungen prägen die innovativ werdenden Ausdrucksmöglichkeiten — und sind im übrigen im Holz- wie im Hautschnitt zu finden. Der Holzschnitt war ein kommerzielles Produkt, deshalb erstaunlich uniform in Thema und Stil.11 Aber deswegen in Japan auch künstlerisch nicht sonderlich hoch eingeschätzt. Auch hier hat erst der 'westliche' Blick und eine Rückbesinnung auf eigene Traditionen eine Neubewertung eingeleitet. Das künstlerische Hautstechen wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 im Zuge der Aufhebung alter repressiver Gesetze wieder legalisiert. In den 50er Jahren begannen dann die ersten japanischen Tätowiermeister elektrische Tätowierpistolen zu verwenden und neue Tattoo-Farben aus den USA und Europa einzuführen. Umgekehrt wurde die japanische Tätowierung über Tattoo-Conventions, 8

Rödel, Dirk-Boris: Die Entwicklung der japanischen Tätowierkunst in der EdoZeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Magisterarbeit, Eberhard-KarlsUniversität Tübingen: Fakultät für Kulturwissenschaften/Japanologie 1999, S. 59. 9 Tamabayashi, Haruo: Bunshin hyakushi.[Allerlei Facetten der Tatauierung] Tokyo: Bunsendö [1936] 1956, S. 247. 10 Vgl. Delank, Claudia: Das imaginäre Japan in der Kunst. "Japanbilder" vom Jugendstil bis zum Bauhaus. München 1996; Schuster, Ingrid: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern, München 1977, S. 9-55. 11 Brandt, Klaus J.: "Graphik". In: Hammitzsch, Horst (Hg.): Japan-Handbuch. Wiesbaden 21984, S. 776-786, hier S. 784.

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großer Versammlungen und Showveranstaltungen von Tattoo-Fans, sowie durch Bildbände und Magazine international bekannt. Die Kunst der japanischen Tätowierung wurde bald nachgeahmt und als Inspiriationsquelle willkommen geheißen. Der Einfluß der japanischen Tätowierung auf die 'westliche' Tätowierung bei Motiven und in der Bildgestaltung — aber auch bei der Kolorierung — "kann [...] gar nicht hoch genug eingeschätzt werden."12 Bis dahin war es aber ein langer Weg, den wir nun von seinen Anfangen her kurz überfliegen wollen.

Historische Schlaglichter Tätowierung und Verbrechen Die ältesten schriftlichen japanischen Quellen, die die Tätowierung erwähnen, sind die semi-mythologischen "Aufzeichnungen alter Begebenheiten" (Kojiki aus dem Jahre 712) und die "Japanischen Annalen" (Nihon Shoki, 720). Dort wird das Anbringen von Hautmalen zur Bestrafung beschrieben, ein Brauch, der aus China übernommen worden sein dürfte, obgleich er dort zu jener Zeit schon obsolet war.13 Während umgreifender Reformen Mitte des 7. Jahrhunderts in der Taika-Ära abgeschafft, wurde die Straftätowierung im Jöei-Kodex (1232), dem schriftlichen Destillat des geltenden Feudalrechts, wieder angeführt und ab 1670 als Strafe erneut institutionalisiert, allerdings 200 Jahre später wieder rechtlich beseitigt.14 Die Muster dieser punitiven Hautzeichnung waren regional sehr verschieden, Streifen am Oberarm häufig, aber selbst Tuschzeichnungen im Gesicht (sogenannte keimen) üblich.15 Diese Straftätowierung hatte allerdings eine verheerende Wirkung auf das Image von Hautverzierungen. Auf sie geht die vorschnelle sowohl (sozial)geschichtlich

12 Ròdel, S. 65. 13 Vgl. Gulik, Willem R. van: Irezumi. The Pattern of Dermatography in Japan. Leiden 1982, S. 8ff. 14 Gulik, S. 13. 15 Vgl. Abb. in Tamabayashi, S. 96f.

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wie gegenwärtig falsche Gleichung Tätowierter = Krimineller zurück. Einen analogen Kriminal-Diskurs gab es interessanterweise auch mit dem Modeaufkommen der Tatauierung in Europa. Repräsentativ dafür und trotz horrender theoretischer Mängel breitenwirksam war die Schrift "L'Uomo delinquente" (1876) von Lombroso, in dem Tätowiert-Sein geradezu als Merkmal des Verbrechers zu gelten hatte und als "atavistisch" und obszön und degeneriert etikettiert wurde. Übrigens hat sich auch Adolf Loos in seinem Horror ornamenti vehement gegen Hautverzierungen ausgesprochen. Zur unverhältnismäßig schrillen Reaktion auf Tattoos und zu deren Kriminalisierung meint Oettermann: Man kann die europäische Tätowierung seit Cook deuten als (historisch wie individuell) letzten, verzweifelten - und zu spät gekommenen Versuch des zur identitätszerstörenden Monotonie der Fabrikarbeit verdammten Individuums, die eigene Haut zu retten, bevor man sie ihm über die Ohren zog. Der Sprache nicht mächtig, um sich selbst zu artikulieren, reklamierten die Tätowierten mit ihren bunten Bildern aus der Südsee auf der Haut immer wieder das Leben, das sie verloren hatten, oder das sie sich erträumten - das (irdische) Paradies, das ihnen verheißen war. Der Diskurs der Mächtigen dagegen versuchte so lautstark als möglich diesen Protest der Tätowierung zu diffamieren und die Träger dieser Proteste über die Grenze ins Kriminelle abzuschieben, wo sie, so stigmatisiert, 'klassifizierbar', zumindest aber als die 'Anderen' erkennbar waren und notfalls auch von den Ordnungsbehörden unschädlich gemacht werden konnten.16

' Stammestätowierung' Ich möchte den Blick noch einmal historisch weit zurückschweifen lassen, um eine andere, ja geradezu Gegen-Perspektive zu eröffnen. Keramikfiguren aus der mittleren Jomon-Zeit (ca. 3500 bis 2400 v. Chr.) weisen ornamentale Muster auf, die vermutlich Tätowierungen darstellen. Ein chinesisches Geschichtswerk (Wei chih, Ende 3. 16 Oettermann, S. I i i

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Jahrhundert n. Chr.) berichtet über das Volk der wa = Japaner, daß deren Männer alle im Gesicht und auf dem Körper tätowiert seien. Dabei handelte es sich um ornamentale, apotropäisch intendierte Hautzeichnungen, die vermutlich auch Signum des sozialen Status waren.17 Was hier angesprochen wird, kennen wir von polynesischen Völkern und den Maoris aus Neuseeland: Tätowiert sind (eigentlich: waren) dort alle, d.h. es gehört zur Normalität, ist verbindlich und Ausweis der gesellschaftlichen Stellung. In diesem Kontext ist somit der Nicht-Tätowierte der Abnormale, mit einem Mangel Behaftete und potentiell sozial Ausgegrenzte! Kunstvoll tätowierte MaoriKöpfe waren im 19. Jahrhundert übrigens beliebte Reisetrophäen — makabres und beklagenswertes Detail aus der Kolonialgeschichte.'8 Die Tätowierung als "Normalphänomen' unter Leuten an der spät und brutal assimilierten Peripherie des heutigen Japan war schon seit altersher bekannt und ist Fokus eines erneuten ethnologischen Interesses, wie eine Sammlung historischer Texte zur Hautpunzierung zeigt 19 Hierin finden sich mehrere (illustrierte) Beiträge zu den Handtätowierungen der Frauen auf den Ryükyü- und Oshima-Inseln ganz im Süden Japans und die Gesichts- und Handtätowierungen der Utari- (=Ainu) Frauen im hohen Norden Japans. Letzteren widmet van Gulik ein ganzes Kapitel.20 Die historisch als ezo oder emishi benannten 'Ureinwohner' Japans, die immer mehr nach Norden getrieben und schließlich (weitgehend) zwangsassimiliert wurden, werden schon im Nihonshoki aus dem 8. Jahrhundert n.Chr. als Leute "heftigen Temperaments" erwähnt, bei denen der Brauch des Tätowierens von Mann und Frau gepflegt werde. Dokumentarisch 17 Vgl. Rödel, S. 11. 18 Oettermann, S. 57. Koishikawa Zenji (Hg.): Shisei no minzokugaku. [Ethnologie der Tätowierung] Tokyo: Hihyôsha 1997 (= Rekishi minzokugaku shiryô sôsho 4). Eine völkerkundliche Zeitschrift bietet verdienstvollerweise in einer rezenten Sonderausgabe über Tattoos eine chronologische Bibliographie von japanischen Werken über Tätowierungen. Sonstige Textbeiträge befassen sich bezeichnenderweise mit Tätowierungen von Verbrechern und Fischern bzw. Matrosen - womit in alten Fahrwassern gerührt wird. Rekishi Minzokugaku Kenkyûkai (Hg.): Rekishi Minzokugaku 16 (Historical Ethnography). Tokushû: Fûzoku to shite no irezumi [Feature: Tätowierung als Sitte] Hihyôsha 2000. 20 Gulik, S. 181-245; siehe auch: Giese, Dagmar: "Ethno: Die Stammes-tätowierungen der Ainu", Tätowiermagazin Extra 2: Japan, Mai 2000,40-44.

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verbürgt sind aus jüngerer Zeit hingegen nur Hautverzierungen von Frauen.21 Die Handtuschzeichnungen der weiblichen Bevölkerung der Ryükyü-Inseln dürften motivisch aus der Südsee oder Taiwan stammen, jedenfalls sind sie dort zu findenden Hautdekorationen ausgesprochen ähnlich.22 Der Hautschmuck an den geographischen Enden Japans ist heute nahezu verschwunden und wurde von der Hauptinselpopulation ohnedies eher und seit jeher als Unsitte betrachtet. Unter dieser gab es allerdings vor der Entfaltung der Ganzkörpertätowierung Anfang des 19. Jahrhunderts verschiedene andere Sitten des Hautdekors:

Vorboten und Vorläufer der körperdeckenden Kunsttätowierung Zu unterscheiden wären hier neben der Straftätowierung: Schwurtätowierungen (kishöbori), eingestochene Liebesmale (irebokuro) und die Geckentätowierung (datebori). Aus dem Mittelalter gibt es nur ganz spärliche Berichte über Hautzeichnungen — das gilt im übrigen für Europa wie für Japan gleichermaßen. In Europa waren es Kreuzfahrer, die sich mit religiösen Motiven verzieren ließen,23 aus Japan sind aus der Kamakura-Zeit (1185-1333) Fälle bekannt von Priestern, die sich buddhistische Erlösergestalten, Bodhisattwas, oder zu deren Anrufung Mantra-ähnliche Schriftzüge auf Schultern oder den Rücken tätowieren ließen. Dies hat aber keine weiteren Kreise gezogen.24 In der Edo- oder Tokugawa-Zeit (1603-1868) tauchten vermehrt Belege über Hautverzierungen auf und diese wurden in gewissen Zirkeln zu einer regelrechten Mode. Diese Periode ist durch eine Zeit inneren Friedens (abgesehen von regelmäßigen Bauernaufständen) und einer klar gegliederten ständischen Feudalordnung gekennzeichnet. In den großen Städten entwickelte sich eine reiche von Bürgern getragene Kultur. Theater und Literatur kamen zur Hochblüte. Sie

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Vgl. Rödel, S. 14. Tamabayashi, S. 304. Vgl. Oettermann, S. 15f. Rödel, S. 18.

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trugen zur Bekanntheit des Phänomens Tätowierung nicht wenig bei, da in beiden Genres immer wieder darauf angespielt wurde. Ein künstliches Hautmal war kaum Stigma (außer im Falle einer Strafzeichnung), sondern weit verbreitet. Schwurtätowierungen sind seit Anfang des 17. Jahrhunderts bezeugt und werden in religiöse und erotische geschieden. Zu ersteren gehören z.B. Widmungen des eigenen Lebens an eine bestimmte Gottheit oder die um die Gnade des Buddha Amithäba flehende Formel namu amida butsu, die mit Tusche eingestochen werden.25 Bei den erotischen Tattoos gibt es wiederum zwei Formen: unter Liebespaaren wurde der Name der/s Geliebten in den Unterarm eingraviert und mit dem kunstvoll prolongierten Schriftzeichen für Leben, das dieser/m hingegeben wird, abgeschlossen.26 Die andere Form war ein 'Schönheitsflecktattoo' {irebokuro, Tamabayashi 1956, S. 14). Dabei wurde in die Grube zwischen Daumen und Zeigefinger, genau dort wo beim Handgeben der galanten Partner die rechte Daumenspitze zu ruhen kam, ein künstliches Muttermal eingestochen. Dies wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Vergnügungsvierteln Kyoto's und Osaka's Sitte und verbreitete sich dann in den entsprechenden Milieus von Edo, dem heutigen Tokyo. Diese oben erwähnten Tätowierformen werden von Tamabayashi in Abgrenzung zu den bildhaften als 'allegorische' bezeichnet. Die — noch auf fragmentarische Einzelbilder beschränkte — Kunsttätowierung nimmt ihren Anfang in der 'Geckentätowierung' des 18. Jahrhunderts — in Anspielung auf otokodate, datebori genannt.27 Otokodate bedeutete die Personifizierung wahrer Männlichkeit, die sich verschiedene Subkulturen zuschrieb, Feuerwehrleute, Straßenritter und Gangster ebenso wie junge Rowdies (sogenannte machiyakko), die sich in einer Art Stadtbürgerwehr kämpferisch gegen Übergriffe und zuweilen Überfalle von (oft herrenlosen) Samurai wandten. Diese häufig in Banden zusammengschlossenen machiyakko ließen sich einfache Bildmotive wie Drachen, abgeschlagene Köpfe, Pflanzen oder Tiere auf Brust, Rücken oder Arme täto-

25 Gulik, S. 28. 26 Tamabayashi, S. 55; Beispiele analoger Liebesinitialen aus Europa in Oettermann, S. 18. 27 Dazu: Rödel, S. 32ff.

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wieren. Otokodate beliebten auch durch Dandytum und exzentrische Kleidung aufzufallen und die Tätowierung dürfte als ausdrucksstarkes Signal ihrem Imponiergehabe zu Gute gekommen sein. Vermutlich haben auch Ganoven versucht, mit Bildern ihre Strafmale zu vertuschen und zu überdecken. Die Strafzeichnungen flößten ja dem guten Bürger Angst und Respekt ein, weshalb es Leute gab, die mit diesem Image spielten und sich tätowieren ließen, um andere einzuschüchtern.28

Der Trendsetter: ein chinesischer Roman mit tatauierten Helden Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Umbruchzeit, in der sich die Tatauierung japanischen Stils hin zur Ganzkörperverzierung entwickelt. Van Gulik macht einen eleganten Schnitt mit dem Jahre 1750, nach dem er sein drittes Kapitel seiner bis heute verläßlichsten Monographie (neben Rödel 1999) über die Tätowierung in Japan beginnen läßt.29 Es ist denn auch mit "The Flowering" überschrieben. Einem literarischen Ereignis wird in den Quellen übereinstimmend eminenter Einfluß auf diese Hautbildblüte zugeschrieben. Auslöse- oder zumindest Verstärkerfaktor für die Ganzkörpertattoomode war der Roman Suikoden.30 Daß diese in China (Originaltitel: shui hu chuan) bis heute ausgesprochen beliebte Sammlung von Renegaten- und Brigantengeschichten in Japan derart populär geworden ist, verdankt sich einem, wenn man so will, 'Zufall'. Ogyü Sorai, ein berühmter konfuzianischer Gelehrter, hatte Anfang des 18. Jahrhunderts einen Gelehrten28 Diese als Drohgebärde gedachten Tattoos hießen auch ikakubori, Tamabayashi, S. 104f. 7Q Zu weiteren Werken in westlichen Sprachen vgl. Adami, Norbert R.: "Zum Phänomen des Tatauierens auf den japanischen Inseln. Monographien in westlichen Sprachen", OAG-Rundschreiben Nr. 6, Juni 1991, o.S. unter: Buchbesprechungen. 30 Dazu: Rödel, S. 34-46; Gulik, S. 44-53; Tamabayashi, S. 121-149 und Klompmakers, Inge: Of Brigands and Bravery. Kuniyoshi's Heroes of the Suikoden. Leiden 1998. Eine Übertragung ins Englische von Pearl S. Buck erschien erstmals in New York 1933 unter dem Titel: All men are brothers.

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zirkel gegründet, in dem der Suikoden als 'Übungstext' übersetzt worden war, um sich mit klassischem Chinesisch vertraut zu machen. 1727 erschienen auf Japanisch erstmals die ersten zehn Kapitel, weitere zehn dann 1759. Der Roman handelt von 108 Rebellen (36 Haupt- und 72 Nebenfiguren) und deren Rückzugsort Lian shan po 0 a P - : Ryösanpaku) — und ist deshalb immer wieder mit den Erzählungen über Robin Hood verglichen worden. Schauplatz und Figuren sind historisch nachweisbar: es handelt sich u m edle Räuber und Obrigkeitsverächter unter ihrem Anfuhrer Sung Chiang, der im 12. Jahrhundert gelebt hatte. Seine Heldentaten und die seiner Entourage sind zu Volkslegenden geronnen, die 1589 schließlich schriftlich kompiliert worden waren. In Japan schlug der Suikoden Ende des 18. Jahrhunderts wie ein Meteor in die aufnahmebereite Landschaft der Populärliteratur ein und zog einen langen Schweif an Editionen, Neubearbeitungen und Nachdichtungen und 'heimischen', d.h. auf japanischen Boden verlegten, Versionen nach sich. Für die Rezeption herrschten geradezu ideale Bedingungen. Es gab eine ausgeprägte Lesekultur unter der Stadtbürgerschaft, die j a Träger und Konsument einer verfeinerten Kultur geworden war. Die kulturelle Blütezeit der Bunka-Bunsei-Ära (1804-1829) zeigt ihre literarischen Auswirkungen speziell auf dem Felde der Erzählprosa, wo viele neue Genres einer leichten, meist humorvollen und immer unterhaltsamen Erzählliteratur entstehen, die zusammenfassend als gesaku 'zum Spaß Geschriebenes' bezeichnet wird. [...] Dieyomihon ('Lesebücher' genannt im Gegensatz zu den überreich illustrierten Bildheftchen, ezöshi) mit pseudo-historischen Abenteuergeschichten großen Maßstabs sind jedoch moralisch bzw. moralisierend ausgerichtet und wenden sich von der Demimonde ab und heroisch-abenteurlichen Themen zu. Die Reaktion auf die spannenden Werke des Hauptvertreters der yomihon, Takizawa Bakin (1767-1848), zeigen deutlich die Situation der Literatur am Anfang des 19. Jh. auf: Es besteht ein riesiges Leserpotential, dem ein großer Buchmarkt entspricht. Die Werke der Unterhaltungsliteratur

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werden für den Markt 'produziert', z.T. in langen Fortsetzungen [...], die je nach Bedarf verkürzt oder ausgedehnt werden. 31

Nachdem Tatebe Ayatari (1718-1773), ein prominenter kibyöshiSchreiber, also Texter für stark bebilderte so genannte "Hefte mit gelbem Umschlag", im Jahre 1773 eine zehnbändige naturalisierte Suikoden-Version (Honchö suikoden = "Der Suikoden unseres Landes") in Umlauf gebracht hatte, begann oben erwähnter Takizawa Bakin 1805 mit einer neuen Suikoden-Übersetzung. Der Suikoden kam nicht nur den ebenfalls oben angesprochenen Marktbedingungen verlegerisch (fast beliebig fortsetz- bzw. kürzbar) entgegen, sondern vor allem thematisch. Rebellion gegen die Obrigkeit, Schutz und (materielle) Hilfe für die Armen, Freigeisterei und Ausbruch aus den gesellschaftlichen Zwängen und Anforderungen waren Topoi, die eskapistische und ersatzutopische Neigungen optimal bedienten. Wenigstens in der Fantasie konnte Auflehnung gegen die reale, rigide und durchreglementierte Feudalwelt geprobt und der Ruch der Freiheit gewittert werden. Die Suikoden-Helden boten somit ein hohes Identifikationspotential. Für die von Takizawa Bakin in Angriff genommene Neu-Übertragung (Shinpen suikogaden = "Neue illustrierte Ausgabe des Suikoden") wurde niemand Geringerer als der Meister Katsushika Hokusai (1760-1849) als Illustrator engagiert. Hokusai gilt heute als einer der berühmtesten Vertreter der ukiyo'e, der Holzschnitte oder 'Bilder der flüchtig-vergänglichen Welt'. Hokusai und Bakin überwarfen und zerstritten sich allerdings, so daß ihre Zusammenarbeit nach dem zehnten Band beendet war. Man kann den Wert, den man einer guten Illustration beilegte, daran ermessen, daß für die Fortsetzung ein neuer Übersetzer (Takai Ranzan), nicht Holzschneider verpflichtet wurde. Ranzan's Übertragung erreichte nicht die Eleganz der Bakin'schen, zudem blieb das Projekt etwa zwanzig Jahre liegen und wurde erst 1838 abgeschlossen. Von Hokusai stammen 235 Illustrationen in den ersten 60 Suikoden-Bänden, die weiteren wurden von seinen Schülern bebildert. Wo ist nun der Nexus zur Tätowierung?

31 May, Ekkehard: "Literatur", in: Hammitzsch 1984: 873-914, hier S. 888f. In akkurat diese Ära fällt ein nie dagewesener Tätowierboom, dazu später; Fußnote v. Verf.

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Im chinesischen Original des Suikoden werden vier Rebellen als tätowiert geschildert. Ich gebe ihre Namen in der japanischen Version und das Tattoomotiv in Klammern wieder: Kyümonryü Shishin (neun Drachen), Kaoshö Rochishin (Kirschblüten), Rörihakuchö Chöjun (florale Motive/Kiefernadeln), Röshi Ensei (Päonien).

Holzschnitt und Hautschnitt: Utagawa Kuniyoshi Die weitaus stärkste Breitenwirkung hatte eine Bilderserie sämtlicher Suikoden-Helden (tsüzoku suikoden göketsu hyakuhachinin no hitori) von Utagawa Kuniyoshi (1798-1861), die etwa 1830 fertig gestellt war. In dieser Serie sind entgegen dem Titel 33 namentlich genannte Heroen nicht repräsentiert, andere dafür mehrfach, nicht zuletzt die tätowierten und deren gibt es bei Kuniyoshi ganze zwanzig!32 Und während Hokusai die Hautbilder noch vereinzelt und verstreut auf die Haut plaziert hatte, wie es dem Text entsprach, wurden diese bei Kuniyoshi flächendeckend über den ganzen Körper gezogen. Zudem 'erfand' er für die im Urtext nicht hautbemalten Protagonisten Motive, darunter: Donnergott, Windgott, Tiere wie Leoparden, Löwen, neunschwänzige Katze, Affen, Schlangen, Drachen natürlich und aus der Welt der Flora: Päonien, Ahornlaub, Weinblätter etc. Kuniyoshi's Illustrationen wurden für den aufkommenden Hautdekorationsboom fraglos die einflußreichsten, wenngleich neben ihm und Hokusai noch ein gutes Dutzend anderer Holzschnittkünstler Arbeiten zum Suikoden-Komplex in Umlauf brachten.33 Bei Kuniyoshi gibt es mehrere bedeutsame biographische Verbindungsstellen zur Tätowierung. Zum einen war er selbst von den Schultern über den ganzen Rücken tatauiert (das Motiv ist nicht überliefert), was ihm den Spitznamen tekkahada ('rotglühende Haut') eingebracht hatte.34 Kuniyoshi hat sicher Tätowierte gesehen und deren Hautbilder inspirativ verwertet, so wie dann seinerseits seine Holzschnitte zur Vorlage für Hautdekorationen dienten. Utagawa

32 Klompmakers, S. 30f. 33 Klompmakers, S. 188-192. 34 Rödel, S. 48.

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Kuniyoshi war der Sohn eines Seidenmalers. Seinem Vater soll er schon im Alter von sechs/sieben Jahren beim Entwurf von Seidenmustern geholfen haben. 35 Dies ist insoferne höchst interessant, da gemusterte Textilien als Vorlagen für Tätowiermuster gedient haben. Vor allem die ärmellosen Überwesten der Samurai und der Feuerwehrleute waren oft reich dekoriert und mit bildhaften Darstellungen, z.B. von Drachen oder Schutzgottheiten wie Fudö Myöö verziert.36 Diese wurden dann auf die Haut übertragen. Oder umgekehrt: auch hier dürften sich Hautbilder und Textilstickereien und Holzschnitte gegenseitig und mehrgleisig beeinflußt haben. Ein schönes Beispiel hierfür ist ein Feuerwehrkittel mit dem Rückenbild eines stockfechtenden, tätowiert dargestellten Kyumonryü Shishin, dessen Pose sehr an Kuniyoshi's Darstellung dieses Suikoden-Briganten erinnert.37 Kuniyoshi trug auch den Übernamen musha'e no Kuniyoshi, da er die Darstellungen von Kriegern (= musha) als eigenes Genre in der Holzschnittkunst etablierte — Kuniyoshi war also für die holzschnittliche Gestaltung der Suikoden-Kämpen bestens gerüstet, wenn nicht prädestiniert. Bei den Humandarstellungen gab es daneben u.a. die Bildnisse hübscher Frauen (bijinga) oder Schauspielerkonterfeis (yakusha'e) — diese zwei Genres wurden aber mit der Tempo-Reform (1842) in den Gesetzen gegen Luxus und Extravaganz verboten. 38 Die Suikoden-Briganten boten sich als Ausweichsujet an. Die genaue Wechselwirkung zwischen Holzschnitt und Hautschnitt ist nicht decodiert, wenn sie überhaupt noch rekonstruierbar ist. Es gibt vom ersten Aufblühen der Tätowierung in der Bunka/Bunsei-Ära (1804-1830) sowie der Hochblüte in der Tempö35 Klompmakers, S. 9. 36 Rödel, S. 49. Der Unbewegliche" ist eine Manifestation des wilden Aspektes des "Sonnen"-Buddha Mahävairocana. Zuweilen als "Feuergott" bezeichnet, da er immer mit einer Aureole purpurn flackernder Flammen dargestellt wird. Er ist ein grimmiger Zerstörer allen Obels und Hüter der Lehre, auf Sanskrit heißt er Acala Vidyäräja. 37 Vgl. Klompmakers, S. 46 und Sunagawa, Akira: "Firefighters' Collection. Introduction to Hikeshi Sashiko Hanten", Daruma. Antiques Magazine Nr. 19, 1998, S. 20-32, hier S. 21, letzterer lustrierter Artikel bietet zugleich eine konzise Einführung in Feuerwehrwesen. 38 Klompmakers, S. 10, 16.

Jackets. Kuwata Japanese Art & eindrucksvoll ildas edozeitliche

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Ära (1830-1844) leider keine fotographischen Zeugnisse. Diese existieren erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts. Auf jeden Fall gibt es eine enge Verschränkung — motivisch wie personell — zwischen ukiyo'e und Hautstich, weshalb letzterer von Anbeginn ein hohes künstlerisches und handwerkliches Niveau hatte. Druckstockschnitzer haben im Nebenberuf als Tätowierer gearbeitet.39 Farbholzschnittkünstler sollen in der Tempo-Periode darin gewetteifert haben, die schönsten Tätowiervorlagen zu entwerfen (Rödel 1999, S. 48). Mit der zunehmenden Ausbreitung der Tattoos — sowohl im Sinne einer weiteren Verbreitung unter vielen Leuten als auch der flächenmäßigen Ausdehnung auf der Epidermis selbst, konnten die großen und künstlerisch anspruchsvollen Hautdekorationen nicht mehr von Laien bewerkstelligt werden. Es kam rasch zur Professionalisierung und Herausbildung eines eigenen Kunsthandwerkes. Deren Vertreter stammten zu erheblichem Maße aus der Branche der Druckstockschnitzer, woher sich auch ihr Name ableitet: horimonoshi oder horishi. Diese Ausdrücke leiten sich vom Verb horu ab, das "schnitzen, eingravieren, skulpturieren" bedeutet. Viele verblichene und moderne japanische Tätowierer tragen ein "Hori" in ihrem Künstlernamen. Auch technisch gab es wichtige Anleihen am Holzschnitt. Der Entwurf und kühne Wurf der Umrißlinien (suji) als erster Arbeitsschritt lehnte sich oft an den eingespielten Formen der ukiyo'e an. Die nächste Phase der feinen Abschattierung (bokashi) verdankt sich eindeutig der entsprechenden Holzschnitttechnik. Es folgte dann die Kolorierung (beta). Mitte des 19. Jahrhunderts war es durchaus noch üblich für die drei Arbeitsgänge drei verschiedene Künstler aufzusuchen: jeweils einen für die schönste Graphik, das beste Chiaroscuro und das strahlendste Rot (Tamabayashi 1956, S. 222). Zweifellos dienten und dienen Holzschnitte als Vorlage für horimono, das sind die Tätowierungen auf Japanisch.40 Ich weiß vom Tätowierkünstler An der Herstellung eines Holzschnittes waren mehrere Personen beteiligt (vgl. Brandt, 777), wobei nur der Maler namentlich zeichnete und bekannt wurde. Die handwerkliche Umsetzung bewerkstelligten die Holzschneider und Drucker, die mutmaßlicherweise später im professionellen Tatauieren einen Weg sahen, sich selber namentlich hervorzutun. ^

Daneben gibt es ein Menge Bezeichnungen, deren populärste irezumi ist. Das heißt wörtlich "Tusche einbringen", demarkierte aber ursprünglich die Strafzeich-

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Horitsune, daß er für einzelne Motive wie Drachen oder Karpfen ganze Bildbände besitzt, in denen deren traditionelle Darstellung sowohl in Holzschnitt wie in der Tuschemalerei (sumi'e) gesammelt ist. Horitsune studiert diese eingehend und entwirft immer wieder auf Papier z.B. Drachen, um deren Ausdruck und visuelle Wirkung zu verbessern. Malt er beispielsweise eine Welle oder Wolke, sind vor seinem geistigen Auge durchaus auch Hokusai und viele andere bildende Künstler aus der japanischen Tradition präsent. Eine Unzahl seiner später auf Häuten zu findenden Bilder malt Horitsune bis ins letzte Detail vorerst auf Papier, nicht zuletzt auch zur 'Kundenberatung'. Die Umrißlinien einer Tätowierung skizziert er vorerst mit einer wasserlöslichen dunklen Farbe auf Papier, das dann auf die zu präparierende Hautfläche aufgelegt und mit einem flüssigkeitsgetränkten Pinsel bestrichen wird. Die Linien sind dann übertragen und können gestochen werden (beim Tätowieren heißt dieser Arbeitsgang: sujibori). Mit der Verbreitung des in gewissem Sinne durchaus subversiven Suikoden und Bildern seiner illustren (tätowierten) Helden wurde der Wille wach, diese wenigstens in der reduzierten Form eines Tattoos nachzuahmen. Damit war auch ein tendenziell rebellischer Akt vollzogen, da die Tätowierung als demonstrative und bildhafte Verhöhnung der Autoritäten galt. Sie wurde nämlich mehrfach und stets erfolglos verboten, so auch im Jahre 1811, was hernach 1841 bekräftigt werden mußte. Erstere Untersagung kann als indirektes Indiz dafür gelesen werden, wie rasant der Hautstichbrauch um sich gegriffen hat, zweiteres als hilflose Geste angesichts einer nicht mehr einzudämmenden Modeerscheinung und ebenso als Verweis auf die mittlerweile weitreichende soziale Diffusion der Hautdekoration.

Die Kundschaft der Tätowierer Zu den Klienten der Tätowierkünstler zählten in der späten Edo-Zeit verschiedene Gruppen und Milieus. Da waren die professionellen nung und hat noch diese Konnotation. Die neutraleren Ausdrücke shisei oder bunshin sind weniger bekannt. Eine historische Zusammenstellung der Hautbildbezeichnungen findet sich in: Gulik, S. 15.

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Glücksspieler (bakuto) und fahrenden Händler, Schausteller und Quacksalber (tekiya oder yashi), unter denen ein Tattoo bald de rigueur war. Beide Gruppen bilden je eine der historischen Herkunftslinien der japanischen organisierten Gangster (yakuza). Aber es waren nie ausschließlich Yakuza, die sich ganzkörpertätowieren ließen, wie ein in Japan weit verbreitetes Vorurteil will. Andere wichtige Gruppen waren die Feuerwehrleute und (Halb-)Nacktarbeiter wie Sänftenträger und Rikschafahrer. Die Feuerwehr bestand aus den hikeshi oder tobi \ den eigentlichen Bekämpfern und Lösch- und Abbrucharbeitern bei den in Edo so häufigen Feuersbrünsten und den gaen, der Feuerwache. Von den tobi waren fast alle mit Drachen tätowiert, einem mythologischen Tier, dem Herrschaft über das Wasser und andere Elemente zugeschrieben wird.42 Die tobi waren in zehn Gilden mit insgesamt etwa 10.000 Mann organisiert und rauhe und stolze Kerle — so gut wie alle waren hautdekoriert. Sie waren äußerst geschickt und bis heute werden bei Feuerbrigadenparaden zu Neujahr akrobatische Shows auf Leitern gezeigt. Auch die Stadtfeuerwache (gaen) liebte Hautdekor (Tamabayashi 1956, S. 150). Eine häufig wegen ihrer hübschen Hautbildern gerühmte Gruppe bildeten die kagoya. Kago heißt Korb und darum handelte es sich weitgehend, wenngleich in Übersetzungen meist von Palankin oder Sänfte die Rede ist. Dieser kago wurde als Transportmittel für Menschen verwendet und mittels zweier Stangen von zwei Trägern geschultert. Tsujikagoya hießen die Träger, die auf den Straßen auf Kundschaft warteten und entsprachen einer Art Taxigewerbe. Taxifahrer gehören übrigens bis heute zur Standardklientel der Tätowierer. Für die edozeitlichen Tragsesseltransporteure war die Tatauierung ein Aushängeschild, weshalb sie selbst im Winter sehr spärlich bekleidet ihrer Arbeit nachgingen (Tamabayashi 1956, S. 171). Es hieß, daß sich der Kunde einen kagoya mit einem schönen Hautbild auswählte, ganz wie heutzutage ein neues einem alten Taxi vorgezogen würde (Iizawa Tadasu zitiert in Rödel 1999, S. 55)

41 Genau genommen: tobi no mono oder tobiguchi no mono, beides in Anspielung auf den Schnabel des roten Milans (tobi) als Metonym zum Feuerhaken. 42 Gulik widmet seiner Symbolik ein ganzes Kapitel, S. 115-178.

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Ähnliches galt von den Rikschafahrern, deren Hautverzierungen dem Fahrgast ja ständig vor Augen schwebten. Die Abenteurerin Isabella Bird, die 1878 Japan bereiste, berichtet darüber: Diese Kurumaläufer tragen kurze blaue baumwollene Hosen [...]. Der obere Teil der Kleidung flattert stets im Wind, so daß Brust und Rücken mit den tätowierten Drachen- und Fischfiguren sichtbar werden. Die Tätowierungen sind neuerdings verboten worden; sie waren aber nicht bloß beliebter Schmuck, sondern auch ein Ersatz für mangelhafte Bekleidung.43 Diese Passage ist in zweierlei Hinsicht von Interesse: zum einen zeigt sie, daß das (erneute) Tätowierverbot von 1872 nicht beachtet wurde, zum anderen findet sich hier implizit die später noch ausfuhrlich zu betrachtende These vom Tattoo als Textiliensubstitut. Ein anderes frühes Zeugnis von einem Ausländer stammt von Chamberlain aus seinem erstmals 1890 erschienenen Buch Things Japanese: Die Raufbolde der Feudalzeit liebten Tätowierungen, augenscheinlich weil irgendeine abenteuerliche Mord- und Totschlagszene auf ihrer Brust oder ihren Gliedern ihnen ein schreckliches Aussehen verlieh, wenn sie aus irgendeinem Grund die Kleider abstreiften. Andere Klassen, deren Beruf es mit sich brachte, den Körper öffentlich entblößt zu zeigen, ahmten sie nach - die Zimmerleute, zum Beispiel, und die laufenden Groome (bettö•); und die Tradition erhielt sich, fast den ganzen Körper und die Glieder mit einer Jagd-, Theater- oder sonst einer bestechenden Szene zu schmücken. Ein armer Handwerker konnte bis zu hundert Dollar ausgeben, um sich auf diese Weise vollständig dekorieren zu lassen.44

43 Bird, Isabella: Unbetretene Pfade in Japan [Unbeaten tracks in Japan 1880]. Hg. und mit einem Vorwort von Angela Martin. Wien 1990, S. 55'. Kuruma heißt eigentlich "Wagen", gemeint sind Rikschas, das Wort kommt vom japanischen jinrikisha, "von der Kraft eines Menschen betriebener Wagen", W.H. Übrigens berichtet Bird auch von tätowierten Flößern (Bird, S. 23f.) und Kulis (Bird, S. 64) 44 Chamberlain, Basil Hall: ABC der japanischen Kultur. Ein historisches Wörterbuch [Things Japanese]. Mit einer Einfuhrung von Erwin Wickert. Zürich 2 1991, S. 601

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Hier ist schon auf die soziale Streuung unter den Trägern von Tattoos verwiesen. Tamabayashi nennt für die Edo-Zeit eine Menge von Berufsgruppen, unter denen Hautbilder verbreitet waren: Flößer, Pferdetreiber, Schausteller wie z.B. Kraftprotze, Kutscher, Schauspieler, die otokodate, Nachrichteneilboten, Straßenräuber, Zimmerleute und Körperarbeiter jeder Couleur. Auch Tagelöhner und Dienstpersonal, Halb- und Unterwelt ließ sich den endgültigen Modeschmuck verpassen. Erwin Bälz, der von 1876-1905 als Arzt und Lehrender in Tokyo tätig war, schätzte die Zahl der Tätowierten in Tokyo allein auf 30.000 Männer. Er zeigte medizinisch-kosmetisches und kulturgeschichtlich-ethnologisches Interesse an den Hautdekorationen. Seiner Einschätzung nach waren es vor allem Angehörige der unteren Schichten, die sich tatauieren ließen. Tatsächlich war das Tätowieren unter (höher gestellten) Samurai kaum zu finden (Rödel nennt Ausnahmen 1999, S. 57f.) und Martischnigs Angabe, Kaufleute ließen sich gerne tätowieren, beruht auf einem Mißverständnis45. In der Edo-Zeit wurden zwar Gesetze gegen Luxus und Protzerei mit Reichtum erlassen, aber diese mit dem Erwerb eines aufwendigen Tattoo als Ersatz für die vorgeschriebene schlichte Kleidung (die dafür auf der Innenseite bombastisch bestickt war) zu umgehen, machte wenig Sinn, da Tätowierungen damals kaum als Luxusgut angesehen wurden (vgl. Rödel 1999, S. 41).

Erwin Bälz und die These vom Kleiderersatz Erwin Bälz ist von der Größe und Präzision der von ihm gesehenen Tätowierungen beeindruckt. Er beschreibt die handwerklichen Aspekte des Hautstechens ziemlich genau und kommt zu folgendem Urteil: "Was ist nun aber die Bedeutung der japanischen Tätowirung im Gegensatz zu der anderer Völker? Die Antwort lautet: Die japa-

Martischnig, S. 19. Auch sonst strotzt seine sehr penible Arbeit von sozialhistorischen und tätowierterminologischen Schnitzern, dazu: Kaneko, Martin: "Darum prüfe, wer zitiert...", Minikomi. Informationen des Akademischen Arbeitskreises Japan (Universität Wien) 2/89, o. S.

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nische Tätowirung ist eine Kleidung, ein Schmuck.46 Für diese, seine Hypothese gibt er mehrere Begründungen an: Erstens: Es sind nur Körperteile tätowiert, welche von Kleidung bedeckt werden können. Zweitens: Nicht alle Arbeiter, sondern vornehmlich die, die nackt malochen, lassen sich hautdekorieren. "Die Leute lassen sich ihr Kleid auf den Leib tätowiren und kommen sich und Anderen bekleidet vor." (Bälz 1884-88, S. 44) Drittens: Die Farbe der Tätowierung stimme mit der der Kleidung überein: es handle sich um dasselbe unreine dunkle Blau. Viertens: Die Tätowiervorlagen zeigten Motive, die auf den Kleidern von Arbeitern, namentlich der Feuerwehrleute, zu finden sind. Die Annahme, daß die Tätowierung als Kleiderersatz diente, fand unter japanischen Völkerkundlern und Historikern viel Anklang und nur vereinzelt Kritik (mit Übertragungen aus Bälzen's Original: Koishikawa 1997, S. 15-25). Tattoos können natürlich nicht Kleider 'ersetzen1, wohl aber Nacktheit überhöhen, übertönen, beschönigen. Die Kleiderersatzthese ist, wenn, dann ja auch nur partiell griffig für die " N a c k t b e r u f l e r ' . ^ Neben diesen gab es auch andere soziale Gruppen, die dem Tätowieren zugetan waren. Überdies vermute ich, daß hier ein eurozentrischer Blick mitspielt. Bälz nimmt vorerst — im Gegensatz zu seinen japanischen Zeitgenossen — die mit entblößter Haut Arbeitenden als nackt wahr. Dann projiziert er das Hautbild quasi als verhüllende Kleidung über diese Nacktheit und kann so die Irritation, die der nackte Körper bei ihm auslöst, überdecken. Auch van Gulik reflektiert über den Bezug der großflächigen Tätowierung zur Kleidung: [...] it may be evident that the tattooed areas are generally confined within the limits formed by various garments, the shape conforming with the so-called happi coat commonly worn by workmen, or with the various types of shirts and singlets either with short or half-length sleeves. If these respective garments were worn, the entire tattoed area of the body would be perfectly covered [...]. Thus, it seems quite clear again that 46 Bälz, Erwin: "Die körperlichen Eigenschaften der Japaner. Zweiter Teil (1)," Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens in Tokio Band IV (Heft Nr. 31-40 incl.) 1884-1888, 32. Heft, 35-103, S. 44. ^ Die Männer waren nicht vollständig nackt, sondern hatten ein Lendentuch (fundoshi) um die Leibesmitte geschlungen.

