Mythos Tragödie: Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise [1. Aufl.] 9783839415658

Obwohl die Tragödie im 20. Jahrhundert wirkungsvoll für tot erklärt wurde, finden sich in den letzten Jahren verstärkt I

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German Pages 370 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung. Theater, Tragödie, Mythos und (ihre) Zeit
I Gezähmte Ursprünge. Der Anfang des Theaters und die Tragödie als Normgattung
Aristoteles Tragödiendefinition: Affekte und Katharsis in der Deutung des 20. Jahrhunderts
Die attische Polis im 5. Jahrhundert vor Christus
Ursprünge der Tragödie
Ambige Strukturen der Tragödie – Grundlagen der hier verfolgten Interpretation
»So schuf ein Daimon beiden allzu gleiches Los« – Aischylos: Sieben gegen Theben
»Denk’: auf der Schneide der Tyche gehst du jetzt« – Sophokles: Antigone
Thematisierung des Theaters, Metatheater, Antitheater – Euripides: Die Backchen
II Von Überwindungsstrukturen zu neuen Konflikten
Dialektische Definitionen der Tragödie seit Hegel
Tod der Tragödie?
Spiel und (physische) Realität des Theaters – andere Aspekte und neue Wege
»So viel Worte, so viel Lügen« – Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti
Das Erhabene, das Pathetische und der Mensch – Schillers Dramen
»Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« – Georg Büchner: Dantons Tod
»Da doch nur mit Gewalt die diese tötende Welt zu ändern ist« – Bertolt Brecht: Die Maßnahme als Nicht-Theater
»Du stirbst nur einen Tod / Aber die Revolution stirbt viele Tode« – Heiner Müller: Mauser
III Das Theater der Gegenwart. Mythos als Gedächtnis
Theater zwischen »Postdramatik« und »Gegenwart der Tragödie«
Die Frage nach Gegenwart und Erinnerung
»Wir sind alle Besiegte« – Dimiter Gotscheff inszeniert Aischylos’ Die Perser
»Tun! Leiden! Lernen?« – Michael Thalheimer inszeniert Aischylos’ Die Orestie
Kollektive Fremdheit heute – Volker Lösch inszeniert Medea nach Euripides
»Es möge genügen, um den Hörer wie eh und je in die Kindheit der Welt zu versetzen« – Botho Strauß: Ithaka
»Stirb, Liebe(r), auch du!« – Albert Ostermaier: Auf Sand
»Über die Maßen« – Dea Loher: Blaubart – Hoffnung der Frauen
»Wer bei mir spricht, spricht um sein Leben, das aber eh schon verloren ist.« – Elfriede Jelinek: Ulrike Maria Stuart
»Ein Theater gegen alles« – Werner Fritsch: Heilig Heilig Heilig
Schluss. Tragödie als Mythos
Literatur
Stücke
Verwendete Literatur
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Mythos Tragödie: Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise [1. Aufl.]
 9783839415658

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Johanna Canaris Mythos Tragödie

Theater | Band 36

Johanna Canaris (Dr. phil.) lehrt neuere deutsche Literatur an der Universität Paderborn.

Johanna Canaris

Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise

D466

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Marc Oliver Schulze in »Ödipus/Antigone« von Sophokles, Regie: Michael Thalheimer, Premiere 1. Oktober 2009, Schauspiel Frankfurt, Fotocopyright: Sebastian Hoppe Lektorat & Satz: Johanna Canaris Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1565-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort │ 7 Einleitung Theater, Tragödie, Mythos und (ihre) Zeit

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I Gezähmte Ursprünge

│ 17 Aristoteles’ Tragödiendefinition: Affekte und Katharsis in der Deutung des 20. Jahrhunderts │ 17 Die attische Polis im 5. Jahrhundert vor Christus │ 24 Ursprünge der Tragödie │ 29 Ambige Strukturen der Tragödie – Grundlagen der hier verfolgten Interpretation │ 39 »So schuf ein Daimon beiden allzu gleiches Los« – Aischylos: Sieben gegen Theben │ 48 »Denk’: auf der Schneide der Tyche gehst du jetzt« – Sophokles: Antigone │ 63 Thematisierung des Theaters, Metatheater, Antitheater – Euripides: Die Backchen │ 82 Der Anfang des Theaters und die Tragödie als Normgattung



II Von Überwindungsstrukturen zu neuen Konflikten │ 101

Dialektische Definitionen der Tragödie seit Hegel │ 102 Tod der Tragödie? │ 113 Spiel und (physische) Realität des Theaters – andere Aspekte und neue Wege │ 118 »So viel Worte, so viel Lügen« – Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti │ 131 Das Erhabene, das Pathetische und der Mensch – Schillers Dramen │ 139 »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« – Georg Büchner: Dantons Tod │ 149 »Da doch nur mit Gewalt die diese tötende Welt zu ändern ist« – Bertolt Brecht: Die Maßnahme als Nicht-Theater │ 153 »Du stirbst nur einen Tod / Aber die Revolution stirbt viele Tode« – Heiner Müller: Mauser │ 160



III Das Theater der Gegenwart

│ 167 Theater zwischen »Postdramatik« und »Gegenwart der Tragödie« │ 167 Die Frage nach Gegenwart und Erinnerung │ 183 Mythos als Gedächtnis

»Wir sind alle Besiegte« – Dimiter Gotscheff inszeniert Aischylos’ Die Perser │ 196 »Tun! Leiden! Lernen?« – Michael Thalheimer inszeniert Aischylos’ Die Orestie │ 211 Kollektive Fremdheit heute – Volker Lösch inszeniert Medea nach Euripides │ 221 »Es möge genügen, um den Hörer wie eh und je in die Kindheit der Welt zu versetzen« – Botho Strauß: Ithaka │ 229 »Stirb, Liebe(r), auch du!« – Albert Ostermaier: Auf Sand │ 252 »Über die Maßen« – Dea Loher: Blaubart – Hoffnung der Frauen │ 273 »Wer bei mir spricht, spricht um sein Leben, das aber eh schon verloren ist.« – Elfriede Jelinek: Ulrike Maria Stuart │ 295 »Ein Theater gegen alles« – Werner Fritsch: Heilig Heilig Heilig │ 317



Schluss Tragödie als Mythos

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Literatur │ 341 Stücke │ 341 Verwendete Literatur │ 342



Vorwort

Es handelt sich bei der folgenden Arbeit um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2009/2010 an der Universität Paderborn angenommen wurde. Ohne Unterstützung wäre die Fertigstellung der Arbeit in relativ kurzer Zeit nicht möglich gewesen. Deshalb möchte ich mich bedanken: Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, die durch ihr Stipendium die volle Konzentration auf die Arbeit möglich gemacht hat. Beim Deutschen Theater in Berlin und dem Staatstheater Stuttgart, die freundlich und unkompliziert Material zu den analysierten Aufführungen zur Verfügung gestellt haben. Beim Schauspiel Frankfurt und Sebastian Hoppe bedanke ich mich für die Erlaubnis, das Bild aus der Aufführung Ödipus in der Regie von Michael Thalheimer für den Titel verwenden zu dürfen. Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Norbert Otto Eke, der in der gesamten Zeit auch über die räumliche Distanz meine Arbeit (und mich) immer begleitet hat und mit Anregungen, konstruktiven Vorschlägen und Ermutigungen dazu beigetragen hat, dass sie jetzt in dieser Form vorliegt. Doch nichts wäre möglich gewesen ohne meinen Vater, der mich als Erster ins Theater gebracht hat. Deshalb und aus vielen anderen Gründen ist diese Arbeit ihm gewidmet.

Einleitung Theater, Tragödie, Mythos und (ihre) Zeit

Tragödie, die älteste Form des Theaters, deren Tod erklärt wurde, die zumindest als überwunden zu gelten scheint, und Gegenwartstheater – wie passt das zusammen? Zunächst fällt auf, dass in den letzten Jahren attische Tragödien wieder verstärkt auf den Bühnen auftauchen. Zudem befassen sich Theatertexte der Gegenwart mit Themen, die ein mythisches Potenzial haben – Mythos ist der zweite zentrale Begriff dieser Auseinandersetzung – und denen eine Wirkungsabsicht zu Grunde liegt, die durchaus ähnlich beschreibbar ist, wie die der Tragödie. Tragödie in Zusammenhang mit Mythos und mit dem Theater ist etwas Lebendiges und keine museale, überkommene Form. In der folgenden Arbeit wird eine These über das, was tragisches Theater ausmacht, anhand von Analysen von Theaterstücken (aber auch Inszenierungen, denn Tragödie findet in der Situation der Aufführung statt) und in Auseinandersetzung mit Theorien zu Tragödie und Theater vorgestellt. Kriterium für die Auswahl war auch die Wirksamkeit, die die unterschiedlichen Ansätze für die Gegenwart (noch immer) besitzen; wie sie das Verständnis von dem, was Theater und Tragödie sein soll und kann, prägen. Zu Beginn werden die Annahmen und Referenzen benannt, die später im Laufe vor allem des ersten Kapitels über die attische Tragödie, aber auch in Auseinandersetzung mit zunächst von außen herangezogenen theoretischen Diskursen der Gegenwart – vor allem des kollektiven Gedächtnisses in seinem Verhältnis zum Mythos – herausgearbeitet und in Begründungszusammenhängen dargestellt werden. Tragödie ist Theater. Theater verstehe ich als ein Zusammenwirken von Text (auch, da es sich in erster Linie um eine philologische Untersuchung handelt), Bühne und Publikum – so ist Theater Realität. Zum einen ist es die physische, markierte Realität der gemeinsamen Erfahrung von Bühne und Zuschauer zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum. Doch Theater existiert nur in der größeren Realität, die alle Beteiligten in den theatralen Moment mit hineinbringen, und in den äußeren (Produktions-) Zusammenhängen. Diese Realität ändert sich ständig und ist Ausdruck von Ideologien und Geisteshaltungen, die die tragische Wirkung begünstigen

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und oftmals auch behindern können. Zwischen allen diesen Ebenen gibt es Verbindungen, Übertragungen und Spannungen. In ihnen öffnen sich Räume für die tragische Wirkung. Diese sind durchaus auch selbstreflexiv in Bezug auf das eigene Medium und seine Möglichkeiten zu verstehen. Bierl findet hierfür bereits im Zusammenhang der attischen Tragödie den Begriff der »Metatheatralität« (vgl. Kapitel I). Doch der Theatermoment selbst ist einzigartig, er findet nur in einem Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, in einem Jetzt, statt, das nicht wiederholbar ist. Er ist vergangen, sobald er entsteht, damit ist er zugleich ebenso lebendig wie tot. Erschütterung, Selbstinfragestellung bis hin zur Selbstgefährdung ist ein Moment der Tragödie auf vielen Ebenen, in Bezug auf das Ich auf dem Theater (s.u.), die Wirkung auf die Zuschauer und eben auch das eigene Medium. Aristoteles definiert die Tragödie als einen solchen vielschichtigen, schmerzhaften Moment, der eine Wirkung, in Form der vieldiskutierten Affekte ›eleos‹ und ›phobos‹ und der Katharsis, hat. Die Frage nach dieser Wirkung ist auch für meine Untersuchung wesentlich. Im ersten Kapitel, in der Auseinandersetzung mit der attischen Tragödie, wird sich zeigen, dass das grundlegende Moment dieser Wirkung die Unauflösbarkeit, die Ambiguität der Spannung ist, die im theatralen Moment erfahrbar wird. Die Griechen finden dafür ein Bild: das des Daimons und der Daimonie. Hierin wird deutlich, dass sowohl die unberechenbare Schicksalsmacht, als auch der Mensch einen gemeinsamen Anteil an der Tragik haben, der nicht voneinander zu trennen ist, da dieser Moment beiden Ebenen zugleich angehört: aus einer anderen Ebene über die Menschen kommt, aber genauso und zugleich aus den Menschen selber. Wesentlich ist, dass dieser daimonische Moment unberechenbar bleibt und damit auch immer fremd. Die Menschen haben so einen Anteil am Göttlichen, Schicksalhaften und Unberechenbaren, aber um den Preis, dass sie selber zu Opfern für eben diese Mächte werden. Am Ende bleibt der Konflikt deshalb unauflöslich. Emil Anghern stellt eine recht einfach anmutende Formel auf, die dies beinhaltet: »Der Mythos gibt Antworten ohne Fragen (während die Tragödie Fragen ohne Antworten, Probleme ohne Lösungen entwickelt).«1 Das scheint eine Opposition zwischen Mythos und Tragödie zu implizieren. Doch der Inhalt der alten Tragödien sind Mythen. Mythos ist immer auch ein »einer Gruppe vorgegebene[r] Fundus an Bildern und Geschichten«2 – und Theater ist zunächst nichts anderes, als eine Geschichte zu erzählen. Damit stehen Mythos und Theater, also auch Tragödie, auch in einem positiven Zusammenhang. Eine Auseinandersetzung mit der Definition und vor allem der Funktion von Mythos findet sich zu Beginn der Kapitel I und III in Verbindung mit den konkreten Situationen. Mythos kann dabei vieles sein, eine alte Erzäh-

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Anghern: Die Überwindung des Chaos. S. 61. Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier S. 179.

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lung über Götter und Heroen, die Realgeschichte, später auch der Text (durchaus auch im Sinn von Intertextualität). Im Verlauf der Arbeit wird deutlich werden, dass Mythos, ebenso wie Tragödie, als Begriff höchst komplex ist und unterschiedlich verwendet und verstanden wird. Aleida und Jan Assmann stellen die verschiedenen Definitionen von Mythos dar und unterscheiden dabei sieben Begriffe. Der abendländische Umgang mit Mythen im Unterschied zu anderen Kulturkreisen zeichnet sich durch ein »reflexives Verhältnis«3 aus. Der Begriff von Mythos, der für diese Arbeit besonders relevant ist, ist der funktionale, dieser »definiert Mythos als einen kulturellen Leistungswert«4, gemeinsam mit dem literarischen, für den »statt Unveränderlichkeit […] spielerische Behandlung, Variation und Freiheit der Imagination«5 gilt. Doch auch andere Begriffe wie der polemische oder der narrative spielen immer wieder eine Rolle. Mythos ist alles dies zugleich, wie auch dieser Artikel formuliert: »Es liegt in der Komplexität des Mythos-Begriffs, daß er sich zugleich auf Text- und Mentalitätsstrukturen bezieht.«6 Auch das ist eine Eigenschaft, die den Mythos für das Theater brauchbar macht, da auch das Theater zugleich Kunst und Leben ist. Der funktionale Begriff ist in Assmanns’ Artikel der zentrale. Während hier unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten die Funktion für die Gemeinschaft betrachtet wird, ist in meinem Zusammenhang der Anspruch an den Mythos insofern enger gefasst, dass er in Bezug auf seine Wirkungsund Verwendungsmöglichkeiten auf dem Theater, vor allem dem der Tragödie, befragt wird. Dabei bleibt jedoch das globale Wirken des Mythos in der Gesellschaft der Anknüpfungspunkt. Denn die Wirkung auf den Zuschauer kann nur aus dieser Realität heraus stattfinden. Da das Theater eben in der Wirklichkeit existiert, ist der rein literarische Mythosbegriff alleine nicht ausreichend, wenn er auch im Verlauf der Untersuchung sehr stark ist. Assmann und Assmann weisen auch auf das Dunkle der Mythen hin.7 Diese Verdunklung ist einer der Gründe dafür, dass der Mythos befragt werden kann und muss – aber auch eines der Merkmale für seine Andersartigkeit. Der Mythos ist ein Anderes. Er unterliegt einer anderen Realität – bisweilen auch einer Irrealität – und er hat eine andere Zeitlogik: eine zyklische. Diese kollidiert in der Tragödie mit der linearen Zeit (vgl. dazu Lehmann in Kapitel I). In dieser Kollision liegt ein Moment der Maßlosigkeit, das den Rahmen der normalen Zeit übersteigt – auch dies ist ein Merkmal für den tragischen Raum. Der Mythos ist universal und in gewisser Weise unvergänglich. Der Grund dafür liegt in seiner Lebendigkeit, seiner Offenheit und auch seiner Relevanz für die Gemeinschaft, in der er wirkt; in der Grundsätzlichkeit seines Anspruchs und seiner Fragen. Zentral ist dabei,

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Ebenda S. 179. Ebenda S. 180. Ebenda S. 180. Ebenda S. 187. Ebenda S. 182.

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dass in den Mythen ein Grund- bzw. Gründungsmoment der Gemeinschaft aufgehoben ist, der so in einem lebendigen kulturellen Gedächtnis verankert wird (vgl. dazu vor allem den Beginn von Kapitel III). Seine Funktion ist dabei zwar der einer (Ver-)Sicherung, aber diese kann auch darin bestehen, Momente der Gewalt, die notwendig sind, in einer gesicherten Form gleichsam präsent zu halten (vgl. dazu Girard in Kapitel I). In diesen beiden Aspekten liegt auch die Nähe der Tragödie zum Tod. Denn der Tod ist mit der Gewalt, vor allem auch mit der Gewalt im Opfergedanken (vgl. dazu Burkert und Girard in Kapitel I) verbunden und zugleich stellt er das radikalste denkbare Andere dar (vgl. dazu Jan Assmann in Kapitel III). Doch das Andere kann auch das Theater selber sein, das so zu einem sakralen Moment und Charakter findet. Diese These stellt Antonin Artaud auf (vgl. Kapitel II). Bei ihm beruht dieser Vorgang auch immer auf der Physis des Theaters. Erst indem der Text in den Körpern auf die Bühne kommt, kann ein Moment theatraler Wirkung entstehen. Der Tod ist der Moment, in dem die Maßlosigkeit sich erfüllt, in dem der normale Zeitrahmen gesprengt wird. Mythen sind offen, auch das ist bereits in der alten Tragödie zu beobachten. Es gibt z.B. nicht die eine Atriden-Geschichte. Jeder der Tragiker erzählt den Mythos von Elektra und Orestes auf die ihm eigene Weise, wobei keine mehr Wahrheit beanspruchen kann als die anderen. Doch Mythen sind nicht nur offen, sie sind in dieser Offenheit zugleich so gesichert, dass sie die Infragestellung, die Befragung in und auf dem Theater der Tragödie aushalten und im Gegenteil in dieser kritischen Auseinandersetzung weiter in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden. Jede Variante stärkt – paradox auch in der Befragung – den Kern und die Haltbarkeit des Mythos. Theater ist so auch Medium des kollektiven Gedächtnisses und dieses ist auch mythisch definierbar. Die »Definition von Mythos, die unverminderte Aktualität zu behalten scheint, ist die von Mythos als erinnerter Geschichte«8, wie Aleida und Jan Assmann schreiben. Theater als Medium ist jedoch immer ein ganz spezielles, da es anders als alle anderen Medien von der Gegenwart der Situation, Publikum und Bühne lebt. Darunter liegen jedoch gemeinsame Erfahrungen eines Kollektivs, zu dem Bühne und Publikum gleichermaßen gehören. In diesem gemeinsamen Horizont kann Wirkung entstehen, gerade in der Gegenwart der Erfahrung, sonst ist Theater museal und nicht lebendig. Wenn die Art dieser Erfahrung verstörend und bedrohlich ist, sich unlösbare, existentielle Fragen (vor allem in Bezug auf das Ich und sein Verhältnis zur Welt) stellen, die auf das Publikum in dieser Art wirken können und ambig dargestellt werden, handelt es sich um Tragödie im hier vertretenen Sinn. Struktur dafür ist der Mythos, eine erinnerte Schicht des kulturellen Gedächtnisses, die zugleich erschreckend und dennoch gemeinschaftsstiftend ist. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts muss dafür kein Bild oder eine Fiktion mehr gefunden werden. Die Realgeschichte

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Ebenda S. 197.

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ist über das Vorstellbare hinaus gegangen (und hat auch die Kunst/Literatur damit in Frage gestellt, vgl. Steiner in Kapitel II). Um diese Erfahrung nicht dem Vergessen Preis zu geben, wird sie in der Erinnerung mythisiert – in dieser Wirkungsabsicht liegt auch ein gewisser moralischer Anspruch, zumindest bei einigen Autoren. Die Geschichte bewegt sich so selber durch die Zeit und bricht immer wieder durch. Dazu kommt, dass das Gedächtnis heute von anderen (Speicher-)Medien gestützt wird. Aleida Assmann bezeichnet die neuen Medien, allen voran das Internet, als »Speichergedächtnis ohne Speicher«9. Indem das Theater diese Art von Medien benutzt, z.B. in der Verwendung von Video, werden auch sie in den Diskurs und Horizont eingebunden. So ist auch die Funktion des Mythos, der eben Teil der Realität zwischen Bühne und Publikum ist, für die Tragödie und in der Tragödie ein ambiger. Unauflösbare Ambiguität wird sich in der Auseinandersetzung mit den Stücken als zentrale tragische Struktur erweisen. Der eine Teil der Auseinandersetzung mit Mythen ist die Befragung, die Infragestellung. Der Umgang mit Mythen in der Moderne wird oftmals als Mythendekonstruktion oder auch Mythenkorrektur10 verstanden. Dies bezieht sich jedoch zumeist auf einen Begriff von Mythos, der etwas konserviert, eben nicht lebendig ist und erst in diesem Umgang wieder lebendig wird, wenn auch aus einer Negativität heraus. Ein offener Mythos muss (und kann) nicht vollkommen dekonstruiert werden, da er sich durch seine Offenheit und Veränderbarkeit auszeichnet und gerade im kritischen Umgang seine eigene Realität behauptet. Der andere Teil des Verhältnisses von Theater und Mythos ist das Schaffen von Mythen, also die Mythen(re)konstruktion aus der Realität heraus und damit das Einschreiben in das kollektive Gedächtnis. Der Umgang mit Mythen auf dem Theater ist also ambivalent, da sie nicht nur befragt, sondern auch dauerhaft in das mythische Gedächtnis eingeschrieben werden. An einem konkreten Beispiel analysiert diese zweite Funktion Carl Schmitt. Er zeigt in seiner Untersuchung wie ein Mythos im Theater in Verbindung mit der historischen Zeit geschaffen werden kann (Vgl. Kapitel II). Zentral für die Möglichkeit und auch für die Art und Weise einer Wechselwirkung zwischen Mythos und Tragödie ist die Zeit, die Gegenwart, in der sie stattfinden kann. Anders gesagt, das Durchbrechen des Mythos (als das, was immer ist und nie ganz verschwindet oder als Material, das mythisiert werden kann) muss in der Gegenwart vorhanden sein. »Die Konjunktur des Mythos steigt mit der Krise der verschiedenen abendländischen ›Wahrheits-

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Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 45-60. hier S. 56. 10 Vgl. dazu Vöhler & Seidensticker: Mythenkorrekturen. Vor allem die Einleitung und den Artikel Emmerich, Wolfgang: Entzauberung – Wiederverzauberung. Die Maschine Mythos im 20. Jahrhundert. S. 411-435.

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codes‹ (abstrakt begriffliches Denken, Formen rationaler Weltaneignung, das Bewußtsein unbeschränkter Machbarkeit, Fortschrittsoptimismus).«11 Das Theater ist die Kunst, die auf mehreren Ebenen auf der direkten Interaktion zwischen Menschen basiert, deshalb muss es sich auch seiner Zeit angemessener Formen bedienen, um wirken zu können. Das bedeutet für die These von tragischen Strukturen durch die Zeit, dass es nicht um die Konservierung oder Reaktivierung von Form- und Aufbauelementen gehen kann. Die Fragen, Spannungen und Ambiguitäten, das permanente Spiel mit zwei Ebenen, als solche sind zentral. Wie sie formal gestellt werden, also in Form eines Fünfakters mit Chorliedern oder später in Form einer Textfläche, die sich der Aufteilung entzieht, ist nachrangig. Wichtig ist, dass die Fragen auf das Publikum wirken können. Deshalb muss die Form sich geradezu wandeln, da sie ihrer Zeit und Umwelt angemessen sein muss, um tragische Wirkung zu erzeugen. Das Theater der Gegenwart hat eine vollkommen andere Position als das Theater der Polis des fünften Jahrhunderts. Allein schon der Rahmen der Realität ist unvergleichlich größer geworden. Dennoch lassen sich Parallelen finden. Eine der zentralen Fragen, die in tragischen Theaterstücken – jedoch oftmals bereits in den Mythen und noch öfter angesichts der Mythen – gestellt wird, ist diejenige nach dem Ich, dem Subjekt und nach seiner Freiheit, auch in Verbindung mit dem Schicksal. Diese Frage ist eine, die aus der Realität kommt und nur im Zusammenhang mit der Realität denkbar ist, da sie sich nur in einer Umwelt stellen lässt (auch dieses Verhältnis ist – mit einem Begriff, der in Zusammenhang mit der attischen Tragödie zentral wird – als eine Daimonie beschreibbar). Hier lässt sich folgende Bewegung zeigen: In der attischen Tragödie konstituiert sich das Ich, jedoch nicht ungebrochen, sondern gerade im Angesicht des Scheiterns und des Leidens. Auf die lange Zwischenphase, in der das Ich aus unterschiedlichen Weltbildern heraus (dem christlichen, dem aufklärerischen, dem idealistischen) nicht bis zum Letzten problematisiert wird, folgt gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine radikale Infragestellung. Diese wird dann wieder zum Thema des Theaters, das aber ähnlich der Konstituierung des Ich in der attischen Tragödie im Leiden, angesichts dieser Gefahr das Ich vehement behauptet. Dieses ist gerade in der Realität und Geschichte der jüngsten Vergangenheit besonders gefährdet. Zum Problem der Geschichte kommt als zweites Thema der Glaube an die Technik und die Autonomie mit ihren sich verselbständigenden Möglichkeiten. Ähnlich wie in der attischen Tragödie leidet das (post-) moderne Individuum wieder daran, seine eigene Nicht-Autonomie zu erkennen. Diese drückt sich auch in Wissenschaft und Technik aus. Die Suche nach etwas Realem, das sich aber auf Grund der Geschichte primär in Grausamkeit oder in ästhetisch überhöhten Gegenentwürfen finden lässt, wird zum Thema. Dabei rekurrieren die Dramen auf die unterschiedlichsten

11 Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier 196.

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Schichten der gemeinsamen Erfahrung und versuchen, sie für den gemeinsamen Moment zwischen Bühne und Publikum nutzbar zu machen. Im Zusammenhang mit diesen zentralen Fragestellungen lassen sich Ähnlichkeiten in der Antike und der Gegenwart feststellen, wohingegen die (lange) Zeit dazwischen ein anderes Bild von Tragödie und Theater transportiert, das ganz zentral auch von der jeweiligen Weltsicht beeinflusst ist. Am prominentesten dabei ist die dialektische Definition der Tragödie bei Hegel. Auch bei Hans-Thies Lehmann, der mit seinem Paradigma des postdramatischen Theaters eine der einflussreichsten Theorien der Gegenwart aufgestellt hat, findet sich eine solche Verbindung. Während für ihn die Gegenwart »post-dramatisch« ist, definiert er die attische Tragödie als »prädramatisch«12. Dazwischen läge dann eine dramatische Phase, die in ihrer Wirkung so nachhaltig ist, das sie das Verständnis von dem was Theater (vor allem als Illusionstheater) ist, bis heute bestimmt. Eine ähnliche Einteilung in drei Phasen nehme auch ich vor, wobei jedoch nicht die Frage nach dem Drama, dem Texttheater, wie Lehmann es versteht, sondern diejenige nach der Möglichkeit von tragischer Wirkung im Mittelpunkt steht. Gegenstand dieser Arbeit ist das, was Tragödie in der Wechselwirkung zwischen Text, Bühne und Publikum ausmacht. Die Analyse geht folgendermaßen vor: Als Grundlage dient die attische Tragödie und mit ihr die aristotelische Poetik. Der zentrale Begriff der Wirkung, die Katharsis, ist dabei von besonderer Bedeutung. Vor der Analyse von drei konkreten Tragödien werden Theorien über die Entstehung der Tragödie und ihre Funktion in der attischen Polis des 5. Jahrhunderts diskutiert. Die Fragen, die hier gestellt werden, befinden sich in einer unauflöslichen Spannung: zwischen mythischer und linearer Zeit; zwischen Menschenwillen und götterabhängigem Schicksal; zwischen Erkenntnis und Scheitern, aber auch zwischen Bühne und Publikum. Diese Mechanismen machen die Tragödie aus – sie bilden die Grundlage der Überlegungen, wie sie im Vorhergehenden kurz vorgestellt wurden. Im zweiten Teil wird in Ausschnitten ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Theaters und seiner Theorie, vor allem in Bezug auf die Gattung Tragödie, gegeben. Hier liegt die Annahme zu Grunde, dass sowohl ein heilsgeschichtliches Weltbild als auch ein Menschenbild, welches dessen Können verabsolutiert und den Menschen letztendlich nicht in Frage stellt (auch wenn es durchaus innere Konflikte gibt, doch gelten sie letztlich als überwindbar), echte Tragik verhindern. Der Versöhnungsgedanke, das Aufheben der Ambiguität in der Dialektik – also Hegels einflussreiche Tragödiendefinition – wirkt hier bis heute nach. Aber auch die Frage nach der Definition und Position des Theaters in der Welt verändert sich hier, es ist kein lebendiger Teil der Wirklichkeit mehr, sondern wird hinter die ›vierte Wand‹ verbannt. Im 20. Jahrhundert beginnen sich die Vorzeichen wieder zu ändern, wobei Büchner zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits ähnliche

12 Vgl. dazu Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 28.

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Fragen in seinen Dramen stellt. Das Subjekt wird wieder problematisch und auch die Welt beginnt wieder mehr und mehr als sich verselbständigend wahrgenommen. Darauf reagiert auch das Theater. Bei Brecht wird versucht in die Geschichte hinein zu wirken, sie zu ändern. Bei Heiner Müller treten tragische Strukturen hervor, die eine solche, positive Veränderung der Welt aus der Erfahrung heraus zumindest problematisieren und ein Scheitern vorführen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, spätestens mit der »Rückkehr der Geschichte«, also dem Ende des »Endes der Geschichte«, sind die tragischen Fragen, vor allem diejenigen nach dem Ich, wieder äußerst virulent – dies ist Inhalt des dritten Teils. Es gibt jedoch nicht die eine ›neue Tragödie‹, sondern unterschiedliche Arten sich diesen Fragen zu stellen, da auch die Realität komplexer und diversifizierter ist, als es die überschaubare attische Polis des 5. Jahrhunderts war. Das zeigt sich auch in der Dreiteilung des letzten Kapitels, in Inszenierungen von alten Tragödien in aktuellen Theaterästhetiken, Stücken, die sich der alten Geschichten bedienen, und Stücken, die sich mit neuen Themen beschäftigen. Zentral ist neben der Frage nach dem Verhältnis von Ich und Welt die nach dem, was befragt wird: nach dem Mythos. Erinnerte und/oder verdrängte Grundlage einer Kultur ist es, die im kulturellen Gedächtnis aufgehoben wird. Dessen funktionale Nähe zum Mythos wird zu Beginn des letzten Kapitels dargestellt. Die Erinnerung, die kollektive der Zuschauer und der Bühne, aber auch und vor allem die im Text aufgehobene, ist die Voraussetzung für die (tragische/kathartische) Wirkung.

I Gezähmte Ursprünge Der Anfang des Theaters und die Tragödie als Normgattung

ARISTOTELES’ T RAGÖDIENDEFINITION : AFFEKTE UND K ATHARSIS IN DER D EUTUNG DES 20. J AHRHUNDERTS »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«1

Diese Definition der Tragödie durch Aristoteles aus dem sechsten Kapitel der Poetik, die erste, die bis heute erhalten geblieben ist, war und ist der Bezugspunkt für den Versuch, die Tragödie als Gattung zu definieren. Besonders die Frage nach der Katharsis (hier mit »Reinigung« übersetzt) und den Affekten ›eleos‹ und ›phobos‹ (hier »Jammer und Schaudern«) und damit verbunden die Frage nach der Wirkung der Tragödie ist viel diskutiert. Allein die Frage der Übersetzung der Affekte als »Furcht und Mitleid«– so bei Lessing – oder seit Schadewaldt als »Jammer und Schrecken« und die Frage, ob es sich um eine Reinigung von oder durch die Affekte handelt, ist bereits ein eigener Untersuchungsgegenstand. An dieser Stelle sollen kurz die Überlegungen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Auffassung der Affekte und der Katharsis maßgeblich beeinflusst haben, dargestellt werden. Die interpretierenden Übersetzungen (wobei jede Übersetzung interpretierend ist) früherer Zeiten – vor allem die Lessings – werden später im Zusammenhang mit den jeweiligen Autoren berücksichtigt. Aristoteles’ Poetik ihrerseits ist nicht losgelöst von Platons Aussagen über die Dichtung und die

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Aristoteles: Poetik. S. 19.

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Tragödie, die er aus seinem Idealstaat verbannen wollte, zu sehen. ›Mimesis‹ z.B. ist bereits ein platonisches Konzept im Zusammenhang mit der Ideenlehre, dieser Aspekt der Aristotelischen Poetik wird hier jedoch nicht weiter verfolgt.2 Wichtig ist, dass es im Zusammenhang dieser Arbeit nicht um die eindeutige Klärung der Frage geht, ob es sich nun um »Furcht und Mitleid« oder »Jammer und Schrecken« handelt und ob die Wirkung eine pädagogische Funktion hat. Elementar ist die Frage nach der Verbindung zwischen Bühne und Publikum, denn eben diese Situation zwischen Text, Aufführung und Zuschauer ist die spezifische des Theaters, wie Aristoteles schon durch seine Definition der Tragödie über ihre Wirkung deutlich macht. Diese Verbindung entsteht durch die Affekte und die Katharsis, das Wirken von der Bühne in das Publikum hinein. Deshalb sind die verschiedenen Überlegungen, wie diese Wirkung definiert wird, auch hier von Belang. Seit Jakob Bernays wurde die »pädagogische Wirkung« der Affekte immer wieder bestritten.3 In dessen Abhandlung wird zum ersten Mal von einem »pathologischen Gesichtspunkt«4, unter dem die Katharsis zu betrachten sei, ausgegangen. Eine religiös konnotierte Übersetzung wird abgelehnt, da diese die Wirkung der Tragödie verfehlen würde. Als Definition der Katharsis ergibt sich daraus: »Eine von Körperlichem auf Gemüthliches übertragenen Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandeln oder zurückzudrängen sucht, sondern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will.«5

Die Interpretation verschob sich, wie es auch an der Neuübersetzung der Begriffe sichtbar wird. Ein Grund für diese Neuübersetzung war sicher auch ein Spannungsverhältnis zu Lessing und dessen moralischer Grundeinstellung, die nicht ohne weiteres auf die Antike zurück projiziert werden sollte. Wolfgang Schadewaldt etablierte die Neuübersetzung »Jammer und Schrecken«. Das methodische Vorgehen ist dabei ein Vergleich der entscheidenden Begriffe mit anderen Stellen der griechischen Literatur und Rhetorik, sowie eine kritische Betrachtung der Überlieferung der Worte und ihrer inhaltlichen Aufladung durch die Zeit. Für ihn ist »entscheidend […], daß φóβος […] eine Furcht ist, die entschieden zum Schrecken und zum Schau-

2 3 4 5

Vgl. hierzu z.B. Patzig, Günther: Antike Tragödienphilosophie: Platon und Aristoteles. In: Frick (Hrsg.): Die Tragödie. S. 74-94. Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie. Ebenda S. 9. Ebenda S. 12.

G EZÄHMTE URSPRÜNGE │19

der neigt,«6 und somit »ein aufrührender Elementaraffekt von unmittelbarer Gewalt«7 ist. Zudem stellt er fest, dass »unser ›Mitleid‹ mit dem έλεος des Aristoteles in seiner Tragödiendefinition weder in bezug auf die Wortstruktur, […], noch in bezug auf den Bedeutungsgehalt (der rein christlich ist)8 das geringste zu tun hat.«9 Vielmehr handele es sich um einen »ungebrochenen Elementaraffekt – der Affekt des Jammers und der Rührung, der den Menschen angesichts des Leidens eines anderen spontan überfällt – nicht ohne die mitgehende Befürchtung, dass ihm selbst Ähnliches widerfahren könne -, ihm das Herz weich macht und Tränen in die Augen treibt.«10 Diese Elementaraffekte seien keineswegs eine Erfindung des Aristoteles, sondern »eine ältere volkstümliche Definition.«11 Aus dieser Bestimmung der Affekte wird eine Ablehnung des moralischen Anspruchs einer Besserung abgeleitet. Die Katharsis – sowie die Affekte – sind der wesentliche Teil »der für die Tragödie spezifischen Lust und Freude.«12 Eben diese spezifische Art der Erzeugung von Lust wird hier als Unterscheidungsmerkmal für die Künste eingeführt. Die Lust ist in der Tragödie eine doppelte und ambivalente, denn zum einen besteht sie aus »jener dem Menschen tief inneren Lust am Schrecklichen und an der Rührung« 13 und zum anderen aus »jener mit Lust verbundenen erleichternden Befreiung von jenen beiden Affekten«14 (Hervorhebungen von mir). Die ambivalente Lust als Ziel und Zweck der Tragödie ist auch auf ihren Ursprung als »Kultspiel« zurückzuführen, denn in diesem Zusammenhang »hat auch sie nichts zu bessern, zu läutern und zu erziehen. Es geht darum, daß auch die Tragödie geschieht, in das Leben der Menschen hinein geschieht und etwas in dieses Leben hinein offenbar macht.«15

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Schadewaldt Wolfgang: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes (1955). In: Luserke (Hrsg.): Aristotelische Katharsis. S. 246288. hier S. 248. Ebenda. Auf die Einflüsse »dreier einander teilweise widersprechenden Elementen« auf die Entwicklung der modernen Tragödie, und zwar »die christliche Deutung«, »die stoische Moral« und »die griechische Tragödie« weist auch von Fritz hin. Von Fritz: Antike und moderne Tragödie. S. 32. Schadewaldt erkennt hier weitergehend als von Fritz auch den Einfluss zeitgenössischer geistesgeschichtlichen Einflüsse auf die Interpretation älterer Dramen. Schadewaldt Wolfgang: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes (1955). In: Luserke (Hrsg.): Aristotelische Katharsis. S. 246288. hier S. 251. Ebenda S. 254. Ebenda S. 260. Ebenda S. 273. Ebenda S. 277. Ebenda. Ebenda S. 286.

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So verstanden hat die Tragödie ihren festen Platz sowohl im Leben und zwar ganz elementar, als »eine ungeheure Macht des Lebens, das ganze menschliche Gesamtgefüge: Leib-Seele-Geist in Einem«16, als auch im Staat, wenn auch hier in Schadewaldts Deutung vor allem in einem Sinn von »Staatshygiene«17, durch die die Bürger »Unterhaltung und Erholung«18 erhalten. Die Affekte und die Katharsis gemeinsam sind die spezifischen Elemente der Tragödie zur Erzeugung von Lust und Freude, sie »weisen […] einerseits in den elementaren Vitalgrund der Menschennatur hinab, und sie sind eben darum andererseits den größten ›Realitäten‹ des Geschehens zugeordnet.«19 Interessant ist die Formulierung des »hinabweisen«, das Elementare und Lustvolle, das hier eindeutig als Grundzug des Menschseins verstanden wird, beinhaltet also etwas Dunkles, tiefer Liegendes – indem die Tragödie eben dies anspricht, kann sie durch die Affekte wirken. Auf diesen Aspekt geht Schadewaldt in seinen Tübinger Vorlesungen weiter ein. Als Grundlage der Tragödie definiert er hier die Handlung, »denn in der Handlung liegt das, womit es die Tragödie nach ihm [gemeint ist Aristoteles] zu tun hat: die Eudaimonie oder Kakodaimonie des Lebens.«20 Noch prägnanter einige Seiten später: »Die Tragödie hat es also mit dem Daimonischen zu tun.«21 In diesem Zusammenhang wird das Daimonische22 an die Handlung gebunden und nicht so sehr an die Affekte, dennoch ist gerade das Daimonische auch der Effekt und die Verbindung zu den Zuschauern, durch die sich die Wirkung der Affekte entfalten kann. Auf Schadewaldts Aufsatz bezieht sich Max Pohlenz mit seinem Nachwort Furcht und Mitleid? (1956).23 Hier wird aus der grammatischen Verwendung des Verbs ελεεîν als vornehmlich transitivem Verb eine Verbindung der Affekte zu einem Außen hergestellt. Daraufhin wird die genaue Verbindung zu diesem Außen analysiert. Der ›eleos‹ als »spontan aufkommendes Gefühl«24, das eben keine »Verpflichtung«25 ist, kann entstehen, da »bei den Menschen nicht nur die Liebe zwischen Eltern und Kindern, sondern auch die zu Volksgenossen und Mitbürgern von Natur aus mitgegeben

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Ebenda S. 288. Ebenda S. 279. Ebenda. Ebenda S. 286. Schadewaldt: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Band 4. S. 23. Ebenda S. 58. Im Folgenden wird auch in dieser Arbeit immer vom »Daimon« gesprochen werden, um eine Abgrenzung von der späteren negativen Aufladung des Begriffes »Dämon« deutlich zu machen. 23 Pohlenz, Max: Furcht und Mitleid? Ein Nachwort (1956). In: Luserke (Hrsg.): Aristotelische Katharsis. S. 326-351. 24 Ebenda S. 333. 25 Ebenda.

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ist«26 – dies ein Gedanke von Aristoteles selber aus der Nikomachischen Ethik. In Bezug auf den von Schadewaldt nachgerade emphatisch gebrauchten Begriff des »naturhaften Elementartaffekts« wendet Pohlenz ein, dass dabei eine gewisse »seelische Verbundenheit«27 der Menschen mitgedacht werden sollte. Diese Argumentation scheint auf eine Rückbindung der Philanthropie an die Elementaraffekte hinaus zu laufen. Diesen Gedanken verfolgt er nicht weiter, sondern betrachtet stattdessen die Katharsis. Auf die medizinische Herkunft des Begriffes wird auch hier hingewiesen und durch Analogie zu medizinischen Prozessen die Katharsis als »eine ›Reinigung‹, bei der die mit den πάθη verbundenen Gefahren dadurch vermieden werden, dass sie auf unschädliche Weise befriedigt werden«28 definiert. Somit hat er vor allem Einwände gegen Schadewaldts Interpretation von »Furcht und Mitleid […] [als] erste Stadien einer Kurve, die in die Katharsis ausläuft.«29 Pohlenz Definition der Tragödie ist die folgende: »Die dichterische Neugestaltung des Mythos, nicht eine Erregungskurve, ist die eigentliche Aufgabe der Tragödie, und sie bestimmt auch ihre Wirkung.«30 Somit ist auch die Katharsis in allen Teilen der Tragödie zu finden und »beschränkt sich nicht auf das Erleben, das der Zuschauer am Schluß des Dramas im Theater erfährt.«31 Die Wirkung der Reinigung, der »Purgierung«, ist nicht auf Dauer angelegt, denn die »Natur verlangt auch, dass die irrationalen Triebe sich dem höheren Seelenvermögen unterordnen, darin beruht die Gesundheit der Seele.«32 Die Lust der Katharsis wird hier interpretiert als Erleichterungsgefühl, das mit der Katharsis einher geht und damit »die Grundlage für eine wahrhaft menschliche Lebensführung schafft.«33 Die Argumentation wird mit ethisch/philosophischen Schriften untermauert; auch die Einbettung in die Dionysien wird als Argument für eine moralische Wirkung in die Polis hinein verwendet. Hellmut Flashar vergleicht in seinem Aufsatz über »Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik«34 (1956) vor allem die von den Affekten (und nicht mehr ausschließlich der Katharsis) hervorgerufene Symptomatik mit medizinischen Schriften des antiken Griechenland, besonders in Bezug auf die Lehre von den Säften und die Wärmelehre. Er bezieht sich stark auf Äußerungen

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Ebenda S. 334. Ebenda S. 336. Ebenda S. 338. Ebenda S. 341. Ebenda. Ebenda S. 342. Ebenda. Ebenda S. 347. Flashar, Hellmut: Die Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik (1956). In: Luserke (Hrsg.): Aristotelische Katharsis. S. 289-325.

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Platons, da dieser die physischen Auswirkungen der Affekte beschrieben hat, die vor allem auf ein medizinisches Ungleichgewicht hinweisen.35 Eine zweite Referenz sind die hippokratischen Texte, da dort der sogenannten heiligen »Krankheit der religiöse Charakter genommen wird«36 und eine wissenschaftliche Betrachtung möglich wird. Hysterie/Ekstase wird so zu einer Krankheit im modernen Sinn des Wortes und damit auch wissenschaftlich ein Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Prozessen eingeräumt. Flashar weist darauf hin, »daß die Symptome, die die Philosophen in ihren Theorien für φóβος und έλεος nennen, Schauder, Zittern, Beben des Herzens, grundloser Schrecken und auf der anderen Seite Weinen und Tränen, auch in den hippokratischen Schriften in einem festen Zusammenhang stehen, und zwar so, dass dem Schauder, Zittern usw. eine übermäßig starke Abkühlung und dem Weinen bzw. den Tränen eine übermäßig starke Feuchtigkeit zugrunde liegt.«37 Die psychopathologischen Erregungszustände können durch Anschauen von Theater oder auch durch Hören von Musik geheilt werden: »die Medizin nimmt die Dichtung für Heilung einer Krankheit zu Hilfe, in der Poetik bedient sich Aristoteles einer medizinischen Anschauung, um die Wirkungsform der Dichtung zu verdeutlichen. Letztlich laufen beide Auffassungen auf dasselbe hinaus.«38 In Bezug auf die Katharsis, die Reinigung, wird hier von einem »Ausscheiden, […] einem völligen Wegschaffen der schädlichen Stoffe«39 ausgegangen – und zwar durchaus in einem physisch/medizinischen Sinn, dem Ausgleich des Wärme- und Flüssigkeitshaushaltes. Auch Flashar stellt später noch einmal heraus, »daß Aristoteles die Tragödie im ganzen unter wirkungsästhetischem Gesichtspunkt betrachtet.«40 Den Zweck, den »Affekthaushalt« zu korrigieren kann die Tragödie nur erreichen, indem sie sich »über bloße Elementaraffekte – als welche sie vor allem Wolfgang Schadewaldt angesehen hat –, erheben.«41 Dieses Erheben findet in Form des Handlungsaufbaus statt, in dem sich demnach auch Elemente von Rationalität finden lassen. Durch diese Verbindung erhalten die Affekte »ein reflektorisches Moment«42 – Elementaraffekte werden hier lapidar mit »Gänsehaut und Taschentuch«43 gleichgesetzt, der Aspekt des Daimonischen, auf den Schadewaldt vor allem in Bezug auf die Handlung auch hingewiesen hat, wird vollkommen vernachlässigt. Sowohl die Deu-

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Vgl. ebenda S. 302. Ebenda S. 303. Ebenda S. 308. Ebenda S. 311. Ebenda S. 319. Flashar, Hellmut: Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie. In: Ders. (Hrsg.): Tragödie. S. 50-64. hier S. 59. 41 Ebenda S. 60. 42 Ebenda S. 61. 43 Ebenda.

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tung der Katharsis als Ausdruck des Kultischen, sowie die ethische Komponente werden in diesem Text nicht als Erklärungen zugelassen, da sie nicht in den engeren Zusammenhang der Poetik gehörten. Dieser Schluss ist schwer nachzuvollziehen, denn Wirkung ist immer auch abhängig von der Art der Beziehung zwischen den beiden Teilen, also hier dem Theater, das wirken soll, und den Zuschauern. Einen gemeinsamen Horizont haben diese z.B. im kultischen Zusammenhang der Aufführung. Auch Aristoteles weist in der Poetik auf den Dithyrambos als Ursprung, ebenso wie auf das Satyrische, hin – beides Indizien für den kultischen Zusammenhang. Auffallend ist, dass die Frage bei allen Autoren primär etymologisch und kulturgeschichtlich behandelt wird. Die Tragödientexte selber werden kaum zur Klärung herangezogen. Viel eher werden Parallelstellen – aus der Politik, der Philosophie, der Medizin und anderen literarischen Quellen – gesucht und die Grammatik der entscheidenden Passagen analysiert. Die Definition des Aristoteles beruft sich zunächst auf die Wirkung der Tragödie, Wirkung ist das erste Merkmal, das im ersten Kapitel, im ersten Satz, noch vor der Handlung genannt wird: »Von der Dichtkunst selbst und ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muss.«44 Am Ende wird konstatiert, »dass sie [die Tragödie] dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung besser erreicht als jenes.«45 Die Wirkung – die die Tragödie nur in Bezug auf das Publikum entfalten kann – ist demnach ihr Hauptmerkmal und eben diese wird durch die Affekte und die Katharsis erreicht. Dennoch spielt dabei vor allem die Darstellung, die Art der »Nachahmung«, eine Rolle, denn gerade durch diese ist die Tragödie dem Epos überlegen. In diesem Zusammenhang werden die »Melodik«, die »Vergnügen« bereite, sowie die »Eindringlichkeit« und die verhältnismäßige Kürze der Tragödie als Hauptargumente angeführt.46 Von der Melodik, der Musik und dem Tanz ist nichts überliefert, die Kürze ist ein relatives Maß (im Vergleich zur Ilias wirkt vieles kurz), sodass die Eindringlichkeit als überprüfbares Kriterium bleibt. Anders gefragt, wie konnten die Affekte wirken? Inwieweit diese Wirkung noch aus den Dramentexten herauszulesen ist, wird in den Dramen selber zu untersuchen sein, aber als Bedingung für die Wirkung auf den Zuschauer – zumal eine eindringliche und »glaubwürdige«47 – sind zwei Aspekte von Bedeutung: zum einen die Einbettung des Theaters in das Leben der Polis und zum anderen der Ursprung der Tragödie aus einem kultischen, bedrohlichen Zusammenhang.48

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Aristoteles: Poetik. S. 5. Ebenda S. 99. Ebenda S. 97. Ebenda S. 31. Zimmermann spricht von »zwei Punkten, die bei der Interpretation einer griechischen Tragödie des 5. Jahrhunderts immer beachtet werden müssen: die Bindung der Tragödie (und Komödie) an den Dionysoskult und die enge Verflechtung von

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D IE ATTISCHE P OLIS IM 5. J AHRHUNDERT VOR C HRISTUS Theater, Politik, Religion und Kult sind in der attischen Polis kaum voneinander zu trennen – zumal sie historisch gesehen weder formal noch gedanklich getrennt waren.49 Anschaulich wird dies am Beispiel der Tragödie und ihrer Aufführungsbedingungen selber. Tragödien wurden beim Fest der großen oder auch städtischen Dionysien aufgeführt. Diese Feste waren sowohl Kultdienst für den Gott des Dramas Dionysos, politische Demonstration und Vehikel nach innen und außen, als eben auch Theateraufführung. Zudem wurden die Tragödien in einem Agon, einem Wettkampf aufgeführt. Joachim Latacz legt für die Tragödie und vor allem ihre Rezeptionssituation in diesem Zusammenhang die Parameter der »Orts-, Anlass-, Wettbewerbsund Mittelgebundenheit«50 fest. Die Mittelgebundenheit beschreibt in diesem Zusammenhang die Umstände der Aufführung, die die Beziehungen von Theater und Polis besonders deutlich machen und die im Folgenden kurz dargestellt werden. Der Ablauf der großen Dionysien51 Für den Agon war der oberste Staatsbeamte, der Archon Eponymos, zuständig: Er wählte die drei Dichter aus, deren Tragödien am Agon teilnehmen durften. Der korrekte Terminus dafür war »einen Chor zuteilen«, der Chor wird so zum zentralen Element der Tragödie. Die Chöre mussten aus Athener Bürgern bestehen, diese Vorschrift galt nur für sie, Solisten und sogar Dichter konnten durchaus Metöken (in Athen lebende Fremde) sein. Die finanziellen Mittel wurden von wohlhabenden Athener Bürgern, den Choregen bereitgestellt. Als Chorege zu wirken wurde als große Ehre angesehen und konnte durchaus Teil einer politischen Karriere sein.52 Zudem wird mit

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öffentlichem Leben und Dichtung, von Polis und Tragödie.« Zimmermann: Die griechische Tragödie. S. 12. Vgl. hierzu von Wickevoort Crommelin, Bernard: Die Rolle des Theaters im politischen Leben Athens. In: Lohse & Malatrait (Hrsg.): Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierungen in der Moderne. S.13-44. In den Fußnoten finden sich weitergehende Literaturangaben zu diesem Thema. Latacz: Einführung in die griechische Tragödie. S. 20-21. Zum Folgenden vgl. u.a. Zimmermann: Die griechische Tragödie; Schadewaldt: Die griechische Tragödie; Flashar: Inszenierung der Antike; Blume: Einführung in das Antike Theaterwesen. Zur genauen Quellenlagen vor allem PickardCambridge: The Dramatic Festivals of Athens. Perikles soll als Chorege bei Aischylos fungiert haben. Vgl. dazu Kolb, Frank: Polis & Theater. In: Seeck (Hrsg.): Das Griechische Drama. S. 504-545. Besonders S. 519-522.

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diesem System eine ausgleichende innerstaatliche Funktion in diesem Staat ohne Steuern in Verbindung gebracht.53 Allerdings war der Chorege ausschließlich für den Chor verantwortlich, Dichter und Solisten wurden von der Polis bezahlt. In einem sogenannten Proagon wurden einige Tage vor dem Beginn des Festes der Dichter sowie die Mitwirkenden – ohne Masken – vorgestellt. Die Aufführungen der Tragödien fanden an den Tagen drei bis fünf des Festes statt und zwar an jedem Tag eine Tragödientrilogie mit anschließendem Satyrspiel. Am vorhergehenden zweiten Tag wurden seit circa 486 fünf Komödien aufgeführt. Das Urteil der Richter im Tragödienagon wurde am Ende des fünften Tages in einem recht komplizierten Modus gefällt: Von den zehn Stimmen der zehn Richter, die ihrerseits je eine der zehn Phylen (der Stadtbezirke von Athen) vertraten und innerhalb dieser auch in einer Art Losverfahren bestimmt wurden, wurden nur fünf Stimmen, die aus einer Urne zufällig gezogen wurden, berücksichtigt. Die Phylen spielen auch in Zusammenhang mit den Darbietungen am ersten Tag eine zentrale Rolle. An diesem Tag fanden Agone zwischen Männer- und Knabenchören statt, jede Phyle stellte dabei je einen Männerund Knabenchor. Die Phylen waren eine demokratische Erfindung, die die alten Familien- bzw. Clanfraktionen der Stadt ersetzten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass dieser Wettstreit seit 508, dem Jahr der Einführung der Demokratie, stattfand. An diesen 20 Chören waren 1000 Athener aktiv beteiligt. Allein durch die Menge der Beteiligten Athener wurde an diesem ersten Tag offensichtlich identitätsstiftend nach innen gewirkt. Die enge Verknüpfung mit dem Bereich, der heute als politischer bezeichnet wird, verdeutlicht sich auch in den Ritualen, die den theatralischen Agonen vorausgingen. Zum einen wurden die Überschüsse des Staatshaushaltes öffentlich ausgestellt, zum anderen wurden die Kriegswaisen, die bis dahin unter Obhut der Polis standen, durch Ausstattung mit Rüstungen in die Mündigkeit entlassen. Da die großen Dionysien im Frühjahr, nach Wiederaufnahme der Seefahrt, stattfanden, kann davon ausgegangen werden, dass auch Vertreter der verbündeten Städte, vor allem des attisch-delischen Seebundes teilnahmen, denen die Macht und der Wohlstand der Athener demonstriert wurde. Am Abend vor dem Beginn des Festes wurde das Bild des Dionysos in einer Prozession eingeholt. Diese Prozession ging möglicherweise in einen Kommos, ein öffentliches wildes Treiben auf den Straßen, über. Allein an diesen Äußerlichkeiten lässt sich der gemeinsame Horizont erkennen, in dem sich Publikum und Bühne befanden und so das Wirken der Affekte möglich machen. Wie die Bühne und ihr Aufbau das Sehen der Zu-

Auch die gegenläufige Richtung ist nachgewiesen. Der überaus erfolgreiche Tragödiendichter Sophokles war einer der Strategen der Polis. Vgl. hierzu Melchinger: Sophokles und Flashar: Sophokles. 53 So z.B. bei Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 66.

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schauer beeinflusst haben, wie diese die Tragödie gesehen haben und welche Auswirkungen dies auf die Aufführung und Rezeption gehabt haben muss, haben unter anderem Melchinger54 und Taplin55 erforscht. Was bedeuteten nun aber diese engen Verknüpfungen und in was für einer allgemeinen geistigen Situation fand sie statt? Die geistesgeschichtliche Situation: Die Tragödie und ihr Publikum Dieser Komplex hat drei Seiten: das Finanzierungswesen, das hier nicht weiter erläutert wird, die Wettbewerbssituation und die eigentliche staatspolitische Funktion56 zur Stabilisierung und Legitimation der Polis. Die Demokratie wurde von den Athenern ohne Vorbild im sechsten Jahrhundert geschaffen. Christian Meier spricht von der »Erfindung des freien Zusammenlebens«.57 Das Politische meint in diesem Zusammenhang das Allgemeine58, das, was alle Bürger direkt angeht und nicht das Staatliche in einem heutigen Sinn. In diesem direkten Sinn von Demokratie spielen Öffentlichkeit und Diskussion eine besonders wichtige Rolle. Vernant betrachtet die folgenden drei Merkmale als wesentliche Ereignisse der Polis, zum einen eine »ungewöhnliche Vorherrschaft des gesprochenen Wortes über alle anderen Instrumente der Macht«59, zum zweiten den Charakter der völligen Öffentlichkeit des gesamten Lebens und damit die Möglichkeit alles zu diskutieren60 und zum dritten die relative Homogenität der Bürgerschaft, des Demos61. Ebenso wichtig ist die griechische Religion, da es sich um eine Religion ohne heilige Schrift handelt.62 Wenn man diese beiden Aspekte zusammen denkt ergeben sich zwei Effekte. Der erste war die Erhebung der Idee der Polis in eine Art »Staatsreligion«. Diese war zum anderen nur möglich durch die Freiheit, mit der die Mythen verwendet werden konnten, denn auch an sie wurde die »Polis Religion«63 gebunden. All dies geschah vor den Augen aller: auch und vor allem auf dem Theater, z.B. in den Eumeniden, dem dritten Teil der Orestie des Aischylos. Zum anderen wandelt sich die Rolle der Götter, während die Tragödie entsteht: »Was später als ›Innenleben‹ interpretiert wird, stellte sich ursprünglich als Eingriff 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Melchinger: Das Theater der Tragödie. Taplin: The Stagecraft of Aeschylus. Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. S. 346. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. S. 21. Meiers 2009 erschienenes Buch trägt dann auch den Titel Kultur um der Freiheit willen. Ebenda S. 27-29. Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens. S. 44. Vgl. ebenda S. 46. Vgl. ebenda S. 56. Harder: Eigenarten der Griechen/Einführung in die griechische Kultur. S. 81. Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. S. 303-4.

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der Gottheit dar; […] bei Homer fühlt sich der Mensch noch nicht als Urheber seiner eigenen Entscheidung: das gibt es erst seit der Tragödie.«64 Die Parallelität der Entstehung dieses Bewusstseins auf der Bühne und der Macht zur Entscheidung in der Polis ist deutlich. »Die griechischen Tragödien waren für die attischen Bürger bestimmt. Nicht für ein spezielles Theaterpublikum, sondern für die ganze Bürgerschaft der mächtigsten Stadt der Welt.«65 Simon Goldhill beschreibt die attische Kultur als »performance culture«66, da auch die Verhandlungen im politischen Bereich in öffentlichen Zeremonien stattfanden. Somit war der Vorgang ein Publikum zu sein allein schon ein politischer Akt.67 Die Festspiele selbst in ihren vielen Verflechtungen mit der Polis waren eine Art »soziales Drama«. Die Wettbewerbssituation der Aufführung war eine grundlegende Form des griechischen Selbstverständnisses, Wettbewerbe zu Gunsten der Götter wurden in vielen Bereichen abgehalten, z.B. in Form der olympischen Spiele. Für Girshausen zeigen sich in der Zusammenkunft zum Wettbewerb die Elemente von Gemeinschaft und Individualität in ihrer Beziehung zueinander, die beide für die Polis zentral waren.68 Cartledge69 geht sogar so weit, den agonalen Charakter des griechischen Lebens vom Krieg bis zum Hahnenkampf in allen Daseinsformen zu sehen. Möglicherweise entwickelte sich diese eher archaische Form des Wettkampfes ebenso weiter wie die Kultur im Allgemeinen, der Wettbewerb wurde zu einem der Mythendarstellung. In diesen unterschiedlichen Darstellungen konnten die Athener, da sie eben ein nichtanonymes Publikum waren, sich als Polis erfahren: Diese Erfahrung fand in der Konfrontation, Spannung und Entspannung, eben durch die Wirkung der Tragödie statt. Christian Meier wirft in diesem Zusammenhang die folgende Frage auf: »Brauchten die Athener die Tragödie? Und brauchten sie sie vielleicht kaum weniger notwendig, als die Volksversammlung und den Rat der Fünfhundert und die anderen Institutionen der Demokratie?«70 Meiers Antwort darauf ist immer eindeutig positiv: Die Athener brauchten die Tragödie in vielfältiger Form, und zwar als »Erholung für den Geist«, Selbsterleben der Gemeinschaft, als Austausch mit den Göttern, also alles in allem als

64 Snell: Die Entdeckung des Geistes. S. 36. 65 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 7. 66 Goldhill, Simon: The audience of Athenian Tragedy. In: Easterling (Hrsg.): Cambridge Companion. S. 54-68. hier S. 54. Er weist auch darauf hin, dass die geschätzte Zahl von 6000 Zuschauern im Theater der Zahl entspricht, die für die Gerichtsbarkeit der attischen Demokratie die entscheidende war (S. 58). 67 Ebenda S. 54. 68 Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. S. 296. 69 Cartledge, Paul: Deep Plays. In: Easterling (Hrsg.): Cambridge Companion. S. 3-35. 70 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 7.

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»öffentliches Korrektiv«.71 Auch das eigentlich Drama, das präsentiert wurde, hatte als wesentlicher Teil der Polis-Kultur Wirkung auf die anwesenden Athener, und zwar in Form des Mythos, dieser »nimmt Geschichte in sich auf, spiegelt die geschichtliche Wirklichkeit der Zeit des Dichters wider, jedoch in allgemein gültiger Form, so dass sie auch den kommenden Generationen etwas bedeutet.«72 Die Athener Bürger, für die die Dramen, vor allem die Tragödien aufgeführt wurden, waren kein willkürliches Publikum, diese Dramen wurden für eben dieses Publikum gemacht. Das geistige Klima zu dieser Zeit, an diesem Ort, an dem die Tragödie entstehen konnte, beschreibt Meier folgendermaßen: »Handwerker, Händler, Güter aus aller Welt kamen in nie gekannter Weise zusammen. Methoden und Kenntnisse konnten sich aneinander messen, es fand ein Austausch und vermutlich großer ›Fortschritt‹ statt. Bestes Indiz dafür ist, dass man im Handwerk wie in verschiedenen Künsten die Überzeugung gewann, ganz neue, nie dagewesene methodische Möglichkeiten zu haben; und das spornte zusätzlich an. Wie im Politischen tat sich fast gleichzeitig auch in der Kunst eine unerhörte Gestaltungsfreiheit auf. Eine ›Hochflut von Lehrbüchern‹ (Albrecht Dihle) erschien. Die Rhetorik, die Musik, verschiedene Wissenschaften blühten. Die Sophisten meinten, ganz neue Wege der Erziehung aber auch der Verteidigung vor Gericht gefunden zu haben. Das alles summierte sich zu einem außerordentlichen ›Könnens-Bewußtsein‹, einem entfernten Äquivalent zum Fortschrittsbewusstsein des 18. und 19. Jahrhunderts. Es rechnet allerdings nicht mit einem breiten Prozeß umfassenden Fortschritts, dafür mit einer Vollendung, einem Höhepunkt der verschiedenen Formen sachverständiger Bewältigung von Problemen.«73

Neben der Entwicklung der Polis fand auch eine Entwicklung der Selbstwahrnehmung der Menschen statt: Der Mensch beginnt sich als Ich auch in Opposition zu den Göttern zu konstituieren. Hans-Thies Lehmann sieht den Zweck der Tragödie in der Konstituierung des Ich, des Subjekts, und zwar im Moment der Ohnmacht.74 Er bezieht dieses Subjekt und seine Handlungsmöglichkeiten auf eine »unsichere Instanz«.75 Diese unsichere Instanz ist aber nicht nur für die »Kunstfigur« auf der Bühne oder den Subjektsdiskurs, der sich in Konfrontation mit einem Anderen herausbildet in der Tragödie greifbar, sondern auch für den Zuschauer in der Wirkung der Affekte. Da Lehmann die These der Schaffung des Subjekts in der Ohnmacht aufstellt, sind in dieser Analyse vor allem die Momente des Leidens,

71 Meier: Zur Funktion der Feste im Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus. In: Haug & Warning (Hrsg.): Das Fest. S. 569-591. hier S. 591. 72 Kolb, Frank: Polis und Theater. In: Seeck (Hrsg.): Das griechische Drama. S. 504-545. hier S. 537. 73 Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 39. 74 Lehmann: Theater und Mythos. S. 85. 75 Ebenda S. 134.

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Schmerzes und der nicht vorhandenen Entscheidung zentral. Dies alles zielt auf Aspekte der Tragödie, die universal menschlich sind, doch der Grund für diese Wirkung liegt tiefer und wirkt umso bedrohlicher. Bei Lehmann wird dies in der These der Gleichzeitigkeit von zyklischer/mythischer Zeit und punktueller/subjektiver Zeit, die so auf den Tod verweist, beschrieben.76 Die Funktion der Tragödie entsteht also aus der Problematisierung und Befragung sowohl des Mythos als auch der aktuellen Situation. Es handelt sich damit um eine doppelte Infragestellung: Einerseits werden Fragen die Polis betreffend aufgeworfen, und zwar in Form des Mythos, dieser wird dabei gleichzeitig problematisiert – dieses Paradox ist jedoch unumgänglich, da eben das Infragestellen einer der Hauptaspekte der Wirkung der Tragödie ist. Dieser Aspekt zielt auf den Polis-Bürger ab und erfordert ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit und -möglichkeit. Die Frage nach den »wilden Ursprüngen«, die auch Ausdruck findet im Daimonischen, problematisiert den Ursprung der Tragödie ebenfalls und ruft ihn gleichsam ins Gedächtnis. Diese Kräfte, diese Götter77 und Daimonen wirkten unmittelbarer, auch und vor allem in der Tragödie. Ihre Wirkung beschreibt Aristoteles mit den Affekten. Allerdings wird diese Ebene der Tragödie vom Schönen, Ebenmäßigen und Anmutigen vordergründig verdeckt – nichtsdestotrotz ist sie vorhanden und bricht in den Stücken immer wieder durch; so erst kann die echte Tragödie entstehen. Und zwar nicht in Form einer Synthese oder Versöhnung, wie Meier es sieht, sondern in einer ambigen Struktur – diese bleibt fragil und führt deshalb oft zum Scheitern.

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Über den Ursprung der Tragödie ist beinahe ebenso viel gestritten worden wie über ihre Wirkung. Bereits in der griechischen Polis hatte sich der Ausspruch »Das hat nichts mit Dionysos zu tun!« als Beschreibung einer Diskrepanz zwischen der Tragödie und den Erwartungen an eine Kulthandlung durchgesetzt.78 Auch hier beginnt die Debatte bei Aristoteles. Im vierten Kapitel der Poetik überprüft er die Tragödie hinsichtlich ihres »Entwick-

76 Vgl. ebenda S. 60-61. 77 Auch Meier geht von unterschiedlichen Göttervorstellungen und Wahrnehmungen der Griechen aus: »Allerdings sind die Götter den Griechen damals auch anders erschienen. Nicht nur die Bauern, sondern auch die Adeligen müssen zugleich sehr viel urtümlichere, dunklere, vielfach chthonische Mächte verehrt haben, deren Kulte auch weiterhin gepflegt wurden.« Meier: Politik und Anmut. S. 41. 78 Vgl. zu den Quellen Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. S. 5-6.

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lungsstands«79. Als Ursprung wird die »Improvisation«, genauer der »Dithyrambos« postuliert – wohingegen sich die Komödie aus dem Phallosumzug herleitet. Weitere Einflüsse sind »eine auf Lachen zielende Redeweise«, die mit dem »Satyrischen« in Verbindung steht und der Tanz.80 An diesen wenigen Bemerkungen entzündet sich abermals eine ganze Debatte, vor allem an der Frage, wie diese in Verbindung miteinander und mit der entwickelten Tragödie des 5. Jahrhunderts gebracht werden sollen. Laut Seeck enthält »das Wort ›Tragödie‹ (τραγωδία = Bocksgesang) […] in nuce das gesamte Ursprungsproblem.«81 Die Frage dabei ist, in welchem Verhältnis der ›Gesang‹ und die ›Böcke‹ zueinander stehen. Handelt es sich nun um den ›Gesang der Böcke‹, oder den ›Gesang um den Preis eines Bockes‹ oder ähnlich den ›Gesang aus Anlass eines Bocksopfers‹. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die These vom ›Gesang der Böcke‹ bevorzugt; dabei wurde versucht, die Böcke mit den Satyrn des Aristoteles und des Satryrspiels gleich zu setzten. Die Rekonstruktion von Ursprüngen erfolgt immer aus dem eigenen kulturellen Umfeld und Interesse, wobei es sich dabei um ein interpretatorisches Vorgehen handelt, das bis hin zur einer »modernen wissenschaftlichen Mythenbildung«82 gehen kann. Dass die Satyrn, so wie sie auf Vasenbildern erhalten sind, kaum Böcke sondern eher pferdeähnliche Gestalten sind, ist leicht ersichtlich.83 Die Interpretation, die den Bock als Opfer (oder auch als Preis in einem Agon zu Ehren der Götter) versteht, weist wiederum auf einen religiösen, rituellen Kosmos hin. In einem eben solchen fanden die Tragödienagone an den großen Dionysien statt. Der Versuch das Satyrspiel als ursprünglichen ›Bocksgesang‹ zu interpretieren scheitert unter anderem daran, dass die Satyrspiele dem Tragödienagon erst später hinzugefügt wurden. Neben den Dithyramben wurde auch der Heroenkult der Griechen als einer der Ursprünge der Tragödie zu

79 Aristoteles: Poetik. S. 15. Auch hier zeigt sich das allgemein teleologische Verständnis von Aristoteles, der von einer Entwicklung hin zur idealen Tragödie ausgeht. 80 Alles Aristoteles: Poetik. S. 15. 81 Seeck, Gustav Adolf: Geschichte der griechischen Tragödie. In: Ders. (Hrsg.): Das griechische Drama. S. 155-203. hier S. 158. 82 Gödde, Susanne: Böcke, Satyrn, wilde Männer – Ursprungsmythen antiken Theaters. In: Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 17-32. hier S. 24. 83 Vgl. hierzu u.a. Patzer: Die griechische Tragödie. S. 59. Da Patzer allerdings die These vom Gesang der Böcke grundsätzlich favorisiert, geht er von der Möglichkeit aus, »daß die Satyrn von Anfang an verschieden tierische Attribute hatten« (S. 60). Gödde verweist ebenfalls auf die »zoologische Realität« der Attribute von Pferden. Gödde, Susanne: Böcke, Satyrn, wilde Männer – Ursprungsmythen antiken Theaters. S. 25. Auf S. 23 findet sich ein Bildbeispiel, das die Argumentation untermauert.

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rekonstruieren versucht, denn bei Aristoteles wird von »kleinen Geschichten«84 gesprochen. Der Heroenkult überlebt als sogenanntes ›Survival‹ einer früheren Kulturstufe in der späteren, in diesem Fall in Form des Klagelieds in der Tragödie.85 Nicht nur der geistige Ursprung der Tragödie, sondern auch der geographische ist ungeklärt. Der Gott der Tragödie, Dionysos, soll angeblich aus Böetien86 eingewandert sein, dies wurde als Metapher für den fremden Ursprung der Tragödie verstanden. Dass Dionysos schon weitaus früher als gedacht in Athen zu finden war, wurde durch einen archäologischen Fund untermauert.87 Dennoch sind fremde Elemente in der Tragödie zu finden. Gerade der Chor spricht/singt in der Tragödie weiterhin im dorischen Dialekt. Diese Tatsache ist besonders bemerkenswert, da eben gerade die Choreuten, wie oben erläutert wurde, ausschließlich Athener waren. Der Chor bewahrt auch die Verbindung zum Dithyrambos und damit zum offensichtlicheren kultischen, das er in der Tragödie selber präsent hält.88 Auch die Kollektivität des Chors verweist auf ältere rituelle Formen, wie z.B. die des Opfers (s.u.). Extreme Positionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Cambridge Ritualists vs. die klassische Schule Hier werden zunächst konkret die beiden gegensätzlichsten Pole der Forschung des frühen 20. Jahrhunderts dargestellt.89 Die einen, die sogenannten Cambridge Ritualists, vermuten einen Ursprung im Ritual, und zwar dem des »Jahresdaimons«, während die eher klassischen deutschen Philologen von Arion und Thespis als ›Erfindern‹ der Tragödie ausgehen: Arion soll den Dithyrambos in die dramatische Form gebracht haben, wohingegen Thespis in Athen den ersten Schauspieler und die Maske eingeführt haben soll. Jane Ellen Harrison und Gilbert Murray90 sind die Vordenker der Cambridge Ritualist. In ihren Thesen wird der Ursprung des Dramas aus Ri84 85 86 87

Aristoteles: Poetik. S. 15. Vgl. z.B. Ridgeway: The Origin of Tragedy. Vgl. z.B. Nilsson: Geschichte der griechischen Religion Band 1. S. 564f. Die sogenannten Linear B-Tafeln, die eine früher Präsenz beweisen, sind dokumentiert in: Chadwick & Ventries: Documents in Mycenean Greece. Cambridge 1973. 88 Patzer: Die Anfänge der griechischen Tragödie. S. 137. 89 Für einen genauen Überblick aller Auseinandersetzungen mit der »Anthropologie der Antike seit 1800« sei verwiesen auf Schlesier, Renate: Kulte, Mythen und Gelehrte. 90 Auch William Robertson Smith und James George Frazer haben diese Schule beeinflusst. In Frazers Hauptwerk The Golden Bough von 1890 werden viele sogenannte primitive Religionen verglichen und in den meisten ein Vegetations-

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tualen der Fruchtbarkeit und der Jahreszeiten erklärt. Die Thesen der Ritualists stützen sich auf die Grundannahme, dass Religion kollektive Gefühle und kollektives Denken widerspiegelt. Daraus, im Zusammenhang mit einem »dromenon« des Frühlings, das hier als »magical intent of renewal of the year«91 verstanden wird, sind sowohl die sportlichen als auch die poetischen Wettkämpfe entstanden. Ein »dromenon« ist »a thing re-done or predone, a thing enacted or represented.«.92 Damit gehört es nie der Jetzt-Zeit, dem Präsens, dem realen Leben an, sondern ist immer entweder vergangen oder zukünftig, damit magisch bzw. religiös und mythisch. Konkret wird das »dromenon« des Frühlings als »Eniautos-Daimon«93 bezeichnet. Dieser Daimon ist einer Art magisches Prinzip, das sich in fast allem, in Göttern, Halbgöttern, Heroen, in Ritualen und Mythen und schließendlich auch im Drama funktional manifestieren kann. Danach ist ein Daimon die Vorform, besser die ursprüngliche Form, eines Gottes. Der olympische Gott ist nur eine »Idealisierung« der natürlichen Fakten94, so ist es auch nicht weit zum Vergleich von Bewusstem und Unterbewusstem, die in ähnlichem Verhältnis zueinander stehen. Elemente des Mythos des »Eniautos-Daimons« sind ein Wettbewerb (contest), so wie die warme, fruchtbare Jahreszeit gegen den Winter kämpft, pathos (death or defeat), jedes Jahr gewinnt der Winter wieder, und schließlich eine triumphale Epiphanie - in jedem darauffolgenden Jahr kehrt der Frühling zurück.95 In Bezug auf die Tragödie wird Dionysos zusätzlich als Verkörperung eines Dithyrambos interpretiert, dieser ist an sich wiederum ein Lied der Wiedergeburt.96 Auch zur Frage der Böcke als Opfer in diesem rituellen Zusammenhang hat Harrison sich geäußert: Eigentlich ist ein Bulle die Verkörperung der Vitalität und damit das passende Opfer für einen solchen Anlass. Diese seien in Athen schlicht zu teuer gewesen, weshalb auch ein anderes Tier als Opfer getaugt habe. »Any young full-grown creature […] can be sacrificed, sanctified, divinised and become the Agathos Daimon, the ›vegetation spirit‹, the luck of the year.«97 Damit wird hier also die These der Tragödie als Gesang anlässlich eines Bocksopfers gestützt. Beide Vorgänge, das Tieropfer und der Tragödienagon, sind Teile der Rituale, die aus dem »Eniautos-Daimon« hervorgehen. Der Mythos ist ebenso eine »pre-utterance« oder »re-

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geist als zentrale Gottheit festgestellt, dessen Mythos eine Wiedergeburt beinhaltet. Harrison: Themis. S. XVI. Ebenda S. 44. Ebenda. Der Begriff wird auf S. XVII eingeführt. Ebenda S. XXI. Ebenda S. 334. Ebenda S. 202. Ebenda S. 206.

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utterance«98 wie ein »dromenon« »pre-done« oder »re-done« ist. Somit verweist auch er auf etwas Religiöses, Kultisches. Diese beiden Elemente machen die Tragödie aus: der Mythos und das »dromenon«. Somit wird in dieser Logik gefolgert, dass auch die Tragödie »the forms of the life history of an Eniautos-daimon« seien, wobei der Inhalt »the infinite variety of free and individualized heroic saga«99 ist. Gilbert Murray versucht in einem Exkurs100 eben dieses an Hand der Tragödien zu zeigen und die oben genannten Elemente des »Eniautos«Mytho – Wettkampf, Niederlage, Epiphanie – wiederzufinden. Zu diesen kommen noch die Klage und die Erzählung, repräsentiert durch den Boten101, hinzu. Dabei ist die Tragödie für Murray immer ein »sacer ludus«, ein heiliges Spiel oder heiliger Tanz, der den Ursprung eines Rituals repräsentiert.102 Wobei dieser Tanz ursprünglich ein dionysischer ist (der Dithyrambos), der nun wieder eine Verkörperung des »Eniautos-Daimons« ist. Murray versucht in so vielen Tragödien wie möglich Götter oder Helden zu finden, die dem »Eniautos-Daimon« entsprechen, also den Mythos entlang der oben genannten Elemente zu interpretieren. Da die Epiphanie am Ende teilweise schwierig zu beweisen ist, wird diese in Theopanie, die Erscheinung eines Gottes (vor allem bei Euripides), an Stelle der Wiedergeburt abgewandelt oder gar auf das Satyrspiel übertragen, da durch dieses Freude am Ende herrscht. Freude ist nun eine sehr abgeschwächte Form der Epiphanie und außerdem bezieht sie sich auf das Publikum, das lachen konnte, wohingegen die vorhergehende Argumentation dramenimmanent ist. Das Kapitel enthält aber auch eine interessante Reflexion über Dionysos, der eben doch mehr ist, als die Repräsentation eines Daimon: »The ordinary Year-Daimon arrived, grew great and was slain by his successor, who was exactly similar to him. But Dionysos did not die. He seemed to die, but really it was his enemy, in his dress and likeness, it was Pentheus or Lycurgus who died while Dionysos lived on in secret. When the world seemed to be dead and deprived of him, he was there in the ivy and vine and other evergreens; he was the secret life of fire in wine, or other intoxicants. By this train of ideas Dionysos comes to be regarded not as a mere vegetation spirit or Year-Daimon, but as representing some secret or mysterious life, persisting through death or after death.«103

98 Ebenda S. 330. 99 Ebenda S. 334. 100 Murray, Gilbert: Excursus on the ritual forms preserved in Greek Tragedy. In: Harrison: Themis. S. 341-363. 101 Ebenda S. 343-44. 102 Ebenda S. 341. 103 Murray, Gilbert: Excursus on the ritual forms preserved in Greek Tragedy. In: Harrison: Themis. S. 341-363. hier S. 362.

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Harrisons (und auch Murrays) ganze Argumentation zielt auf ein einziges Prinzip ab, das allem zu Grunde liegt, eben »Themis«, das in der Natur verwurzelt ist und so vor der patriarchalischen Struktur der griechischen Gesellschaft und ihrer olympischen Götter liegt; in diesem Zusammenhang wird auch die Tragödie behandelt. Zudem sind die Kategorien von Kampf, Niederlage und Wiederauferstehung (wobei diese in der Tragödie bereits fragwürdig ist) der Verlauf des Lebens und Inhalt des Religiösen, Mythischen an sich und damit wäre die Tragödie eine Ausprägung des Lebens, das das Andere des Lebens mitdenkt, das Vor und das Nach und nicht nur das Jetzt. Dabei vernachlässigt die ganze Argumentation, dass jede Art von Theater zunächst hier und jetzt IST, also absolutes Präsens – alles andere steht dazu in Spannung. Im stärksten Gegensatz dazu geht die klassische Schule von einer Schöpfung aus dem »genialen hellenistischen Geist«104 aus. Diese Haltung war sicherlich auch aus dem Geniekult des 18. Jahrhunderts begründet. Willamowitz-Möllendorf105 formuliert als Anweisung für die Forschung: »Unser Fundament ist und bleibt, was in der Poetik steht«106, »mit eiserner Strenge muss alles verworfen werden, was sich mit diesen Grundtatsachen nicht verträgt, an ihnen darf nichts verrückt oder verschoben werden.«107 Eine erstaunliche Parole, zumal Aristoteles selber hundert Jahre nach der Zeit der drei großen Tragiker schrieb und über seine Quellen keinerlei Angaben macht.108 Nach dieser Maxime erklärt Willamowitz die Entstehung des Dramas und stellt dessen ›Erfinder‹ Arion, Thespis und vor allem Aischylos in den Vordergrund. Arion hat in Korinth den mimetischen Dithyrambos eingeführt, der nicht mit dem späteren attischen Dithyrambos gleichzusetzen sei,109 »nach Athen gekommen fügte 534 Thespis den ersten Schauspieler hinzu«110 und »Aischylos des Euphorion Sohn von Eleusis führte den Dialog ein: damit war das Dramatische gefunden. Und er gab den Bocksgesang die Heldensage zum Inhalt; damit war das Tragische gefunden.«111

104 Lesky: Die griechische Tragödie. S. 47. 105 Schlesier verweist auch auf einen grundsätzlichen Streit zwischen Willamowitz und Nietzsche. Schlesier: Kulte, Mythen und Gelehrte. S. 211-213. 106 Willamowitz-Möllendorf: Euripides Herakles. S. 50. 107 Ebenda S. 52. 108 Vgl. dazu Vernant, Jean-Pierre: Tensions and ambiguities in Greek Tragedy. In: Vernant & Vidal-Naquet: Tragedy and Myth in Ancient Greece. S. 6-27. »Tragedy emerged in Greece at the end of the sixth century. Within a hundred years the tragic seam had already been exhausted and when Aristotle in the fourth century set out, in his Poetics, to establish the theory of tragedy, he no longer understood tragic man who had, so to speak, become a stranger« (S. 6). 109 Willamowitz-Möllendorf: Euripides Herakles. S. 82. 110 Ebenda S. 87. 111 Ebenda S. 94.

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Dabei werden die Widersprüche weg erklärt, mit Konstruktionen wie der folgenden: Zwar waren die Satyrn auf den Vasen pferdeartig, doch soll der eigentliche Ursprung des Dithyrambos in Korinth, auf dem Peleponnes gelegen haben, dort hausten auch die Böcke, diese haben die pferdeartigen Satyrn verdrängt.112 Das Ziel dieser Art von Argumentation ist es immer, die Widersprüche zum »heiligen Aristoteles« möglichst gut aufzulösen. Die Einflüsse der Umwelt und der Gesellschaft werden eher gering gehalten, die Sicht auf die griechische Religion folgt dem idealisierten Griechenbild der deutschen Klassik. Diesem Ansatz folgten einige, z.B. Seeck113 und Lesky114, die immer auch von einer Sinnhaftigkeit, einem göttlichen letzten Sinn ausgehen, »der es sogar erlaubt offenbaren Wider-Sinn ungeschmückt in seinem Recht zu belassen.«115 Dieser Theodizee-Gedanke wird z.B. bei Patzer auch in der kultischen Einbettung der Tragödie zu begründen versucht, da es sich um einen religiösen Anlass handelte, muss auch das Thema ein theologisches sein. Diese Überlegung mit dem Gedanken einer gerechten Ordnung zu verbinden, ist zumindest zum Teil ein Fall von Rückprojektion christlicher Vorstellungen auf die vorchristliche Welt und damit höchst problematisch. Gewalt als Ursprung der Kultur: Girards und Burkerts Überlegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Religion der Griechen hatte viele komplexe und vor allem auch viele unberechenbare Elemente. Bremmer behandelt diesen Unterschied zur christlichen Gottesvorstellung in seiner Untersuchung der griechischen Religion. Ihre Götter beschrieb schon Herodot als »envious and disorderly«116, so auch Dionysos, den Gott der Tragödie, aber auch der Fruchtbarkeit, des Weins und der Ekstase sowie der Verwandlung – dieses Element des Gottes findet sich in der Verwendung der Maske in der Tragödie wieder. In bestimmten Zusammenhängen werden Dionysos auch Mysterien und Totenkulte zugeschrieben117, also vordergründig das genaue Gegenteil seines 112 Ebenda S. 83-86. 113 Seeck, Gustav Adolf: Geschichte der Tragödie. In: Ders. (Hrsg.): Das griechische Drama. S. 155-203. Auch hier werden Arion und Thespis als die eigentlichen Urheber der Tragödie genannt. 114 Lesky: Die griechische Tragödie. Auf S. 50 wird Aristoteles als »zuverlässig« genannt. 115 Patzer: Die Anfänge der griechischen Tragödie. S. 3. 116 Bremmer: Greek Religion. S. 11. 117 Ein allgemeiner Verweis auf dionysische Mysterien findet sich bei Seaford: Dionysos. S. 49-75. Allerdings findet auch er wenige direkte Verweise im griechischen Kernland zur klassischen Zeit, sondern eher an den Peripherien und verstärkt zu späteren Zeiten. Auch Burkert befasst sich im Zusammenhang mit den andern antiken Mysterien mit den Dionysos-Mysterien. In seiner Interpre-

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lebensbejahenden Kults. Die Ambivalenz des Gottes kann auch auf die Ambivalenz des Ursprungs der Tragödie hinweisen. Eine eindeutige Antwort wird nie zu rekonstruieren sein, es lassen sich jedoch Elemente von Mythos und vor allem Fragen des Umgangs mit den Mythen in der individuellen Schöpfung der Dramen finden. Das Vorhandensein einer mythischen Schicht, die der Tragödie zu Grunde liegt und in sie hineinwirkt, wird inzwischen allgemein anerkannt. In dieser Schicht finden sich wilde und ursprüngliche Elemente, die nicht nur auf den Beginn der Tragödie, sondern auch auf den Beginn der Zivilisation verweisen. Diese Mythen werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oftmals, so von Burkert und noch extremer von Girad, mit Gewalt, Opfer und Mord in Verbindung gebracht. Durch die gemeinsame Opferung können in der Gesellschaft kathartische und gemeinschaftstiftende Effekte entstehen – beides Effekte, die das Theater im klassischen Athen konstituieren bzw. die es hervorbringt. Die Gewalt wird in Ritual und Mythos gebannt – diese sind also Bewältigungsprozesse einer Kultur. Als einen solchen sieht z.B. Turner auch die ursprüngliche Aufgabe des Theaters: Durch den Umgang mit der Krise auf die spezifisch theatralische Art wird dieser eine spezifische Bedeutung verliehen, in der sie ritualisiert wird.118 Für Girad ist die primäre Funktion des Opfers, die Harmonie in einer Gemeinschaft wiederherzustellen, indem das Bedürfnis nach Gewalt gestillt wird – und zwar in einer reglementierten Form.119 Das stellvertretende Opfer – also das eines Tieres statt eines anderen Menschen – ist notwendig, um den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen und die Gesellschaft zu stabilisieren.120 Das stellvertretende Opfer darf den Mitgliedern der Kultgemeinschaft nicht zu ähnlich sein, aber auch nicht zu weit entfernt. Tritt einer dieser Fälle ein, kommt es zu einer Krise des Opferkults, an eben einer solchen sieht Girad die Erscheinung der attischen Tragödie.121 Denn nach seiner Argumentation herrscht in der Tragödie ein Gleichgewicht der Gewalt, so dass die Gewalt nicht überwunden werden kann, sondern beginnt sich auszubreiten. Eben dies sei das Thema der Tragödie, sie »spricht […] immer von der Zerstörung der kulturellen Ordnung«122, da in ihr mythische Motive teilwei-

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tation ist Dionysos mit einem Versprechen seligen Lebens im Jenseits allgegenwärtig und gerade deshalb schwer festzumachen. Burkert: Antike Mysterien. S. 12-13. Vgl. Turner: Vom Ritual zum Theater S. 171 & 182. Turner argumentiert aus einem ethnologischen Standpunkt und fasst das Theater wie folgt auf: »Theater ist tatsächlich eine Dramatisierung; eine Übersteigerung juristischer und ritueller Prozesse; nicht bloß eine einfache Reproduktion der gesamten »natürlichen« Verlaufsform des sozialen Dramas.« Girard: Das Heilige und die Gewalt. S. 19. Ebenda S. 46. Ebenda S. 62-63. Ebenda S. 100.

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se entschlüsselt werden und damit die notwendigen Unterschiede verringert werden. Dies repräsentiert eine Krise des Opferkults. Solche Fragen warf die attische Tragödie durchaus auf, aber sie war doch gleichzeitig in einen Kult mit Opfer eingebunden, der in diesem Zusammenhang auch gemeinschaftsstiftend gewirkt haben sollte, denn der Anlass war ein religiöses Fest. Tieropfer wurden erbracht und der Priester war der Ehrengast der Vorstellung, so dass sich das Publikum durchaus weiter als Kultgemeinschaft verstehen konnte. Gleichzeitig war die attische Gesellschaft des 5. Jahrhunderts jedoch auf der Schwelle zu einem anderen Verständnis von Gemeinschaft, der Polis, die sich von den archaischen Ritualen entfernte und diesen Anspruch auch formulierte. Ein Beispiel dafür ist die sich wandelnde Auffassung des Rechts, das jetzt durch Worte und nicht nur durch Taten zur Geltung gebracht wurde. Die Argumentation geht der Bestrafung voraus, nicht mehr die Blutrache zwischen den Familien, sondern die Verhandlung vor dem Kollektiv der Polis war das neue Rechtsinstrument.123 Die Tragödie thematisiert eben dies auch. Da in ihr neben dem verhandelten Recht ebenfalls das Prinzip der Familie – das das der Heroen ist – vorhanden ist, kann sie dieses Prinzip auf der pathetischen emotionalen Ebene beim Publikum ansprechen. Burkert argumentiert folgendermaßen: Für ihn sind Riten älter als Mythen, da diese erst mit der Sprache möglich werden124, beide verbinden sich jedoch zu einer Form kultureller Tradition.125 Das bedeutet jedoch auch, dass in der Sprache Begriffe für ursprüngliche Handlungsweisen gefunden werden müssen, die dabei schwer verständlich sind. Oftmals behandeln sowohl Riten als auch Mythen »erregende und bedrohliche Themen«.126 Burkert favorisiert explizit die These vom Gesang aus Anlass eines Bocksopfers. Der Ziegenbock als dionysisches Tier wird aus Anlass der Dionysien geopfert, wobei sich dann die Frage nach dem Sinn des Tieropfers in diesem Zusammenhang stellt. Ein Opfer wird hier primär als Akt des Tötens und Erfahrung des Todes verstanden, da der Mensch sich dabei schuldig fühlt, greift er zu einer »Unschuldskomödie«, einer Abfolge von rituellen Handlungen, um diese zu überwinden127, wie z.B. der Klage und den Masken, um »die Vernichtung des Lebens als das sakrale Zentrum der Handlung auszugestalten.«128 Die Gefühle sind dabei immer ambivalent. Auch für den Bock, der Dionysos geopfert wird, lässt sich laut Burkert eine solche Unschuldskomödie nachweisen: »Der Bock […] hat den Weinstock angefressen, da-

123 Vgl. hierzu die Darstellung in Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens. Kapitel IV. S. 44-66. 124 Burkert: Homo Necans. S. 41. 125 Ebenda S. 42. 126 Ebenda S. 43. 127 Burkert, Walter: Griechische Tragödie und Opferritual. In: Ders: Wilde Ursprünge. S. 13-39. Vgl. hier S. 21. 128 Ebenda S. 22.

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rum muss er sterben.«129 Als grundlegende Erfahrung der Gemeinschaft wird hier die gemeinsame Jagd mit Hilfe von Waffen gesetzt, in dieser begibt sich der Mensch auch in größere Gefahr, denn es ist einfacher die Waffe gegen einen Menschen zu richten als gegen ein gefährliches Tier, so entsteht eine »Gemeinschaft [die] zusammengebunden [wird] durch die gemeinsame Erfahrung von Schock und Schuld.«130 Wobei Opfer und Opferer immer aufeinander bezogen sind, »indem das Leben sich behauptet, setzt es den Tod voraus.«131 So sind Opferriten Grundlage der Existenz und der Gemeinschaft. Daraus leitet Burkert die folgende Hypothese über die Entstehung der Tragödie ab: »Die τραγωιδοί sind ursprünglich eine Gruppe maskierter Männer, die das im Frühjahr fällige Bocksopfer vollzieht; sie treten auf mit Klage, Gesang, Vermummung und dürfen zuletzt den Bock verspeisen. […] Die Transformation auf das Niveau hoher Literatur, mit den einzigartigen Formen der Chorlyrik und der Adaption des heroischen Mythos, bleibt eine einzigartige Leistung, die sich doch auf vorgegebene Elemente gründet: Gebrauch von Masken, Gesang und Tanz auf der θυµέλη, Klage, Flötenmusik, der Name τραγωιδοί, alles vereint in der Grundsituation des Opfers: Der Mensch im Angesicht des Todes.«132

Zur Frage, warum gerade das unbedeutende Bocksopfer zur Tragödie wurde, stellt Burkert die These auf, dass es eben diese Unbedeutsamkeit war, die dem Improvisieren Raum ließ. In der reifen Tragödie findet Burkert immer noch die Situation der rituellen Tötung, auch wenn sich die Tragödie emanzipiert hat. Die Verwendung von Heroenmythen lässt sich ebenfalls an Opfer rückbinden, da zu jedem Heroenmythos ein Ritus und somit ein Opfer gehörte. Burkert ist sich bei seiner Argumentation immer bewusst, dass er keinen eindeutigen Ursprung der Tragödie rekonstruieren kann, er verfolgt konsequent einen Weg von der Etymologie des Wortes ausgehend und findet in den Tragödien immer noch Ansatzpunkte für die archaischen Riten, die hier jedoch auch thematisiert und infrage gestellt werden und nicht nur aufgehoben.

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Ebenda S. 23. Ebenda S. 25. Ebenda S. 25. Ebenda S. 26.

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AMBIGE S TRUKTUREN

DER T RAGÖDIE – G RUNDLAGEN DER HIER VERFOLGTEN I NTERPRETATION

Mythen Die Götter sind im Zusammenhang der Tragödie einerseits literarische Schöpfungen, deren Funktion stark von ihrer Bedeutung im Mythos abhängt, andererseits sind die Götter auch eine gesellschaftliche Realität. Der Glaube an die Götter, der in den Dramen verwendet wird, fällt zusammen mit dem Glauben der Zuschauer. Die Besonderheiten der griechischen Religion, die dabei zentral sind, sind die nicht vorhandene Trennung von Sakralem und Profanem im Leben der Polis und die Tatsache, dass es sich nicht um eine Schriftreligion handelt. Nilsson weist darauf hin, dass gerade durch die Dichter die griechische Religion über die magische Religionsstufe hinausging und nicht in sie zurückfallen konnte. Da es vor den literarischen Werken keine feststehende Überlieferung gab, war das Variieren der Mythen keineswegs skandalös, sondern wie in jeder mündlichen Überlieferung selbstverständlich. »Der Mythos, aus dem er [der tragische Dichter] derart schöpfte, war nationales Gemeingut seines Volkes, heilige Geschichte von größter Realität.«133 »Das Athener Publikum verfügte über globale Kenntnisse der mythischen Welt, in der sich die Tragödien abspielten, die Einzelheiten der Fabeln selbst aber waren ihm nicht bekannt; deshalb brauchte es auch nicht das geringste von der Ödipus Legende zu wissen, um Antigone oder den Phönizierinnen folgen zu können: der tragische Dichter trug Sorge, seinem Publikum alles beizubringen, ganz so, als hätte er seine Intrige selbst erfunden. Doch stellte sich der Dichter nicht über sein Publikum, denn der Mythos galt ja als bekannt; er wusste darüber nicht mehr als die anderen, er schrieb keine gelehrte Literatur.«134

Auch Jane Harrison erkennt die entscheidende Rolle der Dichter für die griechische Gesellschaft und Religion an: »The Greeks were not priestridden, they were poet-ridden.«135 Gerade diese Offenheit der Mythen machten sich die Tragödiendichter zunutze, so konnten sie ihre eigenen Varianten, die keineswegs zufällig oder beliebig sind, sondern der Dramaturgie der Tragödien folgen, legitimieren. In der griechischen Religion ohne heilige Schrift sind die Mythen auch Inhalt und Form religiöser Riten. Diese Mythen sind ebenso Inhalt der Tragödien. Was ist also ein Mythos in diesem Zusammenhang und zu dieser Zeit?136 Ein Mythos ist ein Stoff, eine Geschichte, und zwar eine »traditio133 134 135 136

Lesky: Die Anfänge der griechischen Tragödie. S. 69. Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? S. 59-60. Harrison: Mythology. S. XVIII. Zu anderen Begriffen und Verwendungen von Mythos vgl. die Einleitung.

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nelle Erzählung«137, die zur Kultur eines Volkes gehört. Diese traditionellen Erzählungen sind eben keine feststehenden Geschichten oder gar geschriebene Geschichten, sondern ein »mŷthos ist […] eine Erzählung für die man keine Verantwortung übernimmt«138, will heißen, die keinen Autor hat und somit sowohl offen für Variation als auch allgemeiner Besitz der Kulturgemeinschaft ist. Burkert versteht diese »traditionellen Erzählungen, jenseits des festen Textes und diesseits der konkreten Wirklichkeit« als »Sinnstrukturen.«139 Ihre Zeichen (im Sinne des Strukturalismus) beziehen sich auf menschliche Grunderfahrungen und solche der Natur und des Lebens.140 Der Mythos erfüllt eben diese Funktion, vom Leben zu erzählen141, damit ist das Thema des Mythos sehr weit gefasst. Burkert subsummiert auch die Verwendung von Mythos als Erzählung über Götter unter seine These, da auch die Götter elementare Fragen verkörpern. Womit ein Mythos sich befasst, welche Inhalte in ihm zentral sind und welche Grundfragen hier auf welche Art und Weise behandelt werden, diskutiert ausführlich Emil Angehrn. Für ihn sind Mythen – ebenso wie die Metaphysik, von der er den Mythos immer wieder abgrenzt – eine Art die Welt zu strukturieren. Dabei sind sie Grundlage der Kultur. »Mythen handeln von Anfängen, sie berichten vom Entstehen der Welt, der Götter und Menschen.«142 Doch diese Anfänge sind eben nicht die rationalen und erklärbaren, sondern genau das Gegenteil. Indem das mythische Denken in der Welt präsent gehalten wird, wird diese Tatsache anerkannt. »Es geht um die Anerkennung und Aneignung einer untergründigen Schicht, einer unterdrückten Seite der eigenen Identität.«143 Die eigene Identität, das Ich in Abgrenzung von der Welt ist auch der Aspekt, der in der Tragödie als Schnittpunkt mit dem Mythos von Bedeutung ist. Dabei ist der Anfang, der im Mythos vorhanden ist, keineswegs ein rein positiver, zudem kann nicht endgültig mit ihm abgeschlossen werden. »Das Andere der Vernunft ist eine überwundene Bedrohung; deren Permanenz ist Drohung der Rückkehr des Besiegten, die periodisch erneuerte Unterwerfung des Anderen ist Wiederholung eines nie endgültig abgeschlossenen Konfliktes.«144 Damit hebt sich im Mythischen auch die lineare Zeit auf, die den Menschen andererseits definiert. »Die Entindiviualisierung ist gleichermaßen Entzeitlichung.«145 Doch aus diesen Aspekten des Mythos ergibt sich der Umgang der Tragödie mit

137 Burkert, Walter: Mythisches Denken. In: Poser (Hrsg.): Philosophie und Mythos. S. 16-39. hier S. 17. 138 Ebenda S. 19. 139 Ebenda S. 21. 140 Vgl. ebenda S. 27. 141 Vgl. ebenda S. 29. 142 Anghern: Die Überwindung des Chaos. S. 26. 143 Ebenda S. 28. 144 Ebenda S. 53. 145 Ebenda S. 259.

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ihm. Die Tragödie setzt sich mit den mythischen Phänomenen aus einer Perspektive der Negativität auseinander – wohingegen die Metaphysik einen Umschlag ins Positive bedeutet.146 »Im Mythos sind wir nicht nur mit dem Nichtseienden und Nichtseinsollenden als solchem konfrontiert, sondern mit den Schwierigkeiten und Ambivalenzen, die seiner Überwindung inne wohnen.«147 Denn Individuation ist nur in Abgrenzung vom Mythos möglich, doch zugleich ist das Scheitern, der Umschlag ins Leiden mit angelegt. »Die Affirmativität, zu welcher die mythische Chaosbewältigung führte, wird durch die Negativität des Tragischen durchschlagen, die dem Subjekt eine neue Basis verschafft.«148 Damit steht ein Mythos außerhalb der Welt, die von festen Setzungen, Rationalität und Erklärbarkeit lebt. Das ist eben die Besonderheit des Mythos, dass »er nur gespielt, durchgespielt, nur momentan ›geglaubt‹ zu werden braucht, aber nicht zur Norm und zum Bekenntnis wird.«149 Trotz der Variationen in den Dramen, oder gerade deswegen, behält ein Mythos seine Gültigkeit. Er kreist ein Thema ein, umkreist es und bietet so den Platz zur Reflexion, zum Spiel, dem Spiel auf der Bühne ebenso wie dem Spiel der Gedanken, deshalb geht z.B. Blumberg davon aus, dass im Fall des Mythos »Produktion und Rezeption […] äquivalent [sind], sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte.«150 Mythenrezeption ist also auch Theater, denn dieses ist die Darstellung. Doch das Spiel als Mythos ist trotz des Präsens einer Aufführung kein gegenwärtiges, denn der Mythos entstammt immer einer anderen Zeit. Diese Zeit liegt außerhalb der menschlichen Zeit, ist Vergangenheit und Zukunft zugleich, ist zeitlich unbestimmbar und gerade so für die Bühne – paradox in ihrer Gegenwärtigkeit – verwendbar. Im Mythos findet sich die »Bandbreite zwischen Terror und Poesie«151, die hier eben weder Gegensatz noch unvereinbar sind, sondern sich in den Affekten wiederfinden lassen. Denn genau hier findet der Terror, der in der Poesie enthalten und auch gebannt ist, wieder seinen Weg: wenn das Spiel seine Wirkung auf das Publikum entfalten kann. Terror und Spiel als Bestandteile des Mythos verweisen wieder auf die Affekte und die Katharsis, denn sie speisen sich auch aus eben dieser ambigen Struktur: einerseits der Realität, um den Terror spürbar zu machen und andererseits der harmlosen Situation des Spiels, die sich selber reflektieren muss, um glaubwürdig zu bleiben. Realität und Mythos müssen in ei-

146 Vgl. ebenda. S. 68: »In ihrer positiven Auffassung kommt die Aufhebung der Zeit, als Zeitlosigkeit bzw. Ewigkeit vor allem in der Metaphysik zum Tragen, in der die Welt des Werdens schlechthin als Dimension des Falschen gilt.« 147 Ebenda S. 186. 148 Ebenda S. 388. 149 Blumberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und WirkungsPotenzial des Mythos. In: Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. S. 11-66. hier S. 18. 150 Ebenda S. 28. 151 Ebenda S. 57.

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ner ambigen Struktur ineinander übergreifen, das Andere stets mitdenken, ohne es ganz zu verstehen. Dabei entsteht sowohl eine Metaebene der Reflexion als auch ein daimonischer Raum. In den Texten lassen sich also ambige Denkstrukturen finden, die für das Publikum einen Raum öffnen, in dem die Affekte wirken. Damit dies geschehen kann, muss sowohl die Tragödie als auch das Publikum die Umwelt in einer bestimmten von Irrationalität und Unsicherheit beeinflussten Art wahrnehmen, trotz der Versuche diese mit Rationalität zu beeinflussen. Die Umwelt, der tragische Raum muss von Ambiguitäten geprägt sein. Diese finden sich auf den unterschiedlichsten Ebenen. Zum Beispiel in der Umbruchsituation der Gesellschaft, die ein neues Recht, eine neue Staatsform etabliert, dabei aber ihre Legitimation in den archaischen Mythen sucht. Die Frage nach der Zeit ist dabei zentral: Mythische und reale Zeit ergänzen sich in der Tragödie als Verdichtung aller Ambiguitäten. Doch muss die mythische Zeit noch eine gesellschaftliche Realität besitzen: »For the city this legendary world constitutes the past, - a past sufficiently distant for the contrast between the mythical traditions that it embodies and the new forms of legal and political thought to be clearly visible; yet a past still close enough for the clash of values still to be a painful one and for this clash still to be currently taking place.«152

Das Theater an sich ist eine ebensolche Verkörperung dieser ZeitAmbiguität. Es stellt etwas dar, das nie der realen Jetzt-Zeit angehört und ist doch gleichzeitig absolutes Präsens in seiner physischen Realität. So stellt sich diese Welt eben in ihrer spezifischen Darstellungsweise auf dem Theater mit in Frage. Tragische Strukturen gehören zwei Welten und Denkmustern an, wobei diese einander weder ergänzen noch ausschließen, sie stehen in einer ambigen Spannung zueinander. Auf der Bühne finden sich solche Elemente der Spannung im Chor und in der Verwendung bestimmter Begriffe und Requisiten.153 Dies wird später in den Einzelinterpretationen immer wieder deutlich werden. Von dieser kleinsten Ebene erweitern sich die ambigen Strukturen auf immer größere Ebenen, wobei die Wirkung von der Bühne immer auch auf eine ambig strukturierte und wahrgenommene Umwelt – einen seinerseits daimonischen Raum – trifft. Dionysos und der Daimon Inwieweit Rituale und Mythen der Ursprung der Tragödie sind, kann nicht endgültig geklärt werden. Es soll gezeigt werden, wie die Mythen in der ambigen Struktur der Dramen verwendet werden, um das Bedrohliche in der 152 Vernant, Jean-Pierre: Tensions and ambiguities in Greek Tragedy. In: Vernant & Vidal-Naquet: Tragedy and Myth in Ancient Greece. S. 6-27. hier S. 9. 153 Beispiele hierfür listet Seaford auf. Vgl. Seaford: Reciprocity and Ritual. S. 388ff.

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eigenen Kultur präsent zu halten, das Unterschwellige zu thematisieren und so, im Rückgriff auf ein kollektives Gedächtnis – in welchem Bedrohung von Innen und Außen unterbewusst vorhanden sind –, eine Wirkung bei den Zuschauern erreicht werden kann. Die Affekte speisen sich aus diesen spannungsgeladenen Beziehungen und Oppositionen und wirken so auf das Publikum. Wichtig ist dabei der Umgang mit den Göttern, den Daimonen und dem Schicksal. Der Daimon ist in diesem Zusammenhang eine bedeutende, da vielschichtige Denkfigur. Das Lexikon gibt die Bedeutung wie folgt an: δαίµων: 1. Gott, göttliches Wesen, Dämon a) Schutzgottheit b) böser Dämon, Teufel c) Gespenst 2. Schicksal, Unglück, Verderben, Tod.154 Schadewaldt spricht bereits davon, dass auf der »Daimonie des Geschehens«155 alles aufbaut. Wie die Griechen den Daimon verstanden, stellt Bremmer wie folgt dar: »Whenever they felt that a god intervened for a short time, directly and concretely in their life, they spoke of daimon, which only later acquired its unfavourable meaning.«156 Der Daimon kommt in den Stücken an eben solchen Stellen vor, dennoch ist diese Definition zu kurz gegriffen, denn es gibt ein Wort für Gott: θεός, Theos. Daimon und Gott kann also nicht das Selbe sein, »Daímon bezeichnet nicht eine bestimmte Klasse göttlicher Wesen, sondern eine eigentümliche Wirkungsweise«.157 Doch eine scharfe Unterscheidung zwischen Theos und Daimon ist schwierig, denn beide Wörter werden in den Tragödien im selben Kontext verwendet; sie wurden und werden oftmals beide mit ›Gott‹ übersetzt. Auch das Göttliche hat so eine doppelte Struktur, aus der die Schwierigkeiten der Abgrenzung entstehen. »Es sind die Schwierigkeiten, die sich aus dem Doppelcharakter oder, wenn man will, der Zweideutigkeit der antiken Götter ergeben, aus der Verbindung des für sie spezifischen Anthropomorphismus mit einer in diesem Anthropomorphismus nicht

154 Diese und alle folgenden Übersetzungen griechischer Begriffe nach: Langenscheidts Taschenwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache. Erster Teil Griechisch//Deutsch. Von Prof. Dr. Hermann Menge. Berlin 1958 (26. Auflage). Zu beachten ist, dass dieses Lexikon auch das neutestamentarische Griechisch mit einschließt, also die Bedeutung »Teufel« aus diesem Zusammenhang stammt. Diese Wandlung des Begriffs findet allerdings bereits in der Antike statt. Vgl. dazu Burkert: »Nun ist allerdings klar, dass der Begriff des Dämon als eines niederen Geisterwesens vorwiegend gefährlichen und bösen Charakters von Platon und seinem Schüler Xenokrates ausgegangen ist.« (Burkert: Griechische Religion. S. 279) 155 Schadewaldt: Die griechische Tragödie. S. 29. 156 Bremmer: Greek Religion. S. 11. 157 Burkert: Griechische Religion. S. 279.

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aufgehenden, vielmehr ihn in Frage stellenden oder gar mit Auflösung bedrohenden Kraft.«158

Dennoch kann der Daimon eher als unbestimmte Schicksalsmacht verstanden werden, dem zumeist die personalen Attribute der olympischen Götter fehlen, der dennoch aus der gleichen göttlichen Sphäre stammt, so »dass […] θεός und δαίµων zwei Wirkungsweisen des Göttlichen repräsentieren«.159 Doch der Daimon bewegt sich als eben solche Schicksalsmacht auch zwischen Göttern und Menschen.160 Zum einen ist der Daimon der Begleiter eines Menschen, zum anderen repräsentiert er eine göttliche Macht und Intervention. Dabei ist der Daimon im Gegensatz zum Theos eben diejenige göttliche Macht, die unberechenbar ist. Göttern kann geopfert werden, ihr Wille wird in Orakeln und Sehersprüchen offenbart – wenn auch verschlüsselt. Daimonen zum anderen wirken direkt in den Menschen und sein Handeln hinein, sie sind immer vorhanden. Der Mensch glaubt aber zur Zeit des 5. Jahrhunderts gleichzeitig an sein eigenes Können und Bewusstsein und handelt danach. So wird der daimonische Raum auch von den Menschen beeinflusst, das Daimonische wird durch das eigene Handeln stärker und noch unberechenbarer. Die daimonische Komponente der göttlichen Macht ist gleichzeitig diejenige, in der sich das Göttliche nicht offenbart und trotzdem den größeren Einfluss auf das menschliche Leben hat. Wohingegen die Theoi diejenige Ausprägung des Göttlichen sind, die in Riten und stellvertretenden Opfern verehrt werden – für die daimonische Macht ist der Mensch im Endeffekt selbst das Opfer. Die antropomorphen Götter auf dem Olymp sind die Institutionalisierung des Mythischen und der Versuch das Irrationale in Bildern zu bannen, die in eine höhere Sphäre, den Olymp, verlegt werden. Das Daimonische ist hingegen immer erd- und menschverbunden. Eine weitere Dimension kommt hinzu, wenn in späterer Zeit Daimonen auch als Bezeichnung für die Seelen der Verstorbenen gebraucht werden.161 Der Daimon verweist auf eine tiefere Schicht, sowohl kulturell, als auch in der eigenen Person:

158 Schlesier: Daimon und Daimonen bei Euripides. S. 267. 159 Geisser: Götter, Geister und Dämonen. S. 19. 160 Vgl. hierzu Platon: Symposion. 202 e: »Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen.« 161 Eine Referenzstelle hierzu findet sich, wenn auch umstritten, in der Orestie. Vgl. Geisser: Götter, Geister und Dämonen. S. 336. Der »Schatten des Dareios« in den Persern wird ebenfalls als Daimon bezeichnet (Vers 641). Auch bei Hesiod findet sich in Werke und Tage eine Referenz hierzu.

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»In der älteren griechischen Literatur wurde das Wort ›Daimon‹ ebenso wie das Wort ›Theos‹ zur Benennung des Göttlichen verwendet. Doch während ›Theos‹ einen Gott benannte, der im kultischen Leben Bedeutung besaß, stand ›Daimon‹ für eine dunkle und rätselvolle Kraft. Diese teilte den Menschen ihr Schicksal zu. Dieses Zuerteilte konnte dem Einzelnen zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen. Es war imstande, ihn glücklich (eu-daimon) oder unglücklich (kako-daimon) zu machen. Jedes Wesen hatte mit seinem Daimon zu leben: Die Bindung begann mit der Geburt und endete mit dem Tod.«162

Laut Dodds163 und auch in den Überlegungen von Bruno Snell zur Entdeckung des Geistes wurden diese Einflüsse bei Homer noch fraglos einer göttlichen Instanz zugeordnet, die damit alle Verantwortung hatte. Dass diese willkürlichen Eingriffe der Götter wahrgenommen und problematisiert werden, führt zur Verzweiflung in den griechischen Tragödien, die damit einen anderen Grad von Reflexion erreichen.164 Die Tragödie entwickelt ihre Hochform zu einer Zeit der Umbrüche. Die Polis als Stadtstaat konstituiert sich und das Denken der Bewohner verändert sich. Nicht mehr die Familie, sondern die Polis wird zum Bezugspunkt für Loyalitäten, so wandelt sich auch der Umgang mit den Göttern und dem eigenen Handeln. Seaford sieht die Entwicklung des Dionysos-Rituals zur Tragödie vor allem in folgenden Übergängen, zum einen dem von außen nach innen, mitten in die Polis hinein und von den Frauen als Priesterinnen eines geheimen Kultes zu den Männern als Darstellern der öffentlichen Tragödie, also von einem Geheimkult zu einem wesentlich öffentlichen Vorgang.165 Laut seiner These werden in der Tragödie eben jene Riten pervertiert, die den Zusammenhalt der Familie begründen und bestärken, so dass diese zum Mittel der (Selbst-)Zerstörung nicht nur für die Familie166, sondern auch zur Gefahr für die Polis werden. Wichtig ist dabei, dass es im Griechischen kein eigenes Wort für Familie gibt »man spricht von ›Haus‹ und ›Herd‹ und meint damit bewusst zugleich die häusliche Opferstelle.«167 Andererseits ist die Ablösung von Familienstrukturen im archaischen Sinn wesentlich für die Schaf-

162 Schulak: Daimon. S. 17. Burkert stellt die Wirkung eines Daimon auf das Leben ganz ähnlich dar. Vgl. Burkert: Griechische Religion. S. 281. 163 Dodds: Die Griechen und das Irrationale. S. 13. 164 Lehmann sieht eben das als Merkmal der Tragödie das Leiden am eigenen Schicksal und zwar bewusst. »Das Tragische an der Tragödie ist der Moment der Bewusstwerdung über den Mythos, die einen Wechsel der Perspektive impliziert. […] Der Mensch, der im mythischen Bann unfrei ist, bleibt es in der Tragödie. Aber der tragische Diskurs bedeutet, dass er diese Unfreiheit zum erstenmal in den Blick nimmt.« Lehmann: Theater und Mythos. S. 67. 165 Seaford: Reciprocity and Ritual. S. 235. 166 Ebenda S. 368. 167 Burkert: Griechische Religion. S. 383.

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fung einer stabilen Polis, gleichzeitig entstehen neue Polis-Rituale. Somit ist die Tragödie auch eine Art Übergangsritual168, welches jedoch von Ambiguitäten geprägt ist, da die Polis sich immer auch selbst in Frage stellt. Personifizierung der Ambiguitäten und Widersprüche ist der Gott Dionysos. Schon der Mythos seiner doppelten Geburt verweist auf seinen ambigen Charakter.169 Eben in ihm vereinen sich die Dualitäten Stadt und Land, Mythos und Kultus.170 In seiner Verbindung zu Mysterien und Totenkulten verbinden sich zudem Leben und Tod in ihm, wenn nicht gar Leben und Leben nach dem Tod.171 Die Dionysischen Feste sind einerseits ein Modus zur Selbstvergewisserung und Stärkung der Polis und ihrer Zusammengehörigkeit, gleichzeitig sind in den Dionysos-Kulten aber auch gefährliche, destruktive und ekstatische Moment vorhanden; auch dies ist eine Dualität, eine von positivem Mythos und subversivem Kultus. Neben den offiziellen Staatsfesten des Dionysos entwickelten sich parallel geheime Mysterienkulte. Diese gefährlichen Momente sind ein weiteres Mittel zur Gemeinschaftsstiftung in der Polis. Dionysos ist ein Gott der Grenzüberschreitung, der Verwandlung und Illusion: »Äußeres Zeichen und Instrument der vom Gott gewirkten Verwandlung ist die Maske. Einzigartig im Kreis griechischer Religion ist, dass bei solcher Verwandlung Verehrer und Gott miteinander verschmelzen; Bacchos heißt der eine wie der andere.«172 Dieses Verschmelzen von Mensch und Gott ist ein daimonisches Wirken des Gottes Dionysos, der von allen Göttern die deutlichsten daimonischen Züge trägt – wenn er auch nicht der einzige ist, auch Ares und Aphrodite werden in den Tragödien immer wieder daimonische Merkmale zugesprochen. Dionysos verkörpert alle diese Aspekte und ist gleichzeitig der Gott des Theaters – auch dieses ist ein Ort der Verwandlung und der Widersprüche: Schauspieler stellen etwas dar, sind also gleichzeitig eine andere Person und sie selbst. In der griechischen Tragödie kommt hinzu, dass Erscheinungsbild und Stimme durch die Maske voneinander getrennt werden. Das Aussehen wird typisiert, die Stimme, zumal die Gesangsstimme, bleibt individuell. Somit hat auch das Darstellen einer Rolle, das Schauspieler-Sein, einen daimonische Zug. So liegt es nah, auch in der Tragödie nach Ambiguitäten zu suchen. Eben diese als Strukturmerkmale der Tragödie analysiert Vernant. Die beiden Pole seiner Analyse sind die Polis und der Mythos, wobei keins von beiden einfach reflektiert wird, sondern beides in der Tragödie in Frage ge-

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Ebenda S. 388. Vgl. hierzu ebenda S. 257. Vgl. Bierl: Dionysos. S. 17. Vgl. hierzu Seaford: Dionysos. S. 49-75. sowie Burkert: Antike Mysterien S. 12-13. 172 Burkert: Griechische Religion. S. 252.

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stellt wird.173 Wesentlich ist die Unbeantwortbarkeit der Fragen, so dass eben das Fragen und nicht das Antworten trotz scheinbarer Lösung des Konflikts grundlegend bleibt. Die Ambiguität wird auch von Vernant in der Denkfigur des Daimon sichtbar gemacht: »For there to be tragedy it must be possible for the text simultaneously to imply two things: it is character, in man, that one calls daimon and conversely: one what calls character in man, is in reality a daimon.«174 Dieser doppelte, ambige Charakter wird in der Tragödie immer mit thematisiert, aus dieser Spannung entsteht ein tragischer Konflikt. Die Spannung entsteht auch auf der Ebene der Worte, zum einen, da ihnen die maskierten Figuren entgegenstehen, und zum anderen, da die gleichen Worte von unterschiedlichen Figuren nach unterschiedlichen Prinzipien gebraucht werden, je nachdem, wie die Figur sich selber versteht und einordnet. Auch das Recht wandelt sich von einem göttlichen zu einem kanonischen Recht, eben dieses wird in der Verwendung der Terminologie in den Stücken deutlich. Dabei spielt das Konzept des freien Willens und der Entstehung eines Denkens, das diesen beinhaltet, eine Rolle.175 Bei Vernant wird auch hier wieder die Ambiguität zwischen den beiden Polen des religiösen und des Polis-Rechts herausgestellt.176 Dionysos ist zwar der Gott der Tragödie und hat auch einen durchaus ambigen Charakter, doch ist die Denkfigur, die in den folgenden Interpretationen der Dramen als zentrale Verkörperung der ambigen Spannung, die die Tragödie ausmacht, verwendet wird, der Daimon. Dieses allgemeinere Prinzip einer Wirkungsweise einer schwer zuzuordnenden Macht kann im Verlauf der Geschichte übertragen werden – auch das Wort Dämon hat, wenn auch mit veränderter Konnotation, überlebt –, um den Umgang mit Ambiguitäten zu beschreiben.

173 Vernant, Jean-Pierre: Tensions and ambiguities in Greek Tragedy. In: Vernant & Vidal-Naquet: Tragedy and Myth in Ancient Greece. S. 6-27. hier S. 9-10. 174 Ebenda S. 13. 175 Vgl. hierzu Snell: Entdeckung des Geistes. 176 Vernant, Jean-Pierre: Intimations of the will in Greek tragedy. In: Vernant & Vidal-Naquet: Tragedy and Myth. S. 28-63. hier S. 56: »Tragic guilt thus takes shape in the constant clash between the ancient religious conception of the misdeed as a defilement attached to an entire race and inexorably transmitted from one generation to the next in the form of an áte or madness sent by the gods, and the new concept adopted in law according to which the guilty one is defined as a private individual who acting under no constraint, has deliberately chosen to commit a crime.«

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»S O SCHUF EIN D AIMON BEIDEN ALLZU GLEICHES L OS « – AISCHYLOS : S IEBEN GEGEN T HEBEN Sieben gegen Theben (467 v.Chr.) des Aischylos ist das dritte und einzig erhaltene Stück einer Labdakiden-Trilogie – von den anderen beiden Stücken sind die Titel Laios und Ödipus bekannt, das Satyrspiel hieß Sphinx. Wenn man von den Stücken der erhaltenen Orestie-Trilogie ausgeht und die Titel der anderen beiden Stücke berücksichtigt, liegt es sehr nah, dass es sich bei den drei Stücken der Labdakiden-Trilogie ebenfalls um eine thematische Einheit gehandelt hat, und zwar um das Wirken eines Geschlechterfluchs durch die Generationen der Familie.177 Wenn dem so wäre, ist die Interpretation des dritten Stückes immer lückenhaft, da bestimmte Motive ihre Bedeutung sicher verändern, wenn sie im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Dennoch wird eben dieses Stück als exemplarische Tragödie ausgewählt, da es sich um ein sehr frühes Stück handelt, das von vielen Interpreten archaisch genannt wird. Die Archaik des Stücks liegt darin, dass die ambigen Strukturen aus zwei Teilen bestehen deren Gegensätze noch relativ offen zu Tage treten. Im Laufe der Zeit werden die Strukturen der Tragödien komplexer und teilweise verdeckter werden. Das ganze Stück ist durchzogen vom Widerspruch des Staates und der Familie bzw. der königlichen Familie als Verkörperung des Staates. Dies korrespondiert mit einem der wichtigen Übergänge der attischen Gesellschaft im fünften Jahrhundert: dem vom Familien- bzw. Clansystem zum Staat, die im einleitenden Teil vorgestellt wurden.178 Dabei handelt es sich nur um eine der Ebenen, auf denen sich eine Doppelstruktur finden lässt; Zweiteilungen sind in den Sieben gegen Theben an vielen Stellen zu beobachten: Das Stück befasst sich vordergründig zunächst mit der Frage der Verteidigung der Stadt und ab Vers 653 mit der Frage des Fluches. Im ersten Teil ist Eteokles von der Vernunft geleitet und trifft seine Entscheidungen scheinbar rational, doch bevor er aufbricht, um sich dem Kampf zu stellen, wirkt er beinahe wahnsinnig oder getrieben vom Fluch. Beim Chor verhält es sich umgekehrt, er ist zunächst ängstlich und schutzsuchend, später ruhig und ratgebend. Die sieben zentralen Redepaare sind von der Gegenüberstellung sich ergänzender und aufhebender Elemente geprägt, gleichzeitig führen sie zum eigentlichen Daimon des Geschehens, dem Aufeinandertreffen der beiden Brüder. Nach diesem Aufeinandertreffen erscheinen die beiden Schwestern Antigone und Ismene und führen den eigentlich die Ein177 Vgl. hierzu Schadewaldt: Die griechische Tragödie. »Worum es in allen drei Stücken geht, ist also ein über drei Geschlechter hingehendes Fluchgeschehen. Es beginnt mit dem Frevel des Laios. Mit ihm ist gleichsam eine daimonische Macht in die Welt gekommen.« (S. 97) 178 Für Thompson. ist dieser Übergang vom Clan zum Staat das Hauptmerkmal der Sieben. Er kommt jedoch zu einer eindeutigen Antwort, der Clan gilt ihm als überwunden. Thompson: Aischylos in Athen. S. 329-333.

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heit der Polis repräsentierenden Chor in zwei Halbchören, so wird die Doppelstruktur zum Schluss in der Teilung des Chores den Zuschauern im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Das Ende des Stückes mit dem Auftritt des Herolds (ab Vers 1005) und der Ankündigung der ungleichen Behandlung der Brüder wird bei der Interpretation außer Acht gelassen, da dieser Teil des Dramas als späterer Zusatz betrachtet wird. Die zu dieser Problematik vorgebrachte Auffassung179, dass am Ende der Trilogie nicht ein vollkommen neues Problem aufgeworfen werden kann, entspricht auch meiner Deutung des Aufbaus der Tragödie. Die genannten Doppelstrukturen sollen nicht als sich widersprechend oder schwerlich zusammengehörige betrachtet werden, sondern im Gegenteil als jeweils zwei zwar gegensätzliche, aber dennoch notwendig zusammengehörende Teile der gleichen Phänomene: als Ambiguitäten. Die Verbindung zwischen ihnen, das, was die Ambiguitäten zusammenhält, ist der Daimon. Sein Wirken ist von Göttern wie Menschen abhängig und eben deshalb unberechenbar. Somit ist es auch der Daimon, der das Tragische der Handlung in eben diesen Ambiguitäten in sich vereint und ausmacht. Daimon und Daimonen im Stück180 Im Vergleich zum Begriff Theos181 kommt der Begriff Daimon eher selten vor; die Bitten des Chors und auch Eteokles’ Reden beziehen sich zunächst auf die olympischen Götter. Wenn jedoch der Begriff Daimon anstelle von Theos verwendet wird, finden sich im nahen Umfeld des Begriffs oftmals Verweise auf den Fluch oder auf etwas »heimisches«, also auf die Stadt, wie später zu sehen sein wird. Der Daimon ist beides: eine göttliche Macht und vom Wirken des – mit der Stadt und den Labdakiden verbundenen – Fluches abhängig. Somit ist er einerseits bedrohlich, andererseits wird er aber auch immer wieder in einem Schutzzusammenhang angerufen; ohne ihre Daimonen kann die Stadt nicht leben, doch der Daimon des Familienfluches der Labdakiden bedroht zugleich die Stadt. Im Zusammenhang mit der Stadt kommen die Daimonen im Plural vor, nur wenn ein konkreter Daimon, wie der des Fluches, gemeint ist, taucht das Wort im Singular auf. Das erste Vorkommen der Daimonen ist in Vers 77; die Rede beginnt mit einer Anru-

179 Vgl. hierzu u.a. Schadewaldt: Die griechische Tragödie. S. 98. Sowie Nicolaus: Die Frage nach der Echtheit der Schlussszene von Aischylos Sieben gegen Theben. 180 Die Zitate folgen der zweisprachigen Ausgabe der Sammlung Tusculum. In diesem Fall Aischylos: Tragödien. Übersetzt von Oskar Werner, herausgegeben von Bernhard Zimmermann. Zürich/Düsseldorf 1996. Mir ist keine Übersetzung bekannt, in der die griechische Unterscheidung θεός - δαίµων konsequent deutlich wird. 181 θεός 1.a) Gott, Göttin; b) Gottheit, göttliches Wesen; 2. Götterbild, Tempel der Götter.

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fung der olympischen Götter: »O Zeus, o Erde, Götter, Schutzherrnunsrer Stadt« (Vers 69). Direkt in der nächsten Zeile wird auch die Ara182, der Fluch des Vaters, angerufen: »O Fluch, des Vaters Rachegeist gewaltiger!« (Vers 70). Der Fluch des Vaters wird sogleich auch auf die Stadt bezogen und eben nicht auf das persönliche Schicksal, das der Familienfluch primär betreffen sollte. Damit wird die Verknüpfung des Schicksals des Fluches mit der Stadt deutlich; das Ende der Passage vereint diese beiden Aspekte: »Beiden, hoff ich, frommt mein Wort,/Weil eine Stadt, der’s gut geht, auch die Götter [hier steht im griechischen Original Daimonen] ehrt« (Vers 7677). »Beide«, die Daimonen und der Fluch werden explizit angesprochen, also kann der Fluch wiederum ambivalent nicht gleichbedeutend mit den Daimonen sein, obwohl er immer wieder in einem Daimon wirkt. Der Chor spricht in seinem folgenden Lied von »heimischen Göttern [Daimonen]« (Vers 95), diese Stelle fällt aus dem Rahmen, da hier die Daimonen mit Bildern zusammengebracht werden; für die Daimonen gilt eigentlich, dass sie im Gegensatz zu den Olympiern keine Altäre und Bilder haben. In diesem Lied fragt der Chor sich jedoch, an welche Schutzmächte er sich wenden soll, das Anbeten eines Bildes ist hier die körperliche Umsetzung des Schutzflehens, das der Chor sonst verbal ausdrückt – so wird die Not verdeutlicht. Im Verlauf dieses Liedes wird Ares als einziger der Olympier überhaupt direkt als Daimon bezeichnet: »Was tust du? Gibst preis du, o Ares, altheimischer, dein Land?/O goldbehelmter Gott [Daimon], blick her auf die Stadt,/Die du einst voll Huld dir erkorst!« (Vers 105-107). Das Schicksal der Stadt wird sich rein faktisch im Krieg entscheiden, der Krieg bestimmt das Stück in weiten Teilen183 und der Chor hält ihn immer gegenwärtig (z.B. »Den Lärm gewahr ich, Krachen mehr als eines Speers!« Vers 104). Doch dieser Krieg ist ein daimonischer Krieg, deswegen wird Ares auch mit einem Daimon identifiziert, nicht nur weil damit »auch der Zug des Unheimlichen, Übermächtigen mitschwingt.«184 Der Krieg ist entstanden durch das Tun der beiden Brüder, den wechselseitigen Frevel, in letzter Konsequenz ist er die Bedrohung der Stadt durch den Labdakidenfluch. Auch hier fällt wieder die ambige Struktur auf: Der Krieg bedroht die Stadt, doch gleichzeitig wird der Kriegsgott oder Daimon als alter Schutzpatron der Stadt angerufen. Ares als Personifikation des Krieges und die Windmetapher für sein Wirken werden an einer späteren Stelle besonders deutlich: »Rasend hinein bläst der Völker Verderb,/Des Fromm-Ehrwürdgen Schänder: Ares!« (Vers 343-44). Auch die folgende Beschreibung des Verderbens, das der Krieg bringt, ist von Parallelitäten und Paarungen geprägt; 182 αρά 1. a) Gebet, Bitte; b) Fluch, Verwünschung; 2. Verderben, Rache, Unheil. 183 Murray z.B. weist darauf hin, dass »die Sieben von dem Redner Gorgias […] als ein »drama Areos meston« bezeichnet [wurden], ein »von Ares«, dem Kriegsgott »erfülltes Drama« und schließt sich diesem Urteil in seiner Deutung an. Murray: Aischylos. S. 104. 184 Geisser: Götter, Geister und Dämonen. S. 19.

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dabei zeigt sich hier schon die Gleichheit der Gegner, die später in den Redepaaren (in denen die Gegner sich ergänzen) und vor allem bei den Brüdern sichtbar wird. Die Ambiguität des Gott/Daimon Ares wird auch in Verbindung mit Vers 114-15 deutlich: »Es wogt um die Stadt von Männern, helmbuschgeschmückt,/Ein Meer, durch des Kriegsgott Atem aufgewühlt«; zunächst wurde Ares um Schutz angefleht, hier ist er verantwortlich für das Meer der Angreifer. Das Chorlied endet nach einer Art Litanei der olympischen Götter wieder bei den Daimonen (Vers 174), auch hier werden sie eng mit der Stadt verknüpft: Während die Olympier vor allem mit ihren Attributen charakterisiert werden – durchbrochen von Flehen, Bitten und Klagen –, werden die Daimonen, die »als Schutzherrn ringsum umschreitend die Stadt« (Vers 175) beschrieben werden, daran erinnert, »was das Volk [ihnen] geweiht« (Vers 177). Ex negativo wird diese enge Verbindung der Daimonen mit der Stadt auch an der nächsten Stelle deutlich, an der sie auftreten. Der Chor spricht von den Daimonen, die er angefleht hat (Vers 211), die Antwort des Eteokles lautet: »Ist das der Götter Sache nicht? Es heißt ja doch,/Die Götter gingen nach dem Fall der Stadt davon« (Vers 217-18). Die Götter können die Stadt verlassen, nicht die Daimonen, denn sie sind ein Teil der Stadt. Ein weiteres Mal tauchen die Daimonen in diesem Streitgespräch des Chores mit Eteokles auf, dort wird von der »Götter [Daimonen] Stamm« (Vers 236) gesprochen. Es erschließt sich nicht direkt, warum hier die Daimonen und nicht die Theoi verwendet werden, doch wird hier die Huldigung der Daimonen durch den Chor auch von Eteokles anerkannt: »Verargt nicht sei’s dir, daß der Götter [Daimonen] Stamm du ehrst.« (Vers 236). Eteokles, der im Verlauf der vorhergehenden Auseinandersetzung mit dem Chor dessen Position ablehnend gegenüber stand, akzeptiert die Verehrung der Daimonen, denn auch er ist sich der Relevanz des daimonischen Wirkens für sein eigenes Handeln und das Schicksal der Stadt bewusst – diese Verbindung hatte er gleich zu Anfang hergestellt. In den Redepaaren taucht der Daimon im vierten (symmetrisch dem mittleren) Redepaar auf, dies wird im Abschnitt über die Redepaare behandelt. Danach taucht der Daimon, nun vor allem der eine Daimon der beiden Brüder, erst wieder auf, nachdem offenbar geworden ist, dass die beiden Brüder sich am siebten Tor begegnen werden. In der Diskussion über den Fluch und die Frage, ob sich Eteokles dem Kampf stellen soll, findet der Chor folgendes Bild: »Jetzt steht er noch vor dir; des Dämons185 stürmischer Mut/Kann umschlagen ja in günstger Stunde und/Im Wechsel kommen dann mit sanfterem Hauch,/Während er jetzt in Wut schnaubt« (Vers 705-708). In dieser Stelle findet sich auch die Metapher des Sturms für das Wirken des Daimons wieder, wenn also die explizite Bezeichnug Ares’ als Daimon noch nicht reicht, kann man auch durch diese identische Metapher für das

185 Es fällt auf, dass an eben dieser Stelle δαίµων zum ersten Mal nicht mit Gott, sondern mit Dämon übersetzt wird.

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Wirken die Gleichsetzung belegen. Diese Stelle setzt rückwirkend auch die Seemannsmetaphern in der ersten Rede des Eteokles in einen anderen Kontext. Es handelt sich nicht nur um eine einfache Metapher für das Lenken des Staates, sondern der Wind, der das Meer aufwühlt, auf dem Eteokles das Staatsschiff lenken muss, ist das Wirken des Daimons. Auch in der Windmetapher wird die Ambivalenz des Daimon deutlich, seinem Wirken kann man sich entgegenstellen, wie der gute Seemann dem Sturm, gleichzeitig ist man dem Wirken dennoch weiter ausgesetzt. Eteokles könnte entscheiden, jetzt nicht in die Schlacht zu ziehen, er könnte sich seinem Daimon widersetzten und damit dessen Wirken verändern, doch gleichzeitig treibt dieser Daimon ihn in die Schlacht. In Vers 653, an der Stelle, die oftmals als Bruchstelle interpretiert wude, bricht der Fluch und der Daimon durch Eteokles hindurch und er klagt – wenn auch nur kurz.186 Doch auch hier tritt in der Rede des Eteokles eine Opposition zu Tage, das Klagen verbietet er sich selbst, um keine weitere Not zu erzeugen. Er fügt sich keineswegs allein dem Fluch und dem Daimon, sondern zieht in den Kampf, um zu siegen, und das gleichermaßen aus seinem eigenen Willen heraus, wie die Rede zeigt, in der er seine Entscheidung gegenüber dem Chor immer wieder verteidigt. Damit wird das Wirken des Fluches jedoch wieder verstärkt. Das Umschlagen und der Wechsel sind nicht als ein Entweder-Oder zu verstehen, sondern als ein Ausschlagen nach der einen oder der anderen Seite, die dem Daimon beide innewohnen und die einander trotz ihrer Widersprüchlichkeit verstärken können. Nachdem die Brüder sich gegenseitig erschlagen haben, wird dies vom Chor als Wirken eines Daimons verstanden: »So schuf ein Dämon beiden allzu gleiches Los« (Vers 812). Beide Männer, die Kriegsfeinde, die Gegner, die Brüder, zwei Könige einer Stadt, werden in einem und von einem Daimon endgültig miteinander vereint; so kann es dann auch heißen: »Es ruht der Dämon« (Vers 960). Doch er ruht nur, er ist nicht verschwunden oder besiegt. Der Fluch hat sich erfüllt, doch der Daimon ist, wenn auch nur in ruhendem Zustand, weiterhin anwesend. Denn die Stadt, die von dem Daimon bedroht wurde, der gleichzeitig aus ihr stammte und ihr auch Schutz gewährte, hat den Sturm des Krieges überstanden. Der daimonische Schutz der Stadt ist weiter vorhanden, wenn nicht gar verstärkt. In der Chorpartie ab 820, in der die Doppelstruktur auch formal thematisiert wird (dazu im Abschnitt über den Chor), kommen die Daimonen als Schutzgötter, die die Stadt, ebenso wie Zeus, vor dem Untergang gerettet

186 »O gottverblendet, von Götterhaß schwer heimgesucht, O allbeweintes, mein – des Oidipus – Geschlecht! Weh mir, des Vaters Flüche werden nun erfüllt! Doch Weinen nicht noch Jammern ziemt sich jetzt, daß nicht Erzeugt uns werde lästigerer Klagen Not.« (Vers 653-57)

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haben parallel zum Flehen am Anfang vor. Das Flehen findet sein Komplement im Danken für die Errettung der Stadt, doch ist auch dieses nicht eindeutig, denn durch die daimonischen Mächte ist nicht nur die Stadt gerettet worden, der Daimon hat auch auf einer anderen Ebene gewirkt. Dieses andere Wirken des Daimon in Verbindung mit der Ara der Labdakiden wird in den Halbchören unter Führung der Schwestern Antigone und Ismene thematisiert.187 Werner übersetzt gleich »Fluch«, anstatt Daimonen, um die Verbindung zu verdeutlichen. Auch Ares kommt in dieser Klage in seiner daimonischen Funktion noch einmal vor (Vers 910). So werden hier die Aspekte, die in den anfänglichen Klagen des Chors in Bezug auf die Stadt vorkamen, auf die Brüder bezogen. Am Ende des Stückes werden die Brüder als »von der Macht Ates Gottgeschlagene« [im Griechischen die Daimonen] (Vers 1001) bezeichnet. Die Ate188, die Verblendung, der Frevel, die Taten der Brüder, also das menschliche Handeln werden hier am deutlichsten an den Daimon gebunden. Der Daimon durchzieht das Stück auf mehreren Ebenen und verbindet so die unterschiedlichen Komplexe der Tragödie miteinander. Er verdeutlicht den Grundkonflikt der Tragödie, während er gleichzeitig umschlagen, wechseln, zwei Ebenen angehören und Gegensätze vereinigen kann. Die Brüder Das Brüderpaar Eteokles und Polyneikes stellt einen der zentralen Gegensätze des Stückes dar, dennoch ist nur Eteokles auf der Bühne zu sehen und auch der entscheidende Kampf zwischen den beiden wird nicht auf offener Bühne ausgetragen. Doch sind beide Brüder in ihrer Gegnerschaft immer vereint, so ist Polyneikes durch seine explizite Abwesenheit in Eteokles immer anwesend. Die Brüder sind in gewisser Weise der Daimon des jeweils anderen, während sie sich gleichzeitig einen Daimon teilen. Eteokles, der Anwesende Auch Eteokles vereint schon einen Gegensatz in sich und zwar den zwischen seiner Position im Labdakidengeschlecht – gemeinsam mit seinem Bruder ist er das letzte Glied in der Kette – und seiner Position als Herrscher der Stadt. Das Stück beginnt mit Eteokles, der im Prolog die Opposition zwischen Glück und Unglück der Stadt, zwischen Göttern und sich als Herrscher beschreibt: »Wenn’s nämlich gut uns ginge, Werk wärs eines Gotts;/Doch 187 »Weh, unseliger Fluch [im Griechischen die Daimonen] Weh, weh, Mord wider Mord Wirkender Todesfluch!« (Vers 892-94) 188 άτη a) Verblendung, Betörung, Betäubung b) Schuld, Frevel, Greuel c) Strafe, Unglück, Unheil, Leid.

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wenn, was nie geschehen mög Unheils [tyche]189 Schlag uns träf:/Eteokles einzig dann würd allwärts in der Stadt/Verflucht vom Volk in Chören rauschenden Gemurrs/Und Wehgeheuls« (Vers 4-8). Die Tyche wird hier also mit Eteokles, dem Herrscher, zusammengebracht. Als Mensch sollte er nur verantwortlich sein, für das, was er tut, doch in dieser Formulierung wird deutlich, dass er sich für die Tyche verantwortlich fühlt; dies hat wieder zwei Seiten, entweder versteht er seine Taten als Ausdruck der Tyche oder auch die Tyche kann von den Menschen beeinflusst werden: So wird auch diese Schicksalsmacht zwischen Göttern und Menschen verortet. Wie schon oben erwähnt, wird bereits im Prolog von Eteokles die Verbindung zwischen Ara, Stadt und Daimon hergestellt (Vers 69-77). Dennoch fügt er sich nicht dem vom Fluch zu erwartenden Unheil, sondern reagiert mit Vernunft auf die Klage des Chors. Er stellt sich selber von Vers zwei an als Steuermann des Staatsschiffes dar und wird vom Boten immer wieder als solcher angesprochen (z.B. Vers 62-64). Doch wie sich oben durch den Vergleich mit späteren Stellen gezeigt hat, ist der Sturm, in dem sich die Stadt befindet, ein Bild für den Krieg und dieser das Wirken eines Daimons; so wird bereits ganz am Anfang dieses Wirken immer präsent gehalten. Dennoch versucht Eteokles durch Vernunft und Besonnenheit, also durch sein eigenes menschliches Tun, das Schiff – die Stadt – zu retten. Dem Chor hingegen wirft er seine Klage und ständige Beschwörung der Götter vor, denn diese Passivität werde sie nicht retten, am deutlichsten in den Versen 253-54: »Chorführerin: Götter der Stadtburg gebt mich nicht in Sklaverei! Eteokles: Du selbst machst mich zum Sklaven und die ganze Stadt.«

Die Sklaverei ist im Griechischen die Tyche, die also vom Chor hier den Göttern zugeordnet wird, während Eteokles wiederum auch das menschliche Handeln, oder in diesem Fall das Nicht-Handeln, für die Tyche (mit-) verantwortlich macht. Nach den sieben Redepaaren ist endgültig deutlich, was schon zu Beginn von Eteokles ausgesprochen wurde: die Verbindung des Fluches mit dem Schicksal der Stadt. Kurz bevor Eteokles trotz allen Flehens des Chors in den Kampf geht, stehen zwei, sich wiederum auf den ersten Blick widersprechende, doch auch hier die doppelte Struktur des Schicksals deutlich machende Verse: In Vers 715 sagt Eteokles: »Den Sinn, geschärft zur Tat, stumpft mir dein Wort nicht ab.« und 719: »Ist’s gottgewollt, kannst du dem Unheil nicht entfliehen.« Das menschliche und das göttliche Handeln zugleich treiben ihn in den Kampf, seine Tat und der Wille der Götter, beides zusammen ergibt, auch wenn es hier nicht genannt wird, wieder das daimonische Handeln. 189 τύχη: 1. Zufall 2. Schicksal, Schickung, Fügung a) Unglück, Missgeschick b) Glück, Heil, Erfolg.

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Polyneikes, der Abwesende Während Eteokles bis zu seinem endgültigen Abgang nach Vers 719 mit Ausnahme der Chorlieder immer auf der Bühne ist, ist Polyneikes nie zu sehen. Als der Bote zum siebten Tor kommt, berichtet er von Polyneikes: »Welch ein Los/Er auf die Stadt herabwünscht unter wildem Fluch [tyche]« (Vers 632-33). Also auch Polyneikes steht unter dem Einfluss der Tyche und beeinflusst sie gleichzeitig, da er das Schicksal der Stadt und des Bruders in seinem Sinn durch sein Handeln besiegeln will. Er scheint laut Bericht des Boten schon zu wissen oder zu wünschen, dass er seinem Bruder am siebten Tor begegnen wird. Auch die von ihm berichteten Hoffnungen auf den Kampf weisen schon deutlich auf die Doppelstruktur hin, es wird immer gegenübergestellt: »will er sich/Dir stellen, dich erschlagen, fallen neben dir,/Doch lebst du, dich, der durch Verbannung ihn entehrt,/Auf gleiche Art entgelten lassen diese Schmach« (Vers 635-38). Der Frevel des Eteokles, Polyneikes aus der Stadt verbannt zu haben, wird hier deutlich. Auch Polyneikes’ Schild zeigt »ein doppelt Wappen« (Vers 643); auf dem Schild nimmt er für sich die Gerechtigkeit, die personifizierte Dike in Anspruch, die ihm zu seinem Recht verhelfen soll. Auf diesen Anspruch der Gerechtigkeit antwortet Eteokles, indem er dem ihm vorgeworfenen Frevel, den Frevel des Bruders, den Angriff auf die eigene Stadt (Vers 668) entgegenstellt, so ergänzen sich auch die beiden Frevel der Brüder. Der eine frevelte gegen die Familie, der andere gegen die Stadt, beide gegen daimonische Wirkungen, während sie gleichzeitig unter daimonischem Einfluss handeln. Dass Dike, die Gerechtigkeit, zum Sieg verhelfen kann, wird von keinem bestritten, doch jeder glaubt sie auf seiner Seite. Auch Dike ist nicht eindeutig zu zuordnen, sondern jeder der beiden hat durch den doppelten Frevel Anspruch auf sie. Den Beschluss, sich selbst dem Bruder zu stellen, begründet Eteokles in absoluter Symmetrie: »Herrscher dem Herrscher, Bruder meinem Bruder, Feind/Dem Feinde« (Vers 674/5). Während also Polyneikes optisch auf seinem Schild ein doppeltes Wappen hat, wird das Doppelte der gesamten Situation hier von Eteokles mit verbalen Mitteln noch einmal deutlich gemacht. Die Brüder gemeinsam: Zweikampf und Tod Die Gleichheit der Brüder und die gleichzeitige Ungleichheit, in der sie sich ergänzen, zeigen sich auch an einem Detail, das am Anfang erwähnt wird. Der Bote berichtet von einem Stieropfer, dass die Angreifer gebracht haben (Vers 43), ein eben solches Stieropfer verspricht Eteokles nach dem Sieg (Vers 276). Angreifer und Verteidiger sind so im gleichen Opfervorgang vereint und sind es auch wieder nicht, da der eine das Opfer vor dem Angriff bringt und der andere es für die Zeit nach dem Sieg verspricht. Über den Zweikampf der Brüder wird nur berichtet, auf der Bühne ist er nicht zu sehen. Während des Kampfes wird im Lied des Chors, das die Geschichte des Labdakidenfluches erzählt, in einer Vorausahnung schon davon

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gesprochen, dass das Töten des Bruders »selbstmörderisch«190 (Vers 734) sei. Den Bruder töten, heißt sich selber töten, denn ohne den einen ist der andere nicht ganz, so wie der Daimon nur durch seine doppelte Struktur bestehen kann und gleichzeitig doppelt wirkt. Die Doppelstruktur wird im Chorlied explizit thematisiert: »Zweifach die Ängste! Zweimal durch mannhafte Tatkraft Un-/heil: Brudermord! Zweifaches Todeslos: Gipfel des Leids!/Wie deut ich’s nur? – Daß Qual und Not an Hauses Herd längst saß« (Vers 849-51). Das Unheil, das sich doppelt erfüllt, kommt aus dem Inneren und war schon immer da, der Daimon des Hauses, dessen Mittelpunkt der Herd ist, wirkt hier. Haus und Herd verweisen auf die alte Ordnung der Familie und des Clans, dort konnte sich der Daimon auch in der Polis entwickeln. Auch formal wird hier eine sich ergänzende Struktur durch die Verwendung von Fragen und Antworten sichtbar. Am Ende steht über der Stelle, an der sich die Brüder bekämpften, das »Siegeszeichen Ates« (Vers 956). Vor der Ate hatte der Chor Eteokles gewarnt, bevor er in die Schlacht zog (Vers 687). Ate ist nicht nur mit dem Fluch verbunden, der durch das gesamte Geschlecht wirkt, sondern auch mit dem doppelten gegenseitigen Frevel der beiden Brüder. Auch hier wird die Ebene des göttlichen Willens und des menschlichen Tuns wieder miteinander vereinigt, und in dieser Gleichzeitigkeit des Todes kann der Daimon ruhen, wie es direkt im Anschluss gesagt wird. Die Redepaare Die Redepaare sind an zentraler Stelle der Tragödie zu finden, dabei ist es offensichtlich, dass die Paare sich jeweils ergänzen. Schon die Zuteilung der Gegner findet nach einem zweigeteilten Modus statt: Die Angreifer losen aus, wer welches Tor angreift (Vers 55-56), sie überlassen die Entscheidung also einer höheren Macht. Doch im letzten Redepaar über Polyneikes wird gesagt, dass er sich seinem Bruder am letzten Tor entgegenstellen will (Vers 632-638), also eine eigene Entscheidung getroffen hat. Jedoch steht er dabei unter dem Einfluss der Tyche, die ihrerseits eine ambige Struktur aufweist, wie oben bereits erwähnt. Eteokles hingegen wählt seine Krieger selber aus, diese Entscheidung ist also eine menschliche. Es ist unklar, ob er die Krieger an die Tore verteilt, bevor oder während der Bote die Angreifer beschreibt. Im Verlauf der Redepaare macht es den Eindruck, dass er jedem Angreifer den passenden Verteidiger zuteilt, doch bereits vor dem Chorlied geht er mit den Worten ab: »Ich will nun gehen; sechs Kämpfer, mich als siebenten,/Dem Feind als Widersacher von machtvoller Art/Stell ich an un-

190 »Und wenn sie, selbstmörderisch, Selbst sich zu Tod treffend, fallen« (Vers 734-35)

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serer Festung sieben Toren auf« (Vers 282-84).191 Wenn er die Krieger vor dem Bericht des Boten über die Gegner festgelegt hat, dann ergänzen sich die Gegner auch durch eine Fügung des Schicksals und nicht durch Eteokles’ taktische Entscheidung. Die Entscheidung ist also wieder eine doppelte: die des Loses, der Götter und die des Menschen Eteokles, wenn auch in beide Teile die jeweils andere Komponente hineinspielt und zwar durch die Unklarheit, ob die Gegner von Eteokles vorher schon festgelegt wurden, sowie durch die willentliche Entscheidung des Polyneikes. Alle Angreifer haben auf ihren Schilden Bilder, die auf Tod und Vernichtung hinweisen und ihren Willen die Stadt zu vernichten bildlich verdeutlichen.192 Dafür hier ein kurzes Beispiel: Der fünfte Krieger führt die Sphinx auf seinem Schild (Vers 541), die Sphinx verweist auf Ödipus, der ihr Rätsel löste, damit die Stadt Theben von ihr befreite, so König wurde und damit das eigentliche Unheil, die Erfüllung des Labdakidenfluches zurück in die Stadt brachte. Auch die anderen Schildsymbole sind ebenso ambivalent und auch der Wille der Kämpfer, die Stadt um jeden Preis zu vernichten, ist nicht immer gleichbedeutend mit dem Götterwillen, der sich ihnen offenbart hat. In der ersten Replik Eteokles’ wird wiederum Ares, der Kriegsgott mit den daimonischen Zügen, als eigentliche Entscheidungsmacht des Kampfes genannt: »Den Erfolg bestimmt Ares im Spiel« (Vers 414). Daran schließt jedoch sogleich die Pflicht zum Schutz der Heimat an, die hier durch die Mutter symbolisiert wird. Obwohl der Kampf scheinbar nur ein göttliches Spiel ist, besteht die Pflicht, nach menschlichen Regeln zu handeln und die Stadt zu beschützen. Der Krieger hier im ersten Redepaar entstammt einem Kriegergeschlecht193, das von Ares verschont wurde, also seine Existenz wieder dem Gott des Krieges verdankt (Vers 412-413). An dieser Stelle findet auch eine nachzuvollziehende Gleichsetzung der Heimaterde mit der Stadt als Mutter statt. Obwohl der Krieger »von erdgesäten Männern« (Vers 413) abstammt, also in diesem Sinn keine Mutter außer der Erde hat, muss er nach »Recht und Pflicht« (Vers 415) seine »Mutter« (Vers 416) schützen, damit ist also die Heimaterde gemeint. Die Eltern-Kind-Beziehung wird hier sinnbildlich für die Beziehung zwischen der Stadt und ihren Einwohnern verwendet, später wird sie noch für die Beziehung zwischen Herrscher und Stadt verwendet werden (s.u.) – somit ist selbst dieses einfache Bild ambig. Ares, der unberechenbare daimonische Gott, kommt in den Beschreibungen der meisten Krieger vor, auch tun sich immer wieder Differenzen zwischen

191 Also auch Eteokles hat sich selbst, ebenso wie sein Bruder Polyneikes, von vornherein für das siebte Tor vorgesehen. 192 Eine genaue Analyse der Schilde findet sich bei Vidal-Naquet, Pierre: The Shields of the Heroes. In: Vernant & Vidal-Naquet: Tragedy and Myth in Ancient Greece. S. 120-149. 193 Angespielt wird hier auf die Legende von Kadmos, der Drachenzähne säte, aus denen Krieger wuchsen.

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göttlichem und menschlichem Willen und Handeln auf: Im ersten Redepaar ist von ungünstigen Opfern die Rede (Vers 379), im zweiten heißt es, »ob’s die Gottheit wolle oder nicht« (Vers 427) und im dritten Redepaar besagt die Inschrift des Schildes des Angreifers: »Nicht Ares selber stürze ihn herab vom Turm« (Vers 469). Die Gefahr geht also von den Menschen, den Kriegern, aus, denn wenn sie sich an den Opferspruch hielten – zu Beginn hatten sie die Götter mit dem Opfer noch beschworen – und nicht angriffen, wäre die Stadt gerettet. Im vierten Redepaar, dem mittleren, tauchen die Daimonen wieder auf. Eteokles spricht von der »der Götter [Daimonen] Freundschaft« (Vers 515), die er hier spürt, da der Schild des Gegners den von Zeus besiegten Typhon zeigt und er dies als Vorausdeutung auf den Sieg Thebens deutet. Die Daimonen sind hier also wieder zwischen den Göttern – die Zeus repräsentiert – und den Menschen, denn der Kampf muss dennoch zwischen den Menschen ausgetragen und gewonnen werden. Im Einwurf des Chores wird jedoch geradezu entgegengesetzt Typhon als »erdentstiegener Dämon« (Vers 522-23) bezeichnet, dieser sei »verhasst sterblichen Menschen wie/Immerfortlebenden Göttern« (Vers 523-24). Der Daimon wird hier also in Opposition zu sowohl Menschen als auch Göttern als chtonische Macht verstanden, darauf verweist das »erdentstiegene«, damit wird auf das todbringende Element verwiesen, das auch zum Daimon gehört. Das Wirken des Daimons, in der Windmetapher verdeutlicht, ist für den Krieg verantwortlich, diese Wirkung ist göttlich und von Menschen abhängig zugleich, doch dadurch eben auch unberechenbar. In seiner ambivalenten Wirkung wird er oftmals nicht verstanden und als umso bedrohlicher wahrgenommen; diese Bedrohlichkeit drückt sich auch in der chtonischen Konnotation des Daimons aus. Also ist auch diese Stelle, die für Eteokles eigentlich die Gewissheit des Sieges zeigen sollte, nicht ohne Ambivalenzen. Im fünften Redepaar taucht daraufhin die Sphinx auf, deren Bedeutung bereits oben als Beispiel für die ambivalenten Symbole und Vorausdeutungen auf den Schilden angesprochen wurde. Die Redepaare lassen sich entweder um das vierte Redepaar als Mittelpunkt oder als Linie hin zum siebten Paar strukturieren. Das vierte Redepaar, in dem der Daimon wieder auftaucht, birgt, wenn auch nicht unambivalent, den Umschlag in die Gewissheit, dass Theben siegen wird – wie es sich auch bewahrheiten wird. Die lineare Bewegung zum siebten Paar zielt auf die Erfüllung des Fluches, der Ara, im Brüderkampf – auch das wird wahr werden. Beide Bewegungen machen das Stück aus und widersprechen sich damit nur scheinbar.

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Der Chor Der Chor ist in den Sieben gegen Theben ein echter Mitspieler der Tragödie, wenn Eteokles der Protagonist ist, so ist der Chor – zumeist verkörpert von der Chorführerin – der entsprechende Antagonist. In den Liedern des Chors werden zudem wichtige Verbindungen für die Interpretation, wie die Bezeichnung Ares’ als Daimon, hergestellt. Gleich zu Beginn stellt der Chor die entgegengesetzte Haltung zu Eteokles dar. Nach dessen besonnener Rede im Prolog, in der er die Gefahr erkennt, sich ihr dennoch rational entgegenstellt, folgt die Parodos des Chors, in dem die Frauen klagen und die Götter des Olymp sowie die Daimonen der Stadt in ihrer Angst anrufen. Schnyder spricht von einem Gebetslied, das »aus den Fugen geraten« sei, es handle sich um »die Abwandlung des Kompositions- und Choreographieschemas einer Tragödienparodos zur Darstellung von Panik.«194 Der Chor ist hier die Verkörperung der Stadt, die der Verkörperung des Labdakidenfluches – Eteokles – entgegensteht, beide gehören nun aber wieder eng zusammen, denn der Fluch, der auf Eteokles lastet, droht die Stadt zu vernichten und die Stadt ist der Schutz des Eteokles vor den Feinden. Zudem sind die Labdakiden die legitimen Herrscher Thebens. Zu Beginn verkörpert der Chor das absolute Vertrauen auf die Lenkung des Schicksals durch die Götter, denn nur diese – glaubt er – können die Entscheidung bringen. So formuliert der Chor auch in der ersten Auseinandersetzung mit Eteokles: »Durch Göttergunst nur bleibt die Stadt uns unbesiegt« (Vers 233). Eben dieses alleinige Vertrauen auf das Wirken der Götter teilt Eteokles nicht, er setzt in seiner Replik die Daimonen an die Stelle der Götter. Damit zeigt er die Verbundenheit des Schicksals der Stadt auch mit Entscheidungen der Menschen und dem Fluch, denn mit beidem stehen die Daimonen und der eine Daimon in Verbindung, wie oben gezeigt wurde. Der Chor als Stadtvolk verkörpert zudem die Furcht vor dem Krieg und dem damit verbundenen sehr konkreten Schicksal der Kriegsgefangenen – eine Erfahrung, die den Athenern im Publikum nicht fremd war. Damit gibt der Chor in seinen ersten Liedern dem Volk eine Stimme und damit paradoxerweise auch der menschlichen Emotion. Eteokles, die individuelle Figur, hingegen ist kein Charakter wie man ihn heute verstehen würde und bietet deshalb keine Anknüpfungspunkt für Emotion oder Identifikation. Dem Chor mag es eben in seiner kollektiven Emotionalität gelungen sein auf das

194 Schnyder: Angst in Szene gesetzt. S. 66. Ähnlich argumentiert auch Morenilla Talens, Carmen: Wiederkehrende Strukturen und ihre Durchbrechung in der griechischen Tragödie (Aischylos, Sieben gegen Theben; Sophokles, König Oidipus). In: Zimmermann (Hrsg.): Griechisch-römische Tragödie und Komödie II. S. 95-104, vor allem S. 98-100. Hier wird auch auf das Szenenhafte des »Liedes« hingewiesen.

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Kollektiv des Publikums zu wirken und so eine Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum zu schaffen. Im Verlauf der sieben Redepaare macht der Chor immer wieder Einwürfe, die auf die Rettung der Stadt abzielen, im vierten Redepaar bringt der Chor wiederum Typhon mit einem Daimon in Verbindung (s.o.), so wechselt der Chor ständig zwischen seinen beiden Positionen: einerseits in der Handlung des Dramas als Mitspieler und andererseits auf der abstrakteren Ebene als Kommentator, wobei auch diese Ebene immer in den Handlungsrahmen eingebunden bleibt. Ebenso wie sich nach der Anagnorisis in Eteokles mehr die andere Seite seiner Figur zeigt, ändert auch der Chor seine Position (ab Vers 677); nun kann er Eteokles als »Kind« (Vers 686) ansprechen, während Eteokles vorher in seiner Herrscherrolle eher eine Vaterfigur für den Chor war. Die Stadt ist Kind des Herrschers, doch ist gleichzeitig auch der Herrscher Kind der Stadt, diese Ambiguität ist die Grundlage einer legitimen Herrschaft. Dem korrespondiert die Gleichsetzung der Stadt mit der Mutter, die bereits oben beschrieben wurde. Während des Zweikampfes der Brüder begründet der Chor den Kampf der Brüder – der draußen vor der Stadt zeitgleich stattfindet – mit dem Labdakidenfluch, also der Vergangenheit. Gleich zu Beginn wird die »Erinys« des Vaters, die Verkörperung des Fluchs, der Ara195, als Grund für den Kampf genannt.196 Doch auch diese Verkörperung des Fluches und somit der Fluch selber ist göttlich und menschlich zugleich, die Erinys ist »Göttin, nicht Göttern gleichend« und ihr Wirken ist zurückzuführen auf den Fluch des Oidipus, den direkten Fluch vom Vater auf die Söhne. In den folgenden Strophen des Liedes wird die Geschichte des gesamten Geschlechterfluchs präsent gehalten. Die Vergangenheit, die bis in die Gegenwart wirkt, wird so auch räumlich vor die Gegenwart gestellt. Der Kampf ist nicht zu sehen, doch durch die Erzählung der Vergangenheit durch den Chor in der Gegenwart ist die Zukunft, der Ausgang des Kampfes bestimmt. Zwar spricht der Chor dies nur in einer Befürchtung aus: »Ich hab Furcht,/Daß ihn vollstreckt raschen Schritt Erinys« (Vers 790-91), doch ist dies eher drama-

195 Die Identifikation der Erinys mit der Ara findet sich auch bei Geisser: »In den Sieben gegen Theben ist die Erinys nicht eine Rächerin vergossenen Blutes, sondern eine aus dem Fluch des Oedipus erwachsende und ihn zur Erfüllung bringende Macht.« Geisser: Götter, Geister und Dämonen. S. 221. 196 »Göttin nicht Göttern gleichend, wahrhaft Allen Leids Unheilsprophetin – Die Erinys ihrer Vaters, zu vollziehen zornigen Fluch, den Einst voll Grimm Oidipus sprach, sinnesgestört. Söhnevertilgender Zwist treibt her sie.« (Vers 721-26)

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turgisch zu verstehen, um die Spannung für den nun folgenden Auftritt des Boten zu halten. Der Chor macht im Dialog mit dem Boten das Wirken des einen Daimons der beiden Brüder für deren Tod (Vers 812) und gleichzeitig die Daimonen der Stadt, ebenso wie Zeus, für die Rettung der Stadt (Vers 821) verantwortlich. Hier werden also die positiven und negativen Auswirkungen des Wirkens einer Kraft direkt nebeneinander gestellt. Doch in beiden Fällen waren es nicht nur die Götter, die für den Ausgang des Geschehens verantwortlich waren, sondern auch beider Brüder Frevel und Entscheidung. Die Stadt wurde laut Bericht der Boten durch die Mauern und die Kämpfer an den Toren gut geschützt (Vers 795-99) – Eteokles hat also seine Verteidiger richtig gewählt – oder die Götter haben die für Theben richtigen Paare zusammengestellt. Nachdem die Schwestern Antigone und Ismene aufgetreten sind197, teilt sich der klagende Chor in zwei Halbchöre (ab Vers 820). Hier wird das doppelte Schicksal der Brüder, das nur eines ist, von einem doppelten Chor beklagt, der das ganze Stück über nur einer war. In dieser Umkehrbewegung wird das Zweifache optisch und akustisch verdeutlicht, in der Symmetrie der beiden Hälften wird die Gleichheit gezeigt. Im Doppelgesang wird diese ambige Struktur explizit thematisiert, es wird vom »Zwiespältig-eingen Sinn« (Vers 898) der Brüder gesprochen, der wechselseitige Mord ist dabei die Erfüllung ihres Schicksals, in dem sie wieder zusammenfinden können: »In blutger Erde/Ist beider Leben nun gemischt; ganz sind sie eines Blutes« (Vers 939-40). Der Chor endet diesen Doppelgesang und damit seine Präsenz im Stück mit den Worten: »Es ruht der D[ai]mon« (Vers 960). Die unterschiedlichen Boten Im Stück sind zwei Kundschafter zu finden, die zwei verschiedenen Sphären angehören. Auch in diesem für die attische Tragödie charakteristischen Element des Boten-(Berichts) wird die Ambivalenz thematisiert. Eteokles’ Kundschafter ist der Bote, der Mensch, der ihm – und den Zuschauern – die Nachrichten aus dem Lager der Feinde bringt. Auch die Gegner haben Kundschafter in Form des Sehers, auf deren Rat sie dennoch nicht hören (s.o.). Diese Kundschafter sollen nicht die Taten von Menschen offen legen, sondern den Willen der Götter. Doch auch Eteokles hat seinen Seher befragt, gleich zu Beginn, im Prolog spricht er – noch bevor der Bote auftritt und seinerseits davon erzählen kann – wie er vom Aufmarsch der Feinde erfahren hat: »Er also, Meister in all solcher Weissagung,/Tut kund, ein mächtger Vormarsch der Achaierherrs/sei nachts beschlossen und ein An-

197 Die Schwestern Antigone und Ismene sind kein echtes Gegensatzpaar, sie übernehmen am Ende die Positionen der Chorführerinnen in den Halbchören, sie kommen kaum als Figuren vor, sondern erfüllen vor allem die Funktion als Schwestern ihrer Brüder zu betrauern, also einem Prinzip der Familie zu entsprechen.

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sturm auf die Stadt.« (Vers 27-29). Hier finden sich sowohl Übereinstimmungen als auch widersprüchliche Ergänzungen. Die Wirkung der Affekte auf das Publikum Über die Wirkung kann selbstverständlich nur spekuliert werden; das Stück weist viele Oppositionen und Ambiguitäten auf, die bei der Aufführung vom Zuschauer auf Grund der Situation, der immer fortschreitenden Zeit, der Schnelligkeit und der anderen Elemente, die eine Theateraufführung als spezifisches, nicht festhaltbares Ereignis konstituieren, nicht so genau analysiert werden können wie an einem Text. Dennoch sind die Ambiguitäten so deutlich, dass sie zumindest an einigen Stellen auch von den Zuschauern wahrgenommen worden sein sollten; manchmal sehr direkt, z.B. in Vers 653, der Klage des Eteokles, oftmals subtiler. Auch der Chor sorgt immer wieder für Verbindungen zwischen Publikum und Bühne, wie oben an konkreten Beispielen gezeigt wurde. Einzelne Momente der Handlung können bei den Zuschauern ebenso Erinnerungen an parallele Ereignisse der eigenen Geschichte wecken – so vermischen sich auch hier die mythische und die geschichtliche Zeit. Da der Mythos als solcher ein gemeinsames und wahrscheinlich vorauszusetzendes Element ist, können eben solche Momente der Handlung besonders stark wirken. So konnten sich Räume des ›Dazwischen‹ auftun, in denen die Wirkung von der Bühne auf das Publikum übergehen konnte. Am Ende heißt es im Stück »ruht der Daimon«, dieses Bild kann sich möglicherweise auch auf die Katharsis und die Affekte beziehen lassen, ohne die ewige Frage von der Reinigung von oder durch die Affekte definitiv beantworten zu müssen. Die Affekte ruhen ebenfalls, sie sind nicht vergessen oder verschwunden, aber sie sind auch nicht mehr unmittelbar bedrohlich. So erfüllt die Tragödie an dieser Stelle auch ihre Funktion in der Polis. Die Bürger erfahren durch das gemeinsame Erlebnis im Theater und das Durchleben der Affekte einen Ausgleich, eine Ruhe, die für den Staat, der versucht, sich in seinen neuen Elementen zu etablieren, notwendig ist. Doch die Wirkung beschränkt sich nicht auf das Kollektiv; durch die Offenheit des Mythos, sowie die Zeitlichkeit der Tragödie und den daimonischen Raum wirkt die Tragödie auch auf jeden einzelnen Zuschauer. Diese Wirkung ist nun selbstverständlich nicht mehr zu rekonstruieren – und im übrigen auch bei einem heutigen Theaterzuschauer schwerlich zu erfahren – doch ist eines der Elemente, die in dieser Wirkung zentral waren, eben die Entwicklung des Bewusstseins, die »Entdeckung des Geistes«, die Schulung des Urteilsvermögens und das Infragestellen, die Reflexion. Eben diese Elemente der Polis-Kultur des fünften Jahrhunderts wurden im einleitenden Teil vorgestellt. An Tragödienaufführungen, zumal in ihrer zentralen Position in der Polis, wurden diese so auch entwickelt. Die Tragödie schafft sich ihr eigenes Publikum, was sie nur kann, wenn dieses paradoxer- (oder ambiger-)weise sich mit ihr im gleichen daimonischen Raum befindet.

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»D ENK ’:

AUF DER GEHST DU JETZT «

S CHNEIDE DER T YCHE – S OPHOKLES : A NTIGONE

Während die Sieben gegen Theben die Ambiguitäten offen zeigten und der Daimon immer wieder explizit zu finden war, wird in Sophokles’ Antigone der Konflikt des Stückes weitestgehend immanent behandelt. So lassen sich auch die Ambiguitäten eher in der gesamten Anlage des Stückes als in einzelnen direkt aufeinander bezogenen Passagen finden, die Argumentation ist das Mittel der Figuren und auch das des Stückes. Die Frage, ob es sich um zwei gleichberechtigte Rechtskreise handelt, die hier kollidieren, wie es seit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik interpretiert wurde, gilt inzwischen als überholt. Abgelöst worden ist diese Interpretation von zwei Richtungen; die eine geht von einem ›Widerstandsdrama‹ aus, während die andere ein Fehlen gegen die göttliche Ordnung sieht.198 Die Frage, die in Antigone verhandelt wird, ist die des Rechts, und zwar auf beiden Seiten die des göttlichen Rechts: Sowohl Antigone als auch Kreon beziehen ihren Standpunkt auf göttliche Gebote. Das göttliche Recht hat mehrere Ausprägungsformen199: Staat – zumal die Polis – und Familie stehen unter seinem Schutz. Daran schließt sich auch die Frage an, zu welcher Loyalität der Mensch verpflichtet ist. Sowohl die Frage nach der Verantwortung für die eigene Tat, als auch der Übergang vom Familien- bzw. Clansystem, waren – wie in der Einleitung dargestellt – zentrale Punkte der ambivalenten Zeit, in der die attische Tragödie entstand. Doch wird hier nicht nur der Übergang von einem System zum nächsten gezeigt, sondern es werden auch die Gefahren deutlich gemacht, die mit einem solchen Übergang verbunden sind: die Verabsolutierung der Positionen – und zwar beider. In der Antigone wird die Situation »auf der Schneide der Tyche«, also die Frage nach dem Ausschlag des Schicksals, auf unterschiedlichen Ebenen durchgespielt. Die Götter setzen diesen Rahmen, in welchem die Menschen handeln. Schadewaldt spricht vom »Raum des Daimonisch-Göttlichen«200, in dem sich das Geschehen vollzieht. In diesem Raum spielen auch die Entscheidungen und persönlichen Dispositionen der Personen eine Rolle, denn Sophokles stellt echte Charaktere auf die Bühne, die sich in der Umwelt

198 Die Debatte bewegt sich zwischen den sogenannten ›hero-worshippers‹ und den ›pietists‹. Die Frage dabei ist die nach der Beurteilung des tragischen Helden, da hier aber nicht von einer Beurteilung einer Figur ausgegangen wird, sondern eben die Doppelstrukturen betrachtet werden, wird diese Debatte nicht ausgeführt. 199 Wichtig ist dabei auch die in der Einleitung erwähnte, nicht vorhandene Trennung zwischen Profanem und Sakralem. 200 Schadewaldt: Die griechische Tragödie. S. 252.

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bewegen, in der die Handlung stattfindet – wie diese beschaffen ist, wird vor allem vom Chor deutlich gemacht.201 Der Chor: der Mensch des ersten Stasimons als das »Ungeheuerste« in der daimonische n Umwelt Das erste Stasimon beschreibt die Situation des Menschen auf eindrucksvolle Weise. Es beginnt mit den höchst ambivalenten Worten: »Vieles ist ungeheuer, nichts/ungeheurer als der Mensch« (Vers 332/3).202 Utzinger weist auf die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Wortes »δεινά« hin. Zunächst hatte das Wort eine durchaus negative Konnotation, es bedeutete »furchtbar« und »schrecklich«, in Bezug auf Götter und Heroen wird es seit Homer mit Macht und Respekt in Verbindung gebracht, die negative Komponente bleibt jedoch im Hintergrund immer vorhanden.203 Das Wort »δεινά« kommt auch im Verlauf des Stückes, sowohl vor als auch nach dem ersten Stasimon, an verschiedenen Stellen vor. In diesen Zusammenhängen werden immer ambivalente Gedanken deutlich gemacht, die oftmals in der Übersetzung verloren gehen, da das gleiche Wort unterschiedlich (und immer interpretierend) übersetzt wird.204 Bevor Antigone geht, um Polyneikes zu begraben, nachdem sie sich von der Schwester losgesagt hat, sagt sie: »Doch laß mich nun in meinem unverständigen Sinn/dies Ungeheure leiden« (Vers 95-96). Was ihr passieren wird, ist ihr also hier bereits bewusst, doch durch das ambige Wort wird es sowohl als schrecklich als auch als groß gekennzeichnet. Antigones Tod, ebenso wie die Tatsache, dass sie durchaus Bewunderung für ihre Tat und den Lohn der Götter erfahren wird, werden hier vorausgedeutet. Der Wächter sagt über Antigones Tat, als er bei Kreon davon berichtet: »Ja, denn in große Angst versetzt das Schreckliche« (Vers 243). Indem die Tat auch von außen mit dem Wort »δεινά« beschrieben wird, gewinnt sie noch eine Komponente des Unheimlichen. Im Rückschluss, nachdem das Chorlied zu hören war, ist die Tat damit auch als menschlich – nicht im Sinne von human, sondern in Opposition zu göttlich – gekennzeichnet. Wohingegen der Chor zunächst fragte, »ob diese Tat nicht eine gottgewirkte« sei (Vers 279). Der Wächter, der ein ungewöhnlicher Wächter ist (s.u.), urteilt mit dem gleichen Wort auch über Kreon: »Wie schlimm, wer urteilt und ein falsches Urteil fällt« (Vers 201 Burton weißt darauf hin, dass in Antigone der Chor keiner der Personen zugeordnet werden kann und auch keine persönliche Beziehung zu einer der Personen hat. Burton: The Chorus in Sophocles’ Tragedies. 202 Die Zitate folgen der zweisprachigen Tusculum Übersetzung. Sophokles: Dramen. Griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Karl Beyer. München/Zürich 1985. 203 Vgl. Utzinger: Periphrades Aner. S. 30-31. 204 Im Folgenden werden die unterschiedlichen Wörter, die im griechischen Original alle δεινά lauten, kursiv gesetzt.

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323). Also auch Kreon ist nur ein Mensch, das Fehlen im Urteil ist somit umso mehr als eine Eigenschaft des Menschen gekennzeichnet, doch ist diese Tatsache furchterregend, auf Grund der Macht des Menschen und in diesem Fall auf Grund der besonderen Macht dieses Menschen. Die erwähnten Stellen befinden sich alle vor dem Chorlied, ihre Doppeldeutigkeit wird also erst im Nachhinein komplett deutlich, nachdem der Mensch als solcher mit den Worten »Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch«205 charakterisiert worden ist. Die folgenden Stellen finden sich nach dem Chorlied und nach der ersten Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon. Im Dialog zwischen Haimon und Kreon sagt Haimon: »Denn schrecklich ist’s dem Mann des Volkes, deinen Blick/fest zu erwidern« (Vers 690-91). Hier drückt sich einerseits der Respekt vor dem Herrscher und seiner Macht aus – die Konnotation von Respekt und Bewunderung hatten die homerischen Epen geprägt – gleichzeitig wird auch schon die Entscheidung Kreons charakterisiert, die wie das Chorlied gezeigt hat, nach seinem Willen, aus der selben Fähigkeit, die in eine gute oder böse Richtung ausschlagen kann, gefallen ist. Diese Entscheidung Kreons war eine zumindest übertriebene, so wie er auch seine Position – auch und vor allem im Gespräch mit Haimon – verabsolutiert. Durch die Entscheidung Kreons für diese Richtung verliert das Wort »δεινά« an Bedeutungskomponenten. Danach wird es von Antigone in ihrer Klage über Kreon verwendet: »Das gilt nun Kreon als verbrecherisches Tun,/als Frechheit unerhört« (Vers 914-15). Gemeint ist hier ihre Tat, doch sie beschreibt Kreons Meinung und ihm gilt die Tat, wie er zuvor deutlich gemacht hat, eindeutig als schlecht. Das Wort wurde gerade zuvor von Haimon in der Beziehung zwischen Bürgern und Herrscher gebraucht, Antigone bezieht es nun wieder auf ihre Tat, die Götter und die Toten der Familie zu ehren. Auch dieser zentrale Begriff »δεινός« ist auf beide Bereiche, den des Staates und den der Familie, anwendbar. In der Teiresias-Szene wird das Wort dann endgültig negativ verwendet, der Chor gibt zu bedenken: »Der Mann hat Furchtbares geweissagt, Herr, und geht« (Vers 1091). Darauf erwidert Kreon: »Hart ist es nachzugeben; doch im Widerstand/dem Unheil [Ate] zu erliegen hart und mehr als hart« (Vers 1096-97). In der »Erkenntnis«, die dazu führt, dass er sein Handeln ändert, erkennt er auch seine Fehlbarkeit und gleichzeitig die Fähigkeit, das Denken in die andere Richtung umzulenken, diese Fähigkeit des Menschen ist es, die ihn zum »δεινότατος«, zum Ungeheuersten macht. In den Strophen des Liedes werden die Errungenschaften der Zivilisation dargestellt, zunächst die Herrschaft über Meer, Land und Natur. In der zweiten Strophe ab Vers 353 wird auf das geordnete Zusammenleben der Menschen verwiesen; dafür zentral sind die Rede und das Denken (Vers 353-54), in der zweiten Antistrophe kommt dann noch die Kunst hinzu (Vers 349). An dieser Stelle folgt nun der Vers, der die Ambivalenz noch einmal genau zusammenfasst: »Kommt heut er auf Schlimmes, auf Edles morgen« (Vers

205 Hier die Hölderlin-Übersetzung.

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367). Beides ist in der Fähigkeit des Mensch vorhanden, er muss entscheiden, in welche Richtung er sich und seine Fähigkeit bewegt; dass auch diese Entscheidung keine eindeutige und einfache ist, wird in den folgenden Versen sofort klar: »Wer seines Landes Satzung ehrt/und Götterrecht schwurgeweiht,/gilt im Staate, doch nichtig ist, wem das Unrecht sich/gesellt hat zu frevlem Tun./Sitze nie an meinem Herd,/und sei im Bunde nie mit mir,/wer so handelt« (Vers 368-75). 206 Das Recht der Götter und der Staat werden hier erwähnt, sowohl der Staat im politischen Sinn, als auch die Familie, die durch den Herd des Hauses symbolisiert wird. Der Staat steht also zu beidem in Beziehung, Göttern und altem Familiensystem. Das Wort »δεινά« und das gesamte Chorlied formulieren die ambige Umwelt, das, was Schadewaldt den Raum des »Daimonisch-Göttlichen« genannt hat. Der Chor ist es auch, der den Auftritt Antigones direkt im Anschluss an das Lied ankündigt: »Als gespenstisches Blendwerk scheint es mir,/doch seh’ ich es:, wie könnt’ ich bestreiten,/daß dieses Mädchen Antigone ist« (Vers 376-78). Was hier als »gespenstisches Blendwerk« übersetzt wird (bei Schadewaldt heißt es »göttliches Schreckbild«), ist im Original »daimonisch« – aus der daimonischen Welt, die der Chor soeben beschrieben hat, kommt hier Antigone ganz unmittelbar. Burton weist auf die Opposition zwischen dem männlichen Relativpronomen am Ende des Liedes und dem sofort darauf folgenden Auftritt Antigones hin.207 Der Chor bringt diesen Aspekt des Irrationalen, den daimonischen Anteil der Welt auch noch in weiteren Chorliedern zur Sprache. WinningtonIngram argumentiert, dass in den Stasimonen drei, vier und fünf die Irrationalität, die er in Zusammenhang mit »madness«, also Wahn/Verrücktheit stellt, als Teil der Handlungsmotivation der Figuren vom Chor thematisiert werden.208 Doch Götter, die in diesen Chorliedern genannt werden, werden bereits in der Parodos angesprochen, in der es um die Stadt Theben geht, den äußeren Raum der Handlung. Es sind also nicht nur die Figuren, deren Handeln sicher einen weitestgehend verborgenen irrationalen Aspekt hat, der hier vom Chor an die Oberfläche geholt wird, sondern eben auch die Welt, das Spielfeld, in dem sich die Tragödie entfaltet. Zu Beginn der Parodos wird der Morgen gepriesen, der Neuanfang des Tages nach der Nacht, die das Dunkel des Krieges versinnbildlicht (Vers 100-104), doch nicht nur das Licht des Tages, sondern auch das »Augenlicht« (Vers 104) erstrahlt. Im Zusammenhang mit Theben evoziert das Augenlicht Ödipus und seine Verblendung bzw. Selbstblendung, also auch hier

206 Im Original werden die Begriffe »hypolis«, also über der Polis, und »apolis«, also gegen die Polis, verwendet. So werden die ambivalenten Fähigkeiten des Menschen auch direkt auf seine eigene Errungenschaft, die Polis, bezogen. 207 Burton: The Chorus in Sophocles’ Tragedies. S. 99. 208 Winnington-Ingram, Reginald: Sophocles and the irrational: three odes in Antigone. In: Ders.: Sophocles. An Interpretation. S. 91-116.