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tattooing functions as a form of clothing substitution, which in former times, when the legal prohibition had made that necessary, had the important advantage that the body tattoos could be rapidly and conveniently concealed. 48

In einer Fußnote zitiert er des weiteren Donald Richie, der eine Beobachtung aus jüngerer Zeit anfugt. Diese betrifft das munawari, ein Tätowierdesign, bei dem das Tuschbild auf der Brust nicht geschlossen wird, sondern ein zentraler Mittelstreifen freibleibt. [...] the munawari, the portion of the chest not tattooed, has progessively widened over the years since the wearing of Western shirts has become popular - the idea being that the tattoo should be covered when it is not on display. 49

Exkurs: Modeschöpfer wissen durchaus um die Kleidsamkeit von Tätowierungen und durch sie provozierte optische Täuscheffekte. Sie inszenieren das Verdecken, Transparent-Lassen oder Offen-Zeigen im Zusammenspiel mit den getragenen Textilien. Dazu wird berichtet: Jean-Paul Gaultier setzte bei der Show für eine Kollektion, die durchscheinende T-Shirts mit Tattoo-Mustern und echten wie vorgetäuschten Piercing-Schmuck fokussierte, reich tätowierte und gepiercte Models ein. Gaultier sagte dazu: 'Es ging nicht nur um diese primitive Geschichte, sondern auch um Dekoration. Mir gefällt die Vorstellung des Körpers als Kunstwerk. [...] Es ist der Punk-Einfluß, hat aber auch etwas Spirituelles'.50

Zweifelsfrei ist das Ganzkörperdesign 'das' Charakteristikum der japanischen Tätowierung. Die Symmetrie(rung) des Motives kann sehr wohl von der Kleiderform inspiriert sein und ein großflächig tatauierter Mensch erzeugt aus der Weite tatsächlich die optische Täuschung des Bekleidetseins. Eine Anpassung an den Kleiderschnitt bringt auch eine bequeme Bedeckbarkeit mit sich, wenn Sichtbarkeit

48 Gulik, S. 101) 49 Richie, Donald und Ian Buruma: The Japanese Tattoo. Second printing. New York, Tokyo 1995, S. 99. 50 Steele, Valerie: Fetisch. Mode, Sex und Macht. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 166.

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unerwünscht ist. Es dürften aber auch rein ästhetische Überlegungen dazu gefuhrt haben, einer großen Tätowierung eine symmetrische, gleichseitige Begrenzung zu geben, anstatt sie formlos zerfleddern zu lassen. Auf alle Fälle hat die Tatauierung in ihrem Zuschnitt nirgends so deutlich Kleiderform angenommen wie in Japan. Und damit hat sie zweifellos von ihrer optischen Wirkung her etwas Ver- und Überdeckendes, etwas Einhüllendes ganz wie ein bemalter transparenter Stoff, womit Nacktheit neckisch kaschiert wird. Ein kleines Einzelhautbild hingegen betont und unterstreicht kontrastiv die Nacktheit des restlichen Körpers geradezu - deshalb wohl auch immer wieder die Rede von Erotik im Zusammenhang mit Tattoos. Die Ausdehnung einer Tätowierung japanischer Art kann sehr unterschiedlich sein. Martischnig hat einige Formen in seiner Abbildung 17 zusammengestellt. Die frontal offenen Hautbilder verschwinden vollständig beim Tragen von vorne schließender japanischer Kleidung. Beim zenshinbori oder söshinbori - nicht senshinbori (!) wie Martischnig (1987, S. 74) transkribiert - , also der veritablen Ganzkörperverkleidung wird der ganze Oberkörper pulloverartig bedeckt und auch das Beinkleid flächendeckend gestaltet. Martischnig verweist auch auf die Grenz- und Abschlußformen bei Tattoos, die verschieden gestaltet sein können: das sachte Ausklingen der Farben heißt akebonomikiri, ein Übergangsfeld paralleler Linien, die wie Kiefernadeln aussehen, matsubamikiri — diese zwei Formen sind technisch anspruchsvoll und eher selten geworden. Eine wellenförmige Linie in Art einer Aneinanderreihung von Blütenblättern (botanmikiri) gilt heutzutage als im Trend liegend, auch der abrupte Abschluß mit einer scharfen Grenzlinie (butsugiri) zur unbehandelten Haut ist noch oft zu finden.51 (Abb. 1)

^'

Nicht bukkiri wie ich Herbert, Wolfgang: "Feature: Die japanische Tatauierung", OAG Notizen 3/1999, 6-17; oder bukiri wie Richie, S. 99 fälschlicherweise lesen. Wer weitere Termini aus dem Tätowiererjargon kennenlernen will: siehe Herbert, Wolfgang: "Horitsune - ein Tätowierkünstler aus Osaka. Zugleich eine kleine Sozialgeschichte der Tätowierung japanischer Art", Steffi Richter (Hg.): Japan-Lesebuch 3. "Intelli" . Tübingen: konkursbuchverlag Claudia Gehrke 1998, 321-339, insbes. S. 329ff. oder Gulik, S. 99ff.

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Der holistische Blick: der ganze Körper als potentielle Bildfläche Rödel kommentiert Martischnigs Illustration unter Hinweis auf ein weiteres wichtiges Charakteristikum der Tatauierung japanischer Art: [...] jedoch sind zum einen noch weitere Variationen als die dort abgebildeten möglich, zum anderen ist es in der japanischen Tätowierkunst jederzeit möglich, eine beispielsweise bis zum Oberarm gefertigte Tätowierung ohne später erkennbaren Übergang bis zum Ellenbogen oder bis zum Handgelenk weiterzufuhren, weswegen Tätowierungen kleineren Ausmaßes auch als Übergangsstadium angesehen werden können, und nicht notwendigerweise an diesem Punkt beendet sein müssen. Heute ist es allerdings üblich, stets beide Körperseiten in symmetrischer Weise (bezogen nur auf die Ausdehnung, nicht auf die Motive) tätowieren zu lassen, unabhängig davon, bis zu welchen Punkten die Tätowierung reicht. In den ukiyo e dagegen finden sich relativ häufig Tätowierungen, die zumindest ein Stück weit aus der Symmetrie ausbrechen.52 Diese Ausweitbarkeit eines Hautbildes spricht auch Horitsune, ein Tätowiermeister in Osaka, an, wenn er meint, daß ein traditionell in japanischem Stil arbeitender Tätowierer immer den ganzen Körper im Kopf oder vor Augen habe, auch wenn er nur ein kleines Motiv steche. 53 Ein Teil seiner Arbeit besteht auch in 'Vertuschungen' oder Übertuschungen alter oder obsolet und unliebsam gewordener oder verpfuschter Motive. Das ist handwerklich ausgesprochen anspruchsvoll. In jüngster Zeit hat eine andere Nachfrage auffallend zugenommen: viele junge Leute kommen zu Horitsune, um verstreute Einzelbilder in ein traditionelles japanisches Tattoo ausweiten oder einarbeiten zu lassen. Sie haben sich ein oder mehrere Modebildchen stechen lassen und in der Begegnung mit der Welt der Tä52 Rödel, S. 52. ^

Mehr über ihn in Herbert 1998, 1999 und ders.: "Horitsune II. Ausstieg aus dem System", Tätowiermagazin Extra 2: Japan, Mai 2000a, S. 6-12; auf Japanisch: Ogura Takayasu: "Kuromon ichiba saigo no horishi [Der letzte Tätowierer am Kuromon-Markt]", Ishii Shinji (Hg.): Osaka no gyakushü. Tokyo nanka he de mo nai? [Osaka schlägt zurück. Tokyo: nichts mehr als heiße Luft?] Tokyo: Takarajimasha (= Bessatsu Takarajima EX), 230-236.

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towierung sind ihnen die Augen aufgegangen für die japanische künstlerisch hochstehende Hautschmucküberlieferung. Sie wollen nun etwas 'Authentisches' haben. Das bedeutet meist auch, daß ihre Bilder in einen symmetrischen 'Rahmen' (gaku) eingearbeitet werden. Damit wird dann aus Streumotiven ein echtes Hautkleid. Zur ganzheitlichen Vision oder Visualisierung der getuschten Körperzier berichtet Rödel von Nakano Yoshihito (Künstlername: Sandaime Horiyoshi), daß dieser ein Hautbild wie ein Triptychon sieht: Die Tätowierung habe man sich vom Körper abgelöst und aufgeklappt vorzustellen - unabhängig von ihrer Ausdehnung. Es müsse dann ein zusammenhängendes Bild entstehen, dessen Hauptmotiv sich in der Regel auf dem Rücken - und somit im Zentrum des Hautgemäldes - befinde (Rödel 1999, S. 50). Das Gesamtbild muß auch in seinen einzelnen Motiven stimmig sein. In der japanischen Dichtung und Malerei gibt es alteingespielte Konventionen z.B. in bezug auf Jahreszeitenfanale und Darstellungsformen. Kirschblüten (Frühling) und purpurfarbene Ahornblätter (Herbst) können - um ein einleuchtendes Beispiel zu geben - nicht in ein Bild gezwungen werden. Bei religiösen Bildern ist die Kraft der Tradition besonders wirksam: Bodhisattwas etwa müssen naturgemäß mit den richtigen Attributen versehen oder den korrekten Handhaltungen dargestellt werden.

Zu den Motiven der Bildmotive Zur Frage, was man/frau sich hautgravieren läßt, sei vorab bemerkt: Tattoos werden von ihren Trägern häufig mit Distinktionsabsichten oder 'individuellem Ausdruck' und Unikatsansprüchen in Verbindung gebracht. Die Praxis spricht aber eine deutlich andere, nämlich nivellierende Sprache. Es gibt gewisse Sets an Motiven, die gruppenoder milieuspezifisch, sowie kulturell sanktioniert sind und auf die eindeutig am häufigsten zurückgegriffen wird. Man denke an den Anker des Seemannes, den Totenkopf des Rockers oder den Drachen des japanischen Feuerwehrmannes. Zu Distinktions- und Individualitätsstreben qua Hautbild meint Berit, eine Tätowierkünstlerin aus Berlin, in einem Interview mit dem Zeit-Magazin:

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[...] Unsere praktische Erfahrung ist eine ganz andere. Achtzig Prozent aller Kunden nämlich wünschen Massenmotive und Massenabbildungsarten. [...] Dieser Individualismus ist ein Trugbild des Kapitalismus. Es sollen nur Sachen besser verkauft werden. Sie existieren nicht als Einzelerscheinung, sondern sie sind kultureller Bestandteil einer ganzen Kulturgruppe, die sich geeinigt hat, daß bestimmte Sachen das und das bedeuten [...]. Das mit der Individualität ist fadenscheinig.54 Die Hautbildnerin verweist aber auch darauf, daß die westliche Tätowierung für viele Einflüsse offen ist. Aus der Kunst sind es PopArt, Jugendstil oder Airbrush-inspirierte Hautmalweisen, die neue Impulse geben. Die Ethnomode brachte sogenannte tribals, an aztekische Muster erinnernde ornamentale Formen oder keltische Tattoos aufs Tapet oder besser auf die Haut. Daß Tattoos entlang der Linien Konventionalität, erwünschter Wiedererkennbarkeit und eingespielter Symbolik gewählt und entworfen werden, hat durchaus Tradition. Die europäische Tatauierung nach Cook kreiste um Südseemotive, die die Seeleute mitbrachten, religiöse Ikonographie (z.B. Kruzifix) und Zugehörigkeits-, Erinnerungs- oder Identifikationszeichen (so Oettermann 1994, S. 46ff.). Die Interferenz von Südseetechnik und europäischer Bildvorstellung gebiert eine neue Art des Hautstichs. Tahiti war im übrigen auch Projektionsfläche für allerlei Paradiesvorstellungen und unter Seeleuten war z.B. eine Palme oder Schlange ein beliebtes, wenn nicht gar obligates Motiv, das dann von anderen Milieus übernommen wurde. Die Einflüsse der Emblematik tun ein weiteres, um eine gewisse Uniformierung einzuleiten, die in den Bildkatalogen kulminiert, aus denen der Kunde vermeintlich 'sein' Motiv auswählt. Indem beide, Emblematik und Tätowierung die disparatesten Fundstücke zu einem Bild zusammenzwingen, um immer neue Bedeutungen und Bedeutungsnuancen zu kreieren, sind sie eher von der Bedeutung der Fundstücke als von ihrer optischen Qualität her konstruiert. Der formalen Geschlossenheit des Tätowiermotivs im Ganzen, die der des Emblems ähnelt, und die trotz der Disparatheit seiner Teile erreicht wird

^

Dieser Erscheinungsort indiziert gleichzeitig wie respektabel die Tätowierung mittlerweilen in Deutschland geworden ist. Glinski, Gregor von: "Tattoo Kunst", Die Zeit. Magazin, Nr. 16 vom 11. April 1997, S. 16-27, insbes. S. 24f.

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(wobei zur Unterstützung das Motiv gelegentlich medaillonartig gerahmt wird), entspricht eine Geschlossenheit der Bedeutung, die zwar nicht so festgelegt wie im Emblem, sondern in bestimmten Grenzen changierend, aber keinesfalls beliebig ist. [...] Die Bedeutungen mögen allgemein und traditionell gewußt sein oder nicht, in jedem Fall lassen sie sich beim Tätowierer, dessen Vorlagealben nicht zufällig den barocken Emblembüchern auf den ersten Blick gleichen, erfragen.55 Auch in Japan gab und gibt es - unabhängig von der Größe des Tattoos - , eine Art Hitliste traditioneller und bis heute beliebter Motive, die wahlbestimmend ist.56 Ich beschränke mich auf die bildhafte Tätowierung und bestimmte Bereiche, aus denen ich exemplarisch einige Hauptoptionen nenne: Religiös inspirierte Bilder: Fudö Myöö (vgl. Fußnote 7), eine Kannon (sanskrit: Avalokiteshwara) oder einen Dainichi Nyorai (sanskrit: Mahävairocana) aus dem buddhistischen Kontext. 57 Sturmgott oder Donnergott sind ebenfalls beliebt und entstammen dem schintoistischen Pantheon. Aus Legenden- und Fabelwelt sind Suikoden-Helden nach wie vor populär. Als Spezialität gibt es hier die so genannte 'Doppeltatauierung' (nijübori): und zwar dann, wenn der in die Haut punzierte Rebell wiederum mit einem Tattoo abgebildet ist. Drachen sind ausgesprochen nachgefragt — sie sind in China und Japan symbolisch positiv besetzt. Hannya-Masken geistern auch gerne auf Häuten herum, das sind stilisierte Masken aus dem Nö-Theater, die eine zürnende Megäre darstellen und furchter-

55 Oettermann, S. 53f. ^

Eine kleine Auswahl mit schönen Bildvorlagen des Meisters Horihide findet sich im Tätowiermagazin Extra 2 Japan, 89-96. Ganz herausragendes Fotomaterial sowohl zu Ganzkörpertätowierten als auch einer Vielzahl von Einzelmotiven findet sich in: Fellman, Sandi: The Japanese Tattoo. New York, London 1986. Die Kannon verkörpert die transzendentale Weisheit und allumfassendes Mitleid. Auf ihrer langen Reise und Metamorphose vom indischen Urbilde des Allerlösers Padmapäni ("Lotos in der Hand") zur chinesischen Kuan-yin und schließlich der japanischen Kannon hat sich der weibliche Aspekt durchgesetzt - "als ob die Göttin zu ihrer archetypischen Natur zurückkehrte", wie Zimmer in seiner atemberaubenden Interpretation der Symbole der großen Göttin bzw. des Lotos schreibt. Zimmer, Heinrich: Indische Mythen und Symbole. Vishnu, Shiva und das Rad der Wiedergeburten. Aus dem Englischen von Ernst Wilhelm Eschmann. München 6 1997, S. 102-115, hier S. 110.

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regend wirken sollen so wie abgeschlagene Köpfe oder Gespenster, die auch noch zuweilen, wenn auch nur epidermisch, herumspuken. Aus dem Bereich der Fauna sind Karpfen ein häufig ausgesuchtes Motiv. Sie gelten als zäh, ausdauernd und langlebig. Eigenschaften, die man sich quasi analogiezauberisch auf und unter die Haut übertragen lassen möchte. Löwen, Tiger, Schlangen, Adler, Schmetterlinge etc. als bildliche Träger ihrer je eigenen Symbolik erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit. Die Flora wird oft in dekorativer Manier eingesetzt oder unter die Haut gestanzt. Sie muß ikonographisch zum Hauptmotiv passen. Kirschblüten, Päonien, Winden, Ahornblätter, Chrysanthemen, Pflaumenblüten, Zierapfelbaumblüten (eine Rosenart: malus halliana) gehören zum Standardrepertoire jedes japanischen Tatauierungskünstlers. Als Beispiele für 'bildhafte allegorische' Tattoos (so nennt sie Tamabayashi 1956, S. 296ff.) können Berufsabzeichen gelten, wie z.B. das Gildenabzeichen (matoi) unter Feuerwehrleuten oder ein Fuchs oder eine Spinne bei Prostituierten. Dem Fuchs werden in der japanischen Folklore alle möglichen Streiche, die er den Menschen spielt, zugeschrieben, er kann hexen und ist selbst oft eine verzauberte Frau. Der Spinne sollen ganz einfach analogiemächtig viele Kunden ins Netz gehen. Spieler ließen sich Würfel hautgravieren, Trinker Sakeschalen, auch als Gelöbnis, von ihrem Laster abzulassen. Geishas ziert zuweilen eine Shamisen oder ein Plektron ähnlich wie Meergetier Fischer oder der Anker den Seemann. Hier wird deutlich, daß das Hautbild als Gruppenzugehörigkeitsmerkmal dienen kann. Diese Funktion wird für Japan besonders hervorgestrichen (Richie und Buruma 1995, S. 57ff.). Dem Hautstich kann auch eine initiatorische Bedeutung als rite de passage zukommen, mit der die Aufnahme in eine spezifische Gruppe besiegelt wird. Obige Autoren erwähnen auch andere Deutungsmöglichkeiten für Tätowierungen: als Selbstdefinitionselement, Talisman oder einfach Verschönerung. Sie unterstellen dem Tätowierwilligen sogar leicht masochistische Neigungen (Richie und Buruma 1995, S. 78). Damit befinden wir uns schon auf dem Terrain der z.T. mit ziemlich bizarren Spekulationen verbundenen Mutmaßungen bezüglich der Beweggründe fürs Tatauiertwerden.

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Wozu Tattoo? Die Motive, sich stechen zu lassen, sind ausgesprochen divers. Aus einem Literaturüberblick entnommen und aufgelistet werden u.a. folgende Erwerbsgründe: Dummheit, Nachahmung, Überredung, Spielerei, Mode, Alkoholeinfluß, sexueller Reiz, Übermut, Stumpfsinn in langweiligen Stunden, Befriedigung einer perversen Großmannssucht, Produkt des Augenblicks, des Rausches, des Milieus; Freude am Bilde, narzistische, autoerotische Neigung, Angeberei, gruppendynamische (z.B. haftbedingte) Prozesse, individueller Widerstand gegen gesellschaftliche Strukturen und bestehende Herrschaftssysteme, Unüberlegtheit etc. Die moralischen Zwischentöne oder -rufe bei einigen dieser Zuschreibungen sind unüberhörbar, auch dürften die meisten der genannten 'Motive' eher kleinflächige Tattoos betreffen.58 Als Beispiel für die schon reichlich mystifizierenden Begründungen, die Tattoo-Enthusiasten für die Applizierung ihres permanenten Make-ups finden, sei Michelle Delio, Herausgeberin der Fachzeitschriften Tattoo Revue, Skin Art und Tattoo Expo, zitiert: Bei sorgfaltiger Auswahl der Motive verfugen Tattoos über eine eigene Kraft und Magie. Sie verzieren den Körper, wirken jedoch auch stimulierend auf die Seele. [...] Meine Tattoos offenbaren dem wirklich Sehenden die Wahrheit. Wenn ich mich im Wirrwarr des Alltags verliere, erinnern sie mich an mein Selbst. Sie sind gleichermaßen alte knorrige Wurzeln, die mich mit meiner Vergangenheit verbinden wie auch ein beherzter Brückenschlag in die Zukunft. Sie erzählen meine Geschichte und veranschaulichen meine persönliche Rätselhaftigkeit. Sie verleihen mir Kraft, erinnern aber auch an meine Sterblichkeit.59 Letzteres hingegen bleibt ein Skandalon: ein Hautbild geht mit dem Tod seines Trägers den Weg alles Irdischen. In Japan ist Feuerbestattung die Regel: Tattoos gehen irgendwann in Rauch auf. Und sind damit durchaus ein Sinnbild und Inbild der Vergänglichkeit.

58 Aus: Friederich, S. 22-49, Kap. 2.3. "Behandlung der Thematik in der Literatur". 59 Delio, Michelle: Tattoo. Tätowierung. Der wiederentdeckte Kult. Übersetzt von Helmut Roß. Niederhausen/Ts. 1994, S. 13.

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Von der Funktion her gesehen, lassen sich Tatauierungen betrachten als: Verschönerung, Schmuck, Kleiderersatz, Mimikry, Abschreckungsmittel, rituelle, magische, religiöse, apotropäische Schaubilder, soziales Kennsignal, rechtliche Sanktion (Strafe) etc. (S. Oettermann 1994, S. 10f.). Auf abstraktester Ebene kristallisieren sich drei Bedeutungen aus den genannten Funktionen der Körperbemalung und den ihr verwandten Techniken heraus: 1. Bestimmung (bzw. Verdeckung) der eigenen Identität und Rolle im sozialen Gefüge; 2. die Möglichkeit der Identifizierung durch andere, als der, der man ist; 3. so kommt ihr eine übergreifende kommunikative Bedeutung zu, die über den Austausch der Individuen in spontaner Interaktion hinausgeht. Kurz: Körperbemalung und vor allem Tätowierung, Brandmarkung und Narbenzeichnung stellen in ihrer Bedeutung eine überindividuelle - gleichwohl ans Individuum gebundene (und dieses dadurch mitbedingende) - Kodifizierung gesellschaftlicher Praxis dar.60

Es ist im besonderen die kommunikative Seite der Tatauierung, die ihren Signal- und Signumscharakter deutlich, ja unübersehbar macht. Dahinter verbirgt sich auch das aufreizende Spiel der Ver- und Enthüllung, des Verbergens und demonstrativen Zur-Schau-Stellens von Hautmalereien. Gesichts- und Hand(rücken)tattoos sind, wenngleich nicht unbekannt, zu den Seltenheiten zu rechnen. Das zeigt auch, daß die Verdeckbarkeit von Tätowierungen prinzipiell erwünscht bleibt.

Ausblick: rezente Trends und/oder: nie wieder ganz nackt! Tätowierungen erleben — wie eingangs erwähnt — in Japan ebenso wie in Europa einen Boom — oder sind schon wieder passe, da BodyArt-Formen mit größerem, d.h. noch gegebenem Schockwert gesucht werden.61 In Deutschland geht die Kundschaft quer durch alle sozialen Schichten, wie selbst eine englischsprachige Zeitung in Japan zu 60 Oettermann 1994:12, Hervorhebungen im Original. 61 So vermutet von Steele, S. 166.

Tatauierungen als Ver-Kleidungen

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vermelden weiß.62 In Japan lassen sich vermehrt Jugendliche aus folgenden Milieus künstlerisch hautbehandeln: Aktionssportszene (Surfer, Skateboarder, Motorsport etc.), Rock- und Popmusikerinnen und deren Fans, Hiphop- und Disco-Szene, Drifter am Arbeitsmarkt und Aussteiger verschiedener Couleur. Die Tatauierung bleibt in Japan damit noch eine Erscheinung, die einen breiter werdenden gesellschaftlichen Rand betrifft. Die mentale Barriere gegen Tattoos ist aber merklich kleiner geworden, besonders unter jungen Leuten. Schon zeigen Musiker auf Werbeplakaten oder im Fernsehen ihre Hautverzierungen. Vor zehn Jahren wäre das in Japan kaum denkbar und karriereschädigend gewesen. Aufgrund des Vorurteils, das Hautbilder sofort und fast ausschließlich mit Yakuza in Zusammenhang bringt, gab/gibt es starke Vorbehalte gegen Hautverzierungen.63 Mit der größeren Verbreitung von Hautbildern sinkt aber deren kriminelle Konnotation — hingegen auch ihr Distinktionswert. Schmuckbedürfnis dürfte heute wohl eine der Hauptmotivationen für den Erwerb eines Hautbildes sein, wenngleich noch mit dem provokatorischen Aspekt gespielt und geliebäugelt wird. Residuale abergläubisch-magische Vorstellungen können bei der Motivwahl mitschwingen. Der Tattoo-Erwerb wird von einem komplexen Motivsyndrom bestimmt, das individuell sehr unterschiedlich sein kann — leider gibt es dazu keine großflächigen empirischen Untersuchungen. Ich kann mich hier auch nur auf die eher impressionistischen Aussagen von Tätowierern und einzelnen Tätowierten verlassen. In Japan sind neben traditionellen großflächigen Hautdekorationen kleinflächige so genannte one point tattoos westlicher Art und Motivik im Schwange. Dabei gibt es interessante und innovative Adaptionen, Übernahmen, Über- und Umarbeitungen, die alle in verschiedenem Grade von der japanischen traditionellen Tätowierart und -technik mitgeprägt sind. Umgekehrt lassen sich amerikanische und europäische Tätowiererinnen vom japanischen Stil inspirieren. Das ästhetische Niveau westlicher Tattoos hat davon entscheidend profitiert. In der westlichen künstlerischen Tatauierung gibt es eine 62 Coonan, Clifford: "Tattoos make their mark in Germany", The Japan Times vom 13. Juni 1996, 15. 63 Dazu näher z.B. Herbert, Wolfgang: "Eine Yakuza-Kurzgeschichte", Tätowiermagazin Extra 2: Japan, Mai 2000b, 82-87 und ders.: "The Yakuza and the Law", in: Eades, Gill und Befu 2000, S. 143-158.

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eigene Stilrichtung, die sich Oriental nennt und sich konzeptuell und motivisch stark an die japanischen horimono anlehnt.64 Die japanische Art der Tatauierung hat von der westlichen ebenfalls mächtige Impulse erhalten. Sie hat ihre eingespurten Konventionen verlassen und das Trägheitsmoment dekadealter Traditionen überwunden. Es hat sich eine Art Mischstil entwickelt, in dem sich eine internationale Bildsprache artikuliert. Davon zeugt reich illustriert und eindrucksvoll das von Dirk-Boris Rödel herausgegebene TätowiermagazinSonderheft Extra 2: Japan (Mai 2000), in dem sowohl konventionell wie modern arbeitende japanische Tattookünstler und ihre Arbeiten porträtiert und präsentiert werden. (Abb. 2, 3, 4) Dies zeigt auch, wie lebendig die Tätowierkunst in Japan heute ist und wie in ihr Tradition und Moderne simultan und synergetisch zusammenwirken. Und die Tätowierung ist buchstäblich eine 'lebende' Kunst, eine sehr ephemere zumal. Vergänglich wie der Mensch, ist sie von ihm durch alle Zeiten und Kulturen praktiziert worden, so als sollte der Nacktheit ein Stempel des Ungenügens aufgedruckt werden. Nirgends näher kann Kunst sein als unter der Haut. Und nichts kann näher, gewissermaßen intimer und zugleich exponierter oder derart exponabel sein wie eine Hautverzierung. Sie schillert vexierend zwischen Nacktheit und sie verdeckender, überlagernder oder transformierender Bildhaftigkeit. Sich Kunst und damit Kultur auf die blanke Haut prägen zu lassen, wird auch weiterhin seine Anhänger und aficionados finden, ebenso wie seine Gegner. Das spricht für den besonderen Reiz (in all seiner Doppelbödigkeit), den ein Hautbild ausübt. Ist es, weil damit der Kaiser nie wirklich komplett ohne dasteht?

64 Vgl. Delio, S. 17 respektive Fotos in ihrem Bildband.

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Tätowierung: Kannon.

Abb. 3

Tätowierung: Kintaro.

Abb. 4

Tätowierung: Kintaro.

V. Die Sprache der Enthüllung(en) Divested Interests Ökonomie der Entblößung in Arthur Schnitzlers "Fräulein Else" und Marina Abramovic' "Freeing the Body"

Gabriele Brandstetter

Zur abendländischen Kulturgeschichte der Sexualität gehört auch eine Geschichte der Nacktheit und der durch das Zeigen des nackten Körpers provozierten Tabuverletzungen. Die Inszenierung des nackten weiblichen Körpers berührt in der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts (immer noch) die Grenzen der bürgerlichen Moral, auch wenn Lockerungen des viktorianischen Korsetts (im buchstäblichen und im übertragenen Sinn) auszumachen sind. Und gerade diese Lockerungen und Verschiebungen im Diskurs der Sexualität, die nicht zuletzt durch das Bekanntwerden der Hysteriestudien Charcots und der Texte Freuds erkennbar wurden, führten zu Überschreitungsphantasmen, die das Bildfeld in der Kultur und den Künsten, - das "Imaginäre des Fin de siècle"1 - in auffalliger Weise markieren. Arthur Schnitzlers Texte befassen sich fast ausnahmslos mit Überschreitungsszenarien in der Gesellschaft der Jahrhundertwende. Seine Monolognovelle "Fräulein Else", 1924 erschienen, aber in der 1

Vgl. die Beiträge in Lubkoll, Christine (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle. (Festschrift für Gerhard Neumann). Freiburg im Breisgau 2001 (im Druck).

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Gabriele Brandstetter

Zeit vor dem ersten Weltkrieg situiert, hat eine Inszenierung von Nacktheit als Grenzüberschreitung und Akt einer Vergeudung zum Thema. Dabei halten sich auf intrikate Weise die Grenzen und Verbote, die durch den sozialen Status, die Normen und Rituale der Ehre, des Geldes und der Ehe gesetzt sind, die Waage mit den Überschreitungsimpulsen einer erotisierten Gesellschaft, die den Seitensprung, den Maskenball, das Spiel im Casino, die Sommerfrische und die Kunst als jene Bühnen betrachtet, auf denen sich die Grenzen verleugnen, verschieben und schließlich auch übertreten lassen. In einem solchen Kontext wird eine "Große Szene"2 wie jene karnevaleske Inszenierung der Nacktheit Fräulein Elses, die zunächst in einem diffizilen Netz von ökonomischen Interessen verhandelt wird, zu einer Geste der Vergeudung und der Überschreitung. Akte der Transgression, so scheint mir, lassen sich freilich nicht unabhängig von den Fragen betrachten, die das Problem der Darstellung und der Darstellbarkeit von Übertretung aufwirft. Nicht nur für die Philosophie - wie Foucault gezeigt hat - , sondern auch für die Künste ist das Thema der Transgression unlösbar mit der Frage nach der Darstellbarkeit verbunden. Der Exzeß der (sexuellen) Übertretung impliziere, so argumentiert Foucault mit de Sade und Bataille, vor allem eines: "daß wir dadurch an die Grenzen jedes möglichen Sprechens geraten."3 Umgekehrt müsse die "Sprache erst noch entstehen, in der die Übertretung ihren Platz und ihr erleuchtetes Sein finden könnte."4 Man könnte sich hier freilich fragen, ob es eine 'Sprache der Transgression1 je geben kann. Ob nicht vielmehr die Suche nach einer Sprache oder Darstellungsform des Transgressiven, die per definitionem über die Grenzen konventionalisierter Darstellungsmuster hinausreichen will, selbst zum Prozeß der Überschreitung gehört. Wo immer sich eine Art symbolischer Verfassung - die jeweiligen Künste betreffend - vorfindet, die die Darstellung von Übertretung schon impliziert und als Form reguliert (wie dies z.B. in der antiken Tragödie, oder in der Performance und Aktionskunst der Fall ist), ruft sie zugleich auch jene Figur der Ent2 3 4

Nach dem Titel des Schnitzlerschen Einakters aus dem Zyklus "Komödie der Worte". Foucault, Michel: Zum Begriff der Übertretung. In: ders.: Schriften zur Literatur. München 1974, S. 69-89, hier S. 73. Ebd.

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grenzung herauf, die nicht nur auf die Darstellung des Transgressiven zielt, sondern zugleich die Transgression von Darstellung betreibt. In der Geschichte der Tragödie geschieht dies beispielsweise in Heinrich von Kleists "Penthesilea": einem Drama, das nicht nur einen Exzeß des transgressiven Eros zwischen Ordnung und Gewalt inszeniert, sondern durch die Form der Darstellung zugleich auch eine Überschreitung des (antiken) Tragödienmusters ins Werk setzt.5 Für das novellistische Erzählen läßt sich ein solches Darstellungsexperiment an Schnitzlers "Fräulein Else" beobachten. Auch hier handelt es sich um den Versuch, die Form der Darstellung von Transgression - in diesem Fall die Narrativik - an eine Grenze zu treiben: an einen Punkt, an dem nicht nur die Darstellbarkeit eines Überschreitungsgeschehens, sondern auch dessen Erzählbarkeit selbst in Frage steht. Schnitzler experimentiert hier mit der Erzählform des inneren Monologs, den er in einer raffinierten, auch drucktechnisch markierten Schattierung von Innen und Außen an der Grenze der subjektiven Wahrnehmung spielen läßt, um so das Problem der Darstellbarkeit von Überschreitung selbst als einen Akt des Transgressiven zu inszenieren. Damit aber erscheint die Darstellung von Transgression an Fragen der (erzähltechnischen) Perspektivierung und im weiteren Sinn an Rahmungen gebunden. Vielleicht ist es in besonderer und ausgezeichneter Weise der Körper und seine Materialität, der - wiewohl in einem unausgesetzten Prozeß des "ReMembering"6 diskursiviert - immer wieder jene Prozesse in Gang setzt und in sie involviert ist, die als Transgression wahrnehmbar werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es in der Kunst des 20. Jahrhunderts die Performance7, die Grenzüberschreitungen unterschiedlichster Art in Szene setzt, - in der Body Art 5

Vgl. Brandstetter, Gabriele: "Penthesilea": "Das Wort des Greuelrätsels". Die Tragödie der Überschreitung. In: Kleists Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75-116.

6

Z u r Frage der Darstellbarkeit des Körpers im doppelten Prozeß seines " R e M e m bering" (als Gedächtnis und als Zusammenfiihrung des j e schon Fragmentierten) vgl. Brandstetter, Gabriele / Völckers, Hortensia (Hg.): R e M e m b e r i n g the Body. Körper-Bilder in Bewegung, (mit einem Bildessay von Bruce Mau). Ostfildern 2000.

7

Vgl. zum T h e m a Grenzüberschreitungen zwischen theatralen und anderen Künsten: Brandstetter, G. / Finter, H. / Wessendorf, M. (Hg.): Grenzgänge. Theater und die anderen Künste. Tübingen 1998.

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ebenso wie in den Selbstverletzungen der Wiener Aktionskünstler Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus. In diesen Kontext fallen auch - mit einem deutlich politischen Akzent - die Performances von Marina Abramovic. Eine ihrer Aktionen, die eine Erkundung der Grenzen des Körpers - als eine Verausgabungsperformance - in Szene setzt, trägt den Titel "Freeing the Body". Sie wird in den folgenden Überlegungen als ein Gegenkonzept der Nacktheitsdarstellung Schnitzlers Erzählung gegenübergestellt. Zunächst aber soll - als Ausgangsbild - eine Urszene der (Re)Präsentation weiblicher Nacktheit vorgestellt werden, in der der entblößte Körper zum Argument wird für die Transgression der Rechts-Ordnung, des politisch-religiösen 'Haushalts' und der 'Verfassung' der Rhetorik.

Phryne - Rhetorik und korporale Evidenz Phryne, die berühmte Hetäre, soll - so ist es überliefert - die Richter von der Wahrheit ihrer Unschuld überzeugt haben, allein durch die Enthüllung ihres nackten Körpers. Der Mythos Phrynes stellt eine Urszene vor, in der die Schönheit (man könnte auch sagen: die ästhetische Inszenierung) des weiblichen Körpers als Evidenz der nackten Wahrheit auftritt und Recht erhält. Dabei waren es, der Überlieferung zufolge, drei Züge ihrer Erscheinung, die die Legende der Hetäre Phryne begründeten: ihre sagenhafte Schönheit, die - wie es heißt - keiner Schminke bedurfte.8 Sodann ihre sagenhafte Verborgenheit. Phryne zeigte sich, wie es heißt, niemals in öffentlichen Bädern; somit wahrte sie das Geheimnis ihres begehrten Körpers, indem sie sich nicht öffentlich entblößte; und schließlich beruhte ihr Nimbus auch auf ihrem sagenhaften Reichtum, denn ihre Gunst hatte einen hohen Preis. So zeigte sich ihre Attitüde des Luxus und der Verschwendung beispielsweise in ihrem Angebot, Theben wieder aufzubauen, wenn man bereit sei,

8

Vgl. die Angaben in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, hrsg, v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. München 1979, Bd. 4, S. 826.

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eine Inschrift anzubringen, die lauten sollte: "Alexander hat es zerstört, aufgebaut Phryne, die Hetäre."9 Im wesentlichen sind es diese drei Momente, die Phrynes Aura zu einer Legende werden ließen: ihre Schönheit (als Aura der vollkommenen Natur); das Geheimnis ihrer Körpererscheinung; und die Aura der Vergeudung, die sich im Goldwert ihrer Hetärenexistenz mißt. Dieser dreifach codierte Status ihres Körpers definiert den Kontext und den Rahmen jener 'großen Szene', die in die Ikonographie einer Kultur- und Kunstgeschichte der Nackheit bzw. der Entblößung eingegangen ist: Phryne vor den Richtern. Der Überlieferung zufolge war sie der Asebie, der Gotteslästerung, angeklagt. In einer berühmten (nicht erhaltenen) Verteidigungsrede entblößte Hyperides ihre Brust vor den Richtern10 und erreichte ihren Freispruch.11 Phryne vor den Richtern: Die Enthüllung des Körpers (denn in der folgenden Darstellungsgeschichte ist es nicht mehr nur die Brust) wird zum entscheidenden Argument ihrer Verteidigung. Die nackte Schönheit des Körpers inkorporiert die Evidenz der nackten Wahrheit - als unhintergehbare Epiphanie der Unschuld. Freilich: die Szene spielt im Gerichtssaal und nicht im Theater; und der Körper wird zum Begleiter der Rede. Wäre die Geste der Enthüllung dann (nur) ein Element der rhetorischen actio? Wäre die Nacktheit Phrynes ein letztes und ausdrucksstärkstes exemplum in der Beweisführung der argumentatio? Eine demonstratio, die der Rede Evidenz verleiht? Oder ereignet sich hier - so könnte man sich fragen - in dieser Körperinszenierung eine Transgression der Regeln und des 9 Ebd. 10 Die Verhandlung fand vor den sogenannten Heliasten, einem Bürgertribunal, statt: im Freien, vor aufgehender Sonne. - In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich auf die Ikonographie der "nackten Wahrheit" hinzuweisen; z.B. LouisFrançois Mariages Darstellung nach Alexandre-Évariste Fragonard: "Vérité", 1794; ein Kupferstich, der die Wahrheit darstellt: sitzend hebt sie das hüllende Tuch über sich hinweg und zeigt sich - statuarisch - nackt. Vgl. dazu den Kontext der "Embleme der Vernunft" (1789) von Jean Starobinski, (München 1988); die Ikonographie der französischen National-Allegorie "Marianne", etwa in der berühmten Darstellung von Eugène Delacroix: "Die Freiheit führt das Volk an" (1830), mit entblößten Brüsten, wehenden Kleidern - eine Pathosformel in / als Bewegung. 11 Kleiner Pauly, 826.

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Rituals der Gerichtsrede? Ist der nackte Körper dann nicht mehr und anderes als ein Beweisstück in der rhetorischen Argumentation? Ist er nicht vielmehr das ganz Andere der geschmückten Rede? Das Andere, das an jenem Punkt ein-tritt, auf-tritt, da die Sprache (d.h. die Logik sprachlicher Repräsentation) versagt? Stellt die Schönheit als Nacktheit erst die Evidenz her, indem sie - im Gestus der Überzeugung - korporal, buchstäblich vor Augen stellt, was (anders) nicht zu beweisen ist: Wahrheit oder Lüge; Schuld oder Unschuld? Dann wäre Phryne in der Tat die Gründungsfigur für einen Mythos der Kulturgeschichte, in der der nackte weibliche Körper zum 'realen', zum fleischgewordenen Topos avanciert: als Inkarnation von Evidenz, der Erscheinung (im Sinne von 'apparition') der nackten Wahrheit.12 Und dies eben durch das Paradox, daß die Schönheit des nackten Körpers keine andere Evidenz hat, als die ihrer selbst. (Abb. I)' 3 Géròmes Gemälde wurde 1861 im Salon ausgestellt und traf wegen seiner frivolen Darstellung - auf kontroverse Meinungen. Einesteils wurde das Bild zu einem großen Publikumserfolg - eben wegen seiner Nackheitspräsentation; durch den ins Licht gesetzten weiblichen Körper, die inszenierte Schamgebärde, die statuarische Pose, die - in leichter Körperdrehung zum Betrachter - diesen in das richterliche Tribunal einschließt. Anderenteils erfuhr das Gemälde Géròmes vehemente Ablehnung durch die klassizistische Kunstkritik mit der Begründung, die Darstellung sei ein Sakrileg der Antikenrezeption. Bemerkenswert an dieser vielleicht berühmtesten Darstellung der Phryne ist die malerische Inszenierung der Nacktheit. Sie zeigt den Moment der Enthüllung als eine eminent theatralisierte Darbietung. Der Augenblick der Epiphanie wird durch die Licht-Schatten12 Auch diese Figur ließe sich immer noch im geschlossenen System der Rhetorik verstehen; dann nämlich, wenn man auch die korporale 'demonstratio' (z.B. einer Phryne) als Topos einreiht in die Reihe jener 'loci', aus denen der Redner seine Argumentation zusammenstellt; im Fall der Gerichtsrede des Hyperides etwa aus Fundorten, die sich aus der Person ergeben (loci a persona) - wie "sexus" und "habitus corporis"; und zuletzt wird j a besonders das Argument der aus der Sache sich herleitenden Ähnlichkeit (loci a simili), die Analogie also von nacktem Körper und nackter Wahrheit, zum Hauptbeweis der Verteidigungsrede. 13 Vgl. Hofmann, Werner (Hg.): Eva und die Zukunft. Das Bild der Frau seit der französischen Revolution. (Katalog). München 1986, S. 109.