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schon das Wirken des Fluches. Im Folgenden wird die Stadt beschrieben und der Angriff des Polyneikes noch einmal in Erinnerung gerufen. Dabei wird Polyneikes mit einem Adler verglichen, dieser ist eigentlich ein Attribut des Zeus, somit werden hier das Wirken einer anderen Macht und der Missbrauch von Macht zugleich thematisiert. Im Chorlied wird das doppelte und sich dabei ergänzende Schicksal der Brüder erzählt: »Die zielten den Speer/aufeinander und teilten nach doppeltem Sieg/in gemeinsames Sterben sich beide« (Vers 145-47). Sieg und Sterben sind eines und zwar für beide. So wird das Wirken der Ara, des Geschlechterfluches, noch einmal in Erinnerung gerufen. Damit ist neben dem äußeren Rahmen auch der mythische Rahmen abgesteckt, also die daimonische Umwelt, dabei wird auch der mythische Hintergrund Thebens angedeutet und zwar im Bild des »unbezwinglichen Drachens« (Vers 126).209 Nachdem Zeus für die Bestrafung der Hybris, denn als solche ist das Prahlen der Angreifer zu verstehen, verantwortlich gemacht wurde (Vers 127), wird danach auch der Kriegsgott Ares als Schicksalsmacht genannt: Er hat den Kämpfern das Los, ihr individuelles Schicksal im Krieg zugeteilt (Vers 138-40). Das Lied schließt mit einem weiteren Gott, der klar daimonische Züge hat: mit Bakchos, also Dionysos. Die letzten Verse des Liedes vor Kreons Auftritt lauten: »Von Altar zu Altar/lasst uns im Tanzreigen die Nacht/durch uns ergehen! Theben erschütternd/Bakchos gebiete« (Vers 152-55). Der Gott der Ekstase, der Grenzüberschreitung, des Irrationalen und auch des Theaters steht hier an letzter Stelle, so werden die daimonischen Elemente im Stück wach gehalten. Das zweite Stasimon beginnt mit »ευδαίµονες« (Vers 583), also eudaimon, dem guten Wirken des Daimons: Glücklich sind die, die nicht unter einem Fluch stehen. Hier formuliert Sophokles aus dem Negativen heraus eine Idee; ein Merkmal seiner poetischen Sprache, das besonders oft beim Chor zu finden ist und auch ironisch verwendet wird. Das Wirken des Fluches wird hier einem Gott, einem Theos, zugeschrieben (Vers 584), doch gleichzeitig wird wieder ex negativo den Menschen die Fähigkeit zugesprochen, sich aus dem Fluch zu befreien: »Nie befreit ein Sproß diesen Stamm« (Vers 596). Also hätte er es gekonnt, der »der kein Erlösen kennt«, ist der Gott (Vers 596-97). Zeus, der oberste aller Götter, wird in seiner unendlichen Macht besungen und nun kommt auch der Chor auf ein göttliches Gesetz zu sprechen. Doch anstelle eines eindeutigen Gesetzes oder einer Parteinahme für eine der Positionen lautet das Gesetz, das als ein ewiges gekennzeichnet wird: »Es läuft nichts/im Menschengeschick jahrelang frei von Unheil [Ate]« (Vers 613-14). Das ist das göttlich bestimmte Umfeld, eine Schicksalsmacht, die zwar von den Göttern abhängig ist, aber von den Menschen in die eine oder andere Richtung gelenkt werden kann. Gerade das ist ihr Schicksal – und immer wieder auch ihr Unheil – zu entscheiden, in welche

209 Es handelt sich wieder um die Legende von Kadmos, der Drachenzähne gesät haben soll, aus denen dann die ersten thebanischen Krieger wuchsen.

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Richtung das Können gewendet wird, von den Göttern kommt die Fähigkeit und das Umfeld, deshalb hat jede Richtung ihr Recht, so beeinflussen die Menschen die daimonische Umwelt, in der sie handeln durch ihre Entscheidungen zusätzlich. Zudem nehmen die Götter weiteren Einfluss, indem sie eben diese Fähigkeit zur Entscheidung stören210, Ate heißt nicht zuletzt auch Verblendung. So entsteht ein komplexes und undurchschaubares, da von vielen Einflüssen abhängiges, Umfeld, in dem die Menschen handeln. Das dritte Stasimon, das sogenannte Eroslied, folgt auf die Szene zwischen Haimon und Kreon. Nachdem bisher immer nur davon gesprochen wurde wie die Menschen – die einzelnen, das Argeierheer und auch die Menschen im Gegensatz zu den Göttern – besiegt wurden, wird nun eine Macht genannt, die immer im Kampf siegt (Vers 781). Eben diese Macht, Eros, ist eine Macht, vor der Menschen und Götter gleich sind: »kein unsterblicher Gott kann dir entrinnen/dir keiner der Eintagsmenschen« (Vers 788-89). Die Sphäre des Daimonischen ist nicht nur sowohl von Göttern und Menschen beeinflusst, sondern ist wie in diesem Fall auch die Sphäre, in der Götter und Menschen gleich sind, wenn auch gleich machtlos, das zeigt hier ganz konkret der Eros. Das Lied thematisiert somit nicht nur die andere Seite von Haimons Gründen211, denn er hat im Gespräch mit Kreon immer mit der Politik und der Vernunft argumentiert, sondern auch das überpersonelle Prinzip. Hier wird das Recht ausgesetzt, zumal das von einem Menschen erlassene (Vers 798). Das vierte Stasimon stellt mythische Parallelen zu anderen Frauen her. Diese sind an vielen Stellen sehr oberflächlich.212 Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie des »Schicksals ew’ge[n] Mächten« (Vers 987) ausgeliefert sind, sich also in einem eben solchen Raum bewegen, wie die AntigoneHandlung. Sowohl Ares als auch Dionysos werden in diesem Lied, wenn auch beiläufig, wieder erwähnt. Das fünfte Stasimon ist ein Lobgesang des Bakchos, also auf den Gott, der schon zu Beginn, in der Parodos, als thebanischer Stadtgott angerufen wurde. Auch hier ist das Thema Ekstase und Entgrenzung. Die ganze Stadt soll davon erfüllt sein, der Chor geht zu diesem Zeitpunkt von einem glücklichen Ausgang aus, so dass der ganze daimonische Raum nun – wenn auch nur kurzfristig – von der positiven Seite der Grenzüberschreitung besetzt sein soll.

210 »Wem ein Gott den Geist [Ate] stoßen will, dem scheint zuletzt Arges, als wär’ es edel; Die wenigste Zeit bleibt er dann frei von Unheil [Ate].« (Vers 622-25) 211 Vgl. Winnington-Ingram, Reginald: Sophocles and the irrational: three odes in Antigone. In: Ders.: Sophocles. An Interpretation. S. 91-116. hier S. 94-95. 212 Ebenda S. 98f.

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Das Recht, die Götter, die Familie und der Staat Sowohl Antigone als auch Kreon sprechen das ganze Stück hindurch von ihrem Recht. Doch weder Kreon noch Antigone argumentieren vollkommen eindeutig und konsistent: Positionen werden als Reaktion auf das Geschehen im Stück verabsolutiert. Beide beziehen sich auf die Götter, doch dabei legt jeder seinen eigenen Maßstab an dieses göttliche Recht an. Es kommen innerhalb der Personenreden Positionen vor, die beinahe widersprüchlich sind213, doch ist der Raum, in dem sie sich bewegen, ein widersprüchlicher und uneindeutiger (s.o), zudem fügt jeder Charakter, den Sophokles auf die Bühne bringt, eine weitere Dimension hinzu, so dass auch die Menschen wieder Anteil an diesem daimonischen Raum haben. Antigone und Ismene – das unterschiedliche Wirken der Ara Im Prolog erscheint Antigone mit den Worten: »Ω κοινòν αυτάδελφον Ισµήνης κάρα« (Vers 1). Hier wird ausnahmsweise das griechische Original angegeben, denn die Übersetzungen214 werden diesem nicht gerecht und gerade diese erste Zeile ist für die Antigonefigur von großer Bedeutung, sie definiert Ismene nicht als Schwester oder Vertraute, sondern darüber, dass sie beide den gleiche Bruder haben, so die wörtliche Übersetzung: »Oh, gemeinsames, des selben Bruders, Ismenes Haupt.« Der Bruder, der durch den Familienfluch gestorben ist und durch die Erfüllung des Fluches die Familie repräsentiert, kommt sofort in der ersten Zeile vor. Um welchen der beiden Brüder es sich handelt, ist hier noch nicht klar, da dies eben für beide Brüder gilt und diese darin gleich sind. Eben diese Gleichheit gilt für Antigone und sie will sie auch im Tod den Brüdern erhalten – und damit auch Ismene und sich selbst, da sie von den Brüdern, als Familie, abhängig sind. Antigone sieht nach dem gemeinsamen Tod der Brüder Polyneikes nicht als ihren Feind an – zu entscheiden, ob sie ihn vorher als solchen angesehen hat, wäre reine Spekulation – denn sie spricht davon, dass »unseren Lieben Leid, als 213 Deshalb geht Tycho von Willamowitz-Möllendorf davon aus, dass es Sophokles nur um die Dramatik der Einzelszenen gegangen sei. Vgl. von WillamowitzMöllendorf, Tycho: Die dramatische Technik des Sophokles. S. 20. Dieser Ansicht schließe ich mich nicht an. Vielmehr verstehe ich die widersprüchlichen Elemente als Effekte der daimonischen Umwelt, die vom Chor thematisiert wurde. 214 In der hier verwendeten Tusculum Ausgabe (übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Karl Beyer) heißt es: »O du, geschwisterlich vertraut, Ismenes Haupt!« Wilhelm Kuchenmüller übersetzt: » O Schwester, du mein eigen Blut, Ismene«. Wolfgang Schadewaldt findet folgende Übersetzung: »Gemeinsames, der eigenen Schwester, o Ismene Haupt!« Bei Hölderlin steht: »Gemeinsamschwesterliches! O Ismenes Haupt!«

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wären’s Feinde, naht« (Vers 10). Hier ist ihre Rede noch voll von Gemeinsamkeit, der der Brüder, ihrer mit Ismene und der der Familie, diese ist auch der zentrale Punkt der Bestattung: Der Bruder soll seinen Platz bei den Toten der Familie einnehmen können. Die Bewahrung des Leichnams spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn der Aspekt der Bestattung, der Antigone hier wichtig ist, geht über das Physische und Diesseitige hinaus, in dem Klagelied in ihrem letzten Auftritt wird dies noch einmal deutlich werden. Die Haltung Antigones zur Familie nimmt die Ambivalenzen, die durch den Labdakidenfluch einerseits und durch die archaische Bindung an die Familie andererseits entstehen, durchaus wahr, doch überwindet sie sie. Die Familie als solche steht für sie höher und diese Beziehung macht für sie den Menschen und vor allem die Schwester aus: »Und du wirst bald erweisen, ob du recht/geartet bist, ob edler Eltern schlechtes Kind« (Vers 37-38). Die Aufforderung ist eine zum Handeln (Vers 41), diese Opposition von Handeln und Reden wird im Stück immer wieder entstehen, auch und vor allem als Unterschied zwischen Kreon, der viel redet, und Antigone, die handelt. Ismene wendet gegen die Aufforderung Antigones sowohl die Wirkung des Fluches als auch den »Zwang« (Vers 66) des Herrschenden ein. Auch ihre Gründe sind doppelt, doch beugt sie sich beiden, die sie für vereinbar hält, sie versucht das Gespräch aufrecht zu erhalten, um »den drohenden Konflikt zumindest noch abmildern zu können.«215 Der Fluch hat für Antigone und Ismene ganz unterschiedliche Bedeutung: Ismene unterwirft sich dem Fluch, den sie fürchtet und damit fürchtet sie auch die Familienbindung. Antigone hingegen sieht den Fluch als verbindendes Element der Familie, so verstärken sich Fluch und Familie gegenseitig, denn in ihrer unbedingten Familienloyalität, die sie auch auf den Fluch zurückführt, lässt sie den Fluch umso stärker wirken; so wirkt auch der Fluch auf ambige Art und Weise. Die Götter rufen alle an, doch die Interpretation des göttlichen Willens ist von den Figuren selbst abhängig, so werden sie echte Charaktere auf dem Theater und so zeigen sie, dass auch das menschliche Handeln in Bezug auf den uneinsehbaren Willen der Götter Teil der Tragödie ist. Ismene spricht davon, dass sie nicht »dafür geschaffen« (Vers 79) sei, zu trotzen. Das ist eine persönliche Disposition, ein Charakterzug: Ismene weiß um ihre menschliche Schwäche216, diese entfernt sie zugleich von ihrer Schwester Antigone – die sie, wie später deutlich wird, nicht verlieren möchte, auch das ist ein Zug ihres Charakters. Antigone nimmt diesen Einwand, der keineswegs eine klare Ablehnung ist, als Verrat an der Familie wahr. Die Liebe der Toten ist es, die sie letztendlich will, nicht die der auf der Welt Leben-

215 Pfeiffer-Petersen: Konfliktstichomythien bei Sophokles. S. 44. 216 Lefèvre interpretiert sie als eine der wenigen Figuren bei Sophokles, die in der Lage sind, »sich selbst zu erkennen« und damit im Gegensatz zu den Protagonisten Maß zu halten. Lefèvre: Die Unfähigkeit sich selbst zu erkennen. S. 110112.

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den. In ihrer eigenen Formulierung des »fromm gefrevelt« (Vers 74) kommt wieder eine Ambivalenz zum Vorschein, die sie bewusst übergeht, da ihre Position absolut ist. In ihrer Absolutheit kann sie die Schwester nur noch von sich wegstoßen – nachdem der Prolog mit der Gemeinsamkeit begann, endet er nun in der Trennung der Schwestern217, der letzten Familie, die Antigone hat. Während Ismene sich immer noch als Schwester versteht, ist Antigone nun allein und wird wie angekündigt die Tat begehen. Antigone vs. Kreon – Verabsolutierungen von Positionen Kreons Auftritt wird vom Chor angekündigt und dort bereits in den Zusammenhang des göttlichen Geschicks gestellt218, gleichzeitig wird auch schon sein eigenes Tun, sein »Plan« befragt. Auch Kreon selbst erwähnt in seiner ersten Rede, in der ersten Zeile, dass die Götter die Stadt – die er nun beherrscht – wieder aufrichten (Vers 163-64). Der vorhergegangene Kampf mit den Sieben wird als »wilder Sturm« göttlichen Ursprungs beschrieben, die Windmetapher, vor allem in Verbindung mit dem Göttlichen kann auch hier als daimonisches Wirken interpretiert werden. Im Verlauf des Stückes findet sich dieses Motiv immer wieder, der Krieg und das Unheil werden mit einem Wind bzw. Sturm beschrieben, zu diesem Motivfeld gehört auch das Meer, das vom Sturm aufgepeitscht wird; der Sturm ist ein Symbol für die daimonischen Umwelt, in der sich die Handlung bewegt. Im ersten Chorlied ist unmittelbar in Verbindung mit Ares von der »Macht des widrigsten Windes« (Vers 137) die Rede; Kreon spricht vom »wilden Sturm« (Vers 164), mit dem die Götter die Stadt erschüttert haben, so wird diese Verbindung auch textimmanent hergestellt. Als der Wächter über Antigones Tat berichtet, beschreibt er das Wirken des Windes, der einerseits den Verwesungsgeruch zu den Wächtern trug, so dass sie sich weiter entfernt aufhielten, und der andererseits auch als »Wirbelsturm/den Staub vom Boden« (Vers 418-19) aufwirbelt, so dass Antigone darin zum Leichnam gelangen konnte (Vers 410-420). Auch in anderen Chorliedern kommt das Windmotiv immer wieder vor, z.B. Vers 591-92 als das »stürmische Gestöhne«, das »Sturmwetter ihres Vaters« in Vers 984. In Ergänzung dazu wird auch in der »Antigone« das Regieren des Staates mit dem Lenken eines Schiffes verglichen. Nicht nur Antigone, sondern auch Kreon und der Chor befinden sich in diesem daimonischen Raum.

217 Vgl. dazu auch Winnington-Ingram: Sophocles. S. 134-136. 218 »Doch seht: nun kommt der König des Lands, der Sohn des Menoikeus, Kreon; er tritt aus dem Haus, den neu nach dem neuen Geschick die Götter stellten; doch welchen Plan erwägt er, dass er hierher berief den Ältestenrat durch öffentliche Verkündung.« (Vers 156-61)

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Kreon begründet seinen Herrschaftsanspruch mit der Verwandtschaft zu den Labdakiden bzw. zur Ödipusfamilie: »So fiel die ganze Macht des Throns jetzt an mich/als Nächsten im Geschlechte der Gefallenen« (Vers 174-75). Den Anspruch, den Kreon erhebt, gründet er also auf diese beiden Aspekte: das Wirken der Götter und die Familienbeziehung – beides Institutionen, die klassischerweise Antigone zugerechnet werden. Kreon geht von diesen Ansprüchen direkt über zu seinem Verständnis von Staat, das er somit direkt aus ihnen ableitet. In dieser nächsten Passage fügt Kreon das menschliche Handeln als weiteren Aspekt hinzu: Nur wer das Recht und die Herrschaft kundig ausübt, der ist der Herrschaft auch würdig. Hier zeigt sich auch bei Kreon eine Doppelstruktur der Legitimität und zwar der des Staates. Die Prinzipien, die die Figuren angeblich verkörpern, sind also auch in ihnen nicht ungebrochen vorhanden. Der Staat soll den Bürgern höher stehen als die »Angehörigen« (Vers 182-83), das mögliche Unheil, die Ate, für die Bürger des Staates führt Kreon auf eine Verfehlung gegen dieses Prinzip zurück, er spricht hier zum ersten Mal die Trennung von Freund und Feind aus, die für ihn eine eindeutige und unwiderrufliche ist: »noch werd’ ich einen Feind des Heimatlandes je/zum Freunde mir erwählen« (Vers 187-88), ganz anders als Antigone, die eine solche scharfe und eindeutige Trennung nicht vollziehen kann und will. Dabei war der Frevel der Brüder, sich gegenseitig zu töten, auch einer auf der Familienebene, beide haben ihren nächsten Angehörigen getötet, in der Begründung des Begräbnisverbotes kommt auch das »verwandte Blut« (Vers 201) vor. Beide Aspekte des Rechtes und der aus der Familie abgeleiteten Legitimität sind in dieser ersten Rede Kreons vorhanden, doch ist diese Rede gleichzeitig der Versuch eine Trennung auch zwischen diesen, ebenso wie die Trennung von Freund und Feind, herbei zu führen. Somit ist Kreons Haltung ambivalent, da er einerseits die Familie zur Legitimität heranzieht und auch den Frevel am »verwandten Blut« nicht vergisst, andererseits jedoch versucht, eben diesen Teil des Rechtes nicht mehr gelten zu lassen. Der Chor entspricht dieser Rede zunächst, da er ihm, Kreon, die Macht, über die Lebenden und die Toten in Bezug auf die Stadt zu urteilen und zu richten219, zuspricht; geradezu ironisch wird Kreon an dieser Stelle nicht als Herrscher oder König angesprochen, sondern als »Menoikeus Sohn« (Vers 211), der Chor hält also, während er dem König folgt, in der Formulierung an der alten Form – der Familie – fest. Der Wächter, der auftritt, um Kreon von der Tat zu berichten, ist ein eher untypischer Wächter für die griechische Tragödie.220 Er kommt kei-

219 »Dir, des Menoikeus Sohn, beleibt es, so zu tun, wenn’s einer übel oder wohl meint mit der Stadt und jede Satzung anzuwenden steht bei dir: auf die Verstorbnen wie auf uns, die Lebenden.« (Vers 211-14) 220 Vgl. Flashar: Sophokles. S. 66.

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neswegs außer Atem an und ist vor allem um seine eigene Sicherheit besorgt, auch ist er durchaus zu Frechheit und Ironie fähig, so beschreibt er sich selber als »Gottverlassenen221/[…], teilhaftig dieses Glücks zu sein!« (Vers 272-75). Diese Nebenfigur ist ein gutes Beispiel für die Art der Charaktere, die Sophokles auf die Bühne gebracht hat. In der Botenrede werden ebenfalls ambivalente Elemente angesprochen: zum einen im Gebrauch des Wortes »δεινά« (s.o.), das eine ambivalente Haltung zur Tat ausdrückt und zum anderen auch in der Beschreibung der Tat selber, der Art der Bestattung, die symbolischen Gehalt hat und auf etwas abzielt, das jenseits des Körperlichen liegt: »Der Tote war nicht mehr zu sehen, zwar nicht im Grab,/doch dünn, wie um den Fluch zu wehren, Staub darauf« (Vers 25556). Kreon ist vom Bericht des Boten äußerst aufgebracht, da er damit seine Macht im Staat bedroht sieht und zwar wie er sofort vermutet von einem Menschen, einem Mann. Es macht die Ungeheuerlichkeit von Antigones Tat noch größer, dass sie als Frau sie begangen hat – diese Ungeheuerlichkeit, von einer Frau herausgefordert zu werden, kommt später mehrmals zur Sprache. Dem Boten gegenüber argumentiert Kreon immer gegen die Bürger, er geht sogar von Bestechung mit Geld aus, dabei kommt von Kreon unbemerkt und unbeabsichtigt die Doppeldeutigkeit von Lohn (und zwar diesseitigem und jenseitigem) zum Tragen, wie es in der letzten Auseinandersetzung mit dem Boten deutlich wird. Der Bote fragt, ob nun »Ohren oder Seele« (Vers 317) Kreons angesprochen sind. Er begreift, dass es unterschiedliche Wirkungsbereiche der Tat gibt, Kreon jedoch bringt sie in einer seiner Repliken vollkommen falsch zusammen: »Für Silber gabst du deine Seele hin!« (Vers 322), damit hat er nun den Bereich der Möglichkeit des richtigen Urteilens bereits verlassen, da er die unterschiedlichen Ebenen nicht wahrnehmen kann. Der Wächter sagt ihm dieses sogleich ins Gesicht: »Wie schlimm, wer urteilt und ein falsches Urteil fällt« (Vers 323). Kreon hat also an dieser Stelle, bevor er weiß, dass es sich bei der Täterin um Antigone handelt, und ehe sie sich begegnet sind, schon begonnen seinen einseitigen Anspruch zu verabsolutieren. Dies wird auch in der Behandlung des Chores deutlich, der Chor bringt in seinen Einwänden wieder die Götter ins Spiel, als Antwort darauf stützt Kreon seine Argumentation auch auf die Götter, er nimmt die Freund-Feind-Teilung, die er selber absolut verfolgt, auch für die Götter an.222 Damit bezieht er sich nicht nur in seinem Herrschaftsanspruch auf die Götter, sondern beginnt in dem Moment, in dem er seine Herrschaft gefährdet sieht, auch die Götter zu instrumentalisieren. Danach folgt das erste Stasimon, in dem der Chor den Raum der Handlung genauer beschreibt, wobei sowohl Kreon als auch Antigone bereits auf jeweils einem vereinzelten Weg unterwegs sind.

221 Im Original δυςδαίµονα, also dysdaimon – vom unglücklichen Daimon beeinflusst. 222 »Wann sahst du Schlechte von den Göttern so geehrt?« (Vers 288)

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Direkt an das Lied anschließend kommt Antigone auf die Bühne. Der Chor stellt sie negativ in den Zusammenhang, in dem sie sich selber positiv sieht, indem er die Familie, in Form von Ödipus, sofort mit anspricht: »Unselige, Kind/unseligen Vaters: von Oidipus!« (Vers 379-80). Antigones Auftreten in diesem ersten Aufeinandertreffen mit Kreon ist von Anfang an von Klarheit und Eindeutigkeit. Kreon hingegen scheint von seinen Emotionen geleitet zu sein. Antigones Argument sind die »ungeschriebne[n], ewige[n],/göttliche[n] Gesetze« (Vers 454-55), die keiner weiteren Legitimität bedürfen, denn »niemand weiß, woher sie kommen sind« (Vers 457). Antigone hat ihrerseits eine Entscheidung getroffen, indem sie die Ansprüche des Staates und der Familie abgewägt hat, sie bringt die möglichen Einwände in ihrer Begründung immer gleich mit vor, darauf gründet sich ihre Provokation Kreons: »Und schein’ ich dir verfallen auf ein töricht Tun,/so ist’s vielleicht ein Tor, der mich der Torheit zeiht« (Vers 469-70). Sie hat nachgedacht, reflektiert und dann eine Entscheidung für eine Seite getroffen, ohne die andere vollständig zu vernachlässigen, dabei instrumentalisiert sie nicht wie Kreon es getan hat. Doch wird diese Genauigkeit und Absolutheit ihr vom Chor als »schroffe Art des schroffen Vaters« (Vers 471) ausgelegt, gleichzeitig gibt der Chor ihr auch indirekt recht, indem er von »Übeln«, also Unrecht (Vers 472) spricht, denen sie sich nicht beugt. Obwohl Kreon sich auf den Frevel gegen die »bestehenden Gesetze« (Vers 481) (also die von ihm erlassenen) bezieht, nimmt er trotzdem Ismene in Sippenhaft und handelt damit nach dem Familienprinzip, daraufhin ist Antigone zum ersten Mal verunsichert: Sie fragt »willst du denn mehr als meinen Tod« (Vers 497). Den Tod der Schwester will sie nicht, sie stößt sie auch zurück, als Ismene die Verantwortung und die Strafe mit ihr teilen will: »Du sollst mit mir nicht sterben« (Vers 546). Selbst das Prinzip der Familie, das Antigone sonst über alle Widersprüche hinweg gilt, wie sie immer wieder gezeigt hat und auch im Beharren auf die Gleichbehandlung der Brüder fordert, ist nicht ungebrochen. Die Verabsolutierung des Prinzips führt hier auch zu einer Teilung, indem die Familienpflicht an den Toten bewiesen werden muss, kann sie im Leben die Differenz nicht mehr überbrücken, die sich zwischen der Tat Antigones und den Worten Ismenes auftut, die nur eine Weigerung zur Tat ausgedrückt haben, nicht einmal mit Worten hat sie die Tat verurteilt. Ismene ist es auch, die das Hochzeitsmotiv zum ersten Mal aufbringt, indem sie Kreon daran erinnert, dass er seines »eignen Kindes Braut« (Vers 568) töten will. Für Kreon ist auch die Ehe und somit die Familie zum Instrument der Machterhaltung geworden, wie seine Erwiderungen zeigen – später in der Szene mit Haimon wird dies noch einmal deutlich werden. Nach dem zweiten Stasimon, in dem die Ate thematisiert wurde, tritt Haimon auf. Seine Argumentation trägt dem absoluten Anspruch Kreons Rechnung, er versucht auf eben dieser Ebene das Geschick zu wenden. Darum sind seine ersten Worte auch: »Dein bin ich Vater« (Vers 635). In seiner zweiten Rede spricht er zudem von den Göttern, die die Menschen be-

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einflussen und stimmt Kreon gleichzeitig zu. Taktisch klug nimmt er genau die Aspekte auf, über die Kreon seinen Anspruch definiert, zudem spricht er nicht direkt von seiner Meinung, sondern legt diese dem Volk in den Mund. So macht er sich für Kreon zunächst nicht angreifbar und aus dieser Position heraus versucht er das Geschehen zu beeinflussen, indem er davon spricht, dass auch Kreons Wohlergehen von Antigones Schicksal abhängig ist. Doch dann verweist er auf die menschliche Fähigkeit zu lernen und die Meinung zu ändern: »Drum hege nicht die eine Meinung nur in dir, was du gesprochen hast, nichts anderes sonst, sei recht! Denn wer da glaubt, daß er allein Besonnenheit Und Redegabe wie kein andrer hat und Geist, der wird, genau betrachtet, oft als leer erkannt, Doch keinen schändet’s, mag er noch so weise sein, wenn er noch lernt und nicht den Bogen überspannt.« (Vers 705-11)

Damit ist klar, dass alle Zustimmung vorher nur Taktik war. Aber auch hier bittet Haimon nicht einfach, sondern erklärt das Prinzip, das mehr als ein Recht zulässt, zu demjenigen von weisen Menschen. Der Chor stimmt dem zu, denn mehr als eine Möglichkeit des Rechts kommt auch in den Liedern des Chors immer zur Sprache. Doch genau damit kann Kreon nicht überzeugt werden. Der Sohn, der Teil seines Herrschaftsbereiches ist, kann ihn nicht überzeugen, ebenso wenig der Chor der Bürger, die er hier als seine Untertanen ansieht. In der folgenden, wütenden Stichomythie macht er seinen absoluten Herrschaftsanspruch umso deutlicher, während Haimon immer ein passendes Gegenargument weiß.223 Dabei wird deutlich, dass auch die Bürger des Staates, deren Wohl er in seiner ersten Rede noch wahren wollte, Kreon nun nichts mehr gelten. Kreon kann nur noch entkommen, indem er die Debatte auf eine andere Ebene verlegt, und die Frage nach der Parteinahme, vor allem der »auf des Weibes Seite« (Vers 740) aufbringt. Dass eine Frau ihm überlegen

223 »Kr: Soll denn die Stadt mir sagen, wie ich herrschen muß? Ha: Siehst du, wie allzu jugendlich du selbst jetzt sprichst? Kr: Soll es nach andren oder mir gehen hier im Land? Ha: Der Staat ist keiner, der nur einem Mann gehört. Kr: Gilt denn der Staat nicht als des Herrschers Eigentum? Ha: Wie schön gebötest du allein im leeren Land.« (Vers 734-39) Pfeiffer-Petersen stellt für diese Stelle fest, dass hier »in einem argumentativen Dreischritt die Äußerungen beider Gegner zu einem Aspekt des Streitthemas an Eindeutigkeit zu[nehmen].« (Pfeiffer-Petersen: Konfliktstichomythien bei Sophokles. S. 63).

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sein könnte, zumal die Frau in Griechenland zur Sphäre des Hauses und nicht des Staates gehört, ist ihm die größte Schande. Die Drohungen Haimons versteht Kreon in ihrer Bedeutung nicht, da sie zu diesem Zeitpunkt außerhalb des für ihn Wahrnehmbaren liegen. Haimons Drohungen beziehen sich auf ihn selbst: »Im Sterben nimmt sie jemand mit« (Vers 751). Kreon kann dies in seiner absoluten Position nicht erkennen, denn dazu müsste er eine andere Position, ein anderes Wertesystem, noch dazu seines Sohnes, der für ihn reines Instrument des Machterhalts ist, erkennen können. Deshalb bezieht er diese Drohung auf sich selbst. Antigones neue Bestrafung, das Lebendig-Begraben-Werden im Felsengrab, ist das Komplement zu Polyneikes’ Situation.224 Sie ist lebendig und soll ins Grab, während er tot ist und ihm das Grab verweigert bleibt. So kommen Bruder und Schwester sich in der Art der Bestrafung Kreons ungewollt wieder näher. Gleichzeitig wird Ismene begnadigt, so wird Antigones Haltung gegenüber Ismene und der Familie von Kreon ebenso unbeabsichtigt nachgegeben. Nach dem Eroslied wird Antigone wieder auf die Bühne gebracht. In der nun folgenden Klage versteht sie sich selber als »Acherons Braut« (Vers 816) (dieses Motiv wird weiter unten gesondert behandelt). Sie spricht zu Beginn die »Bürger der Vatererde« (Vers 806) an, damit stellt sie wieder den familiären Zusammenhang her, der ihr so zentral ist, doch gleichzeitig nimmt sie auch auf das Prinzip des Staates Bezug, da sie von den »Bürgern« spricht. Auch die Frage nach dem Recht wird wieder aufgegriffen: Der Chor sagt, dass Antigone nach »eigenem Gesetz« (Vers 821) gelebt hat. Das Gesetz der Götter, das Antigone immer wieder anruft, wird erst durch ihre Entscheidungen, wie sie es versteht, ein Gesetz, nach dem gehandelt wird, und damit das eigene der Antigone. Antigone erwähnt in diesem Lied auch einen Daimon als Schicksalsmacht (Vers 832-33), in der Replik des Chors wird die Verbindung von Göttern und Menschen in einem daimonischen Umfeld noch einmal deutlich: »Doch Göttin war sie aus Göttergeschlecht,/wir aber sind Menschen, sind sterblich gezeugt./Und doch, einer Toten ist’s hoher Ruhm, mit den Göttergleichen zu teilen das Los/im Leben und fürder im Tod.« (Vers 834-38). Obwohl der Unterschied zwischen Göttern und Menschen eindeutig ist, können sie das Los, das Schicksal teilen, sowohl im Leben als auch im Tod, nicht nur der Tod und die Toten sind die Sphäre der Götter, sondern beides zusammen: Leben und Tod – in einem Zustand zwischen beiden befindet sich Antigone. Der Chor ist es auch, der sowohl den Verstoß gegen das Recht als auch den Geschlechterfluch für Antigones Schicksal verantwortlich macht.225

224 Teiresias thematisiert diese Situation in seiner Rede, vgl. dazu im Abschnitt über den Seher. 225 »Du schrittest bis zum Äußersten der Kühnheit; an den stolzen Thron des Rechts stießest du heftig, Kind.

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Antigones Klage gilt vor allem dem Unbeklagtsein nach dem Tod. Die Klage, Ausdruck der Trauer und damit äußeres Zeichen für eine Bindung, bleibt ihr versagt. Nicht der Tod, sondern die Bindungslosigkeit – denn Ismene gilt ihr nicht mehr als Familie – auf der einen Seite der Grenze, die sie jetzt übertreten wird, ist für sie der Klagegrund, so beklagt sie in letzter Konsequenz die eigene Einseitigkeit, auch wenn das der Figur nicht bewusst ist und im Stück so nicht formuliert werden kann. Ein zweites Mal treffen nun Antigone und Kreon aufeinander, doch handelt es sich nicht mehr um eine direkte Konfrontation. Kreon verkündet sein neues Urteil, sichtlich beeinflusst von der vorhergegangenen Szene. Dies gibt nur noch den Anlass für Antigones letzte Rede, die sich in die Klagen von vorher einfügt, dabei stellt sie die unterschiedlichen Ansprüche des Rechts, die für sie und Kreon gelten, noch einmal gegeneinander. Sie bezieht sich immer wieder auf die Familie: Das »brüderliche Haupt« (Vers 899 und 915) kommt gleich zweimal vor. Die umstrittenen Passage von Vers 905 bis 912226 kann an dieser Stelle als Absage an Kreons Familienpolitik verstanden werden; dabei geht sie gleichzeitig einen ganz ähnlichen Weg und zwar den der Funktionalisierung der Familie: Gatten und Kinder in der Funktion des Schutzes in einem Haus und Erben der eigenen Macht sind ersetzbar, der Bruder, mit dem das Schicksal geteilt wurde, eben nicht mehr. Die Formulierung des »brüderlichen Haupts« verweist auf den Prolog, in dem Ismene mit den gleichen Worten angesprochen wurde; dort wollte Antigone noch mit ihrer Schwester teilen und zwar die Tat und die Strafe, da für sie beides zusammen gehört. Schwierig bleibt die Stelle, da im gleichen Zusammenhang die Hochzeit, die nicht stattfinden wird, wieder beklagt wird. Doch Antigone hat nicht die Ehe als solche abgelehnt, sondern nur das Prinzip der Familie als Schicksalsgemeinschaft darüber gestellt. Ismene gehört dieser nicht mehr an, auch Kreon bestätigt das, indem er Antigone als »die letzte, die blieb vom Königsgeschlecht« (Vers 941) bezeichnet. Teiresias, der Seher als Zwischeninstanz Nachdem Antigone abgeführt worden ist und der Chor ein weiteres Lied gesungen hat, in dem die Umwelt und das Irrationale thematisiert werden, betritt Teiresias die Bühne. Der Seher ist die klassische Mittlerinstanz zwischen Göttern und Menschen, der blinde Seher sieht in seiner Blindheit eben die Dinge, die dem sehenden menschlichen Auge nicht zugänglich sind. Während der Bote ein untypischer Bote war, ist Teiresias hier der klassische Seher. An dieser Stelle wird die Uneindeutigkeit des daimonischen Raums durchbrochen – auch da Sophokles das Stück zu einem Abschluss bringen muss. Dafür verwendet er nicht die Erkenntnisfähigkeit eines Menschen,

Du büßest des Vaters Not zu Ende.« (Vers 853-56) 226 Vgl. hierzu z.B. Melchinger: Die Welt als Tragödie Band 1. Auf S. 237 stellt er die Debatte um die Echtheit dieser »ominösen Verse« knapp dar.

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wie Kreon, sondern den Mittler und damit auch Vermittler zwischen göttlichem und menschlichem Bereich, der als solcher auch zwischen und über den Personen steht. Der Chor hatte die Funktion, die Umwelt zu thematisieren, Teiresias, sie zu deuten und dabei unbeeinflusst vom Handeln der Figuren eine eindeutige Antwort zu geben. Das ist nur möglich, weil er der Welt der Figuren auf der Bühne nur teilweise angehört. Zunächst erfährt man von Teiresias, dass er durchaus Kreons Machtansprüche unterstützt hat, doch direkt danach formuliert Teiresias die Situation, in der sich Kreon – und mit ihm jeder andere in der Umwelt – befindet: »Denk’, auf der Schneide des Geschickes [tyche] gehst du jetzt« (Vers 996). Die Tyche als zweischneidiges Schicksal, das in jede Richtung ausschlagen kann, so wie der Mensch sich entscheidet, war in anderen Worten auch die Beschreibung des Chors im ersten Stasimon und ist in der Ambiguität des Wortes »δεινά« bereits enthalten. Der Seher verwendet die Vogelschau, um die Situation zu erfassen. Die Vögel als Motiv ziehen sich bereits vorher durch das Stück: Polyneikes Leichnam wird im Freien liegen gelassen, damit die Vögel ihn fressen, so Antigone (Vers 29) und auch Kreon (Vers 205). Der Bote jedoch berichtet, dass die Leiche unversehrt ist (Vers 25758)227, ein nachgerade unnatürliches Verhalten wird hier beschrieben. Die Vögel sind jedoch in der griechischen Religion Boten und Symbole der Götter, wie z.B. der Adler des Zeus – der in der Parodos sogar erwähnt wird. Als göttliche Boten sind sie nicht an die menschlichen Wünsche gebunden. Die Vogelschau ist eine Methode der Seher und so kommt das Motiv der Vögel in der Teiresias-Szene wieder. Teiresias sitzt auf dem »alten Sitz der Vogelschauer« (Vers 999) – obwohl er ein blinder Seher ist, die Vögel müssen also eine Bedeutung haben, die über das unmittelbare Sehen hinaus geht – dort hört er »unbekannter Vögel Stimme« (Vers 1001), also ein fremdes Element, die sich zerfleischen. Mit dieser Beschreibung und der darauffolgenden, dass die Götter die Opfer nicht mehr annehmen, denn diese bleiben »zeichenlos« (Vers 1013), wird der Unwille der Götter deutlich gemacht. Zudem bringen die Vögel Teile des Leichnams in die Stadt und »besudeln« damit die Feuerstellen – also die Herde, die Mittelpunkte der Häuser und Familien – und auch die Altäre228 und so die Verbindung von Stadt und Göttern – ganz direkt wird hier also das Objekt des Frevels gegen die Stadt gewendet. Es ist nicht die Unversehrtheit des Leichnams, der körperlichen Überreste, um die es geht, sondern die Seele. Deshalb hatte auch die symbolische Bestattung der Antigone ausgereicht und die Vögel können den Leichnam ›benutzen‹, ohne dass er dadurch geschändet wird. Hier wird die

227 Explizit ist hier nur von Raubtieren und Hunden die Rede. Aber da sich keine Spuren finden lassen und die Hunde und Vögel vorher schon gemeinsam genannt wurde, ist davon auszugehen, dass die Vögel hier mit gemeint sind. 228 »Denn Feuerstätten und Altäre sind uns jetzt besudelt durch der Vögel und der Hunde Fraß am Leib von Ödipus gefallnem Unglückssohn.« (Vers 1016-18)

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Strafe für den Toten, das Gefressenwerden von den Vögeln, zur Strafe für die Stadt, indem eben die Vögel das verrottende Fleisch in die Stadt bringen; dieses Motiv verbindet also auch die Sphären der Götter und der Menschen. Teriesias der Seher, der genuine Mittler zwischen Göttern und Menschen, schlüsselt die Verbindungen hier auf. Kreon erkennt diese Symbolik der Vogelschau zwar an, er verwendet den Begriff von »Zeus’ Adler« (Vers 1040), doch glaubt er nicht an Teiresias Deutung: »Denn ich weiß recht gut:/die Götter zu beflecken vermag kein Mensch« (Vers 1043-44). Das kultische Motiv der Vogelschau und die Verbindung mit dem Willen der Götter ist jedoch wieder nur ein Teil von Teiresias Argumentation, auch die Vernunft und die menschliche Fähigkeit zu lernen, verwendet er: »Am besten ist’s/auf guten Rat zu hören, wenn er Nutzen bringt« (Vers 1031-32). Kreon ist der Vernunft, wie schon in der Szene mit Haimon, nicht zugänglich, er glaubt den Seher bestochen, obwohl dieser ihm einst zur Macht verhalf, wie er ihn mahnt: »Denn durch mich besitzt du die befreite Stadt« (Vers 1058). In seiner Rede macht Teiresias die Situation Antigones und Polyneikes’, den doppelten Frevel, noch einmal deutlich und bindet diesen an eine direkte Bestrafung für Kreon: »Bis einen du aus deines eignen Blutes Stamm tot als Entgelt den Toten hingegeben hast dafür, daß du ein Lebendes hinabgestürzt, im Grabe schmählich eine Seele hausen läßt, doch hier behältst, was Todesgöttern zugehört.« (Vers 1066-70)

Nach seiner letzten Prophezeiung des Unheils geht er ab und erst danach, nach einer weiteren Rücksprache mit dem Chor, ist Kreon einsichtig. Der Chor, der die Stadt repräsentiert, muss neben dem Seherwort, also der Macht der Götter wirken, dieses doppelte Wirken ist es erst, das Kreon zur Umkehr bewegen kann – obwohl die Einwände des Chors in der Haimon Szene noch ohne Wirkung blieben. Diese Einsicht erweist sich als zu spät, wie der Chor es später ausspricht: »Ach, du erkennst das Rechte, scheint mir, allzu spät!« (Vers 1270). Was nun kommt, das Ende der Handlung, folgt der Prophezeiung des Teiresias und ergibt sich somit, wie es schon in Teiresias’ Rede durch die unmittelbare Verbindung von Strafe und Frevel angedeutet wird, aus dem Verlauf der Handlung, »ist nur die äußere Folge dessen, was im Umbruch sich entscheidet.«229 Die Tyche, mit ihrer ambigen Struktur wird auch vom Boten, der die Nachricht über den Tod Antigones und Haimons, bringt wieder genannt: »Denn Schicksal hebt empor und Schicksal bringt zu Fall/den Hochbeglückten wie den Unglückseligen,/und niemand sieht vorher, was

229 Reinhardt: Sophokles. S. 103.

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Menschen treffen wird« (Vers 1158-60)230. Beide Seiten der Tyche werden hier genannt, der dritte Satz kann auch bedeuten, dass niemand vorhersehen kann, in welche Richtung der Mensch sich auf der »Schneide der Tyche« bewegen wird, und nicht nur die absolute Abhängigkeit vom Willen der Götter – die hier nicht erwähnt werden, wohingegen sie sonst ständig angerufen werden – wie es auf den ersten Blick scheint. Der Tod eines Familienangehörigen, den Teiresias vorhergesagt hat, bewahrheitet sich doppelt. Wobei der Selbstmord Haimons wieder eine doppelte Struktur hat, denn eigentlich wollte er den Vater töten. Kreon versteht diesen Tod dann auch als seinen eigenen und der Tod Eurydikes als weiteren Tod: »Dem toten Manne gabst Du nochmals den Tod?« (Vers 1288). Kreon bleibt als lebender Toter zurück, so hat sich das Motiv von Leben und Tod auch in ihm auf unnatürliche Weise vermischt. Hochzeit und Tod: Übergangsriten In einem Motiv des Stückes wird die Zweischneidigkeit nicht als Ausschlag in eine Richtung, sondern als Übergang von einem Zustand in den anderen gedeutet, dieses Motiv, das im ganzen Stück zu finden ist, ist das der ›Braut des Todes‹. Antigone klagt über ihr Schicksal unverheiratet zu sterben (Vers 813-816) und stattdessen »Acherons Braut« (Vers 816) zu sein. In Vers 891 setzt sie das »Brautgemach« mit dem Grab gleich.231 Auch Kreon spielt in der Szene mit Haimon auf dieses Motiv an, wenn auch aus der Motivation heraus, dass Antigone nicht die Frau seines Sohnes sein soll: »Voll Abscheu aber laß nun, einer Feindin gleich, dies Mädchen sich im Hades gatten irgendwem!« (Vers 653-54). Sowohl Hochzeit als auch Tod sind Übergangsriten. Vor allem im Athen dieser Zeit, in dem die Bedeutung der Frauen durch die des Hauses zu Gunsten der Polis abnimmt, war die Verbindung mit einer Familie und einem männlichen Familienoberhaupt wichtig.232 Der Übergang vom Leben in den Tod ist der ultimative Übergang, doch an der Opposition Leben und Tod ist zu beachten, dass diese beiden Teile unmittelbar zusammengehören: Kein Mensch kann leben, ohne gleichzeitig von vornherein den Tod zu akzeptieren. Der Übergangsritus der Hochzeit ist nicht ganz so stark determiniert, wenn er auch im Athen des 5. Jahrhunderts sicher fast unumgänglich war. In der Antigone wird im Zusammenhang mit 230 Hier findet sich im Original das Wort »tyche« in zwei Zeilen viermal, zweimal als »tyche« und je einmal als »dystyche« und als »eutyche«, also als glückliche und unglückliche Tyche. 231 Vgl. hierzu Ormand: Exchange and the Maiden. Er sieht diese Stellen in folgendem Zusammenhang: »She both marries and does not marry death, and the result is an isolation.” (S. 93). 232 Vgl. hierzu z.B. Flashar, der darauf hinweist, dass Antigone als Frau der Sphäre des Hauses zugehörig ist und was diese in der Polis bedeutet hat. Flashar: Sophokles. S. 76.

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der Hochzeit von den Personen nicht von Liebe gesprochen, sondern es geht um die Familienbande – das alte Konzept, das auch hier wieder wachgehalten wird. Nur der Chor bringt den Eros nach der Kreon-Haimon-Szene ins Spiel. Die Frage nach der Liebe klärt sich zum Schluss in Haimons Tod233, den er jedoch schon vorher angedroht hatte. In Vers 751 sagt er: »So stirbt sie, und im Sterben nimmt sie jemand mit« und in Vers 763-64: »Und niemals wirst auch du/mit deinen Augen mich im Leben wiedersehen.« Am Ende wird der gemeinsame Tod von Antigone und Haimon mit einer »bräutlichen Weihe« (Vers 1240-41) verglichen, dort werden die Motive also zusammengebracht. Wichtig für die Interpretationslinie, die hier verfolgt wird, ist der Zustand des Übergangs, des ›Dazwischen-Seins‹. Segal interpretiert die Höhle in der Antigone eingeschlossen wird als Sinnbild eines solchen Übergangs (»passage-rite«)234 und im Fall von Leben und Tod ist dieser unausweichlich, wenn auch nicht unmittelbar, denn Antigone ist eigentlich zu jung zum Sterben. Ihre Situation thematisiert sie selbst mit den Worten: »Ich Arme bin schon nicht mehr,/weil’ ich gleich noch bei Menschen,/im Leben nicht heimisch, nicht im Tode« (Vers 850-52). Eine Situation des Dazwischen, der Frage, nach welcher Seite das Schicksal ausschlagen soll, ist das ganze Stück, diesen Raum bietet die daimonische Umwelt. Während in Kreon und Antigone durchgespielt wird, wie durch persönliche Entscheidungen das Schicksal beeinflusst wird und im Chor der Raum dafür thematisiert wird, macht dieses Motiv die Situation auf einer weiteren Ebene im Text noch einmal deutlich. Die Zuschauer Die Funktion des Chores ist der Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Wirkung auf das Publikum. Der Chor hat in der Antigone von vornherein eine doppelte Funktion. Einerseits hat der Chor als echter ›Mitspieler‹ in die Handlung eingegriffen und das Handeln der Personen kommentiert und sogar beeinflusst, andererseits hat der Chor die daimonische Umwelt beschrieben, in der sich die handelnden Charaktere bewegen, und diesen damit im Drama präsent gehalten. Die daimonische Umwelt verbindet auch das Bühnengeschehen mit dem Zuschauerraum, denn in diesen Chorliedern können sich die Zuschauer wiederfinden. Im ersten Stasimon wird ›der Mensch‹ im Allgemeinen thematisiert, so dass sich eine Möglichkeit zur Identifikation gibt, so teilen auch Publikum und Bühne einen daimonischen Raum. Der

233 Von Fritz geht davon aus, dass die Haimon-Szene die Hoffnungslosigkeit der Antigone verdeutlichen soll und die Auffassung des Chors ein »Irrtum« sei. von Fritz: Haimons Liebe zu Antigone. In: Ders.: Antike und moderne Tragödie S. 227-240. hier S. 236. Dabei bleibt die Frage offen, warum auch er stirbt. 234 Segal, Charles: Antigone. Death and Love, Hades and Dionysus. In: Segal, E. (Hrsg.): Oxford Readings. S. 167-176. hier S. 167.

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Daimon hier ist der Daimon des Theaters, der eben in diesem Raum zwischen Bühne und Publikum, vom Bühnengeschehen und von der Erwartungshaltung sowie der persönlichen Disposition der einzelnen Zuschauer beeinflusst, seine Wirkung entfaltet. Im fünften Stasimon, dem Bakchoslied, tritt der Chor auf eine Weise aus dem Rahmen des Dramas heraus, während er gleichzeitig weiter seine dramenimmanente Funktion erfüllt. Einerseits ist das Bakchoslied an dieser Stelle des Dramas Teil der Handlung, z.B. die Überzeugung, dass das Ende gut sein wird, die sich allerdings nicht bestätigen wird. Zum anderen setzt es metatheatralisch das Theater in den Zusammenhang des Dionysoskultes. Sowohl die Akteure auf der Bühne als auch die Zuschauer des Tragödienagons waren Teilnehmer am gleichen Ritual, dem Dionysoskult, wenn auch in unterschiedlicher Funktion, diese konnte sich von Jahr zu Jahr wieder ändern, wie oben beschrieben wurde. Indem hier also ein Bakchoslied gesungen wird, das an andere Teile des Dionysoskultes, wie den Kommos, erinnert, wird diese Gemeinsamkeit als Kultgemeinschaft wach gerufen und der gemeinsame Raum von Bühne und Zuschauerraum geschaffen, in dem die Affekte wirken können. Während die Handlung an sich eine »ungeheure« ist und von den Zuschauern wohl auch als solche wahrgenommen wurde, gibt eben der Umgang mit diesem Wort auch ein Beispiel für die Wirkung in das Publikum hinein. Wie oben gezeigt wurde, taucht dieses Wort nicht nur im zentralen ersten Chorlied auf, sondern auch im Verlauf der Handlung an verschiedenen Stellen. Durch die Wiederholung dieses Wortes wird dieser zentrale, ambige Gedanke für das Publikum sowohl direkt als auch indirekt greifbar: direkt im Chorlied, unterbewusst dann immer wieder, wenn das Wort z.B. vom Boten gebraucht wird. So werden auch hier immer die Ebenen zwischen Handlung und Chor gewechselt, die für das Entstehen des daimonischen Raums besonders wichtig sind. Die Frage, ob nun in Kreon ein bestimmter Herrscher gewarnt werden sollte, ist m.E. zu kurz gegriffen. Das Drama findet statt in einer komplexen Beziehung zwischen Bühne und Publikum, vermittelt durch den Chor, bewusst und unterbewusst, also im Entstehen eines Raums aus den Ambiguitäten, in denen die Affekte – ihrerseits wieder ambig – wirken können.

T HEMATISIERUNG DES T HEATERS , M ETATHEATER , ANTITHEATER – E URIPIDES : D IE B ACKCHEN Während in den Sieben gegen Theben und der Antigone Ambiguitäten im Stück und in den Figuren zu finden waren, gehen die Backchen (405 v. Chr. posthum aufgeführt) einen Schritt weiter. Die Beziehung von Bühne und Zuschauern ist für die Deutung dieses Stückes ebenso zentral wie die im Text zu findenden Ambiguitäten.

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Während in der klassischen Tragödie trotz der Konflikte ein Maß zwischen den Elementen vorherrscht, sprengen die Backchen das Maß. So thematisiert sich das Theater in der Art und Weise selbst235, dass die Elemente des Dionysos-Kultes, die im Theater gezähmt sind – das Ekstatische, die Grenzüberschreitung, die Verkleidung und die Intrige bzw. der Konflikt – in einer archaischen und äußerst gewaltsamen Weise auf die Bühne gebracht werden. Bereits hierbei sind mehrere Widersprüche zu beobachten. Einerseits wird die Grenzüberschreitung dargestellt, aber sie wird eben in der Form einer Tragödie auf der Bühne zum Anlass der Großen Dionysien gespielt. Euripides bedient sich der Tragödie, um sie aufzubrechen und die gewaltsamen Momente an die Oberfläche zu bringen, ohne jedoch die Form der Tragödie zu überwinden. Indem innerhalb des Spiels mehrere Prozesse der Maskierung und Verkleidung stattfinden, entsteht eine weitere Reflexionsebene über das Theater – doch dieses scheinbar harmlose Spiel endet grausam. Das Theater kommt aus einem kultischen Zusammenhang, der mit der Opferhandlung in Verbindung steht, hier wird nun ein solches Opfer an das Ende einer Tragödie gestellt. Doch handelt es sich nicht um ein für die griechische Kultur durchaus akzeptiertes Tieropfer, sondern um ein Menschenopfer.236 Schlimmer noch, der Sohn wird von der eigenen Mutter im Wahnsinn getötet, dieser Wahnsinn ist jedoch vom Gott geschickt. Neben diesen Aspekten, die das Theater auf einer Metaebene reflektieren, tauchen in den Backchen auch ganz ursprüngliche Elemente des Kultes auf. Der Chor der Backchantinnen bringt diese Ursprünglichkeit direkt auf die Bühne. Auch Dionysos selbst ist zunächst ein ursprüngliches Element, der Gott manifestiert sich in seinem Kult, der Theatergott tritt auf dem Theater auf, doch der Dionysos der Backchen verbindet die theatrale und metatheatrale Ebenen, »like its god, too, tragedy makes visible the contradiction beneath the surface of civilized life. The paradox of tragedy (as of Bacchae) is the paradox of the Dionysiac space at the heart of the polis.”237 Dionysos stellt durch den Wahnsinn, den er schickt, erst unterschiedliche Ebenen her. Die Frage nach Wahn und Verblendung ist in den ganzen Backchen zentral, man könnte auch sagen: die Frage nach dem Spiel mit der

235 Bierl entwickelt eine metatheatrale Gesamtinterpretation der griechischen Tragödie, in der die Backchen eine besondere Rolle spielen. Die Backchen sind für ihn Ausdruck einer »Legitimationskrise der Tragödie«. Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. S. 189. Vgl. dazu Radke: Tragik und Metatragik. Sie widmet der Frage nach den modernen Literaturwissenschaften und den Backchen eine ganze Untersuchung, in der die metatheatralen Deutungen besonderes Gewicht haben. 236 Vgl. dazu auch Foley: »Human sacrifice in tragedy, however, perverts actual sacrificial practice, which normally prohibits the slaughter of men, and this logically becomes a part of the social disruption and crisis typical to the tragic plot.« (Foley: Ritual Irony. S. 38). 237 Segal: Dionysiac Poetics and Euripides Bacchae. S. 217.

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Illusion. Spiel ist auch das Theater, dort wird etwas durchgespielt, etwas vorgespielt – direkt, von Schauspielern vor einem Publikum – aber auch innerhalb der griechischen Tragödien finden sich immer Momente der Illusion: Verblendung, Ate und Hybris sind wesentliche Elemente, die in die Katastrophe führen. Das Spiel der Illusion, das hier als das entscheidende Element der Backchen und der Reflexion über das Theater interpretiert wird, ist nicht zu verstehen als eine perfekte Abbildung der Wirklichkeit im Sinn einer nicht zu unterscheidenden Kopie. Das Spiel des Theaters ist das Wirken einer Ebene in die andere. Dieses Spiel lebt davon, dass es zwei Ebenen vereinigt und diese vielfältig aufeinander bezieht und immer wieder aufbricht. In den Backchen wird dieses theatrale Spiel im Extremen dargestellt, was beinah in der eigenen Auflösung endet, denn das Wirken des Dionysos ist hier gewalttätig und einseitig, es lässt die andere Seite erst zuletzt als Strafe zu. Diller sieht die Backchen im Gegensatz zu anderen Tragödien, die aus einem Spannungszustand zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Welt entstehen, als »Antinomie zwischen Rationalem und Irrationalem.«238 Gott gegen Mensch: Dionysos und Pentheus Gleich zu Beginn des Stückes macht Dionysos dem Publikum seine Absichten deutlich, er stellt sich als Gott vor, der sich als Mensch verkleidet; diese Szene macht laut Bierl die Metatheatralität erst möglich.239 Die Verkleidung ist Teil seines Plans, in Theben, aus dem seine menschliche Mutter kam, seinen Kult zu etablieren und gleichzeitig unter zu Hilfenahme des Kultes, in den er die thebanischen Frauen zwingt, Rache dafür zu nehmen, dass seine Göttlichkeit angezweifelt wird. Das Mittel, das Dionysos verwendet, ist das des Wahnsinns, in welchem er die Thebaner zwingt, grausam nach seinen Regeln zu spielen. Zudem zeigt er sich auf der Bühne immer indirekt durch theatrale und kultische Vorgänge240, während er als Mensch verkleidet seine Göttlichkeit nicht direkt zeigt und doch immer direkt anwesend ist. Die Frage nach Illusion und Realität wird in den Begegnungen zwischen allen Figuren der Handlung immer wieder angesprochen; jeder glaubt von sich selbst bei Verstand zu sein und bezeichnet den anderen als wahnsinnig. In diesem Zusammenhang bietet sich ein großes Feld für die Ironie an und besonders Dionysos’ Ironie ist im Verlauf des Stückes sehr grausam.

238 Diller: Die Backchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides. S. 444-45. 239 Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. S. 189. 240 Foley drückt es folgendermaßen aus: »In the Bacchae Dionysus reveals himself to Thebes primarily through the means common to theater and the larger Dionysiac traditions: voice, costume, music, dance, and song.« Foley: Ritual Irony. S. 218.

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In der Rede über seine Abstammung von Semele und Zeus bezeichnet sich Dionysos selbst zunächst als »Daimon« (Vers 42)241, damit macht er einerseits seine doppelte Herkunft und andererseits sein Wirken deutlich.242 Das Wirken des Dionysos, das in den Chorliedern immer wieder thematisiert wird, das Rauschhafte, das Vergessen, die Grenzüberschreitung und das Spiel mit der Illusion sind daimonische Wirkungsweisen schlechthin: von einer unbekannten schwer zuzuordnenden Macht abhängig, aber direkt in den Menschen wirkend. Wobei paradoxerweise in den Backchen die Frauen, die unter Dionysos’ Einfluss stehen, zwar Dionysos’ Anwesenheit und seinen Anteil an ihrem Handeln wahrnehmen, nicht jedoch die Tatsache, dass sie in einem Wahn handeln. Dionysos’ Ziel ist, als Gott, als »Theos«, verehrt zu werden. Einem solchen »Theos« stehen »Opfer« und »Gebet« zu, die Pentheus Dionysos jedoch verweigert (Vers 44-45). Die Strafe für diese Missachtung vollzieht Dionysos auf der daimonischen Ebene. Nachdem Dionysos dem Publikum seinen Plan verkündet hat und der Chor sein erstes Lied gesungen hat, werden die Stadt und die Familie auf der Bühne gezeigt. Kadmos, der ehemalige Herrscher, der Großvater sowohl Dionysos’ als auch Pentheus’ und der alte Seher Teiresias schließen sich freiwillig dem Kult an. Dem gegenüber steht Pentheus, der jetzige Herrscher, der sich dem Kult verweigert. Die Stadt ist also keineswegs einig in ihrer Ablehnung der Dionysosverehrung, sondern auch hier wird die Struktur wieder mehrmals gebrochen. Die Frauen wurden im Wahn als Backchen aus der Stadt getrieben und huldigen Dionysos im Gebirge, aber auch die Männer in der Stadt sind nicht einig. Teiresias und Kadmos preisen die verjüngende Wirkung durch den Gott (Vers 187-91) und müssen in ihrem Bemühen den Backchen, die gerade zuvor in Form des Chors noch auf der Bühne zu sehen gewesen sind, zu ähneln, komisch gewirkt haben, doch sie selbst sind der Meinung, »kein anderer [sei] bei Sinnen, [als sie] allein« (Vers 196). Damit wird die Frage nach Wahnsinn und geistiger Klarheit wieder gestellt, jeder hat sein eigenes Konzept davon, was »von Sinnen«

241 Die Zitate folgen der zweisprachigen Tusculum Ausgabe. Euripides: Ausgewählte Tragödien Band 2. Übersetzt von Ernst Buschor. Zürich/Düsseldorf 1996. 242 Schlesier stellt heraus, dass Daimonen bei Euripides keine »zum olympischen Pantheon querstehende, niedere oder monströse Gottheiten« sind (S. 269), sondern eine Bezeichnung auch für die Olympier, die deren Mangel an Menschenfreundlichkeit zeigt, den andere Dichter immer wieder behauptet hatten. Schlesier: Daimon und Daimones bei Euripides. S. 271. Hier in den Backchen gibt es wirklich nur einen Daimon und dieser ist Dionysos, der vor allem als Theos verehrt werden will. Der Daimon ist also seine Wirkung in den Menschen hinein, ohne und noch stärker mit Gewalt. Damit verliert der Daimon im Gegensatz zu den früheren Stücken tatsächlich an Komplexität.

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bedeutet. Doch gilt dieses, wie an dieser Szene deutlich wird, nicht nur für die Verwirrung der Sinne durch den Gott, auch dort, wo er (noch) nicht mit Gewalt gewirkt hat, wird diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven aufgeworfen. Kadmos und Teiresias sehen ihre Position als Menschen dem Gott untergeordnet – »Ich bin ein Mensch und füge mich dem Gott« (Vers 199) – auch lassen sie das daimonische Wirken, die unheimlichen, nicht direkt zu zuordnenden Mächte, freiwillig zu – »Wir rechnen beide nicht mit Göttern [Daimonen] ab« (Vers 200) – und werden deshalb nicht direkt von Dionysos gestraft und mit Wahnsinn geschlagen. Eigentlich wären sie somit Vertreter der angemessenen Haltung gegenüber dem Gott, doch diese beiden alten Männer werden von Euripides so überzeichnet, dass sie nicht ernst zu nehmen sind. Da sie sich wie die Backchen kleiden und dennoch nicht unter Dionysos’ gewalttätigem Einfluss stehen, haben sie eine Rolle zwischen den Spielern, den Backchen, den Zuschauern243, Dionysos und hier auch noch Pentheus, der erst später unter Dionysos’ Einfluss gerät. Pentheus bezeichnet Dionysos in seinem ersten Auftritt auch als »neuen Daimon«244 (Vers 219), doch gebraucht er diesen Ausdruck pejorativ, der Daimon ist für ihn kein Gott und dessen Wirken versteht er falsch. Er glaubt nicht an einen echten Kultdienst, sondern an Ausschweifungen, für die der Dionysos-Dienst nur ein Vorwand sei. Die Beschreibung Dionysos’ durch Pentheus birgt bereits einige Vorausdeutungen: Er beschreibt die blonden Locken des Fremden, eine ebensolche Perücke wird Dionysos ihn selber tragen lassen, außerdem will er ihn, den er als Lügner bezeichnet, köpfen – später wird Pentheus’ Kopf auf dem Thyrsusstab seiner Mutter in die Stadt gebracht werden. Die Drohung hier ist also eine ironische Umkehr dessen, was passieren wird. Den Aufzug der beiden Alten beschreibt Pentheus als »neues Wunder« (Vers 248) und der Aufzug des Großvaters ist für ihn ein »Hohn« (Vers 250), also auch Pentheus ist zu Ironie fähig, nicht nur Dionysos. Die Chorführerin nimmt den Frevel des Pentheus als doppelten war, denn er ehrt weder den Gott noch Kadmos. Doch indem er die Familie nicht ehrt, frevelt er gleichzeitig wieder gegen Dionysos, der auch Teil der Familie ist. Durch die Familienbeziehung wird die enge Verbindung von Pentheus und Dionysos noch deutlicher. Auch deshalb können sie in den Vorausdeutungen oft wechselseitig füreinander eingesetzt werden. Teiresias erklärt die Macht des neuen Gottes Dionysos mit seiner heilenden Wirkung für die Menschen. Er setzt Dionysos dabei mit Demeter gleich, während diese Göttin für die Ernährung der Menschen sorgt, hat Dionysos mit dem Wein Linderung für den Schmerz, Vergessen und Schlaf

243 Vgl. hierzu Foley: Ritual Irony. S. 228f. 244 Die hier verwendete Ausgabe übersetzt »neuen Gott«, doch ist für mein folgendes Argument die Unterscheidung Daimon-Theos wesentlich – für das gesamte Stück.

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gebracht – etwas, was kein anderer Gott vermag. Damit ist der diesseitige Aspekt von Dionysos’ Wirken, auf den sich auch der Chor später beziehen wird, gemeint. Dionysos, der Gott, ist nicht nur ein himmlischer Gott, sondern auch ein auf der Erde wirkender daimonischer Gott. Eben in den Erfahrungen, die Dionysos seinen Anhängern – also denjenigen, die das daimonische Wirken erfassen – zu Teil werden lässt, liegt die Heilung. Doch neben dem daimonischen Wirken in den Menschen ist die Verehrung der Menschen an den Altären und in den Gebeten notwendig, damit Dionysos als Gott, als Theos, anerkannt wird. Wildberg weist darauf hin, »dass Götter auf kultische Verehrung, ja auf Hyperesie von seiten der Menschen angewiesen sind.«245 Doch auch Pentheus, der König, erfreut sich an der Huldigung des Volkes, wie Teiresias ihm vorhält (Vers 319-21). So wird eine weitere Parallele zwischen dem Gott und dem König deutlich gemacht, denn sowohl der König als auch der Gott stehen außerhalb der normalen Gemeinschaft und sind damit einerseits heilig und verehrungswürdig, aber andererseits auch gefährdet, da sie durch ihre Andersartigkeit sich als Opfer der Rituals der Gemeinschaft anbieten (vgl. dazu Girard). Neben diesen Kräften ist Dionysos, der hier von Teiresias als Daimon bezeichnet wird, auch »prophetisch« (Vers 298). Doch ist mit dieser Kraft hier nicht so sehr die Vorausschau gemeint, sondern die Macht der Illusion im Spiel – und diese ist eben daimonisch. Doch Pentheus steht nicht unter Dionysos’ Einfluss, sein Irren ist sein eigenes: »Den eignen Irrtum hältst Du für Verstand:/Du fehlst!« (Vers 311-12). Während Dionysos mit seinen heilenden Kräften beschrieben wird, gibt es für die Krankheit des Pentheus keine Heilung246, denn diese Heilung läge in der Anerkennung des Gottes und dazu ist Pentheus nicht fähig, darin gerade besteht seine Krankheit. Dadurch, dass er den daimonischen Gott als solchen nicht erkennt, fühlt er sich von ihm bedroht und so entstehen seine eigene Gefährdung und sein Untergang, da er den Gott in seinem Streben, in seiner Heimat als Theos anerkannt zu werden, gefährdet. Nachdem Dionysos gefangen genommen wurde und in der Stadt festgehalten wird, die er eigentlich in seinen Kultdienst und damit unter seinen Einfluss bringen will, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Pentheus und dem Gott, der sich weiterhin als Priester des Gottes, also seiner selbst, ausgibt. Sein Erscheinungsbild wird von Pentheus als das eines »halben Weibes« (Vers 453) beschrieben, auch diese Opposition verbindet Dionysos in sich: Während er die thebanischen Frauen von den Männern getrennt hat, indem er sie aus der Stadt gejagt hat, erscheint er selber mit weiblichen Zügen wieder in der Stadt. Wenn man sich an dieser Stelle die Situa-

245 Wildberg: Hyperesie und Epiphanie. S. 149. 246 »O deine Krankheit wird von keinem Kraut Geheilt, noch weicht sie ohne Kraut von dir.« (Vers 326-27)

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tion auf der Bühne optisch verdeutlicht, ist Pentheus, mit Ausnahme des Boten, der aber keine Rolle im Spiel der Illusion spielt, der einzige, der nicht in der Kleidung der Backchen auf der Bühne steht: Der Chor, Dionysos, Kadmos und Teiresias tragen alle die Attribute der Backchen. Pentheus ist hier der Fremdkörper, der Andere – wobei Dionysos auf der Metaebene die Verkörperung des Fremden, des Anderen ist. Es entsteht also eine weitere Spannung, die gleichzeitig wieder verdeutlicht, wieso die dionysischen Metaphern auch auf Pentheus bezogen werden können. Der folgende Dialog trägt immer wieder auch komische Züge, da Dionysos über sich selber in der dritten Person spricht, wobei das Publikum in die Verkleidung eingeweiht ist und die Ironie so in direkter Verbindung zum Publikum entsteht. In der Stichomythie wendet Dionysos Pentheus’ Angriffe gegen den Kult und den Gott immer wieder gegen ihn, dies dient sowohl der Warnung, als auch der Provokation, Dionysos treibt Pentheus so zu immer weiter gehendem Frevel. Zweimal wird Dionysos auch hier als Daimon bezeichnet, einmal von Pentheus, der damit wieder dessen Göttlichkeit anzweifeln will und zum anderen von Dionysos selber: Wenn Pentheus ihn einsperrt, dann befreit der Daimon ihn, wenn er ihn zur Hilfe ruft – wobei er natürlich wieder sich selbst meint und schon anwesend ist. Die Freiheit, die hier gemeint ist, ist eine doppeldeutige. Vordergründig ist die Befreiung aus dem Pferdestall gemeint, aber frei macht das Wirken des Gottes in seiner daimonischen Ausprägung auch auf einer anderen Ebene, die durch Mauern nicht begrenzt werden kann, diese wird an den Backchen vorgeführt, wenn auch gewaltsam. Dionysos gibt seine Identität mehrmals fast preis, doch kann Pentheus ihn nicht als Gott erkennen, wie Dionysos sagt: »Unreines Auge hat ihn nie erblickt« (Vers 502). In dieser zunächst ironischen Bemerkung wird die Verblendung des Pentheus wieder in einem Bild aus dem Bereich des Sehens deutlich gemacht, damit wird auch die Spannung zwischen ›sehen‹ und ›erkennen‹ eröffnet. In dieser Art von ›Wortspielen‹ wird die ambige Situation auch auf der lexikalischen Ebene gezeigt. Dionysos geht mit den Worten ab, »was du mir antust, hast du ihm getan« (Vers 518), damit gibt er sich einerseits beinahe wieder zu erkennen, andererseits spielt er damit auf seinen doppelten Charakter an. Nach dem ›Palastwunder‹ beschreibt Dionysos dem Chor gegenüber, wie er Pentheus getäuscht hat, diesmal hat er eine äußere lllusion verwendet und sie noch nicht in den Menschen hinein projiziert. Pentheus glaubt Dionysos zu fesseln, doch in Wirklichkeit »traf er einen wilden Stier« (Vers 618). Auch der Stier ist wieder ein in beide Richtungen offenes Objekt der Täuschung, denn hier steht der Stier für Dionysos ein, später wird Dionysos in Gestalt eines Stieres Pentheus aus der Stadt hinaus führen. Der eine Stier wird gefesselt, also begrenzt, doch ist Dionysos dadurch frei; der andere Stier führt Pentheus nach draußen in die vermeintliche Freiheit, die den Tod bedeutet.

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Doch das Spiel mit der Illusion wird noch weiter getrieben. Als Pentheus versucht, Dionysos mit Waffen anzugreifen, trifft er Luft, da Dionysos ein Trugbild geschaffen hat (Vers 629-30). Hier wird nicht mehr nur eines für das andere eingesetzt, sondern eine Illusion aus dem Nichts geschaffen, die sich wieder in Nichts auflöst. Eine weitere Stufe der Illusion kommt hinzu, da Dionysos hier wieder von sich als einem Anderen, dem Gott spricht, der wohl das Bild erschaffen hat und damit über dieses Spiel mit der Illusion auch die Illusion des lydischen Fremden weiter verstärkt. Pentheus wirft Dionysos vor, unklug zu sein, dieser Vorwurf an Dionysos ist Ausdruck seiner eigenen Unklugheit, die ihm Dionysos spiegelbildlich vorwirft. Seine Hybris besteht darin, sich selber als Herrscher zu sehen – und zwar ohne den Gott zu berücksichtigen. Er strebt nach Herrschaft, ebenso wie Dionysos,Teiresias hatte dies Pentheus bereits zu bedenken gegeben. Als Dionysos Pentheus zum letzten Mal direkt die Chance zur Umkehr gibt: »Du kannst es noch zum Guten lenken, Freund!« (Vers 802), antwortet Pentheus darauf: »Wenn sich der Herr dem Untertanen beugt« (Vers 803). Sich selber will er also als Herrscher sehen, auch über den fremden Priester. Gleichzeitig deutet er wieder sein eigenes Schicksal voraus, da er sich im folgenden Dionysos beugen wird, allerdings unter Einfluss des Wahns. Dionysos verwendet die Verblendung doppelt, um Pentheus zu bestrafen. Zunächst macht er sich dessen eigene Verblendung zu Nutze. Pentheus glaubt, der Kult des Dionysos sei reine Ausschweifung und diese will er sehen. Diesen voyeuristischen Wunsch nutzt Dionysos aus, doch nicht ohne Pentheus zu warnen, dass »wer noch so heimlich kommt, wird aufgespürt« (Vers 817). Diese Warnung an Pentheus ist in Bezug auf Dionysos selbst ironisch, denn er ist heimlich und verkleidet in die Stadt gekommen und dort auch gefangen genommen worden; dabei blieb der Gott als solcher unerkannt. Während der Gott immer in Sicherheit ist, bringt die Ambivalenz des Erkannt-Werdens Pentheus in Gefahr: Er wird entdeckt, aber nicht (als Mensch) erkannt, sondern als Tier gesehen und geopfert werden. Indem Pentheus entdeckt wird, und so vom Zuschauer zum Mitspieler wird, führt »der Theatergott […] vor, dass es keinen souveränen, unbeteiligten Zuschauer geben kann, sondern dass dieser auch immer in den Kommunikationsprozess des Theaters verstrickt ist.«247 Dieser Vorgang endet dramenimmanent in extremer Grausamkeit und übersteigert diesen Effekt so. Die Verkleidung als Frau ist für Dionysos auch ein Mittel, Pentheus, der ihm nicht huldigen will, zu erniedrigen, wobei Dionysos selber weibliche Züge hat. Mehrmals wendet Pentheus ein, dass er keine Frauenkleider tragen will, am deutlichsten in Vers 828: »Nur keine Frauentracht, ich schäme mich!« Dionysos spricht seine Absicht auch offen aus: »Ich will, daß er, der ganzen Stadt zum Spott,/In Weiberröcken durch die Straße zieht,/Nach allem was er eben noch gedroht« (Vers 854-56). Erst an dieser Stelle verwirrt

247 Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie. S. 217.

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Dionysos auch Pentheus die Sinne, vorher hat er die eigene, menschliche Verblendung Pentheus’ genutzt, nun fügt er dieser noch die göttliche hinzu, um seine Rache wirken zu lassen. Damit wird auch Pentheus in eine Rolle, und zwar die des Opfers, gebracht. So machen die Auftrittsverse Pentheus’ im vierten Epeisodion Sinn: »Zwei Sonnen seh ich dort am Himmel, hier/Zwei Städte, zweimal Thebens Mauerring« (Vers 918-19). Aus seinem verdoppelten Wahn sieht er die Welt jetzt doppelt – eine Welt als solche und die Welt der Bühne. Dionysos bezeichnet sich selber als »Sohn des Zeus und aller Menschen Freund« (Vers 860), direkt nachdem er den Plan verkündet hat, dass Pentheus »geschlachtet von der eignen Mutter Hand« (Vers 858) sterben soll. Diese Ironie ist so dunkel, dass sie nicht mehr komisch ist. Gleichzeitig verweist Dionysos mit dieser Aussage auch auf die menschlichen Aspekte seines Wirkens: Der Rausch und die Entgrenzung sind für die Menschen notwendig. Die heilende diesseitige Wirkung des Gottes hatten bereits Teiresias und der Chor angesprochen. Doch wer sich dem Gott widersetzt, wird grausam bestraft, so wie es mit Pentheus geschieht. Als Pentheus verkleidet wieder aus dem Palast kommt, sieht er nicht nur »zwei Sonnen«, sondern sieht auch Dionysos als Stier (Vers 920-22). Der Gott zeigt sich hier über den Umweg des Tiers in seiner Göttlichkeit. Der Chor hat die drei tierischen Erscheinungsformen des Dionysos, Stier, Schlange und Löwe in seinen Liedern zuvor schon genannt. Pentheus kann nun zwar die Göttlichkeit Dionysos’ in dieser Form sehen, aber erkennen kann er sie nicht. Denn dass es sich um den Gott selber handelt, weiß er nicht. Seine Wahrnehmung ist jedoch auch von Dionysos kontrolliert248, dessen Racheplan würde es nicht entsprechen, wenn Pentheus ihn jetzt ganz erkennen könnte. Dionysos spricht davon, dass Pentheus’ Geist von »seiner Krankheit ganz erwacht« (Vers 948) sei. Doch die Heilung, die dem Wirken des Gottes immer zugerechnet wurde, ist hier eben keine durch Entgrenzung, sondern eine durch Gewalt, das macht den Begriff der Heilung hier auch wieder äußerst ironisch und deckt die gefährlichen Elemente des Dionysoskultes auf. Das Gleiche gilt für die thebanischen Frauen, auch sie stehen unter dem gewaltsamen Einfluss des Gottes. Während Dionysos die Frauen dazu veranlasst diese Gewalt nach außen zu bringen, im Opfer des

248 »Der Gott, der unser Feind war, hat sich jetzt Uns ganz versöhnt und schließt dein Auge auf.« (Vers 923-24) Auffallend ist, dass Dionysos hier von »unserem Feind« spricht. Der Gott kann kaum sein eigener Feind sein, doch durch diese Verwendung wird die Verbindung zwischen Pentheus und Dionysos wieder enger. Denn der Gott ist nun nicht mehr der Feind, sondern Pentheus ist durch den göttlichen Wahn, der in ihm wirkt, Teil des Gottes und wird damit Teil des Feindes. Aber nicht durch das Wirken, das heilsam und natürlich wäre, sondern durch direktes Eingreifen des Gottes.

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Pentheus, muss Pentheus an dieser Gewalt sterben. Doch bevor Dionysos Pentheus zu den Backchen führt – der Gott bringt seinen Anhängerinnen hier das Opfer und nicht umgekehrt, denn das Opfer ist nicht nur eines für Dionysos und seine Rache, sondern ebenso eines für die Backchen zur Freisetzung der Gewalt – wird die Heimkehr des Pentheus in einem Dialog, in dem Pentheus die Sätze des Dionysos immer ergänzt, vorausgedeutet. Dieser Dialog ist voll von Ironie, denn Pentheus ergänzt die Sätze des Dionysos mit der Vorstellung seiner Heimkehr als Sieger und deutet damit gleichzeitig seine Heimkehr als Opfer voraus. Wenn er als Opfer heimkehrt, ist im Gegenteil Dionysos der Sieger. An dieser Stelle ist zu sehen, dass die Verblendung des Pentheus durch Dionysos nicht vollkommen sein kann, denn Pentheus ist dem Gott, im Gegensatz zu den Backchen, nicht komplett unterworfen, auch das macht ihn zum Opfer in der folgenden Kulthandlung. Die Backchantinnen Das Stück trägt den Titel Die Backchen oder auch Die Mänaden, doch ist auch die Zuordnung des Begriffes doppelt, denn es gibt im Stück zwei Gruppen von Backchen. Der Chor besteht aus einer Gruppe von asiatischen, fremden Backchen, die mit dem verkleideten Dionysos in die Stadt kommen und so immer am Ort des Geschehens präsent sind. Zum zweiten hat Dionysos die thebanischen Frauen in einem Wahn aus der Stadt getrieben, in den Bergen leben sie nun auch als Backchen. Über diese Backchen wird bis zu Agaues Auftritt nur berichtet, die thebanischen Backchen sind also in Theben abwesend. Die fremden Backchen in der Stadt Über den Chor sagt Dionysos: »Sie sind in meine Tänze eingeweiht/Und haben meine Göttlichkeit bezeugt« (Vers 21-22). Der Chor hat hier also eine kultische Funktion – und zwar Dionysos anzubeten und in den Kultliedern seine Göttlichkeit zu besingen und damit zu festigen. In der Parodos wird Dionysos mit seinen drei Kultnamen angesprochen »Bromios« (Vers 66), »Bachos« (Vers 68) und »Dionysos« (Vers 72). Mit den unterschiedlichen Namen des Dionysos wird auch auf den ambigen Charakter des Gottes verwiesen, die Komplexität wird hier durch die drei Namen noch weiter erhöht. Die Zahl drei kommt immer wieder vor, direkt im Anschluss heißt es »dreimal selig« (Vers 72), auch an weiteren Stellen wird auf die Drei verwiesen: Dionysos hat drei tierische Erscheinungsformen. Die thebanischen Frauen sind in drei Chöre unter Führung der drei Schwestern geteilt. Die drei Daseinsarten Tier-Mensch-Gott werden immer wieder miteinander vermischt und füreinander eingesetzt. Diese Dreierfiguren sind eben nicht in gleiche Teile aufzuteilen (wie es Doppelstrukturen wären) und zeigen damit die immer wieder gebrochene und nicht lösbare Situation des ganzen Stückes.

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Direkt nach der Huldigung des Gottes in der ersten Strophe wird der Mythos der doppelten Geburt des Dionysos, Sohn der menschlichen Semele und des göttlichen Zeus, erzählt. Die Attribute, die Dionysos und den Backchen im Verlauf des Stückes immer wieder zugeordnet werden, verbindet der Chor in diesem Lied mit der Herkunft des Dionysos und verankert so den Kult im Mythos249, ebenso wie die dem Kult zugehörigen Musikinstrumente »die dröhnenden Pauken« (Vers 125) und die »phrygische Flöte« (Vers 126), diese sind in einer Grotte von göttlichen Wesen hergestellt worden. Während zu Beginn der Parodos von der reinigenden Wirkung des Kultes gesprochen wurde250, wird am Ende die Jagd, der Durst »nach rohem Genusse,/Dem Blute des Zickleins« (Vers 139-40) des Dionysos angesprochen, also der gewalttätige Aspekt des Kultes. Die Jagd ist genauso befreiend wie die anderen Elemente des Kultes, da auch hier unterdrückte Triebe freigesetzt werden, auch entsteht eine Gemeinschaft in der Jagd, die unter anderem Girard und Burkert als Beginn der Kultur interpretieren.251 Im zweiten Stasimon wird der Frevel des Pentheus an Dionysos dessen Wirkung gegenüber gestellt. Dionysos gilt hier als »erster der seligen Götter« (Vers 376), weil er in Tänzen und Wein Sorgen vergessen lässt und den Schlaf bringt. Dieses Lied ist gleichzeitig eine Mahnung, auch das Diesseits zu beachten: »Denkt auch der irdischen Dinge!« (Vers 396). Aus diesem Grund wird der Gott Dionysos vom Chor hier auch als »daimonischer Zeussohn« (Vers 417) bezeichnet, das daimonische Wirken des Gottes Dionysos ist ein diesseitiges. Dieses zweite Stasimon ist ein kultisches Klagelied, das den Konflikt zwischen Pentheus und Dionysos und die Behandlung der Backchen beklagt. Auch im darauffolgenden Palastwunder erfüllt der Chor allein die Funktion der Kultgemeinschaft. Das dritte Stasimon hat einen Refrain, in dem »Weisheit« und »Schönheit« mit der Strafe für die Feinde zusammengebracht werden. Die Wiederholung bestimmter Partien und der dadurch entstehende Rhythmus verdeutlichen den kultischen Charakter der Chorlieder weiter.252 In der ersten Stro-

249 Der Gott kommt bereits »stiergehörnt« (Vers 100) auf die Welt, Zeus selber »bekränzt sein/Haupt mit Schlangen« (Vers 101-102). 250 »O dreimal selig, Wer kundig der Weihen Sein Leben läutert Die Seele begeistert, In Bergen schwärmt Zu reiner Entsühnung.« (Vers 72-77) 251 Vgl. dazu den einleitenden Teil dieses Kapitels. 252 Vgl. dazu Rosenmeyer, Thomas: Tragedy and Religion: The Bacchae. In: Segal (Hrsg.): Oxford Readings. S. 370-89. Er bezeichnet den Refrain als »echos of ritual hymnus« (S. 378).

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phe des Liedes wird das Jagdmotiv wieder aufgegriffen, in der zweiten Strophe der Frevel an den Göttern. Die Strafe für den göttlichen Frevel und die Gemeinschaftsstiftung durch die Jagd, die hier allerdings wieder unter dem Einfluss des Gottes stattfindet, kommen so zusammen. In diesem Zusammenhang wird die Basis des backchischen Kultes zusammengefasst: »Leicht ist die Mühe, Dort zu ehren die Macht, Wo der göttliche [daimonische] Wille ist, Wo das uralt Gebräuchliche Und alles ewig Natürliche siegt.« (Vers 893-97)

Das »uralt Gebräuchliche« und das »ewig Natürliche« verweisen hier auf die daimonischen Wirkungsweisen und die grundsätzlichen Affekte, die im Dionysos-Kult freigesetzt werden. Auch das vierte Stasimon hat einen Refrain, in dem die Rache an Pentheus in parallel gebauten und damit besonders eindringlichen Worten gefordert wird. In der letzten Strophe des Liedes werden die drei tierischen Erscheinungsformen des Dionysos noch einmal genannt253: der Stier, als der Dionysos Pentheus aus der Stadt führt, die Schlange, als die er immer bei den Backchen gegenwärtig ist und auch der Löwe, als den Agaue Pentheus sehen wird. So wird wieder eine Parallele zwischen Dionysos und Pentheus gezogen. Der Chor nimmt in diesem Lied die Geschehnisse außerhalb der Stadt vorweg; der Bote wird erst im folgenden Epeisodion davon berichten. Indem der Chor hier bereits von der Strafe berichtet und diese mit dem Frevel am Gott verbindet, verweist er die Ermordung des Pentheus in einen außerzeitlichen Kontext und mythisiert sie so. Zu Beginn des Exodos fragt die Chorführerin den Wächter jedoch nach Neuigkeiten, obwohl der Chor bereits im vorhergehenden Stasimon die Ermordung des Pentheus im Gebirge besungen hatte. Durch die Nachfrage, die auch einen dramaturgischen Anteil hat, denn der Bote muss einer anderen Figur bzw. Gruppe auf der Bühne berichten und kann nicht ins Publikum sprechen, versichert der Chor sich der Realität. Der Bote berichtet von der Realität des Stückes, während der Chor bereits zuvor die Handlung in einen Mythos überführt hatte, so wie er die Mythen immer wieder in den Chorliedern zur Sprache gebracht hatte. Es findet also eine Dopplung zwischen dem mythischen Anteil und dem realen statt. Ganz zum Ende geht der Chor in die Bühnenhandlung über, in der Szene mit Agaue tritt er nicht ausschließlich als Kultchor auf, sondern im

253 »Auf, erscheine als Stier, Als hundertköpfige Schlange Als feuerschnaubender Löwe.« (Vers 1018-20)

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Wechselgesang mit Agaue als Teil der Handlung. Damit werden hier auch die beiden Teile des Chors, ebenso wie die beiden Teile des Kultes, die fremden und die heimischen, (spannungsvoll) miteinander vereint – allerdings um den Preis des Opfers Pentheus'. Die thebanischen Backchen außerhalb der Stadt In der Parodos hat der Backchen-Chor innerhalb der Stadt die befreiende, zunächst friedliche und anschließend auch die gewalttätige Seite des Dionysos besungen; der Bote beschreibt im dritten Epeisodion ein ähnliches Bild der thebanischen Backchen außerhalb der Stadt. Zunächst sieht der Hirte drei Frauenchöre, angeführt von den Schwestern, Agaue, Ino und Autonoë, die »friedlich hingestreckt« (Vers 683) schlafen. Die Backchen werden mit den Attributen beschrieben, die bereits vorher Dionysos und seinen Anhängern zugeschrieben wurden; Dionysos gilt als »stiergehörnter Gott« und wird auch in von ihm erschaffenen Illusionen immer wieder als Stier gesehen. Da die Backchen keine Göttinnen sind, können sie nicht als Tiere erscheinen, aber sie heben die Trennung zwischen Menschen und Tieren auf eine andere Art auf: »Sie nahmen kleine Rehlein auf den Arm/Und wilde Wölfchen, gaben ihnen Milch,/Wenn sie noch junge Mütter waren« (Vers 699-701). So werden die Verehrerinnen dem Gott ähnlich, auch können sie mit Hilfe des Thyrsusstabes Wunder vollbringen, ähnlich den Wundern, die in der Parodos beschrieben wurden. Doch dieses friedliche Bild schlägt in dem Moment um, in dem die Hirten als Fremde, nicht Eingeweihte entdeckt werden. Der Gott verleiht den Backchen auch hier wundersame Kräfte: »Das Vieh/Erlegten sie mit eisenloser Hand« (Vers 733-34). Doch das Rasen geht noch weiter, denn es werden nicht nur die Hirten und das Vieh angegriffen, sondern das Fleisch des Stiers wird anschließend zerteilt. Diese Zerteilung des Stiers, der im Stück als Erscheinungsform des Dionysos vorkommt, ist eine Vorausdeutung auf die Zerteilung Pentheus’ durch die Backchen. Da hier aber der Stier, also eine Verkörperung des Gottes Dionysos, und nicht ein anderes Tier verwendet wird, wird die Parallele zwischen Dionysos und Pentheus wieder deutlich. Das Wirken des Gottes in Pentheus wird ihn erst dazu bringen, in das Gebirge zu gehen, in dem er getötet wird. Indem die Backchen den Stier essen, essen sie ihren eigenen Gott, während der Gott durch den Wahnsinn in sie hinein wirkt, wollen sie durch das Töten und Essen auch seine Wirkung in sich aufnehmen.254 Doch es bleibt nicht allein bei der rasenden Wirkung des Dionysos, auch die heilende Wirkung des Gottes kommt sofort wieder zum Vorschein. Während bisher die heilende Wirkung eher auf die seelischen Vorgänge und die unterschwelligen Affekte bezogen wurde, ist die heilende Wirkung hier eine ganz direkte körperliche. Die Backchen können nicht verletzt werden 254 Frazer beschreibt den Vorgang des Verspeisens des Gottes durch seine Anhänger für viele »primitive Kulturen«, die Menschen wollten so an den Kräften des Gottes teilhaben. (Frazer: The Golden Bough. S. 327).

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(Vers 761) und das Blut ihrer Opfer wird von Wasser aus göttlicher Quelle und von Schlangen, die Attribute des Dionysos sind, abgewaschen (Vers 766-67). So werden die Backchen sofort vom Gott entsühnt. Der zweite Bericht über die Backchen außerhalb der Stadt ist der über Pentheus' Ermordung. Hier werden die – vorher auch friedlich beschriebenen – Backchen von Dionysos direkt aufgefordert, die Rache zu vollziehen, die dem Frevel am Gott gilt (Vers 1079-81). Die Anhängerinnen sollen den Gott rächen, nicht er selber rächt sich. Da Agaue so ihren Sohn töten wird, ist die Rache umso größer und auch eine an ihnen selber. Doch gleichzeitig wird die enge Verbindung zwischen Gott und Anhängerinnen, die zwar nicht gleich werden, sich dennoch sehr weit annähern, wieder gezeigt. Die Backchen werden als »ganz vom Gott durchweht« (Vers 1094) beschrieben. Der Mord an Pentheus wird explizit mit einem Opfer gleichgesetzt (Vers 1114), die Backchen sehen in ihrem Wahn ein »Tier« (Vers 1107) und keinen Menschen. Auch Pentheus selber kann nicht durch den Wahn hindurch zu Agaue durchdringen: Sie »ist ganz des Bacchus voll und bleibt ihm taub« (Vers 1124). Hier wird die Aufhebung der Grenze zwischen Mensch und Tier, die Dionysos immer wieder bewirkt, umgekehrt; indem Pentheus als Tier gesehen wird, wird er dem Gott geopfert. Doch da die Beschreibung der Zerstücklung Pentheus’ mit der Beschreibung der Schlachtung des Stiers korrespondiert (s.o.), der seinerseits eine Verkörperung des Dionysos ist, wird Pentheus nicht nur dem Gott geopfert, er wird auch als Gott geopfert. Jan Kott setzt die Opfer des Pentheus und des Dionysos in zwei Zeitebenen: »Dionysos wurde in illo tempore zerstückelt, in der kosmischen Zeit; die Zerfleischung des Pentheus wird in die historische Zeit eingeschrieben.«255 Diese mythische Zeit ist auch in den Chorliedern immer präsent, der Chor seinerseits mythisiert auch Vorgänge, wie oben beschrieben. Hier findet das Gegenteil statt, etwas, das in der mythischen Zeit bereits passiert ist, wird auf der Ebene der Bühnenrealität später vollzogen. Der Stier, die tierische Verkörperung des Gottes, ist bereits vorher in Stücke gerissen und verspeist worden. Pentheus hingegen wird nicht verspeist, das ganze Ritual ergibt sich so erst durch beide Vorgänge gemeinsam. Dieses Zusammendenken zweier zeitlich voneinander getrennten Vorgänge verweist wieder in die mythische Zeit. Während die Backchen Pentheus in Stücke reißen, mischen sich die Schreie der Backchen und des Pentheus: »Er brüllt vor Schmerzen bis zum letzten Hauch,/Sie jubeln« (Vers 1132-33). Auch darin werden die Gewalt, das Opfer und die Ekstase eng miteinander verknüpft und die zwei Seiten des gleichen Wirkens des Dionysos deutlich. Opfer, Spiel und Gewalt: Agaue kommt in die Stadt Agaue bringt den Kopf des Pentheus »als eines Löwen Haupt« (Vers 1142) auf dem Thyrsusstab in die Stadt. Indem sie den Thyrsus dazu verwendet, liegt die Verantwortung für die Tat bei Dionysos, denn sie ist in der Ver-

255 Kott: Gott-Essen. S. 231.

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blendung geschehen. Agaue selbst preist Dionysos als »Helfer ihrer Jagd und ihres Glücks« (in Vers 1146 berichtet der Bote davon), der Bote beschreibt ihn als »den Siegverleiher, der nur Tränen gibt« (Vers 1147), er erfasst hier also die ambivalente Rolle, die im gottgesendeten Wahn liegt. Der Chor beschreibt Agaue als »sinnverstört« (Vers 1166). In dem darauf folgenden Wechselgesang singt Agaue, die im Wahn Repräsentantin der thebanischen Backchen ist, mit dem Chor der asiatischen Backchen gemeinsam – die beiden Teile der Backchen werden hier um den Preis des Opfers miteinander vereint. Doch befinden sie sich immer noch auf unterschiedlichen Stufen der Illusion, also in Spannung zueinander. Es entsteht eine doppelte Ironie: Der Chor preist Agaue für ihre Tat, die für den Chor eine gerechte Strafe für Pentheus ist, doch geschieht dies in Form eines Frage-und-Antwort-Spiels, in dem der Chor Agaue gegenüber nicht preisgibt, dass es sich um Pentheus und nicht um einen Löwen handelt. In der Gegenstrophe, in der Agaue ihren Jagderfolg dem Volk zeigen will, wird die Ironie dann verdoppelt, indem der Chor Pentheus zur Sprache bringt, während er weiß, dass es sich bei dem Kopf um Pentheus’ Kopf handelt, Agaue jedoch nicht und Pentheus sogar herbei holen will. Im Lied scheint es zudem so, als ob Agaue in ihrem Wahn nicht nur den Löwenkopf sieht, sondern auch ein »Kälbchen« (Vers 1185), das sie mit den Backchen gemeinsam als Opfertier verspeisen will. Das Kälbchen ist ein Bild, in dem die Beziehungen von Pentheus zu Agaue und zu Dionysos verdeutlicht werden. Als Kälbchen ist er ein Kind, Agaues Kind, aber ein Kälbchen kann auch ein Stier werden, so ist er auch das Kind des Dionysos, der als Stier erscheint, und auch Dionysos selber in einer jüngeren Form. Der Chor spricht Agaue mit »Unglückselge« (Vers 1200) an, doch Agaue in ihrem Wahn bemerkt ihr Unglück nicht, sondern möchte, dass Pentheus den Löwenkopf, also seinen eigenen, am Dach des Palastes anbringt. So entsteht durch dies vom Gott geschickte Spiel eine besonders grausame Ironie. Aus ihrem Wahn wird Agaue durch Kadmos befreit. Der Gott taucht hier nicht auf, doch ist es klar, dass sein Plan die Desillusionierung mit beinhaltet hat, denn nur so kann seine Rache wirklich wirken. Doch wird er an dieser Stelle nicht sichtbar, sondern ein Mensch, Kadmos, kann Agaue aus ihrem gottgegebenen Wahn befreien. Pentheus, der Sohn, konnte nicht zu Agaue durchdringen, Kadmos, der Vater, kann es, jedoch erst nach dem Opfer des Pentheus. Kadmos beschreibt Agaues Zustand als »unschaubar Bild« (Vers 1244), mit dem Wortfeld vom Sehen und den Bildern wurde das Spiel mit der Illusion immer wieder beschrieben. Agaue ist in dieser Szene von der Größe ihrer Tat und des Gottes überzeugt. In der Szene mit Kadmos wandelt sich die Ironie – sie ist kaum noch zu ertragen. Agaue wünscht sich, dass Pentheus ein »Jäger« (Vers 1253) sei, mit dem gleichen Wort hatte sie kurz zuvor Dionysos, der sie in ihrer Jagd geleitet hat, beschrieben (Vers 1189). So wird wieder eine Identität zwischen Opfer und Gott hergestellt, allerdings von Agaue unwissentlich. Agaue ist die unfreiwillige Priesterin des Opferkultes für Dionysos, der hier als Strafe für die Menschen vollzo-

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gen wird. Kadmos erkennt diese Bestrafung »über alles Maß« (Vers 1250) als Recht des Gottes an. Nachdem das Opfer erbracht und als gerecht anerkannt worden ist, wird Agaues Wahn als letzte Bestrafung gelöst. Kadmos fordert sie auf zum Himmel hinauf zu schauen, vielleicht ein Verweis auf das Wirken Dionysos auch bei der Umkehr des Wahns, denn die Götter werden z.B. im ersten Stasimon als »Himmlische« (Vers 394, die Übersetzung verwendet auch hier Götter) beschrieben. Die Aufhellung des Himmels wird mit dem Weichen des Wahns gleichgesetzt. Agaue hat vergessen, was sie im Wahn getan hat: »Ich weiß nicht mehr, wovon ich eben sprach« (Vers 1273). Kadmos macht es ihr im Gespräch Schritt für Schritt (also in einem analytischen Vorgehen) wieder klar, das genaue Gegenteil von Wahn, Vernunft, wird hier vorgeführt. Der Wahn jedoch, in den Dionysos die Thebaner geführt hat, hat sie zur Anerkennung seiner Göttlichkeit gebracht, was sie, als sie vor der Verblendung bei Verstand waren, nicht konnten. Jetzt da sie wieder bei klarem Verstand sind, wissen sie um den Frevel. Doch Dionysos’ Strafe geht noch weiter, er verbannt die Kadmer aus Theben und trennt die Familie. Der Chor der asiatischen Backchen beendet das Stück mit einer Passage, in der Daimon (Vers 1388) und die Götter (Vers 1389) gemeinsam für die Handlung verantwortlich gemacht werden. Ganz zum Ende wird von einem Gott, Theos (Vers 1391), gesprochen, dieser meint Dionysos, der das ganze Stück beherrscht hat und in seiner finalen Epiphanie seine eigene Göttlichkeit endgültig erreicht. Direkte theatralische Vorgänge auf der Bühne – Thematisierung des Theaters und das Antitheater Dionysos, der Gott des Theaters, spielt in diesem Stück sein Theater. Im Prolog weiht er das Publikum in seinen Plan ein, als Mensch verkleidet, man könnte auch sagen einen Menschen spielend, nach Theben zu kommen. So spielt er etwas, das er nicht ist oder nicht komplett ist. Da seine Mutter ein Mensch war, hat er zumindest zu Beginn des Stückes einen hybriden Charakter, seine erste Selbstbezeichnung – wie später auch die Bezeichnung durch Pentheus – ist »Daimon« (Vers 42). Genau diese ambige Abstammung drückt sich im Daimon aus, denn der Begriff taucht in den Versen auf, in denen Dionysos selbst seine Mutter und seinen Vater Zeus nennt. Dionysos will nun aber als »Theos« wirken und zwar in der Stadt Theben: »So will ich ihm und seinem Volk als Gott (Theos)/mich kundtun« (Vers 46-47). Als Gott tritt Dionysos erst in der letzten Szene auf, vorher ist seine Göttlichkeit anwesend, indem er die Handlung steuert. Er ist somit nicht nur Schauspieler, sondern auch Autor und Regisseur des Stückes, das er die Thebaner spielen lässt. Aber selbst das Wirken auf die Thebaner ist zweigeteilt. Auf die eine Hälfte, die Frauen, wirkt Dionysos, indem er sie »in hellem Wahnsinn« (Vers 33) aus der Stadt jagt. Den Frauen ist nicht bewusst, dass sie Teil des

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dionysischen Spiels sind. Doch an ihnen spielt der Gott in der Verblendung eine Tragödie durch, sie freveln, indem sie einen Menschen töten, der doch gleichzeitig als gerechtes Opfer gilt. Dies führt in die Katastrophe, die hier gerade in der Erkenntnis der Tat liegt, Erkenntnis wird hier verkehrt. Anstelle von Entscheidungen der Figuren steht immer das Wirken des Gottes, er hat über die Backchen so viel Macht wie kein anderer Gott auf dem griechischen Theater über einen anderen Menschen. Die Verblendung ist bei den Backchen eine rein gottgeschickte, der sie sich nicht entziehen können. Hier wird also ein archaisches Konzept von der alleinigen Verantwortung der Götter für das Handeln der Menschen auf gewaltsame Weise wieder durchgesetzt. Doch diese Antitragödie ist nur der eine Teil der Thematisierung des Theaters; zudem findet sie hauptsächlich indirekt, im Bericht, statt. So müssen die Zuschauer die Handlung dieser Tragödie, die vor allem vom Boten berichtet wird, als Spiel in der Phantasie erleben. Der andere Teil der Handlung, der in der Stadt spielt, stellt Vorgänge, die mit dem Theater und dem Spiel verbunden sind, direkt aus: die Verwandlung des Dionysos, von der nicht wirklich deutlich ist, ob es sich um eine Verkleidung, Maskierung oder eine reine lllusion, die das Publikum und Dionysos erkennen, die Thebaner und die asiatischen Backchen jedoch nicht, handelt; und die Verkleidungsszene zwischen Pentheus und Dionysos. Auch das sogenannte ›Palastwunder‹ ist eine Szene des Spiels der Illusion. Im dritten Epeisodion lässt Dionysos den Palast »wanken und fallen« (Vers 592). Während hier auf der Ebene der Handlung die Göttlichkeit Dionysos’ durch dieses bedrohliche ›Wunder‹ gezeigt werden soll, verdeutlicht diese Szene auf der Reflexionsebene ein anderes Problem. Ob der Palast nun mit Hilfe der Bühnenmaschinerie zum Wackeln gebracht wurde, oder ob die Zuschauer durch die Reaktion des Chors indirekt das Beben wahrgenommen haben256, immer ist klar gewesen, dass kein wirkliches Beben stattgefunden hat. Dies führt zur Frage nach dem Realismus des Theaters. Muss ein Beben auf der Bühne so realistisch wie möglich simuliert werden, wobei diese Simulation nie perfekt sein kann und somit als solche erkennbar bleibt, oder ist die indirekte Vermittlung, die gar nicht versucht die Illusion zu schaffen, ausreichend? Diese Frage ist derjenigen nach Dionysos’ Verkleidung sehr ähnlich: Hat er sich verkleidet oder reicht es, dass er im Prolog sagt, er habe nun die Gestalt eines Menschen angenommen? Die Aufführung von 405 v.Chr. – sowie jede andere Aufführung – hat darauf ihre Antwort gehabt und diese gespielt. Selbstverständlich stellen sich diese Fragen bei jeder Aufführung jedes Stü-

256 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Standpunkte: Foley geht davon aus, dass es sich um »a miracle […] more symbolic and prophetic than realistic« gehandelt habe. (Foley: Ritual Irony. S. 221). Murray hingegen denkt, dass es durch einen Trick auf der Bühne gezeigt wurde: »One may suppose that the Greek stage carpenter was capable of some symbolic crash which served its purpose«. (Murray: Euripides and His Age. S. 121).

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ckes, doch die Backchen thematisieren diese Vorgänge bereits im Text; damit wird die Reflexionsebene bereits deutlicher in diesen hineingeholt. In der Palastwunderszene spricht Dionysos aus dem Palast heraus und seine Stimme wird von den Backchen als die Stimme Dionysos’ erkannt, z.B. »Dionysos ist drinnen, o ehrt ihn!« (Vers 589), doch sobald er den Palast verlässt, ist er wieder der lydische Priester des Dionysos. Stimme und Erscheinung, die beiden Grundcharakteristika einer Figur, werden hier voneinander getrennt. Auch durch diese Trennung öffnet sich wieder eine Metaebene. Diese Trennung von Erscheinung und Stimme ist im griechischen Theater eine ganz zentrale, denn die Masken waren zu sehen, während durch sie hindurch die Stimmen der Schauspieler, deren Gesichter eben nicht zu sehen waren, zu hören waren – Teil auch des daimonischen Charakters des Schauspielers. In den Backchen wird diese Dualität durch das Verbergen des Dionysos im Palast in einen größeren Zusammenhang transportiert und damit umso deutlicher ausgestellt. Während sich in diesen beiden Szenen vor allem die Fragen nach dem Spiel des Theaters auf der Metaebene auftun, wird in der Verkleidungsszene ein Vorgang des theatralischen Spiels ganz direkt auf der Bühne gezeigt und vorgeführt. Nachdem Dionysos Pentheus mit dessen eigener Verblendung überlistet hat, verkleidet er ihn als Mänade. Dionysos selber – ironisch gebrochen – spricht davon, dass »der Geist des Dionysos in [ihm] weht« (Vers 825). Dies ist auch eine Beschreibung des Theaterspielens, denn Dionysos ist der Gott des Theaters und wie weitgehend er der Gott dieses Spiels ist, wird im gesamten Stück deutlich. Theater stellt immer etwas aus und ist damit immer genauso doppeldeutig wie Dionysos. In seiner Verkleidung versucht Pentheus wie ein Schauspieler in seinem Auftreten möglichst genau die Backchen zu imitieren. Zum einen ahmt er den Gang seiner Mutter und deren Schwestern (Vers 925-26) nach. Dass er gerade diese auswählt, ist bittere Ironie, da diese ihn kurz darauf töten werden. Im folgenden Dialog lässt sich Pentheus von Dionysos die Attribute der von ihm vorher noch verachteten Mänaden zurechtrücken, sein Ziel ist es, ihnen ganz zu gleichen (Vers 941). An der ersten Stelle fragt Pentheus »Wie siehst Du mich?« und an der zweiten sagt er »Ganz will ich ihnen gleichen.« Beides beschreibt den Vorgang des Spiels von zwei Seiten, zum einen von der Seite des Zuschauers und zum anderen von der Seite des Schauspielers. Dabei gleicht er sich äußerlich auch Dionysos an, hier wird die Parallelität zwischen Dionysos und Pentheus, die vorher in der Gegensätzlichkeit bestand, optisch in der Identität verdeutlicht. Walter Burkert hat darauf hingewiesen, dass durch die Verwendung der Maske Gott und Verehrer miteinander identisch werden. Hier wird nicht die Maske verwendet, sondern das ganze Kostüm, bis hin zur Perücke.257 So wird die Bühnenfigur Pentheus, indem er sich wie ein Schauspieler in einer Art Spiel-im-Spiel verhält, eins mit dem Theatergott

257 Jan Kott beschreibt die Verwendung der Perücke als »symbolisches Zeichen«. Kott: Gott-Essen. S. 217-18.

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Dionysos, der in der Tragödie selber auftritt und Initiator dieses Spiel-imSpiels ist. Dabei führt diese Identifikation dazu, dass Pentheus in der Tragödienhandlung das angemessene Opfer für die Backchen ist und so für den Gott und zugleich als Gott geopfert werden wird. Das Publikum wird in den Backchen bereits im Prolog zum Mitwisser des Dionysos und seiner Verkleidung. Im Gegensatz zu allen Figuren auf der Bühne wissen die Zuschauer, dass es sich bei dem lydischen Fremden um Dionysos selber handelt. So wird das Publikum einerseits in eine spezielle Position gebracht, andererseits über Dionysos auch in das Bühnengeschehen integriert. Da die Lieder des Chores als Kultlieder gestaltet sind, sprechen sie das Publikum als Kultgemeinde des Dionysos an diesem Fest besonders an – denn an solchen Liedern hat das Publikum an den vorhergegangenen Tagen, beim Kommos und bei den Aufführungen der Dithyramben, immer wieder Teil gehabt. In den Backchen wird das Theater reflektiert, dazu wird auch der Dionysoskult der thebanischen Backchen als eine Art Anti-Theater vorgeführt. Denn der Kult ist nur für Eingeweihte zugänglich, ganz im Gegensatz zum Theater, dessen Gott Dionysos ebenfalls ist, dieses wird durch eine Öffentlichkeit konstituiert. Dionysos ist die Verbindung zwischen Bühne und Publikum, er der Gott mit den daimonischen Zügen, der gerade in diesem Stück die gewalttätige Seite auslebt, verbindet als Gott des Anlasses, also der Dionysien, und als Gott auf der Bühne beide miteinander. Immer wieder wird auf die heilende Wirkung des Dionysos hingewiesen, z.B. in der Rede Teiresias’. Diese heilende Wirkung ist eine, die über Entgrenzung und Rausch stattfindet, also elementare Affekte der Menschen anspricht, ganz ähnlich verhält es sich mit den Affekten in der Tragödientheorie – »Das rasende Schwärmen der Mänaden hat dies eine Ziel: durch ekstatische Handlung die Seele zu reinigen und ihr so ›Frieden‹ zu bringen. Es ist Katharsis, also das Gleiche, was Aristoteles von der Tragödie erwartet hat.«258 In den Backchen wird die Wirkung des Dionysos jedoch im Extremen und mit extremer Gewalt durchgespielt. Die Ambiguitäten tendieren stärker als zuvor zur Unvereinbarkeit. Gerade das sonst verdeckte wird so extrem thematisiert und an die Oberfläche gebracht – dabei entstehen die Räume zur Reflexion des Theaters.

258 Melchinger: Die Welt als Tragödie Band 2. S. 233.

II Von Überwindungsstrukturen zu neuen Konflikten

Nach den klassischen attischen Tragödien folgt für Jahrhunderte keine substantiell relevante Auseinandersetzung mit Theorie oder Praxis der Tragödie. Dennoch zu erwähnen sind Senecas Dramen und die Dichtung des Barock mit ihren Märtyrerdramen. Während es sich bei den Stücken Senecas zumeist um Nachdichtungen griechischer Tragödien handelt, bei denen die Götter ihre Macht verloren haben und der Allmacht der sich selbst ermächtigenden Figuren – Medeia ist hierfür ein gutes Beispiel – untergeordnet werden1, herrscht im barocken Trauerspiel eine vorausschaubare Eindeutigkeit vor. Das Jenseits und das Seelenheil sind die zentralen Begriffe. Richtige Handlungsweisen werden immer angeboten und die vorgeführten Märtyerer, wie Catharina von Georgien in Gryphius’ gleichnamigem Stück, setzten ein Beispiel für die Zuschauer. Sogar die Auslegung der Stücke, die emblematisch angelegt sind, ist erlernbar. Dennoch ist dies der

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Zudem ist es umstritten, ob es sich bei den Seneca-Tragödien um Bühnenstücke oder um reine Rezitationsdramen, welche dann keine theaterspezifische Wirkung auf das Publikum mehr aufweisen, handelt. Der Hauptvertreter der These der Rezitationsdramen ist Otto Zwierlein (Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas). Ähnlich argumentiert Dihle, der das Argument noch mit der Aufführungspraxis von »Einzelnummern« stützt (Dihle: Seneca und die Aufführungspraxis der römischen Tragödie). Auch Kindermann geht von der Rezitation der Dramen aus, da die »publikumspsychologische Wirkungsfunktion« der Tragödie sich auf die Pantomime verlagert habe (Kindermann: Theaterpublikum der Antike. S. 158). Dagegen argumentieren Sutton, der seine These mit der Untersuchung impliziter Bühnenanweisungen auf ihren dramaturgischen Gehalt stützt (Sutton: Seneca on the Stage), sowie unter anderem Lebrecht-Schmidt für eine Aufführungspraxis (Lebrecht-Schmidt, Peter: Nero und das Theater. In: Blänsdorf (Hrsg.): Theater und Gesellschaft im Imperium Romanum. S. 149-163). Die meisten Interpreten vermeiden diese Frage, doch wird immer wieder vom »Zuschauer« gesprochen und die Wirkung auf ihn untersucht, dabei wird oft nicht deutlich, ob es sich um einen echten Zuschauer oder mehr um einen Zuhörer der Rezitation handelt.

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Zeitpunkt an dem zum ersten Mal ein Theaterbetrieb in Deutschland entsteht.2 Erst in der Aufklärung entstehen im deutschsprachigen Raum wieder Dramen, die für eine Auseinandersetzung mit der Tragödie relevant sind und auch bis heute wirken und gespielt werden.3 Nicht zuletzt beginnt in der Aufklärung wieder eine Orientierung an den griechischen Tragödien und an Aristoteles Poetik, die jedoch aus der jeweils eigenen Zeit und Absicht heraus interpretiert werden, so z.B. in Lessings Umwertung der aristotelischen Begriffe oder im Fall von Schillers Griechenbild. Doch bevor einige der konkreten Dramen von der Aufklärung bis zur (marxistischen) Tragödie Heiner Müllers kurz auf die Frage nach ihrem tragischen Gehalt hin betrachtet werden, stehen zu Beginn dieses Kapitels einige bis heute einflussreiche Theorien über die Tragödie, die zum Teil einen von den im ersten Kapitel über die griechische Tragödie deutlich unterschiedlichen Begriff von dem, was Tragödie und ihre Wirkungsmöglichkeiten sind, darstellen.

D IALEKTISCHE D EFINITIONEN DER T RAGÖDIE SEIT H EGEL Eine der einflussreichsten Theorien der Neuzeit ist diejenige Hegels, die vor allem in den Vorlesungen über die Ästhetik4 (zuerst in Heidelberg 1818 gehalten; 1835 schriftlich erschienen) formuliert wird. Am dauerhaftesten hat sich die Definition von einer Kollision innerweltlicher Konflikte, die in einer übergeordneten Versöhnung aufgeht, erwiesen – diese Erwartung einer Aufhebung bzw. Überwindung der Konflikte am Ende der Tragödie (vgl. Schiller) wirkt noch immer nach, auch wenn sie heute anders, kritisch, hinterfragt wird.5 Die tragische Dialektik ist jedoch in Hegels Philosophie ein Grundgedanke, der sich weit über eine Theorie der Tragödie in Religion und Ästhetik hinein fortsetzt.6 Hier zeigt sich eine Bindung der Tragödie an ein 2 3 4 5

6

Vgl. hierzu und zu den Eigenarten des Barocktheaters zur Übersicht z.B. FischerLichte: Die Semiotik des Theaters oder Alewyn: Der Geist des Barocktheaters. In England sind Shakespeares Dramen, die bereits rund 150 Jahre früher als die hier erwähnten deutschen Dramen entstehen, m.E. wirkliche Tragödien. Zitiert wird nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Vgl. dazu unter anderem Menke: Tragödie im Sittlichen. Die Hauptthese dieser Hegel-Analyse ist, dass sich in Hegels Theorie in Auseinandersetzung mit dem Recht ein Weg zu einer neuen Tragödie und zwar im Menschen auftut. Gestützt wird die Argumentation auf die Betonung der Individualität bei Hegel und die der Feststellung eines »Konflikt[s] mit den Forderungen individueller Selbstverwirklichung und »Authentizität«. Und dieser Konflikt einer modernen Tragödie im Sittlichen findet keine dialektische Lösung« (S. 12). Vgl. dazu die Unterscheidung von Tragik und Tragödie Szondis weiter unten.

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weiter reichendes System, an einen gemeinsamen Horizont, der über das reine Drama hinausgeht – auch wenn dieser in diesem Fall ein rein philosophischer ist. Wohingegen in meiner Untersuchung das Verhältnis zur Welt, in der die Tragödie als Theater stattfindet und ihr Publikum mit seiner (im Mythos aufgehobenen) Erinnerung sucht, zentral ist. Doch bei Hegel ist die Bezugsgröße die Transzendenz, die allem anderen übergeordnet und von der Welt letztlich unabhängig ist. Die Zwecke, die auf der Welt in Widerstreit liegen, können dabei eine Ausprägung in der Geschichte, in der Realität haben – für eine Tragödie im hegelschen Sinn, müssen sie jedoch sittlichen Wert an sich besitzen. Die Versöhnung ist immer das »wahrhaft Substantielle.«7 Damit entstammt der finale Zweck der Handlung der transzendenten Ebene, und so kehrt die Handlung auch auf diese Ebene zurück und löst sich damit wieder von der Welt. Hier sollen die Grundgedanken des entscheidenden Abschnittes über die Tragödie als konkretes Drama kurz nachvollzogen werden. Grundsätzlich ist der Versöhnungsgedanke, die Aufhebung des dialektischen Konflikts der Kern dieser Theorie. Hegel spricht von einer »notwendigen Auflösung«8 des Konflikts. Er definiert das Drama als solches als Kollision, aus der sich die Handlung entwickelt. Die Handlung und nicht die Wirkung steht also im Mittelpunkt. Wobei die Handlung der Ort ist, an dem die Zwecke, die Inhalte, ihren eigentlichen Konflikt austragen. »Das dramatische Handeln aber beschränkt sich nicht auf die einfache störungslose Durchführung eines bestimmten Zwecks, sondern beruht auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften und Charakteren und führt daher zu Aktionen und Reaktionen, die nun ihrerseits wieder eine Schlichtung des Kampfs und Zwiespalts notwendig machen.«9

Die Tragödie definieren dabei die Charaktere und ihre Motivationen – also die Art der Zwecke. Es muss sich um grundsätzliche Fragen handeln, im Gegensatz zur Komödie, in der »die Subjektivität als solche in Wollen und Handeln sowie äußere Zufälligkeit sich zum Meister aller Verhältnisse und Zwecke macht.«10 Die tragischen Zwecke zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die reine (egoistische) Subjektivität hinausgehen, auch wenn individuelle Elemente in den Charakteren enthalten sind und diese ausmachen. »Den wahrhaften Inhalt des tragischen Handelns liefert für die Zwecke, welche die tragischen Individuen ergreifen, der Kreis der im menschlichen Wollen substantiellen, für sich selbst berechtigten Mächte.«11

7 8 9 10 11

Hegel: XV. Vorlesungen über die Ästhetik III. S. 524. Ebenda S. 520. Ebenda S. 475. Ebenda S. 521. Ebenda.

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Die echten, reinen tragischen Charaktere verkörpern nachgerade die Prinzipien, deren Kollision in der transzendenten Ebene aufgehoben wird. Sie sind die Manifestation auf der Welt. Wenn diese in einen Widerstreit mit den persönlichen Charaktereigenschaften geraten, werden Konflikte deutlich, die für Hegel das Tragische entwerten. Damit wird der Bereich der tragischen Konflikte eingegrenzt, Tragik gilt nur dort, wo es um das Recht dieser höheren Anschauungen geht. Wenn diese nicht aus einer Notwendigkeit entstehen, spricht Hegel von »Schauspielen« und »Dramen.«12 Deshalb werden die tragischen Zwecke – unter die für Hegel »die Familienliebe der Gatten, der Eltern, Kinder, Geschwister; ebenso das Staatsleben, der Patriotismus der Bürger, der Wille der Herrscher; ferner das kirchliche Dasein«13 fallen – an ein allgemeines, höheres Prinzip gebunden, »das eigentliche Thema der ursprünglichen Tragödie ist das Göttliche«14 und »das Sittliche […] ist das Göttliche in seiner weltlichen Realität.«15 An die Stelle eines gemeinsamen Horizonts, der als Mythos definiert werden kann (erinnert oder aktuell), treten hier absolute und ewige Werte, die damit auch vom Publikum unabhängig sind. Auch in diesem System gibt es zwei Ebenen, eine transzendente und eine weltliche. Doch findet zwischen diesen keine Kollision statt. Wenn das Individuelle einen dauerhaften eigenen Anspruch behauptet, handelt es sich für Hegel eben nicht mehr um Tragödie. Die Prinzipien, die in Hegels Auffassung von Tragödie miteinander kollidieren, sind ewige, sittliche. Zudem sind die Ansprüche gleichberechtigt. In der alten Tragödie, die daimonisch definierbar ist, ist der andere Anspruch für den Menschen nicht durchschaubar, so liegt eine Asymmetrie vor, aus der das Scheitern entsteht. Die Zwecke werden in Hegels Theorie zudem implizit moralisch gewertet – das Sittliche ist das Transzendente in seiner weltlichen Form – und daraus ihre Dauerhaftigkeit abgeleitet. Die Kollision kommt nur zu Stande, weil die ewigen Prinzipien sich eben in der Subjektivität der Menschen und der Welt in ihrer Dynamik des Handelns manifestieren. Auf der höheren Ebene gibt es diese Konflikte nicht, sie entstehen erst in der Welt (wie es sich dabei konkret mit dem Theater verhält, bleibt unklar). Damit wird der Inhalt der Tragödie als elementar definiert, es werden gewichtige Fragen der menschlichen Existenz verhandelt. Die Transzendenz wird dabei in ein Vernunftsprinzip überführt und so letztendlich als zentrales Element – vor allem auch der Versöhnung, von der etwas später die Rede ist – erhalten. Der Rechtszustand löst die vom Schicksal abhängige Ordnung der Welt ab – ja das Schicksal wird selber zu einem Ausdruck der Vernunft erklärt.16 Er wird im

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Ebenda S. 568. Ebenda S. 521. Ebenda S. 522. Ebenda. Vgl. ebenda S. 547. Hier schreibt Hegel über das Ende der griechischen Tragödien eben als »Vernünftigkeit des Schicksals.«

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Kapitel über die Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes als Gleichheit definiert: »Das Allgemeine, in die Atome der absoluten Individuen zersplittert, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten.«17 Aus dieser Definition lässt sich der gleichberechtigte Anspruch der Personen ableiten. Aus dem allgemeinen Prinzip treten die Individuen hervor – eben diese Entwicklung hat Hegel auch als einen der zentralen Punkte im Übergang von der alten zur modernen Tragödie festgestellt.18 Die Helden der alten Tragödie sind, wie es wenig später in Abgrenzung zur modernen Tragödie heißt, »individuelle klassische Verlebendigung sittlicher Mächte.«19 In der modernen Tragödie jedoch spielt die Subjektivität der Charaktere eine stärkere Rolle (sie können »schwanken«) – und gerade deshalb ist das vollkommenste Kunstwerk für Hegel ein altes: Antigone. In der modernen Tragödie verändern sich die Zwecke, die Charaktere und auch die Versöhnung, die sogar eine bloße Zufälligkeit werden kann.20 Da die modernen Charaktere mehr von ihrer Subjektivität geleitet sind21, ist die echte Versöhnung, wenn sie denn noch zu Stande kommt und es sich so um eine Tragödie in Hegels Sinn handelt, umso mehr Teil des Transzendenten. Die Versöhnung geht damit auch über die Individualität des Einzelnen hinaus und überwindet letztlich auch den Konflikt, der zwischen Subjektivität und sittlichen Mächten herrscht – allerdings nur auf der globalen, übergeordneten Ebene. Wie Hegel über die alte Tragödie schreibt: »Das Fatum weist die Individualität in ihre Schranken zurück und zertrümmert sie, wenn sie sich überhoben hat.«22 Deshalb treten in der Moderne dann auch Schauspiele und Dramen neben Komödien und Tragödien auf, da es auf Grund der Individualität unterschiedliche Zwecke geben kann und gibt, die dann der rein weltlichen Ebene entstammen. Hegel spricht von »gedoppelte[n] Menschen, die nicht zu fertiger und dadurch fester Individualität gelangen können.«23 Gerade hier sieht er Probleme für das Tragische. Denn dieses bleibt eben das Transzendente und an die sittlichen Werte gebunden. Da es sich bei den Zwecken der Tragödie um solch grundlegende Fragen handelt und die Positionen nach ihrer Durchsetzung verlangen und zwar eben nicht aus einer Laune oder einem

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Hegel: III. Phänomenologie des Geistes. S. 355. Vgl. Hegel: XV. Vorlesungen über die Ästhetik III. S. 556ff. Ebenda S. 555. Vgl. dazu ebenda S. 566. Vgl. dazu ebenda: »Die romantischen Charaktere hingegen stehen von Anfang an mitten in einer Breite zufälliger Verhältnisse und Bedingungen, innerhalb welcher sich so und anders handeln ließe, so daß der Konflikt, zu welchem die äußeren Voraussetzungen Anlaß darbieten, wesentlich in dem Charakter liegt, dem die Individuen in ihrer Leidenschaft nicht um der substantiellen Berechtigung willen, sondern weil sie einmal das sind, was sie sind, Folge leisten.« (S. 560) 22 Ebenda S. 548. 23 Ebenda S. 563.

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Impuls, sondern aus einer substantiellen Notwendigkeit für das Leben heraus – auch das im gleichberechtigten Rechtszustand institutionalisierte Leben –, ist diese Kollision auch eine gewalttätige oder birgt zumindest ein Moment von Gewalt in sich. Dies verbirgt sich in Hegels Vokabular hinter dem Begriff der »Verletzung«: »Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollisionen beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe in Schuld geraten.«24

Diese Verletzung ist zunächst eine innerweltliche, da aber beide Positionen an das höhere Prinzip und dessen »Totalität« gebunden sind, müssen sie folgerichtig auch ihr Gegenteil in sich selber enthalten. Damit ist die Schuld immer auch eine Schuld gegen sich selber, ebenso wie gegen den anderen – und die immanente Gewalt an sich eine Verletzung des höheren Prinzips. Hegel schreibt über den Konflikt in Antigone dazu: »So ist beiden25 an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselweise erheben, und sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört.«26 Es handelt sich um eine Kollision, die so nur in der Welt möglich ist, denn auf der höheren Ebene herrscht eben die Gleichheit, die Synthese dieser Ansprüche. Da die griechischen Helden für Hegel als ungebrochen gelten, wird hier die Kollision – und die Versöhnung – in einer klareren Form deutlich. Das zeigt sich auch im Umgang mit der Schuld. In Bezug auf die alte Tragödie gibt es auch bei Hegel ein Prinzip des SchuldlosSchuldig-Werdens. Dieses entsteht nun aber gerade nicht aus der Spannung, sondern aus der Einheit der heroischen Figuren und ihrem Pathos. »Das ist eben die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. Sie sind das, was sie sind, und ewig dies, und das ist ihre Größe.«27 Damit sind sie wieder Manifestationen der festen Prinzipien und keine Figuren, in denen sich Konflikte befinden. Mehr noch, die Schuld wird hier zur Ehre, diese Figuren verstehen sich in Hegels Interpretation damit selber als Manifestationen der Prinzipien. Damit ist die Schuld, in die der Held unverschuldet gerät, auch vom Leid getrennt. Der Mensch leidet hier nicht an seiner eigenen

24 Ebenda S. 523. 25 Gemeint sind Antigone und Kreon, die aber exemplarisch für tragische Charaktere als solche gelten können, denn »von allem Herrlichen der alten und modernen Welt […] erscheint mir nach dieser Seite die Antigone als das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk« (S. 550). 26 Ebenda S. 549. 27 Ebenda S. 546.

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Fehlbarkeit und Individualität. Der Bereich der Ich-Konstituierung im Leid, die moderne Interpreten, denen ich mich anschließe, als eines der Merkmale der attischen Tragödie definieren, wird hier gegenteilig ausgeschlossen, damit Tragik zwischen den festen Prinzipien entstehen kann. Subjektivität, die Hegel hier jedoch als rein innermenschliches Prinzip und nicht als Auseinandersetzung mit überindividuellen Kräften versteht, lehnt er ab: »Doch hat diese subjektive Tragik innerer Zwiespältigkeit, wenn sie zum tragischen Hebel gemacht wird, überhaupt teils etwas bloß Trauriges und Peinliches, teils etwas Ärgerliches, und der Dichter tut besser, sie zu vermeiden, als sie aufzusuchen und vorzugsweise auszubilden.«28 So wären beide Prinzipien letztendlich eins, der Widerspruch wäre damit nur ein scheinbarer, die Kollision nur auf der einen, weltlichen, Ebene vorhanden und kann es auch nur sein. Hegel schreibt über den Beginn der Tragödie in Griechenland: »Indem nun erst die Entgegensetzung solcher zum Handeln berechtigten Individuen das Tragische ausmacht, so kann dieselbe nur auf dem Boden der menschlichen Wirklichkeit zum Vorschein kommen.«29 Auf der höheren Ebene sind die Widersprüche keine solchen mehr (denn hier herrscht eben die Totalität der Unterschiede), um das auch auf der Welt zu erreichen, muss die Sittlichkeit sich durchsetzten, das Göttliche in seiner säkularisierten Form in der Welt wirken. Das wäre die dialektische Gegenbewegung zur Manifestation der Unterschiede in der Welt, durch die die Konflikte erst entstehen, und der darauf folgenden Versöhnung der Prinzipien, die zu einem Zustand führen, der dem in der Transzendenz ähnlich ist. Wenn eine Versöhnung in der Welt nicht möglich ist, dann verschiebt sich die Synthese der Positionen auf die höhere Ebene, an die die Berechtigung der Zwecke von jeher gebunden war. Hegel verfährt also auch in seiner Analyse der Kunstformen dialektisch, diese Dialektik ist zugleich immer auf eine Versöhnung ausgelegt – dieser Versöhnung zu Grunde liegt der Glaube an eine ewige Gerechtigkeit. »So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als die tragische Kollision ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts. […] Das wahrhaft Substantielle, das zur Wirklichkeit zu gelangen hat, ist aber nicht der Kampf der Besonderheiten, wie sehr derselbe auch im Begriffe der weltlichen Realität und des menschlichen Handelns seinen wesentlichen Grund findet, sondern die Versöhnung, in welcher sich die bestimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung und Gegensatz einklangsvoll betätigen.«30

Bei der attischen Tragödie – entsprechend den in dieser Arbeit vorgestellten Überlegungen – bleibt auch bei einer vordergründigen Versöhnung immer ein Rest unaufgelöster Spannung, da eben nicht alles Menschliche göttlich

28 Ebenda S. 563. 29 Ebenda S. 540. 30 Ebenda S. 524.

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werden kann und nicht alles Göttliche menschlich. Bei Hegel manifestieren sich das Transzendente und die Konflikte in der Welt. Diese werden jedoch wieder aufgehoben und in die Transzendenz zurück überführt: indem das Göttliche das Menschliche überwindet bzw. beide im Ideal eins werden. Diese Versöhnung wird auf die Wirkung der Tragödie bezogen, also auf die Zuschauer übertragen. Auch die Affekte werden nun an das höhere Prinzip gebunden, das dem Menschen in seiner Sittlichkeit innewohnt und dessen Verletzung zu tragischen Konflikten führt. Dies gilt vor allem für das Mitleiden, das als »Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden, mit dem Affirmativen und Substantiellem das in ihm vorhanden sein muß«31 definiert und von »gewöhnlicher Rührung«32 abgegrenzt wird. Damit handelt es sich auch hierbei wieder nicht um einen unmittelbaren Effekt der Wirkung, sondern um einen kognitiven Vorgang, der darauf beruht, dass auch der Zuschauer erkennt, was sittlich, affirmativ und substantiell ist. Die ewigen Prinzipien sollen sich idealerweise in den Menschen manifestieren und hier liegt die tragische Spannung. »Was nun der Mensch wahrhaft zu fürchten hat, ist nicht die äußere Gewalt und deren Unterdrückung, sondern die sittliche Macht, die eine Bestimmung seiner eigenen freien Vernunft und zugleich das Ewige und Unverletzliche ist, das er, wenn er sich dagegen kehrt, gegen sich selber aufruft.«33 Damit geht es um den Inhalt der Furcht und nicht mehr um die Wirkung in einem theatralen Moment. Doch auch diese Furcht kann in der allgemeinen Sittlichkeit aufgehoben und überwunden werden. Auch in der Interpretation der Affekte geht es somit um das göttliche Prinzip, das sich im Menschen manifestiert und gefährdet ist. Hier gilt also ein ähnliches Verhältnis wie für die Manifestation der Zwecke in der Welt, die letztlich in den Menschen, die dann die Konflikte austragen, vorgeht. Deshalb ist die Individualität (paradox, oder auch dialektisch, da der Konflikt am Ende aufgehoben wird) immer auch notwendig für das Entstehen des tragischen Handelns34 – man könnte diesen Gedanken Hegels auch auf die Möglichkeit der tragischen Wirkung in seinem Sinn erweitern. Es gibt ein Prinzip, das »ewig und unverletzlich« ist, damit ist die Tragödie grundsätzlich ein Spiel darum, ob sich dieses Prinzip auf der Welt durchsetzten kann – auf der höheren Ebene steht es nicht in Frage. Dieses Prinzip hat sich in der Entwicklung der Tragödie verändert, diese ist »bei der Partikularität der Zwecke und Charaktere teils abstrakter«35 geworden

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Ebenda S. 525. Ebenda. Ebenda S. 525. Vgl. dazu ebenda S. 534: »Denn zum wahrhaft tragischen Handeln ist es notwendig, daß bereits das Prinzip der individuellen Freiheit und Selbständigkeit oder wenigstens die Selbstbestimmung, für die eigene Tat und deren Taten frei aus sich selbst einstehen zu wollen, erwacht sei.« 35 Ebenda S. 565.

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und erhält zudem einen subjektiven Aspekt, da »sich auch die Individuen in sich selbst mit ihrem individuellen Schicksal versöhnt zeigen müßten.«36 Die Verfehlungen und die Schuld gegen dieses Prinzip bestehen darin, dass es den Konflikt überhaupt gibt – dieser findet jedoch zwischen den Menschen statt, in denen sich die sittlichen Zwecke manifestieren, und nicht zwischen Mensch und außermenschlicher Instanz. Doch ist die Verfehlung unvermeidbar in einem tragischen Sinn, da beide Positionen ihre Berechtigung und auch eine dringende Notwendigkeit zur Durchsetzung haben und diese eben aus dem übergeordneten Prinzip legitimieren. Gegen dieses Prinzip kann sich nicht erhoben werden, sondern es erhebt den Menschen. Die unvermeidbare Tragik wäre dann, dass die Konflikte in der Welt stattfinden, da die Prinzipien sich dort einerseits durchsetzten wollen und andererseits so zum Konflikt führen. Da das transzendente Prinzip jedoch außerhalb der Tragödie steht, auch wenn sie an es gebunden ist, indem sich eben die Zwecke aus ihm legitimieren, birgt es immer die Versöhnung in sich, wenn nicht in den weltlichen Bereich hineinwirkend, dann als ewiges Prinzip, das letztendlich immer gilt. Dieses bleibt auch in den Konflikten der Tragödie unhinterfragt. So gilt dann auch für den Zuschauer eben dieses Gefühl der Sicherheit, der Versöhnung. »Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht deshalb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch der ihrem Begriffe nach einigen sittlichen Mächte in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetzte und Bestand erhalte.«37

Damit ist die Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer diejenige, das allgemeine Versöhnungsprinzip des Tragischen, wie es hier verstanden und aus einem transzendenten Prinzip abgeleitet wird und das sich in der Welt generell wiederfindet, auch auf dem Theater zu erfahren. Peter Szondis Versuch über das Tragische38 befasst sich zunächst nicht mit der Tragödie, sondern mit dem »Tragischen« als allgemeinerem Phänomen, wie es sich auch durch Hegels philosophisches System zieht. Er beschreibt die weitere Entwicklung dieser Wandlung des Interesses von der Tragödie zum Tragischen bei verschiedenen Denkern der idealistischen und nachidealistischen Epoche. Während die Tragödie seit Aristoteles mit Hilfe der Poetik beschrieben wurde, ist das »Tragische« ein philosophischer Begriff

36 Ebenda S. 566. 37 Ebenda S. 526. 38 Zitiert nach Schriften 1. S. 149-260. Zuerst erschienen 1961, 2. durchgesehene Auflage 1964.

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und zwar einer der »idealistischen und nachidealistischen Zeit«39 und »bleibt der deutschen Philosophie eigen.«40 Das Tragische wird hier also als »Idee« gefasst, die in einer bestimmten Zeit »das Denken […] in stets neuer Gestalt«41 durchzieht. Damit wird es hier vom Theater und vom Publikum getrennt und zwar nicht nur von der Umsetzung auf der Bühne, sondern zunächst auch von den Theatertexten, die in gewisser Weise mit Hilfe der Philosophie transzendiert werden, da sie als Ausdruck des allgemeinen Prinzips verstanden werden. Andererseits sind sie eine der wenigen Möglichkeiten dieses Prinzip zu überprüfen. Diese Konzentration auf das Wesen und nicht mehr auf die konkrete Wirkung ist einer der großen Unterschiede zwischen einer Theorie (oder Poetik) der Tragödie und einer universellen Philosophie des Tragischen, der im ersten Kommentar zu Schelling, der nach Szondi die Philosophie des Tragischen begründet hat42, formuliert wird: Hier »beginnt die Geschichte der Theorie des Tragischen, die ihr Augenmerk nicht mehr auf dessen Wirkung, sondern auf das Phänomen selber richtet.«43 Das »Tragische«, das als solches aus den philosophischen Schriften bestimmt werden soll, wird dann zur Analyse der Theatertexte von außen wieder herangezogen. »Ferner haben sie [die Kommentare zu den verschiedenen Denkern] die verschiedenen Bestimmungen des Tragischen auf ein mehr oder weniger verstecktes Strukturmoment hin durchsichtig zu machen, das allen gemeinsam ist und seine Bedeutung erlangt, will man die Definitionen der verschiedenen Denker im Hinblick nicht auf deren Philosophie lesen, sondern auf die Möglichkeit mit ihrer Hilfe Tragödien zu analysieren, in der Hoffnung also auf einen generellen Begriff des Tragischen.«44

Dieser generelle Begriff, der Prozess, der analysiert wird, »darf mit Hegel dialektisch genannt werden.«45 Hegels Philosophie ist also in dieser Studie, die ein Dutzend Philosophien von Schelling bis Scheler skizziert, der Hauptbezugspunkt für die Bestimmung dessen, was das Tragische ausmacht: die Dialektik. Doch geht es nicht um eine Interpretation der Hegelschen Dialektik, sondern um ein Grundmoment, das in allen behandelten Systemen zu finden ist und so zum definierenden Merkmal wird. In einer Fußnote definiert Szondi den Begriff: »›Dialektik‹ und ›dialektisch‹ bezeichnen in der ganzen Studie nach Hegels Wortgebrauch, jedoch ohne die

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Ebenda S. 151. Ebenda. Ebenda. Vgl. dazu den programmatischen ersten Satz der Studie: »Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.« (S. 151). 43 Ebenda S. 157-58. 44 Ebenda S. 153. 45 Ebenda S. 159.

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Implikationen seines Systems, folgende Tatbestände und Vorgänge: Einheit der Gegensätze, Umschlag des Einen in sein Gegenteil, Negativsetzung seiner selbst, Selbstentzweiung.«46 Diese Denkmuster findet Szondi in verschiedenen Ausprägungen, z.B. bei Hölderlin im Paradoxon von Natur und Kunst oder bei Schelling als Identität von Freiheit und Notwendigkeit. Das Tragische wird jedoch in der Dialektik dieser Philosophien explizit oder implizit aufgehoben, am Ende steht eine Versöhnung. »Freilich wird diese Überwindung des Tragischen seit Schelling in den idealistischen Deutungen immer schon mitgedacht.«47 Dies gilt für die idealistischen Deutungen, doch Szondi befasst sich ebenso mit den nachidealistischen, als Wendepunkt ist dabei Hegels zentrale Theorie aufzufassen. »Während in Schellings Bestimmung der Tragödie das Dialektische noch freigelegt werden muß, da Schelling […] allzu leicht zur Harmonie fortschreitet, fallen bei Hegel Tragik und Dialektik zusammen.«48 Denn bei Hegel werden vor allem die Kräfte, die gegeneinander wirken und miteinander kollidieren, zentral und gerade ihr gleichberechtigter Anspruch macht die Tragik aus. In der Analyse der Hegeltexte stellt Szondi an diesem Punkt im Umgang mit dem Göttlichen eine Dialektik fest, die sich in der Herkunft der Begriffe, die miteinander in Konflikt stehen, zeigt. Das Tragische wird in Szondis Hegel-Interpretation zu einem allgemeinen Prinzip erhoben und im Begriff der Sittlichkeit transzendiert: »Zum Weltprinzip erhoben, duldet sie [die Dialektik, »die zugleich das Tragische (und dessen Überwindung) ist«] keinen Bereich, der ihr verschlossen bliebe.«49 Gerade in dieser Universalität hebt sich dann der Anspruch der Aufhebung in einer anderen, bereits präexistierenden Harmonie auf – die Dialektik ist zugleich und eben nicht mehr sukzessive das Tragische und dessen Überwindung. Doch ist sie eben auch die Überwindung, da in der Universalität gleichzeitig das »Weltprinzip« in die weltlichen Vorgänge hineingetragen wird und somit auch die Versöhnung ihren Platz behauptet. Szondi argumentiert selber dialektisch zwischen Idealismus und Nachidealismus. Das Versöhnungskonzept wird zwar immer wieder in Frage gestellt, doch dabei nie ganz verabschiedet, sondern eher in einer immer vorhandenen Harmonie aufgehoben, was einer Transzendierung nahe kommt. Die Debatte verlagert sich zunächst auf die Metaebene, ob es »das Tragische« unabhängig von der Tragödie als allgemeines philosophisches Prinzip, wie es z.B. in der Hegeldiskussion als »Weltprinzip« auftaucht, überhaupt gibt. »Wo eine Philosophie als Philosophie des Tragischen mehr wird als Erkenntnis jener Dialektik, zu der ihre Grundbegriffe zusammentreten, wo sie nicht mehr die eigenen Tragik bestimmt, ist sie nicht mehr Philoso-

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Ebenda in Fußnote 8 auf S. 159. Ebenda S. 186. Ebenda S. 167. Ebenda S. 173.

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phie. Also scheint die Philosophie das Tragische nicht fassen zu können – oder es gibt d a s Tragische nicht.«50 Das Tragische ist also trotz aller philosophischen Bemühungen empirisch, handfest und zwar in unterschiedlichen Ausprägungen. Was nachvollziehbar ist, ist die Art und Weise wie es zustande kommt, sich ›abspielt‹, doch sein eigentliches Wesen bleibt unzugänglich (oder wird es eben doch erst auf der Bühne in Verbindung mit dem Publikum, auch wenn Szondi sich mit der Wirkung der Tragödie, die in der Poetik im Mittelpunkt stand, nicht befasst). »So bleibt die dialektische Struktur des Tragischen nicht dem philosophischen Gesichtspunkt vorbehalten, auch dem dramaturgischen und dem geschichtsphilosophischen ist sie bekannt, wenngleich fast immer in begrifflicher Besonderung, so daß als tragisch kaum je die Dialektik als solche erachtet wird. Dennoch darf sie als Kriterium gelten für die Bestimmung des Tragischen.«51

Und dieses bestimmt er folgendermaßen: »Das Tragische ist ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische.«52 So wird das Tragische nun nicht mehr als eigenes Prinzip definiert, sondern als Vorgang, als Prozess – und damit kommt es dem Drama, das seinerseits ein Vorgang ist, wieder sehr nahe. Gleichzeitig ist auch ein Endpunkt des tragischen Prozesses gegeben: die Vernichtung. Auch wenn es heißt: »Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten – Sphäre«53, ist mit der Vernichtung doch ein Ende erreicht. So werden die Widersprüche zwar nicht aufgehoben, doch in der Vernichtung in einer Art negativen Synthese vereint. Szondis Definition der Dialektik als tragischem Modus geht ihrerseits dialektisch vor, indem sie den idealistischen Versöhnungs- und Rettungsanspruch mit der Infragestellung der Ideologien zu vereinen versucht. Dies gelingt eben, indem eine tragische Wesenheit einerseits nicht identifiziert wird und dadurch andererseits in einer Art Transzendierung die Dialektik als solche zur Wesenheit gemacht wird. Dabei wird der Widerspruch zwar immer wieder als nicht aufzuhebender beschrieben und gar gefordert, doch geschieht dies aus der Notwendigkeit der dialektischen Bewegung, die qua definitione auf einen Endpunkt, der hier dann negativ, also nicht mehr als Erhebung oder Überwindung, sondern als Vernichtung definiert wird, angelegt ist. Das Positiv der Versöhnung wird durch das Negativ der Vernichtung ersetzt. Dennoch bleibt auch hier ein Gleichgewicht erhalten.

50 51 52 53

Ebenda S. 200-201. Ebenda S. 207. Ebenda S. 209. Ebenda.

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Die Entwicklung der Theorie in der idealistischen Epoche geht so weit, sich vom konkreten Theater zu lösen. »Der Begriff des Tragischen hat sich verselbständigt.«54

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T RAGÖDIE ?

Da meine Arbeit von einer Möglichkeit der Tragödie bis heute ausgeht, steht sie in gewissem Widerspruch zu den Theorien, die die Tragödie als überkommene Form ansehen. Eine der zentralen Positionen hierzu vertritt George Steiner, dessen Essay den provokant-plakativen Titel Tod der Tragödie (1962) trägt. Die Annahmen und vor allem Schlussfolgerungen Steiners sind in bestimmten Punkten kritisch zu hinterfragen. Die in seinem Essay vorgestellte Analyse der Tragödie, die anhand von Beispielen der abendländischen Dramengeschichte – aber bezeichnender Weise ohne ein Kapitel über die attische Tragödie – vorgeht, stellt die These eines Verfalls der tragischen Form auf. Dazu wäre es zunächst notwendig zu betrachten, womit hier die Tragödie definiert wird, also welche Form verfällt. Diese Definition bleibt seltsam diffus: Es wird vor allem gesagt, was nicht tragisch ist, so z.B. das Christentum und andere Versöhnungsgedanken. »Aber wo es Entschädigung und Ausgleich gibt, haben wir Gerechtigkeit, keine Tragödie.«55 Die Definition stützt sich vor allem auf das Leiden, das als nicht gerecht angesehen wird. »Das tragische Drama entsteht aus der genau entgegengesetzten Behauptung: das Schicksal ist blind, und die Begegnung des Menschen mit dem Schicksal beraubt ihn seiner Augen.«56 Dieses Leiden und die »Blindheit« gehen einher mit einem Anspruch von Größe und Höhe, der auch immer wieder über einen hohen Stil, den Vers der frühen Tragödien, mitgetragen wird. »Doch gerade in diesem Übermaß seines Leidens liegt der Anspruch des Menschen auf seine Würde.«57 Zumindest der Held der griechischen Tragödie wird in genauer Betrachtung in der Begegnung mit dem Schicksal jedoch nur vorübergehend seiner Augen beraubt – am Ende steht immer das Sehen der eigenen Verfehlung, und eben aus diesem Zurücksehen entsteht letztendlich das große Leiden – und auch eine Einsicht in die eigene Verfehlung. Unausweichlich wie sie auch gewesen sein mag, hat der Mensch doch seinen Anteil daran, wenn auch nicht vollkommen für ihn selber verständlich. Angesichts dieses Leides konstituiert sich das Ich in der antiken Tragödie. Die zweite Definition der Tragödie erfolgt etwas später über den Exzess: »Die Tragödie entspringt aus dem Exzeß, sie protestiert gegen die Lebensbedingungen. Sie enthält die Möglichkeiten der Unordnung, denn alle tragischen Dichter besitzen etwas von dem Empörertum der

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Martinec: Von der Tragödientheorie zur Philosophie des Tragischen. S. 126. Steiner: Tod der Tragödie. S. 7. Ebenda S. 8. Ebenda S. 12.

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Antigone.«58 Diese Exzessivität ist Ausdruck des Auflehnens des Menschen gegen das Schicksal und zugleich Ausdruck der Gewalt, die in der Tragödie selbst vorhanden ist. Steiner bindet die Möglichkeit der Tragödie an die zeitlichen Gegebenheiten, er benennt den Zeitpunkt, nach dem es keine Tragödien mehr gegeben hat, ganz genau: das 17. Jahrhundert. Der Grund dafür liegt darin, »daß gewisse wesentliche Elemente des sozialen und imaginativen Lebens, die von Aischylos bis Racine im Vordergrund gestanden hatten, nach dem siebzehnten Jahrhundert in den Hintergrund des abendländischen Bewußtseins traten, [so] daß das siebzehnte Jahrhundert der große Wendepunkt in der Geschichte der Tragödie ist.«59

Shakespeare und Racine gelten ihm als die letzten Tragödiendichter. Doch beide Dichter sind zum Teil in einer christlichen, gar mittelalterlichen Weltordnung verhaftet. Gerade die Inkorporation auch dieser Elemente in die Tragödie macht diese Stücke bemerkenswert. Meiner Ansicht nach ist es die Spannung, in die eben diese Elemente eingebunden werden, die hier zum Tragödie-Charakter beitragen. Denn, dass das christliche Weltbild, das auf eine Erlösung im Jenseits ausgelegt ist, antitragisch ist, ist offensichtlich. Doch gerade diese Sicherheit ist vor allem bei Shakespeare nicht mehr festzustellen, auch wenn Fragen, die aus einer solchen Ordnung entstehen, wie die Legitimität von Herrschaft, in tragischer Weise behandelt werden – eben auch und gerade, indem das christliche Weltbild nicht von vornherein vollkommen abgelehnt oder überwunden wird. Die Beschreibung eines Niedergangs der Tragödie ist auch aus Steiners eigener Logik heraus nicht vollkommen schlüssig. Denn auf die Zeit der attischen Tragödie folgt das antitragische Mittelalter und auf das 17. Jahrhundert mit seiner tragischen Dichtung das romantisch-idealistische Zeitalter, welches Steiner auch als nicht tragisch identifiziert. Es scheint also eher eine Wellenbewegung zu geben und keinen linearen Verfall, von dem Steiner ausgeht: »Wie wir sahen, ist der Verfall der Tragödie untrennbar mit dem Verfall der organischen Weltanschauung und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Gesamtheit von mythologischen, symbolischen und rituellen Bezügen verbunden.«60 Hier ist m.E. die Annahme, dass jeder Tragödie eine organische Weltanschauung zu Grunde liegt, problematisch. Die Weltanschauung der attischen Polis zeichnete sich vor allem durch ihre Unsicherheit aus, die die Mythen und ihre Offenheit angeht. Diese Offenheit zeigt sich auch im Nebeneinander der chtonischen und olympischen Kräfte der Gottheiten und der Willkürlichkeit ihrer Macht. Richtig ist, dass es sich um einen Grundkonsens handelte, aber dieser besteht eben aus einer Ambiguität. Den Mythen der Griechen liegt eine Gewalttätigkeit zu Grunde, die

58 Ebenda S. 144. 59 Ebenda S. 98. 60 Ebenda S. 241.

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die Kultur ebenso konstituiert, wie in Frage stellt. Das Organische an dieser Weltanschauung wäre dann der Konsens, dass die Kultur ständig der Gefahr ausgesetzt ist und dieses in den Mythen präsent gehalten wird (vgl. dazu Kapitel I). Steiner bezeichnet mit dem Organischen jedoch einen harmonischeren Konsens, der genauso in nicht-tragischen Epochen zu finden ist (wie dem Mittelalter und auch im Pantheismus des idealistischen Zeitalters). Diese Wahrnehmung der Welt und ihrer Bedrohlichkeit ging zwar auch bei den Griechen mit einem »Könnens-Bewußtsein« (Chr. Meier) einher, doch in der Moderne bleibt nur dieses »Könnens-Bewußtsein« übrig und für Steiner ändert sich damit auch die Form des literarischen Ausdrucks – er sieht eine Kluft entstehen. Zudem wirft auch Steiner die Frage auf, ob die Sprache die Gewalt der heutigen Welt noch angemessen darstellen kann – vor allem auf der Bühne – zumal die Sprache als Mittel der Gewalt missbraucht worden ist.61 »Darüber hinaus hat die politische Unmenschlichkeit unserer Zeit die Sprache in bisher ungekanntem Maß erniedrigt und brutalisiert.«62 Dieser Gewalt wird eine andere Qualität unterstellt als derjenigen, die z.B. der attischen Tragödie zu Grunde liegt. Steiner formuliert diese Diskrepanz folgendermaßen: »Die Grausamkeit war dem Umfang und der Reaktion der Phantasie noch angemessen./Ich bin mir nicht klar, ob das heute noch der Fall ist. Welches Kunstwerk könnte unserer unmittelbaren Vergangenheit entsprechend Ausdruck verleihen?«63 Hier liegt m.E. ein Problem der Argumentation: Das Schöne, Ästhetische wird immer mit dem tragischen Schicksal verknüpft. Die Darstellung des Leidens soll schön bleiben: »Können wir bei diesen Mißbräuchen der Sprache durch politischen Terror und durch das Analphabetentum des Massenkonsums überhaupt eine Rückkehr jenes in Worte gekleideten Geheimnisses erwarten, das der tragischen Dichtung zugrunde liegt?«64 Doch ein Geheimnis, das Rätselhafte, Unerklärbare, Andere kann sich gerade auch durch Gewalt und Grausamkeit auszeichnen. Die Frage, die sich hier stellt, ist also eine nach der Möglichkeit von Tragödie, eben nicht nur aus einer positiven Unmöglichkeit – dem Konsens –, sondern auch der negativen. Ich denke, dass die Sprache des gegenwärtigen Theaters, z.B. bei den von mir im letzten Kapitel analysierten AutorInnen, sich dieser Tatsache durchaus bewusst ist. Da eine ›neue Sprache‹ nicht zu erfinden ist, muss die Sprache sich in den Stücken in ihrem Missbrauch selber thematisieren und reflektieren, oder diese Gewalt auf eine andere Ebene, z.B. die der Körper,

61 Selbstverständlich kommt bei dieser Argumentation das Adorno Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, in den Sinn. Die Auseinandersetzung damit führt hier zu weit, wird aber sowohl in Poesie als auch Poetik der letzten Jahrzehnte geführt. 62 Steiner: Tod der Tragödie. S. 259. 63 Ebenda S. 259. 64 Ebenda S. 260.

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transportieren. Hierbei ist dann wesentlich, dass Theater mehr ist als Text – die Exezessivität, die auch Steiner in der Tragödie sieht, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Das »Geheimnis« dieser Zeit ist eines der Gewalt und der Inkorporation von Gewalt in den Text. Auch aus dieser Spannung von Unmöglichkeit entsteht tragisches Geschehen. Der Kern der Tragödie ist auch für Steiner der Mythos in seiner Aktualität und zeitlichen Wirkungsmöglichkeit. »Das Kunstwerk vermag die Schranken, die jede private Schau umgeben, nur zu überschreiten – es kann den Spiegel des Dichters zum Fenster machen –, wenn es einen Kanon von Glaubensvorstellungen und Konventionen gibt, die der Künstler mit seinem Publikum teilt, kurz, nur dann, wenn das, was ich eine Mythologie nannte, lebendige Kraft ist.«65

Diese Lebendigkeit ist auch der theatrale gegenwärtige Moment. Doch ebenso wie gegenwärtig und lebendig, ist dieser Moment auch immer ein toter, da vergehender und schon vergangener Moment. Auch auf der Ebene dessen, was befragt wird, ist das Vorzeichen der ›lebendigen Kraft‹ immer auch das Andere: Die eigentlich lebendige, also wirkungsmächtige, Kraft ist die des Todes, vor allem aus der historischen Erfahrung heraus. Es ist paradox, die (Lebens)energie der Toten beeinflusst die Lebenden und wird so von den Lebenden am Leben gehalten. Nichts anderes ist auch Mythologie, die gemeinsame Kraft, die die Lebenden von den Toten erfahren. Im (tragischen) Theater wird diese dann befragt, mit ihr gearbeitet und damit das Theater als Moment lebendig und während es in seiner Vergänglichkeit immer schon zugleich stirbt. Was ein Mythos ist oder wird, ist je nach realhistorischer Situation und Geisteshaltung unterschiedlich. Neben der Geschichte, sind dies z.B. auch die Wissenschaft und der Fortschrittsglauben, die Steiner zutreffend als solche interpretiert. »Die Mythen, die seit Descartes und Newton herrschten, waren Mythen der Vernunft, vielleicht nicht weniger wahr als die, die ihnen vorausgingen, aber weniger geeignet für die Forderungen der Kunst. Doch wenn man die Kunst von der Vertäuung an die Mythen losreißt, wendet sie sich zur Anarchie. Sie wird zum Sprung der erregten, doch individuellen Imagination nach außen, ins Sinnentleerte.«66

Aber das Theater der Tragödie befragt den Mythos, die Gegenwartsstücke fragen eben, ob Vernunft die Lösung ist, stellen die Mythisierung oder Apotheose der Vernunft in Frage. Tragödie entstehen dort, wo der Verstand an der Realität scheitert. Das Mittel dazu ist nun wieder die Kunst. Die kritische Distanz zum Mythos hat sich noch weiter vergrößert, aber eben so ent-

65 Ebenda S. 262. 66 Ebenda S. 264.

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stehen neue Mythen aus der Erfahrung der realen Geschichte, die in ihrer Reflexion im kollektiven Gedächtnis mythisch verankert werden. Auch Steiners Beobachtung über den Marxismus als eine der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die an die Stelle der Transzendenz getreten ist, trifft zu: »Die Metaphysik des Marxismus ist wie die des Christentums antitragisch. Das ist im wesentlichen das Dilemma der modernen Tragödie.«67 Doch hat sich auch der Marxismus als Metaphysik selber ad absurdum geführt (unabhängig von seinem Scheitern als gesellschaftlichem Experiment). Dies findet sich z.B. bereits bei Heiner Müller. Auch (oder gerade) da er im real existierenden Sozialismus geschrieben hat, gibt es keinen ungebrochenen Glauben an eine Erlösung mehr. Steiner formuliert folgende Ansicht: »Das tragische Theater ist ein Ausdruck der prärationalen Phase in der Geschichte; es gründet sich auf die Annahme, daß es in der Natur und Psyche okkulte und unkontrollierbare Kräfte gebe, die in der Lage sind, den Geist zum Wahnsinn zu treiben oder ihn zu zerstören.«68 Man könnte aus der Erfahrung der jüngsten Geschichte daran anschließend eine postrationale Phase postulieren – die sich gerade auch in der mythischen Erinnerung, die thematisiert wird, niederschlägt. Denn der pure Rationalismus als Erfahrung hat eben nicht zum Erfolg geführt, sondern gerade in der Form des Fanatismus das Irrationalste hervor gebracht – der Rationalismus ist an der Realität gescheitert. Neben dieser ›Rückkehr der Geschichte‹ hat sich auch der pure Rationalismus der Technik verselbständigt, auch in der Wahrnehmung und Reflexion dieser Tatsache lässt sich ein mythischer Vorgang beobachten. Steiner sah sich vor einigen Jahren (2004) veranlasst, noch einmal auf das Thema zurück zu kommen – doch am Ende kommt er zum gleichen Ergebnis: »As is, I see no persuasive grounds on which to retract the case put in The Death of Tragedy, 1961.«69 In diesem neuen Aufsatz wird der Begriff der Tragik zunächst erweitert: »As our literatures evolve, the concept of tragedy extends far beyond the dramatic genre.«70 Was das Tragische ausmacht, wird hier ein wenig anders gefasst als noch im Tod der Tragödie. Das Leiden wird konkretisiert als Heimatlosigkeit, die aus einer Erbsünde entsteht. »This nucleus (Ur-grund) is that of ›original sin.‹ […] Thus the necessary and sufficient premise, the axiomatic constant in tragedy is that of ontological homelessness […] of alienation or ostracism from the safeguard of licensed being. There is no welcome to the self. This is what tragedy is about.«71 Der dialogische Charakter der Tragödie wird dann auch hier mit dem Anderen des poststrukturalistischen Diskurses zusammengebracht: »Thus a core of dynamic negativity underwires authentic tragedy. It entails a

67 68 69 70 71

Ebenda S. 267. Ebenda S. 282. Steiner: Tragedy Reconsidered. S. 15. Ebenda S. 1. Ebenda S. 3-4.

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metaphysical and, more particularly, a theological dimension. […] tragedy has been the meeting point between the metaphysical and the poetic. […] It posits, as current idiom has it, the ›Other.‹«72 Aus seinen Beobachtungen folgert Steiner wieder, dass Tragödie nicht mehr möglich sei. Er scheint beinahe verwundert, dass es die Möglichkeit zur Tragödie überhaupt gab und geben kann. Die Frage, die er stellt, ist wiederum die nach einer angemessenen neuen Form und Sprache. Seine Beobachtungen sind zum Großteil zutreffend, doch der Schluss daraus, dass so keine Tragödie mehr möglich sei, ist nicht zwingend. Er ergibt sich daraus, dass Steiner das Andere mit Metaphysik und Theologie gleichsetzt. Allein aus diesen Dimensionen kann Tragödie nicht mehr entstehen, aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, diese Dimension zu besetzen und ihre Besetzung zugleich zu hinterfragen. Wenn man auf Steiners eigene These des Exzesses als grundsätzliches Moment der Tragödie zurückkommt, bietet sich in der Debatte über die Form des Theaters eine weitere Möglichkeit mit der veränderten Realität umzugehen. Der Umgang mit Gewalt, Grausamkeit in Verbindung mit Körperlichkeit und Tod ist dabei ein wichtiger Anknüpfungspunkt.

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UND ( P HYSISCHE ) R EALITÄT DES A NDERE ASPEKTE U ND NEUE W EGE

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Sehr viel konkreter auf das Theater und seinen Platz in der Realität bezogen beschäftigt sich hingegen Carl Schmitt mit der Frage nach dem, was ein Drama zu einer Tragödie macht. Hamlet oder Hekuba (1956) enthält den zentralen Gedanken bereits im Untertitel: »Der Einbruch der Zeit in das Spiel«. Es geht um die Verbindung zwischen dem Drama und der realhistorischen Zeit, in der es geschrieben und vor allem gespielt wird; diese Zeiterfahrung teilen Publikum und Bühne. Damit ist der Bezugspunkt eben kein transzendentes System, sondern ganz konkret und zwar auch im Theatervorgang. Gerade indem die historische Zeit neben der Bühnenzeit relevant wird und präsent ist, wird ein Drama zur echten Tragödie. Zentrales Element der Tragödie ist der Mythos, der entweder verwendet oder mit Hilfe des Dramas konstituiert wird. Als Beispiel und Ausgangspunkt hierfür dient der Studie Shakespeares Hamlet. Die Frage, die sich stellt, ist: »Woran liegt es also, daß ein Theaterstück der letzten Jahre des Elisabethanischen Zeitalters diesen seltenen Fall eines modernen europäischen Mythos hervorgebracht hat?«73 Es handelt sich bei Hamlet um ein Beispiel, das nicht im engeren Sinn zum Untersuchungsbereich dieser Arbeit gehört, aber das deutsche und das englische Theater sind gemeinsame Teile der europäischen Theatertradition, die sich vom griechischen Theater herschreibt. Deshalb ist 72 Ebenda S. 4. 73 Schmitt: Hamlet oder Hekuba. S. 12.

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diese Theorie auch hier durchaus verwendbar. Die beiden Punkte, die Schmitt untersucht und an denen er den »Einbruch der Zeit in das Spiel« festmacht, sind das Tabu der Königin und die Figur des Rächers. Diese beiden bringt er mit den Herrschern Elizabeth und James zusammen. In der Übergangszeit derer Regentschaften ist Hamlet entstanden. Doch die Art und Weise, in der sich diese geschichtliche Wirklichkeit im Drama zeigt, ist nicht direkt, sondern es handelt sich um eine tiefere Schicht, als welche die historische Zeit wirkt – darin dem Mythos vergleichbar. Schmitt formuliert dies folgendermaßen: »Eine furchtbare geschichtliche Wirklichkeit schimmert durch die Masken und Kostüme des Bühnenspiels hindurch.«74 Die Realität ist damit auch auf der Bühne vorhanden, sie ist nicht nur in das Spiel eingebrochen, sondern liegt ihm sogar zu Grunde. Neben dieser für die Tragödie zentralen Reflexion und Manifestation der Zeit gibt es noch zwei weitere Arten, wie Bühne und Realität miteinander verbunden werden. Doch diese sind nicht dazu geeignet einen Mythos zu begründen, sie überdauern in ihrer Wirkung die Zeit nicht. Denn diese Arten von Anspielungen und Spiegelungen der Realität finden auf einer anderen, offeneren Ebene statt, sie zielen auf ganz konkrete Ereignisse oder konkrete Personen – so sind sie zunächst unmittelbarer, doch auf längere Sicht nicht von Bestand.75 »Neben den flüchtigen Anspielungen und den wahren Spiegelungen gibt es noch eine dritte und höchste Art von Einwirkungen aus der zeitgeschichtlichen Gegenwart. Das sind die strukturbestimmenden, echten Einbrüche. Sie können nichts Häufiges und Alltägliches sein, aber ihre Auswirkung ist umso stärker und tiefer.«76

Daraus ergibt sich auch die Dauerhaftigkeit dieser echten Einbrüche, ihr mythischer Charakter und ihre Tragik, auch und vor allem in Bezug auf das Publikum. Nachdem die beiden Elemente (des Tabus und des Rächers), die die Tragik in Hamlet ausmachen, konkret analysiert wurden, wird die Frage auf der allgemeinen Ebene noch einmal aufgeworfen: »Woher nimmt die Tragödie das tragische Geschehen, aus dem sie lebt? Was ist in diesem Sinne – allgemein gefragt – die Quelle der Tragik?«77 Die Antwort darauf ist die Öffentlichkeit, die real-historische Zeit, der gemeinsame Zeit-Raum der Erfahrung von Bühne und Publikum. »Ein Verfasser von Theaterstücken, die unmittelbar zur Aufführung von einem ihm wohlbekannten Publikum bestimmt sind, steht nämlich mit diesem seinem Publikum nicht nur in psycho-

74 Ebenda S. 21. 75 Sie erschließen sich nach einiger Zeit nur noch über eine längere Recherche und für den Leser dann in Form von Fußnoten, die dem Theaterzuschauer jedoch nicht unmittelbar zugänglich sind. Man vergleiche dazu den Apparat einer beliebigen wissenschaftlichen Shakespeare-Ausgabe. 76 Schmitt: Hamlet oder Hekuba. S. 28. 77 Ebenda S. 33.

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logischer und soziologischer Wechselbeziehung, sondern in einer gemeinsamen Öffentlichkeit.«78 Als zentrales Element der Tragödie postuliert Schmitt die Realität ihres Kerns, darin liegt dann auch die Ähnlichkeit zum Mythos. Mit Hilfe dieses Kriteriums wird die Tragödie vom »Spiel«, vor allem dem Trauer-Spiel, abgegrenzt. »Das Spiel hat seinen eigenen Bereich und schafft sich seinen eigenen Raum, innerhalb dessen eine ziemliche Freiheit sowohl vom literarischen Stoff wie auch von der EntstehungsSituation des Stückes herrscht. So entsteht ein eigener Spiel-Raum und eine eigene Spiel-Zeit.«79 Demgegenüber steht die Tragödie mit der gemeinsamen Zeit und dem gemeinsamen Raum von Bühne und Publikum. »Nur ein sehr starker Aktualitätskern hält einer doppelten Sichtbarmachung auf einer Bühne stand. Es gibt zwar manches Spiel im Spiel, aber es gibt keine Tragödie in der Tragödie.«80 An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Metatheatralität der Tragödie. Indem das Spiel-im-Spiel hier als nicht tragisch gekennzeichnet wird, wird diese jedoch nicht in Frage gestellt. Diese These bezieht sich auf das Spiel-im-Spiel als solches und eben nicht auf die Konsequenzen, die dieses Spiel-im-Spiel auf das eigentliche Drama und darüber hinaus auf das Publikum hat. Da die Tragödie von der Realität lebt und dennoch von ihr getrennt ist – die Verbindung findet über den gemeinsamen Erfahrungshorizont, den »Realitätskern«, von Bühne und Publikum und eben nicht direkt in Form von Anspielungen statt – kann ein Spiel-im-Spiel nicht tragisch sein, da es keine historische Realität zwischen einer Bühnenhandlung und einer zweiten, in ihr enthaltenen Bühnenhandlung gibt. Dennoch kann eben ein solches Spiel, das das Bühnengeschehen in seiner Künstlichkeit kennzeichnet, gerade so auf den Realitätskern verweisen, indem auf der zweiten Ebene deutlich wird, dass dort im Gegensatz zur echten Tragödie ein solcher Realitätskern nicht existiert. Dieses meint der Begriff der »doppelten Sichtbarmachung«. Diese »doppelte Sichtbarmachung« ist ein Element der Öffnung. Das Spiel, das zur Tragödie werden kann, muss solche Offenheit aufweisen, damit die Realität, die Zeit, dort einbrechen kann. Dieses Moment ist auch eines der Störung und der Verstörung für den Zuschauer und kann so an die Wirkung rückgebunden werden. »Es enthält andere als Spiel-Bestandteile und ist diesem Sinne kein vollkommenes Spiel. Seine Einheit von Zeit und Ort und Handlung ist nicht geschlossen und ergibt keinen reinen In-sich-selbst-Prozeß. Es hat zwei große Öffnungen, durch welche eine geschichtliche Zeit in die Spielzeit einbricht und der unabsehbare Strom immer neuer

78 Ebenda S. 37. 79 Ebenda S. 39. 80 Ebenda S. 45.

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Deutungsmöglichkeiten, immer neuer, schließlich doch unlösbarer Rätsel in das sonst so echte Spiel einfließt.«81

Gerade dieser letzte Punkt des Rätsels ist für die Dauerhaftigkeit und die Tragik wichtig und wieder eine mythische Tragödienstruktur. Das Rätsel ist ein anderer Ausdruck für den Anteil der Fremdheit, des Anderen, der immer bestehen bleibt. Denn das, was in das Spiel aus der Zeit einbricht, ist das latent Gewalttätige der Zeit aus der es stammt, das Omnipräsente, das so übergegenwärtig ist, dass es sich in die tieferen Schichten der Gesellschaft eingegraben hat (später wird man dies als »kollektives Gedächtnis« bezeichnen). Im Hamlet-Beispiel ist es das Tabu der Königin, das diesen Vorgang illustriert. Doch müssen diese Einbrüche auch auf eine bestimmte Art, eben eine indirekte, in das Spiel integriert werden, damit sie dauerhaft wirken können und das Drama und seine tragische Qualität über die Zeit offen halten. »Sie sind keineswegs bloße geschichtlich-politische Implikationen, weder bloße Anspielungen noch wahre Spiegelungen, sondern in das Spiel rezipierte, vom Spiel respektierte Gegebenheiten, um die das eigentliche Spiel scheu herumgeht. Sie stören die Absichtslosigkeit des reinen Spiels. Insofern sind sie, vom Spiel aus betrachtet, ein Minus. Aber sie haben es bewirkt, daß die Bühnenfigur des Hamlet zu einem echten Mythos werden konnte. Insofern sind sie ein Plus, denn sie haben das Trauerspiel zur Tragödie erhoben.«82

Es ist auch eine Paradoxie, dass eben durch den aktuellen Realitätskern die Dauerhaftigkeit des tragischen Moments entsteht. Die Realität der Tragödie entsteht in eben diesen Elementen der Öffnung – die in beide Richtungen verstanden werden können, sowohl als »Einbrüche der Zeit in das Spiel« als auch als Momente der Wirkung auf das Publikum – , da sie weder erfundenen noch gesetzt werden können, sondern unmittelbar aus der gemeinsamen Realität stammen. »Dieser Mehrwert [der Tragödie gegenüber dem Trauerspiel] liegt in der objektiven Wirklichkeit des tragischen Geschehens selbst, in der rätselhaften Verkettung und Verstrickung unbestreitbar wirklicher Menschen in den unberechenbaren Verlauf wirklicher Ereignisse. […] Alle Beteiligten wissen um eine unumstößliche Wirklichkeit, die kein menschliches Gehirn erdacht hat, die vielmehr von außen gegeben, zugestoßen und vorhanden ist.«83

Die Verbindung zwischen Bühne und Publikum ist eben keine, die auf einer Festlegung beruht, sondern eine aus der Wirklichkeit gewonnene. »Die ge-

81 Ebenda S. 46. 82 Ebenda. 83 Ebenda S. 46-47.

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meinsame Öffentlichkeit, die bei jeder Theateraufführung den Dichter, die Sprecher und die Zuschauer umfaßt, beruht bei der Tragödie nicht auf gemeinsam anerkannten Sprach- und Spielregeln, sondern auf der lebendigen Erfahrung einer gemeinsamen geschichtlichen Wirklichkeit.«84 Wohingegen z.B. in den Trauerspielen die Auslegung der Zeichen, vor allem in der Emblematik, auf gesetzten, vorgeschriebenen Regeln beruht. Als Antwort auf die zentrale Frage nach dem, was den Kern des tragischen Geschehens ausmacht, findet Schmitt im Rückblick auf die attische Tragödie den Mythos. Dieses Konzept des Mythos als konstituierendem Element der Tragödie überträgt er von der Antike auf die Moderne, indem er den Mythos auch hier nicht als erfundene Geschichte definiert, sondern als Grundmoment der Zivilisation. »Trotzdem bleibt die Definition [über den Mythos] richtig, weil sie den Mythos als ein Stück Heldensage auffaßt, das nicht nur eine literarische Quelle des Dichters, sondern ein gemeinsames, Dichter und Hörer umfassendes, lebendiges Wissen ist, ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit, in welchem alle Teilnehmer durch ihre geschichtliche Existenz verbunden sind. Die Attische Tragödie ist demnach kein in sich ruhendes Spiel. In ihre Aufführung fließt aus dem aktuellen Wissen der Hörer um den Mythos fortwährend ein Element der Wirklichkeit ein, das nicht mehr reines Spiel ist.«85

Der Unterscheid zwischen der klassischen und der modernen Tragödie ist die Entstehung des Mythos. In der modernen Tragödie entsteht dieser im Drama, das in diesem Vorgang der Mythisierung realhistorischer Elemente zur Tragödie wird. »Der nicht erfundene, auch nicht erfindbare, als vorgegeben und vorliegend zu respektierende Kern geschichtlicher Wirklichkeit kann demnach auf eine doppelte Weise in die Tragödie eingehen und demgemäß gibt es zwei Quellen des tragischen Geschehens: die eine ist der Mythos der antiken Tragödie, der das tragische Geschehen vermittelt; die andere ist – wie im Hamlet – die unmittelbar vorhandene, Dichter, Schauspieler und Zuschauer umfassende geschichtlich wirkliche Gegenwart. Während die antike Tragödie den Mythos vorfindet und daraus das tragische Geschehen schöpft, ist im Falle Hamlet der seltene, aber typisch moderne Erfolg eingetreten, daß der Dichter aus der Wirklichkeit, die er unmittelbar vorfindet, einen Mythos stiftet. Weder in der Antike noch in der Moderne hat der Dichter das tragische Geschehen erfunden. Tragisches Geschehen und Erfindung sind miteinander unvereinbar und schließen sich gegenseitig aus.«86

Nicht alle Realität taugt also zum tragischen Realitätskern. Das Geheimnis, das sich zunächst im Außen der Welt und dann in der Tragödie findet,

84 Ebenda. 85 Ebenda S. 48. 86 Ebenda S. 51.

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kommt in den Formulierungen immer wieder vor; hier lässt sich ein Anknüpfungspunkt für die Frage nach dem Schicksal, das letztlich das Andere, nicht Beeinflussbare, bleibt, finden. Denn eine Macht, die unberechenbar wirkt, ist für die Tragödie ebenso zentral wie die Verbindung zum Publikum. Bei Schmitt kommt eine »unumstößliche Wirklichkeit« vor, doch wie diese dann auf die Figuren des Dramas und auch auf die Zuschauer wirkt, wird nicht analysiert. Was in dieser Studie also weniger betrachtet wird, ist die Art und Weise wie die Tragik in dem gemeinsamen Zeit-Raum von Publikum und Drama wirkt. Die Offenheit wird zwar immer wieder betont, doch was sich in diesem Raum abspielt, wird nicht deutlich. Die Widersprüchlichkeit, die auch aus dem Einbruch der Realität in das Spiel für die Realität entsteht, ist hier nicht wesentlich in die Überlegung eingebunden. Es bleibt die Frage, was macht die Tragödie, die aus der Zeit entsteht, mit dem Publikum? Und wie findet diese Wirkung statt? Die Antwort darauf ist eine Wechselwirkung, was die Paradoxien von negativ und positiv implizit enthalten. Diese wird im Laufe der Auseinandersetzung mit der Tragödie von anderen Theorien entweder als Dialektik oder als Spannung beschrieben. Die Tragödie kommt zwar aus der Zeit, doch durch die Art der Elemente der Realität, die sie aufnimmt, stellt sie diese Realität auf die Probe, reflektiert sie und damit auch sich selber und ihre eigene Grundlage. Auch darin geht die Tragödie über das Spiel hinaus, denn ein in sich geschlossenes System stellt sich nicht in Frage. Physis und Mystik im Theater: Artauds »Theater der Grausamkeit« Da Tragödie in dieser Arbeit auch immer als Theater verstanden wird, soll an dieser Stelle der erste Ansatz, der das Theater und seine körperliche Präsenz (und nicht die Theorie) im 20. Jahrhundert wieder ganz anders und ganz zentral als anderen Moment betrachtet, vorgestellt werden. Antonin Artaud stellt in seiner Aufsatzsammlung Das Theater und sein Double einen Ansatz vor, der sich vom reinen Text und philosophischen System wieder entfernt und das Theater als physischen Vorgang betont. Die Texte nähern sich dieser Frage von unterschiedlichen Ansatzpunkten, kreisen dabei jedoch um das gleiche zentrale Thema. Es handelt sich um den Versuch, ein radikal neues Theater zu etablieren, das durch Exzessivität, Grausamkeit und Radikalität zu einer Ebene jenseits der Sprache vordringt und so den ganzen Menschen und das ganze Leben erfasst: »Wir wollen praktisch eine Vorstellung vom allumfassenden Schauspiel wiedererwecken.«87 Dieses allumfassende Schauspiel geht einher mit der Ablehnung einer Psychologisie-

87 Artaud: Das Theater und die Grausamkeit. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 89-94. hier S. 91.

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rung88 der Figuren, die hier negativ als eine Beschränkung verstanden wird, da diese – ebenso wie das Primat des Textes, das in der europäischen Theatergeschichte vorherrscht – vom eigentlichen Kern des Theaters weg führt. Dieser Kern ist in Artauds Theorie immer etwas Geheimnisvolles, Unerklärbares und Heiliges.89 In den Versuchen der Erklärung – denn nichts anderes ist Psychologisierung – wird dieser unerklärbare Teil verdrängt und das Theater in Artauds Auffassung seinem eigentlichen Zweck entfremdet. Die Grausamkeit, die für dieses Theater zentral ist, ist nicht einfach Darstellung von Gewalt auf der Bühne, Artaud definiert sie folgendermaßen: »Ich gebrauche das Wort Grausamkeit im Sinne von Lebensgier, von kosmischer Unerbittlichkeit und erbarmungsloser Notwendigkeit, im gnostischen Sinne von Lebensstrudel, der die Finsternis verschlingt, im Sinne jenes Schmerzes, außerhalb dessen unabwendbarer Notwendigkeit das Leben unmöglich wäre, das Gute ist gewollt, es ist Ergebnis eines Tuns, das Böse dauert fort.«90

Zwar kommt das Wort Tragödie nie direkt vor, aber eine solche Definition der »Grausamkeit« lässt eine Verwendung der Theorie für die Tragödie durchaus zu. Auch hier ist von Schmerz, Notwendigkeit und Unerbittlichkeit die Rede, diese Begriffe werden sonst vor allem für die Tragödie verwendet. Gleichzeitig wird der allumfassende Charakter von Artauds Theaterkonzept deutlich. Auch dies stellt eine Parallele zur alten Tragödie dar, denn diese war fest im Leben der Polis verwurzelt. Zudem war sie mehr als die Aufführung eines Textes, auf diesen Aspekt bezieht sich auch Artaud: »Wenn wir uns heute dermaßen unfähig erweisen, von Äschylos, Sophokles oder Shakespeare eine adäquate Vorstellung zu vermitteln, so liegt das höchstwahrscheinlich daran, daß wir kein Gespür mehr haben für das körperliche ihres Theaters.«91 Hier wird als Erstes die Körperlichkeit, die das Theater und seine Produzenten, vor allem die Autoren, in den folgenden zwei Jahrtausenden vergessen haben (wobei Shakespeare einen Sonderfall darstellt), wieder betont. Eben die Körperlichkeit ist das erste Mittel, um die Grausamkeit auf die Bühne zu bringen und von der bloßen Sprache zu einem polysemantischen

88 Vgl. dazu ebenda S. 89: »Die Missetat des von Racine herstammenden psychologischen Theaters haben uns jener unmittelbaren heftigen Aktion entwöhnt, die das Theater besitzen muß.« Interessant daran ist, dass Steiner Racine genau umgekehrt als einen der letzten Tragiker betrachtet. Die Parameter sind hier also vollkommen andere. 89 Vgl. dazu auch die Titel einiger Aufsätze in Das Theater und sein Double: Die Inszenierung und die Metaphysik sowie Das alchimistische Theater. 90 Artaud: 2. Brief über die Grausamkeit. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 110-11. 91 Artaud: 1. Brief über die Sprache. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 113-117. hier S. 116.