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Teilung des Raums und die Farbverteilung ins Bild gesetzt - die scharlachroten Roben der Richter, der blaue Umhang Phrynes (zugleich eine 'Übertragung' aus der Ikonographie der Mariendarstellung); und schließlich die makellose weiße Gestalt der nackten Phryne, die ihr Gesicht verdeckt und damit den Blick umso mehr auf den Körper lenkt. Das Vorbild dieser Pose findet sich in einem AktPhoto Nadars;14 (siehe Abb. 2). Die überraschende Gebärde der Enthüllung - sichtbar im Faltenwurf des wehenden Umhangs nach Art einer Öffnung des 'Bühnenvorhangs' - ist zugleich auch ein Akt der Verhüllung: der Ankläger in diesem Prozeß, Euthias, wird im Hintergrund durch das Gewand Phrynes beinahe verdeckt. Damit aber ist der Augenblick der Enthüllung selbst als ein Akt der Überzeugung durch die nackte Schönheit oder die Schönheit der Nacktheit in Szene gesetzt. Die Bühne dieses Gerichts-Theaters enthält zudem eine weitere Achse der Blick-Konstruktion, nämlich die Kon-Figuration der nackten Phryne mit der Statue der geharnischten Athene, die genau auf der Höhe der Scham der entkleideten Angeklagten gegenübergestellt ist. Damit ist ein anderer semantischer Raum der Inszenierung von Nacktheit einbezogen; nämlich in der Gegenübersetzung von Dionysischem und Apollinischem; Phryne verkörpert die rauschhafte dionysische (transgressive) Nacktheit (sie ist nämlich der Gottesläst- erung deshalb angeklagt, weil sie als 'nackte Göttin' bei den Mysterienspielen in Eleusis aufgetreten sei); und ihr gegenüber steht die geharnischte Athene als Verkörperung des apollinischen Prinzips der athenischen Ordnung der Polis und ihres Rechts. Vor dem Hintergrund dieser Begründungsszene der 'nackten Wahrheit' eröffnet sich in der Darstellungstradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein kompliziertes Spiel von Ver- und Enthüllung und zwar als Szene divergierender Interessen: zum einen die Interessen des Rechts und der (bürgerlichen) Ordnung; zum anderen die Interessen einer Ökonomie des Kapitals, des sozialen Status und des sexuellen (Aus)Tauschs zwischen Mann und Frau. Geröme hat in einem späteren Gemälde mit dem Titel "Sklavenmarkt" (1881; Abb. 3) das Sujet noch einmal aufgenommen. Dort bedient er sich der analogen Pathosformel, die er für Phryne im Gerichtssaal verwendet hatte

14 Vgl. das Aktphoto von Nadar: "Musette" (Christine Roux), 1835; in: Eva und die Zukunft, ebd.

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(und wieder unter Rückgriff auf das Foto-Modell Nadars), nunmehr aber für einen anderen kulturellen Kontext: den der Ökonomie. Anstelle des Gerichtssaals bildet nun der Markt das Forum der Ausstellung des nackten weiblichen Körpers. Damit verknüpfen sich schließlich auch die Interessen der Kunst und des Kunstmarkts. Es sind - mit einem Ausdruck, den ich von Marjorie Garber entlehne "vested interests"15, die die Inszenierungen von Nacktheit im kulturellen Feld von ökonomischen, juristischen und sexuellen Transaktionen und ihren (In-)Korporationen regulieren. Dies zeigt die Szene "Phryne vor den Richtern". Und umgekehrt, wie abermals diese Szene zeigt, setzen auch und gerade die Prozeduren eines "divestments" (in der Bedeutung von De-vestitur, Entblößung und auch Entzug von Befugnissen) wiederum einen Zirkel von Einkleidung (investitur) und Aneignung, von Begehrenstausch und Machtgewinn in Gang. Dabei geht es zuletzt auch nicht nur um die Darstellung des weiblichen Körpers (obwohl das Thema "Nacktheit" in der abendländischen Bildgeschichte überwiegend die Inszenierung weiblicher Nacktheit meint), sondern um die Bedingungen der Repräsentanz von Körper(n) in einem weiteren Sinn. Die Dialektik von Entkleidung und Verhüllung folgt einer komplexen Ökonomie, deren Wertsetzungen nicht klar in einer Rechnung von Gewinn und Verlust aufgehen, weil sie zwischen Ethik, Erotik und Markt angesiedelt sind. Der damit einhergehende 'Verkehr' von verkleideten und entblößten, von maskierten und demaskierten Interessen bewegt sich vielmehr auf unterschiedlichen, sich kreuzenden Ebenen - und zuletzt (und darin besteht immer noch das Interesse der Kunst) eben auch an den Grenzen des Verrechenbaren und Darstellbaren. Oder, wie Roland Barthes das Transgressive des Körpers, jenseits der Grenzen von Verrechenbarkeit und Tausch, beschreibt: Mit anderen Worten, der Körper ragt immer über den Tausch hinaus, in den er einbezogen ist: Kein Handel auf der Welt, keine politische Tu-

15 Vgl. Garber, Marjorie: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main 1993; (englischer Titel: Vested Interests. Cross-Dressing & Cultural Anxiety, New York 1992).

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gend kann den Körper aufzehren: es gibt immer einen äußersten Punkt, an dem er sich umsonst vergibt. 16

Fräulein Else - Nackheitsinszenierung als Verschwendung Um dies näher zu betrachten, wenden wir uns nun von der mythischen Begründungs-Szene der Evidenz der Nacktheit - von "Phryne" - zu einer bürgerlichen Szene im Wien der Jahrhundertwende; von Phryne also zu "Fräulein Else". Und damit ändert sich auch die Bühne der Körperinszenierung: vom Gerichtssaal zum 'Bewußtseinszimmer' (nach einem Ausdruck Friedrich Nietzsches); von der Rhetorik zum inneren Monolog, durch den in Schnitzlers Novelle eben jene Evidenz der Enthüllung und der damit verknüpften Interessen perspektiviert und vorgeführt wird, die in der antiken Szene noch als Effekt der Rhetorik erschien. Die Geschichte spielt am 3. September17, in den Stunden zwischen dem Spätnachmittag und dem Augenblick nach dem Diner, in San Martino in Südtirol. Else, die 19-jährige Tochter eines Wiener Rechtsanwalts, verbringt hier auf Einladung ihrer Tante die Ferien. Sie erhält einen (telephonisch schon angekündigten) Expreßbrief ihrer Mutter mit der Nachricht, daß dem Vater die Inhaftierung drohe wegen Veruntreuung von Mündelgeldern, die er zur Begleichung seiner Verluste durch Börsenspekulation und seiner Spielschulden verwendet hat. Es besteht die Möglichkeit, dieses Unglück abzuwenden, wenn die Summe von 30000 Gulden innerhalb von zwei Tagen aufgebracht wird. Die Mutter bittet Else, diese Summe bei dem Kunsthändler Dorsday, der im gleichen Hotel weilt, zu 'leihen'. Else, wenngleich höchst ambivalent gegenüber diesem Auftrag, "den Papa

16 Barthes, Roland: Cy Twombly oder Non multa sed multum. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays, Bd. III, Frankfurt/Main 1990, S. 178. 17 Vgl. Schnitzler, Arthur: Fräulein Else, in ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das erzählerische Werk, Bd. 5, Frankfurt/Main 1978, S. 209-266. - Seitenangaben der Zitate im folgenden im Text. Schnitzlers Novelle ist 1923/24 entstanden; sie spielt jedoch zur Zeit der Jahrhundertwende.

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zu retten" (217), ringt sich dazu durch, Dorsday als Bittstellerin aufzusuchen. Die Situation ist von Anfang an als sexuelles Machtspiel grundiert. Dorsday verspricht schließlich das Darlehen unter der Bedingung, daß Else sich ihm nackt zeige. Diese, im Konflikt zwischen Verweigerung und Akzeptanz dieses "Vertrags", entscheidet sich zuletzt für eine Form der Körper-Präsentation, die Dorsdays Bedingung zugleich erfüllt und sie doch auch und vor allem unterläuft: Nur in einen langen schwarzen Mantel gehüllt betritt sie nach dem Diner das Musikzimmer und zeigt sich den Gästen (darunter Dorsday). Sie wirft den Mantel ab, steht nackt da, und bricht daraufhin ohnmächtig zusammen. Wieder in ihrem Zimmer, trinkt sie in einem unbeobachteten Moment das Glas aus, in dem sie schon vor ihrer 'Enthüllung' eine Überdosis Veronal aufgelöst hatte. "Fräulein Else", ihre Nacktheit: ein Striptease?18 Nein. Auch wenn die gesamte Geschichte durchzogen ist von imaginären Nacktheits- und Entkleidungsszenen, die sich allesamt, als Serie klischeehafter Situationen, auf der Bühne von Elses Phantasien abspielen. Es lohnt sich, zunächst einen Blick auf diese Enthüllungsimaginationen zu werfen, die - als erotische Phantasien - schon präsent sind, bevor die Entkleidungs-Erpressung durch den Handel mit Dorsday einen Wandel in der Begehrensdynamik herbeiführt. Nacktheit als Form der erotischen Selbstinszenierung und des Selbstgenusses 'in Schönheit' ist ein wiederkehrendes, variiertes Motiv auf der Gedankenbühne Elses. "Villa an der Riviera. Marmorstufen ins Meer. Ich liege nackt auf dem Marmor." (209)19 18 Als Striptease ist die Enthüllung Elses in der Sekundärliteratur wiederholt interpretiert worden; zuletzt bei Matthias, Bettina: Masken des Lebens - Gesichter des Todes. Zum Verhältnis von Tod und Darstellung im erzählerischen Werk Arthur Schnitzlers. Würzburg 1999, Kap. III: Wenn Worte töten können - "Fräulein Else", S. 139-170, hier S. 162. 19 Im Text finden sich weitere Variationen dieser Szene, etwa: "Oder ich wohnte in einer Villa am Meer, und wir lägen auf den Marmorstufen, die ins Wasser führen, und er hielte mich fest in seinen Armen und bisse mich in die Lippen, wie es Albert vor zwei Jahren getan hat beim Klavier, der unverschämte Kerl. Nein. Allein möchte ich am Meer liegen auf den Marmorstufen und warten. Und endlich käme Einer oder mehrere, und ich hätte die Wahl und die Andern, die ich verschmähe, die stürzen sich aus Verzweiflung alle ins Meer. Oder sie müßten Geduld haben bis zum nächsten Tag. Ach, was wäre das für ein köstliches Leben. Wozu habe ich denn meine schönen Schultern und meine schönen schlanken Beine? Und wozu bin ich denn überhaupt auf der Welt?" (S. 240) und: "Wenn ich meine Villa

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Auffallend ist bei allen diesen Entblößungsphantasmen die Konstitution des Blicks auf den eigenen Körper. Die Szene wird durch einen doppelten Blick errichtet: die Nacktheit - wie mit der Kamera als eine Art 'seif monitoring1 - scheint im Fadenkreuz eines zugleich weiblich narzißtischen und eines (antizipierten) männlich voyeuristischen Blicks20, in einer unauflösbaren Verwebung von eigenem Sehen und Sehen des Anderen. Und dieser Blick richtet sich gleichzeitig aus der Nähe und aus der Ferne auf den ausgestellten Körper: als Blick in den Spiegel - bis hin zur (als Todeszeichen erscheinenden) Verschmelzung mit dem eigenen Spiegelbild: "Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Ach kommen Sie doch näher, schönes Fräulein. Ich will ihre blutroten Lippen küssen. Ich will ihre Brüste an meine Brüste pressen. Wie schade, daß das Glas zwischen uns ist, das kalte Glas [...]"21 und als Blick aus der Ferne - "Fenster zu. Vorhang herunter? - Überflüssig. Steht keiner auf dem Berg drüben mit dem Fernrohr. Schade." (219) Im Spiegel- und Fensterrahmen präsentiert sich Elses nackter Körper als Bild; als Akt-Bild. "Schön, schön bin ich! Schau' mich an, Nacht! Berge schaut mich an! Himmel schau mich an, wie schön ich bin. Aber ihr seid ja blind." (250) Sie setzt an die Stelle des begehrenden Blicks des Anderen probehalber den blinden Blick, - als interesselose Ansicht der Natur22, in

am italienischen See haben werde, dann werde ich in meinem Park immer nackt herumspazieren [...]." (S. 251). 20 Zur Konstitution des weiblichen Blicks auf den weiblichen Körper als "male gaze" - im Sinne der Theorie von Berger, John / de Lauretis, Teresa / Mulvey, Laura u.a. - vgl. die Interpretation von Bronfen, Elisabeth: Over her dead body. Death, femininity and the aesthetic. Manchester University Press 1992, S. 281289. 21

Die Anspielung "Ich will deine roten Lippen küssen" (die noch ein weiteres Mal von Else verwendet wird), ist ein - freilich zum erotischen Allerweltsklischee verblaßtes - Zitat von Oskar Wildes (und Richard Strauss') "Salome". Überhaupt wäre hier und an anderen Stellen das Opernhafte der Selbstimaginationen Elses hervorzuheben. - Vgl. dazu den Nachweis der zahlreichen Literatur- und Theaterzitate des Textes bei Aumhammer, Achim: Selig, wer in Träumen stirbt. Das literarisierte Leben und Sterben von "Fräulein Else". In: Euphorion 77 / 4. 1983, S. 500-510.

22 Die imaginierte Szene der Natur, die Elses Nacktheit anblickt und doch blind für ihre Schönheit ist, könnte eine Anspielung auf jene Szene aus Goethes "Wahlverwandtschaften" sein, in der Ottilie - entblößt und in höchster Not, im Kahn mit

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der sie ja selbst zum Andachtsbild werden soll. Den Posen aber, die ihre Nacktheit inszenieren, ist stets schon der Blick des Anderen einbeschrieben. Und so wird der enthüllte Körper selbst, zwischen Natur und Kultur, zum Schauplatz für eine Serie von Selbstentwürfen, die sich an jenen Mustern begehrenswerter Weiblichkeit orientieren23, die das Archiv der Kunst- und Kulturgeschichte bereithält: Geliebte statt Ehefrau zu sein, und lieber noch ein "Luder", eine "Kanaille" (250), "schamlos" - als Schauspielerin und 'femme fatale'. Man könnte sagen, Elses Mimesis von Versatzstücken literarischer, kunstgeschichtlicher und theatralischer Weiblichkeitsikonographie ist Ausdruck eines 'erotischen Historismus'24. Die Begehrensdynamik, die diese Selbstimaginationen reguliert, folgt dabei einfachen ökonomischen Prinzipien des Tauschs von erotischen Werten - eine Denkfigur, die übrigens bis in die Metaphorik sexueller Attraktion und Aggression reicht. So sagt Else über das 'Unternehmertum' ihres Cousins Paul: Vorgestern im Wald, wie wir so weit voraus waren, hätt' er schon etwas unternehmender sein dürfen. Aber dann wäre es ihm übel ergangen. Wirklich unternehmend war eigentlich mir gegenüber noch niemand. Höchstens am Wörthersee vor drei Jahren im Bad. Unternehmend? Nein, unanständig war er ganz einfach. Aber schön. Apoll vom Belvedere. (213) Die Analogie von Begehrensdynamik und sozialer Ökonomie, von Triebregulierung und Kapitalanlage prägt die wissenschaftlichen und die ästhetischen Diskurse der Kultur um die Jahrhundertwende. In seiner "Philosophie des Geldes" beschreibt Georg Simmel die Komplexität der sozialen Welt als ein Geflecht ökonomischer Transaktionen, die die individuellen und gesellschaftlichen Wertungen prägen. Und Sigmund Freud schließlich, der den Begriff der "Glücksökonomie" für die kulturellen Umgestaltungen der Libido fand, fuhrt immer wieder Analogien aus dem Denkhorizont der Ökonomie ein; dem ertrunkenen Kind an der Brust - zum Anblick allein einer unbewegten Natur wird. 23 Vgl. S. 213. 24 Den Begriff entlehne ich von Albrecht Koschorke: Blick und Macht. Das Imaginäre der Geschlechter im 19. Jahrhundert und bei Arthur Schnitzler. In: Lubkoll, Christine (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle.

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beispielsweise auch den Begriff des "Unternehmertums" für den Zusammenhang von Traum und Wunscherfullung: Für das Verhältnis der Tagesreste zu dem unbewußten Wunsch habe ich mich eines Vergleichs bedient, den ich hier nur wiederholen kann. Bei jeder Unternehmung bedarf es eines Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und eines Unternehmers, der die Idee hat und sie auszuführen versteht. Die Rolle des Kapitalisten spielt für die Traumbildung immer der unbewußte Wunsch; er gibt die psychische Energie für die Traumbildung ab; der Unternehmer ist der Tagesrest, der über die Verwendung des Aufwandes entscheidet.25 In Schnitzlers Text entsteht mit dem Brief der Mutter und der Unterredung Elses mit Dorsday eine Zäsur in der Begehrensökonomie der Geschichte: die zunächst noch spielerischen Entblößungsphantasien Elses treten nun in ein Stadium konkreter Verhandlungen um den Preis der Nacktheit. Immer noch - und hier auch ganz konkret - wird also ein Spiel der "Negotiationen' an der Grenze der üblichen gesellschaftlichen Normen und Werte gespielt; ein Vorgang, dessen Liminalität von beiden Verhandlungspartnern ausgekostet wird, ohne daß freilich eine Übertretung (schon) in Betracht gezogen ist. Wirtschaftliche und sexuelle Interessen stehen nun unverhüllt einander gegenüber, in einem ungleichen Spiel der Macht. Dies zeigt sich schon in der Körperdarstellung des Gesprächs von Else und Dorsday, in dessen Verlauf die Machtverhältnisse lesbar werden: durch eine genaue Regie der Ebenenwechsel von Sitzen und Stehen und durch eine diffizile Blickordnung. 26 Zunächst stehen beide, in tastender Konversation, vor dem Hotel. Als Else ihre Bitte um das Geld schließlich äußert, werden ihre Knie schwach, sie muß sich auf eine 25 Vgl. Freud, Sigmund: Der Traum: Die Wunscherfullung (1916). In: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge; Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt/Main 1969, S. 229. 26 Beispiele: "Warum schau' ich ihn so kokett an? Und schon lächelt er in der gewissen Weise. Nein, wie dumm die Männer sind" (225); "Er soll mich nicht so ansehen, es ist unanständig. Ich will anders zu ihm reden und nicht lächeln." (226f)."Wie sieht er mich denn an? Er soll achtgeben!!" (230). "Warum so nah, du Schuft? Riesengroß ist sein Gesicht [...] Bannt mich sein Blick? Wir schauen uns ins Auge wie Todfeinde." (231); auch die wechselnde Resonanz der Stimme wird zum Differenzsignal der Erotik, der Bedrängnis: "Wie seine Stimme klingt, ganz anders, merkwürdig. - " (228).

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Bank setzen. Dorsday, vor ihr stehend, seine Knie an sie pressend, dann gar einen Fuß auf die Bank neben sie setzend (228), unterstreicht seine Machtposition auch durch seine Posen. Das Blatt wendet sich in einem gleichsam retardierenden Moment dieses dramatischen Handels, als Else aufsteht, zum Abbruch der Aktion entschlossen. Dorsday bittet sie, zu bleiben. Else: "Aber ich setze mich nicht noch einmal nieder. Ich bleibe stehen, als wär' es nur für eine halbe Sekunde. Ich bin ein bißchen größer als er. - " (230) Dieser kleine Moment, in dem Else Überlegenheit und Kontrolle der Situation empfindet, kippt mit der Tauschforderung, die Dorsday nun als 'Bedingung' des Handels vorbringt: nacktes Fleisch gegen Geld. Dorsday freilich verpackt seine Bedingung in eine Rhetorik der erotischen Werbung: 'Hätte ich es vor einer Stunde für möglich gehalten, daß ich in einem solchen Falle überhaupt mir jemals einfallen lassen würde, eine Bedingung zu stellen? Und nun tue ich es doch. Ja, Else, man ist eben nur ein Mann, und es ist nicht meine Schuld, daß Sie so schön sind, Else.' - Was will er? Was will er? [...] 'Wissen Sie es denn nicht schon lange, Else.' Er soll meine Hand loslassen! Nun, Gott sei Dank, er läßt sie los. Nicht so nah, nicht so nah. - 'Sie müßten keine Frau sein, Else, wenn Sie es nicht gemerkt hätten. Je vous désire.' - Er hätte es auch deutsch sagen können, der Herr Vicomte. (230f)

Hier beginnt die Phase der Verhandlungen in einem eigentlichen, zugleich aber auch uneigentlichen Sinn. Else erkennt sofort, daß sie in einer unterlegenen Position ist, in der ihr Bedingungen diktiert werden. Die Entwicklung des Handels selbst freilich, das Verrechnen der Werte von Körper und abstrakten Geldsummen entfaltet allmählich eine eigene Dynamik. Es zeigt sich nämlich, daß diese Verhandlungen um den Marktwert des nackten Körpers - auf der Suche nach Referenzgrößen für phantasmatische Werte und symbolische Größen wie Schönheit, sexuelle Attraktion, Ehre und Kunst - die ganze Palette der Codierungen und der Machtdispositive von Beziehungsmustern zwischen Mann und Frau durchlaufen, die das 19. Jahrhundert bereitstellt. Was wird hier verhandelt, was soll getauscht werden - in dem Moment, in dem Dorsday die Begehrensformel als Preis ausgegeben hat? Sexualität gegen Geld? Das wäre Prostitution. Doch diese Situ-

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ation ist ja zunächst nicht gegeben, denn ein solches 'Angebot' existiert nicht. Zugleich wird Else aber in eben jenem Moment von der Unterhändlerin und Bittstellerin (im Namen des Vaters) zu einer 'Unternehmerin', die über die Wertsetzung ihres Körpers als sexueller Ware reflektiert. "Komische Gleichungen" (231), wie sie sagt, werden hier angestellt, über den Preis und Preisnachlaß von Beischlaf, Kuß oder Nacktansicht des Körpers: 'Verzeihen Sie mir, Else. Auch ich habe nur einen Scherz gemacht, geradeso wie Sie vorher mit der Million. Auch meine Forderung stelle ich nicht so hoch - als Sie gefürchtet haben, wie ich leider sagen muß, - so daß die geringere Sie vielleicht angenehm überraschen wird.' [...] Was wird er denn wollen statt der Million? Einen Kuß vielleicht? Darüber ließe sich reden. Eine Million zu dreißigtausend verhält sich wie - Komische Gleichungen gibt es. [...] (231)

Es folgt Dorsdays 'reduziertes' Handelsgebot: Else nackt sehen zu dürfen. Während die Bedingungen dieses "Vertrags" (wie Dorsday dieses Diktat nennt) und die Formen seiner Ausfuhrung verabredet werden, durchläuft diese 'Geschäftsbeziehung' zwischen Dorsday und Else nahezu alle Stationen einer Machtökonomie, die zwischen Mann und Frau, Gläubiger und Schuldnerin sich herzustellen vermögen: Leihverkehr (mit und ohne Garantien), Tausch, Kauf und schließlich Erpressung und Nötigung - oder aber: Geschenk! Else, erfüllt von Widerstand, versucht denn auch die Spielweite von Freiheit und ökonomischem Zwang sich wieder und wieder zurechtzulegen: Nein, nein. Ich will nicht. Zu jedem andern - aber nicht zu ihm [...] aber ich kann doch nicht jedem sagen, daß ich dreißigtausend Gulden dafür haben will! Da wär ich j a wie ein Frauenzimmer von der Kärtnerstraße. Nein, ich verkaufe mich nicht. Niemals [...] Ich schenke mich her [...] aber ich verkaufe mich nicht. Ein Luder will ich sein, aber keine Dirne. Sie haben sich verrechnet, Herr von Dorsday. Und der Papa auch. Ja, verrechnet hat er sich. (234)

Die Mathematik der Gleichungen - x für y - in der Verrechnung von Körper und Kapital wird freilich stets noch, und von beiden am Geschäft Beteiligten, mit anderen Werten und Größen unterlegt, deren Verrechnungsmaßstäbe nicht zu fassen sind; so, wenn Dorsday das

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Argument des (käuflichen) ästhetischen Genusses ins Spiel bringt, der die 'Verkäuferin' nicht "ärmer" mache 27 : "Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde dastehen zu dürfen in Andacht vor Ihrer Schönheit." (232) Damit wird das Signal gesetzt, daß es nicht um profanen sexuellen Besitz gehe, sondern um die Inszenierung von Idealisierung - ein Ikonen-Theater: Dorsday kauft sich, so könnte man sagen, einen Moment der Zelebration weiblicher Unerreichbarkeit. Und auch auf Elses Seite spielen verschiedenartige Begehren ineinander; neben der ihr aufgedrungenen Rolle einer Retterin der Familienehre, die sich für die Schulden des Vaters opfert, reserviert sie sich eigene Handelsmotive: die Sehnsucht nach freier Sexualität, die Lust an der Exhibition des eigenen Körpers, die Befreiung von den Fesseln der Familie, die Lust an Luxus. 28 Eine Schaltstelle der Machtbeziehung, die diese dubiosen Verhandlungen zwischen "Vertrag" (232) und Bündniszwang ansiedeln, ist jene Zusicherung der Diskretion, mit der Dorsday seine Interessen verhüllt: "Und daß es ein Geheimnis bleiben würde zwischen Ihnen und mir, das schwöre ich Ihnen, Else, bei - bei allen Reizen, durch deren Enthüllung Sie mich beglücken würden." (231) Gerade die Komplizenschaft, die durch dieses 'Angebot' einer 'Verhüllung der Enthüllung' konstruiert wird, zwingt Else in eine Position der Ohnmacht, in der sie nur mehr reagieren kann, da mit dem Mantel des Geheimnisses sowohl der soziale Ehrverlust des Vaters, als auch der sexuelle Ehrverlust der Tochter bedeckt werden soll. Diese asymmetrische Situation setzt den Rahmen für das folgende Geschehen. Und daß Else zuletzt genau an diesem Punkt die prekäre Diskretions-Versicherung (Versicherung im doppelten Wortsinn) aussetzt, und die Nackt-Performance aus der Heimlichkeit ei27 "Sie müssen fühlen, Else, daß meine Bitte keine Beleidigung bedeutet. Ja, 'Bitte' sage ich, wenn sie auch einer Erpressung zum Verzweifeln ähnlich sieht. Aber ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der mancherlei Erfahrungen gemacht hat, - unter andern die, daß alles auf der Welt seinen Preis hat und daß einer, der sein Geld verschenkt, wenn er in der Lage ist, einen Gegenwert dafür zu bekommen, ein ausgemachter Narr ist. Und - was ich mir diesmal kaufen will, Else, so viel es auch ist, Sie werden nicht ärmer dadurch, daß Sie es verkaufen." (231) 28 Else über Dorsday: "Papa ist gerettet. Er hätte ihm auch fünfzigtausend geliehen, und wir hätten uns allerlei anschaffen können. Ich hätte mir neue Hemden gekauft." (228).

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ner pseudoprivaten Körperpraktik in den öffentlichen Raum stellt, verkehrt wiederum die Positionen; ja, indem sie die Aktiva und Passiva (des Handels) dergestalt umpolt, durchkreuzt sie nicht nur Dorsdays Geschäftsbedingungen29, sie verschafft sich auch eine gewisse Souveränität des Handelns, die sie freilich mit dem Tod bezahlt. Der symbolische Tausch wird im Moment dieser Überschreitung, die eine Übertretung sozialer Normen und zugleich einen liminalen Akt der Selbstauslöschung darstellt, ausgesetzt. Die Bedingungen der Ökonomie sind damit entgrenzt in einem Gestus radikaler AnÖkonomie.

Nacktheit als Performance: zwischen Tableau und Tanz Vor dieser Verhandlungssituation ist es nun möglich, in einem zweiten Schritt die Körper-Präsentation als eine 'Performance' (in Text und Kontext der Jahrhundertwende) genauer zu betrachten und zwar unter Gesichtspunkten der Theatralität, der Rahmengebung und der damit verbundenen Blick-Konstitution. Dorsday läßt Else die Wahl zwischen zwei verschiedenen Szenarien, die zugleich unterschiedliche Bühnen für die Nackt-Darstellung öffnen: "Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde dastehen zu dürfen in Andacht vor Ihrer Schönheit." (232) Und diese Exhibition soll entweder im geschlossenen Raum, in Dorsdays Hotelzimmer, oder im Freien - auf einer "Lichtung im Walde" (232) stattfinden. Zum festen Setting gehört das exklusive Gegenüber von entbößtem weiblichen Körper und voyeuristischem Betrachter sowie der gegebene Zeitrahmen: nicht ein Augenblick, sondern ein 'Zeitfenster', das die (ästhetische) Kontemplation der Inszenierung zuläßt. Auffallend ist dabei, daß die Frage: Innenraum oder Außenraum; geschlossene Bühne oder freie Natur zum Inventar der Inszenierungstopoi von Nacktheit um die Jahrhundertwende gehört: Natur und Kultur, Unschuld oder erotische Raffinesse, Öffentlichkeit oder Privatheit des Körpers - diese Gegensätze zählen zu den Organisationsmustern der Präsentation von Nacktheit in den 29 "Wenn ich ihm nur irgendwie die Freude verderben könnte. Wenn noch einer dabei wäre? Warum nicht?" (242)

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Diskursen der Lebensreform und Freikörperkultur 30 , in den Debatten um den Nackttanz und die Nackt-Gymnastik; etwa in der (von Kurt Vanselow herausgegebenen) Zeitschrift "Die Schönheit".31 Selbstverständlich drehen sich die Fragen, auch und gerade wenn sie mit den Argumenten der Hygiene, der Körper-Pädagogik und des KunstDiskurses einhergehen, immer wieder um Tabu und Tabu-Bruch im Kontext der spätviktorianischen Moral. Und eben diese öffentlichen Debatten um 'natürliche Nacktheit' im Freien und um die künstlerische Bedeutung des nackttanzenden Körpers bezeichnen die Grenzen der lizensierten und der nach wie vor tabuisierten Nackt-Darstellung.32 Auch die Verhandlungen und Phantasmen in Schnitzlers Text thematisieren diese kulturhistorisch weitreichenden Um-Schreibungen einer dergestalt neuen, für die Moderne charakteristischen 'body awareness'. Dabei wird nicht nur die Differenz der Räume (innen oder außen; Natur oder Architektur) zum Kriterium für Nacktheitsinszenierungen, sondern auch die Differenz von 'still' und 'motion', oder anders ausgedrückt: von Bild und Tanz. Die Zeitlichkeit einer Inszenierung von Nacktheit bestimmt deren Semantik ebenso nachdrücklich wie die Räumlichkeit und die Rahmung. Und es läßt sich auch hier eine Zäsur in den Repräsentationsmodi feststellen: Waren es im 19. Jahrhundert überwiegend Tableaux33, die in der Stillstellung des teil30 Vgl. z.B. Andritzky, M. / Rautenberg, T. (Hg.): "Wir sind nackt und nennen uns Du". Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Geschichte der Freikörperkultur. Gießen 1989 und Spitzer, G.: Der deutsche Naturismus. Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik. Ahrensburg 1983 sowie Krebs, Diethart / Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880-1933. Wuppertal 1998. 31 Vgl. z.B. Suhr, Werner: Der nackte Tanz. Hamburg 1927; Winther, Fritz: Körperbildung als Kunst und Pflicht. München 1914. 32 Hier ist an die Skandale und Polizeirazzien in den Varietés der Jahrhundertwende zu erinnern, an die sogenannten "Schönheitsabende" einer Olga Desmond (die sich als nackte 'Plastik' inszenierte), und die Szenen der "wilden" 20er Jahre: die Auftritte Josephine Bakers und vor allem die berüchtigten "Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase" von Anita Berber. 33 Hier ist zu differenzieren: die Allegorien der Freiheit nach der Französischen Revolution sind 'bewegte' Nacktheits-Pathosformeln; dagegen erstarren die Idealisierungen im späteren 19. Jh. zum Bild, zum Nackt-Tableau: als Schaustellung und Inszenierung der Frau als Lebendes Bild, das aber gerade durch seine Unbeweg-

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weise oder ganz entblößten weiblichen Körpers diesen dem betrachtenden Blick präsentierten (etwa in der Weise, in der Gérôme Phryne als Statue inszeniert), so tritt um die Jahrhundertwende der nackte (und nicht nur der weibliche) Körper in Bewegung in Szene. Auch und gerade in der Szene des sogenannten neuen, 'freien Tanzes' gibt es Arrangements der Entblößung, die zwischen künstlerischer Tanzreform einerseits und exotisch camoufliertem Striptease andererseits changieren. 34 Insofern bewegt sich die Nacktheits-Inszenierung, die Dorsday sich 'bestellt', genau auf der Grenze dieser Körper-Darstellungs-Paradigmen des Fin de siècle. Denn er begehrt Elses Enthüllung als 'Bild' - als stille Szene. Der 'Kunsthändler' Dorsday also kauft sich diese Szene exklusiv als Akt-Bild; ein Tableau, von dem zwei Varianten zur Auswahl stehen - beide gleichsam aus dem Museum der Weiblichkeitsdarstellung des 19. Jahrhunderts. Dorsday läßt Else wählen: ob sie als 'Andachtsbild' - und damit zugleich als Allegorie (in) der Natur - in heller Sternennacht - erscheinen möchte; oder als weiblicher 'Akt im Schlafzimmer', wie aus der Schönheitsgalerie der Kunstgeschichte in die private Sammlung transferiert. Während Dorsday somit noch im Voyeurismus-Schema des 19. Jahrhunderts befangen ist35, wählt Else die 'Bewegungsdarstellung' für die Inszenierung von Nacktheit: zunächst in ihrer Phantasie der Szene auf der Lichtung - als Tanz 36 ; und zuletzt sodann in der lichkeit gekennzeichnet ist; die Still-Stellung und Ausstellung des weiblichen Körpers für den voyeuristischen Blick läßt sich gleichermaßen in der bildenden Kunst, in der neuen Freizügigkeit in Theater und Tanz (vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfürt/Main 1995) und in der Literatur beobachten (vgl. dazu Koschorke, Anm. 24) 34 Etwa die Auftritte von Mata Hari, Ruth St. Denis, Anita Berber u.a.; vgl. Ochaim, Brygida / Balk, Claudia: Variete-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. Frankfurt/Main/Basel 1998. 35 Zur Bedeutung des Voyeurismus und den Inszenierungsstrategien des Körpers im "Striptease" vgl. Öhlschläger, Claudia: Die unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i. Br. 1996, S. 136ff. 36 "Der Mond ist noch nicht da. Der geht erst zur Vorstellung auf, zur großen Vorstellung auf der Wiese, wenn Herr von Dorsday seine Sklavin nackt tanzen läßt." (240); vgl. dagegen aber ihre Visionen ihres (nackten) toten Körpers; ebd. - Diese Szenarien der Sterbe- und Selbstmordphantasien wären eigens noch einmal im Bild-Kontext des 19. Jahrhunderts und insbesondere im Blick auf die (sterbenden)

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"großen Vorstellung" vor Publikum. Diese Form der Theatralisierung, die Else mit der Formel vom "guten Abgang"37 schon ganz zu Beginn der Geschichte aufruft, verändert die Blickregie: Sie wechselt vom Akt zum 'actor', vom stillgestellten weiblichen NacktTableau als Objekt der Betrachtung zum Gegenüber von Akteur und Zuschauer. So geht also die Rechnung Dorsdays nicht auf. Else verkehrt die Prämissen des Geschäfts; denn ihre Entkleidung 'erfüllt' die Bedingung Dorsdays und 'durchkreuzt' sie zugleich, indem sie sich selbst das Signal zur öffentlichen Szene gibt - Vorhang auf: "Die Vorstellung kann beginnen " Der Weg über die Treppen - auch dies ein wesentliches Moment theatralisierter Körperdarstellung in Bild und Revue der Jahrhundertwende38 - in den Musiksaal geschieht zu MusikHeldinnen der Oper zu betrachten. - Zum Thema des Todes in Schnitzlers "Fräulein Else" vgl. die Dissertation von Bettina Matthias, in der die Todesphantasien in dieser Novelle detailliert untersucht werden; im Gegensatz zu Matthias' These, daß sich die Thematik des Todes in "Fräulein Else" "in den Text einschreib[e]" (ebd., S. 164), gehe ich davon aus, daß die Frage nach der (Un-) Darstellbarkeit des Todes und die Perspektivierung des Textes in eine paradoxe Beziehung gesetzt sind und daß eben diese 'Inszenierung' das transgressive Potential des Textes ausmacht. 37 Der Beginn der Monolognovelle impliziert in mehrfacher Schichtung der Bedeutung von Elses "gutem Abgang" bereits alle Inszenierungsebenen des Körpers: seine Verwicklung in soziale Spiele und das "Aus". Else entzieht sich mit dieser Formel der Rolle der 'Dritten' im Tennis-Spiel und im erotischen Spiel zwischen Paul und Cissy; sie probt ihre Selbstinszenierungen mit dem Blick auf Theatralisierungen des Lebens; und schließlich weist der "gute Abgang" (von der Bühne des Lebens) auch bereits und von Anfang an auf die Todesinszenierung Elses voraus. 38 Die Dynamisierung des Akts (im doppelten Wortsinn: von Aktbild und szenischer Einheit) wird zu einem wesentlichen Darstellungselement in den Bild-Künsten und im Theater/Cabaret der Jahrhundertwende: Die chronofotografischen Sequenzen aus E. Muybridges Serien der "Animal Locomotion" zeigen mehrfach Treppenszenarien des bewegten (nackten) Körpers; dies wiederum findet Parallelen in Akt-Darstellungen wie etwa Marcel Duchamps Gemälde "Akt, eine Treppe herabsteigend" (1912); und schließlich und vor allem im Tanz- und Revue-Kontext der Varietés der Jahrhundertwende und der 20er Jahre: hier werden die Treppenszenarien zur 'großen Szene' bis hin zu entsprechenden Tableaux der frühen Hollywood-Filme (etwa Busby Berkeleys): der große Auftritt der Diva, die Treppe herabsteigend. Vgl. dazu Jansen, Wolfgang: Glanzrevuen der Zwanziger Jahre. Berlin 1987; Klooss, Reinhard / Reuter, Thomas: Körperbilder. Menschenornamente in Revuetheater und Revuefilm, Frankfurt/Main 1980.

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begleitung: Robert Schumanns "Carnaval".39 In jenem Moment, in dem sie ihren Mantel abwirft und sich allen Anwesenden nackt zeigt, ertönt soeben jenes Stück aus Schumanns Komposition, das mit "Reconnaissance" überschrieben ist. Elses 'große Szene' trägt den Index der 'Erkennungs-Szene'. Wie Phryne wirft sie die Kleidung ab. Wie diese wird sie gesehen, indem ihr Gesicht verdeckt ist und dabei ihr eigener (Gegen)Blick nicht ankommt. Sie bewegt sich in Trance, sie sieht mit geschlossenen Augen: "Eyes wide shut" (mit dem Titel von Stanley Kubricks "Traumnovellen"-Verfilmung zu sprechen). Ein Bezug zu Schnitzlers "Traumnovelle" ließe sich hier - und nicht nur hier - herstellen.40 Welche Evidenz aber sollte Elses Nacktheit vor Augen führen? Ihre Entblößung ist eine ins Leere weisende Epiphanie: eine Manifestation des bloßen Körpers. Unter den Handelsbedingungen, die diese Performance hervorbrachten, entwickelt sich schließlich aber eine Körperinszenierung, die einer anderen Ökonomie gehorcht. Nicht Tausch, nicht Kauf, nicht die Gleichung von abstrakt definierten Verrechnungseinheiten, sondern ein Theater der Transgression. Die Gebärde der Entblößung, in der Rausch, Selbstgenuß und Verzweiflung sich überlagern, steht im Zeichen des Karnevals: zwischen Maskenball41 und Totentanz, zwischen Karnevalsscherz als "Cocquette" und rauschhafter Entgrenzung. Schumanns Komposition42 gibt den Ton an für eine Karnevalisierung die39 Zur Musik in Schnitzlers Novelle vgl. Eilert, Heide: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991, S. 322-335, hier: S. 330ff. 40 Z.B. im Hinblick auf die geschlechter-differente Präsentation von (Nackt-) Tableaux: So wird z.B. in der "Traumnovelle" der nackte Mann ("gekreuzigt") als 'still' im Traum Albertines phantasiert. 41 Vgl. dazu Eilert, Heike, die diese Regie des Schlusses von Schnitzlers "Fräulein Else" vor dem Hintergrund von Schumanns "Carnaval" genau rekonstruiert: "Mit der Einblendung von Schumanns Klavier-Zyklus entwickelt sich mithin parallel zu Elses Selbstinszenierung in ihrem großen 'Auftritt' der 'Maskenroman' des Carnaval als eine zweite Handlungsebene, auf der die Wunschträume und Fieberphantasien des jungen Mädchens in Maskenspiel und Karnevalsscherz überfuhrt erscheinen." (S. 334) - Hier wäre auch der Bezug zur "Traumnovelle" und zu anderen "Bacchanal"-Szenen (auch diese karnevalesk gebrochen), wie z.B. zu Schnitzlers Einakter "Das Bacchusfest", herzustellen. 42 Die Funktion von Schumanns "Carnaval" - auch und gerade als Komposition, die ihrerseits transgressive Muster enthält - bedürfte hier noch einer genaueren Betrachtung; siehe auch den Aufsatz von Lange-Kirchheim, Astrid: Adoleszenz,

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ser Darbietung, deren Skandal - öffentliche Entkleidung, hysterische Lachkrämpfe, körperlicher Zusammenbruch - eben die Geste vollständiger Verausgabung ist; nicht als professionelle Inszenierung einer vermarkteten Entkleidung als 'strip-tease', sondern als Überschreitung der Grenzen des noch Verrechenbaren. An diesem Punkt ließe sich auch am ehesten eine Verbindung zwischen Elses 'Opfer' und der 'Schuld' des Vaters herstellen: tritt sie doch mit dieser Szene einer Verschwendung, in der sie den Tausch überbietet und verspielt, in eine Art Stellvertretung zum Spiel-Exzeß des Vaters.43 Und damit gibt es in dieser Enthüllungs-Szene zuletzt so etwas wie eine paradoxe Wendung der Begehrens-Ökonomie. Der Skandal von Elses Auftritt verdeckt den Skandal der Deklassierung der Familie; ihre £?jihüllung ist eine Maskerade, ist die Inszenierung von 'verhüllten Interessen'. So besteht die Evidenz dieses (letzten) Entblößungs-Akts - paradox formuliert - gerade in seiner Verschleierungsfunktion; wodurch aber wiederum die verhüllten Begierden der Zuschauer-Gesellschaft des Wiener Salons enthüllt werden.44 Nacktheit, und diese nach wie vor und in erster Linie als Inszenierung des weiblichen Körpers, ist durch ihre Kontexte semantisch bestimmt: beispielsweise als ein Wert, der in Form von 'Recht' oder 'Kapital' oder 'Kunst' in-vestiert wird. Diese kulturelle Kleidung / InHysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzlers Novelle "Fräulein Else", in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 42. Jg, 1998, S. 265-301. 43 Im Blick auf Ökonomie und Sexualität, Schuld und Strafe wäre zu fragen, inwiefern Schnitzlers "Fräulein Else" nicht eine Vater-Tochter-Parallele erzählt zu den Vater-Sohn-Geschichten Franz Kafkas. 44 Vgl. Barthes, Roland: Strip-tease. In: ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1970, S. 70-72; Siehe auch R. Barthes' Beschreibung des Konnexes von Nacktheit und Erotik und die Grenze zwischen Ver- und Enthüllung: "Ist die erotischste Stelle eines Körpers nicht da, wo die Kleidung auseinanderklafft? [...] die Unterbrechung ist erotisch, wie die Psychoanalyse richtig gesagt hat: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt (der Hose und der Bluse), zwischen zwei Säumen (das halb offene Hemd, der Handschuh und der Ärmel); das Glänzen selbst verfuhrt, oder besser noch: die Inszenierung eines Auf- und Abblendens." Und weiter: "Das ist nicht die Lust des körperlichen Striptease oder des erzählerischen Hinauszögerns. In beiden Fällen kommt es nicht zu einem Riß, gibt es keine zwei Seiten: eine fortschreitende Enthüllung: die ganze Erregung sammelt sich in der Hoffnung, das Geschlecht zu sehen (Pennälertraum) oder das Ende der Geschichte zu erfahren (Romanbefriedigung)"; in: Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt/Main 1974, S. 16 f.

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vestitur des nackten Körpers ist wesentlich beeinflußt durch die Form seiner Inszenierung: das heißt durch die sozialen Rahmungen und durch die Perspektivierungen, die Nähe und Distanz der Beobachtungssituation regulieren - ein grundsätzlich theatrales Setting also. Werden die Präsentationen von Nacktheit im Bildrepertoire des 19. Jahrhunderts noch überwiegend durch eine einfache BetrachterSituation konstituiert (durch das Gegenüber von Objekt und Schauendem wie z.B. in Gerömes "Phryne", indem der Betrachter in das Bild, mithin in die "Richter"-Rolle einbezogen wird), so kompliziert sich die Situation mit Beginn der Moderne. Dies zeigt auch Schnitzlers Novelle: die narrative Perspektivierung erlaubt nicht mehr ohne weiteres die voyeuristische Gegenüberstellung von Betrachter und begehrtem Objekt. Denn die Darbietung der weiblichen Körperinszenierung - im Fluß des inneren Monologs - geschieht stets aus der Monoperspektive der Frau selbst. Diese narrative Einstellung gibt vor, in die Phantasmen des weiblichen Begehrens einzuführen45, läßt aber gerade dadurch den distanzierten Beobachter-Blick scheinbar nicht zu. Stattdessen wird der Leser zum Voyeur im "Bewußtseinszimmer" des weiblichen Ich. Die fingierte Monoperspektive ist dabei, entsprechend dem gespaltenen Blick Elses auf sich selbst, in sich geteilt: in eine Innen- und eine Außenperspektive, die beide durch die Wahrnehmung der Protagonistin vermittelt sind, als Text aber in doppelter Schrift erscheinen, nämlich drucktechnisch, durch kursive46 und gerade Lettern figuriert. Damit wird 'innerhalb' der Redeform des inneren Monologs eine Dialogizität der Rede konstituiert. Zugleich aber wird eben durch diese Differenz der Redeperspektive 45

Die Konstellation von männlichem/weiblichen Blick ist freilich noch komplizierter; indem Schnitzler die weibliche Perspektive fingiert, fingiert er ja nicht allein eine authentische Perspektive der Frau auf sich selbst und ihr Begehren, sondern implantiert zugleich die männliche Perspektive (den für die Frau immer schon introjizierten männlichen Blick) in die fiktive Narration des weiblichen Ich.

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Es bedürfte einer grundsätzlichen Klärung, welchen Status die Kursivierung in einer Kulturgeschichte der Schrift einnimmt: sowohl im Blick auf den Bewegungsaspekt - 'currere'-, die Simulation des Schräggestellten einer flüssigen Handschrift, als auch in Hinsicht auf Instanzierungen, die die 'Gesetzeskraft' der Schrift, gerade im Kontrast von kursiv und recte, zur Evidenz bringen: etwa in der Editionspraxis. - Auch ftir Schnitzlers Konstruktion der Perspektivierung des inneren Monologs als 'currentes' Medium des Transgressiven sind solche Aspekte, die hiermit nur angedeutet werden können, relevant.

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in sich selbst auch signalisiert, daß eine Überschreitung dieser Perspektive nicht möglich ist. So zeigt sich der Monolog in der 'Schrift 47 als eine liminale Redeform'. Und dies wird durchgehalten bis zum Schluß, bis zur Todesszene Elses. Denn die Überschreitung der Todes-Grenze läßt sich zwar durch eine Erzählerinstanz, nicht aber aus der Ich-Perspektive des inneren Monologs erzählen. So inszeniert Schnitzlers "Fräulein Else" nicht zuletzt in der Un-Überschreitbarkeit dieser letzten Grenze - als Erzählakt - Transgression als ein Darstellungs-, Perspektivierungs- und Rahmungsproblem. Diese Perspektivierung modifiziert auch die Form der Körper-Präsentation; denn tatsächlich bekommt der Leser von dem 'Anblick' des Körpers, den die Beobachter von Elses Enthüllung wahrnehmen, keine Vorstellung: Er sieht die Nacktheit nicht! Die Inszenierung der Entblößung besteht - eben durch diese Innenperspektive - aus dem Entzug des Körpers. Insofern betreibt der Text auch und gerade in der Performance der Enthüllung des nackten Körpers seine Verhüllung. Zugleich aber wird mit dieser Reduktion der Sichtbarkeit 'das Sehen selbst' reflektiert und damit zu einem entscheidenden Element jener "di-vested interests", die der Text eben auch dadurch verhandelt, daß er nicht nur das Sehen und Gesehenwerden, sondern auch das Sehen des Sehens (und das Sehen im Gesehenwerden - "eyes wide shut") zum wesentlichen Moment der erzählerischen Inszenierung macht.

47 Auch hier müßte die Einflechtung von Schumanns "Camaval" noch einmal einbezogen werden; d.h. 'zu Wort kommen'; nicht auf der inhaltlichen Ebene, als Musik zur 'großen Szene' von Elses Enthüllungsperformance - als kamevalisierte 'Oper' - , sondern auf der Text- bzw. Schrift-Ebene. Denn die von Schnitzler in den Novellentext eingelegten Ausschnitte aus dem Notentext markieren eine dritte Dimension jener Transgression, die den Rahmen und die Perspektivierung der Monologerzählung auszeichnet. Ist mit der Notenschrift, die zuletzt noch in den Zwischenraum der Text- bzw. Schrift-Spaltung von kursiv und recte eintritt, eine weitere Verschiebung und Progression der Übertretung - nunmehr einer Übertretung als Grenzgang der Schrift - inszeniert? In welcher Weise ist diese Rahmen-Überschreitung in der Darstellung als textuelle Performanz des Undarstellbarkeitsproblems zu verstehen, das sich mit der erzählerischen Perspektivierung des Todes aus der Subjekt-Perspektive auftut (jenes Paradox, das Roland Barthes in seiner Analyse von Poes Erzählung "Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar" aufdeckt; vgl. Barthes, Roland: Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main 1988, S. 266297).

Divested Interests

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Marina Abramovic - Nacktheit und korporale Verausgabung In solcher 'Reflexion' der Blick-Konstitution als Grenzüber-schreitung, wie sie in Schnitzlers Text thematisiert ist, sehe ich ein entscheidendes Merkmal von künstlerischen Inszenierungen der Nacktheit im 20. Jahrhundert. Dabei könnte man sich freilich fragen, welches Interesse an Nacktheitsperformances 'nach' der sogenannten "sexuellen Revolution" noch besteht und wie es sich in der Kunst, speziell in der Performance seit den 70er Jahren, manifestiert. Exemplarisch will ich dafür Marina Abramovic' Performance "Freeing the Body" (1975) heranziehen. Diese Performance gehört in die Serie ihrer sogenannten "Befreiungsperformances", die die Aktionen "Freeing the Voice"48, "Freeing the Body" und "Freeing the Memory" umfaßten. Dabei ist es interessant, daß die Frage nach der 'Erschöpfung', deren Grenzen Abramovic hier testet, nicht nur den Körper, sondern auch und gerade die Szene der Phantasmen betrifft: "Freeing the Memory" (eine Performance, in der Abramovic so lange frei assoziierte, bis ihr keine Wörter mehr einfielen) arbeitet mit eben jenen Bildern des Imaginären, deren Assoziationsketten um die Jahrhundertwende zum Instrumentarium der Psychoanalyse wurden. Versucht Abramovic mit dieser Performance eine Ausmessung und Überschreitung der Grenzen der Entblößung im 'Bewußtseins- bzw. UnbewußtseinsZimmer', so stellt sie mit "Freeing the Body" die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Körperinszenierung. Genauer: diese Performance ist die Probe auf die Grenzen der Erschöpfung sowohl des Körpers als auch (und vor allem) der Erschöpfbarkeit des 'Körpers als Szene'. (Abb. 4) In der Beschreibung der Performance heißt es lapidar: Abramovic "umwickelte ihren Kopf mit einem schwarzen Kopftuch und bewegte den nackten Körper zu den Rhythmen eines afrikanischen

48 Vgl. Bormann, Hans-Friedrich / Brandstetter, Gabriele / Malkiewicz, Michael / Reher, Nicolai: Freeing the Voice. Performance und Théâtralisation. In: FischerLichte, Erika / Pflug, Isabel (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel 2000, S. 47-59.

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Trommlers, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach (was 8 Stunden dauerte)."49 Auch hier geht es, wie in Fräulein Elses 'großer Szene', um einen Akt der Transgression; und auch hier geht es nicht eigentlich um ein 'Zeigen' des nackten Körpers, sondern um den Prozeß der Verausgabung. Während im Szenario der Exhibition zur Zeit der Jahrhundertwende jedoch dieser Akt der Enthüllung einen Tabu-Bruch vollzieht, arbeitet Abramovic' Performance gerade mit den Bedingungen und Ausschließungsregeln, die das Tabu (und den Tabubruch) hervorbringen. Elses Nacktheit bekleidet sich immer noch mit dem Bilder-Archiv der Weiblichkeitsphantasien, das die Begehrensökonomie der spätviktorianischen Zeit bereithält. Es ist - mit Schnitzlers raffinierter Inszenierung des Transgressiven als Schrift - der Übertritt von der symbolischen Grenzüberschreitung zur korporalen, die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Performance-Art, schließlich zum künstlerischen Programm wird. Und Abramovic setzt in ihrer 'divested action' eben jene phantasmatischen Übertragungsmechanismen aus, die für Schnitzlers "Fräulein Else" noch das imaginäre Szenario der Transgression bildeten. Abramovic stellt die investierende Dynamik der Nacktheitsdarstellung selbst aus: und zwar, indem sie die Regeln und die Rahmung der Performance, die eben diese Übertragungsbedingungen selbst zum Thema machen, in die Aktion einbezieht. Dies geschieht zum einen durch den Zeitrahmen, durch die ungewisse und lange Dauer der Performance, die auch den Zuschauer in den Prozeß der körperlichen Erschöpfung einbezieht. Zum anderen wird die Konvention von Nacktheitsdarstellungen unterlaufen durch die permanente, aber eben nicht professionell tänzerische Bewegung des nackten Körpers, die keinerlei Einladung zum voyeuristischen Genuß im Sinne von Striptease und Nackttanz enthält. Und schließlich wird die Blicksituation der Performance zum Reflexionsmedium verschiedener 'divesting interests': Der Zuschauer ist in diesem Szenario nicht nur der Betrachter des nackt dargebotenen weiblichen Körpers, sondern er wird auch selbst, indem er beobachtet, Gegenstand der Betrachtung durch die anderen Zuschauer. Als Schauraum gibt es immer schon die Beobachtung des Beobach49 Vgl. McEvilley, Thomas: Die Schlange im Stein. In: Danzker, Jo-Anne Bimie / Illies, Chrissi (Hg.): Marina Abramovic. (Katalog). München 1996, S. 45-55; hier S. 46.

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ters - und die damit eingeführte und thematisierte 'Differenz' und 'Gleichzeitigkeit' von Nähe und Distanz, von bekleideten und nackten Körper(n).50 Diese Konstellation wird noch verstärkt durch das schwarze Tuch, mit dem Abramovic ihren Kopf umhüllt. Auf den ersten Blick scheint dieses einzige Stück Stoff die alte Tradition der erotischen Präsentation des weiblichen Körpers zu perpetuieren, jene Geste des verdeckten Gesichts, die zur Ikonographie der Nacktheit im 19. Jahrhundert gehört: Die Verhüllung des Gesichts setzt den entblößten Körper umso mehr dem voyeuristischen Blick aus. Und die Blindheit, die Unmöglichkeit des Zurückblickens, macht die Frau zum Objekt. Eben die politische Seite dieser Blickmacht aber, darauf weist auch das 'schwarze' Tuch, wird von Abramovic thematisiert und zitierend, zeichenhaft, in Szene gesetzt.51 Dieses schwarze Tuch ist in mehrfacher - und politischer - Hinsicht ein Symbol für Gewalt und Tod: Es ruft die Konnotationen von Raub und Attentat herauf. Es erinnert an die (schwarze) Binde, die dem Delinquenten vor der Hinrichtung um die Augen gebunden wird. Und schließlich erinnert es auch an den schwarzen Mantel, in dem Fräulein Else zu ihrer Todes-Performance schreitet. Das schwarze Tuch wäre dann gleichsam ein durch eine lange Geschichte der Gewalt und des Kriegs ruinierter Rest jener großen Pathosformel des Fin de siècle: Madame la Mort. Abramovic schafft gerade mit diesem ungleichen Kontrast von Verhüllung und Nacktheit die Szene - diese Szene 'ist' die Nacktheit - , in der die 'Investitur' des Körpers in Frage steht: in der (Be-) Zeichnung des Körpers und zugleich im Entzug seiner Semantisierung; in einer Darbietung, die die Grenzen des Blicks und der Sichtbarkeit zum Reflexions- und Erfahrungsraum der Körperperformance macht. Am Ende bleiben Fragen. Zum Beispiel danach, welche Ökonomie der Entblößung sich hier noch ausmachen läßt. Was wird hier verhandelt? Wohl nicht (mehr) die Inszenierung von Nacktheit als sexuellem Begehrensraum; und auch nicht die "Befreiung des Kör50 Diese Blick-Konfiguration spielt auch in Nackt-Performances und in Nacktheit im Tanz der 90er Jahre eine wichtige Rolle, etwa in Inszenierungen von Sasha Waltz, Boris Charmatz, Xavier Le Roy, Jérôme Bel, Felix Ruckert und anderen. 51 Der Zusammenhang von Opfer, Gewalt, Körper und Blick-Konstellation wird hier - als Performance - reflektiert.

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pers" von den unaufhörlichen Zuschreibungsakten. - Vielleicht aber die Frage nach der Definitionsmacht des Blicks, nach der Körperpolitik und nach dem Status der Kunst.

Abb. 1 Jean Léon Gérôme: Phryne vor den Richtern, 1861.

Abb. 2

Musette (= Christine Roux), 1855

Ästhetik der Entblößung Rolf Dieter Brinkmanns literarische Nacktheitsinszenierungen zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie

Hanno Ehrlicher

Einübung einer neuen Sensibilität: Brinkmanns Entsublimierung der Literatur im Kontext der '68erProtestkultur Die 60er Jahre gelten zu Recht allgemein als ein Wendepunkt in der europäischen Kulturgeschichte der Nacktheit. Wie in den meisten anderen westlichen Industriestaaten begann auch in der Bundesrepublik Deutschland in dieser Epoche die massenmediale Verbreitung von Bildern des nackten Körpers im öffentlichen Raum, die inzwischen zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden ist. Angesichts der habitualisierten Routiniertheit, mit der wir inzwischen die plakativen Posen nackter Körper zur Kenntnis nehmen, die mit ihrem Sexappeal für Dessous, Eiscreme, Parfüms und alles andere werben, erscheinen sowohl der moralische Furor als auch die gesellschaftskritischen Utopien befremdlich, die den rasanten Entblößungsprozeß zu jener Zeit begleiteten. Obgleich die "Freisetzung" der Nacktheit während der berüchtigten "Sexwelle" sicherlich zunächst rein kommerziellen Interessen geschuldet war, überlagerte sie

1

So der Titel eines Essays, der als Beitrag für den Hessischen Rundfunk innerhalb der Reihe "Die Kunst ist tot - es lebe die Kunst" am 22.6.1969 gesendet wurde. Ein Nachdruck findet sich in: Literaturmagazin 36, Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Hg. von Maleen Brinkmann, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 147-155.

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sich doch rasch auch mit dem Begehren nach mehr gesellschaftlichen Freiheiten, wie es sich in der Protestkultur um '68 artikulierte.2 Mit dem Begriff der "sexuellen Revolution" wurde ein publicitytaugliches, nachhaltig wirksames Schlagwort gefunden für den intendierten Kurzschluß zwischen libidinösen Wunschpotentialen und dem Willen zum sozialen Wandel. Gerade an diesem Punkt, bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Körper und Politik, blieb die '68-Bewegung allerdings grundsätzlich in sich gespalten. Auch wenn es teilweise zu Überschneidungen der unterschiedlichen Interessen, zu Zweckbündnissen und Synergien gekommen sein mag, lassen sich doch sehr deutlich zwei Linien des Protestes unterscheiden. Während ein Teil der "Bewegung", allen voran die im SDS organisierten Studenten, rationalistisch auf die aufklärerische Macht der Worte vertraute und einen Diskurs der Befreiung zu etablieren versuchte, setzte der andere Teil aktionistisch auf eine veränderte Alltagspraxis und nutzte dabei den Körper als performatives Medium. Die Inszenierungspraktiken dieser körperpolitischen Fraktion der Protestkultur, die mit Gründung der "Kommune 1" ihre wohl spektakulärste und im Erinnerungsbild von "68" mittlerweile zur Ikone erstarrte Organisationsform fand, speisten sich weniger aus Einsichten, die der Lektüre linker politischer Theorien von Marx bis Marcuse entnommen wurden, als aus den Erfahrungen ästhetischer Performances und Happenings, mit denen man im sezessionistischen Kunstmilieu bereits seit Beginn der 60er Jahre experimentierte. Von Fluxus bis zur Wiener Aktionskunst, von Piero Manzonis "Living Sculptures" bis zum "Living Theater" kam es im Bereich der bildenden Künste zu einer Neuentdeckung des Körpers, der nicht mehr nur als Thema behandelt, sondern als operative und theatralische Grundlage einer sozialen "Kunst des Handelns" gefaßt wurde.3 In der erregten Aufbruchsstimmung um 1968 wurden Körperinszenierun-

2

Zur sozialen Dimension der "Freisetzung" der Nacktheit in der Bundesrepublik Deutschland ab Mitte der 60er Jahre und ihrer anschließenden Vereinnahmung vgl. König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990, S. 281-321.

3

Ich entlehne diesen Ausdruck einem Titel Michel de Certeaus, dessen Theorie sich mit einiger Sicherheit auch aus dem "kunstrevolutionären" Milieu der 60er Jahre (konkret: der Pariser Internationale Situationniste) speist. Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988 (franz. Original Paris 1980).

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gen und dabei insbesondere der entblößte Körper zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung. Nackte Tatsachen dienten nicht nur zur moralischen Skandalisierung der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch zur Distinktion innerhalb der Protestbewegung beim Streit um das Primat von revolutionärem Diskurs oder hedonistisch-spontaner Aktion, reflexhafter Sinnlichkeit oder sinnstiftender theoretischer Reflexion. Selbstentblößung wurde zum nonverbalen, kynischen Argument, wie die Anekdote von der Störung der Vorlesung Theodor W. Adornos durch entblößte Frauenbrüste zeigt, die als emblematisch für diese Konfliktsituation gelten kann.4 Was für die Auseinandersetzung auf der politischen Ebene gilt, kann unter veränderten Bedingungen auch für die Suche nach der "richtigen" Form des Protests innerhalb des literarischen Feldes behauptet werden. Auch hier wurde mit der Gewalt des Nackten operiert. Das zeigt insbesondere das Beispiel Rolf Dieter Brinkmanns, der gegen die Tendenz zur Politisierung der Literatur, die mit der Kurs buch-Ausgabe vom November 1968 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte5, entschieden auf eine Entsublimierung der Literatur setzte, die er nicht als Transportmittel für politische Weltanschauungen, sondern als Ort zur Schaffung sinnlich-"unmittelbarer" Bilder verstand. "Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt", 6 hielt er dem ideologiekritischen Urteil entgegen, mit dem Hans Magnus Enzensberger schon früh die amerikani-

4

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6

Diese Anekdote wurde vielfach kolportiert, u.a. bei Peter Sloterdijk, der sie als eine Schlüsselszene für die von ihm durchgeführte Kritik der zynischen Vernunft vorstellt. Vgl. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt/Main 1983, Bd. 1, S. 27f„ sowie S. 219f. Zur Kursbuchdebatte vgl. Briegleb, Klaus: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt/Main 1993, S. 22fF. sowie 221 ff. Brinkmanns Reaktion auf die Rede vom Ende der Literatur ließ an Deutlichkeit nichts vermissen. Im schon erwähnten Rundfiinkessay "Einübung einer neuen Sensibilität" bezeichnet er sie als "hysterischen Kollaps", der schon ein halbes Jahr später "nur noch lächeln" lasse (S. 147). Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten. In: ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 223-246, hier S. 227. Der Essay erschien erstmals als Nachwort zur Anthologie Acid, die Brinkmann zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla 1969 herausgab.

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sehe Beat-Literatur belegt hatte.7 Brinkmann sah in der schroffen Distanzierung, mit der die Schriftsteller in der Bundesrepublik fast einmütig die Impulse einer subkulturellen Ästhetik zurückwiesen, die Leslie A. Fiedler unter dem Stichwort der "Postmoderne" als subversives transatlantisches Importgut offeriert hatte8, ein Symptom für elitäre Berührungsängste und letztlich die Unfähigkeit der Intellektuellen zum Ausleben libidinöser Wunschpotentiale. Mit der Herausgabe zweier Anthologien, Acid und Silverscreen9, erreichten er und sein Freund Ralf-Rainer Rygulla es fast im Alleingang, der "neuen Sensibilität" der amerikanischen Kunstszene, die neben Fiedler insbesondere Susan Sontag kunsttheoretisch als einen notwendigen Paradigmenwechsel propagierte10, trotz der geschilderten Vorbehalte auch in der Bundesrepublik eine gewisse Bekanntheit zu verleihen. Brinkmann legte damit den Grundstein für einen literarischen "Underground", der die Forderung nach einer Literatur von "unten" nicht sozialpolitisch interpretierte, als didaktisches Projekt zur Alphabetisierung und Bewußtseinsbildung der Werktätigen, sondern körperlich, als Befreiung gesellschaftlich und individuell verdrängter Triebe." Auch dieser Ansatz nahm für sich in Anspruch, emanzipatorische Wirkungen zu zeitigen und damit dem revolutionä7

Brinkmann bezieht sich bei seiner Kritik an Enzensberger auf dessen Aufsatz "Die Aporien der Avantgarde". In: ders.: Einzelheiten. Frankfurt/Main 1962, S. 290-315. 8 Zum Verlauf der Debatte, die im Anschluß an Leslie A. Fiedlers programmatischen Vortrag "The Case for Post-Modemism" im November 1968 vor allem in der Zeitschrift Christ und Welt geführt wurde, vgl. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S. 29ff., sowie Briegleb, Klaus (1993), S. 16-19. 9 Brinkmann, Rolf Dieter / Rygulla, Ralf-Rainer (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969. Brinkmann, Rolf Dieter (Hg.): Silverscreen. Köln 1969. 10 Nicht zufallig erschienen Susan Sontags kunsttheoretische Essays 1968 in deutscher Übersetzung: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Reinbek bei Hamburg 1968. Zum programmatischen Schlagwort der "New sensibility", das sich Brinkmann zu eigen machte, vgl. besonders die Aufsätze "Anmerkungen zu Camp" und "Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise" (ebd., S. 269295). 11 Zu den verschiedenen Ansätzen einer "Literatur von unten", die Ende der 60er Jahre entstanden, vgl. Mattenklott, Gundel: Literatur von unten - die andere Kultur. In: Briegleb, Klaus / Weigel, Siegrid (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968 [= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16 Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 12]. München, Wien 1992, S. 153-181.

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ren Ziel einer veränderten Gesellschaft näher zu kommen. Aber er ging nicht vom marxistischen Standpunkt eines Primats der ökonomischen Produktionsverhältnisse und der Figur des revolutionären Kollektivs aus, sondern setzte umgekehrt auf die Erweiterung von subjektiven Wahrnehmungs- und Erlebnisfahigkeiten. Das Stichwort von der "neuen Sensibilität", das in Amerika als Terminus der Kunsttheorie Furore machte, bekam beim Import in die bundesrepublikanische Situation, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, einen politischeren Anstrich. Explizit bezog sich Brinkmann bei der programmatischen Schilderung seiner Vision einer post-modernen Literatur im Vorwort zu Silverscreen daher auch nicht auf Susan Sontag, sondern auf Herbert Marcuse, um auf das "revolutionäre" Potential der von ihm angestrebten Entsublimierung der Literatur hinzuweisen: The next generation needs to be told that the real figth is not the political fight, but to put an end to politics. From Politics to Metapolitcs. From Politics to Poetry [...] Poetry, art, imagination, the creator spirit is life itself; the real revolutionary power to change the world; and to change the human body.12 Bei aller Abneigung gegen politische Diskurse und die "Unsinnlichkeit des Denkens abendländischer Intellektueller"13 wußte Brinkmann offensichtlich doch ganz gut, wie Theorien für sein eigenes Anliegen umfunktionierbar waren - ganz im Sinne seiner Forderung nach einem Wechsel von der konventionellen "Bedeutung"zur individuellen "Benutzung".

12 Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu der Anthologie 'Silverscreen'. In: Brinkmann, Rolf Dieter (1969), S. 7-32. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Brinkmann, Rolf Dieter (1982), S. 248-269, hier S. 266. Als Quellenangabe des von mir nicht überprüften Marcuse-Zitates ist dort angegeben: Running Man, Special Issue. In: Exstatic Revolution, Vol. 1, No. 3-5, London 1969. Auch Marcuse stützte sich bekanntlich auf das Schlagwort von der "neuen Sensiblität", insbesondere in seinem 1969 erschienen Buch Versuch über die Befreiung, das in der antiautoritären Bewegung starke Rezeption erfuhr. Dazu Lampe, Gerhard: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983, S. 4550. 13 Brinkmann, Rolf Dieter (1982), S. 227.

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Wa(h)re Körper, einfache Bilder: "authentische" Sinnlichkeit zwischen Porno und Pop Für die spezifische Situation der bundesrepublikanischen Literatur um 1968 ist nicht nur charakteristisch, daß die von Susan Sontag propagierte antihermeneutische Ästhetik der Oberfläche selbst von einem so dezidiert unpolitischen Autoren wie Brinkmann politisch übercodiert wurde, sondern auch, daß sie an Subtilität verlor. Die gesellschaftskrische Besetzung des Körpers und dessen Einsatz als ein sinnliches politisches Instrumentarium hatte zu einer Dramaturgie der Überbietung gefuhrt, bei der die Signale immer drastischer werden mußten, um überhaupt noch öffentlich wahrgenommen zu werden. Die neue Erotik der Kunst, von der Sontag 1964 geschwärmt hatte 14 , mußte sich im Fahrwasser der "sexuellen Revolution" schon in einer verschärften Form darstellen, um noch die nötige Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können. Brinkmanns Ästhetik der Entblößung situierte sich zweifellos schon von Anfang an in der Nähe des Pornographischen, aber diese Nähe wurde konkreter und expliziter, sobald sie sich auf das Bildmaterial zu beziehen begann, das im Zuge der medialen Freisetzung der Nacktheit zunehmend aus dem Bereich klandestiner privater Lüste in die Öffentlichkeit zu wandern begann. An den Veränderungen von Brinkmanns Versuchen, zu einem bildhaften, an den Ausdrucksmöglichkeiten der Medien Film und Photographie orientierten Schreiben zu gelangen, läßt sich auch der Beschleunigungsprozeß ablesen, der die mediale Entsublimierung der öffentlichen Sphäre Ende der 60er Jahre kennzeichnete. Von den expliziten Penetrationsphantasien, die in der 1967 publizierten Erzählung Strip aus der Perspektive eines männlichen Stripshowbesuchers geschildert werden 15 , bis zur Abbildung des Penetrationsaktes als ein in den Text integrierter visueller Bestandteil des Gedichts Va14 Susan Sontags Aufsatz "Against interpretation", der erstmals 1964 erschien, endete bekanntermaßen mit der Forderung Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst (zit. nach Sontag, Susan: Gegen Interpretation. In: dies. (1968), S. 9-18, hierS. 18). 15 Brinkmann, Rolf Dieter: Strip. In: Dollinger, Hans (Hg.): Außerdem. Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? München, Bern, Wien 1967, S. 377-382; Nachdruck in: Brinkmann, Rolf Dieter (1982), S. 61-71.

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nille im Jahr 196916 ist es vielleicht ein kleiner, aber doch signifikanter und folgenreicher Schritt. Er zeugt vom veränderten Status ästhetischer Einbildungskraft in einer Gesellschaft, die immer stärker von der Proliferation optischer Reize geprägt wurde. Während der Versuch Brinkmanns, mit Strip einen Text zu produzieren, welcher der Perspektive und Logik eines voyeuristischen, männlichen Kameraauges folgt17, noch eine Übersetzung des Bildmediums ins Medium der Sprache leistete, ist Vanille von der direkten Konfrontation zwischen Bild und Text gekennzeichnet, die beide als gleichwertiges Material der ästhetischen Gestaltung fungieren, was sich übrigens nicht nur in der Verwendung von aus Zeitschriften und Prospekten ausgeschnittenen Photos zeigt, sondern auch im Versuch, durch variierende Gestaltung der Typographie den Bildwert der Buchstaben zu betonen.18 Beide Texte markieren damit unterschiedliche Etappen innerhalb Brinkmanns kontinuierlichem Bestreben, die Literatur einer sinnlichen Oberflächenästhetik zu öffnen. Während es dem Autor in seinen frühen Prosastücken in deutlicher Auseinandersetzung mit dem Modell des Nouveau Roman dabei noch vorrangig um eine literarische Konstruktion filmischer Wahrnehmung ging, liegt der Akzent seit 1968 im Sinne der Popästhetik auf dem Gebrauch von Bildern

16 Brinkmann, Rolf Dieter: Vanille. In: Schröder, Jörg (Hg.): Mammut. März Texte 1&2, 1969-1984. 2. Aufl. Herbstein 1984, S. 107-140, Abbildung S. 139. Es muß allerdings gesagt werden, daß diese direkte Penetrationsdarstellung eine Ausnahme bildet innerhalb Brinkmanns Umgang mit pornographischem Material. Üblicherweise blieb es bei der Verwendung von Pin-Ups, wie sie in den zeitgenössischen Illustrierten von Stern bis Spiegel zu finden waren. Das Bildmaterial, mit dem Brinkmann 1968/69 arbeitete, entstammte generell nicht auf Pornographie spezialisierten Magazinen und ist daher umso repräsentativer für die Entsublimierung der Öffentlichkeit. 17 Für eine gendertheoretisch angelegte Analyse der skopischen Ökonomie, die den Text bestimmt, vgl. Öhlschläger, Claudia: Der Text als Auge: Rolf Dieter Brinkmanns 'Strip' (1967). In: dies.: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i. Br. 1996, S. 156-161. 18 Daß Brinkmann dabei die visuelle Poesie der Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte im Blick hatte, wird durch die explizite Referenz auf Apollinaire deutlich: "Es grüßt uns sehr/ Herr Apollinaire: 'HALLO'" (Brinkmann, Rolf Dieter: Vanille, S. 112).

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als vorgefundenem Alltagsmaterial.'9 Film und Photographie haben auch in dieser Phase weiterhin eine Vorbildfunktion für die Literatur, aber das Vor-Bild tritt nun zunehmend als abgebildeter Gegenstand in Erscheinung, der konkret benutzt werden kann. Der Fokus hat sich von der Konstruktion eines möglichst sinnfreien, die äußeren Eigenschaften registrierenden und jede Deutung vermeidenden Blicks auf die Objekte verschoben, hin zum Umgang mit den Objekten. Die in der Situationistischen Internationale bereits Ende der 50er Jahre theoretisch ausgearbeite Vorstellung vom détournement, vom Entwenden und Umfunktionieren der Gegenstände, die aus ihren sozialen Gebrauchsnormen losgelöst und damit den individuellen Bedürfnissen der Subjekte zugänglich gemacht werden sollen20, spielte auch eine wichtige Rolle fur Brinkmanns Bildkonzeption in der popästhetischen Phase um 1968. Das geht besonders aus den programmatischen Texten zu Silverscreen und Acid hervor, in denen die in den Studentenaufständen ausgemachte "neue Sensibilität" als eine erfolg-

19 Zu Brinkmanns Auseinandersetzung mit dem Nouveau Roman u.a. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann: Studie zur Text-Bild-Montagetechnik. Tübingen 1998, S. 35-41. Jörgen Schäfer, der Brinkmanns Ästhetik insgesamt sehr kenntnisreich und einleuchtend im Kontext der Pop-Literatur der 60er Jahre interpretiert, neigt m. E. allerdings zu stark dazu, die Differenzen und Spannungen, die zwischen den einzelnen Phasen durchaus existierten, zu verwischen. Der Einfluß des Nouveau Roman wirkt bei ihm daher etwas reduktionistisch als bloße Vorstufe auf dem Weg zur Pop-Art, die so als Ziel- und Endpunkt der literarischen Entwicklung Brinkmanns erscheint. Vgl. Schäfer, Jörgen (1998). 20 Zur Konzeption der Zweckentfremdung ("detournement") in der Internationale Situationniste vgl. Debord, Guy-Ernst / Wolman, Gil J.: Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstadt und Roberto Ohrt. Hamburg 1995, S. 20-26. Die Bedeutung der Situationistischen Internationale ffir Brinkmann und die künstlerische Protestkultur um 1968 wurde in der Forschungsliteratur meines Wissens bislang ignoriert, obwohl über die Vermittlung der Münchner Künstlergruppe SPUR und der Berliner Kommune 1 sicherlich direkte Rezeptionszusammenhänge nachweisbar wären. Das Fahnden nach möglichen Quellen ist m.E. dabei jedoch weniger von Interesse als das Konstatieren auffalliger ästhetischer Parallelitäten. Die Situationistische Internationale ist in dieser Hinsicht besonders erwähnenswert, weil sie maßgeblich an der Verknüpfung der "klassischen" europäischen Avantgarden mit den Einflüssen der amerikanischen Popästhetik beteiligt war, die auch für Brinkmann (wenigstens in der Phase um '68) kennzeichnend ist.

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reiche Z w e c k e n t f r e m d u n g der Bilder aus e i n e m zerstörerisch-mechanistischen R e p r o d u k t i o n s z u s a m m e n h a n g interpretiert wird: Eine globale Empfindsamkeit beginnt sich anzudeuten, wie sie auch in den Studentenaufständen überall wirksam wird. Es ist ein Aufstand gen die dreckigen

Bilder, die andere dreckige Bilder nach sich

ge-

ziehen

und so lange als einzig "wahre" Bilder verstanden werden: gegen den mörderischen Wettlauf, konkurrenzfähig zu sein, gegen die besinnungslos hingenommenen Gewaltakte, gegen das Auslöschen des Einzelnen in dem alltäglichen Terror. Die alltäglichen Dinge werden vielmehr aus ihrem miesen, muffigen Kontext herausgenommen, sie werden der gängigen Interpretation entzogen, und plötzlich sehen wir, wie schön sie sind... ein Schlittschuh, der über die Eisfläche gleitet, eine Hand, die einem Hund Hundefütter hinhält, mein liebstes Gemüse broccoli - denn die alltäglichen Sachen und Ereignisse um uns sind terrorisiert worden; dieser winzige, aber überall verteilte Terror wird zersetzt, das konkrete Detail befreit. 21 D i e R e d e v o m A u f s t a n d g e g e n die B i l d e r durch ihren subjektiven, b e f r e i e n d e n Gebrauch, macht deutlich, daß der V o r w u r f v o m z y n i s c h e n Einverständnis mit der spätkapitalistischen Konsumkultur, d e n z e i t g e n ö s s i s c h e Kritiker der Popästhetik gerne v o r w a r f e n ( w e n n sie nicht sogar, w i e e t w a Martin Walser, auf d e n F a s c h i s m u s Vorwurf verfielen 2 2 ), z u kurz greift und w e n i g s t e n s i m Falle Brinkmanns die Intentionen d e s Autors verfehlt. 2 3 V o n Entfremdungskritik i m Sinne der Frankfurter S c h u l e z u reden und Brinkmanns Gebrauch der O b e r f l ä c h e n aufklärerische A b s i c h t e n z u unterstellen,

ist j e d o c h

21 Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen 1969..., S. 250f. 22 Walser konnte, seiner damaligen ideologiekritischen Position entsprechend, im subjektiven Zugang zur Konsumkultur lediglich mangelndes politisches Bewußtsein erkennen und witterte "Bewußtseinspräparate fiir die neueste Form des Faschismus". So der warnende Schluß in seiner Reaktion auf Fiedler, Leslie: Über die Neueste Stimmung im Westen. In: Kursbuch 20 (März 1970), S. 19-41. 23 Die Kritik an der Popästhetik verblieb dabei lange Zeit auf der Ebene bloßen Ressentiments oder der geschilderten ideologiekritischen Besserwisserei. Eine Ausnahme bildete sicherlich die materialreiche Arbeit von Jost Hermand, der sich als Literaturwissenschaftler schon früh mit dem Pop-Phänomen auseinandersetzte und dessen Kritik einer nicht nur flüchtigen Kenntnis der Gegenstände entstammte. Vgl. Hermand, Jost: Pop International. Eine kritische Analyse. Frankfurt/Main 1971.

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kaum weniger reduktionistisch.24 Zur "Enthüllung" gesellschaftlicher Zusammenhänge fehlte dem rebellischen Pop-Literaten die notwendige Distanz zu seiner reizenden Umwelt, ein Distanzmangel, der sich positiv auch als Nähe zu den von ihm behandelten Gegenständen formulieren läßt und so eher die spezifische ästhetische Qualität seiner literarischen Schreibweise bezeichnet. Auf den schönen Schein der bunten Warenwelt reagierte Brinkmann literarisch gerade nicht reflexiv, sondern mit dem Versuch einer Selbstbehauptung innerhalb des Scheinhaften, da ihm der Glauben an eine "erste" Natur jenseits der künstlichen Bilder abhanden gekommen war.25 Bei der Suche nach lyrischen Bildmomenten, nach einer sinnlichen Präsenz, die frei von konventionellen Sinnzuschreibungen bleiben sollte, rückten Brinkmann Ende der 60er Jahre die tatsächlich existierenden, massenmedial verbreiteten Bilder derart stark auf den Leib, daß sie nicht mehr zu umgehen waren, sondern ein Umgang mit ihnen gefunden werden mußte. Die 1968 veröffentlichte Gedichtsammlung Godzilla kann das Spannungsfeld besonders anschaulich machen, in das seine Poetik des "einfachen", sinnlich-sinnlosen Bildes geriet, sobald sie sich mit der Vermarktung der Sinnlichkeit im öffentlichen Raum auseinanderzusetzen hatte. Ausgangspunkt sind in diesem Band bunte Illustriertenphotos von leicht bekleideten, nur in Ausschnitten dargebotenen, meist verführerisch lächelnden Frauen, die buchstäblich von der "dearty speach" pornographischer Phantasien überschrieben werden (Abb. I).26 Eine Überschreibung, die als doppelter Beschmutzungs24

In dieser Richtung insbesondere Lampe, Gerhard (1983), sowie tendenziell auch Späth, Sibylle: Rettungsversuche aus dem Todesterritorium. Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt/Main u.a. 1986. 25 Stellvertretend für viele ähnliche Bekenntnisse dieses Glaubensverlustes kann die Formulierung aus Brinkmanns poetologischem Essay "Die Lyrik Frank O'Haras" zitiert werden: "Wir leben in der Oberfläche von Bildern, erben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts - sie ist leer" (in: Brinkmann, Rolf Dieter (1982), S. 215b). Zur Kategorie der "Oberfläche" als dem Schlüsselbegriff zum Bildverständnis Brinkmanns vgl. auch Strauch, Michael (1998), S. 47-52.

26 Um einen angemessenen Eindruck dieser Überschreibung zu gewinnen, sollte man unbedingt einen farbigen Originalband konsultieren. Die Schwarzweißreproduktion, auf die ich hier verweisen muß, läßt den Kontrasteffekt zwischen Bild und Text naturgemäß verblassen. Beim Nachdruck der Godzilla-GeA\cb\s in der leicht zugänglichen Anthologie Standphotos (Brinkmann, Rolf Dieter: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek bei Hamburg 1980) verzichtete man leider auf

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Vorgang angelegt ist: Als materielle Beschmutzung, weil die bildlichen Unterlagen teilweise von schwarzen Lettern überdeckt werden und dadurch ihre Farbigkeit einbüßen; vor allem aber als symbolische Beschmutzung, weil die über die Schrift transportierten sexuellen Imaginationen durch ihre extreme Gewaltsamkeit schockierend wirken und in diesem Schock die verführerische Attraktion brechen, die von den erotischen Posen der reizenden Illustriertenschönheiten ursprünglich einmal ausgehen sollte. Ein voyeuristischer Genuß der schönen Frauenkörper will sich nicht mehr einstellen, nachdem der pornographische Text entziffert wurde, der mit drastischer Eindeutigkeit auf der triebhaften Gewaltsamkeit sexuellen Begehrens insistiert und damit den Körper des Blickes ins Spiel bringt, der zum Funktionieren des voyeuristischen Dispositivs unsichtbar zu bleiben hat. Die Worte des aus japanischen Science-Fiction-Filmen bekannten Monsters Godzilla konfrontieren das warenästhetische Versprechen nach sinnlicher Befriedigung, das von den überschriebenen Bildern ausgeht, brutalstmöglich mit der Todesverfallenheit des Körpers. Sie weisen auf das destruktive Triebpotential hin, das sich im hedonistischen Konsumrausch fröhlich-besinnungslos auslebt. Ein pornographisches memento mori, ganz zeitgemäß über das Telefon verkündet: Godzilla telefoniert so gern Er nahm das Telefon zur Hand und fragte nach der Farbe ihrer Schamhaare Farbe und tilgte so den visuellen Reiz der Illustriertenphotos, die nunmehr lediglich als eine monotone Wiederkehr der immergleichen Verfuhrungsposen erscheinen.

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Hanno Ehrlicher dann sagte er vergnügt hier ist der Tod sie werden abgeholt jetzt gleich vom Körper abgerissen mitgenommen und dann weggeworfen

In der Tat sind die Männerphantasien Godzillas, die auf der Oberfläche der Illustriertenphotos sichtbar werden, nicht schön, sondern obszön und verletzend. Die Aggressivität, die sich in Brinkmanns Beschmutzung von "sublimeren" Formen der vermarkteten Nacktheit offenbart, ist dabei jedoch als ein kritischer Akt der Gegenaufklärung unzutreffend beschrieben. Die Rede von der "Freilegung verborgener Strukturen, die eine Reflexion über die realen Ursachen einer verkrüppelten und beschädigten Sexualität" ermöglichen solle27, mag zwar nett gemeint sein und zur Ehrenrettung des Autors moralisierenden Beistand leisten, sie ignoriert mit ihrer Tiefenrhetorik jedoch geradewegs die Prämisse, unter der Brinkmann mit seiner Bildpoetik angetreten war, nämlich daß es keine Alternative zum "Leben in der Oberfläche" geben könne.28 Seine Lyrik sucht das vorfabrizierte, alltägliche Oberflächenmaterial der Konsumgesellschaft keineswegs auf, "um seine Wirklichkeit zu entschleiern"29, sondern um durch einen anderen Umgang mit ihm die Möglichkeit zum eigenen, sponta27 Späth, Sibylle (1986), S. 176. 28 Ich erinnere dazu noch einmal an die kategorische Formulierung aus dem Essay zur "Lyrik Frank o'Haras" (vgl. Fußnote 25). 29 Lampe, Gerhard (1983), S. 114.