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Raum zu gelangen. Mit der Körperlichkeit geht die direkteste Möglichkeit einer Erfahrung einher, so kann das Theater wirken und zwar nicht über den Umweg der Interpretation oder Psychologisierung. »Der eigentliche Bereich des Theaters […] ist nicht psychologisch, sondern plastisch, körperlich.«92 Das »Theater der Grausamkeit« ist vor allem der Versuch, einen direkteren Zugang sowohl zum Theater, das dabei durchaus eine metaphysische Komponente hat, als auch zum Zuschauer zu finden. Die Grausamkeit ist das Mittel, dieses zu erreichen und kein Selbstzweck. Sie ist notwendig, da durch die Psychologisierung und Abstrahierung dieser Zugang versperrt worden ist. Doch zugleich ist sie das naheliegende Mittel, da sie im »wesentlichen Theater« – ebenso wie im Leben der Kultur als solcher – latent vorhanden ist. Die Grausamkeit ist verdeckt worden und bricht sich so selbst wieder Bahn. Um die Wirkungsabsicht seines Theaters zu verdeutlichen – die er mit der ursprünglichen Funktion des Theaters, die es wiederherzustellen gilt, identifiziert – bedient sich Artaud zunächst des Vergleiches mit der Pest, also einer körperlichen Erkrankung. Die Frage der körperlichen Wirkung des Theaters ist auch in der Debatte über die Katharsis zentral.93 Doch während die Katharsis eine Reinigung darstellt, ist das Bild der Pest zunächst ein gegenteiliges. Hier wird eine ganze Gesellschaft infiziert. Das Wirken des Theaters soll sich wie eine Epidemie ausbreiten – auch wenn Artaud selber die Ansteckung nicht für wesentlich für die Analogie hält, ist sie m.E. doch ein adäquates Bild für die Wirkung auf das Publikum, denn diese soll nicht auf einzelne Individuen beschränkt bleiben – und dabei in (körperlich) schmerzhafter Weise latente Konflikte und Probleme an die Oberfläche bringen. »Wie die Pest ist also auch das Theater ein mächtiger Anruf von Kräften, die den Geist durch das Exempel wieder an den Ursprung seiner eigenen Konflikte zurückführen.«94 Die Krankheit ist also ein Mittel der Besinnung auf das Wesentliche, erst indem das Gegenwärtige, Selbstverständliche in Frage gestellt wird, kann das Eigentliche auf einer Metaebene verhandelt werden. Die physische Gewalt ist nur Ausdruck der metaphysischen Konflikte, die so an die Oberfläche gelangen. Dies ist auch ein heilsamer Vorgang der Ausscheidung oder Purgierung, wie die Katharsis immer wieder verstanden wurde, wenn auch unter negativen Vorzeichen. Diese Negativität zeigt sich auch in der Formulierung des Wesens des Theaters: »Wie die Pest ist es [das wesentliche The-

92 Artaud: Orientalisches und abendländisches Theater. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 73-78. hier S. 76. 93 Vgl. dazu den Abschnitt über die Katharsis in Kapitel I, vor allem den Ansatz von Hellmut Flashar. 94 Artaud: Das Theater und die Pest. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 1734. hier S. 32.

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ater] die Zeit des Bösen, der Triumph der schwarzen Mächte, die eine noch unergründliche Macht speist bis zur völligen Auslöschung.«95 Es geht also um die Wiederherstellung eines Zustandes, der vor der Katharsis liegt, darum das Ursprüngliche, das Bedrohliche – man kann auch sagen das Mythische oder in Artauds Fall ebenso das Mystische – wieder auf die Bühne zu bringen, dem Theater diesen Kern seines Wesens zunächst zurückzugeben. Da dieser verloren scheint, folgt daraus die Frage nach dem Umgang mit diesen Kräften zunächst (noch) nicht. Allerdings kann ihr Zweck auch alleine in der Freisetzung der kathartische Effekt liegen, in der Bewusstmachung der Grausamkeit und des Bösen. Das hier gewünschte Theater befindet sich dann in einer Zwischen-Zeit.96 Ein weiteres Mittel, um zu zeigen, was dem Theater, das Artaud vorfindet, fehlt, ist die Kontrastierung mit anderen, außereuropäischen Theaterformen, beispielhaft dem orientalischen und dem balinesischen Theater. Dieses Theater gilt ihm als ursprünglicher, da nicht psychologisiert wird und andere, vor allem körperliche Formen des Ausdrucks, andere Zeichensysteme, die immer wieder mit der Vokabel der Hieroglyphe umschrieben werden, gleichberechtigt zum Wort verwendet werden. Im Gegensatz dazu habe das abendländische Theater die Idee des Theaters »prostituiert«97. In den Formen des balinesischen Theaters sieht Artaud eine paradoxe Beschwörung des wesentlichen Kerns des Theaters: »All dies scheint ein Exorzismus zu sein, um unsere Dämonen HERBEISTRÖMEN zu lassen.«98 Die Dämonen kehren also auf das Theater zurück, werden von ihm herbei gerufen. Auch hier haben sich wieder die Vorzeichen geändert, denn in der attischen Tragödie sind die Daimonen der Kern des Geschehens; hier müssen sie erst auf die Bühne zurück gebracht werden, indem die Elemente, die sie vorher blockieren, die das Wesen des Theaters verstellen, oder gar prostituieren, wieder aus ihm entfernt werden. Dies geschieht nun aber nicht über ein Weniger, sondern über ein Mehr, über eine Polyphonie und Zeichenhaftigkeit auf den unterschiedlichsten Ebenen und eben nicht mehr nur über das Wort. So soll auch der Zuschauer, der wieder stärker in den Mittelpunkt rückt, in das Theater mit einbezogen werden. Er ist nicht mehr nur geistiger Rezipient. Das Theater soll ihn zunächst auf der körperlichen Ebene erfassen, angreifen, im wahrsten Sinne des Wortes wie im übertragenen: »Das Theater ist der einzige Ort auf der Welt und das letzte umfassende Mittel, das uns noch verbleibt, den Organismus direkt zu erreichen und in Zeiten der Neurose

95 Ebenda S. 33. 96 Unter diesem Aspekt liest Derrida Artaud (s.u.). 97 Artaud: Die Inszenierung und die Metaphysik. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 35-50. hier S. 39. 98 Artaud: Über das Balinesische Theater. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 57-72. hier S. 65.

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und der niederen Sinnlichkeit wie derjenigen, in der wir gründen, diese niedere Sinnlichkeit durch körperliche Mittel zu attackieren, denen sie nicht widerstehen wird.«99

Diese Übergriffe werden von Artaud in Bildern von Naturgewalten dargestellt, damit wird auch hier das Ursprüngliche, Gefährliche, Unvorhersehbare betont. »Ich schlage deshalb ein Theater vor, in dem körperliche, gewaltsame Bilder die Sensibilität des Zuschauers, der im Theater wie in einem Wirbelsturm höherer Kräfte gefangen ist, zermalmen und hypnotisieren.«100 Die Wirkung auf den Zuschauer ist also eine gewalttätige, er soll desensibilisiert werden. Das bedeutet, der Zuschauer soll von der Erwartungshaltung, sich in einen Vorgang oder eine Person ›einzufühlen‹, gewaltsam befreit werden, um dann für die direkteren, körperlichen Wirkungen frei zu sein – dabei sind auch diese nicht frei von Gewalt. Um diesen Übergriff der Grausamkeit von der Bühne ins Publikum hinein direkt zu ermöglichen, soll die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, die imaginäre vierte Wand, aufgehoben werden. Es geht sogar noch weiter: »Deshalb befindet sich im ›Theater der Grausamkeit‹ der Zuschauer in der Mitte und das Schauspiel umgibt ihn.«101 Dieses Bild der Einkreisung verdeutlicht auch den Totalitätsanspruch eines solchen Theaters, der über das reine Bühnengeschehen und auch die Theatererfahrung der geteilten Zeit von Zuschauern und Schauspielern hinausgeht. »Zwischen Theater und Leben wird es keine reinliche Scheidung, keine Unterbrechung mehr geben.«102 Doch handelt es sich dabei nicht um einen didaktischen Vorgang, sondern aus dem umfassenden Anspruch leitet sich eine Wechselwirkung ab, in der keinerlei Grenzen mehr zulässig sind. »Wir schaffen Bühne wie Zuschauerraum ab. […] Zwischen Zuschauer und Schauspiel, zwischen Schauspieler und Zuschauer wird wieder eine direkte Verbindung geschaffen werden, denn der im Zentrum der Handlung befindliche Zuschauer wird von ihr umhüllt und durchzogen.«103 Damit wird der Zuschauer Teil eines sakralen Raums des Theaters. Auch die Art der Stoffe, die in einem »Theater der Grausamkeit« zur Aufführung gebracht werden sollen – denn Stücke im klassischen Sinn lehnt Artaud ab104 – sollen auf den Kern der Grausamkeit hin ausgewählt werden. Die alten Mythen sind wieder der Anknüpfungspunkt für diesen Anspruch –

99 100 101 102 103 104

Artaud: Schluß mit den Meisterwerken . In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 79-88. hier S. 86. Ebenda S. 88. Ebenda S. 87. Artaud: Das Theater der Grausamkeit (Zweites Manifest). In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 131-137. hier S. 135. Artaud: Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 95-107. hier S. 102-3. Vgl. dazu ebenda S. 106: »Ohne Rücksicht auf den Text werden wir inszenieren.«

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allerdings fehlt noch eine zeitgemäße Übersetzung und Art der Darstellung. »Und deshalb werden wir den Versuch machen, um sagenhafte Figuren, um gräßliche Verbrechen und übermenschliche Aufopferung ein Schauspiel zu gruppieren, das sich fähig erweist, die in den alten Mythen wirkenden Kräfte auszudestillieren, ohne doch deren verblichene Bilder zu bemühen.«105 Dabei soll in Bezug auf die Theatertexte das Primat der Sprache wieder durchbrochen werden. Auch im Umgang mit den Texten, die als Klassiker angesehen werden (aber nicht nur diesen), wird eine gewisse Grausamkeit gefordert, die in der Zerstörung, im Aufbrechen der Texte, weitere Ebenen von Sprache freilegen soll. »Anstatt auf Texte zurückzugreifen, die als endgültig, als geheiligt angesehen werden, kommt es vor allem darauf an, die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen und den Begriff einer Art von Sprache zwischen Gebärde und Denken wiederzufinden.«106 Durch alle diese grausamen und gewalttätigen Eingriffe macht das Theater sich selber extrem angreifbar, auch diese Ebene der Selbst-Infragestellung und letztendlich Selbst-Gefährdung soll in der Totalität von Bühne und Publikum auf den Zuschauer übertragen werden. »Das Theater muß […] durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven und deskriptiven Außenwelt erstreben, sondern der inneren Welt, das heißt des Menschen in metaphysischer Hinsicht.«107 So bekommt das Theater eine anthropologische Komponente, in der das Wesen des Menschen selber zur Disposition steht und sich gleichzeitig im Wesen des Theaters, in der Idee, dem Eigentlichen, wiederfinden kann, wenn auch nur über den Weg der Gewalt. Auch der Zuschauer, der hier universal als Mensch gesehen wird, soll seinen eigenen metaphysischen Kern dabei erfahren, die Transzendenz in sich selber finden – hier wird das Theater dann endgültig zu einem metaphysischen Mittel der (Selbst-)Erfahrung. Derrida bringt das »Theater der Grausamkeit« mit der Dialektik zusammen108 und bindet es damit an einen Begriff, der für die Tragödientheorie seit Hegel zentral ist. In seiner Analyse von Artauds Theater stellt Derrida zunächst heraus, dass dieses Theater etwas »bejaht«109 und eben nicht dekonstruiert. Die grausame Bejahung liegt darin, »ein Leben vor der Geburt und nach dem Tod zu erreichen […] nicht aber einen Tod vor der Geburt und nach dem Leben.«110 Auch hier wird also ein Raum dazwischen, zwischen einem Vor und einem Nach, als Ursprung des Theaters ausgemacht.

105 Artaud: Das Theater und die Grausamkeit. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 89-94. hier S. 90. 106 Artaud: Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 95-107. hier S. 95. 107 Ebenda S. 98. 108 Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. S. 351-79. 109 Ebenda S. 351. 110 Ebenda S. 352.

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Da dieser Raum sich auf das Leben bezieht, also eine universal-menschliche Kategorie, ist das Theater unmittelbar. »Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist.«111 Wenn es sich nicht um eine Repräsentation oder auch Nachahmung (Mimesis) handelt, dann fehlt die (autoritäre) Ebene, die repräsentiert wird, oder besser gesagt, sie wird verweigert. Derrida setzt dies mit einem Vatermord, der durchaus auch im freudschen Sinne interpretierbar ist, gleich. Daraus entsteht ein nicht-theologischer Raum, den das Theater der Grausamkeit »bewohnt oder vielmehr erzeugt.«112 Zwar wird eine GottSchöpfer Autorität, ebenso wie die eines Autors – oder auch Regisseurs im klassischen Sinn – abgelehnt, aber gerade in diesem Vorgang entsteht eine neue Repräsentation: »Repräsentation als Selbst-Repräsentation des Sichtbaren und sogar des reinen Sinnlichen.«113 Dieser von Derrida an den verschiedenen Zeichensystemen, den verschiedenen Sprachen, nachvollzogene Raum des Dazwischen ist letztendlich wieder ein sakraler Raum. »In der Grausamkeit muß sich eine neue Epiphanie des Übernatürlichen und des Göttlichen ereignen. Nicht trotz sondern dank der Vertreibung Gottes und der Zerstörung der theologischen Maschinerie des Theaters.«114 Problematisch für ein solches Konzept von Theater wird dann die Wiederholung115, die ähnliche Probleme aufwirft, wie die Repräsentation, da es sich bei ihr auch um einen nicht-ursprünglichen Vorgang handelt, der keine eigentliche Gegenwart zulässt. »Die Gegenwart gibt sich nur als solche, tritt für sich nur in Erscheinung, präsentiert sich nur, eröffnet die Szene der Zeit oder die Zeit der Szene nur, indem sie ihre eigene innere Differenz in der inneren Falte ihrer ursprünglichen Wiederholung, in der Repräsentation an sich nimmt. In der Dialektik.«116 Hier liegt also die Parallele zwischen dem »Theater der Grausamkeit« und der Tragödie: in dieser »Abwesenheit eines einfachen Ursprungs«117, der in der Dialektik aufgehoben ist. Es handelt sich in beiden Fällen um eine Grenzsituation, die die Überschreitung der Grenze in der Wiederholung schon mitdenkt. So ist auch das Präsens schon immer der Beginn der Repräsentation.

111 112 113 114 115

Ebenda S. 353. Ebenda S. 355. Ebenda S. 360. Ebenda S. 368. Wobei die Wiederholung und die Wiederholbarkeit ein Grundproblem des Theaters und des Schauspielers sind, seit das Wiederaufführungsverbot der attischen Tragödie nicht mehr gilt. 116 Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. S. 351-379. hier S. 376. 117 Ebenda.

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»Weil sie bereits begonnen hat, hat die Repräsentation demnach kein Ende. Die Geschlossenheit dessen, was kein Ende hat, läßt sich nichtsdestoweniger denken. Die Geschlossenheit ist die kreisförmige Grenze, innerhalb derer die Wiederholung der Differenz sich unbegrenzt wiederholt. Das heißt sein Spielraum. Diese Bewegung ist die Bewegung der Welt als Spiel.«118

Gerade in dieser Geschlossenheit, die sich aus der Situation des Dazwischen ableitet, in ihrer gleichzeitigen Universalität und Unmöglichkeit, liegt das Tragische dieses Konzeptes. »Die Geschlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt das Tragische zu denken: nicht als Repräsentation des Schicksals, sondern als Schicksal der Repräsentation. Ihre willkürliche und grundlose Notwendigkeit./Und weshalb es in ihrer Geschlossenheit fatal ist, daß die Repräsentation weiter geht.«119

Derrida analysiert hier zuletzt auf einer Metaebene die Tragik des Anspruchs, den das »Theater der Grausamkeit« erhebt und nie einlösen kann. Diese Unmöglichkeit entsteht aus dem letztendlich sakralen Charakter, der versucht in die Realität zu wirken und sich eben nicht aus ihr ableitet oder den Raum mit ihr teilt. Der sakrale Raum soll auf die Realität ausgebreitet werden, während ein tragischer Raum mit seinen Ambiguitäten ein gemeinsamer, in Wechselwirkungen stehender Raum von Bühne und Realität, in Form von kollektiver Erfahrung aus der Geschichte oder den Mythen des Publikums, ist. Artauds Theaterbegriff ist im Grunde optimistisch in Bezug auf den Wirkungsbereich. Der Glaube, dass das Theater eine ganze Gesellschaft beeinflussen kann, ist gerade im Zeitalter der Massenmedien mindestens zweifelhaft. Dies ist, wenn überhaupt, nur für kleinere Gruppen möglich. Doch das Hauptproblem des »Theaters der Grausamkeit« ist, dass es letztendlich metaphysisch und mystisch bleibt, und zwar vor allem in der Betonung des Wesens, der Idee, (beides letztlich ontologische bzw. metaphysische Begriffe), die allem zu Grunde liegen sollen – und eben nicht die Realität der Zuschauer, ihre Geschichtlichkeit oder ihr Erinnern. Trotz der Grausamkeit und Gewalt wird ein Kern postuliert, in dem sich dann auch der Mensch als metaphysisches Wesen (wieder-)finden kann. Dieser Kern und auch die Grundlage des gemeinsamen Erlebens von Publikum und Bühne werden eben nicht aus der Wirklichkeit abgeleitet. Trotz und gerade in der Betonung der Gewalt entzieht sich das »Theater der Grausamkeit« der Realität – und macht damit auch seinen eigenen Wirkungsanspruch zumindest angreifbar. Auch wenn im Text selber eine solche Verbindung zur Wirklichkeit immer wieder behauptet wird, so z.B. zu Beginn des Ersten Manifestes über das Theater der Grausamkeit: »Die Idee des Theaters, die nur in einer magi-

118 Ebenda S. 379. 119 Ebenda.

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schen, furchtbaren Verbindung mit der Wirklichkeit und mit der Gefahr Gültigkeit besitzt«120, tritt als ein metaphysisches Konzept an die Stelle dieser Realität. Anstatt sich aus der gemeinsamen Realität, die durchaus eine erinnerte oder auch eine utopische sein kann, die als gemeinsamer Raum für das Theater und das Publikum die Grundlage des Erlebens der tragischen Affekte wird, fortzuschreiben, soll in diesem Theater die Realität in der Kunst aufgehen. Dieser Anspruch auf Gesamtheit drückt sich in einer Verbindung von Kunst und Leben aus, oder anders formuliert: »Auf dem Theater müssen Poesie und Wissen nunmehr eins werden.«121 Statt eines Theaters, das einen Platz in einem realen Gefüge hat, wird hier das Theater als solches absolut gesetzt. Tragödie und ihre Wirkungsmöglichkeiten werden also in den letzten 200 Jahren unterschiedlich interpretiert, bestimmte Konstanten wie der Mythos bleiben dabei zumeist vorhanden. Doch herrscht (zunächst) eine Definition vor, die sich auf eine Versöhnung, einen Ausgleich, beruft. Erst spät wird dieser Anspruch wieder aufgebrochen.

»S O VIEL W ORTE , SO VIEL L ÜGEN « – G OTTHOLD E PHRAIM L ESSING : E MILIA G ALOTTI Ziel der Aufklärung ist die Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit mit Hilfe des Verstandes, das kantsche »sapere aude!«122 Auch das Theater beginnt sich in dieser Zeit zu verändern: »Aus der Vertikale, die sich ›vom Himmel durch die Welt zur Hölle‹ erstreckt, kehrt das Theater wieder zur Horizontale der irdischen Welt als Achse der Vernunft zurück.«123 Literarische Hauptform dieses neuen Theaters ist das bürgerliche Trauerspiel. Der Humanismus der Aufklärung geht einher mit der Emanzipation der Bürger und der Abkehr von einer unkritisch hinterfragten christlichen Auslegung der Welt. Es stellt sich zum ersten Mal die Frage der Theodizee – die Welt gilt als Ausdruck der Vernunft auch Gottes und damit als beste aller möglichen Welten. In dieser ist der Mensch nachgerade verpflichtet sein Handeln von seinem Verstand leiten zu lassen, da auch dieser

120 Artaud: Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). In: Ders.: Das Theater und sein Double S. 95-107. hier S. 95. 121 Artaud: Das Théâtre de Séraphin. In: Ders.: Das Theater und sein Double. S. 155-162. hier S. 162. 122 Eine Diskussion der Epochenabgrenzung, sowie eine Kant Interpretation werden an dieser Stelle nicht vorgenommen, da beides den Rahmen der Arbeit sprengen würde. 123 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters Band 2. S. 96. Vgl. auch zum Folgenden.

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letztendlich Teil des göttlichen Plans ist. Zudem entsteht eine vom Adel unabhängige (literarische) Öffentlichkeit, in die dieses Theater hineinwirkt. Lessing setzt sich im Briefwechsel über das Trauerspiel und vor allem in der Hamburgischen Dramaturgie124, die zeitlich in einem engeren Zusammenhang mit der endgültigen Version der Emilia steht, mit Aristoteles’ Poetik auseinander.125 Zum zentralen Begriff der Wirkung wird das Mitleid. Das Mitleid hat dabei durchaus eine pädagogische Konnotation, schon in einem Brief von November 1756 heißt es: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.« Lessing bezieht sich in der Hamburgischen Dramaturgie auf Mitleid und Schrecken als Übersetzung der aristotelischen Begriffe ›eleos‹ und ›phobos‹.126 Den Schrecken allerdings deutet er in Furcht um und »diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid«127, das »aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt«.128 Damit basiert die Wirkung auf einem doppelten Mitleidsbegriff, der sowohl einen altruistischen als auch einen egoistischen Aspekt hat, welcher seinerseits aber als Mittel zur Erzeugung des altruistischen verwendet wird. Der pädagogische Effekt des Mitleids wird zusätzlich aus der Furcht abgeleitet: »Diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringt.«129 Diese Reife wird mit der Reinigung, der Katharsis gleichgesetzt. Dabei sollen die Zuschauer von ihren Leidenschaften gereinigt werden und diese in Mitleid umgewandelt werden. Auch Lessing sieht die Paradoxie, dass eben durch die Affekte, die von der Tragödie freigesetzt werden, die Reinigung von ihnen bewirkt werden soll. Da nun sein Ziel eine Verbesserung des Menschen eben durch das Mitleid ist, wird dieses Paradox folgendermaßen aufgelöst: »So muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zuviel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Un-

124 In: Werke und Briefe Band 6. S. 181-713. 125 Eine frühe und auch detaillierte Untersuchung der Umwertung der Begriffe liefert Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Im Gegensatz zu meiner Auffassung geht Kommerell dabei immer von einem eindeutigen genitivus seperativus in der Frage der Affekte aus – dennoch sind die meisten seiner Beobachtungen bis heute zutreffend 126 Vgl. zur Problematik der Übersetzung dieser beiden Begriffe auch den Beginn des ersten Kapitels über die Griechen. 127 Hamburgische Dramaturgie 75. Stück. S. 557. 128 Ebenda S. 556. 129 Ebenda S. 559.

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glücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet.«130

Lessing strebt hier ein ausgewogenes Maß von Mitleid und Furcht an. Die Ursprünglichkeit der Affekte, sowie ihre potenzielle Bedrohlichkeit werden dabei nivelliert. Mitleid als »vermischte Empfindung« entsteht für Lessing aus Vorstellungen, man könnte auch sagen aus Illusionen: »Die Unlust entsteht bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheit desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringt die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen.«131 (Hervorhebungen von mir). So wird die direkte Verbindung zwischen Bühne und Publikum gekappt, da keine gemeinsamen unmittelbaren Affekte, die zwischen beiden Ebenen wirken könnten, mehr zugelassen werden132, sondern die Empfindung allein auf die Illusion bezogen wird. Auch in der attischen Tragödie wirken nicht die gleichen Affekte auf der Bühne wie zwischen Bühne und Zuschauerraum, doch die Umwelt ist die gleiche – und zwar die der Daimonie in ihrer ambigen Ausprägung. Damit ist das Mitleid133 der zentrale Begriff, aus dessen Interpretation die Wirkungsabsicht Lessings abgeleitet werden muss. Dabei handelt es sich um eine zwischenmenschliche Verhaltensweise und rein menschliche Gefühlsregung. Mit der Setzung dieses Begriffes stellt Lessing das Trauerspiel ganz im Diesseits auf. Mitleiden als emphatisches Gefühl ist insoweit ein Inbegriff der Humanität (»das sympathische Gefühl der Menschlichkeit«134 in Lessings Worten), als dass der andere, das Gegenüber als gleichwertiger und gleicher gewürdigt wird – nicht zuletzt ist die Aufklärung auch das Zeitalter der Toleranz. Indem auf dem Theater, im Trauerspiel, eben keine wirklichen Menschen, sondern deren Illusion gezeigt werden, kann das Mitleid hier ganz auf den pädagogischen Effekt bezogen werden, den Zuschauer in seiner Mitleidsfähigkeit zu einem besseren zu machen. Zwar besteht der Anspruch durch die Illusion ein möglichst natürliches Bild zu schaffen, doch ist die Illusion auch ein ästhetisches Konzept, das die Wahrnehmung lenkt. Das

130 Hamburgische Dramaturgie 78. Stück. S. 574. 131 Hamburgische Dramaturgie 76. Stück. S. 562-63. 132 Hamburgische Dramaturgie 78. Stück. »Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen« (S. 572). 133 Vgl. auch Hamburgische Dramaturgie 74. Stück. »Was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken« (S. 555). 134 Hamburgische Dramaturgie 76. Stück. S. 564.

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Theater soll »die Schule der moralischen Welt sein«135, wobei die Moral »aus der Fülle des Herzens kommen«136 muss. Somit wird auch für die Moral keine andere Bezugsgröße als das Herz, die eigene Innerlichkeit zugelassen, diese wird dabei jedoch (noch) nicht offen in Frage gestellt. Das bürgerliche Trauerspiel ist in seiner Konzentration auf den Menschen untragisch, da eine zweite, möglicherweise transzendente, Ebene fehlt. Zugleich öffnet es jedoch den Raum für neue Konflikte in der Figur – weg von der Handlung und der Umwelt, aber wieder in einen Bereich, der zunächst verschlossen bleibt. Ein paradigmatisches Beispiel für das bürgerliche Trauerspiel, ist Lessings Emilia Galotti. Das Drama trägt diesen Namen als Titel – doch macht dies Emilia zur Hauptperson?137 Es wird keine Charakterstudie dieser Figur vorgelegt und auch ihr eigenes Handeln im Verlauf des Dramas ist eher gering. Doch ist sie der Auslöser der Handlung. Sie ist Projektionsfläche und Objekt für diejenigen Figuren, die die Handlung vorantreiben. Die Frage, die in Emilia Galotti zentral ist, ist diejenige nach der Wahrnehmung und diese wird gerade an der Titelfigur immer wieder durchgespielt. Hier kommen die zentralen Begriffe von Ästhetik und Verstand zusammen.138 Emilia selber ist ein Bild, als solches ist sie im Kabinett des Prinzen zunächst anwesend. In der ersten Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche ist sie stumm wie eine Statur. Sie selber macht sich immer wieder vor allem von dem Bild ihres Vaters abhängig.139 So fragt sie in Szene II,6, in der sie die Begegnung mit dem Prinzen schildert, in Bezug auf den Vater: »Was hätt’ er an mir strafbares finden können« (Hervorhebung von mir), also seine Wahrnehmung ihrer Person ist zentral, nicht ihre eigene. Zum Ende der Szene ergibt sie sich dem Willen der Familie: »Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen« und empfindet dies selber als Entlastung: »Auch wird mir wieder ganz leicht.« Damit stellt sich jedoch auch die Frage, ob Emilia diesem Bild entsprechen kann, für die anderen Figuren und auch für sich selbst, denn die Empathie mit sich selber ist es, die ihr fehlt, wobei Empathie als Mitleid paradox eins der Hauptziele der bürgerlichen Erziehung ist. Zu einer wirklich handelnden Figur wird sie erst am Ende, indem sie ihre eigene Verführbarkeit formulieren kann und diese als Fehler und Scheitern begreift: »Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut mein Vater; so jugendliches, so war-

135 Hamburgische Dramaturgie 2. Stück. S. 192. 136 Hamburgische Dramaturgie 3. Stück. S. 197. 137 Vgl. dazu Lessings Brief an seinen Bruder vom 10.2.1772. »Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten, oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht.« 138 Einige konventionelle Bilder wie Blumen, Rosen, Dornen tragen dazu bei. 139 Ganz anders Meier, der Emilia als »wirklichen Menschen« versteht. Meier: Dramaturgie der Bewunderung. S. 293.

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mes Blut als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.« (V, 7) Emilias Fehler, wenn man ihn denn so nennen mag, ist es ein Mensch zu sein und nicht ein menschlicher Fehler. Doch ist auch sie es, die die Lösung anbietet. Sie ist nicht in der Lage, diesen Teil ihres Charakters zuzulassen oder zu problematisieren, denn ihre Erziehung hat sie von ihren Affekten abgeschnitten140; das einzige Mittel, das bleibt, ist Gewalt. In der Verführung des Vaters zum Mord begibt sie sich gleichzeitig (symbolisch) wieder in die Familie zurück141 – wobei ihr Tod zugleich auch das Ende der Zukunft der Familie bedeutet.142 Die beiden Pole, die sich gegenüber stehen und von einer gegenseitig missverstandenen Wahrnehmung geleitet sind, sind die bürgerliche Familie – repräsentiert von Odoardo Galotti – und der Hof – aufgespalten in den Prinzen und Marinelli. Die fehlerhafte Wahrnehmung ist der zentrale Punkt, aus dem die Konflikte entstehen. Odoardo Galotti ist keineswegs der ideale Vater – der möglicherweise Nathan sein wird143 – als solcher wird er jedoch von den anderen Figuren wahrgenommen. Der Prinz (V,5) und Appiani (II,7) wünschen an unterschiedlichen Stellen, dass er ihr Vater sein könnte. Auch Orsina wünscht ihn als »guten lieben Vater« (IV,7), doch aus dem Grund »Schmerz und Wut zu teilen«. Odoardo ist hitzig und übereilt, er kommt eigentlich immer zu spät oder geht zu früh.144 Seine einzige Begegnung mit Emilia auf der Bühne ist dann auch diejenige, die in ihren Tod führen wird. Gleich in seinem ersten Auftritt steckt er den Weg seiner Moral ab: »Einer [gemeint ist ein Schritt] ist genug zum Fehltritt.« (II,2) Die Bedrohung der Moral, die in der Tochter manifest ist, ist überall präsent. Auch Claudia formuliert diese Haltung ihres Mannes: »Welch ein Mann! – Oh, der rauhen Tugend! – wenn anders sie diesen Namen verdienet. – Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar« (II,5). Hier wird die Tugend personalisiert, nicht ihm, sondern ihr scheint alles verdächtigt. Die so übersteigerte Tugend verliert damit den Anschluss an die Menschlichkeit, ihren eigentlichen Anspruch. Doch findet diese Übersteigerung durch Menschen statt, so dass das Prinzip nie zu einer unabhängigen Größe werden kann. Die Wahrnehmung Odoardo Galottis ist ebenso fehlerhaft, er geht davon aus, dass der Prinz ihn hasst (II,4), doch hat der Zuschauer bereits im ersten Akt erfahren, dass dem nicht so ist, der Prinz sagt über Galotti: »Ein alter Degen, stolz und rauh, sonst bieder und gut.« (I,4) Galotti hingegen sieht

140 Vgl. Alt: Tragödie der Aufklärung. S. 264-65. 141 Vgl. dazu Kittler: Erziehung ist Offenbarung. 142 Vgl. dazu v.a. Kittler: Erziehung ist Offenbarung, oder auch Wild: Der theatralische Schleier des Hymens. 143 Vgl. Ter-Nedde: Lessings Trauerspiele S. 190: »Aber Odoardo ist Lessings Gegenfigur zum Nathan, sozusagen sein Anti-Vater schlechthin.« 144 Vgl. dazu ebenda. Ter-Nedden sieht aber gerade hier einen Ansatz für Tragik (S. 177ff). Dem kann ich mich nicht anschließen, da diese Zeit eben keine selbständige Größe ist, sondern Teil der rein menschlichen Handlung.

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die Bedrohung der Tugend im Prinzen: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt« (II,4) – aber er dreht seine Verachtung des Prinzen in die unterstellte Verachtung des Prinzen seiner Person, es handelt sich also um eine Projektion. In seinem Monolog vor Emilias Auftritt im fünften Akt (V,6), der eigentlich ein Nicht-Sprechen-Können ist, befragt Odoardo sich selber und den Himmel. Hier taucht eine außerweltliche Instanz auf, die Regieanweisung heißt »(gegen den Himmel)«, doch auch hier weiß Odoardo von vornherein, was diese von ihm verlangt – und zwar das gleiche, das er schon vorher »für sie tun will.«145 Allerdings ist dieser Gedanke auch ihm so schrecklich, dass er es sich nicht »sagen« kann, sondern nur »denken«. »Diese Rede wendet sich anklagend und ohnmächtig an den Himmel, an den transzendenten Gott, der im Kontext aufklärerischer Literatur von vornherein entmächtigt ist. Sie ist das endgültige Eingeständnis des Scheiterns und der Nichtigkeit aller Vaterautorität«146 – und auch aller göttlicher Autorität. Doch letzten Endes – auch durch Emilias Handeln beeinflusst – begibt Odoardo sich durch den Tod Emilias, die er damit der Welt und dem Hof entzieht, selber endgültig in eben diese Welt. Dies ist der andere Preis, der zu zahlen ist: sich dem Prinzen auszuliefern (V,8). Doch glaubt er hier an eine weiterreichende Gerechtigkeit und zwar die des Himmels. Diese ist jedoch nur ein Ausdruck seiner eigenen moralischen Gerechtigkeit, denn die himmlische Gerechtigkeit wurde bereits kurz zuvor als gescheitert vorgeführt. Der Prinz und Marinelli stellen gemeinsam den Hof dar. Sie spalten das Höfische auf, in den empfindsamen Herrscher, der dennoch die absolute Macht besitzt, und den intriganten Höfling, der die Pläne durchführt und den Prinzen gleichzeitig an das erinnert, » ›was‹ er ist: › – Herr!‹«147 Der Prinz ist weder eindeutig Repräsentant der höfischen Macht – dazu benötigt er Marinelli – noch eindeutig der »empfindsame Liebhaber«148 oder Lüstling, als den Odoardo ihn sieht. Als er Emilia zum einzigen Mal direkt gegenüber steht (III,5), denn in der Begegnung in der Kirche ist sie stumm und taub wie eine Statue, ist er der eigenen Aussage nach »äußerst beschämt«. Mit der echten Figur Emilia vermag er nicht umzugehen, die »Gewalt« die Emilia über ihn hat, liegt in ihrem Blick, gerade dieser Blick war es, über den er mit dem Maler Conti im ersten Aufzug gesprochen hatte. Hier wurden das Sehen und die Liebe mit dem Ideal der Vorstellung und der Kunst, also der Illusion und der Ästhetik, verbunden. Dem gegenüber steht dann auch Emi-

145 Anders Meier, der Odoardos Tat als eine aus dem Affekt und nicht aus der Moral versteht. Meier: Dramaturgie der Bewunderung. S. 286. 146 Witte, Bernd: Die Paradoxien der Aufklärung. Gotthold E. Lessings Trauerspiel Emilia Galotti. In: Rupp (Hrsg.): Klassiker der deutschen Literatur. S. 18-39. hier S. 33. 147 Ebenda S. 21. 148 Meier: Dramaturgie der Bewunderung. S. 288.

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lias Blindheit und Taubheit in der Begegnung in der Kirche, mit diesem Bild vermag er umzugehen, mit der echten Person jedoch nicht. Der Prinz entzieht sich auch in der Intrige der Verantwortung, Marinelli ist es, der sie konkret ausführt und mit ihm verbindet den Prinzen eine zweischneidige Beziehung. Marinelli soll die Intrige ausführen, der Prinz will die konkreten Handlungen nicht wissen, da sie ihn erschrecken (wie es dann in III,1 zu sehen ist), aber er will sie auch nicht verhindern. Also auch in der Frage nach Intrige und Macht gibt es keine klare Position, sondern ein Verhandeln und Zuschreiben; allerdings ist der Prinz eben durch seine unbestrittene absolutistische Machtfülle doch der Verantwortliche, auch und gerade seine Verweigerung macht ihn verantwortlich. Am Ende zeigt er die Diskrepanzen in seiner eigenen Figur und seiner Position. Der letzte Satz des Dramas: »Ist es, zum Unglück so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« (V,8) zeigt die Unmöglichkeit des Umgangs mit seinen eigenen Widersprüchlichkeiten für den Prinzen. Denn er sieht eine Diskrepanz zwischen Fürst, also Funktion, und Mensch, also Charakter. Dies allein ist aber nicht genug, um ihn verzweifeln zu lassen. Er projeziert seine eigenen Verfehlungen – denn das, was er selber als das Menschliche für sich in Anspruch nimmt, ist das Empfindsame und nicht das Böse – in Marinelli, den er als Teufel bezeichnet. Die Aufspaltung, die das Drama ausstellt, wird hier als Rechtfertigung auch dramenimmanent gebraucht; damit wird auch hier ein Konflikt in der Person zunächst aufgebrochen, um dann wieder zugedeckt zu werden. Die Gegenfigur zu Emilia – aber in gewisser Weise auch zu allen anderen Figuren des Dramas – ist Orsina149, sie ist im Drama eben deshalb die Verkörperung der Vernunft (ihr Name ist bekanntermaßen ein Anagramm von ›raison‹), da sie sowohl zu ihrem Intellekt als auch zu ihren Emotionen Zugang hat. Der Antagonismus zwischen Emilia und Orsina wird direkt zu Beginn des Dramas in den beiden Bildern und ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung ausgestellt. Orsinas Handeln ist sowohl von Emotion als auch von Verstand geleitet. Doch lässt sie den Verstand die Emotion nicht unterdrücken, sondern benutzt ihn, eben so wird sie hellsichtig und erkennt die tiefer liegenden Vorgänge. Sie ist eben eine Figur »jenseits von Gut und Böse«150 weil sich in ihr »das Rätsel der Individualität […] den moralischen Kategorien zu entziehen«151 beginnt. Orsina ist die einzige Figur, die sich auch räumlich aus der Situation, und damit auch aus der Konstellation befreien will: Sie will auf dem Markt ausrufen, dass der Prinz ein Mörder ist (IV, 5). Damit stellt sie zugleich die Handlung in Frage, denn diese funktioniert nur in der abgeschlossenen Welt mit ihren Bezugspunkten für die Projektionen. Doch kann das Trauerspiel

149 Vgl. Sanna: Emilia Galotti. S. 44: »Orsina ist alles, was Emilia nicht fähig ist zu sein.« 150 Von Wiese: Deutsche Tragödie. S. 40. 151 Ebenda S. 39-40.

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gleichzeitig auch nicht in dieser Konstellation allein funktionieren, es braucht sein Publikum. »Orsina stellt das Element dar, von dem aus Lessing Emilia beenden kann,«152 denn sie öffnet den Raum für die Öffentlichkeit und somit auch für das Publikum und die Mitleidsästhetik, sie bricht die gesamte Struktur auf, so ist sie »authentischer Brennpunkt des Trauerspiels.«153 »Orsina sucht die Ursachen, benennt sie, zeigt deren Wirkung auf und benennt diese ebenfalls. Emilia hingegen stirbt als Opfer von Ursachen, die sie nicht zu benennen weiß, und wenn sie sie benennt, dann mit den Namen anderer: des Vaters, Gottes, der Heilsgeschichte.«154 Hier wird auch das Problem des Umgangs mit Sprache deutlich, denn Emilia fühlt den Konflikt, kann ihn aber nicht in Sprache formulieren, da sie ihn nicht zulassen kann, und eben damit begibt sie sich wieder in die Abhängigkeit durch Wahrnehmung der anderen. Orsina durchbricht nicht nur diesen Konflikt, sondern ist sich dessen zusätzlich noch bewusst und formuliert ihn mit dem treffenden Satz: »So viel Worte, so viel Lügen.« (IV,3) Orsina ist Emilia hier sogar zwei Schritte voraus, sie kann nicht nur die Emotionen zulassen und umsetzten, sondern sie ist sogar in der Lage, sie zu benennen und zu problematisieren. Es wird nicht nur in Form der Intrige gelogen, sondern auch die Wahrnehmung der Personen untereinander ist, wenn nicht von Lügen, so doch von Irrtümern geprägt. Aber auch hier findet sich die Gegenbewegung: Orsina fragt Marinelli: »Für mich keine einzige Lüge mehr? Keine einzige kleine Lüge mehr, für mich?« (IV,5) Lügen sind geradezu notwendig, um in Form von Zufällen und Intrigen die Handlung zu beeinflussen, oder auch, um Konflikte zu vermeiden. So wirken die Konflikte latent umso stärker. Im ganzen Stück wird immer wieder vom Zufall gesprochen. Auch wenn der Zuschauer oftmals weiß, dass es sich keineswegs um Zufälle, sondern um Folgen der Intrigen handelt, sind sich die Figuren dessen nicht bewusst und können es auch nicht sein. Die Ausnahme ist wieder Orsina, diese durchschaut die »Zufälle« (IV,3), die wirklichen, in ihrer Absurdität – wie die Aufforderung an den Prinzen in ihrem ungelesenen Brief, nach Dosalo zu kommen und dessen davon unabhängige Entscheidung dorthin zu fahren – sowie die unechten Zufälle, die aus Marinellis Intrige entstehen. Der Satz »Das Wort Zufall ist Gotteslästerung« (IV,3) rekurriert auf die Worte, die ausgesprochen werden müssen und damit erst die Dinge entstehen lassen. Zudem wird hier der Theodizee-Gedanke auf eigentümliche Weise in das Drama eingeführt. Der Satz wäre eo ipso eben als Verteidigung der positiven Theodizee-Auffassung der Aufklärung zu verstehen. Doch Orsina äußerst diesen Satz eben im gegenteiligen Zusammenhang – die Zufälle sind zum Großteil als Intrigen von Menschen entlarvt.

152 Sanna: Emilia Galotti. S. 23. 153 Ebenda S. 37. 154 Ebenda S. 46.

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Das Drama umkreist alle Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven, dabei wird auch gerade das, »wofür [die Personen] blind und taub sind«155, immer wieder thematisiert. Damit wird alles zu einer Frage der Anschauung und des Verstehens, also des Verstandes, der Ratio und der Sprache. Aber eben diese Übersteigerung führt auch, ganz im Gegensatz zur Wirkungsabsicht, dazu, eben diese in Frage zu stellen. Die verräterischen Worte, sowie Gewalt – diese lässt sich auch darin feststellen, wie das Stück in das Trauerspiel-Ende gezwungen wird – und Verführung beginnen den Kontext so aufzubrechen und den Weg freizumachen zu anderen Formen des Konflikts, so z.B. bei Schiller – der sie allerdings noch als überwindbar ansieht – und Büchner, die im Folgenden analysiert werden. Der nächste Schritt, die Ambiguität sowohl im Menschen als auch in Beziehung zu einer bedrohlichen, daimonischen Umwelt und einer mythischen Geschichte zu verstehen – also die Rückkehr der mythischen Handlung, an die die Figuren gebunden sind und diese Bindung auch als solche verstehen – ist dann der Schritt des 20. bzw. 21. Jahrhundert.

D AS E RHABENE , DAS P ATHETISCHE – S CHILLERS D RAMEN

UND DER

M ENSCH

Nach Lessings moralischen Überlegungen über die Wirkung des Theaters auf den Menschen mit dem Ziel der Verbesserung im Sinne seiner Mitleidsdramaturgie, steht bei Schiller die ästhetische Erziehung im Mittelpunkt. Auch Schillers Tragik entsteht in einem Verhältnis zur Welt, doch ist die entscheidende Referenzgröße für die Wirkung immer der Mensch und sein willentliches Sich-in-Beziehung-setzen zu und letztendliches Überwinden dieser Welt. Doch ist diese Dimension nicht nur im Drama relevant, sondern auch eine Wirkungsabsicht, die auf den Zuschauer in seiner sittlichen Freiheit abzielt. Der Zuschauer lernt in der Auseinandersetzung mit der Kunst, dem Theater, in dem was Schiller das freie Spiel nennt, eine Haltung zur Welt. »Und eben dies wird als Aufgabe der tragischen Kunst bestimmt, Empfindungsfähigkeit für das Erhabene zu entwickeln, bis diese Haltung zu einem Habitus werde und wir auf diesem Weg unsere Sittlichkeit so befestigt haben, dass wir auch in realer Erfahrung des Leidens moralisch widerstehen können.«156

155 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. S. 9. 156 Greiner, Bernhard: Negative Ästhetik: Schillers Tragisierung der Kunst und Romantisierung der Tragödie (»Maria Stuart« und »Jungfrau von Orleans«). In: Arnold (Hrsg.): Friedrich Schiller. Text und Kritik Sonderband. S. 53-70. hier S. 57.

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Das Entscheidende ist der freie Wille des Menschen157, an den Schiller ungebrochen glaubt, in ihm liegt der Schlüssel für alles: »Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.«158 Indem dieses Wollen in eine Überwindung der Zwänge der Welt, die »Auflehnung der Freiheit gegen die Notwendigkeit«159 gelenkt wird, erhebt sich der Mensch ästhetisch und auch moralisch. Das Erhabene160 braucht immer einen Gegenstand, demgegenüber es sich erheben, seine moralische Überlegenheit beweisen kann, gleichzeitig sind es eben solche Gegenstände, an denen das Erhabene überhaupt entstehen kann. »Das Erhabene ist also die Wirkung dreyer aufeinanderfolgenden Vorstellungen: 1.) einer objektiven physischen Macht, 2.) unsrer subjektiven physischen Ohnmacht, 3.) unsrer subjektiven moralischen Uebermacht.«161 Die moralische Übermacht, von der Schiller hier ausgeht, entsteht durch eine Bildung des freien Willens und des ästhetischen Bewusstseins und diese macht den Menschen frei – »der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frey.«162 Diese Freiheit ist eine solche der Überwindung der Sinnlichkeit, der ursprünglichen Emotionen: »Beim Erhabenen […] stimmen Vernunft und Sinnlichkeit ni c h t zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüth ergreift.«163 Um erhabenes Handeln möglich zu machen, muss ein Leiden, das mit der »Ohnmacht« zusammenhängt, vorhan-

157 Zelle verlegt den Konflikt in den Menschen. »Die idealistische Entzweiung von Welt und Ich wird von Schiller jedoch anthropologisch entscheidend tiefer gelegt – das Ich allein sind zwei. Es geht ihm daher nicht um eine Anthropologie des ganzen Menschen, sondern um eine vollständige Anthropologie des Menschen in seiner gemischten Natur: Diese mag mit sich zusammenstimmen, wie es bei der Empfindung des Schönen der Fall ist, und sie kann unerträglich gegeneinander gespannt sein, wie das Erlebnis des Erhabenen vermittelt. Einer Anthropologie, die die gemischte Natur des Menschen thematisiert, antwortet eine Ästhetik, die die vermischten Empfindungen problematisiert. Schillers ambivalenter anthropologischer Schätzung entsprechen zwei Begriffe von Freiheit. Sie tritt sowohl in der Schönheit in Erscheinung als auch im Entschluß, gegen die Sinne zu handeln.« Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. S. 153-54. 158 Schiller: Ueber das Erhabene. NA 21 S. 38-54. hier S. 38. 159 Schmitt, Arbogast: Zur Aristoteles Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen. Hermeneutisch-kritische Anmerkungen zur Anwendung neuzeitlicher Tragikkonzepte auf die griechische Tragödie. In: Zimmermann (Hrsg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. S. 191- 213. hier S. 207. 160 Intertextuelle Bezüge zwischen Schiller und Kant im Zusammenhang mit dem Erhabenen, das ein kantscher Begriff ist, analysiert Schäublin: Der moralphilosophische Diskurs in Schillers ›Maria Stuart‹. 161 Ebenda S. 186. 162 Schiller: Ueber das Erhabene. NA 21. S. 39. 163 Ebenda S. 43.

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den sein und dieses muss mit Hilfe der Vernunft überwunden werden. Das Leiden findet bei Schiller seinen Ausdruck im Pathetischen. In Bezug auf den Zuschauer im Theater und die Wirkung bedeutet dies aber auch, dass die Auseinandersetzung mit der Illusion, die als solche klar erkennbar ist, einen weiter reichenden Effekt haben soll. »Für diesen Mechanismus, der das Übersinnliche trainiert, wählt Schiller ein medizinisches Bild.«164 »Je öfter nun der Geist diesen Akt von Selbstthätigkeit erneuert, desto mehr wird ihm derselbe zur Fertigkeit, einen desto größeren Vorsprung gewinnt er vom sinnlichen Trieb, daß er endlich auch dann, wenn aus dem eingebildeten und künstlichen Unglück ein ernsthaftes wird, im Stande ist, es als künstliches zu behandeln, und, der höchste Schwung der Menschennatur! das wirkliche Leid in eine erhabene Rührung aufzulösen. Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt, und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.«165

Aber auch diese Technik ist nicht ohne Risiko, wie die medizinische Analogie zeigt. »Bei der Blatterninokulation, auf die angespielt wird, handelt es sich um eine risikoreiche, auch bei günstigem Verlauf unangenehme und ethisch umstrittene Form medizinischer Vorsorge.«166 Wenn dieser Gedanke weiter auf das Drama übertragen wird, wird einerseits deutlich, dass der Erfolg beim Zuschauer keineswegs gesichert ist; und zum anderen wird damit auch die Darstellung von Intrige und Schaden, dem Bösen, in besonderem Maße und großer Eindringlichkeit möglich – gerade die Intriganten gewinnen bei Schiller als Bühnenfiguren immer an besonderer Faszination. Denn diese Figuren verdeutlichen im Spiel auch immer die Möglichkeit der Entscheidung. »Während Schiller im Umfeld des Schönen (menschliche, geschlechtliche oder politische) Mitte und Einheit formuliert, reflektiert seine Ästhetik des Erhabenen einen Riß. Gegen die innere Natur als Abgrund amorpher Triebe, die äußere Natur als Chaos und die Geschichte als Schädelstätte erfährt das Individuum in der negativen Lust des Erhabenen seine Freiheit. Das Erhabene bleibt daher für Schiller gegenüber dem Schönen ultima ratio und Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat.«167

Das Erhabene ist also eine Erfahrung, die den Menschen in eine Beziehung zur Welt setzt. Dennoch bleibt Überwindung möglich. Doch das Konzept der Überwindung wird hier komplexer. Es besitzt einen Anteil an Bedrohung und Verletzung, was in der Metapher des Risses ausgedrückt wird oder

164 165 166 167

Luserke-Jaqui: Schiller Handbuch. S. 487. Schiller: Ueber das Erhabene. NA 21 S. 51. Luserke-Jaqui: Schiller Handbuch. S. 487. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. S. 155.

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auch in Schillers Begriff der »dämonischen Freyheit«. Dieser Riss wäre dann der Moment, an dem die Welt – als Bedrohung für den Menschen – ihren Platz behauptet, als Negativ. Dieses ist paradox notwendig, um letztendlich die Freiheit zu erlangen. Schiller selber äußert sich über das, was er als Mangel in den griechischen Tragödien empfindet: »Dieß ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der Griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird, und für unsre Vernunftfordernde Vernunft immer ein unaufgelöster Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe, welche der moralisch gebildete Mensch erklimmt; und zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann, lößt sich auch dieser, und jeder Schatten von Unlust verschwindet mit ihm. Dieß geschieht, wenn selbst diese Unzufriedenheit mit dem Schicksal hinwegfällt, und sich in die Ahndung oder lieber in deutliches Bewusstseyn einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert.«168

Schillers Konzept basiert also auf der Möglichkeit, auch aus einem unauflöslichen Konflikt, einer Spannung zwischen Welt und Individuum, eine moralische Größe gewinnen zu können und frei zu sein – damit letztendlich den Konflikt doch zu lösen. Dieses ist eben das Erhabene des Charakters, der sich der Übermacht ergibt, der physischen, der politischen oder der historischen, aber gerade so über sie hinauswächst und sie überwindet.169 Eben eine solche Überwindung war bei den Griechen nicht möglich, da eine zu enge Verknüpfung zwischen beiden Welten bestand: Der Daimon im Menschen war gleichzeitig der Daimon in der Welt. Deshalb sind Schillers Dramen zwar in ihrem Verlauf oftmals tragisch angelegt, aber keine Tragödien im hier vertretenen Sinn, da sie keinen unauflöslichen Konflikt übrig lassen, sondern letztendlich immer dessen Überwindung im Erhabenen, im Glauben an den Menschen, hervorbringen. Diese Überwindung ist dann jedoch eine individuelle und keine globale. Die Geschichte und die Macht als solche bleiben bestehen. »Als der eigentliche Grund des Tragischen erweist sich

168 Schiller: Ueber die Tragische Kunst. NA 20 S. 148-170. hier S. 157. 169 Vgl. dazu auch Greiner: »Schillers Tragödientheorie schafft durch die Gleichsetzung des Tragischen mit dem Erhabenen zwei Problemfelder. Das eine betrifft das zugrundegelegte Wirkungsmodell. Wie soll ein dargestelltes und das heißt ästhetisch schon immer bewältigtes Erhabenes im Zuschauer die Empfindung des Erhabenen wecken können? Dessen Ausgangsbedingung ist nicht mehr gegeben. Zum anderen wird in der Gleichsetzung des Tragischen mit dem Erhabenen der Vorgang der Katharsis auf problematische Weise verschoben.« Greiner, Bernhard: Tragödie als Negativ des ›ästhetischen Zustands‹. Schillers Tragödienentwurf jenseits des ›Pathetischerhabenen‹ in Maria Stuart. In: Blasberg & Deiters (Hrsg.): Geschichtserfahrung. S. 89-107. hier S. 94.

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damit der Mensch selbst.«170 Was tragisch ist, der Konflikt, spielt sich in ihm selber ab, auch die Lösung, das Erhabene der Handlung, liegt letztendlich nur noch im Menschen selber. Das Außen ist unveränderlich und damit keine Komponente in der Erzeugung von Tragik. Der Mensch soll die Welt letztendlich überwinden, muss sich ihr nicht beugen, da seine sittliche Freiheit ihn erhebt.171 Der gescheiterte Versuch sich mit den Griechen zu messen – Die Braut von Messina Die Braut von Messina172 (1803) ist Schillers Versuch, sich mit den Griechen zu messen, wie er selbst in seinem Brief an Iffland vom 22. April 1803 ankündigt. Der Rückbezug zur griechischen Tragödie findet in der Verwendung von Formelementen (Hamartia, Hybris, Peripetie und Anagnorisis) statt, die für die attische Tragödie als zentral angesehen wurden, sowie in inhaltlichen Anspielungen. Doch ist die Welt, in der das Drama stattfindet, eine erfundene. Der Mythos ist eben nicht allgemeingültig, nicht erinnerte Grundlage einer Gesellschaft oder Ausdruck einer konventionalisierten Religion, sondern eine erfundene Geschichte, und diese ist versetzt in eine Umwelt, in der sich verschiedenen Religionen und Zeiten mischen und beliebig verwendet werden, um Wendungen der Handlung zu motivieren.173 Gleichzeitig handelt es sich um den Versuch, eine Tragödie entsprechend der eigenen wirkungsästhetischen Absichten zu schaffen, die sich aus einem Schicksalsbegriff ableiten lassen soll und nicht mehr aus der konkreten historischen Welt. Schiller versucht so ein Theater, das »vom Leben nicht getrennte Kunst«174 war, in sein ästhetisches Spielkonzept zu überführen und muss daran scheitern, da für sein Konzept eben die Trennung ein zentrales Moment ist, in dem das Spiel und die Reflexion ihren Platz finden. 170 Schmitt, Arbogast: Zur Aristoteles Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen. Hermeneutisch-kritische Anmerkungen zur Anwendung neuzeitlicher Tragikkonzepte auf die griechische Tragödie. In: Zimmermann (Hrsg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption. S. 191- 213. hier S. 205. 171 Dazu passt wieder das an Lessing angelehnt Zitat in Ueber das Erhabene: »Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will« (NA 21 S. 38). 172 Nationalausgabe Band 10 S. 5-125. 173 Schiller spricht in der Vorrede von der »Idee eines Göttlichen«, die die Verwendung unterschiedlicher Religionen rechtfertigen soll, doch stellt Sengle richtig fest: »Es ist alles in allem vollkommen aussichtslos, hinter den sich widersprechenden Feststellungen und Wertungen ein auch nur einigermaßen geschlossenes ideologisches System zu finden.« Sengle: Die Braut von Messina. S. 86. 174 Rancière, Jacques: Was bringt die Klassik auf die Bühne. In: Ensslin (Hrsg.): Spieltrieb. S. 23-38. hier S. 33.

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Diese Deutung lässt sich auch in der Vorrede über den Gebrauch des Chors finden. Schiller versucht hier seine Wirkungsabsicht ganz konkret an diesem einen Formelement der griechischen Tragödie, dessen Wiederbelebung er gleichzeitig rechtfertigt, zu erläutern. Wiethaupt z.B. weist darauf hin, dass das Bild der Antike und somit auch das des Chors zu Schillers Zeit »beherrscht [war] von der natürlich unhistorischen und anachronistischen Idee eines arkadisch-idyllischen Zeitalters.«175 An eben diesem Bild orientiert Schiller sich, die anderen, mythisch-bedrohlichen Aspekte des Chors und der Tragödie sind Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts. Dieses Griechenbild und die so verstandene Poesie als Ausdruck eines arkadischen Zeitalters wird in der Vorrede mehrmals thematisiert: »Der Chor leistet dem neuen Tragiker noch weit wesentlichere Dienste als dem alten Dichter, eben deßwegen, weil er die moderne gemeine Welt in die alte poetische verwandelt.«176 Dies geschieht eben in der Abgrenzung von der Welt, weshalb Schiller den Chor auch als Mauer versteht: »Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer seyn, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren realen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.«177

Dies ist nun das Gegenteil der Funktion, die der Chor in der attischen Tragödie hatte, denn er war eines der maßgeblichen verbindenden Elemente zwischen Bühne und Publikum (vgl. dazu das Kapitel I).178

175 Wiethaupt: Die Chöre in Schillers Braut von Messina. S. 362. Zudem waren Schillers Griechischkenntnisse nicht ausreichend, so dass seine »Bekanntschaft mit der griechischen Tragödie […] nicht auf Originallektüre [beruhte].« Latacz, Joachim: Schiller und die griechische Tragödie. In: Flashar (Hrsg.): Tragödie. S. 235-257. hier S. 236. Vgl. auch die folgenden Seiten. 176 Schiller: Ueber den Gebrauch des Chors. NA 10 S. 11. 177 Schiller: Ueber den Gebrauch des Chors. NA 10 S. 11. 178 Eine Diskussion über Schillers Chorbegriff würde hier zu weit führen, es sei jedoch auf folgende zwei Aufsätze verwiesen: Zupančič, Alenka: Real Spiel. In: Ensslin (Hrsg.): Spieltrieb. S. 200-211. Sowie Menke, Bettine: Wozu Schiller den Chor gebraucht… In: Menke & Menke (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 72-100. Die Frage, der sie nachgeht, ist die nach der Ganzheit des theatralen Ereignisses (vgl. S. 75). Sie weist wiederholt auf die Differenz zwischen einer theatralen Öffentlichkeit, die eben den spezifischen Moment des Theaters mit-konstituiert und einer realen, globalen Öffentlichkeit hin (vgl. z.B. S. 81). Doch sind die Zuschauer einer Theatervorstellung Teil beider Öffentlichkeiten. Wobei die eine durchaus quasi als impliziter Zuschauer in den Text eingeschrieben sein kann, wie Menke es auch hier analysiert, sich die andere immer verändert und so auch in das Theater hineingetragen werden kann.

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Damit steht das eigentliche Drama auch in einer Spannung zur Vorrede über den Gebrauch des Chors, denn auch der Chor im Drama erfüllt seine Funktion nicht in dem Maß, das ihm die Vorrede zuweist. Die beiden Halbchöre stehen auf Seiten der beiden Brüder und machen ihre Abhängigkeit von der Autorität der Herrscher oftmals deutlich. Allenfalls am Ende des Dramas kommentiert der Chor aus einer scheinbar souveränen Position, doch auch dieser Wechsel ist unmotiviert. Latacz fasst die Kritikpunkte an der Braut von Messina kurz und prägnant zusammen.179 Zum Ersten »liegt keine geschlossene Sinneinheit einer Fabel, d.h. kein mit innerer Notwendigkeit sich vollziehender logischer Handlungsablauf vor.«180 Zum Zweiten ist »die erstrebte Verschmelzung altgriechischer Formenstrenge mit modernem Selbstgefühl […] nicht geglückt; die Zusammenführung alter und neuer Elemente wird auf allen Ebenen des Stücks als Collage empfunden.«181 Hier würde ich weiter gehen: Diese Zusammenführung blockiert geradezu die Entstehung von Tragödie, da sie eben durch die unterschiedlichen und ihrerseits in keinem Verhältnis zueinander stehenden Referenzpunkte, keinen Rahmen, keine Welt, also kein Außen bieten, das als Teil der ambigen Struktur funktionieren könnte. Durch die Konzentration auf den Zufall und das Schicksal als Kräfte, die die Handlung vorantreiben, ist auch die Motivierung aus den Personen selbst nicht mehr möglich. Eines der prägnantesten Beispiele ist der Gebrauch des griechischen Begriffs Dämon. Dieser ist in der attischen Tragödie wesentlich, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde. Bei Schiller dient er, ähnlich wie der Schicksalsbegriff dazu, Verantwortlichkeit für das eigene Handeln zu leugnen.182 Das zweite prägnante Beispiel sind die sich widersprechenden Träume der Eltern, die Auslöser der Handlung sind. Sie treten an die Stelle des Orakels. Doch Träume sind, zumal wenn sie wie in diesem Fall symbolisch aufgeladen sind, der Deutung preisgegeben und zudem subjektiv. Aber eben aus diesen Elementen wird versucht, die Tragik entstehen zu lassen, so dass die Vorgänge in den Figuren, die in Schillers Konzept der eigentliche Ort für die Entwicklung von Spannungszuständen sind, nicht plausibel gemacht werden. Der dritte Punkt, den Latacz nennt, steht in Beziehung zum Publikum. »Die freie Erfindung der Fabel wirkt sich im gegebenen Bezugssystem auf das Publikum als permanente Überforderung aus.«183 Allerdings ist das

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Für die Wirkungsabsicht, die auch hinter Schillers Dramen steht, ist auch diese Öffentlichkeit, aber ganz sicher nicht ausschließlich (sonst würde es sich um ein reines Zeitstück handeln), von Bedeutung. Latacz: Schiller und die griechische Tragödie. S. 249ff. Ebenda S. 249. Ebenda S. 251. Ganz anders sieht dies Schadewaldt: Antikes und Modernes in Schillers Braut von Messina. Vgl. S. 299. Ebenda S. 253.

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Ziel, das Schiller verfolgt, nicht die Erfassung der Fabel, die erhabene Wirkungsästhetik zielt auf den Charakter und geht sowohl von Gegenständen – in diesem Sinn sind auch die historische Geschichte und die politische Macht an sich Gegenstände – als auch von Charakteren aus. Die Bewunderung für die Handlung, das Überwinden der Welt durch den Helden, lösen beim Zuschauer ein eben solches Gefühl aus. Doch da die Welt und ihre Gegenstände in der Braut von Messina völlig beliebig sind und andererseits als versuchte Imitation der griechischen Tragödie als eigentlicher Auslöser der Handlung angesehen werden, kann sie weder zu einem wirklich erhabenen Gefühl führen noch endgültig überwunden werden; deshalb ist auch das Ende, an dem an Stelle des Schicksals eine der griechischen Tragödie wesensfremde Schuld-und-Sühne-Moral gesetzt wird, unglaubwürdig. Die Erhebung einer schönen Seele – Maria Stuart Obwohl Die Braut von Messina sich vordergründig antiker Elemente bedient und sich explizit auf die attische Tragödie bezieht, gilt die wenige Jahre vorher entstandene Maria Stuart (1800-01)184 vielen Interpreten als das Stück, das dem Modell einer klassischen Tragödie mehr entspricht. Dies wird vor allem mit der analytischen Form und der Formenstrenge begründet185, also vor allem mit formalen Elementen und nicht primär über die Wirkung. Diese basiert auch in Maria Stuart stark auf der Erhabenheit, in diesem Fall auf der Erhebung der schönen Seele Maria. Die Formenstrenge ist vor allem das komplementartige Beleuchten von zwei Seiten der Entscheidung, die von den beiden Königinnen Maria und Elisabeth verkörpert werden. Sie sind aufs engste miteinander verknüpft und ihr Konflikt ist der Konflikt des Dramas, wie Lord Burleigh Elisabeth gegenüber formuliert: »Ihr Leben ist dein Tod! Ihr Tod dein Leben!« (II,3). Der Höhe- und Wendepunkt dieser Beziehung ist der dritte Akt, in dem die Königinnen sich ein einziges Mal begegnen. Hier entscheidet sich alles. Die physische Überlegenheit Elisabeths, die zu Marias Tod führt, sowie die moralische Marias, die zu ihrer Erhebung führt. Gerade in der persönlichen Auseinandersetzung hier im dritten Akt liegt der Schlüssel zu Marias Erhebung. Diese kann im fünften Akt nur stattgefunden haben186, da sie sich im dritten Akt selber befreit hat – und zwar vor allem emotional und gegen Elisabeth gerichtet. Die184 Nationalausgabe Band 9. S. 1-164. 185 Vgl. dazu u.a. Pütz, Peter: Nähe und Ferne zur Antike: ›Iphigenie‹ und ›Maria Stuart‹. In: Barner, Lämmert & Oellers (Hrsg.): Goethes und Schillers Literaturpolitik. S. 289-302. Vgl. auch Beck, Adolf: Schiller. Maria Stuart. In: von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama. S. 307-324. 186 Wann genau die Wandlung stattfindet, ist nicht klar, doch spricht Kennedy von einem plötzlichen Umschwung in der Nacht: »Man löst sich nicht allmählich von dem Leben!/Mit einem Mal, schnell augenblicklich muß/Der Tausch geschehen zwischen Zeitlichem/Und Ewigem.« (V,1)

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se Freiheit ist die Voraussetzung, wenn auch nicht die Begründung, für die Weltüberwindung und zuletzt auch für die Überwindung des Hasses am Ende. Die real-historische Geschichte spielt dabei eine deutlich größere Rolle als der erfundene Mythos in der Braut von Messina. Politik, Geschichte und Umwelt sind Referenzgrößen, auf die die Figuren sich beziehen. Elisabeth einerseits ist immer auf ihre Wirkung nach außen, das was im Stück als Willen des Volkes bezeichnet wird, bedacht. Andererseits sind diese Größen in Maria Stuart Mittel und Ausdruck einer Welt, an der sich die Figuren orientieren und die sie im Idealfall als »reine Seele«, so wie Maria, überwinden. Die Welt hat keine selbständig erkennbare Macht, sondern besteht in Relation zu den Figuren. Auch hier zeigt sich, dass das Erhabene als Überwindungsstruktur keine echte Tragik aufkommen lassen kann, auch wenn das Ende eine Tote, die das Leben überwunden hat, und damit das eigentliche Leben im Angesicht des Todes gewonnen hat, und eine lebende Tote, die sich in den äußeren Zwängen verstrickt hat und sich eben nicht erhoben hat, zurücklässt. Damit handelt es sich bei Maria Stuart nicht um eine Geschichtstragödie. Denn die Geschichte hat weder eine mythischen Wert noch stellt sie eine unabhängige Macht dar. Dennoch bewegen sich die Königinnen in ihr – jedoch mit der Fähigkeit zur freien Entscheidung. Die Frage ist, warum endet es so unterschiedlich? Warum kann die eine zu einer »schönen Seele« werden und die andere muss als lebende Tote zurück bleiben? Beide sehen sich der gleichen geschichtlichen Realität gegenüber, wobei Elisabeth die weltliche Macht besitzt und Maria sich dieser rein physisch ergeben muss. Gerade durch dieses Ungleichgewicht ist auch das Leiden gegeben, das für die Erhebung zentral ist. Handelt es sich dann bei Elisabeth um eine tragische Figur, da sie sich nicht erheben kann? Ist sie von den Gegebenheiten ihrer Herrschaft insoweit beeinflusst, dass sie keine anderen Entscheidungen treffen kann? Da ihr immer Maria als Gegenfigur entspricht, die zwar mit dem Leben bezahlt, doch als reine Seele auch darüber hinauswächst, und dies das eigentliche Ziel eines idealistischen Schillerschen Schauspiels ist, kann sie nicht als tragische Figur angelegt sein. Letztendlich bleibt auch hier die menschliche Freiheit, wobei diese durchaus von äußeren Faktoren beeinflusst und gefährdet sein kann, der Maßstab. Maria gewinnt diese Freiheit, Elisabeth nicht. Züge von Tragik kommen ihr in der Selbstverleugnung der eigenen Sinnlichkeit zu: »Die Könige sind nur Sklaven ihres Standes,/Dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen./Mein Wunsch wars immer, unvermählt zu sterben.« (II,2) Und etwas später: »Ich darf ja/Mein Herz nicht fragen./[…]/- Der Stuart wards vergönnt,/Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken,/Die hat sich jegliches erlaubt, s i e hat/Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken.« (II,9). Doch ist auch diese Selbstverleugnung weder zwingend noch unabwendbar, ebenso wie ihr Beharren auf dem Volkswillen, dem Element, das möglicherweise als ein unabhängiges Außen interpretierbar wäre. »Aber das Gemeinwohl, das Elisabeth im Munde führt, ist eine Attrappe. Es fungiert nur als die

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›Schauseite‹ der Königin und kann daher auch nicht zu einer Gerechtigkeit führen, die auf innerer Qualität beruht.«187 Dem gegenüber steht Maria, die zwar von ihrem eigenen Volk aus dem Land getrieben wurde, aber mit ihrer Sinnlichkeit geherrscht hat und herrschen will – sich nicht verstellt und so ihre Würde bewahrt. Ihre ›Tragik‹ bestünde dann im Tod, doch diesen überwindet sie. Der Grund dafür liegt in Maria selber. Immer wieder tritt das Wort »Herz« im Zusammenhang mit der Frage nach Macht und Herrschaft beider Herrscherinnen auf, also die Innerlichkeit, aus der heraus letztendlich die Erhebung nur kommen kann. So sagt Kennedy: »Weich/ist Euer Herz gebildet, offen ists/Der Scham – der Leichtsinn nur ist Euer Laster.« (I,4). Und auch Burleigh muss anerkennen: »Dies stolze Herz/ist nicht zu brechen.« (I,8) Leicester versucht gegenüber Elisabeth auch das Herz anzusprechen, um sie zu Marias Begnadigung zu überreden: »Würdig ists/Der großen Seele der Elisabeth,/Daß s i e des Herzens schönem Triebe folge,/Wenn das Gesetz den strengen Lauf behält.« (II,4) Doch muss dieser Versuch scheitern, denn Elisabeth herrscht um den Preis ihrer Sinnlichkeit. Es ist die »fehlende persönliche Autorität, die Elisabeths Versagen begründet.«188 Ihr Herz, anders als das Marias, ist nicht Teil ihres Herrschens. So kann sie zwar ihre Macht bewahren, jedoch anders als Maria nicht wirklich frei werden. Auch die Schuldfrage spielt eine Rolle, doch zugleich auch die Sühne. Anders als in der Braut von Messina ist diese Verknüpfung hier ein wenig komplexer: Maria ist am Tod ihres Mannes durchaus mitschuldig, wie sie am Ende bekennt, doch an der Verschwörung gegen Elisabeth ist sie unschuldig. Gerade dieses Nebeneinander von Schuld und Unschuld ist ein zentrales Element. Dabei ist jedoch deutlich, in welchen Fällen sie schuldig ist und in welchen unschuldig. Schuld und Unschuld werden nicht unauflösbar miteinander verbunden, sondern stehen nebeneinander. Anders verhält es sich mit der Sühne. Für ihre alten Sünden hat sie gebüßt, auch im Sinne der Kirche, so nimmt sie ihren Tod als Strafe für die alten Sünden an, wenn er auch für den Verrat, den sie nicht begangen hat, verhängt worden ist. »Das objektive Unrecht wird als Chance zur Sühnung einer subjektiven und durch keine menschliche Instanz zu tilgende Schuld begriffen.«189 Die Schuldfrage stellt sich Elisabeth nicht, sondern die nach der Macht, Schuld ist ihr – ganz im Gegensatz zu Maria – ein fremdes Konzept. Sie weicht Entscheidungen aus, um nicht für sie verantwortlich gemacht werden zu können, nicht um es nicht zu sein. Eine gewisse Unauflösbarkeit der Schuld lässt sich finden, aber es ist eine andere, nur innerweltliche. Die Frage danach, wie man mit der eigenen Schuld umgehen kann, ist im Endeffekt wieder eine Überwindungsstruktur,

187 Van Ingen, Ferdinand: Macht und Gewissen: Schillers ›Maria Stuart‹. In: Wittkowski (Hrsg.): Verantwortung und Utopie. S. 283-309. hier S. 297. 188 Ebenda S. 504. 189 Oellers: Friedrich Schiller (2006). S. 243.

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da die Buße die Antwort ist und die Annahme der Buße den Menschen Maria Stuart erhöht. Sie geht als reine Seele als Siegerin aus dem Konflikt hervor und ist damit ein Beispiel, das als leuchtendes Vorbild auf den Zuschauer wirken kann. In der historischen Distanz, für die die Geschichte hier taugt, kann sich das Spiel besser entfalten. Die Geschichte hat einen Stoff geboten, den Schiller hier ästhetisch bearbeitet. Die Geschichte selber hat keine eigene Rolle in diesem Konflikt. Ebensowenig gibt es eine Schicksalsmacht, die über den Königinnen steht. »Maria Stuart« führt also einen menschlichen Konflikt, zwischen Menschen und auch in einem Menschen selber im Verhältnis zur Welt vor. Dabei ist zentral, dass immer die Möglichkeit bestehen bleibt und vorgeführt wird, diese Welt zu überwinden. Antrieb dafür ist die eigene sittliche Freiheit.

»W AS

IST DAS , WAS IN UNS HURT , LÜGT , STIEHLT UND MORDET ?« – G EORG B ÜCHNER : D ANTONS T OD Georg Büchner stellt eine Ausnahmeerscheinung sowohl im Zusammenhang der Literaturgeschichte als auch dieser Untersuchung dar. Zeitlich befindet er sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert, Dantons Tod (1835) entzieht sich jedoch den zeitgenössisch vorherrschenden Auffassungen des Trauerspiels und dessen was als Tragödie bezeichnet wurde190, die auf Überwindungsstrukturen basieren. Dantons Tod hingegen ist von unauflösbaren Konflikten beherrscht und stellt damit in meiner Interpretation eine echte Tragödie dar. Auch Büchner selber grenzt sich z.B. von Schiller scharf ab.191 Kennzeichnend für Büchners Werke ist ihrerseits spannungsreiche Verbindung der beiden Hauptmotivationen seines Schreibens: der revolutionäre Elan einerseits und die wissenschaftliche Neugier andererseits. Dabei stellen Büchners Stücke sich selber ebenso in Frage192, wie die Welt, die sie beschreiben, stoßen an Grenzen, bis hin zum Nihilismus. 190 Zur Frage nach der Tragödie äußert sich u.a. auch von Bormann, Alexander: Dantons Tod. Zur Problematik der Trauerspiel-Form. In: Dedner & Oesterle (Hrsg.): 2.Internationales Büchner Symposium. S. 113-131. Hier ist die Grundthese, dass es sich bei Dantons Tod eben um ein Trauerspiel und nicht um eine Tragödie handelt. Dabei (wie auch bei den anderen Ansätzen) ist immer entscheidend, von welcher Definition von Tragödie ausgegangen wird – oftmals eben von einer, die von der Diskussion des 18. Jahrhundert um Versöhnung und Recht geprägt ist. Oder auch Harro Müller, der von einer abschließenden Versöhnung als Merkmal der Tragödie ausgeht. (Müller, Harro: Giftpfeile). 191 Brief an die Familie vom 28.7.1835 Werke und Briefe S. 305-306. »Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.« 192 In Dantons Tod ist das Medium Theater als Metapher vielfältig zu finden. Vgl. z.B. den Souffleur Simon und seinen Auftritt im 1. Akt. Vgl. dazu u.a. Kurz:

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Dantons Tod, das Drama der Revolution zeichnet sich in seinem Umgang mit der Geschichte aus. Die Geschichte, unter deren »grässlichem Fatalismus« Büchner sich »zernichtet«193 fühlt, wird zu einer unkontrollierbaren Größe, die dennoch von den Revolutionären selber gemacht ist. Im Stück wird dies folgendermaßen ausgedrückt: »Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.« (I,5) Die Größen, mit denen sich die Menschen bei Büchner auseinandersetzen müssen, sind die Geschichte und vor allem sie selber, die Teile des Verstands und der Emotion, die ihnen verborgen sind und in einer anderen, möglicherweise höheren Sphäre entschieden werden. »Die Protagonisten tragen das Zentrum ihres Denkens, Fühlens und Handelns nicht in sich selbst, sondern scheinen es an unangreifbare Instanzen abgegeben zu haben.«194 Dieses ist eine Beschreibung für ein tragisches Geschehen, zumal sich die Figuren dieser Tatsache bewusst sind. Deshalb suchen sie, allen voran Danton, in sich selber nach Antworten, die ihnen jedoch verborgen bleiben müssen. Das Bild, das dafür immer wieder auftaucht, ist das der Zerstückelung, das physische Auseinanderbrechen, um etwas zu erkennen und frei zusetzen – doch eben dies macht die menschliche Physis unmöglich, denn das gewaltsame Auseinanderbrechen der Körper ist gleichbedeutend mit dem Tod. Deshalb kommt dem Tod im Drama (nicht nur im Titel) eine wichtige Bedeutung zu (s.u.). Hier wird ein Zusammenspiel von Physis und Psyche verdeutlicht, denn die Vorgänge, um die es geht, sind psychische und emotionale, die an das Körperliche zurück gebunden werden. Bereits ganz zu Beginn des Dramas, im Dialog zwischen Julie und Danton, werden diese Elemente des Zerstückelns, des Wissensdrangs mit dem Tod und der Liebe, den beiden potenziellen Utopien des Stückes, von Danton miteinander verknüpft: »DANTON. Wir sind sehr einsam. JULIE. Du kennst mich Danton. DANTON. Ja, was man so kennen heißt. […] Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. […] DANTON. Nein Julie, ich liebe dich wie das Grab. JULIE. (sich abwendend): oh! DANTON. Nein, höre! Die Leute sagen im Grab sei Ruhe und Grab und Ruhe seien eins.« (I,1)

Guillotinenromantik sowie Dedner, Ulrike: Deutsche Widerspiele der Französischen Revolution und Buck: Riß in der Schöpfung. 193 Fatalismusbrief an die Braut vom März 1834. Werke und Briefe. S. 288-89. 194 Schneider, Helmut J.: Tragödie und Guillotine. »Dantons Tod«: Büchners Schnitt durch den klassischen Dramenkörper. In: Dörr & Schneider (Hrsg.): Die deutsche Tragödie. S. 127- 156. hier S. 133.

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Die Figuren selber nehmen sich nicht mehr ungebrochen war, es gibt etwas, das nicht genau benannt wird, das durch sie hindurch wirkt, Danton formuliert dies später als Frage: »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?«195 (II,5) Das Stück stellt zunächst aus, was ist und was sich daraus ergibt, eine Überwindung dieser Welt, weder durch Tugend, Verstand noch durch Erhabenheit, ist weder dramenimmanent noch in der Wirkung möglich oder beabsichtigt, wenn überhaupt, dann liegt sie im »Nichts«, wie Danton es ausdrückt: »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.« (IV,5). Helmut Schneider beschreibt die »Zersplitterung«, die gewaltsame Zerstückelung, die ein zentrales Element in Dantons Tod ist, auch auf der Metaebene: »Büchners gesamtes Werk, nicht nur Dantons Tod, verabschiedet die metaphysischen und ästhetischen Versöhnungsfiguren der klassischen Periode, indem es sich beharrlich in die Differenz zwischen Körper und Geist, Äußerem und Innerem, Zeichen und Bedeutung, Faktum und Sinn usw. eingräbt.«196 Diese Differenzen lassen sich in den Bühnenfiguren und der Handlung selbst immer wieder beobachten, doch überträgt Schneider diesen Vorgang mit Hilfe des Bildes der Guillotine auch auf den Zuschauer. »Büchner bezieht dieses spektakulär-unspektakuläre Moment des Hinrichtungszerimoniells nun auf die dramaturgische Zuschauerposition.«197 Der Zuschauer reflektiert in dieser Darstellung, im Erkennen der Theatralität der gesamten Handlung auf der Bühne, die zugleich in Frage gestellt wird und zudem noch eine ständige Unmöglichkeit des Handelns ausstellt, die eigene Position. »In den gespaltenen und gelähmten dramatis personae auf der Bühne begegneten die Zuschauer vor der Bühne ihrer eigenen passiven Zuschauerposition.«198 Da die Figuren auf der Bühne sich selber immer wieder nur als Zuschauer eines Dramas begreifen, in dem sie gleichzeitig mitspielen müssen, entsteht die Möglichkeit zur »Spiegelung von Zuschauern und Akteuren ineinander.«199 Diese Spiegelung, wie der Begriff, in dem die Brechung enthalten ist, schon verdeutlicht, ist eben keine empathische Einfühlung oder gar Identifikation, sondern die Verdeutlichung der eigenen Verletzlichkeit oder auch Ohnmacht der Zuschauer – die durchaus zu dem Affekt ›phobos‹, der Furcht, dem Schaudern beitragen kann. »Zwischen der Vergangenheit und ihrer Wiederbelebung auf dem Theater und zwischen der Bühne und dem Publikum steht der Durchgang durch die Guillotine, die den

195 Büchner formuliert diesen Gedanken auch im sogenannten Fatalismusbrief an die Braut vom März 1834. 196 Schneider, Helmut J.: Tragödie und Guillotine. »Dantons Tod«: Büchners Schnitt durch den klassischen Dramenkörper. In: Dörr & Schneider (Hrsg.): Die deutsche Tragödie. S. 127- 156. hier S. 130. 197 Ebenda S. 142. 198 Ebenda S. 144. 199 Ebenda S. 145.

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Körpern (auf beiden Seiten) ihr Opfer weist, bevor sie sich in ihrer imaginären Wiederauferstehung treffen können, die aber eben aufgrund dieser Demonstration nicht erfolgt.«200 Neben den physischen Aspekten der Zerstückelung wird dieser Vorgang auch auf der Ebene der Sprache manifest. In der großen Rede St. Justs (II,7) wird die Verbindung zwischen Sprache und Gewalt, die bereits ganz zu Beginn des Dramas von einigen Bürgern thematisiert wurde (»EINIGE STIMMEN. Ihre Zungen guillotinieren sie.« I,3), in drastischen Bildern gezeigt: »Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen. […] Wir werden unserem Satze noch einige Schlüsse hinzuzufügen haben, sollen einige Hundert Leichen uns verhindern sie zu machen?« Die Sprache wird hier nicht nur mit Gewalt gleichgesetzt, sie gewinnt auch eine unmittelbare Dimension, beinahe eine Körperlichkeit, die der Körperlichkeit der Menschen, die in der Mechanik des Tötens und der Masse von Hinrichtungen untergeht, entgegensteht. Die Sprache, die als Mittel zur Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung steht, weshalb die Erkenntnis gewaltsam aus der Physis herausgebrochen werden muss, wird hier in ihrer Gewalttätigkeit zu einem Instrument, das diese körperliche Gewalt entstehen lässt. »Büchner will […] in der vorgegebenen Sprache oder Textordnung jenes Katastrophische zur Sprache bringen, das der Text verbirgt, indem er sich produziert.«201 Gleichzeitig wissen die Revolutionäre mit Hilfe der Sprache, die sie entlarvt, auch zu manipulieren. Die großen Reden Robespierres und St. Justs sind von einer eindringlichen Rhetorik und auch so Mittel der Gewalt. Die Sprache, auch wenn sie immer wieder problematisiert und reflektiert wird, behält dennoch ihre Macht. Eingesetzt werden kann diese Macht am besten von denjenigen, die die Mechanismen selber nicht reflektieren. Paradoxerweise entlarvt Büchner sie auf der zweiten Ebene – doch an ihrer dramenimmanenten Macht ändert dies – vorläufig – nichts. Gleichzeitig wird die ganze Welt als solche in Frage gestellt, sie scheint keine sichere Grundlage mehr zu sein. Dies wird an einem kleinen, absurden Dialog in der Promenadenszene verdeutlicht, der »2. HERR« sagt: »Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist./Man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen./Aber gehen Sie in’s Theater, ich rat’ es Ihnen« (II,2). Der letzte Satz dieses Zitats bringt das Theater wieder zur Sprache – die Metaphern aus diesem Bereich dienen eben dazu, die Unsicherheit der Welt und der eigenen Existenz zu formulieren, aber auch hier wieder von zwei Seiten, das Theater ist ein schlechtes Abbild der Welt und zugleich ist die ganze Welt ein Theater. Dies zieht sich durch das gesamte Stück, die »Metatheatralität« war bereits ein Merkmal der griechischen Tragödien.