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nen Erleben zu schaffen. Die Konfrontation zwischen dem pornographischen Imaginärem und den realen Images der Werbung soll weniger Raum fürs Nachdenken als Platz für subjektive Empfindungen bereiten, indem die "fixierten" Bilder in eine spannungsvolle Bewegung gebracht werden und sich damit dem Ereignis "authentischer" Subjektivität öffnen. Im emphatischen Festhalten an der Utopie vom eigenen, gesellschaftlich undeterminierten Erleben blieb Brinkmann dabei wesentlich stärker dem romantischen Aufbegehren der amerikanischen Beatniks verpflichtet als den "coolen" Maskeraden eines Andy Warhols.30 Seine Oberflächenästhetik zielte weder auf eine ideologische Kritik der Warengesellschaft, noch auf eine wie immer ironisch zu verstehende popästhetische Reauratisierung der Ware. Angestrebt war vielmehr eine entsublimierende Entblößung der eigenen Befindlichkeit. Besonders deutlich läßt sich dies am photographischen Selbstporträt ablesen, mit dem der Autor den Godzilla-Band abschließt und den eigenen Körper unmißverständlich in Szene setzt (Abb. 2). Im Zentrum der Inszenierung steht nicht die Aura der Ware, sondern der häßliche männliche Konsument: Splitternackt und nicht eben idealschön, Zigarette rauchend und nur den Penis "schamhaft" mit einer Dose F/w-Scheuerpulver verdeckt, verkörpert der Dichter hier selbst die Rolle des gewalttätigen und sexistischen Konsummonsters Godzilla, denn die Konsumgegenstände, die er um sich herum gehäuft hat, bestehen nicht nur aus Lebensmitteldosen, sondern auch aus einem kopflosen weiblichen Körper, der ganz auf seine Geschlechtlichkeit reduziert erscheint und so zu einer "Büchse" neben vielen anderen wird.31 - Eine Art pornographische

30 Systematischer, als das hier der Fall sein kann, verglich Gerd Gemünden die ästhetischen Konzeptionen Rolf Dieter Brinkmanns und Andy Warhols: The Depth of the Surface, or, What Rolf Dieter Brinkmann Learned from Andy Warhol. In: The German Quarterly 68:3 (1995), S. 235-250. 31 Brinkmann spielt in seiner Bildinszenierung sicher bewußt mit der vulgären Bezeichnung des weiblichen Genitals als "Büchse". Vgl. den Eintrag "Büchse" bei Borneman, Ernest: Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes. Reinbek bei Hamburg 1971. Psychonalytische Untermauerung liefert Sigmund Freud: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Bd. II: Die Traumdeutung. Frankfijrt/Main 1989, S. 169.

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Variante zu Warhols berühmter Campbell-Soup, auf die das Photo versteckt, aber doch wahrnehmbar anspielt.32 Mit dieser abschließenden Geste der Selbstentblößung authentifiziert Brinkmann die zuvor vorgenommene textuelle Beschmutzung der Warenästhetik im Rückgriff auf das eigene, nackte Leben - wobei der Eindruck der Authentizität weniger durch das Zeigen des nackten Körpers selbst, als durch den offensichtlich privaten Charakter des Inszenierungsraums und die schlechte Bildqualität der Schwarzweißaufnahme entsteht. Noch einmal wird das voyeuristische Dispositiv gebrochen und die Schaulust an der posierenden weiblichen Geschlechtlichkeit gründlich verdorben, indem der Blick des Betrachters dem Blick des unappetitlichen Monster-Mannes ausgeliefert wird. Aus feministischer bzw. gendertheoretischer Perspektive muß man sicherlich auch dieser Nacktheitsinszenierung Phallozentrismus, Reproduktion tradierter Geschlechterrollen und die Funktionalisierung des Bildes der Frau zur Errichtung männlicher Autorschaft vorwerfen. Man wird aber auch feststellen können, daß Brinkmanns Sehnsucht nach "einfachen" Bildern in der Auseinandersetzung mit der medial freigesetzen und vermarkteten Nacktheit um 1968 eine andere ästhetische Qualität gewonnen und sich die Position des männlichen Subjekts dabei doch deutlich verändert hat. Während sich dieses Subjekt zuvor, etwa im schon erwähnten StripText, an die Stelle eines Kameraobjektives projizierte und den Oberflächenreiz der wahrgenommenen Objekte dadurch mit dem selbstvergessenen, weil den Körper absentierenden Blick der Apparatur registrieren konnte, setzt es sich jetzt, in frontaler Auseinandersetzung mit den Bildern, unter Einsatz des eigenen Körpers selbst mit aufs Spiel. Der etwas dramatische Ton dieser Formulierung ist dabei durchaus nicht unangemessen, bedenkt man die Radikalität der aggressiven Selbstentblößungen Brinkmanns in dieser Zeit (Zeitgenos-

32 Die Anspielung auf die zur Pop-Ikone gewordene Campfte/Z-Suppendose ist am Detail der Dose zu bemerken, die rechts neben Brinkmanns Bein steht. Der Schriftzug des Markennamen endet auf "belli" und gleicht in der gewählten Schrifttype auffällig dem amerikanischen Produkt. Daß dieser Bezug auf Warhol tatsächlich intendiert war, zeigt sich auch an der Tatsache, daß Brinkmann sein Selbstporträt noch einmal im Gedicht Vanille verwandte, wo explizit auf die berühmte Dose referiert wird: "Im Anfang war die Dose (Inhalt Suppe/ nämlich Campbells Soup zu 17 14 cent)"; Brinkmann, Rolf Dieter: Vanille, S. 122.

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sen kolportieren, daß er bei seinem kynischen Körper-Protest soweit gegangen sein soll, vor laufender Kamera zu masturbieren).33 Das Erlebnis sinnlicher Augenblickshaftigkeit, das im 1967 veröffentlichten Gedicht Einfaches Bild beim imaginären voyeuristischen Blick unter den Rock der Frau mit melancholischer Lust genossen werden konnte34, scheint jedenfalls in Godzilla, nur ein Jahr später, von der Realität vermarkteter Nackheit bereits so stark bedroht, daß der Autor zur Verteidigung des Innenraums seiner eigenen (männlichen) Phantasie gegen den Ansturm der Außenreize schritt. Die Exaltation des Tonfalls, den Brinkmann bei seiner Suche nach einer "authentischen" Sinnlichkeit zwischen Porno und Pop gerade auf dem Höhepunkt der antiautoritären Protestbewegung anschlug, zeugt weniger von Sicherheit als von ambivalenter Angstlust. Hinter den euphorischen Proklamationen vom Glück im Zentrum der Dinge35 lauerte bereits der Umschlag von der Begeisterung am Alltagsmaterial in einen geradezu phobischen Ekel vor der Reizüberflutung durch den zivilisatorischen Wort- und Bildmüll, wie er sich dann nach Brinkmanns Krise Anfang der 70er Jahre in den posthum publizierten Materialbänden offenbarte. 36 Daß die rückhaltlose Hingabe des Autors an eine sensualistische Oberflächenwahrnehmung nicht Ausdruck eines naiven Hedonismus war, sondern eher als strategischer Versuch zur Bewältigung einer Identitätskrise zu verstehen ist, zeigte sich dabei bereits in seinem 33 So die Aussage von Dieter Wellershoff in seinem Gespräch mit Gunter Geduldig und Marco Saguma (Hg.): Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, S. 123. Die Super-8-Filme, mit denen Brinkmann unter Einfluß der Produktionen aus Warhols Factory kurze Zeit experimentierte, sind meines Wissens für die Öffentlichkeit wenigstens momentan nicht zugänglich. 34 "Ein Mädchen / in / schwarzen / Strümpfen / schön, wie sie / herankommt / ohne Laufmaschen. / Ihr Schatten / auf / der Straße / ihr Schatten / an der Mauer. / Schön, wie / sie / fortgeht / in schwarzen / Strümpfen / ohne Laufmaschen / bis unter / den Rock"; aus der Anthologie Was fraglich ist wofür. Köln, Berlin 1967. Zit. nach Brinkmann, Rolf Dieter (1980), S. 124. 35

Wir werden endlich im Zentrum der Dinge glücklich sein lautete das Motto Frank O'Haras, dem sich Rolf Dieter Brinkmann zustimmend anschloß: Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen 1969..., S. 249f. 36 Vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979. Ders.: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch). Reinbek bei Hamburg 1987. Sowie ders.: Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988.

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Romandebüt Keiner weiß mehr, das als gültiger Ausdruck einer "neuen literarischen Generation"37 rezipiert wurde und Brinkmann erstmals größere Aufmerksamkeit im Feuilleton verschaffte. 1968 erschienen, aber bereits zwei Jahre zuvor begonnen, bildet dieses Prosawerk nicht nur eine Brücke zwischen Brinkmanns frühen Schreibexperimenten im Umfeld des "neuen Realismus" und der späteren popästhetischen Phase, er liefert zugleich die leidensvolle subjektive Vorgeschichte zur Aufbruchseuphorie in den späten 60ern.

Keiner weiß mehr: nacktes Leben zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie Der Roman setzt dort an, wo das 1966 veröffentlichte kurze Prosastück Nichts weiter aufhörte: an einem detailliert, in einer Art Wahrnehmungsprotokoll beschriebenen Augenblick angespannter Stille, der einen kurzen Moment der Pause bedeutet im gewaltgeprägten Geschlechterkampf zwischen einem anonym bleibenden Mann und einer ebenso anonymen Frau.38 Der Stillpunkt, den Nichts weiter festhält, bezeichnet auch das leere Zentrum, um das der Roman mit seiner obsessiven, fortschrittslosen Bewegung im Kreise rotiert.39 Es ist die Leere einer privaten Sinnkrise, in der der männliche Protagonist steckt, als dessen Vorbild stets der reale Autor erkennbar bleibt. Die intendierte Selbstenblößung, die Brinkmann mit dem über viele konkrete, quasi-empirische Einzeldetails erreichten Kurzschluß zwischen Realität und Fiktion leistet, folgt dabei jedoch nicht dem konventionellen Erzählaufbau des autobiographischen Genres. Das Leben des Autor-Protagonisten wird nämlich nicht als chronologisch verlaufende Geschichte aus der Perspektive eines Rückschau haltenden Ich-Erzählers ex post beschrieben, sondern als Protokoll eines 37 Schulze-Reimpell, Werner: Kampfplatz Ehe. Der Roman einer neuen literarischen Generation. In: Christ und Welt, 5.4.1968, S. 41. 38 Brinkmann, Rolf Dieter: Nichts weiter. In: ders. 1982, S. 72-76. Die Erzählung erschien erstmals im Merkur 20:219 (1966), S. 550-555. 39 Zur Kreisbewegung als Strukturprinzip des Romans vgl. Chittka, Nicola: Kreisbewegung - Rolf Dieter Brinkmanns 'Keiner weiß mehr'. In: Weifengarten 8 (1998), S. 132-141.

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subjektiven Bewußtseins heraus im Akt der Darstellung erzeugt, also performativ hervorgebracht. Eine selbst völlig neutral bleibende Erzählinstanz registriert den Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont einer Figur, die stets der bestimmende und ausschließliche Zugang zum Geschehen bleibt.40 Die im Titel ausgestellte erkenntnistheoretische Skepsis wird so als formales Darstellungsprinzip umgesetzt; tatsächlich weiß keiner mehr vom oder über das Leben des Protagonisten als dieser selbst: weder Autor noch Erzähler, und erst recht nicht der Leser, der als Mitwisser wider Willen im Bewußtseinszimmer der männlichen Figur eingeschlossen wird. Er sieht sich so den obsessiven Selbsterkundungen eines namenlos bleibenden Mannes ausgeliefert und dessen Beziehungsproblemen mit einer ebenso namenlosen "Sie" und dem störenden Kind, das schon grammatisch auf den Status einer bloßen Sache festgeschrieben wird. In der formalen Annäherung an eine "filmische", an der äußeren Materialität der Dinge orientierten Wahrnehmung41 und der Verweigerung einer linear verlaufenden, chronologisch aufgebauten Geschichte trifft sich Brinkmanns Text mit den Anliegen des Nouveau Roman. Allerdings bleibt er anthropozentrisch auf das subjektive Befinden und Selbstbewußtsein eines Individuums gerichtet, das nicht durch die Objektwelt abgelöst ist, sondern in eine verzweifelte Konkurrenz zu dieser tritt. Einfach und ohne Bedeutung da zu sein wie ein Ding, wird gleichermaßen Wunschvorstellung wie Alptraum des jungen Familienvaters, der keinen Ausweg aus seiner privaten Misere findet, dieser "Niederlage, die dauerte und nach außenhin so et40

In erzähltheoretischer Terminologie ist Brinkmanns Verfahren wohl am besten als "erlebte Rede" (bzw. "style indirect libre") zu bezeichnen. 41 Es steht außer Frage, daß der Film als ein Leitmedium flir die Ästhetik der Oberfläche in den 60er Jahren fungierte. Das gilt nicht nur für Rolf Dieter Brinkmann, der den "Film in Worten" als sein literarisches Anliegen definierte (vgl. Der Film in Worten, in: ders. 1982, S. 223-247), sondern ebenso für Alain Robbe-Grillet, der mit seinen "ciné-romans" nicht zu unrecht als ein herausragender Exponent filmischen Schreibens gilt. Auch Susan Sontag sah ihr Ideal einer oberflächlichen Kunst im Film verwirklicht: "Theoretisch ist es möglich, den Interpreten auf eine andere Weise zu entgehen, durch Kunstwerke nämlich, deren Oberfläche so geschlossen und klar, deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist, daß das Werk sein kann, nun, ganz einfach sein kann, was es ist. Ist das heute praktisch möglich? Im Film, meine ich, ist dieses Prinzip bereits verwirklicht. Daher ist der Film gegenwärtig die lebendigste, erregendste und bedeutendste aller Kunstgattungen" (Gegen Interpretation, in: Sontag, Susan (1968), S. 16).

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was wie Liebe war".42 Nacktheit erscheint im Verlauf seines assoziationsgeleiteten "stream of consciousness" als der körperliche Zustand für die ambivalente Sehnsucht nach einer "bloßen", funktionsund grundlosen Präsenz. Als ein solches Moment der Authentizität taucht an zentraler Stelle, nicht zufallig genau in der Mitte des Textes, die Erinnerung an die Begegnung mit einer Prostituierten auf, die bewußtlos am Boden lag: Der Pullover schob sich wieder hoch und ließ weiß ein Stück Bauchfläche sehen wie herausgequollen aus dem Stoff, weich, sehr fleischig, ein Fleck, atmend, den er hochzuziehen versuchte, an sich heran, und den er kurz, da er sie, die Frau, unter ihm erschlafft auf der Straße liegend, hochzuziehen versuchte, in den Händen hatte [...] er sah auf sie wieder herunter, wie sie da zusammengefallen lag, ein großes Bündel, ganz durcheinandergeraten als ein dichtes fleischiges Gefühl davon in ihm, innen da, ein Stück Nacktheit, Haut, die Bauchfläche, Nuttenfleisch, ein Stück Nuttenfleisch, ohne daß er aber diese kleine spießige Erregung spürte wie sonst, wenn er durch den Durchgang ging. Das hier war weich in ihm abgedrückt, war intensiv da, diese nackten weißen Stellen an ihr hatten ihm eingeleuchtet, ohne daß er sich darum bemüht hatte, sie waren einfach da, warm, weich, etwas fett, und er konnte sie später, wenn er wollte, noch immer an seinen Händen spüren, warm, weich, etwas fett die Stellen, ganz da, keine Reste, das ganze war keine Geschichte, die sich für etwas anderes erzählen ließ, was es nicht war, aber man dafür hielt, als sei es eine Geschichte [...] (S. 96f)

Die plötzliche intime Berührung mit dem sonst nur als konsumierbaren Warenkörper wahrgenommenen "Nuttenfleisch" wird nachgerade zu einem profanen Erweckungserlebnis stilisiert, zum lustvollen und erhabenen Ereignis, dessen Intensität den Protagonisten übermannt und in ihren Bann schlägt, wie die mehrfache unwillkürliche Wiederkehr der Szene im Laufe der Erzählung bestätigt. Es ist das Versprechen der geschichtslosen Augenblickshaftigkeit der Sinne, das zwar jeder Ware anhaftet, aber sich erst erfüllen kann, wenn diese von ihrem Zweck erlöst wird. Erst in dem Augenblick, in dem die Hure in unschuldiger Bewußtlosigkeit gänzlich verfugbar ist, wird 42 Ich zitiere nach der Taschenbuchausgabe von Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 41. Einfache Seitenangaben im Text beziehen sich im folgenden auf diese Quelle.

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sie zugleich aus ihrer sexuellen Geschlechtsfunktion befreit und erlangt so den Status eines "authentischen" Objekts. Soweit die ein wenig mystische, obgleich unfromme Männerphantasie Brinkmanns, über deren regressive Züge man sich nur lustig machen oder aber politisch korrekt ärgern könnte43, wäre sie nicht in den Kontext einer Prosa eingebettet, die sich solcher Phantasien nicht mehr bedient, um mit ihrer Hilfe die Fiktion überlegener männlicher Autorschaft zu errichten. Die Position des Autors gerät in Keiner weiß mehr vielmehr in den Strudel eines Selbstzweifels, der literarisch mit einer Eindringlichkeit und obsessiven Genauigkeit dargestellt ist, die dem Leser eigentlich nur die Möglichkeit läßt, sich sofort in Distanz dazu zu begeben oder sich ihr vorbehaltlos auszusetzen. Es handelt sich um eine Selbstentblößungsliteratur, die sich dem Ideal einer "authentischen" Nacktheit verschreibt, das alles andere als schön ist. Intendiert ist eine Entblößung des Alltags, der möglichst direkt und unverfälscht, d. h. auch in seinen schmutzigen und unappetitlichen Facetten zur Schau gestellt werden soll. Das Bekenntnis des Protagonisten zum Exhibitionismus darf man getrost auch als ein poetologisches Prinzip auffassen, das die Form des Romans selbst bestimmt: Sie hatte gesagt, was weißt du denn von mir, was, wie ich bin, eigentlich. Er sagte sich, daß sie ihn damit nur hinhalten wollte, ein einfacher Trick, der ihm so leicht durchschaubar vorkam [...] Jeder versteckte sich vor dem anderen, ganz offensichtlich, und deswegen, hast du mich gefunden, glaubst du, das wär ich nun. Aber das ist nur gedacht. Es ist nicht wahr. In Wirklichkeit bin ich anderes, ich bin da, so, und gar nicht versteckt, wenn du das glaubst. Und nehmen wir an, daß es tatsächlich so ist. Dann blieb doch nur eines übrig, das nämlich so auszusprechen, Satz um Satz, Gedanken nach Gedanken wie Schichten von Kleidung, die man auf sich gepackt hat, um nicht zu frieren, Unterkleidung, Ober43 Nicht zufällig geht der nachhaltige Eindruck des Nuttenfleischs gerade nicht von einer Körperregion aus, die sexuell konnotiert ist, sondern von der "mütterlichen" Bauchregion. Daher auch die Assoziation mit den Attributen der Wärme und Weichheit, die an die intrauterine Geborgenheit des Fötus denken lassen. Die Phantasie des betrachtenden Mannes dringt in einer Art invertiertem Geburtsvorgang gleichsam durch den Bauchnabel direkt in die Gebärmutter. Die Beschreibung des Frauenkörpers changiert in der zitierten Szene somit zwischen den beiden Polen, auf die das männliche Imaginäre die sexuelle "Natur" der Frau traditionell festzuschreiben versucht hat: Mutter oder Hure.

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hemden, Hosen, Socken, Schuhe, Jacken, Schlipse, Mäntel, ein Schal. Aber einmal mußte man das alles doch ablegen können, vielleicht um den Preis, daß man dann etwas fror. Man mußte sich aber hinstellen und sich zeigen, ohne Rücksicht, ob es vorteilhaft war, denn schließlich konnte man sich immer noch so hindrehen, daß es irgendwie selbst dann noch etwas vorteilhaft wirken mußte, weil der andere, der zusah, auch seine Kleidungspacken abgelegt hatte und auch wie man selber nackt war. [...]. Und die Blöße, die man einander dann dort zeigte, war nicht nur bloß Haut. Es waren genauso auch Pickel, wenige, winzige, oben am Gesäß. (S. 91) Es kann kaum verwundern, daß "Er" mit einer solchen fundamentalistischen Sehnsucht nach schrankenloser Intimität keine wirkliche Befriedigung im eigenen Lebensalltag zu finden vermag. Die Beziehung zwischen den Eheleuten leidet deshalb gerade auf sexueller Ebene unter der Überlast an Erwartungen, die dem bloßen Körper aufgebürdet werden, und fuhrt zu Frustrationen, die "Er" in äußerst gewaltsamen Aggressions- und Tötungsphantasien auslebt (so etwa in der berüchtigten, detailliert ausgeschilderten Abtreibungsphantasie 44 ). Der Liebesakt soll nicht weniger leisten als einen sinnlichen Gegenort zur Gesellschaft zu bilden, einen Raum der individuellen Selbstverkörperung, an dem die alltägliche Manipulation der Sinne, die Flut der Bildreize und der Eindrücke aus zweiter Hand endlich zu ihrem Stillstand kommen sollen, damit ein spontan-unmittelbares Erleben wieder möglich werde. Gerade das scheinbar Privateste, die sexuelle Lust, erweist sich jedoch als durch und durch gesellschaftlich vermittelt und von den modernen Disziplinierungstechniken der Macht bestimmt, die Michel Foucault analysiert hat 45 ; Brinkmanns Roman bezieht einen guten Teil seines Skandalpotentials daraus, daß er mit völlig emotionslosem, nüchternem Duktus Bilder einer aseptischen Instant-Konsum-Sexualität beschreibt, die schon lange vor Michel Houellebecq auf drastische Weise verdeutlichen, daß die öffentliche Freisetzung von Sexualität, welche die 60er Jahre kennzeichnete, keineswegs nur positiv auf eine Befreiung der Individuen und ihrer Lüste aus repressiven Moralvorschriften hinauslief, son-

44 Vgl. S. 13f. 45 Vgl. insbesondere Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. B d . l : La volonté de savoir. Paris 1976.

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dem ebenso deren Vereinzelung zu sozialen Monaden Vorschub leistete.46 Keiner weiß mehr reflektiert diese Isolierungstendenzen immer wieder in melancholischen Szenarien onanistischer Selbstbefriedigung, am detailliertesten gegen Ende des Romans, wenn sich der Protagonist nach erfolglosen Versuchen, eine Prostituierte zu finden, selbst auf dem Zimmer des Christlichen Hospiz-Hotels Befriedigung verschaffen muß (S. 158ff). Brinkmann destruiert an dieser Stelle einmal mehr brutalstmöglich die Aufbruchshoffhungen seines Protagonisten als einen unerfüllbaren Wunsch. Die Reise von Köln nach Hannover fuhrt ihn nicht an einen "anderen" Ort, wo er seinen Alltag abstreifen könnte und eine erfülltere Existenz auf ihn wartet, sondern bloß in eine Stadt, die dem gefräßigen Auge des Flaneurs nichts Neues zu bieten hat: "Mensch, was ist das für eine Stadt. Das ist keine Stadt. Das ist nichts." (S. 138) Es ist allerdings zu bezweifeln, ob die von ihm gesuchte Stadt überhaupt real existieren könnte. Zwar erscheint das poppige London immer wieder als ein Gegenort zur bundesrepublikanischen Enge und liefert, vermittelt über den Freund Rainer, ja auch den Rock'n-Roll-Beat, der die Sehnsüchte nach einem Ausstieg aus der Alltäglichkeit anheizt; 47 im Grunde zielt das Begehren des Protagonisten jedoch auf einen utopischen Un-Ort der Sinne, auf die Raum- und Körperlosigkeit eines totalen Gefühls, wie es auch im Akt der Selbstbefriedigung angestrebt wird: Es ist eine überdimensional große, steife, erigierte Z u n g e , die Z u n g e überhaupt. Sie hört nicht auf zu schlecken. D a s Gefühl ist total. Ein absolutes Gefühl, das fertigmacht. Ein M o m e n t der Freiheit. Der Heizkörper summt und summt. Laß alles stehen und liegen und spring. Spring

46 Es ist daher einigermaßen absurd, Brinkmann als einen "Oswalt Kolle für Literaten" zu kritisieren und in die Nähe der Pioniere der sexualpädagogischen Aufklärungswelle seiner Zeit zu rücken, die von einem naiven Glauben an die "gute" sexuelle Natur des Menschen erfüllt waren. Vgl. dazu die Rezension von Helmut Salzinger: Oswalt Kolle für Literaten. In: Frankfurter Rundschau, 24.3.1968, S. VI. 47 Zu Brinkmanns Begeisterung für London und Großbritannien, für die Ralf Rainer Rygulla maßgeblich mitverantwortlich war, vgl. Waine, Anthony: Fatal Attractions: Rolf Dieter Brinkmann and British Life and Culture. In: The Modern Language Review 87:2 (1992), S. 376-392.

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Hanno Ehrlicher doch endlich. Spring. Das Fluggefuhl in der Sekunde des Absprungs ist das beste. Ich komme. (S. 160)

Der Traum einer totalen Entblößung des (männlichen) Selbst, den Brinkmanns Roman in all seiner Ambivalenz zur Schau stellt, fuhrt letztlich ins Meta-Physische. Der Autor bezeichnete seine poetologische Forderung nach einer "neuen Sensibilität" in einem Rundfunkessay 1969, kurz vor Beginn seines öffentlichen Verstummens, denn auch selbst expressis verbis als eine Utopie, die er ins Bild von den "nackten Astronauten im Raum" faßte. 48 Visualisiert wird hier eine lustvoll-thanatische Auflösung des einheitlichen Subjekts, ganz im Sinne von Georges Batailles Verständnis vom Erotischem als einer Suche nach einer Identität, die über die unmittelbare, diskontinuierliche Welt hinausstrebt. 49 Brinkmanns "empirisches", an den Gegenständen des Alltagslebens orientiertes Schreiben versuchte, dieser Sehnsucht einen Ausdruck zu verleihen. Es ist demnach als Realismus im traditionellen Sinne gründlich mißverstanden. Allenfalls handelt es sich um einen "Realismus, der über sich selbst hinaus will". 50 Obwohl Keiner weiß mehr inhaltlich resignativ-sarkastisch mit der Botschaft von der Unveränderlichkeit der eigenen Existenz endet, setzt der Roman als Ganzes gesehen, als manischer Versuch zur eigenen sprachlichen Form, dieser Botschaft zugleich einen entschiedenen Widerstand entgegen. Die Sinnlichkeitsutopie, die im Lebensalltag scheitern muß, wird zugleich ansatzweise realisiert in einer literarischen Sprache, die den referenziellen Sprachgebrauch an den Rand des eigenen Abgrunds drängt und tendenziell durch ein performatives, gestisches Text-Theater ersetzt. Brinkmanns Bemühen um eine "Sprache jenseits der Sprachen, in der Ich und Dinge 'zur Sprache kommen'", wie es Hans-Thies Lehmann in einem ein-

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Brinkmann, Rolf Dieter: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 147-155, hier S. 152. 49 Bataille, Georges: Der heilige Eros. Neuwied, Berlin 1963. 50 So die Überschrift einer Rezension Heinrich Vorrawegs, der den Roman m.E. zu Recht als Ausdruck eines metaphysischen Begehrens deutete und konstatierte: "Vielmehr ist Brinkmann, so läßt sich diesem Roman ablesen, Realist, um die Realität sozusagen zu disqualifizieren und sie hinter sich zu bringen"; Vormweg, Heinrich: Ein Realismus, der über sich hinaus will. In: Merkur 22:243 (1968), S. 660-662.

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fuhlsamen Essay beschrieb 51 , deutete sich in seinem ersten Roman zwar schon an, wurde aber erst im posthum erschienene Spätwerk, nach der Ernüchterung, die der kurzen popästhetischen Euphorie der späten 60er Jahre folgte, in aller Konsequenz sichtbar.

Laßt das Stille-Virus frei - der übersinnliche Sprachleib Brinkmanns Entsublimierung der Literatur zielte also im Grunde weniger auf das materialistische pornographische Phantasma von der nackten Wahrheit der Sinne52, als vielmehr auf den Versuch, das eigene, individuelle Körperbefinden in Sprache zu übersetzen. Ein Übersetzungsvorgang, der gleichzeitig die Versinnlichung von Sprache durch deren subjektive Aneignung impliziert wie die Transformation des realen Körpers in einen symbolischen zweiten Leib. Brinkmann, der bei diesem Versuch, zu einer eigensinnigen Sprache zu gelangen, zunächst auf die Nähe zur populären Alltagskultur und das Provokationspotential des Obszönen gesetzt hatte, mußte schon bald feststellen, daß er damit letztlich nur die hektische Produktion sinnstiftender Diskurse, der er zu entkommen trachtete, selbst mit antrieb. Der Kulturbetrieb holte mit seiner routinierten Diskussionsfreude den "Skandal" der Selbstenblößungsästhetik ein. Der Roman Keiner weiß mehr, den Brinkmann bewußt als Provokation angelegt hatte und in der Überarbeitungsphase systematisch durch Ein- bzw. Ausbau obszöner Stellen "verschärfte" 53 , erreichte zwar die Aufmerksamkeit, die erwünscht war, aber nicht in der erwünschten Form. Er wurde nicht als Dokument eines verzweifelten Eigensinns 51

Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/ BILD/ SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Literaturmagazin 36, S. 182-197. 52 Zur Analyse dieses Phantasmas vgl. Vinken, Barbara: Cover-Up. Die nackte Wahrheit der Pornographie. In: dies. (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. München 1997, S. 7-23. 53 So jedenfalls die Aussage Ralf-Rainer Rygullas in: Geduldig, Gunter / Sagurna, Marco (1994), S. 98. Aufgrund seiner obszönen Stellen durfte der Roman nur mit einem warnenden Beipackzettel verkauft werden. Dieses Detail entnehme ich der Rezension Karl Heinz Bohrers, der den genauen Wortlaut des Zettels zitiert, den er für einen irreführenden Werbegag hält: Neue panische Welt. Rolf Dieter Brinkmanns erster Roman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 5. 1968.

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wahrgenommen, sondern als zeittypisches Produkt der sexuellen Revolte. Egal ob als anachronistischer Beitrag eines "Oswalt Kolle für Literaten" verspottet oder als "außerordentliche" literarische Leistung von Marcel Reich-Ranicki höchstpersönlich gefeiert 54 - das schockierende, transgressive Potential der Selbstenblößung wurde geschäftig diskutiert und mit der gleichen professionellen Distanz behandelt, mit der das Feuilleton eben auch auf die sonstigen Produkte des Marktes reagierte. Brinkmann versuchte sich zunächst noch gegen die liberale Akzeptanz durch eine letzte Steigerung der Aggressionen bis hin zum Akt rhetorischen Terrorismus zu wehren55, als er dann jedoch auch noch "die zärtlicheren wilden Gefühle", die er im Aufbruch der Protestkultur von '68 ausgemacht hatte, "in ensetzlichem politischen Geschwätz" untergehen sah 56 , zog er sich resigniert aus der Öffentlichkeit zurück. In trotziger Einseitigkeit führte er nun einen aussichtslosen Kampf gegen die gesamte Zivilisation, die er als universellen Destruktions-zusammenhang wahrnahm, als ökologische und semantische Umweltverschmutzung. Der euphorisierende Rausch, den Brinkmann aus dem direkten Umgang mit den Materialien der Alltagskultur gezogen hatte, schlug nun in einen nachgerade phobischen Ekel vor der kulturindustriellen Überproduktion "sinnloser Zeichen" um. Die wenigen poetologischen Äußerungen aus den 70er Jahren entwerfen unter Bezug auf amerikanische Science-Fiction-Romane wie William Burroughs Nova Express oder Colin Wilsons The Mind Parasite immer wieder paranoische Schreckensszenarien von der Besetzung des eigenen Körpers durch ein fremdes Bewußtsein. 57 Laßt das Stille-Virus frei

54 Vgl. die bereits erwähnte Rezension von Helmut Salzinger (Anm. 46) sowie Reich-Ranicki, Marcel: Außerordentlich (und) obszön. In: Die Zeit 17, 26.4.1968, S. 24. 55 Gemeint ist die verbale Drohung Brinkmanns gegen Marcel Reich-Ranicki auf einer Lesung in der Berliner Akademie der Künste, wobei der berüchtigte Revolverschuß aus dem zweiten surrealistischen Manifest André Bretons zeitgemäß durch ein Maschinengewehr ersetzt wurde. Eine Anekdote, die Karl Heinz Bohrer in seine Analyse zur Lage der Kunst nach '68 aufnahm: Surrealismus und Tenor oder die Aporien des Juste-milieu. In: Merkur 23:258 (1969), S. 921-940. 56 Brinkmann, Rolf Dieter (1987), S. 135a. 57 Vgl. Rolf Dieter Brinkmanns Rezension zu William Seward Burroughs' Roman Nova Express: Spiritual Addiction. In: Brinkmann, Rolf Dieter (1982), S. 203-

Ästhetik der Entblößung

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wird zum Widerstandsmotto in der Schlacht um das Nervensystem des Menschen, der sich auch Brinkmann mit seiner furiosen, apokalyptischen Zivilisationskritik verschrieb. 58 Die wütenden und zur megalomanischen Selbststilisierung neigenden Attacken gegen die "ganze sumpfige schlammige Häßlichkeit der Welt, das Gerümpel, die Flut elender Bilder und Vorstellungen", welche die posthum erschienenen Materialbände kennzeichnen 59 , bildeten allerdings nur die extrovertierte Seite eines phantasmatischen Begehrens nach dem einen Ausdruck jenseits konventioneller, gesellschaftlich determinierter Zeichen. Die andere, introvertierte Seite wird vor allem im ebenfalls posthum veröffentlichten Gedichtband Westwärts 1&2 deutlich. Programmatisch taucht dort gleich in der Vorbemerkung der meditative Blick auf das unbeschriebene weiße Blatt Papier als Statthalter der Sehnsucht nach reiner Präsenz auf, nach einer zeichen-losen Leere, die die Mechanik der Realität für einen Moment durchbricht. Die Utopie sinnlicher Augenblickshaftigkeit wird hier längst nicht mehr im Umgang mit den Dingen der Alltagskultur gesucht, sondern in einer Versenkung in innere, stumme Bilderwelten. Als ein Beispiel für die Stilleben der Sprache, die Brinkmann dabei kreierte, sei der Schluß des Gedichts Variation ohne ein Thema zitiert: nicht die Form dieser Straße, durch die ich gehe, verstehen nicht die Form der Wolken, die Fläche, weiß an den Rändern, nicht die Liebe verstehen, die Zunge über einen Körper, die Bauchfläche, der salzige Geschmack der Haut, der Schweiß, und nicht die Negationen der Sprache verstehen, während ich dich zärtlich berühre, sanft, ohne Scheu, & was gesagt ist, vergessen...60 206. Außerdem die "Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans", ebd., S. 275-295. 58 So der Titel, unter dem die erwähnte Burroughs-Rezension am 24.7.1971 in der Stuttgarter Zeitung erschien. 59 Das Zitat stammt aus Brinkmann, Rolf Dieter (1979), S. 427. 60 Brinkmann, Rolf Dieter: Westwärts 1&2. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 150. Der Band, der noch von Brinkmann persönlich für den Druck vorbereitet wurde, erschien erstmals kurz nach dem Tod des Autors, der am 23.4.1975 durch einen Unfall in London ums Leben kam.

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Brinkmanns Ästhetik der Entblößung endet so letztlich nicht in einem biologistischen Materialismus der Sinne, sondern in der übersinnlichen, spirituellen Erotisierung der Sprache zu einem bildhaftkonkreten Corpus der Wünsche. Nacktheit als das erstrebte Ziel des Entblößungsvorganges fungiert in seinen literarischen Schriften damit nicht als Zeichen einer vorausgesetzten präzivilisatorischen, "unmittelbaren" Natur, sondern ist als performative Darstellung eines subjektiven Willens zur Überschreitung kultureller Normierungen zu verstehen. Ein symbolisches Aus-der-Haut-Fahren, um die "blockierte Traummaschine Körper" wieder in Bewegung zu versetzen und in imaginäre Sphären zu katapultieren, die sich jenseits der Empirie befinden.61 Brinkmann verstand sich wie Burroughs als eine Art "Kosmonaut des inneren Raums"62 und so indizieren die Worte des Amerikaners wohl auch die Richtung seiner eigenen, meta-physischen Entblößungsliteratur: "Es ist Zeit, daran zu denken, den Körper hinter uns zu lassen. Wenn Sie anfangen, in Bildern zu denken ohne Wörter, befinden Sie sich auf dem Weg!"63

61 Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen und Beobachtungen..., S. 284. 62 Die schöne Metapher, die an Brinkmanns Bild von den nackten Astronauten im Raum denken läßt, entnehme ich einem Aufsatz von Uwe Schweikert: 'Sehen heißt heute erleben'. Notizen bei der Lektüre von Rolf Dieter Brinkmann. In: Literaturmagazin 36, S. 198-207, hier S. 202. 63 Brinkmann, Rolf Dieter: Spiritual Addiction, S. 205.

VI. Nackt im Auge der Betrachter(in) Wie nackt sind die Akte? Von himmlischen Hüllen und göttlichen Dessous

Andrea Reichel

Wir habend einen solchen huffen götzen! Einen bekleiden wir mit harnest, sam er ein kriegssknecht sye, den andren als einen büben oder hürenwirt, daran die wyber frylich zü grossen andacht bewegt werdend. Die säligen wyber gstaltet man so hürisch, so glat und ussgestrichen, sam sy darumb dahyn gesteh syind, das die mann an inen gereitz werdind zü uppigheit.1 Diese in den Schriften Huldrych Zwingiis formulierte und oft zitierte Bildkritik, deren Publikation in einer Zeit erfolgt, zu der das "nakett pild"2 in der Malerei nördlich der Alpen bereits etabliert ist 3 , erweist sich für die kunsthistorische Auseinandersetzung mit der Inszenie1

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In dieser Form äußert Zwingli in der 1525 publizierten Schrift 'Auslegung des 20. Artikels', in: Sämtliche Werke, hg. von E. Egli, Bd. 4, Leipzig 1908, S. 218, seine Bildkritik, die sich in ähnlichen Formulierungen wie sie etwa auch Martin Bucer wählt, gegen den die Augenlust provozierenden Kirchenschmuck richtet. Mit jenem Begriff ist Albrecht Dürer zitiert, der als Protagonist des Aktbildes verstandenen werden kann, s. dazu B. Hinz: Nackt/Akt - Dürer und der Prozeß der Zivilisation, in: Städel Jahrbuch, NF 14, München 1993, vgl. hier vor allem S. 219. Als ein Beispiel von vielen sei in dieser auf den männlichen Akt gerichteten Untersuchung die Publikation von M. Walters: The nude male. A new perspective. Berlin 1979, genannt.

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rung von Nacktheit in Hinsicht auf zwei Problembereiche als aufschlußreich, die in den anschließenden Bildbetrachtungen zu diskutieren sind.4 Zum einen vermag der Blick auf das Objekt, dem der Tadel gilt, die Aufmerksamkeit unmittelbar auf die für den vorliegenden Band programmatische und diesen Aufsatz betitelnde Frage zu lenken, der herauszufinden sucht, wie nackt die Akte sind. Denn nicht jene Aktdarstellungen, die neben Dürer vor allem ein Künstler wie Hans Baidung, genannt Grien, mit seinen malerischen Kompositionen mythologischer Themen in den ersten Jahrzehnten des 16. Jh's. verstanden hat, bildwürdig zu machen, sind es, welche den Unmut der hier zitierten Reformatoren auf sich ziehen. Ihre Empörung über die "unschamhafftigkliche" bildkünstlerische Körperrepäsentation entzündet sich vielmehr an dem Anblick der in den "fräwlichen bildungen auff den altaren"5 agiernden Heiligen und biblischen Personen, wie sie nicht zuletzt auch von Hans Baidung in der Tradition der spätmittelalterlichen Tafelmalerei mit seiner 1512 vollendeten Kreuzigung geschaffen wurden. Ganz im Sinne der Moralforderungen mittelalterlicher Kleiderordnungen scheint sich die reformatorische Bilderfeindlichkeit also vorrangig gegen den verführerischen Reiz der Bekleidung zu richten, in der gleichermaßen die erotischen Phantasien literarischer Darstellungen im Mittelalter zum Tragen kommen.6 4

Für dieses Vorhaben liefert die kostümikonographische Studie über die Ausstattung spätmittelalterlicher Bild- und Bühneninszenierungen der Leidensgeschichte Christi die Grundlage, deren Verhältnis meine Dissertation 'Die Kleider der Passion' zu ergründen sucht. Dementsprechend versteht auch die vorliegende Betrachtung, die sich dem "Akt" der Kreuzigung widmet, "Nacktheit" im Sinne von "Entkleidetsein", dessen Formen es vor dem Hintergrund der bildkünstlerischen Gewandsymbolik zu analysieren gilt. Vgl. Andrea-Martina Reichel: Die Kleider der Passion. Für eine Ikonographie des Kostüms, Digitale Diss. Berlin 1998, hier insbes. das Kapitel 'Mode grenzenlos?', S. 332-354.

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So lautet Bucers Interpretation der zeitgenössischen Altarmalerei. "Dann kein bülerin mag sich", so ereifert sich der Autor, "üppigklicher oder unschamhafftigklicher becleiden oder zieren, dann sie yetzund die mütter gottes, sant Barbaram, Katherinam und andere heiligen formieren". S. Martin Bucer: 'Gesprechbiechlin Neuw Karsthans', in: Deutsche Schriften, Bd. 1, Gütersloh 1960, S. 428.

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Ein Blick in die mittelalterlichen Kleiderordnungen vermag dies deutlich zu machen. Vgl. hierzu beispielsweise L. C. Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350-1700, Frankfürt/Main 1962. In den hier zitierten Vorgaben

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Zum andereren versprechen die reformkritischen Traktate der zitierten Art in der Aussage über ihre Adressaten einen fruchtbaren Beitrag zu der Diskussion um die geschlechtsspezifisch unterschiedlich bewertete Bedeutung und Funktion dargestellter Nacktheit in Hinsicht auf das Verhältnis von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt leisten zu können.7 Die Befürchtungen nämlich, die Zwingli und seine Kollegen gegenüber den in den Bildmedien wirksam werdenden optischen Verfuhrungsstrategien hegen, sind nicht per se auf den männlichen Betrachter bezogen. Hier wird, entgegen der Vorstellung von einer die "abendländische Kultur des Sehens" bestimmenden männlich-voyeuristischen Blickkonstellation8, der begehrliche Blick der "wyber" vorausgesetzt, die sich an "jünckerisch, kriegisch" und "kupelig" ausstaffierten Heiligen Männern delektieren.9

Enthüllungen am Kreuz. Vom Schurz zur Brouch und der Nacktheit unter Christi Lendentuch Über den sinnlichen Anreiz, den ein frühneuzeitliches Altarwerk der Augenlust zu bieten hat, möchte die nachfolgende Befragung der Baldung'schen Kreuzigungstafel Auskunft geben, in der es zu ermitteln gilt, ob das Gesuchte sich im Bild oder aber im Blick des reformerischen Betrachters auf das Altbekannte finden läßt. (Abb. 1)

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werden nicht nur schamlose Enthüllungen durch tiefe Dekolletes oder kurze Männerröcke und extrem eng anliegende Kleidung, unter der sich die Körperformen abzeichnen, getadelt. Ganz im Sinne der höfischen Kultur des Hochmittelalters ist es daneben auch der Kleiderprunk, der aufgrund seiner aufreizenden Wirkung geahndet wird. Wie in der höfischen Literatur scheint das Kleid noch im ausgehenden Mittelalter als Projektionsfläche erotischer Phantasien gedient zu haben, s. Hinz: Nackt/Akt, insbes. S. 201 ff. Eine Interpretationsebene, die den Betrachter als männlich, das Objekt der Betrachtung als weiblich definiert, wie es etwa Daniela Hammer-Tugendhat: Körperbilder - Abbild der Natur, in: L' Homme, S. 51 f., Z. F. G„ 5. Jg. / H. 1, 1994, in Hinblick auf Giorgiones Venus beschreibt. Vgl. ebd. Huldrych Zwingli, Eine Antwort, Valentin Compar gegeben, in: Sämtliche Werke, hg. von Emil Egli, Bd. 4, Leipzig 1927, S. 145f.