200 Ebenda S. 150. 201 Niehoff: Herrschaft des Textes. S. 36.

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Diese Unsicherheiten münden in den Fatalismus – doch anstatt zu resignieren, setzt Büchner – wenn auch in der absurden und zum Scheitern verurteilten Form – ihm den Menschen entgegen. In der Betrachtung des Faszinosums Mensch paaren sich Humanität und Neugier aufs Neue. Das Ende des Stückes, Luciles letzter Auftritt, verdeutlicht dies. Lucile, eine der Frauenfiguren, die im Gegensatz zu den Revolutionären Büchners eigene Erfindung sind und für die (jedoch auch zum Scheitern verurteilte) Utopie der Liebe stehen, handelt aus sich selber heraus, und nicht im Verhältnis zur Geschichte und zur Revolution. In ihrem sinnlosen Tod, provoziert durch die scheinbar monarchistische Äußerung »Es lebe der König« (IV,9), bringt sie die Menschlichkeit für einen Moment auf die Bühne, um dann aus dem selben Grund in den Tod zu gehen. »Die ›im Namen der Republik‹ abgeführte Lucile [geht] in keine symbolische Bedeutung und historische Zukunft ein. Gerade so aber wird sie paradoxerweise, eben im Sinne des von Paul Celan radikal herausgestellten Büchnerschen Darstellungsparadoxes, zur einzigen ›Heldin‹, die das Revolutionsdrama kennt.«202 Das Ende hat ein positives Element, auch eine Hoffnung – Büchner will letzten Endes als Revolutionär doch an die Möglichkeit eines menschlichen Lebens glauben. Doch zeigt er gleichzeitig wieder dessen Unmöglichkeit, da er die Möglichkeit dazu so und nicht anders darstellt – in einem Augenblick, in einem Atemzug im Angesicht des Todes, und dieses ist es auch, was der Zuschauer wahrnehmen soll: »Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden.«203

»D A DOCH NUR MIT G EWALT DIE DIESE TÖTENDE W ELT ZU ÄNDERN IST « – B ERTOLT B RECHT : D IE M ASSNAHME ALS N ICHT -T HEATER Problematisch wird die Frage nach der Tragödie auch in Bezug auf einen der maßgeblichen Theaterautoren und -theoretiker des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht. Brecht formuliert ein Theaterkonzept, das er selber als »anti-aristotelisch« bezeichnet. Die grundsätzlichen Überlegungen hierzu finden sich vor allem im Kleinen Organon für das Theater.204 Dieses neue Theater wird definiert als »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« (S. 65). In dieser Formulierung wird die Verbindung des Theaters mit und auch seine Abhängigkeit von der realen Umwelt bereits deutlich. Das Theater bekommt also 202 Schneider, Helmut J.: Tragödie und Guillotine. »Dantons Tod«: Büchners Schnitt durch den klassischen Dramenkörper. In: Dörr & Schneider (Hrsg.): Die deutsche Tragödie. S. 127- 156. hier S. 153. 203 Celan: Der Meridian. S. 190. 204 Zitiert nach Bertolt Brecht: Werke Band 23: Schriften 3. Herausgegeben von Werner Hecht; Jan Knopf; Werner Mittenzwei; Klaus-Detlef Müller.

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sowohl eine gesellschaftliche Funktion in der kritisch-darstellenden Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände zugeschrieben als auch die Aufgabe, verändernd in diese hinein zu wirken. Wobei auch das Vergnügen an der Darstellung nicht vergessen wird, doch auch dieses soll idealerweise dem Zweck der kritischen Haltung dienen: »Das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters vermag die Dialektik zum Genuß zu machen.« (S. 290) Das Theater zielt vor allem auf den Zuschauer. Die Haltung, die dieser einnimmt, ist zentral, denn für ihn und durch ihn soll die Veränderung der Welt letztendlich stattfinden. Diese Haltung ist damit nicht mehr nur eine rezipierende, sondern eine »produktive«, wobei Brecht das Vergnügen am Theater nie komplett ausschließt, da es sich um Kunst und eben nicht um reine Agitation handelt: »Welches ist die produktive Haltung gegenüber der Natur und gegenüber der Gesellschaft, welche wir Kinder eines wissenschaftlichen Zeitalters in unserm Theater vergnüglich einnehmen wollen?« (S. 73) Die Antwort auf diese Frage ist eine denkbar einfache und wird aus der Analogie mit den Wissenschaften, vor allem auch aus den marxistischen und ihrer dialektischen Methodik, abgeleitet: »Die Haltung ist eine kritische.« (S. 73) Diese kritische Haltung wird vor allem in der Differenz, die z.B. von den V-Effekten in den Stücken markiert werden, deutlich. In allem, was dargestellt wird, soll auch die Möglichkeit des eigenen Gegenteils enthalten sein – es soll in einem gesicherten Raum ausprobiert werden: »Wird doch die Gesellschaft überhaupt hier so behandelt, als mache sie, was sie macht, als ein Experiment.« (S. 85) So hat das Theater auch die Funktion eines Labors für die reale gesellschaftliche Veränderung. Da Brechts Dialektik eine rein materialistische ist, wird jede unberechenbare Dimension verbannt. Die Maßnahme, 1930 uraufgeführt, später von Brecht selber mit einem Aufführungsverbot belegt und ganz am Ende seines Lebens von ihm zum »Theater der Zukunft« erklärt, gehört zu den Lehrstücken Bertolt Brechts, in diesen ist der Wille zur Veränderung der Gesellschaft stärker und direkter zu beobachten, als in den späteren Stücken, der Unterhaltungsaspekt wird noch nicht berücksichtigt. Die Effekte sollen sich vor allem bei den Spielenden einstellen, denn für sie ist das Stück gedacht. Der Zuschauer wird nachgerade ausgeschlossen. Zum Lehrstück, das »kein Theaterstück im üblichen Sinne«205 ist, existieren keine vergleichbaren systematischen Äußerungen, doch hat vor allem Reiner Steinweg in den 1970er Jahren versucht, ein Modell zu konstruieren.206 Ungefähr 1937 äußert sich Brecht in einem erhaltenen Fragment über das Lehrstück:

205 Zitiert nach Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe. S. 237. 206 Vgl. dazu Steinweg: Das Lehrstück – ein Modell des sozialistischen Theaters; Ders.: Brechts «Die Maßnahme» - Übungstext, nicht Tragödie; Ders.: Lehrstück und episches Theater. Zudem den Teil D, die Äußerungen der Autoren zur Maßnahme (Theoretische Texte), in der Kritischen Ausgabe.

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»das lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. es liegt dem lehrstück die erwartung zugrunde, daß der spielende durch die durchführung bestimmter handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden und so weiter gesellschaftlich beeinflußt werden kann./die nachahmung hochqualifizierter muster spielt dabei eine große rolle, ebenso die kritik, die an solchen mustern durch ein überlegtes andersspielen ausgeübt wird./es braucht sich keineswegs nur um die wiedergabe gesellschaftlich positiv zu bewertender handlungen und haltungen zu handeln; auch von der (möglichst großartigen) wiedergabe asozialer handlungen und haltungen kann erzieherische wirkung erwartet werden.« 207

So hat die Lehrstückkonzeption ohne Zuschauer auch Auswirkungen auf die Frage nach einer möglichen Tragik. Sie blockiert sie total. Ein Lehrstück, auch wenn es dialektisch problematisiert, entsteht aus einem grundlegend positiven Impuls, dem der Möglichkeit der Veränderung und der Erlernbarkeit dieser Veränderung. Diese Grundlage darf in einem pädagogischen Konzept ohne Zuschauer nicht hinterfragt werden, denn dies würde das Lehrstück als solches sofort obsolet machen. Und ohne ein Außen, wenn es sich auch nur um das des Zuschauerkollektivs handelt, dem sich die Schauspieler auf der Bühne gegenübersehen, kann keine Struktur entstehen, in der möglicherweise ebendiese Grundlage in Frage gestellt wird. So wie die Figuren auf der Bühne durch den puren Materialismus ihre Bezugsgröße verlieren, verliert das Theater durch den Ausschluss des Publikums eben sein konstituierendes Moment. Auch aus diesem Grund wird das Publikum später im kleinen Organon wieder in seiner zentralen Funktion berücksichtigt, da auch Brecht nicht nur ein Autor, sondern auch ein Theaterpraktiker war und diese Art von Nicht-Theater in der Praxis nicht durchhalten konnte. Das andere Moment, das noch zu beachten ist, ist der Umgang mit Geschichte und Revolution. Die Geschichte verselbständigt sich hier nicht, sie ist der Schauplatz der Revolution, deren Ziel jedoch vollkommen klar ist. Für dieses Ziel muss ein Preis gezahlt werden und genau dieses führt die Maßnahme vor: die Veränderung des Bewusstseins der Spieler, ihr »Einverständnis« mit der Revolution, aus dem heraus sie dann richtig revolutionär handeln können. Die Maßnahme hat den Charakter eines Experiments und zugleich einer Gerichtsverhandlung. Es wird etwas zur Debatte gestellt und zwar das bereits vergangene Handeln der Agitatoren. Da die eigentliche Tat schon vorbei und der Junge Genosse bereits tot ist, ist die Gerichtsverhandlung auf

Einen weiteren Beitrag zur Debatte liefert Krabiel, der sich teilweise sehr deutlich gegen Steinwegs Systematisierung positioniert (Krabiel: Brechts Lehrstücke). Eine Zusammenfassung der Debatte bietet Hartung: Der Dichter Bertolt Brecht. Darin das Kapitel Geschichte des brechtschen Lehrstücks. S. 127-247. 207 Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe. S. 251ff. Zur Datierung S. 284.

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dieser Ebene die geeignetere Analogie. Die Agitatoren verlangen auch nach einem »Urteil« – dennoch wird am Ende kein Recht gesprochen, sondern nur das Einverständnis mit der Maßnahme erklärt.208 Jedoch stellen die Agitatoren dieser Aufforderung am Anfang bereits eine eindeutige Beurteilung voran: »Er wollte das Richtige und tat das Falsche. Wir fordern Euer Urteil.« Die Frage ist also, ob die Maßnahme, die ergriffen wurde, angemessen war – mithin ein Urteil über ein Urteil. Der Experimentalcharakter wird deutlich, da die Verhandlung in Form einer Darstellung stattfindet. Das gesamte Stück hat einen Spiel-im-Spiel-Charakter. Eben in dieser Brechung stellt es die Maßnahme als solche zur Debatte, aber zugleich auch die Maßnahme als Drama zur Disposition. Es fragt sich bereits hier, wer eigentlich (be)urteilen soll, denn der Zuschauer soll ausgeschlossen werden. Doch hat das Stück immanente Zuschauer, das Kollektiv des Kontrollchors, der zugleich der Richter über die Agitatoren ist. Das Theater als Vorgang des Spielens wird das ganze Stück über problematisiert und in der Darstellung des Geschehens mit den Mitteln des Theaters gezeigt. Die Agitatoren übernehmen dabei alle Rollen. Nur der Kontrollchor steht ihnen gegenüber. Die Personen werden so zum Material der Revolution. Ebenso sind die Figuren das Material der Aufführung, denn zentral ist die Fabel, im brechtschen Sinn, die gezeigt wird, und nicht die Personen. Doch wird ihnen nicht nur eine Identität genommen, sondern ihre bisherige Existenz wird ebenso für nichtig erklärt: »DER LEITER DES PARTEIHAUSES gibt ihnen Masken, sie setzen sie auf: Dann seid ihr von dieser Stunde an nicht mehr Niemand« (2 DIE AUSLÖSCHUNG). Der ganze Vorgang findet in einer Szene statt, die als DIE AUSLÖSCHUNG bezeichnet wird. Doch das, was ausgelöscht wird, die vorherige Existenz ist ebenso nichtig, erst in der Maske – also metatheatral gesprochen in einem Verfremdungseffekt – wird eine Figur existent. In der Dialektik von Auslöschung und Verfremdung wird eine Existenz möglich, jedoch nur im Kampf für den Kommunismus, in der Revolution. So wenig wie hier zählt das einzelne Individuum selten. Die radikalste Infragestellung einer Person findet jedoch im Jungen Genossen statt. Wenn es denn eine solche gibt, dann ist er die Hauptfigur des Dramas. Die Maßnahme, die ergriffen wurde, geht auf seine Verfehlungen zurück, und er ist es, der stirbt. Er ist schon tot als das Drama beginnt, er existiert nur in der Darstellung der Agitatoren, derjenigen, die ihn getötet haben, in einem Spiel-im-Spiel zur Rechtfertigung dieser Maßnahme. Doch gerade in dieser gespensterhaften Figur wird die Frage von Mitleid, also einem individuellen menschlichen Gefühl, Ungeduld und Fehlern verhandelt; und im Gegenüber zum Kontrollchor und den Agitatoren die Frage von Individualität und Kollektivität. Wobei die Agitatoren, die seinen Tod be-

208 Der Kontrollchor beschließt das Stück mit dem Satz: »Wir sind einverstanden mit euch.«

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schlossen haben, den Jungen Genossen abwechselnd darstellen. Dies ist die theatralisch höchst mögliche Stufe des kritischen Umgangs mit einer Figur, in der das Gegenteil immer schon mitgespielt werden soll. Der Junge Genosse existiert nur als Theaterfigur und im Theater nur auf der zweiten Ebene des Spiels-im-Spiel, was ihn der Kritik doppelt aussetzt, aber auch eben nur so existieren lässt. Doch gerade diese Figur wird immer wieder vom Mitleid angetrieben, gerade darin bestehen seine Verfehlungen. Er versucht sich im Zerreißen der Maske der vom Chor repräsentierten Partei, der Revolution zu entziehen. Das Zerreißen der Maske legt frei, was darunter ist, aber was das ist, wird nicht deutlich – damit ist auch gekennzeichnet, was das Problem des Theatertextes Maßnahme ist, das Brecht mit dem »Lob der Partei« zu lösen versucht. Was dem Lernen wirklich zu Grunde liegt und vor allem was die Theatralität des Stückes wirklich ausmacht, wird nie deutlich – die einzig mögliche Antwort ist Gewalt, doch deren unbedingte Notwendigkeit wird nicht plausibel. Die Welt wird als gewalttätige wahrgenommen und verstanden – im zeitlichen Kontext der Entstehungszeit ist diese Analyse der Welt noch zutreffender – und die Maßnahme postuliert als einziges Mittel gegen diese Gewalt die Gegengewalt. Diese revolutionäre Gewalt ist jedoch umso konsequenter, da sie sich auch nach innen, gegen die eigenen Genossen richtet – möglicherweise soll in dieser größeren Konsequenz der Gewalt auch ihre langfristige Überlegenheit begründet liegen. Müller-Schöll sieht eben diese Leere als konstitutives Moment des Lehrstücks: »das Lehrstück als Leerstück.«209 Es gibt immer eine Wechselwirkung zwischen Persönlichem und Kollektivem, doch nur in einem Verhältnis, in dem das Persönliche das Kollektiv gefährdet. Die Gefahr für den Einzelnen, die vom Kollektiv ausgeht, wird hingegen nicht als solche bestimmt, sondern als notwendige Maßnahme behauptet, der der Einzelne zudem noch zustimmt. Doch bricht die Zustimmung des Jungen Genossen zu seinem eigenen Tod seine nicht vorhandene Figur ein weiteres Mal: »DER JUNGE GENOSSE unsichtbar: Er sagte noch: Im Interesse des Kommunismus/Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen/Aller Länder/Ja sagend zur Revolutionierung der Welt.« (8 DIE GRABLEGUNG) Hier ist der Junge Genosse unsichtbar und spricht über sich in der dritten Person, die Zustimmung zur eigenen Tötung erfolgt also nicht aus der persönlichen Situation, sondern aus einer entpersonalisierten. Dem steht paradox gegenüber, dass die Agitatoren nach dem Zerreißen der Maske das »Menschliche« gesehen haben. Aber anstatt nun menschlich und persönlich zu handeln, sich also in einem beinahe idealistischen Sinn zu erheben, kann das Aufgehen der Person in der Revolution nur aus einer Position erfolgen, der eine Aufhebung der Person bereits vorausgegangen ist. Damit ist das Einverständnis in den eigenen Tod im Wortsinn unmenschlich.

209 Müller-Schöll: Theater des konstruktiven Defaitismus. S. 310.

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Der Chor involviert sich in den Lernvorgang, gerade so hat er die Souveränität, am Ende der Maßnahme zuzustimmen. Und es ist auch der Kontrollchor, der am Ende das Lob der Partei210, der Aufhebung des Einzelnen in der Masse, als Antwort auf diesen Tod gibt. Trotz aller Infragestellung und Dialektik endet das Stück doch mit einer eindeutigen Antwort, die direkt auf eine Wirkung im revolutionären Sinn abzielt. Die Maßnahme ist eines der am kontroversesten diskutierten Stücke Brechts.211 Eine der prominentesten Richtungen ist diejenige, die in der Maßnahme die Tragödie des Marxismus sehen will. Das Stück wird von Grimm als »Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie« verstanden.212 Für ihn hat die Entwicklung des Jungen Genossen, der somit der tragische Held wäre, eine »Zwangsläufigkeit«213 – die jedoch für alle Individuen in Opposition zum Kollektiv des Kontrollchors gilt. Doch tatsächlich wird das Verhältnis zwischen dem Chor und den Agitatoren sowie zwischen den Agitatoren und dem Jungen Genossen vor allem von Einverständnis definiert. Als tragischen Konflikt macht Grimm die Frage nach sofortiger unmittelbarer Hilfe für die Einzelnen oder der dauerhaften Verbesserung der Lebensbedingungen Aller aus, »die unmittelbare Hilfe jetzt und hier für den Einzelnen und die ganze Menschheit sind nicht mehr identisch, sondern treten einander als gleichberechtigte Ansprüche feindlich gegenüber. […] Der Anspruch der Gegenwart läßt sich mit dem Anspruch der Zukunft nicht mehr vereinigen; beide gleich mächtig, schließen einander aus.«214

Doch handelt es sich m.E. hier keineswegs um einen tragischen Konflikt, denn die Aufgabe des Anspruchs der Gegenwart ist der Preis für die Verbesserung der Zukunft. Dieses Ende der Entwicklung steht über allem, nicht der Gegensatz. Der Einzelne muss seinen Anspruch in der Gegenwart aufgeben, damit für alle eine Verbesserung in der Zukunft möglich ist. Mehr noch, er muss sich in den Dienst dieser Verbesserung stellen, sich an der Revolution beteiligen. Damit besteht der eigentliche Konflikt zwischen dem Einzelnen

210 Zur Partei und der Entwicklung des Kommunismus vgl. Horn: Die Wahrheit ist konkret. 211 Ausführliche Literaturübersichten finden sich bei Joost, Müller & Voges (Hrsg.): Brecht. Epoche-Werk-Wirkung. S. 155ff; Krabiel: Brechts Lehrstücke. S. 206ff. und auch bei Winnacker: »Wer immer es ist, den ihr sucht, ich bin es nicht.« S. 7ff. 212 Als Tragödie versteht die Maßnahme auch Nelson: The Birth of Tragedy out of Pedagogy. Sokel sieht als gemeinsame Grundlage der Tragik in Brechts Dramen die schizophrene Spaltung der Charaktere, die auf sozialen Begebenheiten beruht. Sokel, Walter: Brechts gespaltene Charaktere und ihr Verhältnis zur Tragik. In: Sander (Hrsg.): Tragik und Tragödie. S. 381-396. 213 Grimm: Tragödie der Ideologie. S. 399. 214 Ebenda S. 401.

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und dem Kollektiv. Da der Marxismus wissenschaftlich, rational argumentiert und die Wissenschaft zur neuen Ideologie erhoben wird, ist der Konflikt jedoch lösbar. In der Maßnahme wird er von den Agitatoren gelöst, wenn auch um den Preis des ultimativen Opfers. Doch die Notwendigkeit bleibt immer bestehen und begründbar, rational erfassbar – es gibt nichts, das als für die menschliche Vernunft nicht fassbar angesehen wird. Deshalb kann der Einzelne hier auch nicht in einen unvermeidbaren Konflikt geraten, ein solcher existiert nicht. Steinweg äußert sich zu dieser Interpretation, indem er den Lehrstückcharakter der Maßnahme, und damit ihre Wirklichkeitsgebundenheit215, noch einmal besonders hervorhebt.216 Für ihn ist das Thema »das Verhältnis von Bewusstsein und Wirklichkeit – nicht ein ethisches Problem, nicht die allgemeine Frage, ob und unter welchen Umständen man Genossen töten dürfe.«217 Der Junge Genosse soll hier im Gegensatz zu den Interpretationen, die ihn in einem Konflikt mit der Ideologie sehen, zu ideologisch denken. »Die ideologische Fixierung hindert den JUNGEN GENOSSEN daran dialektisch zu denken.«218 Damit ist auch sein Einverständnis mit den Aktionen der Agitatoren, das er immer wieder formuliert, ein »falsches« – das Einverständnis mit der eigenen Tötung am Ende wäre demnach ein richtiges. Steinweg findet das Verhalten des Jungen Genossen »dermaßen widersprüchlich konstruiert, […] daß von einer Alternative zwischen sinnvoller Soforthilfe und zielbestimmter, rationaler Planung (Grimm) nicht gesprochen werden kann.«219 Diese Auffassung ist insofern schwierig, als der Junge Genosse immer aus dem gleichen Impuls handelt, dem Mitleid, das ihn angesichts des Elends ergreift (das Sehen spielt eine wichtige Rolle, das Konkrete steht der Abstraktheit der Schriften der Klassiker gegenüber). Ihm gelingt es nicht, die Ideologie zu abstrahieren, sein Lernen ist ein physisches, was der brechtschen Lehrstücktheorie wieder entspricht. Denn das Lernen, das hier vorgesehen wird, ist eben auch eines durch Erfahrung für die Spielenden – auch hier entsprechen theatrale und metatheatrale Ebene einander.

215 Vgl. dazu auch Steinweg: Das Lehrstück – ein Modell des sozialistischen Theaters. Hier wird »das Lehrstück als Grundlage einer revolutionären pädagogischen und theatralischen Praxis« (S. 103) definiert. 216 Steinweg: Brechts «Die Maßnahme» – Übungstext, nicht Tragödie. 217 Ebenda S. 134. 218 Ebenda S. 136. 219 Ebenda S. 139.

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»D U STIRBST NUR EINEN T OD/ ABER DIE R EVOLUTION STIRBT H EINER M ÜLLER : M AUSER

VIELE

T ODE « –

Heiner Müller bezieht sich in seiner »Versuchsreihe«, die aus den drei Stücken Philoktet, Der Horatier und Mauser besteht, auf das brechtsche Lehrstückkonzept.220 Mauser (1970) verhandelt eine ähnliche Grundsituation wie die Maßnahme, doch unter der veränderten Voraussetzung einer Revolution, die Wirklichkeit geworden ist.221 Heiner Müller setzt sich kritisch mit der Brechtschen Lehrstückkonzeption auseinander. Sein Diktum »Brecht gebrauchen ohne ihn zu kritisieren ist Verrat«222 ist die knappste Formulierung dieses Verhältnisses. Das Lehrstück wird von der Geschichte eingeholt und letztendlich überwunden. Dies formuliert Müller selber einige Jahre später (1977) in einem Brief an Steinweg: »Der Versuch ist gescheitert, mir fällt zum LEHRSTÜCK nichts mehr ein. […] Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen, die Geschichte hat den Prozeß auf die Straße vertagt.[…] Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten. Und das löchrige Gedächtnis, die brüchige Weisheit der Massen, vom Vergessen bedroht. […] Die Maulwürfe oder der konstruktive Defaitismus.«223

Müller-Schöll setzt Mauser (zusammen mit anderen Stücken) stark in Bezug zum Brechtschen Modell.224 Er liest sie nachgerade als »Varianten des 220 Zum Verhältnis Müllers zu Brecht vgl. u.a. Silbermann, Marc: Heiner Müllers Fortschreibung der Brechtschen Dialektik. In: Schulte & Mayer (Hrsg.): Der Text ist der Coyote. S. 197-210.; Teraoka: Der Auftrag and Die Maßnahme: Models of Revolution in Heiner Müller and Bertolt Brecht.; Stillmark: Erfahrungen kann man nur kollektiv machen. – Zu Heiner Müllers Lehrstück »Der Horatier«.; Müller, Klaus-Detlef: Brecht – ein letzter Aristoteliker des Theaters?; Brenner: Heiner Müllers «Mauser»-Entwurf: Fortschreibung des brechtschen Lehrstücks. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Aufsatz Steinweg: Die Lehrstücke als Versuchsreihe. Der bereits die Brechtschen Lehrstücke als eine solche analysiert. 221 Rothe: Revolutionsdramatik seit Goethe. S. 242. 222 Fatzer +/- Keuner. In: Hörnigk (Hrsg.): Heiner Müller Material S. 30-36. hier S. 36. 223 Verabschiedung des Lehrstücks. Zitiert nach Mauser. S. 85. 224 Andere Interpretationen des Stückes, die sich nicht in erster Linie auf das Lehrstück beziehen liefern, z.B. Schivelbusch, der Mauser als »optimitische Tragödie« bezeichnet (Schivelbusch: Sozialistisches Drama nach Brecht. S.220), oder Genia Schulz, die auf den Tragödiencharakter Bezug nimmt, wobei sie die Tragödie an das Konzept der Erhabenheit bindet. (Schulz: Gelächter aus toten Bäuchen). Pamperriens Analyse Ideologische Konstanten – Ästehtische Variab-

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Brechtschen ›Lehrstücks‹.«225 Ihnen gemeinsam sei, dass Müller »hier wie dort auf die Unterbrechung und Korrektur der theatralischen ›Idealkonstruktion‹ ab[zielt].«226 Das Spezifische an diesem Stück sei, dass es sich um ein »Frontstück«227 handelt. Auch Müller hat sich zu der Situation Mausers im Zusammenhang mit der Geschichte geäußert: »Der Text sagt nur, daß MAUSER eine Gesellschaft der Grenzüberschreitung voraussetzt, eine Gesellschaft der Revolution. Revolution ist Grenzüberschreitung.«228 Diese Grenzüberschreitung ist auch ein Ausdruck für die Unterbrechung. MüllerSchöll geht davon aus, dass in Mauser keine Auflösung oder Versöhnung mehr möglich ist, da es keine sichere Referenz mehr gibt. »In Abwesenheit einer transzendierenden Einspruchsinstanz bleiben die geäußerten Positionen unvermittelt nebeneinander stehen. Was wegfällt, ist die Möglichkeit der moralischen Rechtfertigung oder Verdammung des Gezeigten.«229 Diese Analyse ist zwar richtig in Bezug auf die »Einspruchsinstanz« – zumal Müller-Schöll damit beschreibt, dass auch der Chor nicht in Besitz des Wissens ist und der Konflikt auf eine andere Ebene verlegt wird, so zum »aporetischen Konflikt«230 wird. Doch sind die Positionen As, Bs231 und des Chors diejenigen, die im Stück verhandelt werden und sie sind nie nebeneinander, sie gehen auseinander hervor, haben den gleichen Ursprung – und zwar die Revolution. In der Textgestaltung ist manchmal nicht auszumachen, wer die Äußerungen macht, manchmal scheinen A und B auch wieder im Chor aufzugehen. Ein zutreffendes Bild für diese Gestalt des Stückes findet Cornelia Mieth, die von einem »Oszillieren« spricht. »Das Oszillieren zwischen den beiden Blickwinkeln (Einzelner/Kollektiv) macht die Qualität des Stückes

225 226 227 228 229 230 231

len ist m.E. zu einseitig in seiner These es handle sich bei Mauser um »das Hohe Lied des kommunistischen Terrors« (S. 136), das dazu diene »die Richtigkeit des Absolutheitsanspruchs revolutionärer Gewalt trotz ihrer Perversion in der sogenannten »Stalinistischen Ära« zu beweisen.« (S. 111). Müller-Schöll: Theater des konstruktiven Defaitismus. S. 534. Ebenda. Ebenda S. 544. Müller: Gesammelte Irrtümer 1. S. 134. Müller-Schöll: Theater des konstruktiven Defaitismus. S. 548. Ebenda. In diesem Zusammenhang fällt die Benennung der Figuren als A und B auf – in einer früheren Fassung hieß zumindest A noch M oder Mauser. A und B sind die Bezeichnungen, die in juristischen Fallbeispielen für die Beteiligten verwendet werden. Auch hier wird also ein Fall verhandelt, jedoch sind A und B ungleichzeitig, auch wenn ihre Verfehlungen aus dem gleichen Ursprung geschehen. Zudem fällt auf, dass B der Vorgänger von A war, obwohl er mit dem nachfolgenden Buchstaben des Alphabets bezeichnet wird – was das zyklische (mythische) Prinzip der Geschichte wieder verdeutlicht.

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aus. Nur so kann, gleichsam als Überwindung beider Positionen, in der offenen Form des Stückes das Problem der Entfremdung der Revolution thematisiert werden.«232 Ohne ihre Ausprägungen und Manifestationen in Personen und auch deren Widersprüchlichkeiten kann die Revolution nicht weiter existieren. Der Konflikt ist ein zeitgebundener und von seiner Zeit beeinflusster, der in Form der Revolution die eigene Zeit wieder beeinflusst. Dieses zeigt der Text. »Der Text selber wiederholt das Unrecht, das in ihm angeprangert wird. Er ist nicht unschuldig. Damit ist aber auch gesagt, daß das notwendige Innehalten ›zwischen Finger und Abzug‹ oder ›Hand und Revolver‹ auch auf das Verhältnis des Stückes zu seinem Gegenstand sowie der Lektüre oder Inszenierung zum Stück zu übertragen ist.«233

Eine ähnliche Vielschichtigkeit sieht Müller-Schöll in der Kollision der Zeitebenen, auch sie findet unter anderem zwischen »Schauspieler und Text, bzw. Spiel und Schriftraum«234 statt. Dies kann als Umschreibung des »Einbruchs der Zeit in das Spiel« gelesen werden, da dieser Einbruch eben genau eine Differenz beschreibt und zugleich ermöglicht. Dabei stellt sich folgerichtig das Theater auch selber zur Disposition. Müller selber spricht von Carl Schmitts These des »Einbruchs der Zeit in das Spiel« – so verhält sich das Drama zur Welt und so entstehen Mythen. Auf die Frage, ob er einen dramatischen Stoff selber erfunden habe, antwortet Müller folgendermaßen: »Ich glaube nicht, nein. Es gibt einen Text von Carl Schmitt über HAMLET. Seine These ist: Tragische Konflikte kann man nicht erfinden, die kann man nur übernehmen und variieren. Wie das die Griechen gemacht haben, oder Shakespeare – der hat auch nichts erfunden. Oder, sagt Schmitt, tragische Konflikte entstehen durch den ›Einbruch der Zeit in das Spiel‹, wenn man Theater als Spiel mit Begebenheiten versteht. Und wenn die Zeit einbricht in dieses Spiel, entsteht vielleicht eine tragische Konstellation. Aber erfinden kann man sie nicht.«235

Auch der Zuschauer wird anders gefordert, Müller ist ebenfalls skeptisch gegenüber einer Aufführung als Schaustück. In der dem Stück nachgestellten Anmerkung heißt es dazu: »Aufführung vor Publikum ist möglich, wenn dem Publikum ermöglicht wird, das Spiel am Text zu kontrollieren und den Text am Spiel, durch Mitlesen der Chorpartei,

232 Mieth, Cornelia: Von der teleologischen zur postteleologischen Utopie. Die zunehmende Fragmentisierung der Geschichte bei Heiner Müller. In: Schulte & Mayer (Hrsg.): Der Text ist der Coyote. S. 211-229. hier S. 219-20. 233 Müller-Schöll: Theater des konstruktiven Defaitismus. S. 552. 234 Ebenda S. 556. 235 Müller: Gesammelte Irrtümer 1. S. 138.

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oder der Partie des ersten Spielers (A), oder der Chorpartie durch eine andere Zuschauergruppe und der Partie des ersten Spielers durch eine andere Zuschauergruppe, wobei das nicht Mitzulesende im Textbuch unkenntlich gemacht ist, oder andere Maßnahmen; wenn die Reaktion des Publikums kontrolliert werden durch Asynchronität von Text und Spiel, Nichtidentität von Sprecher und Spieler.«236

Doch wo das Brechtsche Lehrstück eindeutig im Sinne der marxistischen, revolutionären Geschichtsauffassung wirken soll, da stellt Müllers Stück eine Differenz aus. »Was für Brecht die Lösung darstellt, wird für Müller erst das Problem.«237 In dieser Differenz, die sich wie eine Dialektik zwischen zwei Polen bewegt, muss der Zuschauer sich selber zurechtfinden, hier werden die beiden Positionen nicht mehr aufgehoben. Bei Brecht war die Differenz, z.B. in der verfremdeten Spielweise, ein Mittel zur Erkenntnis. Bei Heiner Müller ist sie der zentrale Punkt des Textes, der auch von den Zuschauern nicht eindeutig aufgelöst werden kann. Müllers Theater ist dabei immer auch ein zeitgebundenes, das aus seiner spezifischen Realität stammt und in sie hinein wirken will. Doch dieses nicht als didaktische Belehrung. Eke beschreibt das Verhältnis Heiner Müllers zur Wirklichkeit, das grundlegend für sein Theater ist und sich eben nicht auf Belehrung beschränkt. »Insofern Müller Drama und Theater im Hinblick auf den gesellschaftlichen Prozeß der Veränderung funktionalisiert (was die Enteignung des Künstlers einschließt), jede wirklich grundlegende Veränderung aber auch das Überschreiten von Grenzen zur Voraussetzung hat, versteht seine ›Theaterarbeit‹ sich als Provokation und Stimulanz gesellschaftlicher Entgrenzung.«238 Dies gilt auch und vor allem im Verhältnis zum Zuschauer: das Theater ist »kreative Negation, deren Prämisse ein handelndes Subjekt (nicht der passiv konsumierende Zuschauer) ist.«239 Neben dem Verhältnis zur Wirklichkeit ist der Bezug auf die Geschichte und die Geschichtlichkeit der Realität ein zweites zentrales Element des Theaters Heiner Müllers. Aber auch dieser Zusammenhang ist von Ambivalenz gekennzeichnet. »In der Tendenz wird Müllers Theater zu einem auf Reflexion und Meditation beruhenden Theater der Erinnerung, in dem Geschichte als ästhetischer Gegenstand in einer zeitlosen ästhetischen Konstruktion mehr oder weniger zwar zum Verschwinden gebracht ist, als Gedankenbezug aber inhaltlich bestimmend bleibt.«240 Geschichte und Erinnerung stehen in einer Spannung zu einander, wobei das objektive Element zu Gunsten des subjektiven zurücktritt.

236 Müller: Mauser. S. 69. 237 Silbermann, Marc: Heiner Müllers Fortschreibung der Brechtschen Dialektik. In: Schulte & Mayer (Hsrg.): Der Text ist der Coyote. S. 197-210. hier S. 206. 238 Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. S. 27. 239 Ebenda S. 32. 240 Ebenda S. 68.

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»Ein wesentliches Element der Zurücknahme des Dramas aus dem geschichtlichen Zeit-Raum der dramatischen Aktion in den entgegenständlichten Innenraum der Reflexion […] ist die monologische Anlage der Texte, die auch dort konstitutiv bleibt, wo diese sich den Anschein des Dialogischen geben […]; ein anderes die Dekonstruktion der dramatischen Figur mit dem Verzicht auf die dramatische Entäußerung der dramatis personae im eigentlichen Sinn und der Auflösung der handelnden Figur in die Zeichenlandschaft des Textes.«241

Der Text hat zugleich viele Referenzpunkte, die Sprache, die Körper, den Tod und die Geschichte. Die Instanz, auf die das Stück ausgerichtet ist, ist nicht leer, sondern unklar, ohne den Glauben an eine bessere Zukunft macht Revolution, die hier der Grund für Krieg ist, keinen Sinn. Doch diese Zukunft steht zur Disposition, ist diffus und kaum beeinflussbar, dennoch wird an sie geglaubt – trotz und gerade mit allen Zweifeln. Es zeigt sich das Paradox von Zukunft und Vergangenheit, das Müller immer wieder betont242: Die Toten nehmen die Zukunft mit ins Grab.243 Gleichzeitig ist der Tod der Individuen notwendig, damit die Geschichte weitergeht.244 Eine solche nicht-fassbare Welt kann gar nicht überwunden werden. Es bleibt ein Moment der schmerzhaften Spannung, in der das Individuum (tragisch) existieren muss. Schon der Titel Mauser zeigt die Ambivalenz des revolutionären Vorgangs. Zum einen ist eine Mauser eine Militärpistole, das technisierte Werkzeug des Tötens. Im Text wird vom Erschießen und dem Revolver als Instrument in der Hand des Menschen gesprochen. Zum anderen ist die Mauser ein biologischer Vorgang, bei dem ein Vogel sein Federkleid

241 Ebenda S. 21. 242 Die Situation zwischen Vergangenheit und Zukunft findet sich schon in der Miniatur vom GLÜCKLOSEN ENGEL, dieser wird zwischen Vergangenheit und Zukunft nachgerade zerquetscht. In seinem Befreiungsversuch liegt ein weiteres Paradox, denn einerseits ist sein Fliegen eine »vergebliche Bewegung« und andererseits kommt er »zur Ruhe«. In: Hörnigk (Hrsg.): Heiner Müller Material. S. 7. Vgl. zu diesem Bild und der Beziehung zu Benjamins Engel der Geschichte Hörnigk, Frank: »Texte, die auf Geschichte warten…«. Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller. In: Ders. (Hrsg.): Heiner Müller Material. S. 123-137. 243 Vgl. dazu Müller: Gesammelte Irrtümer 2. S. 64: »Das Tote ist nicht tot in der Geschichte. Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung – der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.« 244 Lehmann weist darauf hin, dass die Geister, die in Heiner Müllers Stücken immer wieder auftauchen, also die Erscheinung, die Wiederkehr der Toten als »heralds of the past demanding a future«. (Lehmann, Hans-Thies: Heiner Müller’s Spectres. In: Fischer (Hrsg.): Heiner Müller ConTEXTS and HISTORY. S. 87-96. hier S. 87).

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wechselt, damit wird eine Veränderung, eine Reifung angezeigt.245 Der Tod, und zwar der technisierte, wird so an die Erneuerung, die in einem Naturbild evoziert wird, gebunden. Der Mensch in der Revolution steht also in einem Spannungsverhältnis zwischen ursprünglichen, animalischen Elementen seiner Natur und technisierten Möglichkeiten – diese Ambivalenz wird auch im Text deutlich und zeigt sich bereits im Titel. Die Abgrenzung des Menschen zum einen vom Tier und zum anderen von den Göttern ist ein wesentlicher Bestandteil des mythischen Denkens und der damit verbundenen Subjektswerdung. Hier wird der Mensch nun in ein Spannungsverhältnis zwischen Tier und Technik gestellt, die eine Instanz also anders besetzt. Zugleich handelt es sich nicht mehr um eine Abgrenzung, die eine klare Position zwischen diesen beiden Polen erkennen lässt, sondern um ein diffuses Schwanken dazwischen. Die beiden größten Unterschiede zwischen Mauser und der Maßnahme auf der Inhaltsebene, die die Veränderung deutlich machen, sind die Verdopplung des revolutionären Tötens und der Einspruch des Individuums. A, dessen Tod verhandelt wird, hat seinen Vorgänger B, der sich des Mitleids schuldig gemacht hat, im Auftrag der Revolution getötet. Er selber soll nun sterben, da er das Töten nicht mehr als Arbeit begreift, sondern eine sadistische Lust daran empfunden hat.246 Beide Abweichungen von der Linie der Revolution werden so thematisiert und damit die Revolution und vor allem die Gewalt umkreist. Diese Bewegung zeigt sich auch in der kontrapunktischen, rhythmischen Gestalt der Sprache. Bei Brecht stand die Fabel247 im Mittelpunkt, bei Müller ist es die Sprache. Auch und gerade ihre direkte Materialität spielt eine Rolle, dies wird in den Bildern des gewalttätigen Einschreibens des revolutionären Parolen auf die Körper deutlich. »In den Gefängnissen von Omsk bis Odessa/Wurde mir der Text auf den Leib geschrieben./Gelesen unter Schulbänken und auf dem Abtritt/PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH« (S. 56). Dieser Leitsatz der Revo-

245 »Sich mausern« ist in Analogie zu diesem Vorgang auch ein umgangssprachlicher Ausdruck für eine (überraschende) zumeist positive Veränderung. 246 Zur Geschichtlichkeit dieser Passage gibt es unterschiedliche Deutungen. Pamperrien sieht hier Stalin: »Der Henker, der die notwendigen Morde mit der falschen Einstellung beging, ist Stalin.« (Pamperrien: Ideologische Konstanten – Ästhetische Variablen. S. 113). Die Eindeutigkeit dieser Interpretation ist der komplexe und widersprüchlichen bzw. ambigen Struktur des Textes nicht angemessen. Schulz hingegen beschreibt, dass A »in diesem Moment dem Bild des faschistischen Henkers, das Adorno/Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« zeichnen« ähnelt. (Schulz: Heiner Müller. S. 111). Beide Interpretationen sind möglich und müssen m.E. gleichzeitig gedacht werden. 247 Mit dem Abrücken von der Fabel als zentralem Element des Theaters hängt auch das Fragmentarische vieler Dramen Heiner Müllers zusammen. Zu diesem Komplex vgl. u.a. Christ: Die Splitter des Scheins, sowie grundlegend Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. S. 20ff.

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lution wird so nicht nur Teil eines kollektiven Gedächtnisses und zugleich Versprechen einer Zukunft, sondern auch Teil des menschlichen Körpers, damit wird der Körper Besitz der Revolution, so wie der Mensch sich in der Revolution auflöst. So wird die Revolution zu einem umfassenden Mythos, der aus der Gewalt entsteht und sich in der Gewalt manifestiert, seinen Platz in den Körpern der Menschen behauptet – ebenso wie in der Sprache. Alle Körper sind so als Opfer Teil der mythischen Zeit, so wie sie als Instrumente des Tötens Teil der realen Zeit sind. Die Kollision der Zeitebenen findet in ihnen statt – jedoch eben durch einen revolutionären Gewaltakt ausgelöst. Diese Verbindung setzt sich fort in der »Hand«, die immer wieder als Instrument des revolutionären Tötens thematisiert wird. Bis hin zu dem Punkt, dass der Revolver zur »dritten Hand« wird. Der zweite große Unterschied ist der Einspruch, den A, das Individuum, der Mensch, erhebt: »Ich will nicht sterben!« (S. 56) heißt es gleich zu Beginn. Auch am Ende bleibt unklar, ob das Einverständnis mit dem Tod ein wissendes oder ein resigniertes ist. An dieser Stelle wechselt der Chor unvermittelt in eine berichtende Erzählhaltung. Anschließend an die Frage, die nicht als solche gekennzeichnet ist, da sie mit einem Punkt und nicht mit einem Fragezeichen abschließt: »Was kommt hinter dem Tod.« (S. 68) setzt der Chor ein mit »Fragte er noch.« (S. 68) Einige Zeilen später heißt es »Und er fragte nicht mehr.« (S. 68) Mit diesem Perspektivwechsel in der Handlung wird diese in eine andere Zeitlichkeit versetzt. Während zuvor die Verhandlung zwischen Chor und Individuum zumindest der Form nach ein Dialog war und damit gegenwärtig, wird sie hier in eine Vergangenheit versetzt. Damit ist sie nicht mehr offen, sondern bereits geschehen, also nicht (mehr) verhandelbar und allgemeingültig. Hier wird die Zeitebene verändert und damit einerseits die Kollision von individueller und revolutionärer Geschichte verdeutlicht und zugleich zur Mythisierung der Zeit beigetragen. Doch diese kollektive Erfahrung wird wie ein Mythos immer wieder befragt. Mauser ist also Ausdruck einer Spannung, einer Differenz, nicht zuletzt zwischen dem Individuum und dem Anspruch der Revolution. Da jedoch auch die Revolution in einem Verfahren, das mit dem Umgang der Tragödie mit dem Mythos zu vergleichen ist, kritisch befragt wird, kann dieser Konflikt nicht gelöst werden. Das Subjekt, das in der Tragödie im Leiden, angesichts einer unberechenbaren Instanz entstanden ist, wird nun angesichts einer ganz anderen Instanz, die nicht greifbar, obwohl menschengemacht, ist, gefährdet. Doch zugleich stellt es damit den Anspruch dieser Revolution in Frage. Es entsteht eine ambige Wechselspannung, die durchaus als tragisch bezeichnet werden kann, zumal sie aus der eigenen Geschichte und Situation entsteht.

III Das Theater der Gegenwart Mythos als Gedächtnis

T HEATER ZWISCHEN »P OSTDRAMATIK « UND »G EGENWART DER T RAGÖDIE « Hans-Thies Lehmanns Buch Das Postdramatische Theater (1999) stellt den weitreichendsten und gegenwärtig einflussreichsten Entwurf einer Typologisierung des zeitgenössischen Theaters dar.1 Zentral ist dabei eine Entfernung vom Text (dem »Drama«). Hier steht Lehmann in einer Entwicklungslinie, die von Artaud ausgeht. »Postdramatisches Theater schließt also die Gegenwart/die Wiederaufnahme/das Weiterwirken älterer Ästhetiken ein, auch solcher, die früher schon der dramatischen Idee auf der Ebene des Textes oder des Theaters den Abschied gegeben haben.«2 Das Paradigma des postdramatischen Theaters geht von Voraussetzungen aus, die sich an den größeren Diskurs der Postmoderne anschließen und zudem die spezifische Situation des Theaters reflektieren. Diese Voraussetzungen sind: eine Ablösung des linear-sukzessiven Wahrnehmens durch ein simultanes und multiperspektivisches, die Tatsache, dass Theater kein Massenmedium mehr ist, die Gemeinsamkeit eines ›Textes‹ von Bühne und Zuschauern3 und die Selbstreflexion, »denn mit den anderen Künsten der (Post-)Moderne teilt das Theater den Hang zur Selbstreflexion und Selbstthematisierung.«4 Dieser »Hang« entsteht laut Lehmann auch, aber nicht ausschließlich, unter dem Einfluss der Medialisierung. »Unter dem Eindruck neuer Medien werden die älteren selbstreflexiv.«5 Doch hat das Theater schon immer eine Tendenz zur Selbstreflexion gehabt, zumal es sich in der Situation der zwei Realitäten befindet. »Theater ist nicht allein der Ort der schweren Körper,

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Noch im Oktober 2008 hatte die Zeitschrift Theater Heute ihren Titel diesem Paradigma gewidmet. Zu den Positionen der Debatte s.u. Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 31. Vgl. Ebenda S. 11ff. Ebenda S. 13. Ebenda S. 82.

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sondern auch der realen Versammlung an dem eine einzigartige Überschneidung von ästhetisch organisiertem und alltäglichem Leben geschieht.«6 Diese doppelte Situation unterscheidet es von den anderen Künsten. Das »postdramatische Theater« ist ein Sammelbegriff für die unterschiedlichsten Theaterformen, die sich von der »Vorherrschaft des Textes«7 zu befreien versuchen und dabei ein Verhältnis zur Realität aufweisen, das eben nicht mehr aus einer Verdoppelung, einer Abbildung, der Wirklichkeit besteht, sondern dieses Verhältnis problematisiert – auf die eine oder andere Weise. »Nicht das Vorkommen von ›Realem‹ als solchem, sondern seine selbstreflexive Verwendung kennzeichnet die Ästhetik des postdramatischen Theaters.«8 Dabei sind die Formen durchaus unterschiedlich, von einer Über-Ästhetisierung (wie z.B. bei Robert Wilson) bis zum (scheinbaren) Darstellen der unmittelbaren Wirklichkeit auf der Bühne (z.B. bei Projekten wie denen von Gob Squad). Hier liegt einerseits eine Nähe zur Bildenden Kunst und zum anderen eine zur Performance, die immer wieder betont wird. Gemeinsam ist ihnen die Aufwertung der anderen Zeichensysteme des Theaters neben dem Text. »Aber erst wenn die Theatermittel jenseits der Sprache in Gleichberechtigung mit dem Text stehen und systematisch auch ohne ihn denkbar werden, ist der Schritt zum postdramatischen Theater getan.«9 Aus der Problematisierung dieses Verhältnisses auf der Zeichenebene und der Enthierarchisierung wird auch eine Wirkungsästhetik abgeleitet. »Bei der Parataxis im postdramatischen Theater werden die Elemente nicht in eindeutiger Weise verknüpft.«10 Diese Zeichen, die simultan auf der Bühne vorhanden sind, werden so zu einem Angebot an und zu einer (Über-) Forderung für den Zuschauer, diese miteinander zu verknüpfen: »das Ausschnitthafte der Wahrnehmung wird zur unvermeidlichen Erfahrung gemacht.«11 Dies findet seinen Ausdruck dann in den unterschiedlichen Formen von Dekomposition, Dekonstruktion, Fragmentierung und Experiment. Doch zugleich muss für die Situation Theater ein gemeinsames Erleben des Publikums gefunden werden, das es als solches definiert, sich von vornherein aus der Theatersituation ableitet und so zu einer auch längerfristigen Wirkung führt. Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »Gemeinschaftlichkeit der Verschiedenen.«12

6 7 8 9 10 11 12

Ebenda S. 12. Ebenda S. 21. Ebenda S. 176. Ebenda S. 89. Ebenda S. 147. Ebenda S. 150. Ebenda S. 142.

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»Die Etablierung und relative Haltbarkeit ›großer‹ Formen läßt sich so verstehen, daß sie die Möglichkeit boten, kollektive Erfahrungen zu artikulieren. Gemeinsamkeit ist Essenz der ästhetischen Gattung. An eben jene Gemeinsamkeit, die über gemeinsam erfahrene Form sich erkennt, wird nicht mehr geglaubt. Das neue Theater muß daher, will es über unverbindliche und privat bleibende Setzungen hinaus gelangen, andere Wege zu überindividuellen Berührungspunkten suchen. Es findet sie in der theatralen Realisierung von Freiheit – Freiheit von Unterordnung unter Hierarchie, Freiheit vom Zwang zur Vollendung, Freiheit von Kohärenzforderung.«13

Der Zuschauer wird hier also wieder zu einem Mitspieler des Theaters, indem der eigentliche Text, die Verknüpfung der Zeichen, erst in seinem Kopf stattfinden kann. Dazu muss das Theater dann unmittelbar auf den Zuschauer einwirken und seinen Illusionscharakter ablegen. »So wird Theater bestimmt als Prozeß und nicht als fertiges Resultat, als Tätigkeit des Hervorbringens und Handelns statt als Produkt, als wirkende Kraft (energia), nicht als Werk (ergon).«14 Diese Einbeziehung der Zuschauer wird dann ihrerseits in einigen Formen des postdramatischen Theaters, die sich an der Grenze zur Performance befinden, direkt ausgespielt und so wieder reflektiert. Doch bleibt die Frage nach dem kollektiven Erlebnis und Gedächtnis der Zuschauer, ihrem Platz auf dem Theater und seiner Wirkung. Bietet die Geschichte, die heute so zugänglich ist wie nie zuvor, nicht auch diese kollektiven Erfahrungen, gerade im Gedächtnis? Und welche Rolle spielen dann die – in der Theorie immer stark gemachten – Medien dabei? Haben wir nicht alle medial vermittelte Bilder in den Köpfen? Ist nicht die Frage auch, wie man gegen diese Bilder ankommen kann, muss man sie dazu nicht benutzen? Ist die »Freiheit« nicht eine Pseudofreiheit, eben durch die Medialisierung? Dann wäre dieser Anspruch auf Freiheit ein Einspruch – aber eben einer gegen Kollektivierung, der ebenso auf Kollektivierung abzielt. Auch Lehmann erkennt den Aspekt des kollektiven Gedächtnisses an, der das Publikum mit dem Theater verbindet. »Es gibt keine individuelle Erinnerung unabhängig von kollektiver. Theater ist nun ein Gedächtnisraum und weist eine offenkundige Beziehung zum Thema der Geschichtlichkeit auf.«15 Doch wird diese Erinnerung so wie alles im postdramatischen Theater als Vorgang und als Erinnerung selbst immer zugleich auch reflektiert. »Gedächtnis ist jedenfalls hier immer auch ein Gegen-den-Strich-bürsten der Geschichte, eine Art Verneinung ihres Zeitlaufs.«16 Hier kommen die Medien wieder ins Spiel. Durch ihre Vermittlung und die Omnipräsenz der Bilder werden Dinge ›erinnert‹, die nicht real erlebt worden sind. Diese Position besetzt im klassischen Mythos die Sprache, die

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Ebenda S. 141. Ebenda S. 179. Ebenda S. 346. Ebenda S. 349.

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Erzählung. Doch die Sprache wird in der Theorie des postdramatischen Theaters – aber auch im modernen Theater an und für sich – immer wieder problematisiert. Dabei kommt dem Körper eine Funktion als Anderem, auch als Differenz und Unterbrechung der Sprache zu. »Es [das Wort] wohnt seinem Körper [dem des Sprechers] nicht organisch inne, bleibt ein FremdKörper.«17 Darin liegt aber auch eine ungeheure Autonomie der Sprache, eine mythische Ebene, denn es geht etwas durch den Körper des Schauspielers hindurch, das unerklärbar und dennoch zugleich unausweichlich ist. Dieses ist eben mehr als das Ausstellen von Sprachstrukturen. Es ist eine Daimonie.18 Der andere Aspekt neben der Sprache, der mit der Körperlichkeit des Theaters zusammenhängt, ist der von Tod und Sterblichkeit. Auf einer Metaebene ist jeder Theatermoment tot, da unwiederbringlich verloren, in dem Moment, in dem er entsteht. Aber der Tod als letztes und elementares Moment des menschlichen Lebens ist immer auch Thema des Theaters – und war es auch schon immer, da das Theater sich aus einem Mythos, in den der Tod eingeschrieben ist, herleitet und einen Blick in eine andere Dimension öffnet. »Der Körper des Theaters ist immer schon des Todes. Die Bühne ist eine andere Welt mit einer eigenen – oder keiner – ›Zeit‹, und es bleibt ein Moment unbewußter Angst damit verknüpft, zuschauend einen verbotenen und voyeuristischen Blick ins Totenreich zu werfen.«19 Dieser Aspekt der Unmittelbarkeit und des potenziellen Todes verbindet das reale Leben mit dem Theater mehr als mit allen andern Medien.20 »Es ist im Grunde dieser Aspekt des gemeinsamen Zeitraums der Sterblichkeit mit seinen kommunikationstheoretischen und ethischen Implikationen, der am Ende als kategoriale Differenz zwischen Theater und Medien bestehen bleibt.«21 Im postdramatischen Theater wird – aus Lehmanns These, dass der metaphysische Schmerz gewichen ist und als Zustand wahrgenommen wird, konsequent abgeleitet – der Körper dann zum Träger des Schmerzes, der in seiner radikalsten Form die Todeserfahrung beinhaltet. »Es radikalisiert sich darin im Grunde die älteste Formel für das tragische Theater, das aischyleische Durch Leiden Lernen. Die Ausstellung des schmerzhaften, maschinellen, grausamen Zugs in der Scheinproduktion des Theaters selbst ist ein

17 Ebenda S. 269. 18 Das beste und eindrücklichste Beispiel in jüngerer Zeit ist m.E. Dimiter Gotscheffs Inszenierung der Perser am Deutschen Theater Berlin (Spielzeit 2006/07). Vgl. die Aufführungsanalyse. 19 Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 361. 20 Dazu weiter unten im Abschnitt über Erinnerung mehr. 21 Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 410.

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Neues.«22 In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass Lehmann das Theater der attischen Polis als prädramatisch ansieht.23 Hier lässt sich eine Verbindungslinie zum körperlichen Erfahren der Katharsis ziehen. Doch wird auch dieser Vorgang auf der Ebene des Theaters selber in der Postdramatik wieder reflektiert. Das postdramatische Theater »hebt den sonst latenten Umstand ans Licht, daß Theater als körperliche Praxis nicht nur die Darstellung des Schmerzes kennt, sondern auch den Schmerz, den Körper in der Arbeit des Darstellens erfahren.«24 Dieser wird dann auch bewusst auf der Bühne weiter getrieben und thematisiert. »Aber das postdramatische Theater kennt vor allem Mimesis an den Schmerz.«25 Aus dieser These lässt sich dann auch die Unmittelbarkeit und Realitätsnähe der neuen Theatererfahrung ableiten, die Lehmann mit der Formel »Jenseits der Illusion« bezeichnet. Der Körper ist dabei wieder Mittel und Kommunikationsmittel zugleich, denn in der Dimension der Körperlichkeit wird »Bedeutung […] im Theater transportiert, die keine Worte findet.«26 Da sich das thematische Verhältnis in der Selbstreflexion vom Dialogischen, von dem, was zwischen Figuren stattfindet, die sich ihrerseits als psychologisierte Personen immer mehr auflösen, auf den Einzelnen verlagert, wird auch der einzelne Körper zum Träger des Theatervorgangs. »Der dramatische Prozeß spielte sich zwischen den Körpern ab, der postdramatische spielt sich am Körper ab.«27 Diese Körper sind im postdramatischen Theater allzu oft verletzt, gestört, behindert. Die Körperlichkeit wird zum Träger des Schmerzes, damit wird auch diese Dimension wieder in Frage gestellt. Doch nähme sich so das Theater nicht auch selber die Ambiguität zwischen dem Schauspieler in seiner unmittelbaren physischen Präsenz und der Figur, eine Spannung, die es auch ausmacht – so im Unterschied zwischen privat und persönlich, der für jeden Schauspieler zentral ist? Lehmann beschreibt dies, als Feststellung: »Der Schauspieler des postdramatischen Theaters ist häufig kein Darsteller einer Rolle mehr (Actor), sondern Performer, der seine Präsenz auf der Bühne der Kontemplation darbietet.«28 Doch erweist sich diese Feststellung angesichts der Praxis des (gegenwärtigen) Theaters m.E. als nicht uneingeschränkt haltbar. Lehmann stellt die These auf, dass »unter dem geläufigen Schema der Handlung das allgemeinere der Verwandlung liegt.«29 In dieser Beschreibung findet sich dann auch wieder eine Nähe zum Ritual, die sich auch in

22 Ebenda S. 393. 23 Vgl. dazu Lehmann: Postdramatisches Theater S. 28; sowie Theater und Mythos, wo dieser Gedanke ausführlicher behandelt wird. 24 Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 392. 25 Ebenda. 26 Ebenda S. 163. 27 Ebenda S. 367. 28 Ebenda S. 242. 29 Ebenda S. 130.

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der Betonung der Körperlichkeit feststellen lässt. Doch basiert Ritual immer auf Wiederholung, also eben nicht auf etwas Unmittelbarem. Hier liegt auch ein Grundunterschied zwischen Ritual und Theater; das Theater ist zwar auch auf Wiederholung angelegt, doch eben nur zum einen Teil, der andere (zu dem auch das Publikum gehört) macht es zugleich in jedem Moment einzigartig und das ist Teil seiner Wirkung und seines Selbstverständnisses. Die Wirkung, die das postdramatische Theater in seinen disparaten Ausprägungsformen und unterschiedlichen Spielarten immer haben soll, ist die einer Störung von Erwartungen und Wahrnehmungsmustern, einer Unterbrechung. Diese Funktion ist nur definierbar in Bezug auf die Zuschauer, denn bei ihnen soll damit eine Wirkung erzeugt werden, die zunächst Reflexion der Theatersituation, aber in weiteren Schritten auch Reflexion der eigenen (globaleren) Situation bedeutet. Genau darin liegt dann auch die Verbindung zu einem politischen Moment: in einer »Praxis der Ausnahme.«30 Das postdramatische Theater hat also auch und vor allem in seiner Autonomie und Selbstreflexivität als Kunstwerk diese Wirkung. Gerade in der Verabschiedung der Illusionsästhetik und dem Anspruch von einer eigenen Bühnenrealität, die sich zwar aus der eigentlichen Realität speist, doch sie eben nicht abbildet, liegt immer schon ein politisches Moment, da das Theater so einen eigenen (und eben nicht abbildenden) Anteil am politischen Raum beansprucht. Hier kann eine Beziehung zwischen dieser Funktion von Theater und derjenigen des Theaters (vor allem der Tragödie) in der attischen Polis hergestellt werden. Lehmann definiert das tragische Moment jenseits einer moralischen Debatte. »Stattdessen gibt es einen Moment, in dem alle rational sichernden begrifflichen Grundlagen eine Erschütterung erfahren – wenn man bei diesem Ausdruck bedeutet, dass ein erschütterter Boden nicht ganz schwindet, sondern eben einen Moment lang wankt und so als prinzipiell wankend, in seiner Erschütterbarkeit erfahren worden ist.«31

Damit wird die Selbstreflexion, in der Tragödie in ihrer Ausprägung als Selbstgefährdung, hier gleichzeitig zum Moment der Selbstversicherung, eben in der Abwesenheit. Das gilt im Besonderen für das Ich, dessen Konstituierung auch immer Thema der Tragödie ist.32 »Eher kann man von der Paradoxie sprechen, dass ein Selbst sich hier nicht anders als durch seinen

30 Lehmann, Hans-Thies: Wie politisch ist das postdramatische Theater? In: Ders.: Das politische Schreiben. S. 11-21. hier S. 18. 31 Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und postdramatisches Theater. In: Menke & Menke (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 213-227. hier S. 215. 32 Vgl. auch hierzu Lehmann: Theater und Mythos.

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Verlust konstituiert.«33 Dieser Verlust befindet sich in unmittelbarer Nähe der Struktur der Tragödie, in der sich dieser paradoxe Vorgang der Entdeckung des Ichs im Verlust, im Angesicht einer unberechenbaren Schicksalsmacht abspielt. Es stellt sich die Frage: »In welchen künstlerischen oder TheorieFormen findet sich dieses Tragische der Überschreitung in der Gegenwart vor?«34 Lehmanns Antwort darauf sind eben die Spielarten des postdramatischen Theaters: »Die These lautet nun, dass tragische Erfahrung tatsächlich an etwas wie Theater gebunden ist35, sofern man diesen Begriff von seiner Identifizierung mit ›dramatischem Theater‹ ablöst: an einen körperlichen Verlauf in Raum und Zeit, einen materiellen Vorgang, der sein Betrachtetwerden impliziert und zugleich eine gewisse Opakheit, die sich der Durchdringung durch Verstehen und Blick wiedersetzt.«36

Dieser Schluss ist nicht zwingend, es gibt auch andere Möglichkeiten, diese Struktur im Theater und vor allem in Verbindung mit dem Publikum ins Spiel zu bringen. Eine davon ist der Umgang mit der Geschichte, die gerade angesichts der Gegenwart mythisiert wird. Richtig bleibt, dass der Aspekt des (Meta)theaters, den auch Lehmann betont37, dabei eine entscheidende Rolle spielt – doch war auch gerade diese Metatheatralität bereits in der attischen Tragödie auszumachen. Lehmann geht hier weiter, seiner These der Enthierarchisierung der Zeichen gemäß soll eben diese Thematisierung auf allen Ebenen, im gesamten Theatervorgang stattfinden und somit das Theater als solches wieder in Frage stellen. »In diesem Sinne stellt das postdramatische Theater die Frage nach der Tragödie indem es »Tragödie des Spiels« nicht nur zeigt, sondern ist.«38 Zwei wichtige Einsprüche zur Theorie des postdramatischen Theaters haben im Jahr 2008 Bernd Stegemann39 und auch Joachim Lux40 formuliert.

33 Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und postdramatisches Theater. In: Menke & Menke (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 213-227. hier S. 216. 34 Ebenda S. 217. 35 Dies ist nun die genaue Gegenthese zu den Strömungen des 19. Jahrhunderts, die ›das Tragische‹ als transzendentes Prinzip begreifen, das nur eine seiner Ausprägungen auf dem Theater findet. 36 Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und postdramatisches Theater. In: Menke & Menke (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 213-227. hier S. 220. 37 Vgl. ebenda S. 221. 38 Ebenda S. 226. 39 Stegemann, Bernd: Nach der Postdramatik. Titelessay in Theater Heute (10) 2008. 40 Lux, Joachim: Theater ohne Autoren: Ist die Zukunft dramatisch? Impulsreferat beim Berliner Theatertreffen am 4.5.2008. Erschienen auf www.nachtkritik.de unter dem Datum des 7.5.2008. Zitiert mit den Seitenzahlen der Druckfassung.

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Zentral und beiden – sonst aus unterschiedlichen Richtungen argumentierenden – Einwänden gemeinsam ist, dass sie aus der Praxis des Theaters kommen. Bernd Stegemann äußert sich dann auch beinahe polemisch zur Theaterwissenschaft: »Ärgerlich wird dieser Diskurs [der postdramatische], wo er sich zum ästhetischen Maßstab erhebt und mit eben dieser Sprache nicht das gegenwärtige Theater analysiert, sondern dem Theater seine weitere künstlerische Entwicklung vorschreiben will.«41 Beide stellen die Frage nach einer veränderten Gegenwart und der Situation des Theaters in ihr. Zudem bekennen sie sich zu einem Theater, das sich seiner Möglichkeiten bewusst ist und sich – Theorie hin oder her – dieser bedienen soll und muss, um zugänglich zu bleiben und in die Realität hineinwirken zu können. Lux weist darauf hin, dass die Tendenzen der Postmoderne, an die sich das postdramatische Theater anschließt, aus den 1970er Jahren stammen und das Buch selber 20 Jahre später, also in den 1990er Jahren entstanden ist. Bei Lehmann heißt es dann auch: »so gilt für das postdramatische Theater der 80er und 90er Jahre, daß ihm der Zerfall von weltanschaulicher Gewißheit kein metaphysisches Angst-Problem mehr darstellt, sondern eine vorauszusetzende kulturelle Gegebenheit.«42 Doch die geschichtliche Situation hat sich geändert. »Seit dem Höhepunkt der Postmoderne, den man vermutlich in den Achtziger Jahren verorten könnte, haben sich zwei historisch wesentliche Dinge ereignet: der […] Mauerfall und der 11. September 2001, als symbolische und reale Aktion im Kontext des ›clash of cultures.‹«43 Dieser Moment wird auch hier als ›Rückkehr der Geschichte‹ interpretiert – und diese Rückkehr ist geprägt von einer grundsätzlichen Erschütterung allen Glaubens an die Möglichkeit der Überwindung der Geschichte. Diese veränderte Situation manifestiert sich in der Theaterproduktion. »Das Theater heute sucht den Zuschauer und die Wirklichkeit, von der es umgeben ist. Das Theater heute ist eines, das sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist, ja diese sogar will. Dadurch ist es so lebendig und in seinen Erscheinungs- und Äußerungsformen so vielfältig und mutig wie schon lange nicht mehr.«44

Also auch hier die Diagnose einer Dialektik: der Einbruch einer bis dahin unvorstellbaren Realität und Rückkehr der Geschichte, auf die das Theater reagiert, indem es sich ihr stellt und sie sucht. Die Kategorie, die dabei wieder zentral wird – und die immer schon die zentrale Kategorie der Tragödie

41 Stegemann: Nach der Postdramatik. S. 21. Dieser Einwand ist sicher überspitzt, auch wenn Lehmanns Buch solche Tendenzen erkennen lässt, ist der Fehler, alles über den Kamm der Postdramatik zu scheren, die auch folgerichtig als »Marke« gekennzeichnet wird, nicht ihm allein, sondern vor allem den Apologeten, Kritikern, Politikern, die froh über ein Schlagwort sind, anzukreiden. 42 Lehmann: Postdramatisches Theater. S. 88. 43 Lux: Theater ohne Autoren. S. 4. 44 Ebenda S. 5.

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war – ist die des Ichs, des Subjekts. In Bezug auf Regisseure der aktuellen Theaterlandschaft (zunächst jüngere wie Bosse und Stemann) analysiert Lux m.E. zutreffend: »Sie arbeiten sich an der Problematik der verflossenen Postmoderne ab und behaupten – ähnlich wie René Pollesch in seinen hysterischen Diskursen – das Subjekt so kräftig, wie sonst kaum jemand.«45 Lux schließt sein Referat mit einer Beschreibung eines Vorgangs, den er den großen Regisseuren (u.a. Gosch und Gotscheff) des Gegenwartstheaters zuschreibt, »die nicht klein- sondern hochrechnen. Sie sind Schmuggler des Visionären im Realen, suchen die autonome Kraft der Kunst und wehren sich als Realisten, die sie trotzdem sind, dagegen die Kunst zum Sklaven der Wirklichkeit zu machen. Die Kunst enthält bei ihnen […] das wahre Leben. […] Die Sehnsucht nach Poesie und großen realitätsgesättigten Entwürfen ist da.«46

Theater kommt aus dem Mythos und muss diesen Anteil behalten. Der Glaube, dass alles erklärbar oder thematisierbar ist, wie disparat auch immer oder eben als »Unterbrechung«, nimmt den Konflikt aus dem Theater, ohne den es nicht bestehen kann. Doch findet dieses alles in einer Verbindung zur Wirklichkeit und vor allem den Elementen der Wirklichkeit, die über das Prosaische, Erklärbare, Technisierte hinausgehen, statt. Das Theater – vor allem das der Tragödie – muss sich in einer eigenen Art (einer magischen, einer künstlerischen, auch einer daimonischen) dieser Realität stellen, um eine Wirkung erzielen zu können. »Es stellt sich schon die Frage, ob bei aller Sehnsucht nach dem Echten das Echte an sich schon künstlerisch ist, oder ob es nicht doch einen Akt ästhetischer Selbstrepräsentation braucht, auch auf der Textebene.«47 Man kann dazu ergänzen, nicht nur auf der Textebene, sondern auch auf der der beiden elementaren Kategorien theatraler Mimesis: Situation48 und Figur. Dies tut Bernd Stegemann in seinem Essay. Er interpretiert den Umgang mit dem Ich in den Spielarten der Postmoderne und Postdramatik als einen Umschlag in ein anderes Extrem – das sich dann auch im Verlust der Figur auf der Bühne zeigt. »›Was ist der Mensch?‹ wird endgültig und nicht ohne Hybris beantwortet: Eine Erfindung!«49 Diese These ist eine Entscheidung – Tragödie hingegen liegt in der Unentscheidbarkeit, die auch das Theater

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Ebenda S. 7. Ebenda S. 10. Ebenda S. 8. Stegemann definiert Situation knapp und zutreffend: »Die Situation ist ein Erkenntnismittel des Dramas, um menschliches Handeln und Erleben komplex und sinnlich zugleich in seinen Grundwidersprüchen darstellen zu können.« (Stegemann: Nach der Postdramatik. S. 19). 49 Ebenda S. 16.

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ausmacht. Die Dekonstruktion der Figuren geht eben davon aus, dass alles eine Erfindung, ein beliebiges – und auch selbstreferenzielles – Zeichensystem ist, doch ist dies ein Gedankenkonstrukt, das der physischen Realität des Theaters nicht standhalten kann. Ein Schauspieler ist zunächst da und wenn er eine Figur zu spielen hat, dann steht er in einer Spannung zu ihr. Gerade diese Spannung ist die Chance des Theaters beides zu sein, Realität und Kunst und auch für den Zuschauer begreifbar. Eine eben solche Entwicklung sieht auch Stegemann. »Alle diese Theaterformen [diejenigen, die er für zentral hält, auch hier dient u.a Gosch als Beispiel, aber auch Thalheimer] balancieren das Verhältnis von Figur, Spieler und Situation in jeder Sekunde des Abends neu aus. Und nur durch mimetische Arbeit an der Darstellung von Welt erfinden sie und viele andere aus dem Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem immer neue Spielanordnungen, Situationen, Dramaturgien und Formen.«50

Das theatrale Erleben (zunächst auf der Bühne, dann aber auch für den Zuschauer) basiert grundsätzlich, und ganz besonders im Fall der Tragödie, auf einer »Unentscheidbarkeit.«51 Diese »ist Grundlage des Tragischen und die emotionale Erkenntnis, die in der Tragödie kathartisch begriffen werden soll. Die Situation ist also geprägt von einem Konflikt, dessen Bruchlinie ins Zentrum der Welt trifft, in der sich der Konflikt ereignet.«52 Dabei ist zu bedenken, dass die Reflexion von etwas wie Mimesis oder gar Figur und Situation eben nicht zur Zurückweisung der Konzepte führen muss, sondern darin mit eingeschlossen werden kann. Das, was das Theater bei seinem Publikum laut Stegemann erreichen muss, ist »Glaubwürdigkeit«. »Glaubwürdigkeit ist also kein Phänomen des Alltags, sondern ein durch ein Drama erzeugtes Gefühl, der Geschichte seine Aufmerksamkeit schenken zu wollen.«53 Genau dies lehnt das postdramatische Theater ab: »Im postdramatischen Diskurs tritt an die Stelle der Glaubwürdigkeit von Figur und Handlung die Ehrlichkeit des Effekts.«54 Dieser Effekt fragt dann zunächst, als Selbstreferenz nicht mehr nach dem Publikum, auch wenn das Publikum als Mitspieler in der Theorie immer stark gemacht wird. Doch gehört zum theatralen Moment eben auch der Zuschauer als solcher, der zunächst außen steht und zugleich für eine bestimmte Zeit einen physischen Raum mit den Spielern teilt. Ob sich ein weiterer Raum zwischen ihnen auftut, ist dann die Frage – um bei der ursprünglichen Definition Aristoteles’ zu bleiben –, ob sich die Affekte einstellen. Und dies kann eben nur in einem hybriden Raum geschehen, der Kunst und Realität

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Ebenda S. 17-18. Ebenda S. 18. Ebenda S. 18-19. Ebenda S. 19. Ebenda S. 20.

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zugleich ist – getrennt durch die Darstellung und vereint durch die Gemeinsamkeit des Erlebens. »Das mimetische Spiel dagegen gründet seine Kunst auf der Sinnlichkeit des Spiels und der darin verhandelten Bedeutung. Der theatralische und dramatische Anteil des Theaters setzen im dialektischen Spiel eine Komplexität frei, über die nur das Theater verfügt und die eben sinnlich und rational zugleich ist.«55 (Hervorhebungen von mir). Während sich Lehmann in seiner Theorie vor allem mit dem physischen Aspekt, der Aufführung und der Komplexität ihrer Zeichen beschäftigt (man könnte also sagen, mit der »sinnlichen« Komponente), stellt Christoph Menke (wieder) eine Theorie über die Tragödie aus philosophischer Sicht auf (hier kommt also die Rationalität wieder verstärkt zum Vorschein). Zunächst wendet sich der Titel Die Gegenwart der Tragödie (2005) gegen die Theorien und Prophezeiungen, die den Tod der Tragödie in der einen oder anderen Form immer wieder verkündet haben. »Der Titel von der Gegenwart der Tragödie behauptet dagegen, daß die Gewalt tragischer Ironie fortwirkt. Ein Grund dafür, daß die Erfahrung der Tragödie auch für uns noch gilt, liegt darin, daß und wie wir urteilen – in der Normativität unserer Praxis.«56 Hier werden die zentralen Begriffe der tragischen Ironie, des Urteilens und der Praxis bereits genannt. An diesen – zusammen mit der Frage der Selbstreflexivität und Theatraliät – lässt sich Menkes Konzept der Tragödie nachvollziehen. Der Untertitel lautet zwar »Versuch über Urteil und Spiel«, doch ist das Urteilen der zentrale Begriff und das Spiel – auch wenn es immer wieder auf das Theater bezogen wird – bleibt hier in seiner Verwendung ein abstrakter Begriff. Urteilen ist zudem eine moralische Kategorie. Auch das ist ein Unterschied zu Lehmann, der seinen Tragödienbegriff jenseits der Moralität verstanden sehen will (s.o.). Der Titel impliziert noch einen weiteren wichtigen Punkt, der aber in der Theorie selber nicht ausgespielt wird: Tragödie kann (wie alles Theater) nur in der Gleichzeitigkeit und in der Gegenwart entstehen, die ein geschichtlicher Nicht-Ort zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. »Die Tragödie ist die Entfaltung des Streites zwischen Tragik und Spiel, die sich gegeneinander richten, aber nur durcheinander bestehen können. Daher löst das Spiel des Theaters die Erfahrung der Tragik nicht auf, sondern bringt sie, nur scheinbar paradox, mit hervor.«57 Das Theater ist hier zunächst über den Text definiert.58 Neben dem Urteilen ist dieser – und mit ihm der Autor – der maßgebliche Referenzpunkt für die Tragik. Die Analyse der Tragik basiert auf dem Text als solchem, die Theatralität, die immer wieder erwähnt wird, ist hier aber nicht seine Fähigkeit auf einer Bühne zu

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Ebenda S. 21. Menke: Die Gegenwart der Tragödie. S. 7. Ebenda S. 8. Menke zitiert dazu Segal »die Tragödie setzt einen Text voraus« (S. 56). Und schließt sich dieser Auffassung deutlich an.

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wirken, sondern seine Qualität als philosophisches Spiel, das sich vor allem in der Selbstreflexivität ausdrückt. Das ist der Unterschied zu den Theorien des Tragischen, die sich von der Tragödie entfernt hatten, indem sie auf ein globaleres System abzielten. Menke argumentiert zwar aus der Perspektive der Philosophie, jedoch spezifisch auf die Tragödie bezogen. Tragik entsteht aus »großen Fehlern«, die ihrerseits ein Ausdruck der tragischen Ironie sind. Dabei ist wesentlich, dass sich der Begriff der Tragik hier zunächst auf die Handlung bezieht, denn Fehler können nur durch Tun entstehen. Ironie entsteht dann in der Reflexion bzw. Selbstreflexion dieser Fehler und dem Urteil über sie. Dieses Urteilen, das Erkennen der Tragik, bleibt immer ein kognitiver, wissentlicher und bewusster Vorgang, sowohl für die dramatische Person selber als auch für die Zuschauer. Die Verbindung zwischen Bühne und Welt, die hier als Praxis bezeichnet wird, findet auf dieser (Meta-)Ebene statt. Der große Fehler, der zentrale Begriff der Tragik, ist ein unvermeidbarer, einer, der auch durch seine Erkenntnis nicht verhindert werden kann. Diese Erkenntnis entsteht durch das Beurteilen der Tat und das Urteil über sie. Besonders tragisch ist es, wenn dieses Urteil vom Handelnden selber gefällt wird, er seinen Fehler und, was sich aus der Beschaffenheit der großen Fehler ableitet, damit auch sich selber erkennt: »Ich verletze unabsichtlich Maßstäbe, die ich nicht anders als wollen kann – die zu wollen mich ausmachen.«59 So wird auch hier das Individuum zum Zentrum der Tragödie, allerdings im Verhältnis zu seinen eigenen Handlungen60 und weniger im Verhältnis zu etwas, das funktional als Mythos verstanden werden kann. Doch sind nicht nur die großen Fehler paradox, ebenso ist es auch das Urteilen über sie. »Das Urteil des großen Fehlers dagegen bestreitet die Möglichkeit eines anderen besseren Handelns: Es dementiert die Handlungsfähigkeit, die es, als Urteil voraussetzt.«61 Beide Seiten zusammengedacht ergeben dann eine tragische Person, die sich in einer unausweichlichen, also ebenso tragischen Situation befindet. »Das Paradox im Urteil des großen Fehlers besteht also darin, jemanden in ein und demselben Zug zu beurteilen und ihn der Möglichkeit zu berauben, auf dieses Urteil handelnd zu antworten. […] Und zwar auch, ja gerade dann, wenn der Beurteilte zugleich selbst der Beurteilende ist, wenn es also um eine Selbstbeurteilung geht. Indem er zum Autor des Urteilens wird, macht er sich zu einer (›dramatischen‹) Person, die bloß noch vollziehen kann als was sie bestimmt wurde. In der größten Nähe zu sich wird der Sichbeurteilende zu seinem eigenen Feind.«62

59 Ebenda S. 83. 60 Dies entspricht auch der These der Verlagerung der Tragödie in den Menschen, die Menke in seiner Hegel-Interpretation Tragödie im Sittlichen aufstellt. 61 Menke: Gegenwart der Tragödie. S. 89. 62 Ebenda S. 91.

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Dieses Paradox benennt Menke mit einem klassischen, harmlos anmutenden Begriff: tragische Ironie. Diese ist für ihn das zentrale Element auf der Ebene der Erkenntnis, also der Ebene, die derjenigen der Handlung übergeordnet ist. Manifestation dieser Ebene ist der Text und mit ihm der Autor, der ihn geschaffen hat. Damit entfaltet der Text an sich hier ein mythenähnliches Potenzial. Menke verwendet dafür den Begriff des »Schicksals«, der auch ein Ausdruck für die Erfahrung ist, die in der Spannung zwischen Individuum und etwas Größerem liegt. Es bedeutet, »daß für die dramatischen Personen der Text dem sie eingeschrieben sind, als Schicksal erscheint oder daß ihr Schicksal darin besteht, als Personen dem Spiel eines Textes ausgeliefert zu sein – einem Spiel, das sie selbst (nach-)vollziehen müssen.«63 Doch gerade in dieser Erkenntnis kommt auch wieder – gemäß der tragischen Paradoxien – das Individuum ins Spiel. »Das dramatische Theater der Tragödie erfährt in der Doppelgestalt von Person und Autor Subjektivität nicht als Vermögen der Freiheit, sondern als Schauplatz sich verselbständigender Macht.«64 Die Subjektivität, von der hier die Rede ist, ist eine tragische und darin mit den »großen Fehlern« vergleichbar, denn auch für sie gelten, dass sie die Person ausmachen und gleichermaßen verurteilen. Das bedeutet, dass die Tragödie sowohl aus der Handlung als auch aus dem Verhältnis der Personen zum Text besteht. Die literarischen Schöpfungen beziehen sich also auf die Literatur, anders ausgedrückt ist die Tragödie selbstreflexiv. »Für die Tragödie gilt daher […]: daß sie in dem, was sie darstellt, das Daß und Wie ihres Darstellens reflektiert.«65 Menke überträgt die Selbstreflexivität dann zurück auf die Handlungsebene: »Das ist die Weise, in der die Tragödie selbstreflexiv ist: sie ist eine Darstellung von Handelnden, die zugleich eine ›Mitdarstellung‹ des Darstellenden ist; die Verhältnisse zwischen den handelnden Personen stellen die Verhältnisse zwischen Person, Text und Autor mit dar.«66 Somit entsteht eine Art Dialektik zwischen Handlung und tragischer Ironie, also Deutung. »Das tragische Schicksal, das die Tragödie darstellt, ist der Effekt einer Selbstreflexion: einer Spiegelung oder Wiederholung des Wie dramatischer Existenz im Wo des dramatischen Handelns.«67 So handelt es sich wirklich um eine Tragödie des Spiels, da sie nur für die dramatische Person als einzige diese Tragödie erfahren kann. Doch diese existiert nicht, da der Schauspieler einerseits notwendig ist, um sie auf die Bühne zu bringen, und damit andererseits durch seine bloße Existenz die reine dramatische Figur verschwindet, da er immer sich selber mit einbringt. Auch Menke sieht das Paradox des Schauspielers, das er jedoch wieder vornehmlich auf den Text bezieht: »Der Un-

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Ebenda S. 56. Ebenda S. 59. Ebenda S. 52. Ebenda S. 61. Ebenda.

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terschied des Körpers vom Text öffnet zugleich den Unterschied zwischen Körper und Sinn im Text.«68 Der Zuschauer kann die Tragik dann auf einer Metaebene nur reflektieren. »Die tragische Ironie in der Handlung setzt eine Haltung der Ironie gegenüber der Handlung voraus. […] Diesen Blick müssen auch die Zuschauer haben, damit sich ihnen die Tragik der Handlung erschließt.«69 Aber dieser Blick ist einer von außen. Die Dialektik ist eine zwischen Text und Person im Text. Der Zuschauer bleibt dabei außen vor, doch soll er die Tragödie erkennen und zwar aus einer Haltung der Ironie heraus, die der Tragik angemessen und eigen ist. Erkannt wird sie auch vom Zuschauer durch das Urteilen, ebenso wie von den dramatischen Figuren. »Denn tragisch ist ein Schicksal nicht durch das was geschieht, sondern warum, und vor allem wie es geschieht. Deshalb kann Tragik nur aus einer Position der Distanz erkannt werden.«70 Die Position des Zuschauers bleibt trotz der ähnlichen Vorgänge der Erkenntnis eine Außenposition, denn er soll über der Handlung stehen und diese seinerseits beurteilen – für ihn ist keine Ebene vorgesehen, zu der er selber in einem unmittelbaren Verhältnis steht. Philosophisches Spiel und nicht unmittelbares Erleben ist das Ziel – ganz anders als z.B. in der Theorie der Postdramatik. Menke stellt einen klassischen und einen modernen Begriff der Tragödie vor, um dann die nachmoderne (er vermeidet hier wohlweislich den Begriff postmoderne) »Tragödie des Spiel« zu postulieren. Er analysiert die Veränderungen in der Auffassung von dem, was Tragödie ist und definiert folgendermaßen: »Die Tragödie ist der Ort und die Zeit des gegenläufigen Zugleich von metaphysischer Unlust am Tragischen und ästhetischer Lust an der Kunst seiner Darstellung. Genauer: Die Tragödie ist der Prozeß, der vom einen zum anderen führt, die Szene, auf der sich ihr Umschlagen ineinander ereignet.«71 Nach dieser Definition unterscheidet Menke die beiden Modelle von Tragödie, zum einen das klassische, in dem das Tragische in das Schöne umschlägt, und zum anderen das moderne mit dem Umschlag zwischen Tragik und Spiel. Seine Beispielanalysen zu diesen beiden Formen der Tragödie behandeln Sophokles’ König Ödipus und Shakespeares Hamlet. »Sophokles’ Tragödie ist eine Tragödie des Handelns, das Trauerspiel des Hamlet eine Tragödie der Reflexion.«72 Doch beide Arten der Tragödie

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Ebenda S. 132. Ebenda S. 63. Ebenda S. 105. Ebenda S. 108. Ebenda S. 187. Zu diesem Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel vgl. auch Menke, Bettine & Christoph Menke: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen. In: Dieselben (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 6-15.

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scheitern nach Menkes Ansicht an der Praxis, also dem, was er mit einer Normativität des Handelns beschreibt. »Beide aber scheitern: das Spiel kann die Praxis nicht so verändern, daß es der Ironie tragischer Umschläge nicht mehr ausgesetzt ist. […]; theatrales Spiel und tragische Praxis stehen sich agonal gegenüber. Damit öffnet sich die Perspektive auf eine neue, nachmoderne Gestalt der Tragödie – einer Tragödie des Spiels.«73

So stellt sich die Tragödie selber in Frage, ebenso wie die Praxis. Die Fragen werden immer weiter getrieben, bis hin zu einer eigentlichen Unmöglichkeit. »In ihrer Radikalität ist die tragische Erfahrung relativ auf die Perspektive der Praxis und relativiert damit zugleich die Praxis zu einer bloßen Perspektive.«74 Die Frage nach der Tragik kann dann nur noch auf der Metaebene gelöst werden, indem diese Beziehung durchbrochen wird. »Die Tragik des Handelns zu sehen bedeutet, der Tragik des Handelns nicht ausgesetzt zu sein – die Tragik des Handelns auszusetzen.«75 Also ist das System, das hier vorgeschlagen wird, eines einer Dialektik von Handeln und Aussetzen; in einer Metaposition bleibt das Ziel dabei Erkenntnis für den Zuschauer, der sich, um der Tragik nicht ausgesetzt zu sein, in einer Position außerhalb befinden muss.76 »Die Tragödie ist eine Metakunst: Kunst über Kunst; Kunst über den Unterschied von, ja, den Streit zwischen Kunst und Nicht-Kunst.«77 Die Möglichkeit einer gegenwärtigen Tragödie formuliert Menke dann folgendermaßen: »Eine Tragödie des Spiels ist ein Theaterstück, das zeigt, was eintreten kann, wenn Spielen zu einer Bestimmung der Praxis, zu einer Form des Handelns wird. Es geht also um Spielen als oder im Handeln. Die Tragödien des Spiels zeigen, daß auch dieses Handeln, das, wie alles Handeln, aufs Gelingen zielt, der tragischen Ironie des Umschlags ins Unglück unterliegen kann; sie zeigen das Schicksal des Spiels. Darin gleicht eine Tragödie des Spiels der Tragödie des Urteils; und daher können beide ›Tragödien‹ heißen (denn eine Tragödie ist eine Theaterspiel, das die tragische Ironie des Handelns vorführt). In einer Tragödie des Spiels hat die tragische Ironie aber eine andere Gestalt als in der Tragödie des Urteils. Eine Tragödie des Spiels ist eine Metatragödie.«78

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Menke: Gegenwart der Tragödie. S. 108/9. Ebenda S. 110. Ebenda S. 114. M.E. ist diese Position eher die eines Lesers als eines Theaterzuschauers, was sich auch mit dem starken Textbegriff dieser Theorie vereinbar zeigt. 77 Menke: Gegenwart der Tragödie. S. 120. 78 Ebenda S. 155.

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Und etwas später »Sie ist eine Tragödie aus nichts als Theater, eine Tragödie aus Theatralität.«79 Doch die Frage bei dieser Definition ist diejenige nach dem Begriff von Theater, der hier angewendet wird. Theater meint hier nicht die gemeinsame Erfahrung von Zuschauer und Spielenden und eigentlich nicht einmal die Aufführung, sondern eine Qualität des Textes, sich selber in der Reflexion und auch die Reflexion an sich in Bezug auf die Möglichkeit (tragischen) Handelns in Frage zu stellen. Auch hier entsteht Tragik in einem Spannungsverhältnis zwischen einer Ebene im Text und der Figur und einer übergeordneten Instanz. Doch diese Instanz ist hier die ästhetische des Texts und des Autors. Sie geht nicht über in eine Wirkungsabsicht, die sich einer gemeinsamen unberechenbaren Instanz bedient. Dass es eine solche auch in der Realität gibt, wird in der Betonung des Urteilens und der Praxis, die durch diese Urteile erhellt wird, nicht bestritten. Nur wird hier eben der Effekt, der für die Wirkung der Tragödie als Theater – und zwar als reales Theater – daraus entstehen kann, nicht analysiert. Dazu ist dann die Frage des tragischen Themas, denn nicht jeder Stoff ist zur Tragik tauglich, ebenso zentral wie die Handlung, die hier immer im Vordergrund steht. Hier wäre in Richtung der mythischen Stoffe weiter zu denken, doch eben dieser gemeinsame Aspekt des Theaters ist durch die starke Betonung des selbstreflexiven Moments der Theatralität (die hier eben nicht Metatheatraliät ist) nicht zentral für Menkes Überlegungen. Die Debatte heute bewegt sich also zwischen einem Begriff von Theater, dem postdramatischen, der sich gegen den Text stellt, und einer Theorie über das Spiel, das eben den Text als Instanz postuliert, an der Tragödie entsteht. Ein weiterer Unterschied findet sich in der Frage nach der Wirkung auf das Publikum und der Grenze zwischen Publikum und Theater. »Der Kritik der Theatrokratie liegt ein die Tragödie definierendes, sie konstituierendes Problem zugrunde: dass die Tragödie ihre Fähigkeit zur Darstellung tragischer Gehalte verliert, wenn die Formen der Darstellung sich spielerisch verselbstständigen. Die Tragödie besteht nur im Kampf gegen das Spektakel.«80 Das postdramatische Theater hingegen bewegt sich immer an der Grenze zum Spektakel. Mit der Frage nach den Zuschauern ist die Frage nach der Normativität verbunden. Während das Urteilen und die Normativität auch der Praxis für eine Tragödie des Spiels wesentlich sind, will Lehmann einen Tragödienbegriff jenseits der Moral finden. Tragödie besteht aus den beiden Teilen, der Wirkung auf das Publikum, die sie seit Aristoteles definiert, und der gedanklichen Struktur, die sich zwischen zwei Gegensätzen bewegt. Um einen der zutreffendsten Sätze von Stegemann noch einmal zu zitieren: »Theater ist sinnlich und rational zu-

79 Ebenda S. 156. 80 Menke, Bettine & Christoph Menke: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen. In: Dieselben (Hrsg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. S. 6-15. hier S. 14.

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gleich.«81 Gleichzeitig zeichnet die Tragödie noch ein Moment der Selbstreflexion bzw. Metatheatralität aus. Dieses geht immer einher mit einer Selbstgefährdung. Eine der wenigen Feststellungen, die sich beinahe in allen (sonst noch so unterschiedlichen) Interpretationen von Tragödie, mehr oder weniger stark finden lässt, ist der zentrale Charakter des Mythos. Doch wird auch der Mythos, ebenso wie die Tragödie selber, unterschiedlich interpretiert. Gemeinsam ist allen Mythen, dass sie zentraler Bestandteil einer kollektiven Erinnerung in der einen oder anderen Form sind – ein gewisses Maß an Wissen über sie vorausgesetzt werden kann. Mythos zeichnet sich zudem durch Offenheit aus. Eben diese Offenheit ermöglicht die Verwendung des Mythos für das tragische Theater. Das Theater existiert nur in der Welt und die Tragödie nur auf dem Theater. Die Fragen, die sich nun stellen, sind die nach der mythischen Qualität der Geschichte, der Möglichkeit des Theaters und der Sprache diese darzustellen oder auch frei zu legen und welche Rolle das Ich, zu dessen Hervorbringung die attische Tragödie Wesentliches beigetragen hat, darin spielt. Anders ausgedrückt, es stellt sich die Frage danach, was heute wie mythisch oder als Mythos befragt, oder auch konstituiert wird. Mit der These der »Gegenwart der Tragödie« ist auch die Frage nach der realen Gegenwart verbunden. Diese reale Gegenwart und die Gegenwart der Tragödie gehören eng zusammen, sie treffen sich im gemeinsamen Erlebnis von Theater und Zuschauer. Auch die Mythen, die auf dem Theater befragt werden, müssen einen Anteil an und in der realen Gegenwart haben, damit das Theater auf die Zuschauer, die dieser Gegenwart angehören, wirken kann.

D IE F RAGE

NACH

G EGENWART

UND

E RINNERUNG

Im 20. Jahrhundert wurde nicht nur die Tragödie für tot erklärt (vgl. Steiner), sondern in Bezug auf die reale Gegenwart auch das »Ende der Geschichte« behauptet. Grundlegend wird diese These bei Francis Fukuyama (1992) diskutiert. Er sieht in der liberalen Demokratie den »Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit«82 verwirklicht. Das Geschichtskonzept ist hier also ein teleologisches, das an eine anthropologische Gegebenheit gebunden wird. Das Streben nach »Anerkennung« sei die Triebfeder der Entwicklung. Die Naturwissenschaften sind dabei »Regulator oder Mechanismus […], der bewirkt, daß die Geschichte zielgerichtet und kohärent vorläuft.«83 Die These stützt sich vor allem auf den Zusammenbruch der großen Ideologien am Ende des 20. Jahrhunderts, also von Prinzipien, die

81 Stegemann: Nach der Postdramatik. S. 21. 82 Fukuyama: Das Ende der Geschichte. S. 11. 83 Ebenda S. 13.

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zielgerichtet sind und zwar in einem überpersonalen Sinn. Das Problem der Argumentation beruht unter anderem auf ihrem Glauben an die Rationalität (also letztendlich ihrem Optimismus), der so selber an eine Ideologie grenzt. Menschliches Verhalten ist an sich nicht rational. Gerade die Aspekte, die Tragödie ausmachen, sind es in gesteigertem Maß nicht. In der Tragödie stößt auch die Rationalität immer an ihre Grenze. Die Zeit zwischen dem 9.11.1989, dem Datum, das das »Ende der Geschichte« durch den Zusammenbruch der bipolaren Welt markiert, und dem 11.9.2001, dem Datum, das die Wiederkehr der Geschichte in der Bedrohung aus dem diffusen Untergrund und der eigenen Gesellschaft heraus (die Metapher der »Schläfer« drückt das gut aus) kennzeichnet, zeichnet sich neben dem Optimismus auch durch eine Fragmentierung der Gegenwart aus. Inwieweit diese sich auch in ästhetischen Diskursen manifestiert, also das »Ende der Geschichte« auch ein Anlass für eine Unsicherheit ist, die dann auch mit Hilfe des Rekurses auf die Naturwissenschaften versucht wird, zu lösen, stellt z.B. Sautter dar. Er entlehnt dafür den Begriff der Entropie84, den er dann als politische Entropie verwendet. Den Einbruch der Irrationalität, den weder die Naturwissenschaft noch die Sozialwissenschaften erklären können, hat die Geschichte jedoch in den letzten Jahren verstärkt erlebt. Dies ist ein Moment, das auch die Kunst ausmacht – man kann hier an die provokante und viel diskutierte These Stockhausens über den 11.9.2001 als größtes Kunstwerk denken.85 Die Kunst, die sich am direktesten mit dem Menschen befasst, ist das Theater. Gerade die Tragödie ist es, die sich mit dem Leiden und der Frage nach der eigenen Identität und Individualität befasst. Mythen in der Gegenwart Im Zusammenhang mit Rationalität, vor allem ihrem Versagen, und Gegenwart wird der Mythos wieder verstärkt diskutiert.86 Dabei wird auch auf den Unterschied zwischen Logos und Mythos verwiesen. Griffig kehrt Most die bekannte These von der Entwicklung vom Mythos zum Logos um, der

84 Sautter: Politische Entropie. Denken zwischen Mauerfall und dem 11. September 2001. 85 Auf einer Pressekonferenz am 16.9.2001 in Hamburg. Vgl. dazu z.B. Frankfurter Rundschau vom 19.09.2001. 86 Dabei sei noch einmal auf die in der Einleitung bereits vorgestellte These von Assmann & Assmann hingewiesen. »Die Konjunktur des Mythos steigt mit der Krise der verschiedenen abendländischen ›Wahrheitscodes‹ (abstrakt begriffliches Denken, Formen rationaler Weltaneignung, das Bewußtsein unbeschränkter Machbarkeit, Fortschrittsoptimismus).« Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier S. 196.

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Aufsatz trägt dann auch den Titel »Vom Logos zum Mythos.«87 Er weist darauf hin, dass bereits in der »Dialektik der Aufklärung« eine enge und eben dialektische Beziehung zwischen Mythos und Aufklärung festgestellt wurde. Mythen ihrerseits sind bereits Produkte der Aufklärung88 und im Prinzip der Immanenz manifestiert sich wiederum der Mythos.89 Most fasst die Beziehung von Logos und Mythos, die eben keine Ablösung oder Überwindung des einen durch das andere ist, folgendermaßen zusammen: »Mir geht es eher darum zu betonen, daß eines sie alle [die unterschiedlichen neueren Mythentheorien] verbindet, und nicht nur sie: die Überzeugung, daß der traditionelle Logos, die Form der Rationalität, die, wie wir von unseren Vorgängern gelernt haben, universal, unwandelbar und vollkommen sein soll, in Wahrheit gravierende Mängel aufweist und nur dadurch verbessert werden kann, daß wir der in den Mythen enthaltenen vernachlässigten oder unterdrückten Wahrheit wieder zu Amt und Würden verhelfen. Der Logos bleibt nicht länger vom Mythos unberührt, der Mythos duldet es nicht länger, vom Logos einfach ausgeschlossen oder vereinnahmt zu werden. Stattdessen entwickelt der Logos der Philosophie von innen heraus, als sein dialektisches Pendant, ein Mythoskonzept, das voll von Elementen und Ansprüchen des Logos ist und die Würde eines Quasi-Logos besitzt – und genau dadurch ändert sich der Logos grundlegend. Im Laufe der eigenen Entwicklung, eines Prozesses der Selbstprüfung und Selbstkritik, führt der Logos zu einem neuen Mythenverständnis, bei dem es sich um eine erkennbare, wenn auch untraditionelle Form des Logos handelt. Man könnte diesen Prozeß als die Mythifizierung des Logos bezeichnen.«90

Most weist darauf hin, dass diese Umkehrung keineswegs in einem rein optimistischen oder gar teleologischen Sinn zu verstehen ist. »Denn die hier untersuchte Bewegung vom Logos zum Mythos verläuft ruckartig und mit Unterbrechungen, ihr künftiger Kurs und ihr Ziel sind unbestimmt, und sie birgt nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren.«91 Ausdruck für Logos, Rationalität, war auch immer die Geschichtsschreibung, im letzten Jahrhundert unterstützt von der Möglichkeit der medialen Konservierung. Dem gegenüber steht ein lebendiges Gedächtnis, das sich eben jenseits vom Versuch und Anspruch der Objektivität positioniert. »Das Gedächtnis gehört lebendigen Trägern mit parteiischen Perspektiven, die Geschichte dagegen ›gehört allen und niemandem‹, sie ist objektiv und damit identitätsneutral.«92 Aleida Assmann weist auch darauf hin, dass diese

87 Most, Glenn W.: Vom Logos zum Mythos. In: Koremjak & Töchterle (Hrsg.): PONTES I. Innsbruck 2001. S. 11-27. 88 Vgl. Horkheimer & Adorno: Dialektik der Aufklärung. S. 14 89 Vgl. Ebenda S. 18. 90 Most, Glenn W.: Vom Logos zum Mythos. In: Koremjak & Töchterle (Hrsg.): PONTES I. S. 11-27. hier S. 21. 91 Ebenda S. 24. 92 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. S. 133.

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Abgrenzung keine unüberbrückbare ist, sondern dass es sich um zwei Modi der Erinnerung handelt, die durchaus in Beziehung zueinander stehen.93 Aber nur Gedächtnis ist lebendig und kann wirken, deshalb ist es zum einen genuiner Inhalt des lebendigen Theaters und zum anderen wird Geschichte auf dem Theater in eine lebendige Struktur von Gedächtnis und Mythos überführt. Die Tragödie wurde immer wieder als Auseinandersetzung mit dem Mythos interpretiert. Das Individuum kommt in der Tragödie zum Vorschein, um dann 2000 Jahre als nahezu ungebrochene Größe im Mittelpunkt der Dramen zu stehen. Heute steht diese Größe wieder zur Debatte. Alles scheint erklärbar, man denke an die Hirnforschung, die alles nur noch als chemische und damit nicht autonome Prozesse erklärt, und eine technisierte Welt, in der die Grenze zwischen Selbst und Wiedergänger, dem anderen Selbst, verschwimmt. Die Geschichte, die die Grundlage der Gesellschaft ist und ähnlich wie ein Mythos wirkt (nicht zuletzt in der dauernden Wiederholung in den Medien, die eine Art Endlosschleife darstellen), ist von einer neuen Dimension von Grausamkeit geprägt. Im Unterschied zu den alten Mythen ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts jedoch in ihrer Realität manifest. Gleichzeitig mythisiert sie sich in der Erinnerung – und auch auf dem Theater, das gerade in dieser Mythisierung gegen das Vergessen steht. Diese Art der Mythisierung von Geschichte ist jedoch eine ganz andere als die, die Roland Barthes in Mythen des Alltags beschreibt.94 Gegen diese Mythen richtet sich z.B. Jelinek ganz explizit. Barthes definiert den Mythos zunächst als Aussage95 und als sekundäres semiologisches System.96 Mit seinem Begriff, also dem Bezeichneten, denn diese Beziehung steht für den Semiologen Barthes im Vordergrund, verbindet ihn »Deformierung.«97 Problematisch wird der Mythos, wenn diese Beziehung als solche nicht erkannt, sondern »unschuldig konsumiert«98 wird, also der Mythos selber als Faktum wahrgenommen wird. Diesen Vorgang beschreibt Barthes folgendermaßen: »der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage. Man muß das Wort politisch natürlich dabei als Gesamtheit der menschlichen Beziehungen in ihrer wirklichen, sozialen Struktur, in ihrer Macht der Herstellung der Welt verstehen. Insbesondere muß man

93 Vgl. ebenda. Daraus folgt dann die Typologie von Funktions- und Speichergedächtnis (S. 134f). vgl. dazu weiter unten. 94 Die von Barthes definierten Mythen sind heuristisch zwischen dem polemischen und historisch-kritischen Begriff von Mythos von Aleida und Jan Assmann einzuordnen. Vgl. dazu Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier S. 179. 95 Barthes: Mythen des Alltags. S. 85. 96 Ebenda S. 92. 97 Ebenda S. 103. 98 Ebenda S. 115.

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der Vorsilbe ent- einen aktiven Wert geben. Sie stellt hier eine operative Bewegung dar, sie aktualisiert unaufhörlich einen Verlust.«99

Auch Barthes sieht eine Paradoxie in den Mythen, die eine Chance bietet: »Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit, vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen. Dieser konstruierte Mythos wird die wahre Mythologie sein. Da der Mythos die Sprache entwendet, warum nicht den Mythos entwenden.«100 Gerade in der Tragödie und in Strukturen auf dem Theater, die ihrer Wirkungsabsicht wieder nahe kommen, wird der Mythos eben nicht als eine solche entpolitisierte Aussage beibehalten, sondern mit ihm in der Gegenwart gearbeitet – und in der Kunst vielleicht ein künstlicher Mythos geschaffen. Dabei ist der Mythos zwar eine erinnerte Form, aber eine produktive. Mythen sind mehr als semiologische Systeme, sie sind Ausdruck der kollektiven Erinnerung und ein Mittel, um die ambivalenten Grundlagen dieser Erinnerungsgemeinschaft zwar in eine unbedrohliche Form zu bringen; aber sie halten diese Grundlage ebenso wach, wenn zunächst auch nur latent. Gerade Gewalt, als eine der wesentlichen Grundlagen der Gesellschaft, wird in Form des Mythos gebannt, aber so auch (in der Art eines Gleichgewichts, wie Girard es verstehen würde) präsent gehalten. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in ihrer Gewalttätigkeit eine wesentliche (verdrängte) Grundlage der gegenwärtigen Gesellschaft. In mythischen Strukturen kann dies thematisiert werden, ohne dabei zu einem dauerhaften neuen Aufbrechen der Gewalt in der Realität zu führen. Mythos und Geschichte – Erinnerung und Gedächtnis als kulturelles Phänomen Jan Assmann verbindet Mythos und Geschichte eng miteinander, er geht sogar so weit, für seine Theorie des kulturellen Gedächtnisses die folgende These aufzustellen: »Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierte Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. […] Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft.«101

99 Ebenda S. 131. 100 Ebenda S. 121. 101 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. S. 52.

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Assmann setzt die Differenzbeziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die er mit den Begriffen »fundierend« und »kontrapräsentisch« beschreibt, immer in einen sinnstiftenden Zusammenhang. Fundierende Geschichte heißt: »Sie stellt Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen lässt.«102 Die kontrapräsentische Funktion definiert er folgendermaßen: »Sie geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist Züge eines Heroischen Zeitalters annimmt.«103 Anders wird die Funktion des Mythos bei Burkert und Girard mit der Bedrohlichkeit dieser Vergangenheit in Verbindung gebracht. Der Mythos hat hier eben auch die Funktion, die Gewalt zu ritualisieren und dennoch zu erinnern und in die Gemeinschaft, die auf ihr aufbaut, zu integrieren.104 In diesen beiden Theorieansätzen spielt das Opfer eine wesentliche Rolle. Dieses kommt bei Assmann nicht vor, da es bei ihm um die Erinnerung als medialen kulturellen Prozess geht. Damit das kulturelle Gedächtnis wirken kann, müssen für Assmann immer drei Voraussetzungen, eine Art Dreiecksbeziehung, gegeben sein. Diese wird unterschiedlich funktional oder formell als »poetische Form, rituelle Inszenierung und kollektive Partizipation«105 beschrieben. Das Theater – wenn man von einem dramatischen Theater ausgeht, das mit einem Text arbeitet, wie es in dieser Arbeit der Fall ist – unterscheidet sich von dieser Definition nur durch das Rituelle der Inszenierung. Eben indem die Inszenierung nicht rituell, sondern lebendig ist, kann das Theater auch die anderen Aspekte der Erinnerung, die nicht formativ und normativ sind, zur Sprache und in den gemeinsamen Horizont von Bühne und Publikum bringen. Das Theater der Tragödie ist der Moment, in dem der Mythos einerseits wieder an die Oberfläche geholt wird, sie also in Assmanns Sinn als »fundierend« wirkt, die Gewalt aber auch wieder aufbricht – wie es Girard beschreibt – und so zugleich die Geschichte als Mythos, als erfahrene Erinnerung, auf die Zuschauer wirkt. Das Theater problematisiert heute wieder und behauptet dabei in seiner physischen Präsenz zugleich den Moment. Der Umgang des Theaters mit dem Mythos ist also ebenso ambivalent wie der Mythos selber. Der zentrale Aspekt, über den die Mythen ebenso wie die Geschichte den Menschen präsent bleiben, und zwar individuell und produktiv und nicht im Sinn eines archivarischen Aufhebens, ist also das Gedächtnis, neben dem individuellen und persönlichen Gedächtnis zentral das kollektive Gedächtnis. Dieses definiert Jan Assmann »als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und

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Ebenda S. 79. Ebenda. Vgl. dazu den einleitenden Teil des Abschnitts über die attische Tragödie. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. S. 56.

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Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«106 Aber auch eine Funktion für die Gegenwart und damit für die Konstituierung einer solchen Gesellschaft ist in diesem Gedächtnis enthalten: »In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und andere.«107 Den Mythos definiert Walter Burkert als einen Ausdruck dieser Erinnerung : »Mythos ist angewandte Erzählung […], Erzählung als Verbalisierung komplexer, überindividueller, kollektiv wichtiger Gegebenheiten. In diesem Sinne ist Mythos begründend – ohne daß darum explizit von Urzeit die Rede sein muß – als ›Charta‹ von Institutionen, Erläuterung von Ritualen, […] und überhaupt als wegweisende Orientierung in dieser und der jenseitigen Welt. Mythos in diesem Sinne existiert nie ›rein‹ in sich, sondern zielt auf Wirklichkeit; Mythos ist gleichsam eine Metapher auf dem Niveau der Erzählung.«108

In diesen Definitionen der beiden Begriffe finden sich Übereinstimmungen, trotz der zuvor festgestellten Unterschiede, über das, was erinnert wird. Der Mythos wäre damit das frühste Medium des kollektiven Gedächtnisses und nicht vollkommen mit ihm gleichzusetzen (s.o.). Das kulturelle Gedächtnis ist damit ein Mittel der Strukturierung dieser Gesellschaft, das sie auch in Beziehung zur eigenen Geschichte setzt. »In dieser Dimension der Kultur wachsen Individuen über ihre eigene Zeit hinaus, indem sie auf frühere Botschaften, Artefakte und Praktiken zurückgreifen. Indem sie wiederholen, nachahmen, abschreiben, rezitieren, lesen, interpretieren, kommunizieren, diskutieren und würdigen, was in früheren Zeiten praktiziert und niedergelegt worden ist, transzendieren Menschen ihren eigenen Zeithorizont und gliedern in einen sehr viel größeren Kommunikationsrahmen ein.«109

Auch das Theater kann so als Medium des kollektiven Gedächtnisses verstanden werden. Es gibt einen Unterschied zwischen einem »Speichergedächtnis« und einem »Funktionsgedächtnis«. »Im Funktionsgedächtnis wird sie [die Geschichte] präsent und lebendig erhalten, im Speichergedächtnis kann man

106 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann & Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. S. 9-19. hier S. 9. 107 Ebenda S. 16. 108 Burkert, Walter: Mythos und Mythologie. In: Propyläen Geschichte der Literatur 1. Berlin 1991. S. 12. 109 Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 45-60. hier S. 47.

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sich von ihr distanzieren und ihrer Alterität innewerden.«110 Ein solches Abgrenzen ist dem ähnlich, was Roland Barthes beschreibt, jedoch ist bei ihm die Abgrenzung eben keine, die sich die Alterität bewusst macht, sondern im Gegenteil diese vernachlässigt. Dieses ist ein anderer Blick auf die Mythen, der nicht von der Erinnerung und ihrer Funktion herkommt, sondern rein von der semiologischen Beziehung. Da hier die Frage der Tragödie immer stark mit der Wirkungsabsicht und -möglichkeit des Theaters in Verbindung steht, wird hier der Begriff des Mythos als Medium des kollektiven Gedächtnises vorgezogen. Dabei soll jedoch die Ambivalenz, die in beiden Begriffen liegt, nicht vernachlässigt werden. Die alten Mythen in ihrer oralen Tradition sind vor allem Teil des Funktionsgedächtnisses, im Fehlen der Möglichkeiten zur Speicherung liegt dann jedoch auch die Offenheit des Mythos begründet, die ihn produktiv und lebendig hält. Auch wenn die Erinnerung heute sich verstärkt auf Konservierung stützen kann, bleibt sie für den Menschen, sobald er sich in Verhältnis zu ihr setzt, lebendig – oder wird es wieder. »Für den Wandel und die Erneuerung des kulturellen Gedächtnisses ist es sogar entscheidend, dass die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis nicht hermetisch ist, sondern in beide Richtungen überschritten werden kann.«111 Intertextuelle Bezüge, in denen bereits Vorhandenes in neue Zusammenhänge gesetzt und so wieder aktiviert wird, sind auch ein Beispiel für diese Durchlässigkeit.112 So kann der Mythos in seiner zyklischen Struktur weiter in die lineare Struktur der Zeit wirken und zerbricht nicht an ihr, sondern begegnet ihr, z.B. auf dem Theater. Eine Begegnung der Zeitebenen – ganz ähnlich der Kollision der Zeitebenen in der Tragödie – beschreibt Aleida Assmann auch für das Gedächtnis: »Im Unterschied zum eschatologischen Gedächtnis, das auf die messianische Zukunft oder die große Wende hin ausgerichtet ist, inszeniert [!] das animatorische Gedächtnis punktuell den Kurzschluß (im Wortsinne) zwischen Vergangenheit und Gegenwart.«113 Und Jan Assmann definiert einen Unterschied zwischen einer absoluten (man könnte auch sagen mythischen) Vergangenheit und einer historischen. Die absolute Vergangenheit ist diejenige, »zu der die fortschreitende Gegenwart immer in gleicher Distanz bleibt. […] Die Vergegenwärtigung dieser Vergangenheit geschieht im Modus der zyklischen Wiederholung.«114 Diese Definitionen sind dem Zeitumgang der Tragödie, hier dann bezogen auf die Kultur, das Kollektiv der Erinnerung, also den Zuschauer in der gemeinsamen Zeit, sehr ähnlich. Den Umgang mit Zeit in

110 Ebenda S. 59. 111 Ebenda. 112 Intertextualität spielt auch in Jan Assmanns Überlegungen eine gewichtige Rolle. Vgl. v.a. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. S. 101-102. 113 Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann & Harth (Hrsg.): Mnemosyne. S. 13-35. hier S. 30. 114 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. S. 78.

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der griechischen Tragödie hatte Lehmann als eine Kollision zwischen zyklischer und linearer Zeit definiert.115 In Verbindung mit dem größeren Zusammenhang der Kultur reicht diese Kollision hier in die Dimension der Wirkung hinein: als Aktivierung oder Inszenierung – dieses Wort verwendet auch Aleida Assmann – dieses Moments der Begegnung im Gedächtnis der Zuschauer durch die Gegenwart des Theaters. Doch heute ist der Mythos zunächst nicht das vorherrschende Medium des kollektiven Gedächtnisses, sondern neben der Geschichtsschreibung als Speichermedium sind es vor allem die Medien. Aleida Assmann geht davon aus, »dass die neuen digitalen Medien die Vorstellung von Kultur als Gedächtnis keineswegs obsolet gemacht, sondern umgekehrt erst wirklich hervor getrieben haben.«116 Der Grund dafür liegt zum Teil darin, dass es sich um eine Behauptung von Speicherung handelt, die jedoch nicht mehr eine einzige Version speichert, sondern immer viele, die ständig im Wandel sind. »Im Grunde ist das Internet ein Speichergedächtnis ohne Speicher.«117 In diesem Zusammenhang kann auch der Begriff des Hyperrealen relevant werden. In dieser Theorie wird Realität durch die dauerhafte selbstreferenzielle Simulation unmöglich. »Then the whole system becomes weightless, it is no longer anything but a gigantic simulacrum – not unreal, but a simulacrum, never again exchanging what is real, but exchanging in itself, in an uninterrupted circuit without reference or circumference.«118 Doch liegt in der Medialisierung der Erinnerung auch eine Gefahr. Sie kann dazu führen, dass die Wahrnehmung der medialisierten Bilder die Erinnerung von der emotionalen und ursprünglichen Seite trennt. Es handelt sich um einen gesteuerten Transformationsprozess, also um mittelbares Erleben.119 Theater ermöglicht unmittelbares Erleben im Kollektiv (wenn auch nur in einem im Vergleich zur globalen Medienwelt winzig kleinen), das zugleich immer seine eigene Gemachtheit und Künstlichkeit ausstellt. Gerade in diesem Bewusstsein der eigenen Irrealität behauptet eine andere Realität ihren Platz in der gegenwärtigen Realität. Bestimmte Theatertexte (und Aufführungen) versuchen die Erinnerung und den produktiven Umgang mit

115 Vgl. Lehmann: Theater und Mythos. S. 60-61. 116 Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 45-60. hier S. 57. 117 Ebenda S. 56. 118 Baudrillard: Simulations. S. 10-11. 119 Vgl. dazu in Bezug auf den 11.9.2001, das bis dato letzte generationsstiftende Ereignis der Geschichte. Meyer, Erik & Claus Leggewede: »Collecting Today for Tomorrow«. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ›Elften September‹. In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 272-291. vor allem S. 282f.

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ihr präsent zu halten. Die Wirkungsabsicht dahinter besteht auch darin, Geschichte und Wissen an etwas Affizierbares und auch Physisches zu binden. »Womöglich erhält historisch-semantisches Gedächtnis u.a. dann diese affektivevaluative Relevanz, wenn Personen die Umstände des Wissenserwerbs in ihr episodisches Gedächtnis integrieren; infolgedessen könnte der Wissenserwerb mit dem für episodische Erinnerung typischen Selbstbezug wieder erlebt werden, der wiederum auf die vermittelten Inhalte ausstrahlen könnte.«120

Geht das nicht auch vermittels Theater, ist Theater dann nicht vielleicht auch ein Medium des kollektiven Gedächtnisses, das zu diesem beitragen kann und es nicht nur verwendet, um zu wirken? Denn das Erlebnis in einer Theateraufführung ist immer auch mit einem affektiven Moment verbunden. Die Beziehung zwischen Theater und kollektivem Gedächtnis wäre dann eine, die in beide Richtungen wirkt. Auch in der Theorie von Jan Assmann ist der Rezipient immer ein zentraler Bestandteil der Konstituierung von Gedächtnis. Das impliziert, im Anschluss an die obige Definition, eine gesellschaftliche Funktion von Theater, da dieses Wissen hervorgerufen oder vielleicht etwas vorsichtiger formuliert aktiviert wird, um das Handeln der Zuschauer zu beeinflussen.121 Ob dem so ist? Ist das der notwendige Anspruch? Bei einigen Autoren, wie Elfriede Jelinek oder Werner Fritsch auf jeden Fall, da ihre Art des Theaters ein großer Einspruch gegen das Vergessen ist, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Zudem ist diese Geschichte nun nicht mehr in den Mythen einer oralen Tradition aufgehoben, sondern konkret in medialen Bildern. Doch auch diese Bilder verlieren durch ihre Hyperrealität den eigentlichen Realitätskern, das emotionale Erinnern verschwindet dabei. Das Theater ist dann auch ein Medium, diese zurück zu gewinnen. Ich-Konstituierung im Angesicht des Scheiterns In der Rück-Erinnerung an die attische Tragödie kommen heute ganz ähnliche Fragen und Mechanismen wieder zum Vorschein. Es geht um die Behauptung des Ich angesichts einer übermächtig scheinenden Realität, einer 120 Echterhoff, Gerhard: Das Außen des Erinnerns: Was vermittelt individuelles und kollektives Gedächtnis? In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 61-82. hier S. 81. 121 Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. die Debatte, die im Herbst 2008 um die Inszenierung von Marat/Sade von Volker Lösch am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg geführt wurde. Löschs Theater behauptet immer offensiv den Anspruch auf Veränderung der Gesellschaft. Matthias Matussek schrieb dazu auf Spiegel Online (4.11.2008), dass sich hier die Rückkehr des politischen Theaters ankündigt. Auch in dem Aufsatz über die Zukunft des Theaters von Joachim Lux wird die These aufgestellt, dass Theater gesellschaftlich wirken will.

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Zeit, die das Andere, das Abgründige repräsentiert und dabei immer wieder durchbricht, trotz und gerade wegen der fortschreitenden Rationalisierung der Welt. Der Ursprung der Individuation lag in der Auseinandersetzung mit dem mythischen Denken. Die Genese des Subjekts fand statt in der Negativität des Leidens und zugleich in der Erkenntnis, diesen mythischen Abgrund nicht überwinden zu können, auch und vor allem in dem von Christian Meier als solchem bezeichneten »Könnens-Bewußtsein.«122 »Die zunehmende Souveränität des Menschen bedeutet dann keine Erleichterung, sondern eine Erschwerung seiner Existenz.«123 Diese Begegnung mit dem eigenen Selbst als dem Anderen steht in den Stücken des Gegenwartstheaters immer in starker Verbindung mit einem Moment des Todes – ebenso wie in der attischen Tragödie. Der Tod ist auch für die Erinnerung wesentlich, Assmann definiert ihn als »Urszene« der Erinnerungskultur.124 »Wenn Erinnerungskultur vor allem Vergangenheitsbezug ist, und wenn Vergangenheit entsteht, wo eine Differenz zwischen Gestern und Heute bewußt wird, dann ist der Tod die Ur-Erfahrung solcher Differenz und die an den Toten sich knüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung.«125 Der ambivalente Vorgang des Erkennens und gleichzeitigen Scheiterns wird auf dem Theater angesichts der gegenwärtigen Realität und der Erinnerung, die diese beeinflusst, wieder verstärkt (dar)gestellt. Zudem stellt sich die Frage nach der Identität der Figur – also nicht nur wer ist Ich, sondern was ist Ich überhaupt im vielstimmigen Diskurs der Gegenwart – und radikalisiert damit den Konflikt der Tragödie. Ein Ich konstituiert sich nicht nur in Alterität zu einer Umwelt, sondern diese schreibt sich auch – z.B. auch im Gedächtnis – in ein Ich ein. Dieses Einschreiben kann im Zusammenhang mit den hier behandelten Theaterstücken durchaus auch wörtlich verstanden werden, denn es sind oftmals auch bereits vorhandene literarische und theatrale Figuren oder auch solche der Geschichte, die sich in den gegenwärtigen Figuren mit manifestieren (oder sie gar vielschichtig erst ausmachen). Dies alles ist auch möglich, weil der Glaube an die Rationalisierung – also das »Könnens-Bewußtsein« – sich radikalisiert hat; aber ebenso radikal und brutal hat sich das Scheitern gesteigert. Das Subjekt, das sich dem entgegenstellt, ist eben kein ungebrochenes mehr, sondern ein fragmentiertes, dem die Verletzung durch diese Welt eingeschrieben ist und das seiner selbst nicht mehr sicher sein kann. Aber dennoch versucht es sich wieder (und auch das ist ein Vorgang der Mythisierung) zu behaupten. Das Theater ist dafür besonders geeignet, da der Schauspieler in seiner physischen Präsenz immer zunächst eine Person ist. In den Theatertexten ist dann auch die Hoffnung oder Utopie, möglicherweise auch das Bedürfnis, angelegt, ihre

122 123 124 125

Vgl. dazu Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. S. 39. Angehrn: Die Überwindung des Chaos. S. 405. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. S. 33. Ebenda S. 61.

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Themen weiter in die Erinnerung der Gemeinschaft der Zuschauer zu integrieren. In der Anlage des folgenden Kapitels wird auf diese Zusammenhänge aus unterschiedlichen Richtungen Bezug genommen. Vor allem in den Aufführungen griechischer Tragödien gewinnt die Erinnerung – gerade auch an die mythische Zeit dieser Dramen – eine physische Realität und eine Gegenwart, die mit der Gegenwart der Zuschauer und des Theatermoments gemeinsam entsteht. Damit kommen die Mythen auch wieder zu einem emotionalen Realitätskern. Gerade dieser ist für das Erinnern der mythischen Zeit zentral, Teil der Produktivität des Mythos. So wird gerade das, was die Tragödie ausmacht, wieder als Theater real erfahrbar. Die Themen der Tragödie, die trotz und gerade in aller Ferne und Fremdheit (das, was Assmann mit »absoluter Vergangenheit« meint, die immer in gleicher Distanz bleibt) gegenwärtig sind, werden so zunächst aus der Erinnerung reaktiviert. Doch werden sie in der Begegnung mit der Gegenwart des Theaters zugleich auch nur erinnert und bleiben damit paradox fremd, obwohl sie das Präsens des Theatermoments mit ausmachen. So sind die Aufführungen dabei durchaus auch Reaktivierungen von Symbolen kulturellen Gedächtnisses. Diese geht über den Text hinaus und findet vor allem in den theatralen Zeichen der Aufführungen statt. Deshalb werden im ersten Teilkapitel drei Inszenierungen griechischer Tragödien analysiert. Dabei wird sich zeigen, ob das Verfahren, den Mythos in der Tragödie zu befragen, auch mit den alten Mythen auf dem Gegenwartstheater noch heute funktioniert. Der Wechsel der Ebene vom Text zur Inszenierung ist an dieser Stelle möglich und geboten, da es sich dabei um gegenwärtiges Theater im Wortsinn handelt. Gerade indem gezeigt wird, dass das (tragische) Potenzial von 2500 Jahre alten Texten heute noch genutzt werden kann, wird der Kern von dem, was Tragödie, und zwar als Theater, ausmacht, gestärkt. Worauf dann auch die neuen Texte, die für das Theater geschrieben werden, zurück greifen können. Zudem wird in der konkreten Inszenierung der mythische Erinnerungskern der Tragödie noch einmal anders und direkt erfahrbar. Deshalb gilt jedoch auch, dass jede Analyse einer Aufführung hinter dem realen Erlebnis zurück bleibt. Allen drei Analysen liegen (mehrere) eigene Erfahrungen in Form von Vorstellungsbesuchen zu Grunde und nicht nur die Analyse von Aufzeichnungen. Doch jeder Abend, jede Aufführung ist immer auch anders, das, was analysiert wird, verändert sich. Damit ist jede der drei Analysen ebenso eine Momentaufnahme wie es der Theaterabend selber ist. Gerade das zeigt auch die Wirkungsmöglichkeit des Theaters als physisches Mittel des kollektiven Erinnerns, das ebenso wichtig ist wie dasjenige, das im Text aufgehoben ist – vor allem für die Frage nach der Wirkung auf die Zuschauer. Während Gotscheff in seiner Inszenierung der Perser sich der Fremdheit des antiken Stoffes stellt, herrscht in Thalheimers Orestie die Darstellung eines nicht zu durchbrechenden Zyklus von Gewalt und Mord vor. Bei

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Gotscheff ist es die Sprache, die das Fremde ist und äußerste Radikalität ausdrückt. Diese geht durch die Schauspieler hindurch, die deshalb kaum visueller Zeichen bedürfen. Bei Thalheimer ist es genau umgekehrt, hier ist die Omnipräsenz der Gewalt zunächst eine visuelle. Sie zeigt sich im Bild des Blutes. Beide Inszenierungen gehen auf ganz unterschiedliche Weise mit den Körpern der Schauspieler um. Während bei Gotscheff sich die Sprache, die dunkel bleibt, in den Schauspielern manifestiert, sind die Figuren Thalheimers in Spannung zu dem, was aus ihnen selber kommt. Volker Lösch versucht in seiner Version der Medea einen Anschluss an die Gegenwart, die sich anderer Mittel bedient und viel direkter vorgeht. Auch in den Theatertexten der Gegenwart lassen sich Spuren finden, wie Geschichte hier eine eigene, teils groteske, teils diffuse Realität gewinnt und das eigene Medium in seiner Künstlichkeit und auch seiner eigenen Historizität beobachtet. Gegenwart und Vergangenheit kommen auch hier auf dem Theater zusammen. Bei Anghern heißt es in Bezug auf den Mythos: »Der Mythos gibt Antworten ohne Fragen (während die Tragödie Fragen ohne Antworten, Probleme ohne Lösungen entwickelt).«126 Diese These wurde bereits in der Einleitung diskutiert. Genau dies ereignet sich auf dem Theater, dafür ist jedoch der Mythos als tiefer liegende Schicht, die produktiv erinnert und befragt wird, immer notwendig. Dieses Phänomen wird heute noch verstärkt, denn die ungefragten Antworten sind nicht mehr nur Glaubensfragen, sondern erheben den Anspruch auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit. Aber auf dem Theater wird auch in der Erinnerung zur Mythisierung beigetragen, jedoch kann und wird dieser Vorgang selbstreflexiv wieder thematisiert. Auch in modernen Theatertexten werden griechische Mythen, die Gründungstexte der westlichen Zivilisation, verwendet und bearbeitet. Die großen Epen, Ilias und Odyssee, die grundlegend das mythische Denken vor dem Einbruch des Subjekts in der Tragödie repräsentieren, werden heute zum Gegenstand von Theaterstücken. Damit ist hier die Grundlage nicht die eigene Geschichte, sondern die Geschichte als solche, die Auseinandersetzung mit dem Verständnis von dem, was Geschichte bedeutet. Zum einen findet sich dieses Vorgehen in Ithaka von Botho Strauß, der versucht aus dem Mythos eine idyllische Vorzeit abzuleiten. Das andere Beispiel ist Auf Sand von Albert Ostermaier, bei dem der alte Mythos in Wiederholung und Variation immer wieder zum Vorschein kommt. In weiteren Stücken der Gegenwart wird mit anderen Mythen gearbeitet. Wobei sich unterschiedliche Schichten, auch der Erinnerung, spannungsreich überlagern. Bei Dea Loher findet sich eine Verbindung des Märchenmotivs von Blaubart, das bereits eine mythische Qualität hat, aber zugleich auch noch als eine Erzählung, die Mythos auch immer ist, verstanden werden kann, mit Diskursen der Gegenwart, wie Gewalt, Identität und Wahrnehmung. Andere Theatertexte der jüngeren Zeit thematisieren vor allem

126 Anghern: Die Überwindung des Chaos. S. 61.

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das Verhältnis zur Geschichte. Die Erinnerung an sie steht an Stelle des Mythos als Erzählung. Die Zeit bricht hier auch in das Spiel ein, jedoch in unterschiedlichen, sich überlagernden, kaum mehr zu unterscheidenden Schichten. Die ausgewählten Beispiele hierfür sind Stücke von Elfriede Jelinek, bei der die Figuren sich in diesen Sprachflächen auflösen, und Werner Fritsch, der vehement ein Ich behauptet. In diesem Ich treffen sich die unterschiedlichen Momente und dieses Ich ist notwendiges Moment einer Utopie von Theater, das sich in der und auch gegen diese Gegenwart behauptet. Dies sind unterschiedliche Ausprägungen des Erinnerns, die an unterschiedliche Stellen der Geschichte und Gegenwart anschließen. Doch bei allen geht es um die Frage nach dem Individuum und der Geschichte, zunächst in der Gegenwärtigkeit der Aufführungen. Aber auch in den Texten finden sich diese Problemfelder: einmal indem das Individuum (das moderne und das des Theaters) und der epische Stoff, die mythische Grundlage der Kultur (und auch der Ursprung der abendländischen Literatur) zusammengebracht werden; und zum anderen ganz konkret angesichts der krisenhaften Geschichte, die uns bis heute bestimmt. Allen diesen Beispielen ist die mehr oder weniger deutlich formulierte Wirkungsabsicht und die Behauptung eines Anspruchs des Theaters an die und in der Wirklichkeit gemeinsam. Diese Wirkung kann, neben den Texten, auch und besonders an den konkreten Inszenierungen beobachtet werden. Gerade auch, weil sie sich mit den alten Tragödien auseinandersetzen und so die Verbindung zwischen Gegenwart und Mythos auf dem Theater schaffen.

»W IR

SIND ALLE B ESIEGTE « INSZENIERT AISCHYLOS’ D IE

– D IMITER G OTSCHEFF P ERSER 127

»Gotscheffs Perser-Arbeit ist ein großes Kunstwerk, eine ungemein zwingende Verdichtung, ein Abend von kompromissloser Härte, Klarheit und Schönheit. Es ist ein Kunstwerk, wie es auch großen Regisseuren nur zwei oder drei Mal im Leben gelingt, und auch das nur, wenn sie viel Glück, günstige Sterne und die richtigen Partner haben. Es ist ein Theaterabend wie ein schroffer Felsblock oder wie der Monolith in Kubricks 2001: rätselhaft, dunkel und absolut faszinierend.«128

Die Partner sind hier – wie bei Gotscheff immer und ganz zentral – die Schauspieler, dazu der Text, in einer Übertragung von Heiner Müller, der Theaterraum, und auch die Zuschauer. Anhand dieser Elemente versuche ich die Inszenierung der Perser zu interpretieren und als eines der schlüssigsten

127 Deutsches Theater Berlin, Spielzeit 2006/07. Premiere am 7.10.2006. 128 Peter Laudenbach in einem Kommentar zur Entscheidung der Jury des Berliner Theatertreffens 2007, die Perser nicht einzuladen. Zitiert nach Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 196.

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Beispiele einer Tragödie in der Gegenwart, und zwar auch der Gegenwärtigkeit des Theaters, zu verstehen. Der Beginn dieser Auseinandersetzung mit den Persern liegt in der Textversion.129 Der Text und die Sprache sind der zentrale Punkt der Aufführung, den alle Rezensenten und Interpreten als solchen sehen. Der Text, der der Aufführung zu Grunde liegt, ist die Bearbeitung einer Interlinearversion durch Heiner Müller. Am Beginn der Arbeit an und mit diesem Text stand nach Gotscheffs Aussage ein Unverständnis, ein Abgrund, in den er mit den Schauspielern hineingegangen ist.130 Heiner Müller schreibt in einem Vorwort der Buchausgabe131: »Die Übersetzungen von Peter Witzmann […] sind Interlinearversionen. Sie unterscheiden sich von anderen per Tuchfühlung mit den alten Texten. […] Der Gestus des Originals verschwindet nicht in der Information über den Inhalt. Das macht sie dunkel und für flüchtige Leser schwer zugänglich. Sie sollten gelesen werden wie sie geschrieben sind, nicht satzweise, sondern Wort für Wort. Die Dunkelheit erhellt den Abstand zwischen Äschylos und uns. In der Distanz scheint das Kontinuum menschlicher Existenz auf und im Kontinuum die Differenz.«132

Und Peter Witzmann sagt zu seiner Übersetzungsarbeit: »Für uns vollzieht sich der Versuch der Annäherung über Distanzgewinnung, die aus einer höchstmöglichen Nähe zum Text erwächst. Dem athenischen Publikum war die Sprache des Aischylos nicht fremd, es bedurfte keiner Übersetzung – uns ist sie fremd, wir bedürfen einer Übersetzung. […] Und das in jeder Hinsicht. […] Heiner Müllers Bearbeitung unterstützt die beinahe unerbittliche Wörtlichkeit im Ausdruck, im Satzbau und in der Rhythmik. Erstaunlicherweise geht gerade diese Wörtlichkeit immer wieder in die Kunstform, in den Vers, eine Vielgestallt von Versen und versartigen Strukturen über.«133

Beides, den Abgrund und die Kunst des Textes, kann man im Umgang mit dem Text auf der Bühne beobachten, ohne dass die Inszenierung zu einer reinen Umsetzung oder Erfüllung von theoretischen Ansprüchen wird. Sie

129 So äußerte sich auch Gotscheff selber in einer Diskussion im Rahmen der Konferenz Antike Tragödie heute (2.-4.3.2007) am 3.3.2007. 130 Bei selber Gelegenheit. 131 Die folgenden Zitate aus dem Anhang der Buchausgabe finden sich beinahe alle auch im Programmheft, was ihre Wichtigkeit für die Aufführung untermauert. 132 Vorwort von Heiner Müller. In Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Berlin 1991. S. 14. 133 Witzmann, Peter: Aischylos Über-Setzten. In: Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Berlin 1991. S. 63-67. hier S. 66-67.

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bleibt Theater, denn Theater ist auch eine Über-Setzung, doch gerade eine, die über Zeiten und Sprachen hinweg geht. Damit handelt es sich um dramatisches Theater im besten Sinn, das vom Text ausgeht und doch über ihn hinaus geht. Zudem ist der Umgang mit dem Text ein theatraler. Dabei spielt auch eine Rolle, dass diese Übersetzung der Perser für einen konkreten Theaterabend entstanden ist, für eine Aufführung an der Volksbühne in Berlin im Frühjahr 1991. Der Text, der von seinem Ursprung her ein gespielter Text ist, denn für Aufführungen und nicht zum Lesen wurden die attischen Tragödien zuerst geschrieben, wird hier vom Übersetzer und Bearbeiter wieder als Theatertext verstanden. Als ein Text, der wie das Theater einen Zuschauer, ein Gegenüber braucht. Auch dazu äußert sich Heiner Müller: »Diesen Text hier kann ich eigentlich nur Wort für Wort lesen. […] So ein Text braucht einfach den Zuschauer/-hörer. Da ist immer Platz zwischen den Teilen für den Zuschauer/-hörer. Das ist der Abgrund den ich meine. Es ist ein Platz, der nicht mit einer Bedeutung aufgeht, also in einer Interpretation, das ist ein leerer und dunkler Raum, in dem jeder selbst seine Kerze finden muß.«134

Genau dies nimmt Gotscheff in seiner Inszenierung ernst. Es handelt sich um eine Inszenierung, die zwar extrem auf Sprache basiert, aber auf einer Theatersprache, die erst durch die Körper der Schauspieler hindurch gehen muss, um wirken zu können – und es dann auch tut. Zugleich wird die Sprache dabei seltsam wenig interpretiert, sie wird zunächst vor allem ausgestellt und damit sinnlich erfahrbar. Sie zeigt den Weg in den Abgrund, ohne diesen vorzugeben. Die Sprache ist paradox manifest auf der Bühne und in den Figuren – damit gegenwärtig – zugleich kommt sie auch in ihrer Sperrigkeit und ihrer vordergründigen Hermetik aus einem Anderen. Die Sprache ist fremd und gewinnt in der Fremdheit Aktualität, da sie mit dieser Dimension ihre Gültigkeit im Heute behauptet. »Statuiert wird auf diese Weise ein Modell für die Gegenwart, aber mit zeitlicher Tiefendimension. Im Kontext dieser historischen Tiefe kann demonstriert werden, wie etwas aus der Geschichte herkommt; bezeugt werden kann mit der Aufführung des antiken Stücks das Verhältnis von Sieger und Besiegten als eine sich durch die Geschichte ziehende gesellschaftliche Macht-Konstellation.«135

134 Aischylos Übersetzten. Ein Gespräch mit Heiner Müller. In: Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Berlin 1991. S. 68-85. hier S. 72. 135 Dreyer, Matthias: Fremde Zeit – Aufführungen der Perser und die historische Distanz. In: Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 153168. hier S. 164.

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Diese Analyse Dreyers ist zutreffend, doch ist m.E. die zentrale Frage nicht das Verhältnis von Siegern und Besiegten. Denn die Sieger kommen in diesem Stück nicht vor – oder nur auf der Metaebene, da einer der siegreichen Griechen dieses Stück über die Besiegten geschrieben hat. Die Inszenierung zeigt, wie alle besiegt werden und es durch die Geschichte schon sind, wie die besiegten Lebenden mit den Toten gemeinsam ihre Situation erfahren. In diesem Pessimismus, dem dunklen Abgrund, liegt die Tragödie verborgen, der sich der Abend Schritt für Schritt und Wort für Wort annähert. Die potenzielle Verknüpfung mit einer realen Gegenwart ist dann ein möglicher Anteil des Zuschauers an diesem Abend. Raum und Sprache als körperliche Erfahrungen Obwohl der Text zentral für die Aufführung ist, beginnt diese nonverbal, jedoch nicht stumm. Eine gelbe Wand ist zu sehen, die quer auf der Bühne steht. Sie dreht sich und teilt die Bühne nun in zwei Hälften. Zwei Männer in Anzügen, also heutig, kommen auf die Bühne, sie gehen an die Rampe, schauen ins Publikum. Hier beginnt bereits die (Wechsel-)Wirkung zwischen Bühne und Publikum. Ihre Gesichter erstarren nach einem anfänglichen beinahe slapstickhaften Schlagabtausch in einem tonlosen Lachen. Dann gehen sie zurück an die Wand, die die Bühne teilt. Beinahe unmerklich lehnt sich der eine an die Wand, so dass diese sich ein wenig in das Territorium des anderen bewegt. Es scheint harmlos. In Gesten und Lauten wird sich gegenseitig beschwichtigt. Im Lachen scheint die Spannung sich zu lösen. Doch das Spiel eskaliert, zuerst sind die Verschiebungen langsam, dann immer heftiger und gezielter. Am Ende dreht sich die Wand, geschoben von beiden Schauspielern, unaufhaltsam um sich selbst. Dabei wird sowohl Bühne als auch Zuschauerraum abwechselnd in gleißendes Licht getaucht und verdunkelt sich. Auch dieser Wechsel wird immer schneller, je schneller sich die Wand dreht. Ein kleines Spiel, ein Satyrspiel am Anfang statt am Ende136 der Tragödie, aber auch eine Farce. Das Programmheft zitiert auf der letzten Seite Marx’ Diktum über das Weltgeschehen, das sich zweimal ereignet: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« Indem nun ein Satyrspiel, eine Farce, an den Anfang gestellt wird anstatt an das Ende, wird ein weiteres Mal der Kreislauf der Geschichte deutlich – und damit auch die Unausweichlichkeit. So wird mit den kleinsten Mitteln des Theaters gezeigt, wie Krieg entsteht. Doch am Ende siegt keiner, die Wand dreht sich um sich

136 Der Spiel-Charakter dieses Anfangs ist allgemeiner Konsens. Vgl. dazu u.a. Schültke, Bettina: Die tierische Natur des Menschen. Zur Dramaturgie der Inszenierungen von Dimiter Gotscheff am Deutschen Theater Berlin. In: Staatsmann & Schültke: Das Schweigen des Theaters. S. 81-102. Sowie Dreyer, Matthias: Fremde Zeit – Aufführungen der Perser und die historische Distanz. In: Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 153-168.

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selbst. Schieben die Schauspieler sie noch an, oder werden sie von der Wand mitgerissen? Hat sich hier der Mechanismus, der aus einer winzigen Geste entstand, verselbständigt? Dieses Durchdrehen der Wand zeigt sowohl die Unausweichlichkeit als auch die ewige Wiederholung dieses Prozesses. Bereits in diesem Vorspiel werfen die Figuren Schatten auf die Rückwand, diese Schatten sind größer als sie selbst. Der »Schatten des Dareios« ist die Bezeichnung des Stückes für den Toten, der auf die Erde zurückkommt. Diese Bezeichnung nimmt die Inszenierung wörtlich. Immer wieder sind auf der Wand die Schatten der Figuren auf der Bühne zu sehen. Diese sind zumeist übergroß und damit bedrohlich. Sie sind das Zeichen für die andere Welt, die der Toten, aus der Dareios kommt. Diese ist aber so von Anfang an auf der Bühne mit präsent und in diesem Raum, mit dieser Wand, unausweichlich. Die Schatten sind ein visuelles Zeichen, hergestellt mit den Mitteln des Theaters, für die zweite Ebene, die Fremdheit. Doch sind Schatten ohne die Personen, die sie werfen, unmöglich – also braucht diese andere Ebene die Präsenz der Schauspieler, der zunächst gegenwärtigen Personen. Das Gleiche gilt nach dem Vorspiel für die Sprache. Sie ist fremd, kommt von Ferne und ist dennoch nicht ohne die Schauspieler denkbar. Hier zu Beginn sind die Schatten so groß, wie den Rest des Abends nicht mehr. Zwar werden in diesem Vorspiel noch keine Worte gesprochen, doch lautlos ist es trotzdem nicht. Die beiden Schauspieler machen Laute, um sich zu beschwichtigen, um ihr Missfallen auszudrücken, um zu bekräftigen, was sie sagen. Diese Laute werden zumeist von Gesten begleitet. Beides sind universale Sprachen, generell und auf dem Theater. Auch hier wird die Handlung, bevor sie begonnen hat, in eine andere Dimension verrückt. Dieser stumme Beginn hat noch einen weiteren Effekt. Die Sinne der Zuschauer für diese überzeitlichen Sprachen werden geschärft. Umso überraschender und damit umso mehr Aufmerksamkeit erlangend ist dann der Moment, in dem die Handlung einsetzt, da hier eine extreme Konzentration auf (verbale) Sprache stattfindet. Die Schauspieler: Das Zentrum von Gotscheffs Theater und dieser Aufführung Die Inszenierung der Perser funktioniert nur mit den und ganz stark über die Schauspieler. Auch die Sprache kommt erst durch sie und ihre körperliche Präsenz auf die Bühne. »Einfache Vorgänge wie stehen, zuhören, dasein, die auf dem Theater ohne Illustration und spielerische Verrenkungen schwer herauszustellen sind, müssen die Schauspieler darstellen, und dies fordert von ihnen eine enorme körperliche Anspannung.«137 137 Schültke, Bettina: Die tierische Natur des Menschen. Zur Dramaturgie der Inszenierungen von Dimiter Gotscheff am Deutschen Theater Berlin. In: Staatsmann & Schültke: Das Schweigen des Theaters. S. 81-102. hier S. 95.

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Dieses Vorgehen ist typisch für Gotscheffs Arbeit. Das Theater ist der Ort für diese Kunst. Es wird dabei zugleich in Frage gestellt und als Ort der Wahrheit vehement behauptet. Doch die Perser sind im Gegensatz zu anderen seiner Inszenierungen reduziert und damit weiter ästhetisiert. Der ferne Text wird – gerade indem seine Fremdheit betont wird – in eine universelle Theatersprache übersetzt. »Gotscheff erzählt, wie immer, mit den Mitteln des Theaters, zwischen Naivität und Kunstbehauptung. […] Insgesamt kommt die Aufführung, Atossa eingeschlossen, durch ästhetische Verschiebung (der Bote wird verdoppelt, der Chor zum Monolog einer Frau) mit sagenhaften vier Schauspielern aus, wo andere Heerscharen beschäftigen würden. Ein Beispiel für Gotscheffs extrem verdichtenden Reduktionismus wie für seine Suche nach der zeitlosen Parabel. Ein Abend konzentrierter Stille: vier Körper, eine Wand, der Text, keine Musik nirgends.«138

Die Feststellung, dass dieser Abend ohne Musik auskommt, ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen sind die Lieder der attischen Tragödie wirkliche Lieder, die mit Musik gesungen wurden. Zum anderen ist Musik eines der zentralen Elemente in vielen, wenn nicht beinahe allen anderen, Inszenierungen Gotscheffs. Die Entscheidung gegen die Musik lenkt die Aufmerksamkeit umso mehr auf die anderen Sprachen, verbale und nonverbale, die sich gegen und in dieser Stille behaupten und aus ihr hervorgehen. Chor: Eine statt vieler Nachdem sich die Wand beinahe unaufhaltsam um sich selbst gedreht hat, kommt sie zum Stillstand. Jetzt teilt sie die Bühne nicht mehr in einen linken und rechten Teil, sondern begrenzt sie wie vor Beginn der Vorstellung nach hinten. Durch diese Anordnung werden die Schatten der Personen auf der Wand auf der Bühne weiter sichtbar. Doch wird mit diesen Schatten durch die Lichttechnik immer wieder gespielt. Es gibt Momente, in denen sie nur genauso groß sind wie die Menschen und andere, in denen sie gar nicht sichtbar sind. Die Handlung der Perser setzt ein, doch an Stelle eines großen Chors steht dort eine Frau – allein. Sie steht in einem grauen Kleid gebückt vor der Wand, vor der sie kaum auffällt und auch nur einen kleinen Schatten wirft, kein Vergleich zu den übermenschlichen Schatten, die im Vorspiel zu sehen waren. Eine andere, Atossa, die Königin, als solche durch Haltung und Auftreten zu erkennen, geht vorbei. Der Chor verneigt sich. In diesem minimalen Theatervorgang ist das Verhältnis von Chor und Herrscherin, das im Text durch Ehrerbietung des Chors und Befehle der Königin erst deutlich

138 Lux, Joachim: Gotscheff, der Veterinärmediziner. In: Staatsmann & Schültke (Hrsg.): Das Schweigen des Theaters. S. 51-71. hier S. 71.

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wird, von vornherein festgelegt. Atossa kommt und geht, der Chor jedoch ist da und bleibt es auch. Es folgt das Eingangslied des Chors. »Die Bendokat richtet ihr teilnahmslos ovales Eulengesicht frontal zum Publikum, die großen Augen leuchten bis in die hinterste Reihe, und dann kommen die Töne wie aus dem Zahnarztbohrer: millimetergenau, hochkonzentriert, monoton und unerbittlich. Jeden Moment kann sie den Nerv treffen oder noch ein paar Sekunden Gnade walten lassen. Theater ohne Betäubung.«139

Doch die Töne, die Worte, die sie spricht sind nicht ihre eigenen. Sie kommen aus einer anderen Dimension und gehen durch die Schauspielerin hindurch. Sie geht langsam vor. Im Wortsinn, mit langsamen Schritten von der Wand weg, mit kleinen Gesten, geballten Fäusten und vor allem mit ihrer Stimme, die aus dem ganzen Körper und zugleich von nirgendwo kommt, nähert sie sich. Wort für Wort wird mit dem Text gearbeitet und arbeitet auch der Text mit ihr. Das ist die schauspielerisch-theatrale Übersetzung der »Tuchfühlung« mit dem Text, von der im Zusammenhang mit der TextÜbersetzung die Rede war. Das, was sie spricht, ist nicht ihre eigene Wahrheit und damit keine authentische Figurenrede. Der Text scheint ihr teilweise ebenso fremd wie dem Zuschauer, und diese Fremdheit stellt sie aus. Zugleich geht sie mit äußerster Präzision durch ihn hindurch. Minimale Details, kleine Pausen, winzige Bewegungen setzen beispielsweise die Grenzen von einer Strophe zur nächsten. Sobald die Götter im Text angesprochen werden, wendet sich ihr Blick nach oben. Später wird sie die Toten in der Erde ansprechen, indem sie kniend mit gesenktem Gesicht in Richtung Boden spricht. Ist vom König, von Asien, von der Heimat die Rede wird der Ton ein wenig anders, direkter. Hier fühlt sich der Chor im Gegensatz zum großen Geschehen zu Hause, wenn auch nur in kurzen Momenten angedeutet und im Angesicht der Vernichtung dieser Heimat. An einigen Stellen werden ›Zwischentöne‹ in Form von nonverbalen Tönen, wie einem »Nene« oder einem »Hm« angeschlagen. Gerade mit Hilfe dieser eigentlich persönlichen Töne, die auch im Vorspiel schon präsent waren, wird die Distanz deutlich. Doch durch ihre Einbettung in diesen Umgang mit dem Text gewinnen sie in der Distanz eine Dimension hinzu, die weit über das Persönliche hinaus geht. Sie erinnern so an die griechischen Klagelaute, die in ihrer Bedeutung heute nicht mehr fassbar sind. Doch auch in diesen nonverbalen Mitteln lag die größte Klage. Indem hier moderne Partikel der Sprache verwendet werden, wird diese tiefere Bedeutung ins Heute transportiert. Diese Laute finden sich im Verlauf der Aufführung bei allen Personen gleichermaßen (vgl. oben zum Vorspiel des Stückes, das ausschließlich mit solchen Lauten operiert). Doch hat dieser Chor trotz seiner Präzision keine Gewissheit über das, was er spricht. Heiner Müller sagt in einem der Begleittexte der Buchfas-

139 Wille: Athens beste Jahre. S. 8-9.

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sung über den Chor in den Persern, bzw. in der attischen Tragödie im Gegensatz zu modernen Versuchen den Chor didaktisch zu verwenden: »Hier ist der Chor nicht im Besitz einer oder der Wahrheit. Er will vielleicht die Wahrheit wissen, aber er weiß sie nicht, er gibt nicht vor, sie zu wissen. Sie wird ihm dann gesagt; der Chor provoziert das durch die Schwerkraft, er fragt die Bewegung nach der Richtung, dadurch, daß er stehen bleibt.«140

In der Langsamkeit liegt einer der Schlüssel der Poesie, die diese Rede entfaltet. Die schier endlosen Namen der gefallenen Perser sind in ihrer Nennung eine Art Totenbeschwörung, eine Ritualisierung. Indem ihre Namen genannt werden, verbleiben die Toten nicht in ihrem Reich, doch zugleich wird die Rede des Chors in diese andere Zeit verrückt. Sie ist mehr als ein Faktenbericht, sie ist das Recht, das die Toten an der Gegenwart haben, das aber nur durch die lebendige Rede durchgesetzt werden kann. Dieser (lange) Moment des Theaters ist damit auf eine spezifische Weise daimonisch – und zwar auch für den Zuschauer, der auf einer anderen Ebene direkt erfährt, was diese Toten bedeuten. »Den Rhythmus (nicht den Sinn) dieses Anhäufens [von Todesopfern] verspürt der Zuschauer dank des von Margit Bendokat repräsentierten Chors, von Almut Zilcher als Atossa, Wolfram Koch als Dareius und Samuel Finzi als Xerxes.«141 Doch dieser Chor, diese Schauspielerin, ist auch – ganz so wie es bereits Aristoteles’ Poetik fordert – Mitspielerin der Handlung. In den folgenden Szenen bleibt sie präsent und nimmt zunächst der Figur der Königin gegenüber die Haltung der Untertanen ein. Im Botenbericht sind Königin und Chor beinahe gleichberechtigt. Sie ergänzen den Bericht als Zuhörerinnen, die dieser Bericht, ebenso wie der gesamte Text, braucht. Der Chor ist es auch, der gemeinsam mit Atossa den Schatten des Dareios beschwört, sowohl physisch als auch in einem rituellen Gemurmel. Am Ende ist die ChorRede gestrichen, in Xerxes letzter Szene bleibt der Chor stumm und tritt in den Hintergrund. Doch ist er nicht ganz verschwunden, zwar spricht er nicht mehr, doch die Schauspielerin bleibt anwesend, ganz am Rand, an der Rückwand der Bühne wandert sie langsam auf und ab. Der Chor ist das zentrale Element der Verbindung zwischen den Ebenen. In dieser Schauspielerin manifestiert sich die Fremdheit und macht sie so auf der Bühne im Moment gegenwärtig.

140 Aischylos Übersetzten. Ein Gespräch mit Heiner Müller. In: Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Berlin 1991. S. 68-85. hier S. 75. 141 Detcheva, Violeta: Kurzschluss – Versuch über Gotscheffs Theater. Zu Koltès’ Kampf des Negers und der Hunde und Aischylos’ Die Perser. In: Staatsmann & Schültke (Hrsg.): Das Schweigen des Theaters. S. 129-138. hier S. 137.

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Die Boten, Atossa, Dareios und Xerxes – gedoppelte (daimonische) Figuren Am Ende der ersten langen Chorpassage steht eine Beschwörung von Xerxes. Der Name »Xerxes« wird den ganzen Abend immer wieder in besonderer Art und Weise ausgesprochen. Wütend, auch mit Abscheu, aber immer kraftvoll und damit wie ein magisches Wort. Daraufhin betritt Atossa die Bühne. In der Dialogsituation, im Hinzutreten der ersten Schauspielerin zum Chor (der Wiederholung des Moments, in dem das Theater entstand) kann sich die Handlung jetzt fortsetzen. Atossa ist eine Figur, die einerseits einen eigenen Gestus hat, aber ebenso von etwas Fremdem beherrscht wird, wenn auch auf andere Weise als der Chor. Ihre Macht über den Chor demonstriert sie, indem sie seine Rede mit Hilfe kleiner Gesten dirigiert. Atossa weiß damit mehr über das, was der Chor ausspricht, als der Chor selber. Sie gehört selber beiden Ebenen an, so wie es noch stärker Darieos und Xerxes tun. Diese Herrscherfamilie sind Daimonen aus einer anderen Zeit und Welt, die zugleich Menschen von damals und heute sind. Darum werfen sie immer Schatten auf die gelbe Wand, auch darin sind sie verdoppelt. Sie wissen um ihr Besiegt-Sein und dessen Unausweichlichkeit und dennoch leiden sie daran. Das Wissen ist zudem ein eher unterbewusstes. Es manifestiert sich, ähnlich wie das Leid, zunächst in den Körpern und in einem Schrei, auch dies ist eine nonverbale Formulierung der Urkonflikte, die sich in diesen Personen befinden. Die Figuren wissen nicht alles, was sie wissen. Deshalb sucht Atossa hier Rat. Sie spricht den Satz »Ratgeber sollt ihr mir sein« nicht zum Chor, sondern direkt nach vorne, in eine Allgemeinheit, oder auch zum Publikum. Zu Beginn ihres Auftritts hat sie das Publikum mit »Freunde« angesprochen. Denn das Wissen, das sie benötigt, kommt nicht nur aus ihr selber, sondern aus der Gemeinsamkeit der Erfahrung, die so über das Individuelle hinaus geht. In dieser direkten Anrede des Publikums wird auch der zeitliche Bogen in die Gegenwart gespannt. Die Sorge, die Atossa formuliert, ist eine authentische, doch wird auch ihre Sprache immer wieder von einem Ton beherrscht, der nicht aus ihr selber zu kommen scheint. Als der Chor Xerxes als Gott preist, spricht sie diesen Text stumm mit. Auch hier wird der Text also verdoppelt, verbal und nonverbal zugleich geht er durch die beiden Schauspielerinnen. Atossa erzählt einen Traum, ein Zeichen aus einer anderen Welt, die so in diese hineinwirkt. Erst im Dialog mit dem Chor wird dieser Traum gedeutet. Auffallend ist, dass hier keine Schatten auf der Wand zu sehen sind. Da der Traum aus der anderen Welt kommt, aber als solch fremdes Moment klar zu erkennen ist, werfen die Figuren keine Schatten. Die Schatten sind Ausdruck für das Daimonische, das sich auch darüber definiert, dass die Trennung zwischen dem, was aus der anderen Welt kommt und dem, was aus dieser kommt, schwer zu fassen ist. Bei diesem Traum ist es eindeutig, deshalb kann er auch gedeutet werden.

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Auch bei Atossa ist zu beobachten, wie kleine Gesten und nonverbale Äußerungen, z.B. ein auffälliges Lachen, neben der Sprache eine weitere Ebene des Ausdrucks belegen. Sie erfährt zudem die Kraft, die von den anderen Figuren ausgeht, ganz direkt – und zwar auch von anderen lebenden Figuren, nicht nur den Toten. Als sie das erste Mal über Xerxes spricht, ist es seine Kraft, die durch sie hindurch geht. Denn auch Xerxes, zumal so lange er abwesend ist, hat eine Kraft aus einer anderen Welt. Als sie im Botenbericht hört, dass Xerxes lebt, erstarrt ihr Schrei – sie bewegt sich jenseits der Sprache. In diesem Moment wirkt sie wie ein stummes Klageweib – eine Paradoxie, die jedoch auch ihr Gefangensein zwischen den Ebenen verdeutlicht. Eben in diesen Gesten und Momenten jenseits der Sprache wird das Leid und seine Unausweichlichkeit offenbar. Hier ist es der Moment, der eigentlich dem Leben gehört: »Xerxes lebt!« ruft Atossa aus. Die Welt der Götter sowie die der Toten werden mit Gesten als Oben und Unten, als das, was die Bühne und die Handlung umgibt, gezeigt. Auch so wird ihre Verbundenheit miteinander und Andersheit dieser Welt gegenüber bekräftigt und beschworen. Doch wird diese gegenwärtige Welt – und vor allem die Personen in ihr – von beiden beeinflusst, befindet sich dazwischen. Das Verhältnis zu den Toten in den »Persern« ist ein eigentümliches. »DIE PERSER ist die einzige griechische Tragödie, die ein Zeitstück ist. Danach traten nur noch Tote auf, nur noch Mythos; hier waren es Lebende und die Toten gehörten dazu.«142 Die Toten gehörten nicht nur dazu, sondern sie kommen auch zurück zu den Lebenden, so wie Dareios. Doch vor seinem Auftritt steht der zweite große Block aus Sprache: der lange Botenbericht. Während der Chor, das Kollektiv, auf eine einzelne Schauspielerin reduziert wurde, wird der Bote verdoppelt. Die Wand teilt nun wieder die Bühne. Von links und rechts kommen die beiden gleichen Schauspieler wie zu Beginn, sie gehen wieder an die Rampe. Zuvor sind sie bereits auf den beiden Seiten der Wand zu sehen und schauen nach hinten, ins Dunkle, dorthin, wo die Schatten sind. An der Rampe mit dem Blick ins Publikum kommen sie zusammen und werden zu einer verdoppelten Figur. Dabei sind sie nun eingerahmt von den beiden Frauen. Hier sind die vier Schauspieler, die den Abend bestreiten, in einer symmetrischen Anordnung, die Teilung und Zusammengehörigkeit beinhaltet, alle gemeinsam auf der Bühne. Auch das Erscheinungsbild der beiden Männer hat sich geändert. Nun tragen sie zerrissene T-Shirts.143 Während das des einen orange ist und ein blaues hindurch scheint, ist das des anderen blau und orange liegt darunter. Die beiden gehören zusammen, sind komplementär zueinander und zugleich eins. Sie sprechen den folgenden Botenbericht, der beinahe 20 Minu-

142 Aischylos Übersetzten. Ein Gespräch mit Heiner Müller. In: Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearbeitung Heiner Müller. Berlin 1991. S. 68-85. hier S. 74. 143 Der Bote/die Boten kommen aus dem Krieg. Dies wird in diesem kleinen Detail mit angedeutet.

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ten dauert, synchron, wie ein Chor. Auch ihre Gesten sind aufeinander abgestimmt. Diese Dopplung des Boten, der die fremde Welt nach Susa bringt, den Bericht der Vernichtung der Königin vorträgt, verdeutlicht die eigentliche Dopplung der gesamten Situation. Diese ist in der Szene noch weiter präsent: die Frauen stehen neben den Männern und die Wand teilt die Bühne in zwei Teile. Doch diese Teile gehören immer zusammen, so wie die beiden Schauspieler den einen Boten ausmachen, beinahe mit einer Stimme sprechen und gerade darin immer die Differenz präsent halten. »Ihre Außerordentlichkeit besteht darin, abendfüllend auf die Lücke zu zeigen, die zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten oder, wenn man so will, zwischen dem überzeitlichen Muster und seiner jeweiligen Ausprägung klafft.«144 Doch sie zeigen nicht nur diese Lücke, sie sind sie selber, der Abstand zwischen ihnen. Denn die Lücke ist die Verbindung, ist der Abgrund, der der Mythos hier ist. Sie stehen an diesem Abgrund und suchen den Weg, der ein doppelter ist, ein heutiger, auch als Theatermoment präsenter, und ein Moment der anderen Zeit. Der Botenbericht schließt mit den Worten »Das ist alles wahr«. Diese werden im Abgehen von den beiden Schauspielern wiederholt und auch dem Publikum sowie den beiden Frauen direkt zugesprochen. Sie verlassen die Bühne so, wie sie gekommen sind, an den unterschiedlichen Seiten der Wand entlang gehend. Doch die Sprache verbindet sie weiterhin. Ein letztes Mal ist der Satz noch zu hören, vom Ende der Bühne, von der Wand, auf der die Schatten, das Andere, sichtbar werden. Diese Differenz ist es, die sowohl das Vergangene aktuell hält als auch dem Gegenwärtigen eine tiefere Dimension gibt. Sie ist Voraussetzung für die Wahrheit. Dabei ist die Niederlage, der Abgrund, oder auch das, was als Lücke bezeichnet wird, immer vorhanden. Es handelt sich um eine Niederlage, die angesichts der unberechenbaren Tiefendimension feststeht. Dennoch hat jede Figur Momente und Möglichkeiten des Lebens, der Gegenwart. Hier reiben sich die Ebenen aneinander – und zwar in den Figuren, die damit einen weiteren daimonischen Zug bekommen. In der Personenrede, vor allem in den Berichten über den Untergang des Perserreiches, wird wiederholt von einem »Dämon« gesprochen, der für diese Niederlage verantwortlich ist. Auch hier ändert sich der Tonfall immer wieder, das Unheimliche wird auch in diesem Wort deutlich. Ein Daimon ist auch der Schatten des Dareios. Er wird so bezeichnet145 und von Atossa gemeinsam mit dem Chor als solcher beschworen und auf die Erde zurück geholt. Hier wird das Rituelle der Sprache und die Verbindung zwischen den beiden Welten durch eben diese Sprache und die Schauspieler, durch die sie hindurch gehen, deutlich. Nach dem Botenbericht brechen sowohl der Chor als auch Atossa zusammen. Der Chor geht zu Boden und sucht auch in der Sprache den Weg zurück. Auf dem Boden und in den

144 Wahl: Mehr geht eigentlich nicht. S. 106. 145 »Gesänge stimmt jetzt an, und den Daimon/Dareios ruft herauf« (In der Buchfassung S. 42).

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Boden spricht sie ein weiteres Mal die Reihe der Namen der Toten. Langsam wird sie sich wieder aufrichten. Atossa stemmt sich gegen die Wand. »Ein Leid« sagt sie und schließt diese Feststellung mit einer nonverbalen Äußerung ab. Doch das Leben scheint hier kurz die Oberhand zu gewinnen: »Xerxes lebt«. Es ist von einem Tanz als »Trank des Lebens« die Rede und von Blumen. Doch dieser Tanz und die Beschwörung des Chors bringen nicht den lebenden Xerxes, sondern den toten Dareios, und zwar mit Absicht, auf die Bühne. Atossa trägt hier keine Schuhe, damit ist ihr Kontakt zum Boden, zu dem was darunter liegt, zu den Toten, ein direkter. Das Leben und der Tod sind also gleichberechtigt und unlösbar miteinander verknüpft. Die Beschwörung des Toten ist die notwendige Konsequenz aus der Niederlage der Lebenden. Der Schatten wird hier zunächst wieder wörtlich genommen. Ganz nah an der Wand steht Dareios, er schaut auf diese Wand, seinen eigenen Schatten an – und scheint auch zunächst den Schatten anzusprechen. Er dirigiert aus dieser Position heraus mit ähnlichen Gesten den Chor, wie es Atossa in ihrem ersten Auftritt getan hat. Er muss den Chor dabei nicht einmal anschauen, da er der Welt der Toten angehört, sein Wissen größer ist, als das des Chors. Seine Stimme sind zu Beginn röchelnde Laute, er sucht nach seiner Stimme in dieser Welt. Zunächst bleibt er mit dem Gesicht gegen die Wand gerichtet, während Atossa neben ihm in die andere Richtung schaut, als er von der Niederlage erfährt, dreht er sich ebenfalls zum Publikum. Inhalt des Dialogs ist der Krieg und die Niederlage. Indem das Herrscherpaar, der tote König und die lebende Königin, zu Beginn der Szene in dieser Art nebeneinander stehen und ihre Blicke in beide Richtungen gewendet sind, wird die zeitlose Dimension wieder deutlich. Sowohl zu den Lebenden als auch zu den Toten sprechen sie, sowohl aus dem Reich der Toten als auch aus dem der Lebenden ist die Vernichtung gekommen. Doch dann dreht auch Dareios sein Gesicht zum Publikum, so sprechen nun beide in die eine Richtung, die der Gegenwart, damit ist die Bedrohung und das Besiegt-Sein im Heute manifest. Doch eine weitere Bedrohung macht der Auftritt des Dareios deutlich. In seiner Wut über den Untergang seines Reiches wird dieser tote Daimon zu einem dämonischen Demagogen. Er schickt den Chor weg und bleibt allein auf der Bühne. Anstelle der leisen, schwer festzumachenden und damit umso mächtigeren Töne aus einer anderen Welt, kommt nun leere Rhetorik in großen und hohlen Worten. Doch als die Götter wieder ins Spiel kommen, denn der »Schatten des Dareios« bleibt trotz seines kurzen Ausbruchs der archaischen Welt angehörig, kehren die leisen Töne zurück und Dareios nähert sich wieder seinem Schatten, indem er auf die Wand zugeht. Die Wand bewegt sich und Dareios verschwindet hinter ihr. Doch bewegt sich die Wand nicht von alleine, sondern wird von Xerxes geschoben. Zunächst dreht er sie um die eigene Achse, wodurch auch Dareios verschwindet, dann schiebt Xerxes die Wand nach hinten, schiebt sie weg, die Fläche der Schatten wird versucht an den Rand zu drängen. Das Ende der Inszenierung ge-

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hört Xerxes allein. Sein zentraler Satz lautet dann auch »Da bin ich«. Xerxes war als Name, der immer markiert ausgesprochen wurde, den ganzen Abend über präsent, nun ist er es auch als Person und nimmt die ganze Bühne ein. In der Formulierung »Da bin ich« wird auch die tragische Frage nach dem Ich und die Subjektwerdung in der Tragödie wieder thematisiert. Der Chor, der im Text mit Xerxes spricht, ist hier gestrichen. Teile des Textes sind auf Xerxes selber übergegangen. Dennoch ist der Chor nicht ganz verschwunden, am hinteren Rand der Bühne ist die Schauspielerin immer noch zu sehen. Auch Atossa geht wie zu Beginn noch einmal vorbei. Die Elemente der Verbindung zum Anderen können also an den Rand gedrückt werden, doch sie können nicht mehr verschwinden. Mit dem Auftritt von Xerxes schließt sich auch die Symmetrie der Figuren, die immer zugleich eine Differenz ist. Denn Dareios und Xerxes werden von den beiden Schauspielern gespielt, die zu Beginn das Spiel mit der Wand vorgeführt haben und dann gemeinsam als Bote auftraten. In dem die beiden jetzt als Toter und als Lebender nacheinander auftreten, die noch dazu Vater und Sohn sind, wird die enge Zusammengehörigkeit auch dieser beiden Figuren unterstrichen. Während der »Schatten des Dareios« ein Toter in der Welt der Lebenden war, wird Xerxes zu einem Lebenden, der eigentlich schon dem Reich der Toten angehört. In Xerxes’ Monolog werden die Klagelaute, die auch die Übersetzung als solche stehen lässt, explizit ausgespielt. Es wird mit ihnen gespielt. Das »Io io« hört sich zunächst sehr heutig an, doch ist es genauso wie die anderen Laute Teil der nonverbalen Klage, in der das Leid erfahrbar wird. Das Aufzählen der Toten ist beinahe ungläubig, die Toten werden als Teil des daimonischen Reiches angesehen und damit ihr Einfluss auch auf die Gegenwart deutlich, auch wenn er schwer fassbar ist. Dadurch, dass der Chor gestrichen wurde und Teile seiner Rede auf Xerxes übergehen, treibt er seine eigene Klage immer wieder voran – eine weitere Differenz wird so in der Figur sichtbar. Doch Xerxes stellt seine ganze eigene Kraft gegen diese andere Kraft. Das Spiel mit den Klagelauten ist einer dieser Aspekte. Indem mit den Klagelauten gespielt wird, wird ihre universelle Gültigkeit zunächst in Frage gestellt. Doch diese Klage, das Leid, zumal das universale, nonverbal ausgedrückte ist stärker. Denn aus diesem Lautspiel entsteht auch der Schrei, das Zeichen für das Leid, das Wissen um die Unausweichlichkeit. Diese liegt in der Dunkelheit und so endet der Abend auch in Dunkelheit und Stille, in dem, was den Abgrund darstellt. Xerxes wird von der Dunkelheit verschluckt. In ihr gibt es keine Schatten mehr, aber auch kein Licht. Die Dunkelheit, der Abgrund, ist die einzige Möglichkeit, wie die Paradoxien und Differenzen zusammen kommen können. Der letzte Satz, den Xerxes an das Publikum richtet, ist dann auch: »Geht leise«.

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… und der Zuschauer Die Wirkung, die die Inszenierung der Perser entfaltet (hat), ist auf jeder Ebene enorm. Ganz äußerlich ist sie 2007 zur Inszenierung des Jahres gewählt worden, mit weiteren Auszeichnungen bedacht worden und auf Gastspielen in der ganzen Welt gewesen. Das bedeutet auch, dass diese Aufführung ihr Publikum, und zwar über das konkrete Publikum an jedem konkreten Abend einer Aufführung hinaus, findet. Es gibt einen gemeinsamen Horizont, den diese Aufführung gerade in ihrer Fremdheit erreicht und aktiviert. »Dadurch, dass der Text nicht aktualisiert wird, löst er sich aus der Erwartung, gegenwärtig etwas sagen zu müssen. Dieses Sich-Verschließen vor dem selbstverständlichen Zugriff des Verstehens ist für die Zuschauer zwar anstrengend, doch sie nehmen das Angebot, dem konzentrierten und verdichteten Text zu folgen, als ästhetische Erfahrung willig an.«146

Die Aufführung arbeitet nicht nur mit einem gemeinsamen Horizont, sie schafft ihn auch. Dieses Theater behauptet sich als ein Theater mit Zuschauern. Und zwar als eines, in dem der Zuschauer mehr als eine ästhetische Erfahrung machen kann, sondern auch eine Erfahrung mit sich selbst und dem Theater als lebendiger Kraft. Gerade in der Fremdheit liegt die Konkretheit verborgen. In der Erinnerung an eine unklare Vorzeit, an universelle Vergangenheit, die durch nichts anderes definiert ist, als durch den Abgrund Tod, tut sich ein Raum auf, den der Zuschauer mit der eigenen Erfahrung, der eigenen Erinnerung füllen kann. »Die Arbeit des Theaters mit dem Gedächtnis und dem vor seine eigene Erfahrung gestellten Menschen besteht also darin, eine Konfrontation der Zuschauer aus dem Saal mit dem konkreten Menschen in der abstrakten Welt der Bühne herbeizuführen, damit der Zuschauer sein eigenes Leben ›entblößt‹ spüren kann.«147

Auch der Weg für den Zuschauer führt über die Schauspieler. Wenn die Schauspieler in ihrer körperlichen Präsenz, die auch für die Wirkung des Textes unabdingbar ist, wahrgenommen werden, entsteht eine gemeinsame Wirkung zwischen Bühne und Publikum. Diese funktioniert dann nicht mehr allein über den Text und das Kognitive, sondern ebenso stark über das

146 Schültke, Bettina: Die tierische Natur des Menschen. Zur Dramaturgie der Inszenierungen von Dimiter Gotscheff am Deutschen Theater Berlin. In: Staatsmann & Schültke (Hrsg.): Das Schweigen des Theaters. S. 81-102. hier S. 96. 147 Detcheva, Violeta: Kurzschluss – Versuch über Gotscheffs Theater. Zu Koltès’ Kampf des Negers und der Hunde und Aischylos’ Die Perser. In: Staatsmann & Schültke (Hrsg.): Das Schweigen des Theaters. S. 129-138. hier S. 138.

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Nonverbale. Auch wenn eben durch die Sperrigkeit und beinahe körperliche Anwesenheit des Textes auf der Bühne auch diese beiden Ebenen nicht voneinander zu trennen sind. »Die räumliche Inszenierung Gotscheffs erzeugt einen ungewöhnlichen, doppelten Effekt beim Zuschauer: Sie zieht ihn sinnlich an mit ihrem ästhetischen Minimalismus und entfremdet ihn zugleich der Alltagsrealität durch ihre Abstraktheit. Auf diese Weise sondert der Regisseur seine Realität mit ihrem eigenen Rhythmus ab. In der Raumzeit der abstrakten szenischen Realität jedoch führt ihn das gewählte Organisationsprinzip zum Erreichen der für ihn wesentlichen Wirkungsebene: der konkreten Präsenz des Schauspielers.«148

In der Körperlichkeit, der Erschütterung und eben dieser ständigen ambivalenten Dopplung liegen die tragischen Momente. Einerseits funktioniert so die Wirkung des Abends auf den Zuschauer und zum anderen wird der antike, archaische Text gegenwärtig. Beides ist hier nur auf dem Theater möglich, die Tragödie ist Theater. Auch dies wird hier auf eindringliche Art und Weise vorgeführt. Dieses Theater bewegt sich immer am Rand des Abgrunds, am Rand des Scheiterns. Das Nicht-Verstehen, das, was Gotscheff als schwarzes Loch bezeichnet, ist die Gefährdung und zugleich die einzige Möglichkeit sich einer Wahrheit anzunähern. Wie nur der doppelte Bote im Abgehen sagen kann: »Das ist alles wahr«. Doch braucht diese Tragödie eben auch den Zuschauer. Der Zuschauer wird zum Verbündeten der Bühne. Nur indem die Wirkung zwischen beiden besteht, der Zuschauer seinen Abgrund erkennt, kann sich das Theater im Angesicht dieses Abgrundes behaupten. »Damit hätten Gotscheffs ›Perser‹ das Theater als Denkform rehabilitiert, die es – strukturell weiträumig darüber hinausgehend, was seine Akteure intendieren und seine Zuschauer verbal erklären können – ermöglicht, sich selbst im anderen zu begegnen. Mehr geht eigentlich nicht.«149 Das ist eine zutiefst tragische und dabei höchst moderne Art von Katharsis. Die Begegnung mit dem eigenen Anderen angesichts einer Fremdheit auf dem Theater, die sich selbst als gefährdet versteht und zugleich eine ungeheure Präsenz entfaltet. Damit ist der Abend eine Tragödie, und zwar eine auf dem Theater mit seinen Zuschauern. Zugleich entfaltet sich diese Tragödie in ihrer Aktualität in der Fremdheit des archaischen Textes anstatt im Versuch einer vordergründigen Aktualisierung. Damit wird die Inszenierung beiden Dimensionen der Zeit, die sie immer thematisiert, gerecht. All dies geschieht zudem in einer eigenen Ästhetik, die das Kunstwerk Tragödie auch als solches neben allem anderen erfahrbar macht. So zeigt diese Inszenierung, dass Tragödie heute nicht nur möglich, sondern auch höchst lebendig und wirksam ist. Dieses Theater nimmt sich sel-

148 Ebenda S. 131. 149 Wahl: Mehr geht eigentlich nicht. S. 106.

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ber und den Text ernst und als Herausforderung an und wahr. Damit öffnen sich Räume zwischen Bühne und Publikum, die zugleich archaisch und modern, ästhetisch und lebendig sind. Dieses Theater versteht sich als Teil des Lebens und nicht gegen es, auch und gerade wenn es in seiner Ästhetik zunächst fremd wirken mag. Damit etabliert sich hier eine gegenwärtige Möglichkeit der Tragödie auf und mit dem Theater, die auch explizit auf den Zuschauer abzielt. Diese Inszenierung zeigt alle Möglichkeiten, die Tragödie heute bietet und hat.

»T UN ! L EIDEN ! L ERNEN ?« – M ICHAEL T HALHEIMER 150 INSZENIERT AISCHYLOS ’ D IE O RESTIE Eine Inszenierung im Spannungsfeld des Theaters Diese Inszenierung der Orestie setzt sich stark mit dem Theater, seiner Situation und Geschichte, auch der Geschichte der Orestie auf dem deutschsprachigen Theater, auseinander. Es entsteht ein Feld von Bezügen auf unterschiedlichen Ebenen, in das sich die Aufführung einordnet. Sie rekurriert dabei sowohl auf die antike Tragödie, das Theater als Ort des Textdramas, als auch auf die legendäre Inszenierung Peter Steins – nicht zuletzt, indem dessen Übersetzung verwendet wird. Das Verhältnis, in das sich die Inszenierung hierzu setzt, ist ein negatives. »Die Aufführung [von Peter Stein] entsteht aus der Sprache, die im überlieferten Text niedergelegt ist. Zunächst wird so ein Klang-Raum geschaffen. Aus ihm entwickelt sich dann ein visueller Raum, der sich zuletzt durchaus zu verselbständigen vermag. […] ›Am Anfang war das Wort‹, das im Text niedergelegt und von ihm übermittelt wird.«151

Genau daran glaubt Thalheimer nicht mehr, die Bilder sind übermächtig, die Worte werden zu Gewaltinstrumenten im Chorischen, aber das Leiden im Individuellen liegt in den Körpern, durch die die Gewalt hindurch geht. Seine Gegenbehauptung ist umso wirkmächtiger, da eben Peter Stein in den Worten seiner Übersetzung den ganzen Abend anwesend ist. In dieser Übersetzung versuchte Stein, ebenso wie in der Inszenierung, die Tragödie zugänglich, erklärbar, für den analytischen Verstand offen zu machen. Seine klaren Sätze werden jetzt vor allem vom Chor als Gewaltmittel verwendet. Dessen Sprache ist hermetisch und nicht analytisch. Die Sprache der Figu-

150 Deutsches Theater Berlin, Spielzeit 2006/2007. Premiere am 23.9.2006. 151 Fischer-Lichte, Erika: Berliner Antikenprojekte – 150 Jahre Theatergeschichte. In: Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 111-138. hier S. 137-38.