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Altbekannt erscheint das, was uns der Maler zeigt, in der Tat. Seine optische Versinnlichung des dramatischen Höhepunktes der in den Evangelien überlieferten Passionsgeschichte knüpft unmittelbar an die Tradition der malerischen und plastischen Kreuzigungsdarstellungen an, die der Kunst des späten Mittelalters nördlich der Alpen ihre Prägung geben. Das Vorbild liefern jene großangelegten Kompositionen, die den in den biblischen Berichten wie außerbiblischen Schriften im Zusammenhang mit dem Kreuzestod Christi geschilderten Ereignissen in breiter erzählerischer Form Ausdruck verleihen und wie etwa Derick Bagerts Dortmunder Retabel personenreich in Szene setzen. Wobei das 16. Jh. den Expansionsdrang bremst, der für den Typus des volkreichen Kalvarienberges als bezeichnend gelten kann, und eine Tendenz zur Reduktion entgegenstellt. Die Detailkenntnis des versierten Betrachters voraussetzend, beschränken die Maler der frühneuzeitlichen Kreuzigungsbilder sich in ihrer Wiedergabe des Geschehens auf die wesentlichen Handlungselemente und damit das Grundschema der Personenbesetzung.10 Dies gilt auch für die hochformatige Berliner Tafel, in deren Rahmen Baidung die Erlösungstat des Gottessohnes vor der Kulisse einer weiten Felsenlandschaft zur Anschauung bringt. Kaum einen Schritte weit entfernt von dem Betrachter erheben sich die hochaufragenden Kreuzesstämme, deren Aufstellung der Formation der Hauptakteure mit der im Hintergrund agierenden Komparsengruppe in ihrem halbkreisförmigen Arrangement die Richtung gibt. Bis unmittelbar unter den oberen Bildrand reicht das zentral installierte Kreuz mit seiner aufgenagelten Inschrifttafel in den wolkenschweren Himmel, welches Christus trägt. Daß die Erlösungstat bereits vollzogen ist, verrät nicht nur die Haltung und Physiognomie des Gekreuzigten, sondern vor allem die Veranschaulichung der im Johannesevangelium beschriebenen Öffnung der Seite, aus deren Wunde ein dünner Blutstrahl an dem blassen Leib herabrinnt.

10 Zur Entwicklung des volkreichen Kreuzigungsbildes s. A.-M. Reichel: Die Kleider der Passion, insbes. das Kapitel 'Die Bilder der Passion', S. 23-40, und zur Bedeutung des spätmittelalterlichen Passionsspiels für die malerische Kreuzigungsinszenierung das Kapitel 'Das Drama der Passion', S. 354-367.

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Bereits in der Kreuzigungsikonographie des Mittelalters vorgegeben ist ebenso das Motiv des als Stephaton bekannten Soldaten mit dem Essigschwamm, der auch hier am rechten Bildrand oberhalb der verschwindend klein erscheinenden Figur des Stifters Aufstellung genommen hat. Sein spiegelbildliches Gegenüber stellt die auffällig gekleidete Rückenfigur eines Soldaten dar, der die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Kreuz des guten Schächers lenkt. Dieser hat, anders als der sich in körperlichen Verrenkungen abwendende Kollege, seinen Blick auf das Antlitz des Heilands gerichtet. Auf ihn weist auch der bekehrte Hauptmann zu Pferde, für den an prominenter Stelle Raum geschaffen ist, um dem Gegenüber vor der Leinwand, welches er zu fixieren scheint, seine Erkenntnis der Göttlichkeit Christi glaubhaft zu vermitteln.11 Traditionsgemäß zur Rechten des Erlösers haben sich die trauernden Familienmitglieder unter dem Kreuz eingefunden und ihren angestammten Platz auf dem Kalvarienberg eingenommen. Im Vordergrund die Gottesmutter und der ihr als Sohn anempfohlene Evangelist Johannes, dicht gestaffelt dahinter die beiden Schwestern Mariens, Maria Salome und Maria Cleophas, sowie am Fuße des von ihr umklammerten Kreuzesstammes, Maria Magdalena, die reuige Sünderin. Entbehrt auch die ekstatische Haltung der Jüngerin in ihrer verzweifelten Liebkosung des Kreuzesholzes nicht einer gewissen erotischen Ausdruckskraft, so läßt sich die Figurenbehandlung, Baidungs, in der vergleichenden Betrachtung doch kaum als frevelhaft oder schamlos beschreiben. Angesichts des Raffinements, das beispiels11 Nach der Beschreibung von Eisler, Colin: Meisterwerke in Berlin. Die Gemälde vom Mittelalter zur Moderne. Köln 1996, S. 126, handelt es sich bei dem Reiter um Longinus, den blinden Centurio, der die Lanze fuhrt und durch das den Lanzenschaft herabrinnende Blut des Gekreuzigten sein Sehvermögen zurückgewinnt. In den spätmittelalterlichen Darstellungen der Kreuzigung, wie z. B. auch in dem Golgathabild des Hamburger Malers Hinrik Bomemann, ist jener allerdings zumeist zur Rechten des Kreuzes plaziert und mit geschlossenen Lidern als Blinder gekennzeichnet, der, mit einer Hand die Lanze haltend, die andere zu den Augen fuhrt. Hier, bei Baidung, scheint jedoch vielmehr der gute Hauptmann gemeint zu sein, der traditionsgemäß zur Linken Christi Aufstellung genommen hat und mit sprechender Geste auf diesen verweist. Zu der genannten Hamburger Tafel und der Figur des Hauptmannes unter dem Kreuz s. auch A.- M. Reichel, hier S. 24 u. S. 47.

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weise die Kölner Meister des ausgehenden 15. Jh's in der Kleiderpracht ihrer großen Kreuzigungsszenarien entfalten12, erscheint die Baldung'sche Ausstattung der Heiligen Familie gänzlich unspektakulär und nehmen sich die weiblichen Hauptdarsteller nebst dem blondgelockten Ornaträger Johannes in der Bescheidenheit ihrer schmucklosen Gewänder und hausbackenen Haubentracht reichlich bieder aus.

Unter Hosen Die Angezogenheit aber der hier zunächst in Augenschein genommenen Akteure läßt die nackte Körperlichkeit derer um so deutlicher hervortreten, deren Entkleidetsein sich für die Verbildlichung der Kreuzigung im späten Mittelalter als verbindlich erweist. Gemeint ist die Blöße der Gekreuzigten, der gerichteten Verbrecher wie die des Erlösers selbst, welche sich dem versierten Bildbetrachter in einem gänzlich anderen Deutungskontext darstellte, als dem Medienkonsument der Gegenwart, für den Enthüllung und Erotik sich im allgemeinen bedingen. Vor dem Hintergrund des unterstellten Bewußtseinswandels, der die reformatorische Bildkritik in den Heiligenporträts gleichsam Frauen und Männer entdecken läßt, schließt sich allerdings die Frage an, ob nicht auch die Wirkungsmacht des in der Anschauung des Leibes Christi bewährten Abstraktionsvermögens verloren geht und die Unschuld des Blickes der Erkenntnis weicht, daß Christus zum Mann und damit Akt geworden ist. Um diese thesenhafte Überlegung überprüfen zu können, wird es im folgenden darum gehen, die im Rahmen frühneuzeitlicher Kreuzigungsdarstellungen gewählten Formen der Enthüllung einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Allen dreien gleich, die Baidungs Tafel zeigt, ist eine Kostümierung, die aus jeweils einem einzelnen Kleidungselement besteht. Wobei die präsentierten Modelle ihren gemeinsamen Ursprung auf den ersten Blick verleugnen, da sie gleichsam das Anfangs- und das 12 So z. B. der Brüsseler Altar des Meisters der Heiligen Sippe, s. A.-M. Reichel: Die Kleider der Passion, Tafel 35.

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Endstadium des Prozesses dokumentieren, der zu der Entstehung der modernen Unterhose fuhrt. Die Entwicklungsgeschichte jenes Ausstattungsstückes spiegelt das Bild der Schächer wider13, dessen Garderobe im Laufe des 15. Jh's eine entscheidende Veränderung erfahrt. Auch für sie war zunächst das knielange, gewickelte Lendentuch obligatorisch. Bereits im 14. Jh. aber tritt als der Bekleidung der mit Christus gekreuzigten Verbrecher die aus dem gebundenen Schurz hervorgegangene "bruoch"14, eine seitlich oder vorne geknotete, dann genähte Hose aus Leinen auf, die wie in einer böhmischen Kreuzigungstafel von 1360 gezeigt, in ihrer weitgeschnittenen Form die Oberschenkel zumeist ganz bedeckte. Im Zuge der in den Kleiderordnungen getadelten Verknappungstendenzen der spätmittelalterlichen Männermode wandelt sich gleichermaßen die Schnittform und Länge des betreffenden Unterhosenmodells.15 Nicht nur enger wird diese. Mit der Verlängerung der erst an den Bruochgürtel, später an das Wams genestelten strumpfartigen Beinlinge, die in dem derangierten Outfit des am Kreuzesstamm lehnenden Soldaten Baidungs zu sehen sind, erfahrt die Brouch auch eine zunehmende Verkürzung.

13 Die beiden Schächer werden schon in frühen Kreuzigungsdarstellungen, so etwa dem 432 vollendeten Türrelief von Santa Sabina in Rom vereinzelt wiedergegeben (s. M. Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, Gütersloh 1968, Abb. 326, S. 439) und treten in der mittelalterlichen Buchmalerei wie der Miniatur des um 980 geschaffenen Egbert-Kodex häufig auf, s. A.-M. Reichel: Die Kleider der Passion, BA 507. 14 Ober die auch 'Bruech' genannten Unterhose informiert H. Kühnel: Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Stuttgart 1992, S. 38, weiterhin Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon. Stuttgart 1988 (2), S. 134f. Vgl. darüber hinaus vor allem auch den Aufsatz von G. Jaritz: Die Brouch, in: Symbole des Alltags. Alltag der Symbole, Festschrift für H. Kühnel, hg. von G. Blaschitz, Graz 1992, S. 395-415, der in seiner kulturgeschichtlichen Betrachtung vor allem die Rolle beleuchtete, welche die Frühform der männlichen Unterhose im Kampf der Geschlechter spielt, welchen nicht nur literarische Zeugnisse, sondern zahlreiche Bildwerke thematisieren. Als Zeichen für die Weibermacht kommt die Bruoch vor allem in der Graphik des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jh's zum Einsatz, etwa Peter Floetners Holzschnitte von 1535 (s. ebd. Tafel 10, S. 415). 15 S. zur Geschichte der männlichen Hosenmode u. a. die Publikation von G. Wolter: Die Verpackung des männlichen Geschlechts. Marburg 1991, hier vor allem S. 26-44.

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Während sich noch in den Kalvarienbergen der 20er Jahre des 15. Jh's16 die schamhaft-stoffreiche Variante findet, deutet sich in den Werken um die Jahrhundertmitte wie etwa in Konrad Laibs Kreuzigung eine Vorliebe für knappere Formen an, die das Bild der Schacher in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weitgehend bestimmt. Der Höhepunkt der Verkleinerungstrends, der mit dem Auftreten des einteiligen Beinkleides, der modernen Hose also17, zusammenfällt, ist vor Baidung schon, in den Werken der 80er Jahre erreicht so etwa in Hermen Rodes Schinkelaltar zu sehen, der eine raffiniert enge, auch hier in schwarz gehaltene Slipkreation als Bekleidung des zur Linken Christi gekreuzigten Schachers zeigt, die mit ihren dünnen seitlichen Bändern und dem winzigem Mittelteil dem heutigen Tanga gleicht.18 Wobei die Vorliebe der künstlerischen Darstellung im Mittelalter nicht anders als in der Gegenwart nicht zwangsweise Rückschlüsse auf das Tragverhalten der Bevölkerung erlaubt. Denn trotz der animierenden Vorbilder, welche die verführerischen Designer-Modelle der gegenwärtigen Dessous-Werbung liefern, wird laut einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2000 auch aktuell von dem deutschen Durchschnittsbürger dem Modell 'Karl-Heinz', dem klassischen Feinripp-Slip, der Vorzug gegeben.19 In den Bildmedien des 15. Jh's ist die knapp-provokante Variante nicht auf einen bestimmten Schächertyp festgelegt, wenngleich die farbliche Zuweisung von schwarzem und weißem Bruochkostüm im allgemeinen dem Charakter des Trägers zu entsprechen scheint. Allerdings begegnet einem das besagte Kleidungsstück selbst in seiner dunklen farblichen Variante gleichermaßen als Kostüm eines christlichen Märtyrers wie des Hl. Sebastian, der sich in einer um 1479 im Umkreis Bernt Notkes entstandenen Tafel ebenfalls in einem tangaähnlichen Modell vorstellt. Hier, nicht anders als bei Baidung in jener extrem stoffarmen Variante, die so schmal ausfallt, daß der obere Ansatz der Schamhaare sichtbar bleibt. 16 Dies gilt ebenso für die Kreuzigung des Warendorfer Meisters wie den Wildunger Altar des Konrad von Soest, s. A.-M. Reichel, Tafel 4 u. Tafel 3. 17 Zur Entstehung der einteiligen Hose s. bei H. Kühnel: Bildwörterbuch, S. 27f. und vor allem bei I. Loschek, S. 258f. 18 S. A.-M. Reichel, Tafel 34. 19 S. S. Kröner, Alle Jahre Mieder, in: FAZ, 18. 12. 2000, S. 12.

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Ob es diese Form der Entblößung ist, die von den reformatorischen Bildkritikern als neue Schamlosigkeit empfunden wird, scheint allerdings fraglich. Zwar sind die Schächerporträts, welche die Werke des ausgehenden Mittelalters wiedergeben, ja durchaus als Aktdarstellungen zu betrachten, die den Künstlern nicht zuletzt Gelegenheit bieten, ihre anatomischen Kenntnisse malerisch umzusetzen. Doch ist das mangelnde Bekleidetsein verbildlichter Straftäter traditionsgemäß in einem ähnlichen Deutungskontext wie die Ausstattung von Bettlern und anderen verachtungswürdigen Subjekten der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu begreifen, deren nachlässige und unzureichende Bekleidung nicht nur von den für sie geltenden Lebensverhältnissen Zeugnis ablegen. Wie auch die gelockerten Strumpfbeine der den Betrachterblick fesselnden soldatischen Rückenfigur der Baldung'schen Tafel, will und soll die äußere Liederlichkeit vielmehr als Ausdruck der inneren, der verderbten Gesinnung und lockeren Moral des Trägers verstanden werden.20 In diesem Sinne verwerflich mutet auch die überstreckte Haltung der sich im Todeskrampf windenden Körper der Schächer an, zumal sie die mit dünnem Stoff knapp bedeckte männliche Anatomie deutlich hervortreten läßt. Hier wird mehr gezeigt, als verhüllt, durch den engen Sitz des einzigen Kleidungsstückes allerdings nicht erlaubt, was unter dem Lendentuch, das Christi Leib umflattert, möglich ist.

Die Kunst der Verpackung Von der unverschleierten Körperlichkeit der Verbrecher hebt sich die stoffliche Verpackungskunst, die in dem üppig gebundenen und bauschig abwehenden Tuch des Heilands zum Einsatz kommt, dramatisch ab. Der Anblick scheint bekannt und die Tradition des Christusbildes im Hinblick auf die Bekleidung des am Kreuz gestorbenen Erlösers über Jahrhunderte hinweg ungebrochen. Für den Schmerzensmann, den Christus patiens der spätmittelalterlichen Darstellung ist das um die Hüften geschlungene weiße Leinentuch obligatorisch.

20 Zur Kleidung der Unterschicht s. A.-M. Reichel, S. 85-96.

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Während die früh- und hochmittelalterlichen Zeugnisse wie etwa der Codex Egberti Christus als vitalen Triumphator im herrscherlichen Prachtgewand porträtieren, der in aufrechter Haltung und mit weit geöffneten Augen die Bezwingung des Todes glaubhaft macht21, deutet sich bereits in den künstlerischen Werken des 13. Jh's eine Hinwendung zu dem Bild des leidenden und sterbenden, Mensch gewordenen Gottessohn an. Nicht den Triumph des Weltenherrschers, der das Kreuz als Siegeszeichens trägt, sondern das leidvolle Schicksal des Gerichteten, der in Todesqual verkrampft, mit schmerzerfulltem gesenktem Haupt am Kreuze hängt, stellen die entsprechenden Werke der Frühgotik und Gotik in den Mittelpunkt der Betrachtung. Und wie die Königskrone dem Dornenkranz, so weicht die lange und goldbestickte Dalmatica dem Lendenschurz, der das Porträt des Sterbenden nun ausnahmslos prägt. Wobei sich auch in diesem Falle das genaue Hinsehen lohnt. Wie die Analyse der Lendentuchgestaltung bezeugen kann, erweist sich die Tradition nur bedingt als ungebrochen. Trotz der die Wahl des Kleidungsstückes betreffenden Kontinuität läßt sich ein fundamentaler Wandel in der spätmittelalterlichen Verbildlichung des Gekreuzigten aufzeigen, der nicht nur die Beschaffenheit und Tragweise des Schurzes betrifft, sondern auf die Gesamterscheinung des Trägers zu beziehen ist. Dabei sind verschiedene Phasen zu beobachten, die zu verfolgen für das Verständnis einer frühneuzeitlichen Komposition wie Baidungs Tafel aufschlußreich erscheint. Als auffallig zu betrachten ist zunächst die sich verändernde Stoffqualität des bis in das frühe 15. Jh. vorwiegend in knielanger

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Während plastische Darstellungen des frühen Mittelalters - wie z.B. dem 420-30 gefertigten Elfenbein eines oberitalienischen Kästchens - Christus am Kreuz nur mit einem Schurz bekleidet zeigen, wird der Heiland in den malerischen Kompositionen des frühen Mittelalters überwiegend in einem, zunächst meist ärmellosen, Tunikagewand präsentiert, von der Miniatur des 586 geschaffenen Rabula-Codex bis zu der aus dem 1. Viertel des 11. Jh's stammenden Kreuzigung des Uta-Evangelistars. Hier nun in einer langärmeligen dalmatikaartigen Variante zu sehen, die in den Zeugnissen der Großplastik bis in das 12. Jh. hinein vertreten ist. (S. G. Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 2, Gütersloh 1968, Abb. 323, S. 438, Abb. 327, S. 440 u. Abb. 385, S. 465).

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Form gegebenen Lendentuches22, dessen Gewebe im Laufe des 14. Jh's immer dünner, delikater wird. Mit der stofflichen Entwicklung vom festen Leinen zum schleierartigen Gewebe korrespondiert die wechselnde Körperbehandlung des Heilands, der in Gestalt wie Inkarnat an Zartheit und Lieblichkeit gewinnt. Noch in dem um 1400 geschaffenen Kalvarienberg des Kölner Veronikameisters stellt Christus sich wie schon in der frühen bömischen Malerei als ein mädchenhaft-graziles Geschöpf dar.23 Nicht nur die überlängten Glieder des schmalen Körpers, der sich rund wölbende Bauch und die geschwungene Hüftpartie bestärken den Eindruck einer latenten Weiblichkeit. Weich und weiß, ja geradezu durchscheinend in der Beschaffenheit der Haut, mutet der kindhafte Leib des Erlösers an, der sich unter dem transparenten Schleiertuch auch bar jeder Männlichkeit, in indifferenter Geschlechtlichkeit, zeigt. Von diesem Figurentypus, der das Golgathabild in der Malerei nördlich der Alpen ebenso wie in Italien bis in das 15. Jh. hinein dominiert, läßt sich eine Parallele zu dem Konterfei jenes Paares ziehen, das aufgrund der ihm in den Inszenierungen der Heilsgeschichte zugewiesenen Rolle stets unbekleidet auftritt. Gemeint sind die Porträts der straffälligen Stammeltern Adam und Eva, wie sie etwa Meister Betrams Grabower Altar in seiner Visualisierung des Sündenfalles vorstellt.24 Auch für die Paradiesbewohner des norddeutschen Meisters ist nach wie vor jene zwillingshafte Annäherung der Anatomie bestimmend, welche schon dem zeitgenössischen Bet22 Als ein Beispiel für die bis in das 15. Jh. hinein vorherrschende Form sei hier auf die Tafel des um 1350 geschaffenen Hohenfiirther Altares oder auch die Berliner Kreuzigung eines böhmischen Meisters aus der Zeit um 1360 verwiesen, s. bei A.-M. Reichel, Abb. 10 u. Abb. 11. 23 Gegenüber den Bildnissen des frühen Mittelalters, wie etwa dem genannten Holzrelief von Santa Sabina in Rom, die Christus als kräftigen, wohlgenährten, ja zum Teil untersetzten Mann wiedergeben (s. G. Schiller, Abb. 326, S. 439), verändert sich diese Figurenauffassung im Verlauf der nachfolgenden Jahrhunderte erheblich. Schon in den Bildern des 13. Jh's schmaler und feingliedriger gegeben, werden die malerischen Darstellungen des gekreuzigten Heilands im 14. Jh. von dem mädchenhaft schlanken Typus bestimmt. Neben den unter Anm. 21 genannten Werken lassen sich zahlreiche weitere Zeugnisse anfuhren, etwa auch die spätere Komposition des Konrad von Soest oder die Kreuzigung der sog. Goldenen Tafel (vgl. A.-M. Reichel, Tafel 3 u. Tafel 7). 24 S. in: Meister Bertram, Hamburg 1965, Abb. 10, S. 34.

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rachter der Figurengruppe des Bamberger Domes aus der 1. Hälfte des 13. Jh's die spontane Zuordnung der Geschlechter zumindest aus einer gewissen Entfernung erschwert haben dürfte.25 Hier wie dort kennzeichnet die Statur beider nicht nur ihre grazile Schlankheit, sondern vor allem eine Linie des Rumpfes, der mit etwa gleich breiter Schulter wie Hüftpartie und gerader Taille fast rechteckig erscheint. Gerade diese Besonderheit der körperlichen Gestaltgebung sollte anregen, den Blick über die kunstgeschichtliche Betrachtung hinaus auf eine andere Form der Vergegenwärtigung heilsgeschichtlicher Themen zu richten und das Verhältnis von bildkünstlerischer und theatralischer Darstellung in die Interpretation der kostümlichen Rollencharakterisierung mit einzubeziehen. Im Paradiesspiel der spätmittelalterlichen Bühne war für die Mimen, die wie die ersten Vertreter des Menschengeschlechtes oder der Christus der Passion un- bzw. enthüllt vor den Zuschauer zu treten hatten, ein Nacktkleid vorgesehen, das traditionell aus Leder gefertigt, den Körper vollständig umschloß.26 Anders jedoch als die extrem elastischen Trikots 25 Für die frühmittelalterliche Sündenfalldarstellung kann die figurale Annäherung von der Illustration der Bibel von S. Paolo fouri della mura aus dem 9. Jh. (s. LCI, 1. Bd., Rom u.a. 1994, 'Adam', Abb. 2, S. 54) bis zu der genannten Bamberger Gruppe (vgl. bei M. Sauerlandt: Deutsche Plastik, Düsseldorf 1911, Abb. 19) durchweg als kennzeichnend gelten. S. hierzu auch die Publikation von K. Orchard: Annäherungen der Geschlechter, Münster/Hamburg, 1992, S. 75ff. und S. 82f, welche allerdings auch die spätmittelalterliche Form der Geschlechterangleichung der Gottgeschöpfe im Sinne einer frühneuzeitlichen Entwicklung versteht. Wobei die auf die frühen Vorbilder bezogenen Zeugnisse des 14. und 15. Jh's wie der Bertramsche Sündenfall eine Körperbehandlung aufweisen, die in der Schmalheit des Leibes, der Zartheit der Glieder, in der Tendenz insgesamt eher den oben hervorgehobenen femininen Charakter tragen. In den Vergleichswerken des 16. Jh's wie dem um 1518 gefertigten Gemälde Bacchiaccas z. B. (s. bei K. Orchard, Abb. 23) dagegen stellt sich die geschlechtliche Annäherung insofern anders dar, als die Figuren hier schon ausgehend von der ihnen gegebenen Massigkeit und Muskulosität eben jenes Ideal der Vermännlichung prägt, das sich gleichermaßen in dem Stil, der Linie der zeitgenössischen Kleidermode niederschlägt. Vgl. dazu bei A.-M. Reichel, das Kapitel 'Tragende Rollen', S. 212-263. 26 Zur Kostümierung auf der spätmittelalterlichen Bühne vgl. A.-M. Reichel, im Kapitel 'Das Drama der Passion', S. 378f. S. darüber hinaus auch den Aufsatz von R. Jütte: Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen, hg. von K. Schreiner u. N. Schnitzler. München 1992, S. 113ff.

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moderner Art wird sich das mittelalterliche Adamskostüms, und dieser Punkt ist für den interdisziplinären Deutungsversuch entscheidend, den Körperformen nicht optimal angepaßt haben, so daß zwangsläufig von einer gewissen Verähnlichung der äußeren Erscheinung auch unterschiedlich proportionierter Träger auszugehen sein dürfte. Wobei wir uns angesichts der zeitgenössischen Aufführungspraxis jene im wesentlichen männlich vorzustellen haben und die Besetzung von Evas Part vermutlich ein Knabe zu übernehmen hatte.27 Fruchtbar erscheint die Auseinandersetzung mit dem schöpferischen Austausch zwischen kostümlicher Bühnenpraxis und malerischer Körperbehandlung allerdings nicht nur hinsichtlich der Angleichungstendenzen in den Stammeltern-Porträts ä la Bertram, sondern vor allem im Hinblick auf das zeitgleiche Phänomen, welches den Anstoß für den Besuch des Paradieses gab: Das Bild des Gekreuzigten, dessen zu beobachtende Entsexualisierung in der anatomische Unterschiede überspielenden Qualität des vereinheitlichenden Leibkleides ihre Entsprechung findet. Unabhängig davon aber, in welchem Maße Bild- und Bühnenkunst als sich bedingend verstanden werden wollen, kann für beide Formen der so beschaffenen Christusdarstellung gelten, daß die Nacktheit am Kreuz, zumal im Nacktkleid, nicht per se als Zeichen der die Leiden Jesu mehrenden Erniedrigung zu werten ist, sondern sich ebenso im Sinne eines paradiesischen Ur- bzw. Unschuldszustandes begreifen läßt. Mit der stärkeren Betonung der Leidensqualen des Erlösers, die sich in der bildlichen Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens im Laufe des 15. Jh's niederschlägt, verschiebt sich der Akzent zwar dahingehend, daß die feminine Lieblichkeit des Heilands allmählich einer entkräfteten Hagerkeit weicht. Doch bleibt der Gesamteindruck in Hinsicht auf die Negierung der Geschlechtlichkeit insofern zunächst auch weiterhin bestehen, als jegliche Körperlichkeit und damit Männlichkeit der durch Entbehrungen und Folterqualen ausge27 Bis weit in das 16. Jh. hinein wurden die meisten weiblichen Rollen von Männern gespielt, was u.a. auch durch Nachweise darüber bezeugt wird, daß der schauspielerisch anspruchsvolle Part der Maria Magdalena wie im Bozener Spiel von 1495 vielfach von dem jeweils für die Inszenierung verantwortlichen Malerregisseur selbst übernommen wurde, s. A.-M. Reichel, S. 380.

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zehrten Gestalt des Christus patiens gleichsam aufgehoben zu sein scheint.28 Einhergehend mit der beschriebenen Verknappung der Schächerkleidung verliert zugleich das Lendentuch zunehmend an Breite. Schließlich bis auf einen schmalen, zum Teil nicht mehr als handbreiten Stoffstreifen reduziert, bedarf der entfleischte Leib des Leidendenden anscheinend keiner sorgfältigen Verhüllung mehr, da auch auf eine feste gebundene oder gewickelte Drapierung des Tuches häufig nun verzichtet wird, das in Rogier van der Weydens Bildnissen des Sterbenden wie auch denen der zeitgleichen Kölner Meisterwerke von der ausgehöhlten Lendenpartie herabzugleiten droht.29 An diesem Punkt des in seinen verschiedenen Stadien verfolgten Prozesses der Entkörperlichung und Entkleidung, als deren nächster Schritt konsequenterweise nur mehr die gänzliche Entblößung und Demonstration vollkommener Nacktheit zu erwarten wäre, setzt eine Gegenbewegung ein, deren grundlegende Abkehr von dem asketischen Ideal bereits im ausgehenden 15. Jh. faßbar wird. Dies gilt schon für Kompositionen wie die frühen graphischen Arbeiten Dürers, in dessen Passionszyklus aus den 90er Jahren des 15. Jh's sich eine gänzlich veränderte Körperauffassung und dem folgend auch Kostümgestaltung manifestiert.30 Den Impuls gibt hier die Revitalisierung des Körpers, seine Rückkehr in das Bild, in dem wir ihn schwinden sahen. Ebenso so rasch wie radikal erfolgt der Prozeß des Wandels, der in den Werken der sog. altdeutschen Malerei, vertreten vor allem durch die Meister der Donauschule, im frühen 16. Jh. einen ersten Höhepunkt erreicht. In ihren Darstellungen der Passion ist Gottes eingeborener Sohn nun im wahrsten Sinne Fleisch geworden. 28 Davon vermögen ebenso die Werke der westfälischen Meister aus der Jahrhundertmitte, z. B. des Schöppinger Meisters, wie auch die Altarbilder der Kölner Maler aus den 60er und 70er Jahren, so etwa die Kreuzigung des Meisters der Georgslegende, zu zeugen. Und noch Kompositionen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, beispielsweise Hinrik Bornemanns Hamburger Kalvarienberg, zeigen sich diesem Typus der Körperbehandlung verpflichtet. Vgl. bei A.-M. Reichel, Tafel 17, BA 528 u. Tafel I. 29

So zu sehen nicht nur in den Werken der niederländischen Maler, sondern ebenfalls etwa in den Golgathabildern des Meisters der Georgslegende, vgl. A.-M. Reichel, BA 528. 30 S. A.-M. Reichel, BA 522.

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Von Askese kaum mehr eine Spur. Kompakt und schwer wirkt der Körper des Leidenden wie Sterbenden, der nicht länger zusammengekrümmt am Kreuzesbalken hängend, sondern, als sei er sich einer neu erwachsenden Stärke des Leibes bewußt, aufgerichteter, ja zum Teil, wie bei Altdorfers 'Kreuzigung im Walde' in ganz gestreckter Haltung gegeben wird. Bis auf das blutige Mal des Lanzenstiches sind auch bei dem Erlöser seiner Golgathaversion der Tafel aus St. Florian keine sichtbaren Anzeichen der Entbehrung und Erschöpfung auszumachen, haben die erlittenen Leiden ganz offensichtlich keine gravierenden körperlichen Spuren hinterlassen. Wohl genährt zeigt sich der Heiland, mit gut ausgebildeter, gestraffter Muskulatur unter glatt gespannter Haut.31 Nahmen sich die Schächerporträts der 70er und 80er Jahre, in den Altären Derick Baegerts etwa, wie frühe Versuche einer Bewegungsstudie männlicher Anatomie aus, so ist diese nun in der sezierend präzisen Wiedergabe des körperlichen Erscheinungsbildes zur Perfektion gefuhrt. Was vor allem in der filigranen Darstellung des vielschichtigen Muskelgewebes von Brust und Bauch, des Sehnenverlaufs der lang gedehnten Beine und überstreckten Füße deutlich wird. In gleicher Weise gewichtig wie die durchgebildete Muskulatur erscheint der Knochenapparat. Mit massigem Kreuz und breitem Schultergürtel, einer kräftig gerundeten Hüftpartie über sich wölbenden Schenkeln ausgestattet, präsentiert sich der Gekreuzigte nicht nur in zahllosen Kalvarienbergdarstellungen der süd- wie norddeutschen Meister.32 Auch die Bilder der Beweinung oder Auferstehung von niederländischen Künstlern wie Jan van Scorel oder Heinrich Aldegrever beispielsweise, geben einen wuchtigen durchtrainierten Körper in zum Teil leicht übergewichtigem Zustand wieder, der dem Tod in

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Wobei die Kompositionen Altdorfers stellvertretend für diesen neuen Typus des Christusbildes anzuführen sind, welcher sich gleichermaßen in den Werken der süddeutschen wie der norddeutschen Kollegen, bei Cranach wie bei Hans Raphon, findet. Vgl. A.-M. Reichel, BA 517, BA 516 u. BA 515. 32 Hier sind neben zahlreichen anderen Beispielen etwa die Christusbilder von Wolf Huber oder die Porträts des Heilands des Kölner Malers Bartholomäus Bruyn anzuführen, s. A.-M. Reichel, BA 524, BA 525.

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seiner Körperlichkeit selbst und nicht deren Überwindung zu trotzen scheint.33 Einerseits einem antiken Helden gleich, andererseits ganz leidgeprüfter Schmerzensmann, charakterisiert diesen Christustypus eine eigentümliche Verbindung von unbezwingbar anmutender Stärke und stiller Duldung, ein Kontrast, der die Freiwilligkeit des Opfers und damit die Bedeutung der Heilstat auf besondere Weise zu unterstreichen vermag. Wobei der Verweis auf die Auferstehung des Fleisches in den frühneuzeitlichen Porträts des gekreuzigten Erlösers körperlich noch konkreter greifbar ist. Denn in ihnen allen wird eine muskulöse Maskulinität zur Schau gestellt, die auch unter dem gestärkten Lendentuch virile Präsenz erwarten läßt. Zumal der Textilbedarf mit der Gewichtszunahme wächst und es nachweislich materialreicherer Drapierungen wie eben jener der bekannten Berliner Tafel bedarf, um den Schoß des Heilands zu verhüllen. Und damit nicht genug: Ein schier unerschöpflicher Erfindungsreichtum wird in dem künstlerischen Bemühen entfaltet, das Verborgene stofflich zu fassen und kostümschöpferisch Gestalt werden zu lassen. Die Phantasie der Künstler entzündet sich zum einen an den schärpenartig langen Enden des voluminösen Lendentuchgebindes, die den Warburg'schen Pathosformeln gleich in eine bildbewegende Bewegung geraten. Bauschig abwehend wie bei Baidung, segelähnlich aufgebläht oder mit schweifartig ausschwingenden Zipfeln, die spruchbandgleiche Muster vor den dunklen Wolkenhimmel zeichnen, scheinen die flatternden Stoffstreifen bis in das nervöse Unruhe vermittelnde Spiel der sich im Wind kräuselnden Säume hinein die Erregungszustände des Umgürteten zu übertragen.34 33

So etwa in Jan van Scorels 1535 geschaffener Beweinung (s. bei J. Snyder: Northern Renaissance. New York 1985, Abb. 544, S. 473) oder dem 149/50 entstandenen Kupferstich der Auferstehung von Aldegrever (vgl. Imagination des Unsichtbaren. 1200 Jahre Kunst im Bistum Münster, Kat. Münster 1993, 2 Bde., Abb. C 1.31, S. 571). 34 In diesem Kontext scheint die sich in den bewegten Zipfeln visualisierende Angstentladung in noch unmittelbarerem Sinne nachspürbar als in den bekannten Werken der italienischen Malerei, die Warburgs These begründeten. Jene Form der textilen Ausdruckssprache kommt gleichermaßen in den plastischen Schöpfungen norddeutscher Künstler zum Tragen. Das gilt etwa für Hans Brüggemanns 1521 vollendeten Bordesholmer Altar (s. H. Appuhn: Der Bordersholmer Altar. Königstein i. Taunus 1987, Abb. 8), der dem gerichteten Erlöser ein Lendentuch

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Diese Deutung stützend manifestiert sich die Kreativität der Künstler zum anderen in dem Ersinnen von Bindungsmodellen für das zumeist im Schoß zusammengefaßte Lendentucharrangement, mittels derer es gelingt, den unmittelbaren körperlichen Ausdruck der Erregtheit ihres Trägers plastisch herauszubilden. Dem dienen die üppigen Überschlags- und Knotendrapierungen, in deren vielgestaltigen Entwürfen die extravagante Schamkapselmode, die den Porträts der Herrengarderobe des 16. Jh's ihren maskulinen Charme verleiht, gleichsam vorweggenommen ist.35 Wobei zwei Gestaltungstypen zu unterscheiden sind. Neben der hodenähnlich gerundeten Form des zumeist schlaufenlos befestigten voluminösen Überschlags, die Baidung favorisiert, gilt die Vorliebe jenen Tuchkreationen, deren überdimensionierten Geschenkpackungen ähnelnde Schleifenbindungen wie bei Cranachs Bremer Dreifaltigkeitsbild penisartig emporragende Modelle textiler Vergegenständlichung hervorbringen, die kaum einen Zweifel an der Männlichkeit des menschgewordenen Gottessohnes lassen. Daß es sich bei dem letztgenannten Beispiel um keine Ausnahme oder Zufälligkeit handelt, vermögen neben zahlreichen Kreuzigungsdarstellungen deutscher Künstler besonders eindrucksvoll auch die Schmerzensmannbilder von niederländischen Kollegen wie etwa Maerten van Heemskerck zu belegen, auf die Leo Steinberg nicht umsonst die Beweisführung seiner bereits in den 80er Jahren publizierten und vieldiskutierten Untersuchung über die Sexualität Christi wesentlich stützt.36 Überzeugender als in der 1532 geschaffenen Komposition des Malers, in dessen Veranschaulichung des Christus patiens das den Schoß verhüllende dünne Tuch allein durch das erregierte Glied des

verleiht, dessen lang ausschwingenden Enden die weite Distanz zwischen dem hochaufragenden Kreuzesbalken und dem Publikum am Kreuzesstamm scheinen überbrücken zu wollen. 35 Über die frühneuzeitliche Mode der auch 'Braguettes' genannten Schamkapseln informiert G. Wolter, S. 45-56. 36 Beide Werke führt der Autor auch in der von ihm als bezeichneten Revision seiner erwähnten Publikation an, s. L. Steinberg: Adams Verbrechen, in: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, Kat. Kunsthalle Wien 1995, Ab. 4, S. 168 u. Abb. 2, S. 166.

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Sitzenden gehalten wird, läßt sich die Auferstehung des Fleisches visuell kaum unter Beweis stellen.37 Die Deutung der "ostentatio genitalium" als Sinnbild für die der Inkarnation des Göttlichen und im Zusammenhang mit den in den Schoß herabrinnenden Blutstrahlen der Seitenwunde als Verweis auf das Opfer Christi, dessen Blut zum ersten Mal bei der Beschneidung vergossen wurde38, ist allerdings noch um eine perspektivenreiche Facette zu erweitern. Sie vermittelt sich in der Auseinandersetzung mit der augustinischen Lehre vom Paradiesischen, derzufolge die männliche Triebregung als dem "hervorstehenden physischen Zeichen der Schande" den Ungehorsam des schuldig gewordenen Menschen versinnbildlicht.39 Insofern würde die Errektion dessen, der mit seinem Opfertod die Erlösung von der Sünde erwirkt, wie bei Adam vor dem Sündenfall zwangsläufig als gewollt und in diesem Sinne als Rückgewinnung des paradiesischen Unschuldzustandes zu verstehen sein.40

37 Neben dem Modell der "Mogelpackung" (vgl. G. Wolter, Anm. 35, hier S. 43), das die Darstellung des Soll-Zustandes von Ludwig Krugs Schmerzensmannsbild etwa mit seinem aus dem Schoß Christi aufsteigenden verbandartig gewickelten Stoffgebildes ausweist, sind zahlreiche Bildschöpfungen des 16. Jh's gegeben, in denen sich nicht anders als in Heemskercks Werken, das erregierte Glied des Dargestellten unter dem dünnen Gewebe des Lendentuches nur allzu deutlich wahrnehmen läßt. Dazu zählt z. B. Willlem Keys nach 1530 geschaffene Pieta (vgl. bei L. Steinberg: The sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion. London 1983, Abb. 91). 38 Diese Interpretation liefert L. Steinbergs vieldiskutierte Veröffentlichung zur Sexualität Christi (s. Anm. 37), mit dessen These sich vor allem C. W. Bynum: The Body of Christ in the Later Middle Ages: A Reply to Leo Steinberg, in: Fragmentation and Redemption. Essays on gender and the human body in Medieval Religion, London 1992, S. 79-117, kritisch auseinandersetzt. In dem von Steinberg abweichenden Deutungsansatz bezieht die Autorin die Menschwerdung des Gottessohnes weniger auf das männliche, als vielmehr das weibliche Geschlecht, indem sie die blutende Seitenwunde auf das in der geistlichen Literatur des Mittelalters überlieferte Verständnis von Christus als nährender Mutter zurückfuhrt (vgl. hierzu insbes. S. 93-102). 39 Die Augustinische Lehre vom Sündenfall prägt auch im 16. Jh. noch die theologischen Betrachtungen des Paradiesischen, so etwa die Ausführungen des Conrad Braun, den Steinberg zitiert, s. L. Steinberg: Adams Verbrechen, in: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, Kat. Kunsthalle Wien 1995, S. 169. 40 Diese Deutung der als gewollt verstandenen Erektion des Heilands, mit der das, "was durch die Erbsünde zu einer tierischen Eigenschaft wurde", nun dem Willen

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Unabhängig aber von der Relevanz, die Steinbergs überzeugender Auslegung des künstlerischen Ansinnens im Hinblick auf die Wahrnehmung des zeitgenössischen Betrachters beizumessen ist, stellt die in ihrer Drastik schwerlich zu überbietende Demonstration von Männlichkeit unzweifelhaft eine erotische Attraktion dar. Mag nicht auch diese es gewesen sein, die den Reformatoren höchst unangenehm in das bildkritische Auge stach? Zumal die Sorge der Kirchemänner ja nicht zuletzt dem weiblichen Publikum zu gelten hatte, um deren Seelenheil der eingangs zitierte Zwingli bei der Anschauung von Heiligen Märtyrern wie dem leicht bekleidet porträtierten schönen Jüngling Sebastian glaubte, furchten zu müssen.41 Angesichts des "phallischen Symbolismus"42 der Werke des stellvertretend ausgewählten Heemskerck scheint die Verhüllung des Geschlechts, die Künstler wie der als Höschenmaler titulierte Volterra mit der nachträglichen Verpackung der 'ignudi' Michelangelos vornahm, allerdigs keine Grantie zu bieten, sündhafte Gedanken, welche bezeugterweise etwa der unbekleidete Kruzifix des Fra Bar-

zurückgegeben wird, liefert der Autor in der Revision des Ursprungswerkes (s. L. Steinberg, Anm. 39, S. 166-174, hier insbes. S. 174). - Vgl. in Hinsicht auf die paradiesischen Verhältnisse schamfreier Nacktheit vor allem auch den Beitrag von K. Schreiner: Si homo non pecasset... Der SUndenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des menschlichen Körpers, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von K. Schreiner und N. Schnitzler, München 1992, S. 41-84, sowie bei C. Zakravsky: Heilige, Gewänder. Analysen in Kunstwerken. Wien 1994, S. 70-84. 41 Vgl. die in Anm. 8. genannte Bildkritik Zwingiis. Im Gegensatz zu dem hier erwähnten Märtyrer, der in einer Komposition wie Jacopo de 'Barbaris zwischen 1510-12 gefertigten Blatt in gleicher Weise wie Heemskercks Schmerzensmann mit einem erregierten, das Lendentuch haltenden Penis wiedergegeben wird (s. P. Helas, in: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, Kat. Kunsthalle Wien 1995, S. 116f„ Abb. 117), findet der so porträtierte Christus keine Erwähnung in der reformatorischen Schriften. Möglicherweise wurde die phallische Erregung des Gottessohnes als derart heikel empfunden, daß diese Formulierung der Auferstehungs-Vergegenwärtigung tabuisiert wird. 42 So lautet Steinbergs treffende Bezeichnung des Erektionsmotives in der Kunst der frühen Neuzeit, s. L. Steinberg: Adams Verbrechen, in: Glaube, Liebe, Hoffnung, Tod, Kat. Kunsthalle Wien 1995, S. 173.

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tolomeo bei den Kirchenbesucherinnen einst zu provozieren vermochte, zu unterbinden.43 Ganz im Gegenteil: Im Falle der frühneuzeitlichen Darstellung des sich in seiner Manneskraft präsentierenden Erlösers dient das den Schoß bedeckende Tuch vielmehr, den Blick auf das zu ziehen, was ihm entzogen wird.44 In dieser ambivalenten Funktion erweist sich der Schurz jedoch nicht nur in Hinsicht auf den umhüllten Leib oder die ihn imaginierende Drapierung als aussagekräftig. Vom Verbergen und Enthüllen vermag das Lendentuch auch in seiner stofflichen Beschaffenheit zu erzählen und eine Geschichte zu illustrieren, die, wie die nachfolgende Betrachtung zeigen will, vor allem die Betrachterin angesprochen haben dürfte.

Auf Tuchfühlung - Schleiermoden oder: Visionen des Entkleidens und die Erotik des Verhüllens Um in der kostümikonograpischen Studie über die Kleidung des Entkleideten eine weitere vielschichtige Bedeutungsebene in Hinsicht auf die Erkundung von Blickkonstruktionen und Wahrnehmungsmustern zu erschließen, gilt es nun, die Verarbeitung des Stoffes besagter Garderobe näher in Augenschein zu nehmen. Flüchtig besehen nicht ungewöhnlich erscheinend, stellt sich das Ausstattungsstück in der detailgetreuen Untersuchung als höchst eigenwillige Schöpfung dar. Denn wie die textilkundige Begutachtung zu zeigen versteht, ist der Saum des um Christi Lenden geschlungenen Tuches mit einer zarten rüschenartigen Verzierung versehen. Und der prüfende Blick erkennt zudem, daß es sich um die gleiche Rüschenborte handelt, die auch der Schleier der Gottesmutter trägt. In der mittelalterlichen Frauenkleidung und deren bildkünstlerischer Umsetzung findet sich eine derartige Schmuckform der dem-

43 Über die Bewertung von Nacktheit im Rahmen der christlichen Kunst s. u. a. die Ausführungen von M. Walters: The nude male, hier vor allem S. 68ff. 44 Was in gleicher Weise für die erwähnte Schamkapselmode gilt, in der sich das den Kleiderstil der frühen Neuzeit prägende Männlichkeitsideal unübersehbar manifestiert (s. hierzu auch Anm. 35).

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entsprechend Kruseler4S genannten weiblichen Kopftracht durchaus häufig. Bereits in Bildwerken des 13. Jh's, so etwa im Rahmen der Figurengruppe der Weltgerichtsdarstellung des Mainzer Domes gegeben 46 , tritt die einfache gekruselte Haubenform vor allem in den Porträts hochherrschaftlicher Damen der englischen wie der deutschen Grabplastik des 14. Jh's in mannigfaltiger Gestaltung hervor. 47 Vom schlicht herabfallenden Tuch, aus Leinen oder Seide gefertigt in halbkreisförmigem Schnitt, dessen Rand mit einer Reihe von Rüschen geschmückt ist, entwickelt sich diese erstmals in der Speyerer Kleiderordnung von 1356 genannte Schleiermode 48 zu aufwendig gestärkten Haubenformen wie dem Kragen- oder Kleeblattkruseler. Jenem Kopfputz, der in den Werken der spätmittelalterlichen Tafelmalerei insbesondere den zahlreichen Bildnissen der altniederländischen Künstler, wie z.B. den Porträts van Eycks, bevorzugt Frauen bürgerlichen Standes kleidet. 49 Für die Bewertung der Baldung'schen Lendentuchkreation ist es allerdings weniger die hier hinsichtlich der Haubentracht bemühte Kostümgeschichte, als vielmehr die Kunstgeschichte, deren Befragung erkenntnisreich zu sein verspricht. Denn mit der Übertragung des Saumschmucks vom Kostüm Mariens auf die Kleidung des Heilands wählt der Maler ein Modell der Verähnlichung, das in der bildkünstlerischen Inszenierung des Passionsgeschehens Tradition besitzt. Entscheidend dabei ist, das Gezeigte eben so zu nehmen, wie es gezeigt wird. Das bedeutet, die übereinstimmenden Ausstattungsstücke als identisch wahrzunehmen,

45 Zur Definition der gerüschten Frauenhaube s. bei H. Kühnel: Bildwörterbuch, S. 150f. und s. weiterhin G. Krogerus: Bezeichnungen für Frauenkopfbedeckungen und Kopfschmuck im Mittelniederdeutschen (=Commertationes Humanorum Litterarum, 72) Helsinki 1982, S. 30 u. S. 38. Vgl. darüber hinaus vor allem O. Rady: Der Kruseler, in: Zeitschrift für Waffen- und Kostümkunde 1. Bd. der NF, 1923-25, S. 131-36, deren Aufsatz die Beschaffenheit und Tragweise der besagten Schleiertracht anschaulich macht. 46 Vgl. bei O. von Simson: Das Mittelalter II. Das hohe Mittelalter (=PKG), Berlin 1972, Abb. 224. 47 S. M. Scott: A Visual history of costume. The Fourteenth and Fifteenth Centuries. London 1986, Abb. 25, S. 38. 48 S. A.-M. Reichel, S. 289f. 49 Vgl. bei O. Pacht: Van Eyck. München 1993, Tafel 8.

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das linnene Tuch der Mutter also als Christi Lendenschurz zu verstehen. Diese Auffassung macht Sinn, wenn man sie im Zusammenhang mit literarischen Zeugnissen und deren künstlerischer Umsetzung sieht, in denen sich der Gefühlsgehalt der Compassio besonders eindringlich vergegenwärtigt findet. Aus ihnen heraus ist jene Form der kostümlichen Doppelung gleichsam als stofflich gefaßter Ausdruck eines in den Schilderungen der spätmittelalterlichen Passionsbetrachtungen überlieferten Vorgangs zu erklären. Gemeint ist das im Kontext der auf die Kreuzigung vorbereitenden Szenen in verschiedenen außerbiblischen Überlieferungen beschriebene Ereignis der Entkleidung Christi, in dem die Schmerzensmutter die schmachvolle Blöße des gepeinigten Sohnes mit Hilfe ihres eigenen Schleiertuches zu verbergen sucht.50 Dargestellt wird dieses in der geistlichen Dichtung vorgegebene Geschehen vor allem in der seit dem 13. Jh. im deutschsprachigen Raum auch als eigenständiges Drama aufgeführten Marienklage5', in der die Leiden des

50 Neben den knappen biblischen Berichten der Evangelisten (Joh. 13,4 und Matth. 27,27f.) wird das Ereignis der Entkleidung in verschiedenen apokryphen Überlieferungen wie etwa dem Nikodemusevangelium und vor allem zahlreichen Passionstraktaten des späten Mittelalters ausführlich geschildert. Vgl. hierzu die Abhandlung von K.-A. Wirth, in: RDK, V. Bd., Stuttgart 1967, Sp. 761-789, hier vor allem 764f. S. darüber hinaus den bereits erwähnten Aufsatz von K. Schreiner: Si homo non pecasset...(Anm. 41), S. 63ff., der sich ausgehend von Dichtungen wie dem im 13. Jh. entstandenen 'Dialogus Beatae Mariae et Anselmi de Passione domini' mit der Diskussion auseinandersetzt, die spätmittelalterliche Theologen wie Jakob Wimpfeling um die Frage führten, ob Christus bekleidet oder unbekleidet an das Kreuz geschlagen worden war. 51 Die aus dem sogenannten 'Planctus ante nescia', eine auf dem biblischen Text beruhende geistliche Dichtung aus dem 12. Jh., hergeleitete Marienklage läßt sich bereits mit dem nachfolgenden Jahrhundert sowohl im Rahmen von Passionsspielen, in der Frankfurter Dirigierrolle z. B., als auch als eigenständiges Drama belegen. Eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung liefert D. Brett-Evans: Von Hrotsvit bis Folz und Gengenbach. Eine Geschichte des mittelalterlichen deutschen Dramas (=Grundlagen der Germanistik, 15), 2 Bde., Berlin 1975, vgl. in Bd. 1, S. 71f., S. 141ff., zum Spätmittelalter in Bd. 2, S. 72f. Für die eigenständige Form der Inszenierung sind vor allem zahlreiche Zeugnisse aus dem 15. Jh. überliefert, so etwa die 'Bordesholmer Marienklage' von 1475, in deren Rahmen der Schleierszene aufgrund der an diesem Ort aufbewahrten Reliquie Mariens, eine besondere Bedeutung zukam. S. dazu auch bei H. Appuhn: Einfuhrung in die

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Gottessohnes durch die trauernde Rückschau der Mater dolorosa unter dem Kreuze des Erlösers versinnlicht werden. Die kühne Subsumierung der Handlung Mariens mittels des kostümgestalterischen Transfers leistet die bildkünstlerische Vergegenwärtigung des Themas. Bereits in den böhmischen Vesperbildern aus der Zeit um 1400, die das Mutter-Sohn-Paar gleichsam Stoff an Stoff in leidvoller Nähe der Umarmung präsentieren, ist jene textile Verähnlichungsformel vorgeprägt, die Rogier van der Weyden als Inszenierungsstrategie in seine berühmte Kreuzabnahme überfuhrt, um der Imitatio Christi malerisch Gestalt zu geben. 52 Im Rahmen des Golgathabildes, in das Baidung die Rüschenmetapher einbringt, gewinnt die bei Rogier auch hinsichtlich der grenzüberschreitenden zeitlichen Erweiterung qua visonärer Rück- und Vorschau perfektionierte Vertiefung des Leidensausdruckes eine neue sinnliche Erfahrbarkeit. Mit der Erkenntnis der in den frühneuzeitlichen Bildnissen vollzogenen Mannwerdung Christi, schärft sich gleichermaßen das Bewußtsein für die Wahrnehmung der Mutter als Frau, die bei Baidung scheinbar in Erinnerung an den geleisteten

Ikonographie der mittelalterlichen Kunst in Deutschland (=Die Kunstwissenschaft). Darmstadt 1991, S. 23f. 52 Als ein eindringliches Beispiel für die stoffliche Mutter-Sohn-Bindung mag das um 1390 geschaffene Krakauer Vesperbild aus St. Barbara dienen (s. A.-M. Reichel, BA 513). In Werken der Malerei tritt das Motiv zwar nicht in jener plastischen Deutlichkeit hervor, erweist sich aber dennoch als international verbreitet und findet sich ebenso in einem französischen Diptychon aus der Zeit um 1400 (Gemäldegal. Berlin, Kat. Nr. 1620) wie auch in einer um 1400-10 geschaffenen böhmischen Kreuzigung wieder (Gemäldegal. Berlin, Kat. Nr. 1219). Auch in der späteren Tafelmalerei kommt das Verähnlichungsmodell vielfach zum Einsatz, so noch in dem Dreifaltigkeitsbild aus den 70er Jahren des 15. Jh's eines salzburgischen Meisters (Gemäldegal. Berlin, Kat. Nr. 2149). In Rogiers genialer Beweinungschoreographie ist nicht nur die entkräftet zu Boden sinkende Muttergottes, sondern, gleichsam in kompositorischer Verdoppelung des Leidensmotives, ebenfalls die in kunstvoller Schmerzenspose an den Füßen des Leichnams postierte Magdalena mit dem gerüschten Schleiertuch ausgestattet. Denn auf sie, die reuige Sünderin, wird der Liebesdienst in der Verbildlichung des Vorgangs, wie ihn etwa die Kreuzanheftung des sogenannten Wasservass'schen Kalvarienbergs schildert, vielfach übertragen (vgl. bei A.-M. Reichel, BA 511, BA 512 u. Tafel 10).

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Liebesdienst den Rüschensaum des Schleiertuches mit träumerischer Geste faßt. In welcher Weise die Vorstellung von der eigenhändig vorgenommenen Schürzung des Entblößten durch Maria der Phantasie der Betrachterin Anregung geboten haben dürfte, mag ein Verweis auf die mystischen Betrachtungen spätmittelalterlicher Autorinnen andeuten, wie sie etwa in den Aufzeichnungen der Margarete von Kempen überliefert sind.53 In einer Deutlichkeit, der gegenüber die reformatorischen Traktate sich geradezu prüde ausnehmen, wird hier die Sinnlichkeit der hingebungsvollen Liebe offenbar, welche über die Identifikation mit der Figur der Schmerzensmutter für den in leibhaftiger Vergegenwärtigung ersehnten Heiland entflammt54, den die Wallfahrerin Mar-

53 Mit den auf den Leib Christi gerichteten Betrachtungen spätmittelalterlicher Mystikerinnen und deren sexueller Komponente setzt sich auch M. Walters: The nude male, S. 63ff., auseinander, die hier neben Margery Kempes Erinnerungen auch die visionären Aufzeichnungen der Juliane von Norwich zitiert. 54 Die Beschäftigung mit der Pietà, dem bevorzugten Vorbild mystischer Versenkung (s. M. Walters, Anm. 54, S. 65), provoziert eine weiterführende Überlegung, welche auch die Diskussion um die Geschlechterdifferenz in der Auseinandersetzung mit den bildkünstlerischen Repräsentationen des nackten Körpers berührt (diese Fragestellung bezieht sich auf den bereits zitierten Aufsatz von Daniela Hammer-Tugendhat: Körperbilder). So fällt dem lendentuchfixierten Blick jene Gebärde des in den Armen der Mutter gehaltenen Erlösers auf, die nicht als nur charakteristisch für die Vesperbilder der genannten Art, sondern gleichermaßen auch für zahlreiche malerische Darstellungen der Beweinung und Grablegung gelten kann. Denn in ähnlich ambivalenter Funktion wie das zuvor betrachtete schamkapselgleiche stoffliche Arrangement ruht die rechte Hand des leblosen Schmerzensmannes in seinem Schoß und scheint dort weniger plaziert, um das Geschlecht zu verhüllen, als dieses vielmehr zu präsentieren - eine Geste, die wir in einem gänzlichen anderen Kontext als eindeutiges erotisches Signal gewohnt sind, zu interpretieren. Gemeint ist die Geste der Venus pudica, wie sie etwa Giorgiones Schönheit, die sich in vollkommener Passivität dem Blick des Betrachters hingibt, stellvertretend für eine Vielzahl weiblicher Aktdarstellungen vorführt (zum Bild der Venus s. auch die Publikation Faszination Venus - Bilder einer Göttin von Cranach bis Cabanel, Kat. Wallraf-Richartz-Mus. Köln, Köln 2001, vgl. hier zu Giorgiones Werk u. a. den Beitrag von G. J. m. Weber: Töchter der Giorgione-Venus, insbes. S. 57-62). Eine eingehendere Betrachtung dieser motivischen Übereinstimmung, welche die Venusikonographie in Bezug zu der optisch versinnlichten Fleischwerdung des auferstandenen Erlösers setzt, soll in einer eigenständigen Studie unternommen werden.

Wie nackt sind die Akte?

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garete in ihren Visionen "mit eigenen Augen in seiner Mannheit" am Kreuze schaute.55

55 Zitiert bei M. Walters: The nude male, S. 64.

Abb. 1

Hans Baidung, gen. Grien: Die Kreuzigung Christi.

Un/sichtbare Nacktheit Zur kulturellen und ästhetischen Spezifik japanischer Comics

Jaqueline Berndt

Der folgende Beitrag betrachtet aus einem durch Kunstwissenschaft, Japanologie und Comics-Studien geprägten Blickwinkel japanische Comics — Manga, genauer gesagt: Story-Manga1 — zum einen hinsichtlich japanischer Eigenart, zum anderen hinsichtlich der Eigenart des Mediums Comic. Kulturkomparatistische Fragen verfolgt er nicht nur in bezug auf Japan und Euramerika2 sowie deren ComicKulturen, sondern auch in bezug auf Comic-Genres und auf verschiedene visuelle Medien. Denn der gegenwärtige Manga — als über Panel-Sequenzen erzählendes, Zeit verräumlichendes visuelles Medium — zeichnet sich durch eine Heterogenität aus, die bei aller weltweit bestaunten Massenhaftigkeit für seine japanische Leserschaft kaum noch massenkulturell geteilte Erlebnisse zuläßt. Wenn im folgenden das Wort 'Mainstream' fallt, dann im Sinne eines

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Da es sich bei 'Manga' um ein mittlerweile internationalisiertes japanisches Wort handelt, erscheint es hier nicht kursiv und wird als deutsches Nomen behandelt, auf eindeutschende Pluralendungen wird jedoch nach japanologischem Brauch verzichtet (also sowohl 'der Manga' als auch 'die Manga'). Vgl. als Überblick zum Manga, der hier nicht wiederholt werden kann, Berndt, Jaqueline: Comics in Japan. In: LEXIKON DER COMICS, Teil 3: Themen und Aspekte. 26. Erg.-Lfg., Juni 1998, Meitingen, S. 1-75. Im Japanischen werden 'Europa' und 'Amerika' zu einer Einheit im Wort öbei, dessen Wiedergabe als 'Euramerika' erlaubt, es vom 'Westen' bzw. 'Okzident' [seiyö] zu unterscheiden und damit 'westliche' Elemente in der japanischen Kultur wahrzunehmen, ohne diese ausschließlich an Ursprungskulturen messen. Vgl. Clark, John: Modern Asian Art. Honolulu 1998.

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kommerziellen Verbreitungsgrades, der sich mit der Dominanz bestimmter ästhetischer Konventionen verbindet. Anders als in Nordamerika ist für den Manga und seinen Diskurs nach wie vor weniger die Unterscheidung zwischen Mainstream und 'Autoren-Comic' relevant als die zwischen Genres. Aus deren Spektrum werden, um den motivischen Stellenwert von Nacktheitsdarstellungen zu erschließen und eine im national Japanischen nicht aufgehende japanische Besonderheit zu bedenken, 'weibliche' Manga herausgegriffen 3 im Vergleich zu 'männlichen' Jugendmanga [gekiga, seinen manga] und nordamerikanischen Frauen-Comics. Gleichzeitig wird einer historischen Orientierung gefolgt — zum einen anhand des unterschiedlichen Zugangs zum visuellen Phänomen der Nacktheit in exemplarischen Manga der vergangenen Jahrzehnte, zum anderen mit einem Blick auf bildkünstlerische Traditionen Japans, die gern als kontinuierliche unterstellt werden. Um Kontinuität als eine vielfach gebrochene zu verdeutlichen, wird auf ein chronologisches Aneinanderreihen von Daten verzichtet. Im Zentrum steht nicht, was Nacktheit in Japan ist, sondern vielmehr, wie sie anhand von Bildern aus verschiedenen Zeiten in je andersartigen Medien wahrgenommen wird und wurde. Daher geht den Überlegungen, die sich mit kulturellen und ästhetischen Aspekten des Sehens und Übersehens von Nacktheit in Comics beschäftigen, ein Teil mit diskurshistorischen Fragestellungen voraus.

Ausgangspunkt: Anthropologisches Übersehen Wer sich über Nacktheit in Japan informieren will und aufgrund von Sprachbarrieren auf deutsche Publikationen verwiesen ist, wird nach wie vor auf Hans Peter Dürrs Beobachtungen im ersten Band der bereits 1988 erschienenen Monographie Nacktheit und Scham zurück-

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Daß auf Abbildungen verzichtet wird, hat seinen praktischen Grund in dem Aufwand, den die Beschaffung von Abdruckgenehmigungen bei japanischen Verlagen und Zeichner/innen aufgrund der unsicheren Rechtslage gegenwärtig erfordert. Auf in deutschen Publikationen zugängliche Abbildungen wird im folgenden hingewiesen.

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greifen.4 Dürr versuchte nachzuweisen, "daß von der ständig behaupteten Unbefangenheit der Japaner gegenüber dem nackten Leibe ebensowenig die Rede sein kann wie etwa von der diesbezüglichen Natürlichkeit des Menschen im Mittelalter".5 Sein Anliegen war es, die Schamhaftigkeit angesichts von Nacktheit universaler als im Bezug auf die christliche Tradition oder die moderne Zivilisation zu fassen, und er entdeckte die anthropologische Konstante in kulturspezifischen Formen: "Lange angesehen oder gar angestarrt zu werden, erzeugt bei Japanern, die eine Abneigung gegen Augenkontakt haben, ohnehin Scham".6 Sein vornehmlich am Japan des 19. Jahrhunderts interessierter Blick richtete sich zum einen auf ukiyoeHolzschnitte und zum anderen auf japanische Gemälde, vor allem westlichen Stils [yoga], die am Ende dieses Jahrhunderts AktbildSkandale verursachten. Aus diesem Material schloß er auf eine Kontinuität der Tradition: Nacktheit in Japan sei Auslöser eines schamhaften Lachens oder aber 'unsichtbar1, d.h., die entblößte Physis werde kulturell in eine sichtbare Abwesenheit versetzt so wie der schwarzgekleidete Bühnenhelfer des Kabuki- oder Bunraku-Theaters. Dürrs anthropologischer Überblick scheint brauchbare Argumente gegen westlich-moderne Selbstgerechtigkeit zu liefern und mag bei Auseinandersetzungen um das im Ausland verbreitete Bild Japans im allgemeinen und seines Comics im besonderen helfen selbst die seit dem Jahr 2000 in Deutschland zu sehende MangaAusstellung der Japan Foundation versteht sich defensiv im "Gegensatz zu dem, was man oft in der ausländischen Presse liest, daß nämlich massive Sexualität und Brutalität die beiden einzigen Charakteristika japanischer Manga seien".7 Aus der Perspektive von Japanund Manga-Studien erweist sich allerdings als problematisch, daß der Anthropologe über dreierlei hinwegsieht: erstens über die moderne Relativierung der Tradition, zweitens über die unterschiedli4 5 6 7

Dürr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1. Frankfurt/Main 1994, S. 116-129. Ebd., S. 126-127. Ebd., S. 121. Natsume Fusanosuke: Ausstellung moderner japanischer Manga in Kurzform. Allgemeine Vorstellung. In: The Japan Foundation (Hg.): Manga - Die Welt der japanischen Comics (AK, Japanisches Kulturinstitut Köln), 2000, S. 13.

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chen Gattungen des verwendeten Bildmaterials und die damit jeweils verbundene soziale Praxis, drittens über die mediale Spezifik, die Bilder nackter Körper und deren visuelle Wahrnehmung prägt. All das aber beeinflußt eine historische und kulturvergleichende Untersuchung des motivischen Stellenwerts von Nacktheit im modernen japanischen Comic und soll daher im folgenden kurz erläutert werden, bevor dieser selbst ins Zentrum rückt. Erstens verleiten Dürrs Beschreibungen bereits durch den bestimmten Artikel ('die' Japaner) sowie das Präsens der Verben zur Annahme einer essentiellen japanischen Eigenart, die von der Modernisierung unbeeinträchtigt blieb. Im Zeichen kontinuierlicher, in sich homogener Traditionen läßt sich eine grundlegende Gleichheit Japans mit Euramerika durchaus betonen. Das bestätigt nicht zuletzt das moderne japanische Postulat einer nationalkulturellen Reinheit, deren Anschaulichkeit heute dem Manga in ähnlicher Weise wie einst dem Gemälde zugeschrieben wird. Die Etablierung dieser Gattung als Kern des aus Euramerika übernommenen Konzepts der 'schönen Kunst' [bijutsu] untersuchen institutionskritische japanische Kunsthistoriker/innen seit den späten achtziger Jahren, und sie haben den damit verbundenen Prozeß der Ästhetisierung insbesondere anhand des in Öl ausgeführten Aktgemäldes exemplarisch entkleidet.8 Das Neue, das in Japan Einzug hielt, wurde zum einen mit der Referenz auf Kenneth Clark und seine Unterscheidung zwischen naked und nude verdeutlicht.9 Zum anderen diskutierte man — nicht harsch 8

Vgl. Teshigahara Jun: Rataiga no reimei [Morgendämmerung des Aktgemäldes]. Tokyo: Nihon Keizai Shinbunsha, 1986; Tokyo Kokuritsu Bunkazai Kenkyüsho (Hg.): Hito no "katachi", hito no "karada". Higashi ajia bijutsu no shiza [Die "Form" des Menschen, der "Körper" des Menschen. Perspektiven ostasiatischer Kunst]. Tokyo: Heibonsha, 1994; Tsuji Nobuo: Nihon bijutsu ni miru "hadaka" ["Nacktheit" in der japanischen Kunst]. In: ebd., S. 320-331; Satö Doshin: Hito kara "ningen" he. Ko toshite no jintai [Von Menschen zum "Menschen". Der menschliche Körper als einzelner]. In: ebd., S. 332-341. Japanische Personennamen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge - Familienname vor Vorname ohne Trennung durch Komma angegeben, bei japanischen Publikationen werden die Verlage angeführt, da sich die meisten in Tokyo befinden.

9

"There are naked figures in the paintings of the Far East; but only by an extension of the term can they be called nudes. [...] The idea of offering the naked body for its own sake as a serious subject of contemplation simply did not occur to the Chinese or Japanese mind, and to this day raises a slight barrier of misunderstanding." Clark, Kenneth: The Nude. London 1985 (1956), S. 7.

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kritisierend, sehr wohl aber historisch differenzierend — die japanische Übersetzung des ersten Bandes von Dürrs Nacktheit und Scham.l0 Die feministische Kunsthistorikerin Wakakuwa Midori stellte heraus, daß das schamhafte Übersehen auf soziale Filter zwischen Betrachter-Auge und entblößtem Körper zurückzuführen sei, und betonte die Existenz von Systemen sozialer Kontrolle, durch die das vermeintlich Andersartige — die europäische Tradition der Idealisierung des 'gefährlichen' natürlichen Körpers einerseits und der übersehbare, weil in seiner Natürlichkeit abwesende Körper im japanischen Stadt- und Bildraum des 18./19. Jahrhunderts andererseits — seine Gleichartigkeit offenbart." Kitazawa Noriaki deckte die historische Diskontinuität der Wahrnehmungsfilter auf, indem er verfolgte, wie der Realismuseffekt von Ölgemälden westlichen Stils in der Öffentlichkeit einer modernen Ausstellungssituation den Blick entblößte und erst dann nicht mehr zu Skandalen führte, als sich ein neuer Filter zwischen Aktbild und Betrachterauge geschoben hatte, das "imaginäre Gewand der Kunst", wie er es nennt. 12 Um jene Phase des Übergangs zu illustrieren, in der beispielsweise der in Frankreich ausgebildete Maler Kuroda Seiki (1866-1924) dem künstlerischen Akt zu seinem Recht zu verhelfen suchte, die Mehrzahl der japanischen Ausstellungsbesucher diesen aber unvermittelt als Abbildung alltäglicher Nacktheit wahrnahm, bezog sich auch Kitazawa auf eine in Japan berühmte Karikatur von Georges Bigot (1860-1927). Diese zeigt Kurodas skandalösen Akt Morgentoilette [chöshö oder gehai] (1893) auf der Kyötoer Ausstellung 1895: Vor dem Gemälde steht eine schockierte junge Frau, die sich mit dem rechten Ärmel die Augen bedeckt, dabei aber ungeniert ihren Kimono so geschürzt hat, daß ihre Beine bis über Kniehöhe freilie-

10 Dürr, Hans Peter: Ratai to hajirai no bunkashi. Tokyo: Hösei Daigaku Shuppankyoku, 1990. 11 Wakakuwa, Midori: Kakusareta shisen. Ukiyoe yöga no josei rataizö [Versteckter Blick. Weibliche Aktdarstellungen in Ukiyoe und japanischer Malerei westlichen Stils]. Tokyo: Iwanami Shoten, 1997, S. 29. 12 Kitazawa Noriaki: "Bunmei kaika" no naka no ratai [Der Akt im Prozeß der "Zivilisierung"]. In: Tokyo Kokuritsu Bunkazai Kenkyusho (Hg.) 1994, S. 360-375.

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gen.13 (Zur gleichen Zeit entstand übrigens das Medium Comic, in Japan wie in Nordamerika.) Das Beispiel des Aktgemäldes legt nahe, daß für Darstellungen nackter Körper nicht nur das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im allgemeinen zu berücksichtigen ist, sondern zweitens auch das von traditionellem Gebrauchsbild und modernem Kunstbild (ganz zu schweigen von einer Differenzierung des letzteren in Akademismus, ob westlicher oder traditionalisierender Couleur, einerseits und avantgardistischen Unternehmungen andererseits). Die verschiedenen Gattungen bewirken, bis hin zum Manga, Unterschiede in der Wahrnehmung von Nacktheit - sowohl hinsichtlich der fokussierten Körperteile als auch der Art ihrer Präsentation, die wiederum beeinflußt, wie ernst die Bilder eigentlich genommen werden. Dafür sprechen die japanischen Holzschnitte, die in Dürrs Japan-Teil eine zentrale Rolle spielen, vor allem zwei im großstädtischen Edo des 18./19. Jahrhunderts verbreitete erotische Genres: das der Frühlingsbilder [shunga] und das der Bilder von Schönheiten [bijinga]. Entblößen diese wie zufallig nur den Nacken oder Unterschenkel von Edelprostituierten und Lustknaben, so zeigen jene bekleidete Personen mit freigelegten, übertrieben großen Geschlechtsorganen. Beide Genres kennzeichnet ein das pure Anstarren unterlaufendes Anspielen auf Düfte, Töne und Texturen durch eine Präsentation von Kleidung und Requisiten, deren Verständlichkeit sich auf bildkünstlerische wie literarische Konventionen stützen konnte. Vom Aktgemälde der europäischen Tradition trennt sie, nicht zuletzt aufgrund des in der Fläche operierenden Mediums des Holzschnitts, ein Desinteresse an der - bildlich nicht formgebenden - Physis unter den Kleidern und damit auch an den sekundären Geschlechtsmerkmalen (jenen Ausbuchtungen und Rundungen, die schließlich in die amerikanischen Superhelden-Comics Eingang finden sollten). Beide Genres jedoch dienten, ebenso wie die scheinbar harmlosen Darstellungen

13 Abb. von Kuroda Seikis Morgentoilette in: Dürr 1994, S. 125, von Georges Bigots Karikatur in: Kuraya Mika: 'Kunst' durch Grenzen - Der Maler Kuroda Seiki und die Aktbilddebatte. In: Richter, Steffi (Hg.): Japan-Lesebuch 3: "Intelli". Tübingen 1998, S. 57 - dort auch eine ausführliche Darstellung des Aktbild-Skandals von 1895, den Dürr erwähnt.

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nackter Frauen im Badehaus \yunazu], als Erotika.14 Berücksichtigt man ihren Gebrauchszusammenhang, dann suggerieren sie weniger eine universale Schamhaftigkeit und ein durch diese gefiltertes Übersehen, sondern neben der o.g. sozialen Konditioniertheit ein "Sehen mit dem Körper und im Körper".15 Anders als die Bilder der Schönheiten kursierten die Frühlingsbilder im 18. und frühen 19. Jahrhundert allerdings als Lachbilder [warai-e]. Dieses Etikett scheint die Beobachtung einer schamhaften Reaktion auf sie zu bestätigen (ebenso wie die Tatsache, daß sie von der japanischen Kunstgeschichte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts als Bearbeitungsgegenstand ernstgenommen wurden). Aber mögen sie zu ihrer Entstehungszeit auch schamhaftes Lachen ausgelöst haben, ihre eigentlichen Adressaten fühlten sich durch die Bezeichnung Lachbild weder zum albernden Unernst noch zur Schamhaftigkeit verpflichtet. Sie signalisierte ihnen vielmehr den sexuellen Zweck dieser Bilder sowie ihre Zugehörigkeit zur fließenden Welt [ukiyö], einer "cognitive condition of being apart from the 'fixed' world of daily life and duty".16 Auch der moderne Manga wird in Japan gelegentlich als Lachbild verstanden, und zwar ausgerechnet von jenen, die - weit entfernt von Erotika - das Element man des Kompositums im Sinne von Witz, Humor und politischer Satire interpretieren [ga\ Bild]. Aber er steht tatsächlich in der genannten populären Tradition, selbst dort, wo er Nacktheit nicht zu erotischen Zwecken expliziert, denn seine Stilisierungen führen ebenfalls in (gewissermaßen virtuelle, manchmal utopische) Räume, die sich realistischen Kriterien und also auch einer eindeutigen Ernsthaftigkeit zu entziehen suchen. Damit verhält er sich ambivalent zur Modernisierung, die in Japan auf der hochkulturellen Ebene ernst mit der Nacktheit machte: zum einen in Gestalt des künstlerischen Aktgemäldes, zum anderen in Form von Abbildungen für wissenschaftli-

14 Daher gibt Timon Screech seinem japanischen Buch über Frühlingsbilder auch den Untertitel "Einhändig zu lesende Edo-Bilder" - Timon Screech: Shunga. Katate de yomu Edo no e. Tokyo: Kodansha, 1998; ders.: Sex and the Floating World. Erotic Images in Japan 1700-1820. Honolulu 1999. 15 Williams, Linda: Pornografische Bilder und die "Körperliche Dichte des Sehens". In: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin 1997, S. 75. 16 Screech, Timon, 1999, S. 8.

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che Schriften. Der Kunsthistoriker Tan'o Yasunori 17 hat das anhand des ersten westlichen Anatomielehrbuchs in Japan, Adam Kulms Anatomischen Tabellen'8, verdeutlicht: Der später für seine Versuche in der sogenannten holländischen Malerei [ranga] bekannt gewordene Odano Naotake (1749-1780) veränderte für die Übersetzungsausgabe geringfügig das Titelbild, auf dem Adam und Eva eine Schrifttafel flankieren. Für den japanischen Leser verbarg Adam daraufhin sein Geschlecht mit einer Hand - gerade weil sichtbare Genitalien sexuelle Lust mit einem Ernst konnotierten, der als sozialer Unernst auftrat. Dürrs illustrativer Umgang mit den Bildern verleitet drittens zu der Frage, inwiefern es sich bei "Nacktheit' um ein visuelles Phänomen handelt, welche Art von Visualität Bilder nackter Körper jeweils mobilisieren und ob diesen Bildern aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vor allem mit Blickregimes analysierenden Instrumentarien zu begegnen sei. Das wiederum betrifft die Ästhetik des Comics: seine Provokation der Wahrnehmung, zwischen Lesen und Sehen zu pendeln, sowie sein Potential, ein isolierendes Sehen und Gesehenwerden in raum-zeitlichen Panel-Sequenzen zu fragmentieren und über wandernden Blick wie umblätternde Hand eine Brücke zur Körperlichkeit des Lesers herzustellen. Linda Williams hat am Beispiel pornographischer Bilder aus dem Europa der vorletzten Jahrhundertwende die haptische Unmittelbarkeit visueller Wahrnehmung demonstriert, eine "Extase, die im Körper, aber in Bezug auf ein Bild hervorgerufen wird". 19 Damit richtete sie sich gegen die Annahme einer Transparenz des fotorealistischen Bildes und einer Filterlosigkeit des modernen Sehens, die kritischen Analysen von Repräsentationsinhalten häufig unterliegt. Über pornographische Bilder hinaus ist die Berücksichtigung eines solchen körperlichdichten Sehens für alle visuellen Medien relevant, weil sie - bei-

17 Tan'o Yasunori: "Kyokutö girishia" no rataizö [Das Aktbild im "Griechenland des Femen Ostens"]. In: Tokyo Kokuritsu Bunkazai Kenkyüsho (Hg.) 1994, S. 344359. 18 Kulm, Adam: Anatomische Tabellen, dt. 1725, in einer Übersetzung aus dem Holländischen durch Sugita Genpaku 1774 als Kaitai shinsho erschienen. Vgl. auch Sasaki Jöhei: Vom Sinnbild zum Abbild. Malerei und Naturwissenschaften in der Edo-Zeit. In: Japan und Europa 1543-1929 (AK). Berlin 1993, S. 138-141. 19 Williams, Linda 1997, S. 79.

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spielsweise bei der Untersuchung des motivischen Stellenwerts von Nacktheit - dazu auffordert, sowohl die Form der Bilder selbst in ihrem Verhältnis zur Visualität als auch den Sehsinn in seinem Verhältnis zum Tastsinn und über diesen zur Körperlichkeit des Betrachters bzw. Lesers wahrzunehmen. Nach dem folgenden Abschnitt zur Kulturspezifik von Nacktheit in Comics wird darauf noch einmal zurückzukommen sein.

Kulturspezifisch: Nacktheit in Comics Nacktheit in Comics ist - ungeachtet nationalkultureller Unterschiede - vor allem in bezug auf offensichtliche Sexualität thematisiert worden, und sie gilt als Indiz für 'erwachsene' Geschichten, im allgemeinen Sinne erwachsener Figuren für erwachsene Leser, im speziellen hinsichtlich eines 'gefahrlichen' Undergrounds, von den pornographisch-sexkonsumistischen Produkten bis hin zur politisch intendierten avantgardistischen Geste. 20 Aber die Blöße des Mediums liefert die Darstellung entblößter Körper in ihm der Zensur aus. "As long as the broader community assumes that comics, by their nature, are suitable only for kids - then charges of obscenity will always hit their mark", muß Scott McCloud noch 2000 in seinem zweiten Meta-Comic konstatieren. 21 Ihm zufolge stoßen sich die amerikanischen Moralapostel zwar nicht mehr am künstlerischen Un-Wert oder Werthams Seduction of the Innocent, aber immer noch am Sex - und zum Zeichen dessen bringt auch McCloud einen nackten Frauenkörper ins Bild. Die Physis von Superhelden, die sich mit hautengen Anzügen und/oder Überaktivität bemäntelt, wird seltener als Nacktheit wahrgenommen. Männerkörper interessieren eher unter sportlichen Aspekten, ob in amerikanischen Mainstream-Comics, japanischen Genre-Produkten für junge Männer oder den Publikationen von Comic-Ästhetikern: "Burne Hogarth's treatment of the human figure in Tarzan helped set the fashion for how musculature

20 Vgl. Sabin, Robert: Adult Comics. An Introduction. London, New York 1993; Knigge, Andreas C.: Sex im Comic. Frankfort, Berlin 1985. 21 McCloud, Scott: Reinventing Comics. New York 2000, S. 89.

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should be depicted in order to enhance the drama of physical activity".22 Für und Wider provozieren nackte Körper zudem wegen der Un/sichtbarkeit von Genitalien. Als japanische Besonderheit gelten die Stilisierungen, mit denen vor allem die erotisch-pornographischen Untergattungen des Manga seit den sechziger Jahren der vom Gesetzgeber tabuisierten Abbildung der primären Geschlechtsorgane begegneten. Das Spektrum erstreckt sich vom schlichten Aussparen über Silhouetten und nichtfigurative Abdeckungen bis hin zum Ersatz durch Bananen, Schlangen oder Muscheln.23 Solche Manga und ihre Strategie, das zu betonen, was sie der äußerlichen Sichtbarkeit entziehen, sind im Ausland höchstens auf französisch oder aber in amerikanischen Underground-Anthologien vereinzelt zugänglich.24 Dennoch werden sie gern herangezogen, um das eingangs erwähnte Bild eines sexversessenen Mediums zu belegen; Voyeurismus und 'Kindchenschema' sind dann die häufigsten Spezifikatoren. Vor allem feministische Japanologinnen konzentrieren darauf ihre Kritik, die als solche berechtigt erscheint, weil sich die staatliche Zensur allein auf formale Sichtbarkeit kapriziert.25 Solange sie sich jedoch einzelne Panels herausgreifen und diese auf skopische Regimes hin analysieren, ohne deren Position im narrativen Bilderfluß des konkreten Manga sowie im Kontext von Genres zu berücksichtigen, beschränken sie ihre Überzeugungskraft auf ein comic-unerfahrenes 22 Harvey, Robert C.: The Art of the Comic Book. An Aesthetic History. Jackson/Miss. 1996, S. 36. 23 Takekuma Kentarô: Manga ha "seiki" wo dô hyôgen shitekita ka? [Wie hat der Manga bisher "Genitalien" ausgedrückt?]. In: Inoue Manabu (Hg.): Manga no yomikata [Wie man Manga liest]. Tôkyô: Takarajimasha, 1995, S. 120-124. 24 Z.B. Manga Erotique 1: Extrême Orient. Genf 1996; Quigley, Kevin et. al. (Hg.): Comics Underground Japan. New York 1996. 25 Allison, Anne: Permitted & Prohibited Desires. Mothers, Comics, and Censorship in Japan. Boulder/Col., Oxford 1996. Vgl. auch Buckley, Sandra: 'Penguin in Bondage': A Graphic Tale of Japanese Comic Books. In: Penley, C. / Ross, A. (Hg.): Technoculture. Minneapolis 1991, S. 163-193; Shigematsu, Setsu: "The Law of the Same" and Other (Non)-Perversions: Woman's Body as a "UseMe/Rape-Me" Signifier. In: U. S.-Japan Women's Journal (English Supplement), Nr. 12, 1996, S. 154-177; Bachmayer, Eva: "Gequälter Engel" - Das Frauenbild in den erotischen Comics in Japan. Versuch einer psychoanalytischen und feministischen Interpretation. In: Aspekte japanischer Comics (Beiträge zur Japanologie, 21). Wien 1986, S. 95-223.

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Publikum und wiederholen außerdem das Grundmuster der (eur)amerikanischen Rezeption des Manga überhaupt. Dieses beläßt zweierlei im Unsichtbaren: erstens, daß auch der japanische Comic nicht ausschließlich aus den sich im In- wie Ausland am besten verkaufenden Langserien des Mainstream besteht (worauf beispielsweise die o.g. Manga-Ausstellung aufmerksam machen will), und zweitens, daß diese Langserien von japanischen Konsumenten durch ihren Erscheinungsort, ihre Erzählweise und ihre Graphik dem 'männlichen' Jugendmanga zugerechnet werden. Wie im alten Japan so auch in seinem modernen Comic: Die Wahrnehmung ist durch (bereits historische) Genres gefiltert, vor allem durch geschlechtlich spezifizierte.26 Die ausländische Annahme von der Unverblümtheit des Manga hat 'männliche' Genres zum Gegenstand. Diese dominieren das durch Übersetzungsausgaben geprägte Bild. Da die meisten Manga aus dem Amerikanischen in den deutschsprachigen Raum kommen, tragen sie die Struktur der nordamerikanischen Comic-Kultur mit sich, die sich aus einem an junge Männer gerichteten Mainstream einerseits und auf deutsch gern 'Autoren-Comics' genannten Abweichungen von diesem - ob anspruchsvollen graphic novels oder ironisch-bissigen Strips - andererseits zusammensetzt. Frauen bilden innerhalb der Comic-Konsumenten, die ohnehin nur ein Prozent der allgemeinen Leserschaft Nordamerikas ausmachen, keine Zielgruppe. Und spätestens seit Versuche, die in den vierziger und fünfziger Jahren florierenden, von Männern gezeichneten romance comics wiederzubeleben, gescheitert sind, stellen weibliche Comics in einem generischen Sinne, d.h. Story-Manga für Frauen - und in Japan von Frauen - , die in entsprechend ausgewiesenen Magazinen und Buchreihen vertrieben werden, eine japanische Besonderheit dar.27 Bis hin zum erotisch-pornographischen Ladies' Comic seit den achtziger und dem neuen FrauenComic seit den neunziger Jahren, stehen sie in der Tradition des

26 Vgl. zum Genre-Begriff Gledhill, Christine: Rethinking Genre. In: dies. / Williams, Linda (Hg.): Reinventing Film Studies. New York 2000, S. 221 - 243. 27 Vgl. Robbins, Trina: From Girls to Grrrlz. A History of Comics from Teens to Zines. San Francisco 1999.

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Mädchenmanga [shöjo manga] und seines in den siebziger Jahren ausgebildeten Genre-Profils. 28 Die damals innovativen Comics von Zeichnerinnen wie Ikeda Riyoko (1947-), Öshima Yumiko (1947-), Takemiya Keiko (1950-) und Hagio Moto (1949-) lenkten die Aufmerksamkeit der Leserinnen nicht auf den nackten Körper als solchen, sondern als Projektionsfläche für unbestimmte Gefühle, adoleszente Hilflosigkeit und Unbehagen gegenüber dem Erwachsen werden. 29 Er war Medium eines Blicks, der weder vordergründig zum distanzierten Abschätzen einlud noch eine haptische Nähe suggerierte. Das Genre entstand ja auch als Teil der modernen japanischen Mädchenkultur, und diese definierte das Mädchen [shöjo] als ein seelenvolles OberschichtenWesen im Stadium zwischen kindlicher Unschuld und bewußter Sexualität. Der Mädchenmanga der siebziger Jahre enthüllte zwar den Körper, behandelte ihn aber als Metapher der Innerlichkeit und zeigte vor allem kaum sexualisierte, zart konturierte, semitransparente Oberkörper, deren Erotik sich in ornamentalisierenden Bildcollagen verbarg und deren Ungreifbarkeit Monologstimmen sicherten. Oft gehörten sie langbeinigen schönen Jünglingen [bishönen], die mit großen Augen mädchenhaft in eine unsichtbare Ferne schauen. Leserinnen begegneten solchen Figuren gleichermaßen als Spiegelbildern ihrer selbst wie als Vertretern des anderen Geschlechts, dem feminisierende Angleichung die Bedrohlichkeit nahm. 30 Der nackte Körper blieb dabei in ein Gewand des Nichtall28 Vgl. zum Mädchenmanga als Genre Berndt, Jaqueline: shöjo manga/MädchenComics in Japan. In: LEXIKON DER COMICS, Teil 3: Themen und Aspekte. 35. Erg.-Lfg., September 2000, Meitingen, S. 1-40; Megumi Maderdonner: Shöjo manga no sekai. Japanische Mädchen-Comics als Spiegel der Mädchenwelt (unveröff. Diss.), Universität Wien 1997; Spies, Alwyn: Yoshida Akimi. In: LEXIKON DER COMICS, Teil 2: Personen. 36. Erg.-Lfg., Dezember 2000, Meitingen, S. 1-22; Takahashi Mizuki: Takahashi Rumiko. In: LEXIKON DER COMICS, Teil 2: Personen. 37. Erg.-Lfg., März 2001, Meitingen, S. 1-25. 29 Ein Auszug aus Ikeda Riyokos The Rose of Versailles [Berusaiyu no bara] in englischer Übersetzung in: Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The World of Japanese Comics. Tokyo, New York 1983, S. 216-237. Abb. aus einem Manga von Öshima Yumiko, wenngleich ohne nackte Körper, in: The Japan Foundation (Hg.) 2000, S. 74-77. 30 Vgl. Matsui Midori: Little girls were little boys: Displaced feminity in the representation of homosexuality in Japanese girl's comics. In: Gunew, Sneja / Yeatman, Anna: Feminism and the Politics of Difference. St Leonards 1993, S. 177-

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täglichen und der romantischen Idealisierung gehüllt, das ihn dem sozialen Ernst erwachsener Geschlechterbeziehungen entrückte. Solche mittlerweile klassischen Manga und ihr Gefolge lenken die Suche nach kultureller Eigenart von der Gegenüberstellung Japans mit dem Ausland auf generische Unterschiede innerhalb des Mediums, zu allererst auf geschlechtsspezifische. Dabei mag der im japanischen Diskurs lange unterrepräsentierte Mädchenmanga von seinen Fürsprecherinnen mit künstlerischen Traditionen verknüpft werden, die auf einen 'femininen' Kern der japanischen Kultur überhaupt deuten, 31 beispielsweise mit den Querrollen zur Geschichte vom Prinzen Genji [Genji monogatari emaki]. Was diese mit dem Mädchenmanga entfernt vereint, ist das veredelnde Andeuten (Hofadlige entblößen sich nicht) und die Zurücknahme von sequentieller Bewegung in Stimmungslandschaften. An Comic-Versionen der literarischen Vorlage, wie der im Mädchenmanga-Stil von Yamato Waki {Genji Monogatari Asakiyumemishi, 13 Bd., 1980-1993)32 und der im Stil eines dezenten Ladies' Comic von Maki Miyako (Genji Monogatari, 3 Bd., 1988-1990), fällt jedoch eher das Trennende auf, beispielsweise einem kunsthistorischen Blick, der das vornehme Implizieren als Tradition einer maskulinen Sublimierung interpretiert und erst in den genannten Manga eine weibliche, weil Gewalt gegen Frauen explizierende Perspektive entdeckt.33 Hinsichtlich der grundlegenden Erzählform unterscheiden sich diese Comics allerdings nicht von den meisten Serien des 'männlichen' Jugendmanga, denn wie diese entfalten sie die bekannte Geschichte so, als würden sie sie gerade erst erfinden, und rücken damit in die Nähe des popularisierten europäischen Romans. Auch hinsichtlich ihrer Bildsprache sind sie nur partiell als 'rein japanisch' zu beanspruchen, denn sie ersetzen die sich bedeckt haltenden Gesichter der Tradition (die Augen ein Strich, die Nase ein Haken [hikime kagibana]) durch Antlitze 196. Die erste deutsche Übersetzung eines Manga aus dem Subgenre der Knabenliebe [shönen-ai]: Ozaki Minami: Zetsuai- 1989, Hamburg 2000. 31 Im Sinne von Chino Kaori: Gender in Japanese Art. In: Aesthetics (The Japanese Society for Aesthetics), Nr. 7, März 1996, S. 49-68. 32 Teilweise deutsche Übersetzung: Yamato Waki: Genji Monogatari - Asakiyumemishi. Böblingen 1992. 33 Vgl. Croissant, Doris: Courtly Romances: Picturing Passion in the Tale of Genji (unveröff. Konferenzbeitrag), 2000.

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mit unjapanisch großen Augen, die individuelle Seelenzustände modern visualisieren. Die o.g. Zeichnerin Maki Miyako suggeriert außerdem - zumindest mit plastischen Köpfen - die Präsenz physisch bestimmter Körper unter der ornamentalisiert-flächigen Kleidung. Eine solche bildliche Verschränkung von Flachheit und Tiefe kann in sexuell offenherzigeren Ladies' Comics soweit fuhren, daß sich im Aussparen der Genitalien bei einem durchmodellierten nackten Körper gewissermaßen traditionell japanischer negativer Raum \yohaku] und europäischer Akt begegnen. Inwiefern nackte Körper im Manga sichtbar werden, unterliegt Genre-Konventionen. Diese aber lassen sich nicht direkt auf eine Repräsentationskultur des alten Japan zurückfuhren. Vielmehr zeigen sie durch die Integration euramerikanischer Elemente ihre Verbundenheit mit einer Modernisierung, die Traditionen relativierte. Umgekehrt spricht gegen ein nationalhistorisch homogenisiertes Verständnis von Comics, daß sich seit den achtziger Jahren Arbeiten nichtjapanischer Zeichner/innen mehren, die regelrecht 'japanisch' wirken. Angefangen von Frank Millers legendärem Ronin (1983/84), gilt als eines der wichtigsten Merkmale die aktionsbetonte Auflösung des Seiten-Layouts. 34 Da jedoch im hier interessierenden Zusammenhang einer pluralen Kulturspezifik japanische Mädchenmanga als Beispiel dienten, bietet sich Colleen Dorans A Distant Soil eher zum Vergleich an.35 Die fiktionale Langform unterscheidet ihre Serie von den FrauenComics der Underground-Periode (1970-1989), "works that were raw, emotionally honest, politically charged and sexually frank". 36 Lasse sich, so McCloud, heute kaum noch von einem Frauen-Comic sprechen (zumal - aus japanischer Sicht - ein generisches Geflecht von Verlagen, Leserschaft und Publizistik fehlt), so seien Zeichnerinnen in Nordamerika aber nach wie vor eine Minderheit, und die meisten bewegten sich in der feministischen Tradition. Dazu gehören

34 Vgl. Platthaus, Andreas: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte. Berlin 1998, S. 229-236; Balzer, Jens: Bloß keine Kulturindustrie. Natsume Fusanosukes "Manga"-Ausstellung im Berliner Museum für Ostasiatische Kunst. In: Berliner Zeitung 12.07.2001. 35 Entwickelt seit 1983. Doran, Colleen: A Distant Soil - The Gathering. Fullerton 1997; dies.: A Distant Soil - The Ascendant. Fullerton 1998. 36 McCloud 2000, S. 102.

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die ins Deutsche übersetzten - Phoebe Gloeckner, Julie Doucet, Debbie Drechsler oder etwa Roberta Gregory - mit ihren auf Authenzität zielenden Kurzgeschichten und/oder selbstironischen gagstrip-artigen Episoden, die aus japanischer Perspektive mitunter distanzierend textlastig erscheinen. Auch Colleen Dorans Fantasy-Comic A Distant Soil wirkt erwachsener, direkter, mithin 'westlicher', als es Leserinnen japanischer Mädchenmanga gewöhnt sind, wenn er über herabschauenden Blick und aufschauenden Gegenblick eine bedrohliche Situation inszeniert, in der ein junger Mann mit nacktem Oberkörper eindeutig zum Objekt der sexuellen wie politischen Begierde wird, oder wenn er kopulierende nackte Leiber abstrakt verschmelzen läßt, ohne ihre Konturen und damit ihre jeweilige physische Substanz wenigstens andeutungsweise ins 'Seelenvolle' aufzulösen. Aber er nähert sich dem Mädchenmanga immer dann, wenn er Panels aneinanderreiht, die sich auf Fragmente von Körperteilen beschränken, wenn er auf das von Amerika gewohnte strenge Panelraster zugunsten eines mehrschichtigen, collage-artigen Seiten-Designs verzichtet, und wenn er ornamentalisiert. Innerhalb Nordamerikas verbindet ihn die gleichermaßen japanisch-mädchenhaft wie Flower-Power-artig wirkende Vorliebe fürs Dekorative mit der Fantasy-Saga Elfquest [Abenteuer in der Elfenwelt] (1978-1984) von Wendy und Richard Pini. Auch in dieser entdecken manche einen japanischen Einfluß.37 Anders als Trina Robbins, eine Zeichnerin, die Ende der sechziger Jahre im Underground begann und sich seit den Achtzigern mit Büchern zum Thema 'Frauen und Comics' einen Namen gemacht hat. Sie schreibt über Colleen Doran, ihr dekorativer Stil sei beeinflußt von Mucha, Beardsley, Erte.38 Unerwähnt bleibt der sich aus den gleichen Quellen speisende Mädchenmanga, dessen ornamentalisierende Graphik in den siebziger Jahren ausreifte, als 37 "Die angegriffene 'cuteness' von Wendys Zeichnungen resultiert aus ihrer Anlehnung an den Stil japanischer Zeichentrickserien und der dort häufigen Verwendung des Kindchenschemas. Tatsächlich sind ihre Zeichnungen zwar 'süß', aber handwerklich versiert [...], ausdrucksstark [...] und handlungsverstärkend ornamental (viel gelobt wurden z.B. die zwar bekleidungstechnisch unsinnigen, aber sehr stimmungsvollen Kostüme der Charaktere." Czerwionka, Marcus: Richard und Wendy Pini. In: LEXIKON DER COMICS, Teil 2: Personen. 12. Erg.-Lfg., Dezember 1994, Meitingen, S. 8. 38 Robbins, Trina: The Great Women Superheroes. Northampton/Mass. 1996, S. 185-186.

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sich Jugendstil und Art Déco, einst dem Japonismus nahe und als solche für Japan ein Re-Import, nach-modernistisch rehabilitierten.39 Die angeführten Beispiele legen nahe, daß sich eine kulturvergleichende Untersuchung des Motivs der Nacktheit in Comics weder auf eine Singularisierung des Mediums noch auf eine Singularisierung der Tradition stützen kann. Eine nationale Zuordnung von Unterschieden der verschiedenen Comic-Kulturen erweist sich als sinnvoll für die Analyse äußerer Bedingungen, von den jeweiligen Produktions- und Distributionssystemen bis hin zum dadurch geprägten Erwartungshorizont der Leserschaft, einschließlich der techno-orientalistischen Projektionen und Distinktionsbestrebungen, die dem Manga beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse 2000 zugute kamen. Vor den konkreten Comics aber versagt sie in Zeiten der Globalisierung, die auch den Blick zurück verändert, zunehmend.

Ästhetisch: Nacktheit in Comics und Nacktheit des Comics "Nackt' ist der Comic zunächst einmal in dem Sinne, daß er weder des Mantels der Kunst noch der intellektuell-wissenschaftlichen Verpackung bedarf, um mit seinen Leser/innen ins Gespräch zu kommen. Ihm haftet das Image eines 'rohen' Mediums an - ob nun als Mangel an erwachsener Kulturfahigkeit oder als Chance antibürgerlicher Authentizität. Und seine "Naturbelassenheit' wird nicht zuletzt mit einem angeblichen Fehlen von Historizität belegt: Einerseits spricht man ihm ab, etwa der Kunstgeschichte vergleichbare originäre Ausdrucksmittel progressiv entwickelt zu haben, um sein postmodernes Potential als posthistorisches zu betonen;40 andererseits verweist man auf seinen Hang zur Mythologisierung in einem bildlichen Präsens.41 39 Vgl. Takahashi Yüko: Tösei shöjo manga no genryü wo tazunete. Bijutsushika no yorimichi [Ursprünge des zeitgenössischen Mädchenmanga. Eine Kunsthistorikerin auf Abwegen], In: EUREKA Nr. 2, 1987, S. 178-189. 40 Carrier, David: The Aesthetics of Comics. Pennsylvania 2000. 41 Seeßlen, Georg: Mythos contra Geschichte. Über den Widerspruch von ComicErzählung und historischer Rationalität. In: Andreas C. Knigge (Hg.): Comic Jahrbuch 1991. Hamburg 1991, S. 23-31.

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Die "Nacktheit1 des Comics beschränkt sich allerdings nicht darauf, wie Wissenschaftler und Kritiker die Spezifik dieses Mediums wahrnehmen. Sie betrifft auch die Art und Weise, wie konkrete Comics jeweils Wahrnehmung organisieren. "Nacktheit' meint dann aus einer ästhetischen Perspektive, daß die Formen der Repräsentation nicht dienend hinter Erzählinhalte und Identifikationsfiguren zurücktreten, sondern dem Leser eine diesen gleichwertige Aufmerksamkeit abverlangen. Inwieweit eine solche 'Nacktheit' im Einzelfall bewußt wird, variiert sowohl mit dem jeweiligen Comic als auch mit dem jeweils angelegten Leserblick. Ein analysierender Leser jedoch kann an dieser anderen "Nacktheit' nicht vorbeigehen, wenn er Aussagen über den motivischen Stellenwert von Nacktheit in Comics treffen will. So entscheidet sich beispielsweise daran, ob die Bildflächen selbst als 'Körper'42 von Nacktheitsdarstellungen in Erscheinung treten und damit den Fokus des Betrachterauges zwischen ihrer Form und den Repräsentationsinhalten wandern lassen, wie die jeweiligen Abbildungen nackter Figurenkörper zu interpretieren sind als Objekte eines distanzierten Blicks anderer Figuren bzw. des Lesers in einer fixen Relation des 'Sehen und Gesehenwerden' oder als Mittler eines Unterlaufens dieser Art von Visualität. Letzteres birgt die Möglichkeit, Sehenden und Gesehenen gleichzustellen, und für deren Realisierung steht ein ganzes Reservoir visueller Strategien, angefangen vom avantgardistischen Schock, zur Verfügung. Nur zweierlei soll hier unter dem Aspekt von Unsichtbarkeit interessieren: das bildliche Andeuten sowie die Ablenkung der Aufmerksamkeit von einem isolierten Sehen hin zu einem, das über den visuell aktivierten Tastsinn eine Brücke zur Körperlichkeit des Gesehenen wie des Sehenden schlägt. Im japanischen Manga-Diskurs operiert man gern mit dem Gegensatzpaar 'westlicher Realismus vs. östliche Stilisierung", um im Rückgriff auf bildkünstlerische Traditionen des Implizierens nationale Sonderwege zu erklären.43 Mit seiner monochromen, Linien betonenden, verknappenden Graphik kann der Manga durchaus einer Tradition 'östlicher Stilisierung' im Sinne des Andeutens statt des Ausmalens zugeordnet werden - auch wenn bereits Scott McCloud 42 Vgl. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe einer Bildwissenschaft. chen 2001. 43 Symptomatisch Inoue, Manabu (Hg.) 1995.

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darauf hinwies, daß cartoonesk abstrahierte Bildsprache und visuelle Induktion den Comic generell kennzeichnen und der japanische stärker als seine euramerikanischen Verwandten den gleichen Gegenstand je nach narrativem Fokus mal flächig-verkürzt, mal plastischdetailliert vor Augen fuhren mag. 44 Im Japan der Vergangenheit hieß Andeuten durch Aussparen \yohaku], mit dem Verzicht auf Tuscheauftrag den papiernen Grund stellenweise als 'nackten' durchscheinen zu lassen und diese Stellen gleichzeitig als helles Bildelement, beispielsweise einen entkleideten Körper, repräsentational einzubinden. Das geschulte Betrachterauge war also als Nahsinn wie als Fernsinn gefordert. Einem solchen Auge konnte die sichtbare und damit gleichwertige Materialität des Bildes regelrecht verkörpern, wofür das Motiv der Nacktheit im buddhistischen Kontext stand: nicht für eine anthropozentrische Idealisierung, sondern vor allem für die ständeübergreifende Kleinheit des Menschen als eines vergänglichen Wesens - daher auch die häufige Visualisierung nackter Körper in profanen oder gar mißlichen Situationen. Ein Aussparen wie im Medium der Tuschemalerei, das dem Betrachter die Relativität der abgebildeten Figur und seiner selbst materiell suggeriert, ist dem Printmedium Manga aber nicht gegeben. Sein Potential, den Bildflächen selbst Aufmerksamkeit zu verschaffen, liegt eher in der Verschränkung von simultanem und sukzessivem Sehen, in der Mobilisierung eines wechselnd fixen und wandernden Blicks. Anregungen für die heutige Reflexion von Comics unter dem Gesichtspunkt einer solchen Visualität bieten traditionelle Drucke, u.a. die des Holzschnittmeisters Katsushika Hokusai (1760-1849). Auf Hokusai geht das Wort Manga zurück. Unter diesem Titel publizierte er ab 1814 in fünfzehn Heften eine Bilder-Enzyklopädie, die bis 1878 in Japan außergewöhnlich viele Auflagen erlebte und schließlich die Pariser Japonisten beeindruckte. Einige der Drucke zeigen nackte Körper. Gleich im ersten Heft der Hokusai Manga stößt der Betrachter beispielsweise auf ein Frauenbad: 45 Der obere Teil des Einzelblatts zeigt mehrere Figuren auf einer Straße - diesen Ort markiert zumindest die Laterne auf dem ansonsten 'leeren' Grund - , der untere Teil zeigt Frauengestalten beim An- und Auskleiden 44 McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Hamburg 1994 (amerikan. 1993). 45 Nagata, Seiji (Hg.): Hokusai Manga, Tokyo: Iwasaki Bijutsusha, 1986, Bd. 1, S. 32.

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sowie beim Schrubben und Abtrocknen des nackten Körpers, dazu einen auf einem Podest sitzenden Mann, der sein Gesicht hinter einem aufgeschlagenen Buch verbirgt. Auf den ersten Blick scheint man einen zufalligen alltäglichen Augenblick zu beobachten. Auf den zweiten fragt man sich, ob man hier eigentlich einen Moment oder eine zeitliche Sequenz vor sich hat - ob es sich bei den Badehaus-Besucherinnen um ein und dieselbe Frauengestalt oder um mehrere handelt - und ob sich der angeblich lesende Mann in einem Raum mit den nackten Frauen befindet. 46 Beim dritten Betrachten meint man die Kleidung und Frisuren der Frauen differenzieren zu können und kehrt vielleicht zum ersten Eindruck zurück mit dem Fazit, hier ohnehin nur verschiedene Posen vorgeführt zu bekommen. Man erinnert sich schließlich an andere Arbeiten von Hokusai, die Elemente der europäischen Zentralperspektive integrierten und den Bildraum stärker als seine Manga konkretisierten. Die Hokusai Manga werden vom Großteil der japanischen Publizistik als ein 'Ursprung' des modernen Mediums verstanden, ungeachtet zweier Tatsachen: daß der Holzschnitt insgesamt seinen (populär-)kulturellen Stellenwert in Japan verlor, als der moderne Manga entstand, und daß der moderne Manga die latente Offenheit des Zeitraums der Bilder verwarf. Er unterteilte die Sequenz in diskrete Einheiten, so daß ein Panel jeweils einen Moment festhielt, und stellte das Andeuten überhaupt eher in den Dienst des Sehens als den des Übersehens. 47 Was Dürr anhand von Holzschnitten als eine 'Unsichtbarkeit trotz Sichtbarkeit' aufzeigt, verkehrte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in eine 'Sichtbarkeit trotz Unsichtbarkeit' bei einem Medium, das Gerüche, Geräusche und Gefühle verbildlicht und selbst das, was sich dem Blick gewöhnlich entzieht, im bestimmten Zeitraum des einzelnen Panels fixiert. Exemplarisch verdeutlicht das die Die nackte Ohyaku [Hadaka no Ohyaku] (1978) von Ichinoseki Kei.48

46 Nakamura Hideki: Hokusai Mangekyö. [Hokusai-Kaleidoskop]. Tokyo: Bijutsu Shuppanssha, 1990. 47 Natsume Fusanosuke: Kasetsu: Koma no hattatsushi. Manga ha itsu kara manga ni natta no ka [Thesen zur Entwicklungsgeschichte der Panels. Wann wurde der Manga zum Manga?]. In: Inoue, Manabu (Hg.) 1995, S. 206-209. 48 Erstveröffentlichung in dem 'männlichen' Jugendmanga-Magazin Big Gold, 1978; Neuauflage in Ichinoseki Kei: Ranpu no shita. Tokyo: Shögakukan Bunko, 2000.

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Der Manga erzählt vom ersten weiblichen Aktmodell Japans und der Tätigkeit dieser Frau im Atelier jenes Kuroda Seiki, dessen Morgentoilette 1895 in Kyoto den ersten Aktbild-Skandal verursachte. Dabei spiegelt die Manga-Form selbst - in bildlicher Blickfuhrung wie narrativer Perspektivität - die dem damaligen Aktgemälde unterliegende Visualität. Gut zwei Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung wirkt das wie ein historisierender Bogen, der von einem Endpunkt zurück zu den Anfangen geschlagen wird. Den Figuren sind wechselnde, aber stets eindeutige Positionen des Sehens oder Gesehenwerdens zugewiesen, der Leser erhält das Privileg des Überblicks. Er erfahrt sowohl von der den Schülern abverlangten Selbstbeherrschung angesichts der enthüllten Frau auf dem Podest als auch von deren anfanglichem Unbehagen, diesen Blicken, die den eigenen Körper nicht nur kurzzeitig wie das Kamera-Auge streifen, standzuhalten. Selbst ausgebildet in westlicher Malerei [yöga] an der Nationalen Kunsthochschule Tokyo - von den Nachfolgern des Malers Kuroda Seiki, der dort die erste entsprechende Professur innehatte verbildlichte die Zeichnerin noch vor den o.g. Kunsthistorikern den Einzug eines modernen Sehens nicht nur anhand des Ateliers und der Kunstausstellung, sondern auch anhand des dort geforderten Blicks, der Nacktheit auf statische Menschenkörper in Einzelbildern festlegte und dem Alltag entrückte. Unter diesem visuellen Aspekt erscheinen die so unterschiedlichen Gattungen des Gemäldes und des Manga auf einmal ähnlich. Allerdings handelt es sich nicht um den Manga an sich, sondern um das in den 1960er Jahren etablierte Genre für vorrangig männliche Jugendliche. Neben ihrem Publikationsort in einer von dessen Zeitschriften verleitete Die nackte Ohyaku auch wegen Strich-Typ und Panel-Reihung zu der falschlichen Annahme, sie stamme von einem Mann. Das Prädikat 'weiblich' kam Ende der siebziger Jahre bereits dem Mädchenmanga zu. Dieser versuchte damals, in seinen ornamentalisierenden Collagen die zuvor dominante Temporalität verräumlichend außer Kraft zu setzen und über die Wendung zur Innerlichkeit der Figuren subjektive Erzählperspektiven zu erschließen. Ichinoseki Kei stützte sich demgegenüber auf die Techniken des Jugendmanga wie des akademischen

S. 203-302. Das Geburtsjahr der heute nicht mehr aktiven Zeichnerin ist unbekannt; Debüt 1975.

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Zeichnens, um realistisch eine Geschichte zu erzählen, die die weibliche Perspektive der Ohyaku als gleichwertige in eine Männer-Domäne einfuhrt, ohne sie zu privilegieren. Dabei verzichtet sie auf selbstreflexive Grenzgänge, wie euramerikanische 'Autoren-Comics' sie einschlagen mögen, und irritiert den Leser weder durch narrative noch bildliche Brechungen der Fiktion. Dieses grundlegende Bekenntnis zum populären Medium und der Konsumierbarkeit seiner Geschichten verbindet Die nackte Ohyaku mit anderen, späteren Manga, die nackte Körper jenseits von sexuellen Sensationen, zerstörerischen Schlachten oder romantischen Traumwelten zeichnen. Bildregie und Erzähl weise jedoch setzen auf eine Wahrnehmung, die heutigen Lesern immer noch gegenwärtig ist, zugleich aber historisch erscheint, beispielsweise aus dem Blickwinkel neuerer japanischer Comics. Seit den späten achtziger Jahren gibt es Manga von Frauen, die sich hinsichtlich ihres Publikationsorts und ihrer Leserschaft, ihrer Erzählweise und ihrer Graphik herkömmlichen Genre-Kategorien entziehen. Repräsentativ dafür sind die in Japan äußerst einflußreichen, in europäische Sprachen nicht übersetzten Arbeiten der Zeichnerin Okazaki Kyöko (1963-). 49 Ihre Geschichten aus einer unwirklich wirklichen japanischen Gegenwart bevölkern manchmal nackte, nach seelischer wie physischer Nahrung gleichermaßen verlangende, weder asiatisch noch europäisch aussehende Körper, die in einer rundum versachlichten Welt ohne Tragik und ohne Utopien in Objekt* wie Subjektpositionen geraten, zwischen idealisierendem Ernst und profanem Unernst, Flachheit und Tiefe pendeln und als Ganzes nur im Fragment greifbar werden. Aber sie werden greifbar - das, was von ihnen zu sehen ist, vermittelt eine alltägliche Sinnlichkeit: Man fühlt, wie das Bad den Körper nach dem Arbeitstag entspannt, bemerkt die Kühle des Küchenbodens unter dem nackten Fuß, spürt die Sonnenstrahlen auf der Haut der nackten Frau, die an einem Morgen nach gutem Sex Kaffee kocht. Okazakis Manga richten sich nicht nach der klaren Ordnung eines möglichst objektiven 'Sehen und Gesehenwerden', die Die nackte Ohyaku durchzieht, sie unterlaufen diese aber auch nicht nach Art des Mädchenmanga, der Sub-

49 Vgl. The Japan Foundation (Hg.) 2000, S. 50-51; Berndt, Jaqueline 2000, S. 1923.

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jektivität mittels entkörperlichender Ornamente favorisiert, und sie stellen diese ebenso wenig durch ironische Worte oder sekundäre Bildelemente in Frage, wie beispielsweise Roberta Gregory oder ähnliche amerikanische Zeichnerinnen. Vielmehr halten sie eindeutige Identitäten in der Schwebe und lassen das Augenmerk zwischen den verschiedenen Seiten des Mediums wandern - dem Sukzessiven und dem Simultanen, dem Verbalen und dem Piktoralen, den Erzählinhalten und den Bildflächen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Ironisch werden sie bei Anspielungen auf ältere Manga-Genres. So konterkarieren beispielsweise in PINK (1989) Mädchenmanga-typische Monologteile sarkastisch Sprechblaseninhalte und visuell erahnbare Vorgänge, die aus einem Ladies' Comic stammen könnten. 50 Arrangement und Abfolge der Panels fragmentieren die nackte Figur wie deren Wahrnehmung, so daß mehr Bilder als die äußerlich sichtbaren vor das Auge des Lesers treten. In den einzelnen Panels erscheinen Körperteile, die durch Ausschnitt und flächige Zeichnung nicht auf den ersten Blick zu dechiffrieren und daher nicht sofort mit anderen Panel-Inhalten zusammenzufügen sind. Gegenstandskonturen ignorierende jcreentowe-Flächen halten den Standort von Lichtquellen und Räumlichkeit im Ungewissen. Solche Manga verdienen nicht als krönender Höhepunkt einer progressiven Entwicklungsgeschichte des Mediums Aufmerksamkeit, sondern als symptomatische Kristallationen der internen kulturellen wie ästhetischen Heterogenität dieses Mediums und der Erkundung einer zeitgemäßen Visualität. Wie sie Nacktheit behandeln, lenkt das historische Interesse am Andeuten von der Vergangenheit auf eine spätmoderne Gegenwart, eine hochgradig mediatisierte Lebenswelt, in der eine auch sexuelle, aber nicht vordergründig sexualisierte Nähe zu konkreten Körpern einen flüchtigen Ruhepunkt inmitten unsicherer Identitäten bietet. Die Un/sichtbarkeit von Nacktheit in ihnen läßt sich als Aufforderung verstehen, "Nacktheit' selbst als visuelles Phänomen zu überdenken - beispielsweise mit dem Blick auf Comics, die ein Sehen mit fünf Sinnen erlauben.

50 Erstveröffentlichung 1989 in der kurzlebigen, minoritären Zeitschrift New Punchzaurus, sogleich anschließend in Buchform durch Takarajimasha, Tokyo.

VII. Auswahlbilbiographie Andritzky, M. / Rautenberg, T. (Hg.): "Wir sind nackt und nennen uns Du". Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Geschichte der Freikörperkultur. Gießen 1989. Bammes, Gottfried: Akt. Das Menschenbild in Kunst und Anatomie. Stuttgart 1992. Berger, Renate / Hammer-Tugendhat, Daniela: Der Garten der Lüste. Zur Bedeutung des Erotischen und Sexuellen bei Künstlern und ihren Interpreten. Köln 1985. Clark, Kenneth: The Nude. A Study of Ideal Art London 1956. (Deu.: Das Nackte in der Kunst. Köln 1958.) Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. I: Nacktheit und Scham. Frankfurt/Main 1988, 41992; Bd. II: Intimität (1994); Bd. III: Obszönität und Gewalt (1995); Bd. IV: Der erotische Leib (1999). Gay, Peter, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986. Gernig, Kerstin (Hg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des anderen in europäischen Diskursen. Berlin 2001. Goulemot, Jean Marie: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1993. Grisko, Michael (Hg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel 1999. Hecken, Thomas: Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt. Opladen 1997. Himmelmann, Nikolaus: Ideale Nacktheit in der griechischen Kunst. Berlin, New York 1990. Holme, Bryan (Red.): Aktphotographie. Zürich 1984.

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Auswahlbibliographie

Hunt, Lynn (Hg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne. Frankfurt/Main 1994. Kaufmann, Jean-Claude: Frauenkörper, Männerblicke, Konstanz 1996. Kim, Bok-Ki (Hg.): Korean Erotic Paintings. Seoul 2000. Knigge, Andreas C.: Sex im Comic. Frankfurt, Berlin 1985. Köhler, Michael / Barche, Gisela: Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie. Ausstellungskataglog des Münchener Stadtmuseums. München, Luzern 1985. König, Oliver: Nacktheit: Soziale Normierung und Moral. Opladen 1990. Kuntz, Andreas: Der bloße Leib. Bibliographie zu Nacktheit und Körperlichkeit. Frankfurt 1985. Kuntz-Stahl, Andreas: Vom Naturismus zum Nudismus. Internationale FKK-Bibliothek Kassel (IFK), Bestandsverzeichnis, Frankfurt 1985. Lalvani, Suren: Photography, Vision, and the Production of Modern Bodies. New York 1996. Lewinski, Jorge: The Naked and the Nude: A History of Nude Photography. London 1987. Liebelt, Udo (Bearb.): Nackt in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Gemälde, Skulpturen, druckgraphische Werke, Videofilme und Performances. Hg. v. Sprengel Museum Hannover. Hannover 1984. Maiwald, Salean A.: Von Frauen enthüllt. Aktdarstellungen durch Künstlerinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 1999. Nead, Lynda: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality. London, New York 1992. Öhlschläger, Claudia: Die unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text. Freiburg i. Br. 1996. Pohlmann, Ulrich / Gloeden, Wilhelm von: Sehnsucht nach Arkadien. Berlin 1987. Pointou, Marcia R.: Naked autorithy. The body in western painting. 1830-1908. Cambridge 1990. Saunders, Gill: The Nude. A new perspective. London 1989. Schneider, Thomas (Hg.): Das Erotische in der Literatur. Frankfurt/Main, Berlin, u.a. 1993.

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Spitzer, Giselher: Der deutsche Naturismus. Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik. Ahrensburg bei Hamburg 1983. Tebben, Karin (Hg.): Frauen - Körper - Kunst. Inszenierungen weiblicher Sexualität in der Literatur um 1900. Göttingen 2000. Vinken, Barabar (Hg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. München 1997. Walters, Margaret: Der männliche Akt. Ideal und Verdrängung in der europäischen Kunstgeschichte. Berlin 1979 (London 1978). Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne. Köln 1996. Wolter, Gundula: Die Verpackung des männlichen Geschlechts, Marburg 1991. Zanker, Paul: Eine Kunst für die Sinne. Zur Bildersprache des Dionysos und der Aphrodite. Berlin 1998. Ziegler, Ulf Erdmann: Nackt unter Nackten. Utopien der Nacktkultur 1906-1942. Berlin 1990.

VIII. Autorenverzeichnis JAQUELINE BERNDT, Dr. phil., Associate Professor für Kunstsoziologie, Künste und Medien an der Tokyo University. GABRIELE BRANDSTETTER, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. HANS RICHARD BRITTNACHER, Dr. phil., Privatdozent an der Freien

Universität Berlin. BRITTA DUELKE, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen (NRW). HANNO EHRLICHER, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. KERSTIN GERNIG, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg "Körper-Inszenierungen" der Freien Universität Berlin. WOLFGANG HERBERT, Dr. phil., Dozent für Soziologie, Vergleichende Kulturwissenschaften und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Tokushima/ Japan. OLIVER KÖNIG, Dr. phil., Privatdozent am Fachbereich Sozialwesen der Gesamthochschule Kassel. KLAUS-PETER KÖPPING, Dr. phil., Professor für Ethnologie in Hei-

delberg.

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Autorenverzeichnis

HYUNSEON LEE, Dr. phil., Researcher am Institut of media art & techno design an der Yonsei University in Seoul. MAREN MOHRING, M.A., Doktorandin im Graduiertenkolleg "Ge-

schlechterdifferenz & Literatur" der Ludwig-Maximilians-Universität München. ANDREA-MARTINA REICHEL, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in Bonn, Abt. Stiftungszentrum ANDREAS SCHWAB, lie. phil., Lizentiat in Geschichte an der Universität Bern.

IX. Abbildungsnachweis Abb. 1, S. 45: Cote Aquitaine, Les Landes, Frankreich. Photo von PD Dr. Oliver König. Abb. 1, S. 86: o. T. Aus: Richard Ungewitter: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung. Stuttgart / Köln 1979. Abb. 2, S. 87: Venus von Medici (Florenz) und Mädchen mit verschämter Haltung (Naturaufnahme). Aus: Carl Heinrich Stratz: Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst. Berlin 1914. (Verlag von Julius Springer) S. 96. Abb 3, S. 88: Venus Kallipygos (Neapel) und Rückenansicht eines 17jährigen Mädchens (Naturaufnahme). Aus: Carl Heinrich Stratz: Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst. Berlin 1914. (Verlag von Julius Springer) S. 99. Abb. 4, S. 89: Badende Japanerinnen Aus: Carl Heinrich Stratz: Die Rassenschönheit des Weibes. Stuttgart 1941, Zweiundzwanzigste, unveränderte Auflage, Erstausgabe 1901. (Verlag von Ferdinand Enke in Stuttgart), S. 286. Abb. 1, S. 109: Lebensgroße Statue des Bildhauers Bögebjergs. Aus: J.P. Müller: Mein System. Fünfzehn Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit. Leipzig/Zürich 1925 (neue erweiterte Ausgabe), (Gethlein & Co), S. 93. Abb. 1, S. 130: Aufnahme eines Männerlichtluftbades.

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Abbildungsnachweis

Abb. 2, S. 130: "Die Schande hat uns gekleidet, die Ehre wird uns wieder nackt machen." Konsul Salomonson auf einer in dem Looperatelier Monte Verità verkauften Postkarte. Abb. 1, S. 202: Filmszene. Aus dem Film "Die Lüge" (1999). Abb. 2, S. 202: Die bei Jugendlichen beliebte ideale Gesichtsform. Aus dem Internet Hankookilbo, "Miss Korea". Abb. 3, S. 202: Die traditionelle koreanische Gesichtsform. Aus dem Internet Hankookilbo, "Miss Korea". Abb. 4, S. 203: Die Computer-Schönheit (= eine vom Computer hergestellte Durchschnittsschönheit von Miss Korea.) Aus dem Internet Hankookilbo, "Miss Korea". Abb. 5, S. 203: Korean Erotic Painting des 18. Jh., Hong-Do Kim. Aus: Kim, Bok-Ki (Hg.): Korean Erotic Paintings. Seoul 2000. Abb. 1, S. 237: o.T. Aus: Michael Martischnig: Tätowierung ostasiatischer Art. Zu Sozialgeschichte und handwerklicher Ausfuhrung von gewerblichem Hautstich in Vergangenheit und Gegenwart in Japan. Wien: Verl. d. Österr. Akad. d. Wiss. 1987 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte 495 = Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde 19), Abb. Nr. 17. Abb. 2, S. 238: Tätowierung: Kannon. Aufnahme von Horitsune. Abb. 3, S. 239: Tätowierung: Kintaro. Aufnahme von Horitsune. Abb. 4, S. 240: Tätowierung: Kintaro. Aufnahme von Horitsune.

Abbildungsnachweis

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Abb. 1, S. 269: Jean Léon Gérôme: "Phryne vor den Richtern", 1861. Hamburger Kunsthalle; Foto von Elke Walford. Abb. 2, S. 270: "Musette" (= Christine Roux), 1855, Photographie von Nadar. Abb. 3, S. 271: Jean Léon Gérôme: "Römischer Sklavenmarkt", ca. 1884. Abb. 4, S. 272: Marina Abramovic in ihrer Performance "Freeing the Body", Berlin (Künstlerhaus Bethanien) 1976. Abb. 1, S. 299: o.T. Aus: Rolf Dieter Brinkmann: Godzilla. Köln 1968, (Verlag Wolfgang Hake), ohne Seitennummerierung. Abb. 2, S. 299: o.T. Aus: Rolf Dieter Brinkmann: Godzilla. Köln 1968, (Verlag Wolfgang Hake), ohne Seitennummerierung. Abb. 1, S. 326: Hans Baidung, gen. Grien: Die Kreuzigung Christi. Aus: Eisler, Colin: Meisterwerke in Berlin. Die Gemälde vom Mittelalter zur Moderne. Köln 1996, S. 127.

Rita Metrien

Sinn und Sinnlichkeit Der weibliche Körper in der deutschen Literatur der Bürgerzeit

2001. X, 389 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag I S B N 3 412-14900-4

Wie wird der weibliche Körper in der Literatur der Bürgerzeit




Körper anders dar als ihre männlichen Kollegen? Diese Fragen nimmt das Buch an Erzähltexten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern vergleichend in den Blick. Romane von einschlägigen Autoren dieser Zeit wie Goethe, Tieck, Novalis, Brentano und Keller werden dabei mit Texten von Autorinnen wie Sophie von la Roche, Friederike Helene Unger, Dorothea Schlegel, Therese Huber, Caroline Auguste Fischer oder Ida Hahn-Hahn konfrontiert. Aus dieser vergleichenden Perspektive werden die verschiedenen Aspekte und dargestellten Themen des weiblichen Körpers (der Körper der Jungfrau, der Körper der Mutter, kranke Heldinnen, Körper und Scham sowie die weibliche Schönheit) aufgeschlüsselt.

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