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ren auf der Bühne hingegen ist beiläufig, erstaunlich heutig. Was wichtig ist, ist jenseits der Sprache – auch so kann diese Übersetzung wirken. Zudem gibt es keinerlei Utopie oder Erkenntnis mehr. Im Gegenteil, jede Art von zukünftiger Verbesserung wird gestrichen. Dies ist auch im Wortsinn zu verstehen, denn die Eumeniden, der dritte Teil der Orestie, in dem der Rechtsstaat installiert wird, fällt beinahe ganz weg, übrig bleibt nur der Chor. Auch in dieser These steht die Inszenierung in Opposition zu Peter Steins Ansatz, bei dem Athene eine der zentralen Figuren war. Athene ist verschwunden, die zentrale Figur ist die blutüberströmte Klytaimestra. Statt der Vernunft sind also die Rache und das Blut der Kern dessen, was erzählt wird. Auch auf den Ebenen von Bühne(nbild) und Figuren (Herold und Amme) wird das antike Theater zitiert. Doch diese Elemente werden als Zitat ausgestellt, gebrochen und damit als überwunden gezeigt (s.u.). Thalheimer führt eine Reihe von Menschen vor, durch die eine archaische Gewalt, die sich gegen alles richtet, hindurch wirkt und am Ende Hoffnungslosigkeit zurück lässt. Es kann kein tragisches Scheitern geben, da jeder Versuch für sinnlos erklärt wird, die Situation zu lösen – alle sind bereits gescheitert. Damit wird implizit auch der Glaube an eine mögliche Verbesserung der Welt durch das Theater negiert. Wirkung ist hier gleichbedeutend mit dem unmittelbaren Sehen und Erleben der Bühne als blutigem Schlachthaus in einem ewigen Kreislauf. Das erste, was der Zuschauer sieht, ist eine Holzwand. Das Bühnenbild verschließt eigentlich die gesamte Bühne. Die Ortsbeschreibung des Anfangs der Orestie lautet »Vor dem Palast«. Hier wird dies in gewisser Weise weiter gedacht, man befindet sich auch ›vor dem Theater‹. Damit wird die Erwartung, die der Zuschauer an das Theater hat, gebrochen. Dieses Theater will etwas anderes zeigen, das sich nicht versteckt, das ganz unmittelbar ist, an die Zuschauer heran kommt. Das Vorstellen und Vorführen sind hier auch wörtlich zu verstehen. Ein Teil der Bühne, ein schmaler Streifen, ist erhöht. Es gibt so zwei Ebenen: auf der oberen Ebene stehen die Herrscher, die anderen Figuren agieren auf der unteren. Doch auch der tote Agamemnon bewegt sich über die untere Ebene. Kassandra und auch Orestes müssen nach oben klettern, die eine in ihren Tod, der andere zum Mord. Die Ebenen können also gewechselt werden, wenn auch nur in Zusammenhang mit dem Tod. Auch die Raumaufteilung ist ein Zitat des antiken Theaters, dort gab es Szenen, die erhöht, auf dem Dach der Bühnengebäude spielten. Doch ist das Zitat zugleich auch eine Brechung. »Die griechische Perspektive ist umgestülpt: Die Zuschauer blicken nicht von den Rängen auf die Skene herab, sondern aus der Parketttiefe leicht steifnackig auf das Zimmermannswerk hinauf.«152 So entsteht auch der Eindruck eines erhöhten Opferaltars. Allerdings fehlt eine Orchestra, der Raum für den Chor, vor der Szene. Der Chor ist auf dem zweiten Rang, im Rücken der Zuschauer, untergebracht. Wenn

152 Wille: Athens beste Jahre. S. 7.

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er zum ersten Mal anhebt, ist dieser ›Theatereffekt‹ sehr wirkungsvoll, da unerwartet. Zudem skandiert der Chor mehr, als dass er spricht. Als Zuschauer kann man den Chor nicht sehen, was seine Bedrohlichkeit noch verstärkt. Auch dadurch gewinnt seine Sprache eine beinahe körperliche Plastizität. Lehmann bezeichnet den Chor dann auch als »böse Gegenmacht«153. In der Verwendung des Chors sieht er eine weitere Auseinandersetzung mit einer Theatertradition, und zwar mit Einar Schleef.154 Bei ihm ist das Chorische, das Kollektive, Ausdruck einer Utopie, doch dieser Chor hier hat nichts Utopisches. Er ist aber auch kein Bote aus einer anderen, archaischen Zeit, dafür ist seine Sprache viel zu klar und sein Ton zu direkt. Er ist vielmehr, sowohl für die Personen auf der Bühne, die sich ihm gegenüber sehen, als auch für die Zuschauer, die ihn im Rücken haben, eine bedrohliche Kollektivmacht, deren Artikulation stellenweise sogar faschistoid wirkt. Die Zuschauer sind zwischen den Akteuren auf der Bühne und dem Chor gefangen. Sie sind mitten im Theater, es gibt kein Entkommen. Diese Situation wird konterkariert, indem die Türen ausgehängt sind bzw. offen bleiben. Dies suggeriert Offenheit – es bedeutet aber auch, dass sich das, was in diesem Theater stattfindet, nicht darauf beschränkt. Der Beginn ist dann auch kaum markiert, das Licht bleibt an, die Türen bleiben geöffnet, man hört Musik, bis der Chor im Rücken der Zuschauer einsetzt. Es ist ›etwas‹ in der Welt – die Gewalt, die Hoffnungslosigkeit –, das so herein gelassen wird und hinaus wirken kann. Auch der Theaterraum ist so kein geschützter Raum mehr. Das antike Theater war ein zur Welt und zu den Göttern offenes, aber eben eines, das sich anders öffnet, eines, das einen Ausweg kannte oder zumindest vordergründig behauptete. Auch hier ist die Ausweglosigkeit zunächst Behauptung, sie gilt nur für die 100 Minuten der Aufführung, wobei die reale Welt nicht vollkommen außen vor bleibt. Die Zuschauer verlassen die Situation, die sie zwischen Bühne und Chor gefangen, eingesperrt gehalten hat, am Ende wieder. Das Theater geht in der nächsten Vorstellung von vorne los, und was nehmen die Zuschauer mit aus den offenen Türen hinaus? Hier schneiden sich die Zeitebenen. Die drei Stücke der Orestie werden quasi ohne Abgrenzung voneinander gespielt. Zwischen Agamemnons Tod und den Choephoren findet allerdings ein Lichtwechsel statt. Das Licht ändert sich zum ersten Mal nach dem Mord an Agamemnon und Kassandra: Bühne und Zuschauerraum verdunkeln sich immer mehr, um am Ende, nachdem sich der Kreislauf von Gewalt und Rache geschlossen hat, wieder erhellt zu werden. Von den Eumeniden ist nur der Chor geblieben. Wille lehnt in seiner Kritik diese Komprimierung polemisch ab:

153 Lehmann, Menke, Hegemann: Tun, Leiden, Lernen #5. 154 Bei gleicher Gelegenheit.

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»Man könnte danach natürlich auch dem Regisseur ein Gericht wünschen, der aus einem fast ausweglosen Konflikt einen überschaubaren Kriminalfall gezimmert hat; der mit seinem Bühnenbildner statt athenischer Draufsicht erhabene Moment auf den Sockel stemmt; dessen Theatergräuelblut nach 100 Minuten rückstandslos abwaschbar ist; der Aischylos’ Vernunftsangebot in einseitig-pathetisches Gefühlstheater stürzt; der seinen gelackten Fatalismus so artig und wirkungsvoll in Form gegossen hat.«155

Diese Polemik geht m.E. an mehreren deutlichen Botschaften der Inszenierung vorbei. Erhabenheit wird von Alltäglichkeit abgelöst. Auf seinem Blutaltar opfert Thalheimer auch das Theater als moralische Anstalt mit einem Glauben an Verbesserung – erhoben wird hier niemand, keine Figur und schon gar kein Zuschauer. Zwar können die Schauspieler das Blut wieder abwaschen, doch von der Bühne kann es eben nicht vollkommen abgewaschen werden, es bleibt immer etwas an der Wand zurück (s. dazu im folgenden Abschnitt über das Blut). Zutreffend ist die Bemerkung über die Vernunft. An diese wird nicht mehr geglaubt, aber das zeigt die Inszenierung in einer stringenten Form auf der Bühne. Gerade deshalb scheinen die Figuren merkwürdig ungespalten und von dem Blut, das sie umgibt, seltsam unberührt. Die Vorgänge auf der Bühne bleiben trotz aller Skepsis, auch dem eigenen Medium gegenüber, immer theatrale Vorgänge – und zwar sehr direkte, plausible und eindrucksvolle, sowohl in ihrer Darstellung als auch in ihrer Wirkung. Implizit richtete sich die gesamte Inszenierung gegen die Erwartung, dass Theater eine schöne und erhebende Wirkung haben soll, dabei aber sicher hinter einer vierten Wand verbleibt. Dieses Theater spielt vor der vierten Wand, hinter dieser, die hier direkt zu sehen ist, liegt ein anderes Theater (auch im Wortsinn die Bühne des Deutschen Theaters mit seiner gesamten Tradition). Blutige Menschen als Täter-Opfer in einer blutigen Welt Blut – das ist das Erste was der Zuschauer auf der Wand sieht und das Blut wird die gesamte Aufführung beherrschen. Auf der Holzwand, die die gesamte Bühne verschließt, klebt Blut. Indem bei jeder Aufführung mehr Blut hinzu kommt und eintrocknet macht die Inszenierung damit auch ihre eigene (Aufführungs-)Geschichte sichtbar. Der zirkuläre Verlauf von Gewalt und Blut, der sich immer wiederholt, fängt mit jeder Vorstellung von vorne an, dabei wird durch das Blut auf der Wand vergegenwärtigt, dass alles bereits schon vorher einmal stattgefunden hat. Damit wird hier auch das Paradox des Theaters von Moment und Wiederholbarkeit im zentralen Bild der Aufführung angedeutet, aber auch der ewige Kreislauf der Gewalt, der nicht durchbrochen wird.

155 Wille: Athens beste Jahre. S. 8.

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Diese Bühne ist wirklich ein »Menschenschlachthaus«, wie Kassandra hellsichtig beschreibt, und zugleich ist sie ein Opferaltar. Klytaimestra betritt die Bühne, um sich einen Kanister Blut über den Kopf zu schütten. Sie stellt so gleichzeitig den theatralen Vorgang aus und zitiert einen Opferritus, der im Text genannt wird. Sie opfert, um für den Sieg der Griechen zu danken, doch klebt dieses Blut auch an ihr. Damit ist auch sie immer schon ein Opfer des Blutes, so wie alle anderen Figuren. Das Blut ist nicht nur das ihrer Opfer, das erst später fließen wird, sondern auch das Blut Iphigenies, der geopferten Tochter, und ihr eigenes. Das Blut ist in der gesamten Inszenierung das Zeichen für die Gewalt, den Mord, den Tod, der durch alle Figuren hindurch geht und sie beherrscht. Denn Götter, denen mit einem Sinn geopfert werden könnte, gibt es nicht mehr. Doch wird auch die doppelte Funktion des Opfers im Text thematisiert. Es gibt Dankopfer, also Opfer für etwas, das geschehen ist, und Bittopfer, also Opfer für etwas, das geschehen soll. Damit befindet sich auch das Bild des Blutes, das hier vom Opfer geblieben ist, in dieser Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, um den Preis der Gegenwart, des Lebens, denn das Töten wird zur Notwendigkeit. Das Blut ist zugleich die Antriebsfeder für das Handeln, das aus den Figuren selber kommt. Deshalb muss die Inszenierung aus ihrer eigenen Logik heraus mit dem Blut beginnen. Dieser Akt der Setzung ist notwendig, kann aber eigentlich nur aus dem begründet werden, was sowohl davor als auch danach liegt. Die Figuren haben diese Rache sozusagen im Blut, sie beherrscht sie. Das wird mit einem theatralen Mittel für den Zuschauer sichtbar gemacht. Alle Figuren gehen durch das Blut und es klebt an ihnen, nicht nur an den Händen. Damit sind alle potenziell schuldig, schon bevor sie sich schuldig gemacht haben. Die Rache hat ihre eigene Mechanik, der die Figuren nicht entkommen können, die durch sie immer weiter wirkt. Blut, das fließt, ist immer ein Zeichen für Verletzung, Tod, Opfer. Unter normalen, unverletzten Umständen ist es nicht sichtbar, sondern in den Körpern. Indem hier gerade dieses Innere nach außen gekehrt wird, wird einer Psychologisierung der Figuren entgegengewirkt. Man sieht worauf es ankommt: das Blut und die Rache, die die Körper immer wieder in Spannung versetzt. Dennoch sind die Figuren alle auch Verletzte und Verlorene. Das Blut verbindet die Figuren miteinander. Orestes kommt nach dem Mord an Aigisthos blutüberströmt auf die Bühne, um seine Mutter zu töten. Einerseits ist dies das Blut der vorhergegangenen Tat, andererseits ist er nur so seiner Mutter Sohn und in der Lage, sie zu töten. Vollkommen blutverschmiert mag man auch an ein neugeborenes Kind denken. Orestes sagt dann auch zu Klytaimestra »Du hast mich geboren«. Hier schließt sich der Kreislauf von Geburt und Tod, aber indem der Sohn die Mutter tötet, die ihn geboren hat – was eine Perversion darstellt, die jedoch aus der Logik der Rache heraus nicht zu vermeiden ist. Nachdem Agamemnon getötet wurde, robbt er den Rest des Abends nackt, langsam, in kleinsten Bewegungen durch das Blut auf dem unteren Teil der Bühne. Er bewegt sich so weiter auf dem blutigen Teppich, geht

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den Weg noch einmal und dabei auch zurück (das Stück spricht von einem »purpurnen Teppich«, auf dem Agamemnon das Haus betritt, in dem er dann ermordet wird. Dieser wird allgemein doppeldeutig gelesen). Dieser blutige Teppich ist kein sicherer Untergrund, die Personen bewegen sich alle vorsichtig, jederzeit können sie auf dem Blut ausrutschen. Dabei ist auch die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten nicht mehr vorhanden. Die tote Klytaimestra bleibt später in diesem Menschenschlachthaus liegen. Aigisthos betritt die Bühne als Toter noch einmal, um mit den anderen Toten dort präsent zu sein. Jeder, der sich auf die Bühne begibt, und noch stärker jeder, der mit anderen Personen auf der Bühne in Berührung kommt, wird unvermeidlich auch blutbesudelt. Das Blut schwappt von der Bühne auf die ersten Reihen des Zuschauerraums. So sind die Zuschauer ganz direkt betroffen.156 Auch für sie gibt es kein Entkommen. Die doppelte Aufladung des Tötens als Mord und als Opfer wird zwar zitiert, hat aber keine Grundlage mehr, da keine Götter mehr vorhanden sind, denen diese Opfer gebracht werden könnten. Die Figuren sind Opfer ihrer selbst und der Gewalt, die sie in sich tragen – eben des omnipräsenten Bluts. Doch diese Art von Opferdasein ist keineswegs psychologisierend zu verstehen. Hans-Thies Lehmann sieht in der Tatsache, dass diese Figuren keine psychologischen Erklärungen für ihr Handeln bieten, eine Parallele zur antiken Tragödie.157 Dennoch sind die Figuren alle zutiefst verwundet, was das Blut zeigt. Doch ist dies eben keine psychologisch erklärende oder gar entschuldigende Begründung für die Taten. Es ist die Gewalt, die ihnen im Blut liegt und sich immer wieder Bahn bricht. Diese ist nicht erklärbar und soll es auch nicht sein. Bernd Stegemann beschreibt die Figuren bei Thalheimer prinzipiell als »Hochdruck-Figuren, deren Hemmungen mehr Einblicke in ihre Innenwelt erlauben, als jede schauspielerische Expressivität.«158 Auch die Figuren in der Orestie scheinen wirklich unter einem Druck zu stehen, sie krümmen sich, zittern, können nicht still stehen. Es ist etwas in ihnen, das seinen Weg nach außen sucht. Doch dieser Druck, der einerseits Ausdruck für das Leiden ist, wird andererseits in der Gewalt kanalisiert und nach außen getragen. Das eindrücklichste Beispiel ist Constanze Beckers Klytaimestra, die bei der Erwähnung der Tochter Iphigenie zitternd am Boden kauert, um dann mit dem Chor gemeinsam den Fluch heraus zu schreien. Auch dieser Schrei geht durch den gesamten Körper. Das, was von der Tragödie bleibt, ist das Blut. Doch auch hier findet sich eine Paradoxie, denn exzessive Gewaltdarstellungen waren auf den attischen Bühnen keineswegs an der Tagesordnung. Diese Archaik wird hier mit einer gegenwärtigen Alltäglichkeit verknüpft, in die hinein sich das Prinzip der Gewalt fortsetzt. Klytaimestra überschüttet sich nicht nur mit

156 Auch wenn das Theater in den ersten Reihen Plastikfolien zum Schutz verteilt. 157 Lehmann, Menke, Hegemann: Tun, Leiden, Lernen #5. 158 Stegemann: Nach der Postdramatik. S. 17.

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Blut, kurz danach trinkt sie Bier, isst ein Brötchen, raucht. Sie beschäftigt sich wartend mit den alltäglichsten Vorgängen. Nachdem Agamemnon tot ist, köpft sie eine Sektflasche. Doch das Bier, und vor allem den Sekt, schüttet sie sich über den Kopf, wie zuvor das Blut. Auch Kassandra gießt sie mit den Worten »Beuge deinen Stolz« zunächst Bier und nicht etwa Blut über den Kopf. So wird das Blut im Rückschluss alltäglich und zum Grundnahrungsmittel. Aus ihm nährt sich die Rache. Es kommt aus den Personen selber etwas, das sie nicht einordnen können, das neben der Alltäglichkeit mit grundlegenden menschlichen Reflexen verbunden wird. Dies ist die einzige Erklärung, die übrig bleibt, denn Götter gibt es keine mehr und auch der Sprache steht die Aufführung skeptisch gegenüber. Diese anthropologischen Grundsätzlichkeiten illustriert die Inszenierung in direkten, körperlichen Theaterbildern. Orestes macht sich aus Angst in die Hose. Agamemnon kann seine Frau nur mit Sex, aber teilnahmslos und beiläufig, gleichzeitig jedoch gewalttätig, begrüßen. Das ist die Ebene, auf der die Beziehungen hier funktionieren. Die Figuren sind an unterschiedlichen Momenten der Aufführung zudem alle mehr oder weniger nackt. Nichts wird mehr verborgen, das Blut klebt direkt an ihren Körpern. Den blutverschmierten Figuren stehen die Figuren von Herold und Amme (vom selben Schauspieler verkörpert) entgegen. Sie kommen kalkweiß aus einer anderen Welt und versuchen auf angedeuteten Kothurnen durch das Blut zu gehen. Sie sind die einzigen Figuren, die nicht töten oder getötet werden. Damit bleiben sie außen vor, doch auch unter ihren Füßen ist das Blut. Es gibt kein wirkliches Entkommen. Diese beiden Figuren sind auch äußerlich von den anderen abgegrenzt. Die Handelnden tragen alle heutige Kostüme, diese beiden Figuren sind durch Kostüm und Maske sowie die Spielweise ironisch als alte Tragödienfiguren gekennzeichnet. Sie sind Boten. Die Tragödie lebt auch vom Bericht und von der Sprache, von der sich die Inszenierung in dieser Darstellung distanziert. Was jetzt und heute zentral ist, ist das Handeln159, nicht mehr die Sprache. Diese Vertreter der klassischen Tragödie können nur noch als Zitat und Wiedergänger, und dabei auch noch ironisch gebrochen, auf diesem Theater auftreten, das sich auch mit der Theatergeschichte und ihren Mythen auseinandersetzt. So werden sie auch in kleinen Gesten abgegrenzt. Der Bote versucht sich eine Zigarette anzuzünden, was ihm nicht gelingen will – während die anderen Figuren Klytaimestra, Agamemnon, Aigisthos öfter rauchen. In dieser Gegenwärtigkeit kann diese Figur nicht ankommen. Ebenso wie er auf der unteren Ebene verbleiben muss. Die Figur der Amme leiert ihren Text geradezu herunter, hier hat die Sprache jegliche Bedeutung und Gewalt verloren, ist nur noch ein Nachklang von dem, was sie sein kann (z.B. beim Chor). Die andere Figur, die eigentlich über Sprache funktioniert, ist Kassandra. Dieser Figur ist die Sprachskepsis bereits im Mythos einge-

159 Hans-Thies Lehmann spricht auch davon, dass Thalheimer die Stücke auf das ›Drama‹ reduziert und dieses dann mit Theatermitteln füllt.

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schrieben. Durch ihren Betrug an Apollon sieht sie zwar die Zukunft voraus, doch keiner glaubt ihr mehr – so antike Tragödie und Überlieferung. Nachdem Kassandra hier ihren eigenen Tod voraus gesehen und ihren Monolog in einem sehr theatralen Moment gehalten hat, beißt sie sich die Zunge ab und wirft diese auf die Bühne, in den Teppich aus Blut. Stumm geht sie in den Tod. Sprechen ist ihr durch ihr eigenes Tun physisch unmöglich geworden. Das ist für Kassandra der eigentliche Tod, das eigentliche Opfer. Sie fügt es sich hier selber zu. Der physische Tod ist damit entwertet, denn sterben müssen alle Figuren, ob nun früher oder später ist eher unerheblich, wie immer wieder formuliert wird. Die Atriden sind nicht wirklich als tot oder lebendig zu erkennen, für sie und ihren ewigen Kreislauf von Rache macht es auch keinen Unterschied. Doch Kassandra entzieht sich dem, indem sie ihre Sprache tötet, denn das macht die Figur stumm und damit beraubt sie sich ihrer eigenen Realität. Die hellsichtige Sprache Kassandras kann so jedoch auch nicht in den Kreislauf eingehen, in dem die Toten aufgehoben sind und der die Lebenden antreibt. So wird ein mögliches Element des Lernens ausgeschaltet, denn Kassandras Prophezeiungen wären ein solches. Zentral für den Umgang mit der Sprache ist auch der Chor, der hier aus reiner Sprache besteht. Die Figuren schauen von Zeit zu Zeit zum Chor, doch mit ihm steht ihnen eine weitere Wand entgegen. Dieser Chor ist kein Mittler, kein Ratgeber und keine Hilfe so wie in der Antike. Sympathie zeigt er für niemanden und Weisheit lässt er kaum erkennen. Er macht im Wortsinn Ansagen, die dem, was auf der Bühne ist, manchmal entgegenstehen, was zu bitterster Ironie führt, manchmal aber auch mit dem Bühnengeschehen korrespondieren. Es donnern Sätze über die Köpfe der Zuschauer den Figuren entgegen, der zentrale Satz »Tun, Leiden, Lernen«, das göttliche Gesetz, wird mehrmals wiederholt, eingehämmert. Doch es gibt keine Götter mehr, wie kann dann ein göttliches Gesetz Gültigkeit besitzen? Und auch der Chor ist keiner, der seinerseits lernen kann. Er verkündet Sätze, die so hermetisch wirken, dass auch in dieser Sprache keine Hoffnung auf Erlösung liegt. Die Figuren auf der Bühne schauen immer wieder nach oben zu diesem Chor wie zu den nicht mehr vorhandenen Göttern, deren Sätze der Chor verkündet. Der Chor ist damit ein Relikt der alten Ordnung, die auf der Sprache gründete. Doch fallen Handlung und Chor an einigen Stellen wieder zusammen. Als Klytaimestra sich das Blut über den Kopf gießt, spricht der Chor von einem »Blutopfer«. In die Verkündung eines Fluches, der über dem Haus der Atriden liegt, stimmt Klytaimestra mit ein, hier schreit sie dieses Wort mit dem Chor gemeinsam. Damit wird hier in einer Sprache, die in ihrer Kraft etwas Körperliches hat, das artikuliert, was sonst in den Körpern ist. Auch spricht der Chor nach dem Mord an Klytaimestra und Aigisthos vom Licht: »Nun ist wieder Licht zu sehen«. Daraufhin werden Bühne und Zuschauerraum wieder hell. Langsam wird das Licht immer stärker. Damit schließt sich auch ein Kreis zum Beginn, der ebenso hell erleuchtet war.

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Doch legt dieses Licht nicht nur etwas frei, in dieser Helligkeit verschwinden auch die Schatten und Zwischentöne. Der Masse wird hier misstraut, indem dieses Element des Kollektivs derart hermetisch dargestellt wird. Damit ist der Chor zugleich auch eine Absage an moderne Formen der Kollektivität. Das letzte Wort gehört dem Chor aus den Eumeniden, es dröhnt »Frieden für immer!« Der Satz hört sich mehr nach einer Drohung an als nach einer Prophezeiung. Das Ende – kein Lernen, kein Ausweg Dieses Ende ist bittere Ironie, der Satz wird hart skandiert, mehrfach wiederholt, sogar noch nachdem das Licht – das erste Mal am ganzen Abend komplett – ausgegangen ist. Allein in der Art und Weise, in der dieser Satz vorgetragen wird, liegt keinerlei Frieden, im Gegenteil. Zudem zeigt der gesamte Abend, dass es keinen Frieden geben kann, dass der Chor dies trotzdem verkündet zeigt, wie er der Handlung entgegensteht. Für Lehmann ist der einzige Frieden, der möglich wäre, der im Tod.160 Doch auch die tote Klytaimestra klagt Frieden ein, den sie nicht hat. Tod und Leben sind hier bei den Figuren, um die es geht, die gegenwärtig sind und keine Relikte einer vergangenen (Theater-)Tradition, nicht mehr zu unterscheiden. Eben aus diesem Grund hier ein kleiner Widerspruch zu Lehmanns These: auch der Tod ist kein Frieden. Die Toten kommen nicht zur Ruhe und schon gar nicht ruhen sie in Frieden. Es gibt keine Instanz mehr, bei der man dies einklagen könnte. »Der Himmel ist leer. Am Ende kauert Orestes mutterseelenallein auf dem Boden, unerlöst.«161 Aber auch Klytaimestra klagt als Tote ihr Leid: »So hört mich doch! Es geht um mich, um meine Seele« ruft sie. Solange sie nicht gerächt wird, glaubt sie auch als Tote keine Ruhe finden zu können. Rache und Gewalt erweisen sich so sogar als stärker als der Tod. Aber wem ruft sie das zu? Denn die Götter, oder gar Athene, die die Blutrache durch ein Rechtssystem ersetzt, gibt es nicht mehr. Dennoch sagt Orestes, nachdem er wimmernd nach Apollon und Athene gerufen hat, die jedoch nie kommen werden: »Hier bleib ich und warte auf den Ausgang« – aber es kommt nichts mehr, man hat den Eindruck er wird dort für immer sitzen, tot oder lebendig. Er spricht den zentralen Satz »Tun, Leiden, Lernen« immer wieder vor sich hin, versucht ihn sich wörtlich in seinen Kopf einzuhämmern. Dabei bleibt ihm vor allem das Lernen letztlich fremd. Auch eine neue Gesellschaftsordnung wird es nicht geben. Denn dieses Bild von Orestes, der zwischen den Toten sitzt und wartet, ist alles, was von den Eumeniden geblieben ist, der Rest ist gestrichen. Es gibt keine Athene – auch das eine Abgrenzung zu Peter Stein, bei dem Athene eine zentrale Fi160 Lehmann, Menke, Hegemann: Tun, Leiden, Lernen #5. 161 Begründung der Jury zur Einladung der Orestie zum Berliner Theatertreffen 2007. Zitiert nach Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 192.

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gur war –, es gibt keinen Areopag und es gibt damit keinen Rechtsstaat, der die Blutrache überwindet. In einer Publikumsdiskussion darauf angesprochen hat Thalheimer geäußert, er glaube nicht an die Demokratie.162 In dieser radikalen Ablehnung vernachlässigt die Inszenierung m.E. die Sprengkraft, die gerade in diesem letzten Teil auch verborgen ist. Dort wird keine Gegenordnung gesetzt, sondern die alte Ordnung in die neue einbezogen. Die Eumeniden sind die Erinnyen, ihre Funktion wird geändert, aber nichts von dem, was vorher war, wird negiert oder vergessen. Das Blutrecht bleibt als tiefere Schicht der neuen Gesellschaft präsent, wird jedoch verdeckt, während diese Inszenierung expressiv und explizit frei legt. Hier liegt eine ambige Spannung, die ihrerseits Anlass zur Tragödie geben kann. Der Umgang mit dem Stück und auch mit der Tragödie ist in dieser Inszenierung eine Darstellung von Gewalt, Rache und Blut ohne Ausweg. Es wird nicht gelernt, aber viel getan – aber wie sieht es mit dem Leiden aus? Die Figuren leiden, aber woran? An sich selber und an der ewigen Rache. Das Tun reduziert sich dabei auf eine basale Ebene. Am Ende bleiben Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Verlorenheit und Ratlosigkeit. Die Jury des Theatertreffens sah darin das »Bildnis des modernen Menschen.«163 Lehmann sah in der Deutungslosigkeit, der Nicht-Psychologisierung eben die Archaik, die Parallelität zur Tragödie. Was auf jeden Fall bleibt, ist die Verlorenheit des einzelnen Menschen. »In Thalheimers erbarmungsloser Sicht ist die Menschheit eine Blutsbande, die aus der eigenen Geschichte nichts lernt und heillos darin verstrickt bleibt. Es gibt keine Gnade von oben, keine Erlösung.«164 Es bleiben Einsamkeit der Lebenden und der Toten – Orestes und Klytaimestra sind am Ende in der gleichen Position. Täter und Täterin, beide Opfer der Rache. Tote und Lebende sind auf der Bühne nicht mehr zu unterscheiden, blutverschmiert sind sie alle und auch ihre Sprache ist gleich. Waren sie schon vorher tot oder werden sie ewig weiter leben? Es gibt keine transzendente Ebene, aber auch die Figuren scheinen eigentümlich ungebrochen. Sie kennen keine Geheimnisse, die Figuren sind so wie sie sind, reflektiert wird von ihnen selber wenig. Doch gerade so liegt Spannung in den Figuren selber, vor allem in ihrem Blut, das sie immer weiter zur Rache treibt – in aller Alltäglichkeit.

162 Bei der Podiumsdiskussion im Rahmen der Konferenz Antike Tragödie Heute (2.-4.3.2007) am 3.3.2007. Die Frage ist jedoch, ob die Ordnung des Areopag eine demokratische darstellte - es handelt sich vielmehr um den Rechtsstaat. 163 Begründung der Jury zur Einladung der Orestie zum Berliner Theatertreffen 2007. Zitiert nach Fischer-Lichte & Dreyer (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. S. 192. 164 Dössel, Christine: In Blutgewittern. Michael Thalheimer inszeniert »Die Orestie« von Aischylos (zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 28.9.2006). Zitiert nach Fischer-Lichte & Dreyer: Antike Tragödie Heute S. 189-191. hier S. 191.

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Die These, die hier aufgestellt wird – und in ihrer theatralen Darstellung konsequent und einleuchtend ist –, ist ebenso entschieden wie der Optimismus, die Erhabenheit, die abgelehnt wird, und zwar genau entgegengesetzt im Pessimismus und der Behauptung, dass das Schlachten immer weiter gehen wird. Wenn es keine Hoffnung und keine Unberechenbarkeit gibt, dann ist auch kein (tragisches) Scheitern möglich. Es sei denn, jeder Versuch zu handeln ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – dies wäre die Radikalisierung der Tragödie an sich.

K OLLEKTIVE F REMDHEIT HEUTE – V OLKER 165 INSZENIERT M EDEA NACH E URIPIDES

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Während sowohl Thalheimer als auch Gotscheff auf je spezifische Art in die Archaik der griechischen Tragödien hineingehen und diese auf dem Theater in der Gegenwart behaupten, geht die Inszenierung von Volker Lösch den umgekehrten Weg. Er trägt die Gegenwart, das Heute, den Alltag in die Tragödie hinein. Der zentrale Anknüpfungspunkt dafür ist Fremdheit. Medea, die Barbarin in der Kultur der Griechen, wird verbunden mit dem Phänomen, das heute Fremdheit ausdrückt und welches Lösch direkt in der Stadt, in der die Inszenierung entsteht, vorfindet: mit den Kindern der Gastarbeiter. Neben dieser Problematik spielt die Frage nach der Identität und der Position von Frauen in einer Männergesellschaft eine wichtige Rolle, denn Medea erzählt auch die Geschichte einer Ehe. Der Medea-Chor besteht deshalb aus 16 türkischstämmigen Frauen. Den Ansatz dieses Experiments beschreibt das Programmheft folgendermaßen: »MEDEA, die Tragödie, in der das Fremdsein ein wesentliches Konfliktfeld ist, zu verbinden mit einer Recherche innerhalb der Stadt, stand als Idee am Anfang unserer Vorbereitung. Kann man an den alten Text aktuelle Erfahrungen knüpfen, die das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalitäten thematisieren? Wäre es möglich, die Figur Medea in einem vielköpfigen türkisch-deutschen Frauenchor zu vervielfachen, der das einzelne repräsentative Tragödienschicksal vervielfältigt, in seine konkreten Bestandteile zerlegt, in das Alltagsleben also, das jede dieser Frauen lebt und das geprägt ist von dem Widerstreit zwischen Traditionen und nicht normierten Lebensformen, von biographischen Rissen, von negativen und positiven Integrationserfahrungen, von Gewalterlebnissen innerhalb der Familie und der Gesellschaft.«166

165 Staatstheater Stuttgart, Spielzeit 2006/2007. Premiere am 26.5.2007. 166 Staatstheater Stuttgart (Hrsg.): Medea. Programmheft. S. 11-12.

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So wird der Mythos zum Anknüpfungspunkt für eine Analyse und Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft. »Das in der Tragödie gespiegelte Beziehungsmodell wird in das Gegenwärtige, Konkrete transportiert.«167 Dieser Ansatz wird bereits im Programmheft als Behauptung bezeichnet. Die Frage dabei ist, bleibt dies dann tragisch, wird die Gegenwart damit tragisch oder wird die Tragödie auf Gegenwart herunter gebrochen? Ist der Mythos nur noch Assoziationsangebot oder wird er produktiv (mit)verwendet? Die Aufführung zeigt, dass die Behauptung eine solche bleibt. Der Medea-Stoff und die konkreten Geschichten werden nicht zu einem organischen Gewebe, zu einem wirklichen gemeinsamen Text. Zwei Seiten einer Realität, getrennt durch eine Wand Der Abend beginnt, indem sich die Bühne dreht und mit ihr eine Wand, die diese in zwei Hälften teilt. Getrennt und doch zusammen, das ist eine Metapher für die Situation in den beiden Kulturen, in der sich die Frauen befinden, die so auch ins Räumliche übertragen wird. Die Bühne dreht sich den ganzen Abend, dabei teilt sie auch den Kollektivteil, den Chor der Frauen, und die Medea-Handlung voneinander. So ist der eine Teil auch immer im Hintergrund des anderen und damit unsichtbar präsent. »Doch die raumfüllende graue, sich fast ständig um die Mittelachse drehende Wand (Bühne: Carola Reuther) trennt nicht nur zwei Lebenswelten, sie ist auch nahezu undurchlässig für den Wechsel zwischen Klassikertext und transkribierten Interviews.«168 Zu Beginn hört man orientalische Musik und die Frauen tauchen fröhlich tanzend, lachend, feiernd aus der Dunkelheit auf. Sie werden so aus ihrem Schattendasein, von dem sie teilweise später berichten werden, wortwörtlich auf die Bühne geholt. Das Fremde wird hier durchaus auch positiv eingeführt, indem eben ein fröhliches Bild auf der Bühne entsteht. So versucht die Aufführung alle Aspekte der in Deutschland fremden, türkischen Kultur zu zeigen. Das beherrschende Bild der sich drehenden Bühne repräsentiert auch Wiederholung, einen Kreislauf, der am Ende nicht durchbrochen wird. Das Ende entspricht dem Anfang – die gleiche Musik, das gleiche Bild –, doch verschwindet es nun in der Dunkelheit. Dies ist auch als (unbeabsichtigt?) skeptischer Kommentar zu diesem Abend lesbar. Eine der grundlegenden Überlegungen war: »Was wäre also, wenn die Bühne besetzt würde von denen, die sonst auf den sogenannten Inseln der Hochkultur nur flüchtig anzutreffen sind, wenn sie, zu Protagonisten avanciert, sich den Raum nähmen, ihre Geschichte zu erzählen?«169 Doch ist dies nur für die gut eineinhalb Stunden des Theaterabends möglich, was davon bleibt und auf das Pub167 Ebenda. 168 Jüttner: «Oh, du arabisches Rassenweib». S. 51. 169 Staattheater Stuttgart (Hrsg.): Medea. Programmheft. S. 11.

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likum wirken kann, bleibt unklar. Was bleibt beim Publikum? Der Anspruch dieses Theaters ist ein extrem politischer. Es ist immer der Versuch, die gesellschaftliche Realität kritisch zu beleuchten, indem sie auf die Bühne gebracht wird. Doch auch diese Realität hat etwas von der Drehbühne. Sie geht immer weiter und zeitweilig wird die eine Hälfte hinter die Wand geschoben. Das Theater ist hier das Mittel, dem entgegenzuwirken und vielleicht in diesem Anspruch auch Mittel einer Utopie. Der Chor der heutigen Frauen Die Frauen sprechen von ihrem Leben, die Texte sind eigene, sie berichten von ihrer Erfahrung. Die vorherrschenden Themen sind die von Fremdheit in beiden Kulturen, Suche nach einer eignen Identität, aber auch Moral und Werte der Familie und die Position der Frau in dieser Gesellschaft. Dabei werden sowohl positive, aber vor allem negative Erfahrungen, die auch Gewalt gegen die Frauen beinhalten, geschildert. Hier wird diese Realität auf die Bühne geholt. Im Chorischen bekommt sie dabei einen Aspekt von Kunst und Theater, doch bleibt immer deutlich, dass hier etwas aus der Alltags-Realität erzählt wird. Das Chorische ist hier paradox, denn indem eine persönliche Erfahrung kollektiv vorgetragen wird, verliert sie auch Authentizität, doch zugleich bekommt sie mehr Gewicht. Die Stimmen, die sich hier in einem Chor zusammenfinden, sind zugleich Einzelschicksale und Repräsentantinnen einer Gruppe in der Gesellschaft. So sind ihre Texte dann auch zugleich persönlich und politisch, indem das Persönliche als Teil des Politischen dargestellt wird. Der Chor besteht aus 16 deutsch-türkischen Frauen. Sie sind Frauen aus der Stadt, in der das Theater stattfindet, und damit dem Chor in der attischen Tragödie nicht unähnlich, denn auch dieser bestand aus Bürgern. Doch sind diese Frauen keine Bürger, die an einer Kulthandlung für die Stadt teilnehmen, sie sprechen hier in ihrer eigenen Sache. Zudem sind sie die Fremden in der Stadt. Es geht nicht um eine Verbindung zwischen Bühne und Publikum durch den Chor, sondern um das Zeigen einer Realität, die das Publikum (die eigentlichen Bürger) als solche zum Großteil nicht wahrnimmt, obwohl sie direkt vor ihrer Haustür stattfindet. Die andere Seite ist damit eben nicht mythisch oder geheimnisvoll, sondern eine Wirklichkeit, vor der das Publikum die Augen verschließt. Der Chor bringt diese auf die Bühne und nicht einen Mythos. Er ordnet das Geschehen nicht mehr in einen größeren Zusammenhang ein, sondern ist selber der Zusammenhang. Medea ist der Chor. Die Frauen sprechen zum Teil Texte der Medeafigur, einzelne Stimmen lösen sich kurzfristig aus ihm, aber nur um wieder in ihn zurück zu kehren. In den Konfrontationen mit Jason und Kreon gehen drei Schauspielerinnen (eben keine Laien) aus dem Chor hervor. Sie kehren jedoch nach jeder Szene wieder in ihn zurück. Jason versucht in einer der letzten Szenen die einzelnen Schauspielerinnen aus der Gruppe zu lösen, eine Ansprech-/Anspielpartnerin zu finden, dies verweigern sie ihm vehe-

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ment. So ist das Kollektiv auch eine Möglichkeit, die Frage nach Schuld oder zumindest Verantwortung und Zurechenbarkeit für die Taten zu umgehen. In der Masse sind die Frauen auch für die einzelnen Männer, die ihr entgegenstehen, eine Bedrohung. Die physische Gewalt gegen die Frauen, von der immer auch wieder die Rede ist, wird hier in eine physische Präsenz der Frauen umgewandelt, gegen die die Männer nicht mehr ankommen. Die Medeafiguren kommen immer aus dem Chor heraus, genau dadurch sind sie jedoch rein heutige Figuren. Die Szenen, die dem Euripides-Text entstammen, und die anderen Szenen kommen nie wirklich zusammen. Es sind einzelne Schlagworte und Assoziationen, die verwendet werden, aber es wird keine wirklich These (auch keine inszenatorische) zu Medea vorgestellt. Es stellt sich die Frage, ob durch die Verknüpfung mit dem Medea-Stoff die Gegenwart, die hier auf die Bühne geholt wird, mythisiert wird. Das ist jedoch nicht die Absicht dieses Theaters. Es geht auch hier um zwei Seiten, doch sind dies immer zwei Seiten der gleichen Realität, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen, im Rücken, im blinden Fleck des anderen sind und hier zusammen gebracht werden. Die Wand sollte eigentlich durchbrochen werden, aber sie dreht sich nur, die Trennung wird nicht aufgehoben. Die authentischen Geschichten sind vor allem Ausdruck einer direkten Realität. Doch indem sie chorisch vorgetragen werden, gewinnen sie auch ein Maß an künstlerischer Gebrochenheit. Sie werden zu einem Allgemeingut, zunächst im Kollektiv des Frauenchors und dann auch in der gemeinsamen Erfahrung mit den Zuschauern. Gerade in diesem Bestreben um Authentizität und deren direkter Erfahrung auf der Bühne verschwindet jedoch das Persönliche. Medea, Kreon, Jason – Figuren der attischen Tragödie? Medea, die Figur, die als eine der ersten der Theatergeschichte auch und vor allem einen persönlichen Konflikt in sich trägt – das Programmheft stellt diese These explizit auf170 –, kommt als Figur, die direkte, persönliche Töne auf die Bühne und an die Zuschauer heranbringen könnte, nicht vor. Medea verbleibt im Kollektiv des Chors oder in den drei Schauspielerinnen – also einem Minikollektiv –, die diese Rolle verkörpern. Dem gegenüber stehen die beiden Männerfiguren Jason und Kreon, die anderen Figuren, wie die Amme oder auch Egeus sind gestrichen. Indem die Amme gestrichen ist und der Chor, der bei Euripides zumindest zu Beginn Medea wohlwollend gegenüber steht, hier Medea selber ist, ist die Position Medeas, auch wenn sie in einem Kollektiv aufgehoben ist, von Beginn an einsam. Es gibt keine Hilfe von außen für Medea. Angesichts der beiden Figuren, die ihr gegenüber stehen, scheint dies aber auch nicht notwendig.

170 Vgl. Staatstheater Stuttgart (Hrsg.): Medea. Programmheft. S. 9.

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Doch lässt sich hier möglicherweise eine Aufforderung an das Publikum ableiten, sich auf Medeas Seite zu stellen. Eine göttliche Instanz, die bei Euripides zumindest am Ende der Drachenwagen Sols repräsentiert, liegt außerhalb des Interesses der Inszenierung. Hier wird der Mythos benutzt, um die Gegenwart zu beleuchten, doch wird dies gerade nicht getan, indem die Fremdheit ausgestellt wird, sondern das, was einen Anknüpfungspunkt für das Heute bieten kann, wird aus dem Zusammenhang herausgelöst. So gehen dann die Bruchstücke des MedeaTextes in die Berichte der Frauen über, und Kreon, der den Typus des Staatsmanns repräsentiert, also auch keine wirkliche Figur auf dem Theater ist, kann politisch gefärbte Reden über Islam und Islamismus halten. Dabei ist die Rede geprägt von Klischees, ganz entsprechend der Typisierung der Figur. Jason hingegen ist der Privatmann, auch er ein Typ und kein Charakter. Beide sind damit, obwohl zunächst als einzelne Figuren auf der Bühne präsent, auch Repräsentanten von gesellschaftlichen Strömungen, denen sich die Frauen gegenüber sehen. Versucht man diese beiden Bühnenfiguren an den alten Text zurückzubinden, sind sie in ihrer Typisierung möglicherweise Fortschreibungen von etwas, das sich auch in diesen alten Figuren finden lässt. Da die Männer diesem Kollektiv gegenüber stehen, sind sie keine wirkliche Bedrohung, allein die physische Präsenz des Chors steht dem entgegen. Andererseits werden die Konflikte des Medea-Dramas dann in Szenen ohne den Chor ausgetragen. Hier übernehmen die Schauspieler das Geschehen von den Laien, jedoch gehen auch die drei Schauspielerinnen immer wieder im Chor auf. Während die Geschichten, die der Chor erzählt – chorisch, aber auch als einzelne herausgelöste Stimmen –, solche von persönlichen Fragen nach Identität und Zugehörigkeit in zwei Kulturen sind (es heißt kurz nacheinander »Ich fühle mich wohl in beiden Kulturen« und dann »Ich bin fremd in beiden Kulturen«), redet Kreon in allgemeinen Phrasen. Auch repräsentiert er einen Staat, der versucht die Frage nach der kulturellen Identität in Form von Fragebögen zu standardisieren. Man sieht ihn, wie er einer Frau Fragen aus dem Einbürgerungstest stellt, zunächst vor allem solche, die auf Islamismus abzielen, dann jedoch auch diejenigen nach deutschen Philosophen. Die Frau, die vor der Wand sitzt, kann auf diesen Versuch Kreons nur mit Lachen reagieren. Denn hinter der Wand befindet sich die heterogene Menge der Frauen, die sich eben nicht standardisieren lässt, sondern jede für sich ein einzelnes, individuelles Schicksal und eine eigene Antwort auf die Fragen nach der kulturellen Identität hat. Dieser heutige politische Vorgang, der sich mit der Frage nach dem Recht in diesem Land zu bleiben befasst, wird dann mit der Verbannung Medeas durch Kreon, also die Ausübung genau dieser Macht, in Verbindung gebracht. Doch ist Kreon bei Euripides ein Herrscher, der seine Macht alleine ausübt, während die Einbürgerungstests, die als Beispiel verwendet werden, Ausdruck und gemeinsamer Beschluss

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der demokratischen Organe sind. Sie sind Gesetze eines Rechtsstaats und keine Willkür – auch wenn die Praxis manchmal so scheinen mag. Auch die Verbannungsszene findet zwischen den Schauspielerinnen und Kreon statt und nicht mit dem gesamten Chor. Im Unterschied zu den Deutsch-Türkinnen, die sich keiner und zugleich beiden Kulturen zugehörig fühlen, weiß Medea genau wer sie ist und wo ihre Heimat ist. Zudem ist ihr Exil zunächst ein freiwilliges, denn durch ihre eigenen Taten hat sie die Rückkehr in die Heimat unmöglich gemacht. Für die Griechen bleibt sie eine Barbarin. Das moderne Konzept und Problemfeld der Integration ist auf die Griechen nicht zurück übertragbar. Die Bühne dreht sich auch hier wieder und zum Vorschein kommt der Frauenchor, der an Klageweiber erinnernd den Text über die Verbannung »Kein Unglück ist größer als aus der Heimat verbannt zu sein« spricht. Jason beteiligt sich am Anfang an dem Ausgelassensein der Frauen, er lässt sich durchaus in ihr fröhliches Tanzen und Feiern mit hineinziehen. Jason holt einzelne Frauen aus der Menge und stellt sie dem Publikum quasi vor: »Das ist meine Medea«. Jede dieser Frauen ist also eine Medea. Zudem ist Jason ein Macho, der seine Frau als Besitz vorführt. Diesem Klischee entsprechend verhält er sich und argumentiert auch in der Szene, in der er Medea die Gründe für seine zweite Ehe darlegt. Er spricht in Plattitüden, die einem Umgang mit Frauen entsprechen, der ebenso wie die Frage nach Fremdheit in den Texten der Frauen immer wieder vorkommt. Dabei wird neben den Vorurteilen immer wieder eine Doppelmoral auch der eigenen Familien und Landsleute deutlich. Hier liegt eine Diskrepanz zum MedeaStoff, denn mit einer Doppelmoral, die ihre eigenen Landsleute ihr entgegenbringen, muss sich Medea nicht befassen. Medea in dieser Aufführung hingegen spricht zunächst Türkisch, die fremde Sprache, die Jason offensichtlich nicht versteht. Damit ist die Sprache auch eine Ausprägung des Anderen, denn die Frauen sprechen beide Sprachen, doch die Männer nur ihre eigene. Die Szenen zwischen Jason, Kreon und Medea sind ebenso gegenwärtig. Jason spielt mit den Kindern Fußball. Nachdem Medea verbannt worden ist, packt sie – in Verdreifachung – ihre Koffer während Jason Umzugskartons bringt. Hier scheint Jason beinahe hilflos und lächerlich, in diesem Bemühen zu helfen. Die drei Medeas erzählen alle die gleiche Geschichte, nacheinander sprechen sie den selben Text. Jede auf eine andere Art. Hier wird also die professionelle Fähigkeit der Schauspielerinnen, diese Texte so unterschiedlich zu sprechen, ebenso verwendet wie der kollektive Chor der Laien, um zu zeigen, dass es sich um eine Geschichte handelt, die sich immer wiederholt und zugleich immer eine individuelle Geschichte ist. In der Konfrontation mit Jason wird Medeas Macht vom Chor körperlich demonstriert. Jason sieht sich einer Wand gegenüber, die Frauen schließen sich enger zusammen und drängen ihn am Ende von der Bühne.

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Auch der Mordplan wird im Kollektiv gefasst und chorisch vorgetragen, da dieses Kollektiv das Kraftzentrum von Medeas Macht ist. Kreon spricht über Verbrechen und Terrorismus. Auch Medea begeht Verbrechen, zunächst den Mord an Kreusa und dann als Steigerung den Mord an ihren eigenen Kindern, also an unschuldigen Opfern. Die Frage, ob der Kindermord hier als Akt des Terrorismus gedeutet wird oder auch in Verbindung mit Ehrenmorden, die durchaus erwähnt werden, steht, wird jedoch nicht weiter ausgeführt. Hier scheut sich die Inszenierung ihren eigenen Ansatz konsequent bis zum Ende weiter zu verfolgen. Dass gerade die Frage des Kindermordes nicht wirklich behandelt wird, ist auch ein Ausweichen vor der Größe und Monstrosität der Tat, die einer anderen Dimension als der heutigen, die diese Inszenierung sucht, angehört. Das Kollektiv der Frauen ist hier auch ein Mittel, der Frage nach der Zurechenbarkeit der Gewalt, nach Schuld und Verantwortung auszuweichen. Nachdem der Kindermord beschlossen wurde, wird dieser kontrastiert mit dem konkreten Bericht von Gewalt gegen eine der Frauen. Die Bühne dreht sich die ganze Zeit, auf der einen Seite der Wand befindet sich die einzelne Frau, die diese Geschichte erzählt, auch immer wieder neu anfängt, während sich die Bühne dreht und auf der anderen Seite befinden sich alle Frauen gemeinsam. Damit handelt es sich nicht nur um einen Kreislauf der Gewalt, sondern auch um etwas, das für alle gilt. Die eine Stimme, die hier herausgelöst wird, ist nur repräsentativ, könnte jede sein, deshalb bleibt sie auch im Schatten. Aber auch hier wird nicht konsequent bis zum Ende eine Parallele deutlich. Setzt sich Gewalt gegen Frauen in dem Kindermord fort? Auch dieses wäre eine sehr radikale These, der die Inszenierung ausweicht. Die Gewalt des Kindermordes ist wieder nur ein Anlass, diese Geschichte auf die Bühne zu bringen und verbindet sich nicht mit dem Medea-Stoff. Als Kreon Medea als Mörderin anklagt, drehen alle Frauen die Wand während sie schreien, hier versuchen sie Kreon keinen Platz mehr einzuräumen, ihn so zu besiegen, wie er durch den Tod der Tochter besiegt wurde. Nach dem Bericht über den Tod, bei dem dann wieder die drei Medeas anwesend sind, bleibt Kreon allein auf der Bühne zurück. Dies ist eine Abweichung von Euripides’ Stück, denn dort stirbt Kreon mit Kreusa. Indem er hier am Leben bleibt und den Bericht über den Tod selber vorträgt, ist er von Medea besiegt und sein Schicksal wird mit dem Jasons parallel gesetzt. Beide haben nun ihre Kinder verloren. Beide waren die ganze Zeit nur Typen, der eine der Privatmann, der andere der Staatsmann. Doch werden durch diese Gemeinsamkeiten am Ende beide auch zu einer Figur, zu verschiedenen Ausprägungen einer (Männer-)Gesellschaft, denen sich die Medea-Frauen gegenüber sehen. Jason versucht gegen die Wand anzukommen, diese hatte sich während der Worte des Chors »Das Glück ist für uns Menschen nicht gemacht« gedreht. Der Beschluss zum Kindermord fällt ebenso im Kollektiv, wie der zum Mord vorher. Hier wird Jason im Wortsinn weg gedrückt, er kommt nicht mehr durch. Jetzt ist seine Position die hinter der Wand, die desjeni-

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gen, der nicht gesehen wird. Das war zuvor die Position der Frauen, die durch das Drehen der Wand immer wieder ins Licht geholt wurden. Jetzt haben sie Jason verdrängt, doch zugleich legt sich im Zusammenhang mit dem Kindermord Dunkel über die Bühne und die Frauen. Die Schatten sind hier nicht die Schatten aus dem Totenreich oder der mythischen Vergangenheit, sondern das Schattendasein der Frauen in der Gegenwart. Nach einer weiteren Drehung sieht man die drei Schauspielerinnen mit drei Kindern, die sie auf dem Schoß halten. Hier am Ende werfen alle Schatten und die Schatten der Frauen hinter der Wand sind sichtbar. Im Dunkel kollidieren die beiden Teile. Der Tod der Kinder scheint auch hier der Preis zu sein, um am Ende zu siegen. Zugleich wiederholt das folgende letzte Bild das erste: fröhliche Musik und Tanz. Eine Utopie? Im Programmheft heißt es: »Zum Schluss aber hat Medea beide Gegenüber beschädigt, hat sie durch ihre Tat, die ihnen die Nachkommenschaft nimmt und damit die Möglichkeit, den eigenen Machtanspruch nahtlos weiter zu geben, erledigt. Das kommt vielleicht einer Utopie gleich.«171 Kindermord als Utopie? Das ist eine sehr starke und gewagte These, die in der Inszenierung selber jedoch nicht sichtbar wird. Ist dieser Kindermord nicht eher eine Tat aus einer anderen Welt? Genau das kommt eben nicht vor, sondern Utopie und Macht liegen im Kollektiv. Aber auch dieser Utopie, die im Kollektiv liegt, kommt keine Dimension zu, die über die Realität hinausgeht, auch deshalb stehen die Teile eher unverbunden nebeneinander. Hier stehen sich zwei Welten gegenüber, die der Männer, die zwar einzeln vorkommen, aber aus einer Machtposition Klischees der Gegenwart in Politik und Gesellschaft vertreten, auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Kollektiv der Frauen. Diese Frauen haben authentische Geschichten zu erzählen. Gerade aus dieser doppelten Position des Individuellen und Kollektiven heraus behaupten sie im Laufe des Abends eine Macht gegenüber den Männern. Die Macht kommt also nicht aus einer göttlichen Legitimation, sondern aus der Masse, der Gemeinsamkeit und der sich daraus ergebenden Möglichkeit, individuellen Stimmen zur Sprache zu verhelfen. Diese Verbindung von Individualität und Kollektivität ist hier das Paradox. Eine Utopie liegt also möglicherweise in der Aufforderung zur Solidarisierung. Doch der Anspruch der Utopie an sich, gesellschaftlich oder auch auf dem Theater, läuft der unauflöslichen Struktur der Tragödie entgegen. Dennoch weiß auch diese Aufführung um die Begrenztheit der Möglichkeiten. Zur Sprache kommen diese Frauen nur an diesem Abend, am Ende verschwinden sie wieder im Schatten. Das kommt einer tragischen Struktur am nächsten. Doch steht auch dies in keinerlei Verbindung zu einem Mythos

171 Staatstheater Stuttgart (Hrsg.): Medea. Programmheft. S. 12.

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oder zu dem Euripides-Text. Dieser ist der Anlass für Assoziationen, die heutige Probleme auf die Bühne bringen. Diese scheinen überwindbar und sind es zugleich doch nicht. Doch wird hier eine Utopie, ein nicht zu verwirklichendes Ideal, an das Ende gestellt – und nicht das Scheitern an etwas, das größer ist und nicht überwunden werden kann. Dass diese Utopie eine solche bleibt, ist ein gesellschaftliches Problem. Dieses (politische) Theater hat den Anspruch auf solche Defekte der Alltagsrealität hinzuweisen und sie auf die Bühne zu holen. Auch wenn es um die eigene Ohnmacht, eine dauerhafte Veränderung herbei zu führen, weiß. Dennoch alle Fragen, die hier auf der Bühne und in Beziehung zum Zuschauer verhandelt werden, sind solche der Alltagsrealität, keine mythischen (und möglicherweise teilweise auch keine theatralen).

»E S

MÖGE GENÜGEN , UM DEN H ÖRER WIE EH UND JE IN DIE K INDHEIT DER W ELT ZU VERSETZEN « – BOTHO S TRAU SS: I THAKA

Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee (UA Münchner Kammerspiele 1996) ist wie die Vorbemerkung den Leser172 wissen lässt »eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel.«173 Die Lektüre, um die es hierbei geht, ist zudem die Odyssee, also einer der ersten (mythischen) Texte, auf denen die westliche Zivilisation beruht. Doch auch die Realität der Gegenwart hat ihren Platz in der Dramaturgie des Schauspiels, sie kommt vor als »Abschweifungen, Nebengedanken, Assoziationen, die die Lektüre begleiten.«174 Während Ithaka neutral als Schauspiel bezeichnet wird, trägt der wenige Jahre zuvor im Spiegel erschienene Essay Botho Strauß’ die Tragödie, wenn auch in der verfremdenden deutschen Übersetzung, im Titel: Anschwellender Bocksgesang.175 Dieser Essay soll nicht in seiner Gesamtheit oder gar seiner politischen Geisteshaltung analysiert werden176, sondern einige Thesen, die sich auf das 172 Aber eben nicht den Zuschauer, es sei denn, sie findet sich im Programmheft wieder. 173 Strauß: Ithaka. S. 7. 174 Ebenda. 175 Der Spiegel 6/1993 vom 8.2.1993. S. 202-207. 176 Genaue Analysen finden sich z.B. bei Sautter: Politische Entropie. Hier wird der Gedanke der politischen Entropie als vorherrschender Erfahrung der Zeit zwischen dem 9.11.1989 und dem 11.9.2001 verstanden und Strauß’ Essay (sowie einige andere) als Analyse dieses Zustands und zugleich auch Einspruch dagegen verstanden. Eine Zusammenfassung der Debatte in den Weimarer Beiträgen (40) 1994 Heft 2 bietet der Aufsatz von Sigrid Berka: Botho Strauß und die Debatte um den »Bocksgesang«. Ebenda. S. 165-178; und vor allem Hage

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Verhältnis von Theater und Realität beziehen, kurz nachvollzogen werden, da eben dieses Verhältnis für die Tragödie wesentlich ist.177

& Wittstock (Hrsg.): Deutsche Literatur 1993. S. 254-314. Zur Frage von Konservativismus, »linken« und »rechtem« Denken in diesem Text vgl. z.B. Smerilli: Botho Strauß Anschwellender Bocksgesang; sowie Tauss: Rhetorik des Rechten. Beide Analysen aus dem Jahr 2003 gehen aus einer Distanz von zehn Jahren und einer veränderten Realität weniger polemisch als analytisch mit dem Text und der Rezeption um. 177 Auch die Debatte, die der Text im Feuilleton ausgelöst hat, ist eigentlich ein schönes Beispiel für die Frage nach der Wirkung und Beziehung zwischen Kunst und gegenwärtiger Realität. Dazu kommt die Frage der Veröffentlichung im Sammelband Die Selbstbewusste Nation, die durchaus als programmatisch verstanden wurde, also die Debatte um den Bereich des Kulturbetriebs erweitert. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Botho Strauß und Franz Wille sowie den »Abschied von Botho Strauß…« von Peter von Becker. Beide in Theater Heute 1994 (H 12). S. 1-4. Jedoch handelt es sich beim Anschwellenden Bocksgesang um einen Text, dessen Kategorisierung zumindest grenzwertig ist. Er bewegt sich zwischen einem künstlerischen und einem journalistischen Text, zumal in seiner Form des Essays. Die Frage ist dabei, inwieweit die Thesen als Bekenntnisse des Autors zu verstehen sind oder als Thesen im Sinne von Denkanstößen. Zu der zweiten Richtung findet Greiner ein Bild, in dem er die Tragödienelemente des Textes aufnimmt und in diesem Bild einen gesellschaftlichen Prozess beschreibt. »Um dies Tragische [gemeint ist hier ein allgemeines Prinzip, das sich in der deutschen Geschichte findet] wiederzugewinnen, reinszeniert der Essay den Kult, aus dem die Tragödie hervorgegangen ist, das Zerreißen eines Opfers, wenn die Stadt in Aufruhr ist […] wobei der Sprechende sich selbst als dies Opfer anbietet.« Und »Für und mit der ›Polis‹ Deutschland, die mit ihrer Vergrößerung und mit der gleichzeitigen Krise ihrer einzigen Legitimation, die sie ausgebildet hat, der ökonomischen Prosperität, gefährlich ins Schlingern geraten ist, für und mit dieser Polis also hat der Essay Anschwellender Bocksgesang eine kathartische Tragödie in Gang gesetzt, die noch nicht zu Ende ist. Die ganze Republik ist das Theater, die ›aufgeklärten‹ Intellektuellen, die das Tragische längst ›entsorgt‹ haben, vollziehen den Part des in ›Aufklärungs-Mania‹ agierenden, zerreißenden Chors, der Sprecher des Essays ist das Opfer, das real (als Autor) zerrissen wird.« Hier bezieht Greiner die Wirkung der Tragödie und des Opfers sehr weit auf die ganze Gesellschaft und erklärt damit den Kulturbetrieb implizit selbst zum Theater (Greiner: Wiedergeburt des Tragischen aus der Aktivierung des Chors? S. 368-9). Ähnlich argumentiert Greiner auch in »Bleib in dem Bild«: Die Verweigerung von Geschichte(n) auf dem Theater. Peter Handke Die Stunde da wir nichts voneinander wussten und Botho Strauß Schlußchor. In: Fischer & Roberts (Hrsg.): Schreiben nach der Wende. S. 207-221. Vgl. S. 219.

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Die Auseinandersetzung mit Mythen ist immer wieder als zentrales Element der Werke Botho Strauß’ herausgestellt worden.178 Diese Auseinandersetzung findet zunächst in der Gegenwart und zwischen Menschen statt, denen in der Gegenwart ein Anderes begegnet, somit handelt es sich um subjektive Erfahrungen.179 Doch Ithaka stellt eine Ausnahme dar, da dieses Stück ein mythisches Thema zum Inhalt der Handlung macht und dessen Elemente auf der Bühne vorführt. »Strauß, der sensible Beobachter des modernen Alltagslebens, der kühne Diagnostiker der bundesrepublikanischen Gegenwartsmenschen dank seinen Analysen der heutigen zerstörten Zwischenmenschlichkeit und der wachsenden Vereinzelung des Individuums in der telekratischen Mediengesellschaft, gelangt mit Ithaka in ein antikes Griechenland, dessen Mythen sich wie ein roter Faden durch sein Theaterschaffen ziehen.«180

Also auch hier findet eine Heimkehr des Autors in seiner Beschäftigung mit den Mythen statt, er kehrt zum Ursprung zurück. Die metaphysischen Bezüge sind teilweise disparat (aber eben nicht offen im mythischen Sinn). Es gibt griechische sowie christliche Anklänge. Gemeinsam ist ihnen die Erinnerung an eine Vorzeit, die als besser verstanden und mit der Kindheit in Verbindung gebracht wird. Die Heimkehr in diesen Zustand ist der zentrale Gedanke des Stückes. Gerade in einem Antagonismus von Realität und Mythos, der immer wieder wertend aufgestellt wird, kann Ithaka nicht tragisch wirken, sondern ist ein ästhetisches Experiment. Ithaka positioniert sich (auf der Textebene repräsentiert von Odysseus, aber auch auf der Metaebene) explizit gegen etwas181 und steht dadurch nicht in Spannung. In den Notizen zu Ithaka

178 Vgl. dazu neben den weiter unten erwähnten u.a. auch Görner: Im Schatten des Mythos; Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels. Die »Wende« in den Texten von Botho Strauß. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (81) 1998. S. 7699. Es wird wiederholt darauf verwiesen, dass die kulturkritischen Elemente nicht erst im Anschwellenden Bocksgesang zu finden sind, sondern sich ebenso wie der Rekurs auf den Mythos auch durch frühere Werke von Strauß ziehen. 179 Vgl. dazu Plümer: Zur Entwicklung der Dramaturgie der Dramen von Botho Strauß. S.17ff. Diese Arbeit befasst sich jedoch mit den frühen Dramen Strauß’. 180 Ringhi, Luisa: Botho Strauß: Ithaka. Eine Heimkehr aus dem zweiten Jahrtausend. In: Csobádi et al. (Hrsg.): Europäische Mythen. S. 384-391. hier S. 384. 181 Vgl. dazu auch Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, vor allem den Aufsatz gleichen Titels, in dem der Begriff der Realpräsenz von Steiner übernommen wird. Als solche kann dann auch das Theater verstanden werden, das sich gegen die Entropie

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heißt es: »Wiederkehren findet nicht in der Geschichte statt, sondern vor ihr. Oder an ihrem Ende. […] die Endzeit wird in Urzeit münden.«182 »Heimkehr« auch in den Mythos des Epos wird gesucht. Dieses ist jedoch eine vortragische Struktur. Der Anschwellende Bocksgesang als Mittel zur Interpretation – und als Hindernis In diesem Essay beschreibt Strauß den Zustand der Welt als einen tragischen, dazu verwendet er Metaphern, die aus dem Bereich des Theaters stammen. Die zentralen Begriffe dieser Gegenwartsanalyse können dann auch in der Interpretation des Dramas verwendet werden. Eine Eins-zu-einsÜbertragung ist dabei jedoch zu einfach und greift zu kurz, wie sich zeigen wird. Der Anschwellende Bocksgesang hebt an zu einer Gegenwartskritik, dazu verwendet Strauß provozierend ein fragwürdiges Vokabular, dessen potenziellen Missbrauch er zumindest in Kauf nimmt. Dabei wird die Beliebigkeit, aber damit auch die Offenheit der Gesellschaft, als deren deformierte Ausprägung die Beliebigkeit angesehen wird, zum Hauptkritikpunkt. Dieser stellt Strauß in seinem Text eine »rechte« Alternative entgegen, die den Einzelnen mehr in den Blick nimmt. Doch ist dessen Position immer eine außerhalb und gegen die Realität, auch wenn sie sich in der Gesellschaft verbirgt. Dieser Ort wird immer wieder als der eigentliche behauptet, während die vorgefundene Welt eine von Sekundärem geprägte ist, die verändert werden soll. Die Frage nach der Transformierbarkeit ist einer der zentralen Gedanken (S. 202). Gerade darin, dass »wir […] in die Beständigkeit des sich selbst korrigierenden Systems eingelaufen« (S. 202) sind, liegt die Gefahr. Es bedarf also einer starken Außenposition, um dies zu verändern. Die Sehnsucht nach Führung schlägt immer wieder durch (auch wenn es eine utopische ist), so z.B.: »Aber in wessen Hand, in wessen Mund die Macht und das Sagen, die Schlimmeres von uns abwenden?« (S. 203) Die Geschichte an sich hat eine »tragische Disposition« (S. 203). In dieser Disposition liegt die Lösung eben nicht in der »Apologie der Schwebe« (S. 203), sondern in einem »anderen Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will« (S. 204). Die mythische Zeit, die hier gemeint ist, ist eben gerade die idealisierte Vor-Zeit. Diese ist zunächst nicht utopisch, da sie nicht auf die Zukunft ausgerichtet ist, sondern sich an die Vergangenheit anschließt (und vielleicht (wie Sautter die Zeit der 1990er Jahre analysiert) wendet. Vgl. dazu auch Thomas: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«. 182 Strauß: Einstweh und Wiedererkennen. Beginnlosigkeit. Notizen zu »Ithaka«. In: Ders.: Der Gebärdensammler. S. 65-67. hier S. 65.

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gerade in dem Versuch Vergangenheit wieder zu beleben höchst utopisch). Deren Hüter sind in privilegierter Position die Dichter. Es ist Verlust, um den es geht, und dieser bleibt ästhetisch: »Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin« (S. 204). Dabei handelt es sich auch um eine zirkuläre Bewegung der Zeit: dem Anschluss an eine verlorene Zeit, die jedoch erst dann vollkommen verloren wäre, wenn sie auch von ihren Hütern, den Dichtern, nicht mehr erinnert oder phantasiert würde, sondern reinstalliert. So entsteht eine rückwärtsgewandte Utopie, ein zirkulärer Schluss. Die Dichter werden hier – ebenso wie der literarische Text Ithaka – zu Symbolen dieser Harmonie. Phantasie und Ästhetik sind damit die Gegenorte – die U-Topoi, die aber immer als »Hortus conclusus« (S. 206) zu verstehen sind. Auch der Begriff der Tragik wird hier vor allem als Instrument der Kritik gebraucht. Aus den Spannungen und Gegensätzen, die er beinhaltet, leitet Strauß die Notwendigkeit zur Veränderung – im Endeffekt aber auch die Überwindung der Spannungen in der präexistenten Harmonie – ab. Zugleich wird die Gesellschaft als eine »im Banne des Vorgefühls« (S. 205) beschrieben – es handelt sich also um eine Zwischenzeit, die gefährlich ist. Ein Weg heraus führt ebenso wie in der Tragödie über das Opfer und die Gewalt. Strauß zitiert hier Girard. Dessen Opferbegriff ist immer auch mythisch aufgeladen. Doch vor allem ist das Opfer hier bei Strauß Ausdruck einer »Gegenaufklärung.«183 »Im Opfer ziehen wir uns sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf von Subjektivismus und Individualismus heraus und finden unseren Platz im großen Verpflichtungszusammenhang eines Sittengesetzes.«184 Es handelt sich um die Analyse einer tragischen Disposition in der Welt – eben nicht im Sinne einer Tragödie, sondern als Tragik. Diese bietet den Raum und die Möglichkeit für Veränderung. Eine solche ist laut Strauß’ Analyse dringend notwendig und wird von ihm auf eine spezifische Art herbeigedacht. Es soll eine Gegenwelt zur Gegenwart restituiert werden, und diese findet ihren Platz in der Ästhetik, notwendig sind »magische[] Orte der Absonderung« (S. 206). Durch die Kennzeichnung als magisch wird diesen Orten eine andere Realität zugesprochen, eine metaphysische oder auch ästhetische, oder im Verständnis dieses Textes eine mythische, die eine (idealisierte) Vergangenheit beinhaltet. Doch sind diese »magischen Orte« nur unter dem Vorzeichen des Verlustes, in der Erinnerung, vorstellbar. Dennoch stellt Strauß unter dem provozierenden Schlagwort des »Rechten« eine (Denk)möglichkeit der Veränderung vor, die eine neue Ordnung, eine Orientierung und eben nicht mehr die Viel-

183 Zum Verhältnis von Strauß zur Dialektik der Aufklärung vgl. Windrich: Das Aus für das Über. Er sieht im Schluss des Dramas eine »Polemik gegen die Frankfurter Schule« (S. 68). 184 Reiter, Michael: Philosophisches Unbehagen in der modernen Kultur. Der Protest gegen das Bürgerliche bei Botho Strauß, Amitai Etzioni, Carl Schmitt und Georg Lukács. In: Meuter & Otten (Hrsg.): Der Aufstand gegen den Bürger. S. 185-207. hier S. 188.

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stimmigkeit und von Strauß als Borniertheit (S. 207) abklassifizierte Offenheit der Information ausmacht. »Die Rechte hofft hingegen auf einen tiefgreifenden Wechsel der Mentalität, auf die endgültige Verabschiedung eines nun hundertjährigen ›devotionsfeindlichen Kulturbegriffs‹ (Hugo Ball), der im Gefolge Nietzsches unseren geistigen Lebensraum mit unzähligen Spöttern, Atheisten und frivolen Insurgenten übervölkert und eine eigene bigotte Frömmigkeit des Politischen, des Kritischen und des All-Bestreitbaren geschaffen hat.« (S. 205)

Der Essay ist in seiner Kulturkritik durchaus pessimistisch, auch wenn er immer den Anspruch einer anderen Ordnung behauptet. Da diese in der Welt nicht möglich ist, zumal sich diese Realität anders verhält und anders beschreibbar ist als ein Kunstwerk (auch wenn der Text das Gegenteil immer wieder versucht), wird das ästhetische Kunstwerk zur Sphäre dieser Gegenrealität. So wird es jedoch auch von der Welt abgeschnitten (Strauß spricht vom »Mut zur Sezession« S. 206) und kann kaum mehr in sie zurück wirken. Die Beziehung zwischen Ithaka und dem Anschwellenden Bocksgesang ist immer wieder als Ansatzpunkt von Interpretationen verwendet worden. Die meisten Argumentationen gehen dabei davon aus, dass in beiden Texten, dem essayistisch-journalistischen und dem Theatertext (also dem ästhetischen) die gleichen Grundprämissen verhandelt werden. Roberg z.B. weist zurecht darauf hin, dass »in der kontroversen Beurteilung des Stücks politisch-ideologische Argumente eine Rolle«185 spielten und zunächst nicht ästhetische oder theatrale. Scheuer stellt die These auf, dass das politische Programm des Essays »in ›Ithaka‹ dramatisch durchexerziert und an einem zum Paradigma umgeformten Stoff exekutiert wird.«186 Dieses Programm ist das eines politischen Dezisionismus, der einen eschatologischen Impetus hat. Es geht um »die politische Wieder- und Anerkennung des legitimen Herrschers Odysseus«; doch auch Scheuer sieht, auf welcher Grundlage dies geschieht, denn sie »bedarf letztlich der Etablierung eines neuen katéchon: eines erneuerten

185 Roberg, Thomas: »Wie im Buch so auf der Bühne«? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß in den neunziger Jahren. In: Arnold (Hrsg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. S. 107-130. hier S. 109. 186 Scheuer, Hans-Jürgen: »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierten Homer-Lektüre »Ithaka« von Bothos Strauß. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (81). S. 129-140. hier S. 132. Zur politischen Dimension eines Freund-Feind-Antagonismus – auch in Bezug auf die deutsche Einheit – vgl. auch von Essenberg: Kulturpessimismus und Elitenbewusstsein. S. 139.

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Mysteriums der Machtlegitimation.«187 Das Theater wird hier auf der Ebene der Selbstthematisierung im Stück und auch auf der Metaebene als Hilfsmittel zur Hervorbringung der politischen Strukturen verstanden. Grundlage ist der Vertrag, den Athene am Ende verkündet. Scheuer sieht ihn als einen zwischen Menschen an, da durch Athenes Dialog mit Zeus die göttliche Legitimität verschwindet. »Damit aber präsentiert sich dem Leser im Moment der Verfügung der gesamte göttliche Legitimationsapparat als diskreditiert. Ohne den göttlichen Spruch bleibt allein der Vertrag.«188 Das Erscheinen Zeus’ hebt m.E. die Nicht-Autonomie der gesamten Vorgänge des Dramas auf eine weitere Stufe (s.u.). Zudem ist die Frage der Legitimität in Ithaka von vorn herein geklärt, Odysseus ist der legitime Herrscher in jeder Hinsicht, es stellt sich nur die Frage nach der Durchsetzung. Der Charakter dieses »Vertrags« ist zudem ein sehr eigentümlicher (auch dazu s.u.). Steffen Damm interpretiert die Texte Botho Strauß’ als Arbeit am Mythos unter dem Fokus der Zeiterfahrung. Die Prämissen dieses Ansatzes sind die folgenden: »Für die Kennzeichnung der zentralen Bezugsgröße ist in diesem Zusammenhang der Umstand von entscheidender Bedeutung, daß Strauß den Begriff ›Mythos‹ ästhetisch besetzt und wiederherzustellen versucht, denn auf diese Weise läßt sich seine Rekonstruktion im Medium der Dichtung auf ein bestimmtes Datum der deutschen Literaturgeschichte zurückführen.«189

Dieses Datum ist die Romantik, an die sich Botho Strauß anschließt. Das Mythenkonzept, das hier angelegt wird, ist also zunächst ein positives. Die Gewalt ist deren »schattige, jedoch jederzeit präsente Rückseite, das ausgeblendete Andere der historischen Jetztzeit.«190 Ithaka, das auch hier als »szenischer Kommentar zu den Krisenbefunden des Anschwellenden Bocksgesangs«191 verstanden wird, ist dann eine Restitution eben dieser mythischen Zeit. Damit ist der Mythos eine abgeschlossene Größe und keine produktive. Die »zyklische Zeitstruktur«192 des Mythos ist dann eine Rückkehr in einen vorherigen Zustand. Die andere Zeit ist eine Zwischenzeit, eine Kollision zwischen den Zeiten findet nicht statt, sondern die mythische Zeit überwindet eine andere Zeit, die an sich wertlos ist. »Die ›Zwischenzeit‹ ist

187 Scheuer, Hans-Jürgen: »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierten Homer-Lektüre »Ithaka« von Bothos Strauß. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (81). S. 129-140. hier S. 138. 188 Ebenda S. 139. 189 Damm: Die Archäologie der Zeit. S. 14. 190 Ebenda S. 20. 191 Ebenda S. 23. 192 Ebenda S. 178.

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ganz und gar verlorene Zeit.«193 Die Gewalt wird als Katharsis verstanden, jedoch als »kathartische Restitution«194, und zwar auf der Bühne, die in der Restituierung des Mythos eine mögliche Überwindung der Zwischenzeit, wenn auch nur in der Sphäre der Kunst, vorführt. Doch die Erfahrung der Katharsis gehört in den Bereich der Wirkungsästhetik und nicht in den der Dramaturgie. Zudem basiert die Katharsis auf den Affekten, von ihnen ist hier in keinem Zusammenhang die Rede. Gerade der Zuschauer wird abgeschottet. Die Bühne wird ebenso zu einer Gegenwelt und nicht Teil einer gemeinsamen Erfahrung, so wie der Mythos als Gegenzeit und nicht als Grundlage und Bestandteil der Jetztzeit verstanden wird. Die Analyse von Ithaka ist durchaus zutreffend, doch ist der Begriff des Mythos und des Theaters, und zwar durch die Abgrenzung der Ebenen voneinander, hier ein vollkommen anderer als der, auf den sich meine Arbeit bezieht. Vom Opfer als zentralem Moment der Tragödienauffassung ausgehend interpretiert Eva Huller Ithaka. Auch hier wird das Stück verstanden als »die dramatische Umsetzung der im Anschwellenden Bocksgesang erfolgten Ankündigung der Tragödie.«195 Die Tragödie wird jedoch, Bezug nehmend auf den Essay, nicht als Theater verstanden, sondern als »Ausdruck eines blutigen Weltgesetzes«196 – also wieder als ein allgemeines Prinzip, das dann eher der Tragik als der Tragödie entspricht. Der Vermittler, der Prophet, der diese Vergangenheit wieder aufleben lassen kann (und muss?) ist der Dichter. Ithaka ist das Vorspielen einer solchen Situation, in die der Mythos auf der Handlungsebene wieder einbricht und auf der Metaebene der Versuch, den Mythos wieder in die Kultur – oder besser den Kulturbetrieb – einzubringen. Ithaka besitzt für Huller das Telos einer »historischen Zeitenwende.«197 Der Saalschlacht wird ein kathartischer Effekt zugeschrieben, der notwendig sei, um zu einem positiven Zustand zurück zu kehren – auch hier bezieht sich die Reinigung also auf Ithaka als Ort der Bühnenhandlung. Ithaka interpretiert sie als »optimistische Fortsetzung der Gedankengänge des Anschwellenden Bocksgesangs.«198 Der Mythos wird verstanden als ein Bild, das benutzt werden kann, um die Gegenwart zu beschreiben, zu abstrahieren und zu reflektieren. Damit ist der Mythos jedoch kein lebendiger, sondern ein ästhetischer und damit nicht theatral und auch nicht tragisch, da seine Wirkung in Verbindung mit dem Publikum nicht berücksichtigt wird. Es sei denn als Handlungsvorgabe von der Bühne für das Publikum, doch diese Möglichkeit wird durch den Rekurs auf die Gewalt des Mythos unmöglich gemacht. Wobei auch diese Möglichkeit an sich nicht tragisch wäre, sondern einseitig belehrend.

193 194 195 196 197 198

Ebenda S. 191. Ebenda S. 191. Huller: Griechisches Theater in Deutschland. S. 370. Ebenda S. 344. Ebenda S. 374. Ebenda S. 393.

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Herzinger stellt die These grundsätzlicher auf: »›Ithaka‹ erneuert poetisch die Staatsutopie der politischen Romantik.«199 Diese geht auch hier einher mit einer Kritik an der Gegenwart.200 Das Theaterstück Ithaka ist – ebenso wie diejenige Odysseus’ im Stück – die Rückkehr, und zwar die gewaltsame, des Mythos in die Gegenwart. Dieser ist jedoch auch hier ein ästhetischer Mythos und eben kein lebendiger – einer der sich gegen die Realität stellt. Doch auch Herzinger ist kritisch, ob diese Art von »Widerstandsgestus« der Kunst gegen die Massengesellschaft noch angemessen ist.201 Denn in der Verweigerung läge immer auch die Gefahr, die Realität nicht mehr angemessen wahrzunehmen. Der Kunstbegriff, der sich in einer solchen Annäherung laut Herzinger selber in Gefahr bringen würde, ist eben der neoromantische, elitäre. Ich denke, die Frage, »ob sie noch Kunst in dem uns tief verwurzelten Verständnis von Moderne wäre«202, geht zu weit. Denn dieser Kunstbegriff ist eben nicht der moderne und schon gar nicht der Kunstbegriff des Theaters, sondern genauso neoromantisch wie der Versuch der Heimkehr in Ithaka. Einige Interpretationen versuchen in Ithaka einen Kommentar zur realen geschichtlichen Situation der deutschen Wiedervereinigung zu lesen.203 Crăciun versteht Ithaka als »ideologisches und zugleich poetologisches Manifest.«204 Der poetologische Anteil wird jedoch im Verlauf der Analyse ein wenig aus dem Blick verloren. Die Hauptthese lautet: »Die Einleitung zu ›Ithaka‹ kündigt die Vision von der deutschen Wiedervereinigung als der ewigen Wiederkehr des deutschen Mythos an.«205 Dieser wird hier jedoch negativ belegt: »Odysseus wird in ›Ithaka‹ zur Verkörperung des ewigen Bösen, das in immer neuer Tarnung den Gang der Geschichte bestimmt.«206 Von einer Heimkehr in eine alte Ordnung ist hier also nicht die Rede, im Gegenteil, es wird von der Gewalt als immer wiederkehrendem Moment gesprochen. Der Umgang mit der Gewalt ist eines der Probleme von Ithaka,

199 Herzinger: Die Heimkehr der romantischen Moderne. S. 7. 200 Vgl. dazu ebenda: »Es ist wohl kaum überinterpretiert, wenn man im Großreich der Freier die Züge der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der Wertegemeinschaft der westlichen demokratischen Wohlstandsgesellschaft im Ganzen wiedererkennt, wie sie in der Kulturkritik von Botho Strauß wahrgenommen werden« (S. 9). Ich finde dies allerdings etwas »überinterpretiert«. 201 Ebenda S. 12. 202 Ebenda. 203 Neben der im Folgenden kurz vorgestellten Interpretation ist zu dieser Richtung auch zu zählen: Gutjahr, Ortrud: Mythos nach der Wiedervereinigung. Zu Christa Wolfs Medea Stimmen und Botho Strauß Ithaka. In: Ehrich-Haefli, Schrader & Stern (Hrsg.): Antiquitates Renatae. S. 345-360. 204 Crăciun: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. S. 191. 205 Ebenda S. 203. 206 Ebenda S. 247.

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doch gibt es m.E. im Stück keinen Anlass sie so zu lesen wie hier. Zudem ist der Haushalt der Freier keine kommunistische Gesellschaft und nicht einmal deren entstellte Praxis, wie er hier gedeutet wird. Odysseus belegt die politische Dimension, während Penelope als allegorische Personifikation der Kultur und Kunst verstanden wird. Dabei werden Fiktionalität und Realität beide mit Hilfe des Mythos in eine ästhetische und damit auch unverbindliche Ebene verschoben. Diese Spannung zwischen Ideologie und Praxis ist nach dieser These das entscheidende Moment in Ithaka. »Die Utopie ist in ›Ithaka‹ ideelle Potenzialität, sie ist reine Ideologie, und so erlischt sie auch: als Doktrin mit einem ideellen, ›reinen‹ Dasein, und nicht als konkrete Realität.«207 Diese Definition wird dann auf die realhistorische Ebene zurückgespiegelt. »Botho Strauß betreibt in ›Ithaka‹ eine Kritik des Kommunismus nicht als Doktrin, sondern als politische, ökonomische und kulturelle Praxis.«208 Damit ist Ithaka in dieser Deutung der Kommentar einer Unmöglichkeit, sowohl von Utopie als auch von Praxis. Doch sucht das Stück immer die Heimkehr, und zwar eine in einen Zustand, der vor der Spaltung von Utopie und Praxis liegt – und zwar dezidiert als Kunstwerk und nicht als politische Schrift. Mit der Tragödie, vor allem der Tragödie als Theater, setzten sich alle diese Interpretationen nicht wirklich auseinander, denn gerade in den Bemühungen das Stück als Kommentar auf die Gegenwart zu lesen, wird die Gegenwart des Theaters nicht berücksichtigt. Die Thesen beschreiben einen Umgang mit Mythos und Geschichte, der eben das Problem des Theater(und potenziellen Tragödien-)Textes Ithaka ist – diese Problematisierung findet jedoch nicht statt, da die Interpreten sich hauptsächlich auf den Gegenwartsbezug konzentrieren. Theater stellt Fragen, Anghern hatte die Beziehung zwischen Mythos und Tragödie folgendermaßen heuristisch dargestellt: »Der Mythos gibt Antworten ohne Fragen (während die Tragödie Fragen ohne Antworten, Probleme ohne Lösungen entwickelt).«209 Doch hier gibt es beides, Fragen und Antworten – und zwar ›mythische‹ Antworten als (Gegen-)Antworten auf politische Fragen. Es gibt jedoch auch Interpretationen des Stückes, die sich diesem Mechanismus der Eins-zu-eins-Übertragung einerseits des Essays und andererseits der politischen Situation verweigern, sondern sich mit der Haltung zur Tragödie und Mythos befassen, die sich im Stück finden lässt. Bohrer geht davon aus, dass es sich bei Ithaka nicht um eine Metapher auf die Gegenwart handelt. »Strauß hingegen hat, einem generellen und persönlichen Interesse am Mythos folgend, jedenfalls keine aktuelle Thematik erkennbar gemacht.«210 Er sucht den Zugang über die Gewalt als zentrales Motiv. Die

207 Ebenda S. 244. 208 Ebenda S. 245. 209 Anghern: Überwindung des Chaos. S. 61. Vgl. dazu die Diskussion in der Einleitung. 210 Bohrer: Das homerische Phantasma Grausamkeit. S. 1113.

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Gewalt wird dabei im heroischen als prä-tragischen Sinn verstanden. Die Frage, um die es geht ist die, »welche Mentalität es ist, die das heroische Phantasma verunmöglicht.«211 Bohrer bezieht sich dabei auf die Interpretation der Gewalt (und des Schreckens) als ›Tonicum‹ im Sinn von Nietzsche. Dabei wird auf die archaische vorklassische Körperlichkeit Bezug genommen, die sich noch vor der Durchsetzung des Subjekts in der Tragödie verorten lässt. Daraus leitet sich sowohl Legitimität als auch Faszination der Gewalt ab. Doch eben dies käme in Strauß’ Drama nicht vor. »Schon der letzte Satz der Vorbemerkung von der ›Kindheit der Welt‹ weist darauf hin, daß hier von einem Traum, von einem Märchen, nicht aber dem Phantasma Grausamkeit die Rede sein soll.«212 Gerade hier setzt Menke mit seiner Interpretation an. Er analysiert dieses Drama, das für ihn eine der »Tragödien des Spiels« ist, unter dem Schlagwort »Niemals.«213 »Ithaka ist keine Tragödie und will es auch nicht sein. Ithaka ist vielmehr eine Vermeidung der Tragödie.«214 Doch gerade die Strategien dieser Vermeidung, der Rekurs auf das Märchen, den Bohrer so vehement ablehnt, und die Komödie, sind für Menke Wege zu einer tragischen Erfahrung. »Diese Zwiefältigkeit der Tragödienvermeidung aber, das ›und‹ zwischen Märchen und Komödie, nährt einen Zwiespalt, durch den Ithaka, in ganz anderer als der von Strauß’ programmatischem Essay angekündigter Weise, wieder an die Erfahrung der Tragödie rührt.«215 Menke sieht eine Opposition zwischen dem Märchen, das erzählt wird, und dem Drama, das sich als Handlung definiert. Gerade in diesen Elementen des Märchens, des Irrealen und des Scheiterns des Theaterprojektes Ithaka, denn »die Märchenhandlung der Befreiung [kann] nicht zum Drama zu einem Vollzug aus eigenem Handeln werden«216, sieht er die Tragik. Diese wird auf die Realität zurück übertragen, diese Heimkehr ist nicht möglich, obwohl sie dringend notwendig wäre. Sie scheitert an der eigenen Geschichte. Doch diese zweite Ebene, die Menke als die des Märchens beschreibt, rekurriert ganz explizit auf den Mythos217 (eben nicht auf das Mär-

211 Ebenda S. 1111. 212 Ebenda S. 1110. 213 Menke: »Niemals«. Märchen und Komödie in Ithaka. Diese Analyse findet sich auch in anderen Veröffentlichungen. Heros ex machina: Souveränität, Repräsentation und Botho Strauß’ Ithaka. In: Bolz & van Reijen (Hrsg.): Heilsversprechen. S. 71-86. Und auch in Gegenwart der Tragödie trägt das letzte Unterkapitel den Titel: Niemals: Botho Strauß Ithaka. S. 215-226. 214 Menke: »Niemals«. S. 307. 215 Ebenda. 216 Ebenda S. 312. 217 Und das stellt eine Ausnahme in Strauß' Werk dar. Mythische Elemente werden immer wieder analysiert und als konstitutiv für seine Ästhetik angesehen (s.o.). Aber Ithaka ist das einzige Stück, in dem der Mythos so selber zum Thema gemacht wird und sollte deshalb auch programmatisch verstanden werden.

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chen) und deshalb sollte Ithaka auch an diesem eigenen Anspruch gemessen werden. Es geht mir um die Frage nach dem Theaterstück Ithaka und seinem Umgang mit dem Mythos und der Geschichte. Die Frage nach der Gesellschaftskritik oder -utopie ist dabei nicht die zentrale. Die Realität, um die es geht, ist die der gemeinsamen Erfahrung von Theater und Zuschauern, der Platz der Realgeschichte darin ist ein mittelbarer, sie wird in Form des Mythos erinnert und verwendet und gerade so kann das Theater dann – vielleicht über einen Umweg, aber einen ästhetischen Umweg, denn das Theater ist auch Kunst – wirken. Gerade dieser Aspekt von Mythos, seine Offenheit, die auch immer das Angebot an das Publikum bedeutet, kommt in Ithaka nicht vor. Mythos hat auch immer einen gewaltsamen Anteil, doch auch der Umgang mit diesem Aspekt wird in Ithaka eigenwillig behandelt. Zunächst wird die Gewalt plakativ ausgestellt, um dann am Ende ausgeschaltet zu werden. Doch diese Gewalt ist immer zurechenbar, es gibt Verantwortlichkeit. Odysseus wird dann auch zu Recht als Mörder und Verbrecher bezeichnet. Die Göttin befreit ihn zum Ende, nachdem sie ihn zuvor angeleitet hat. Damit kann die Schuld entsühnt werden, und zwar durch Verordnung. Tragische Schuld kann jedoch nicht gesühnt werden, sondern tritt in einen mythisch-zyklischen Zeitverlauf ein. Heimkehr Die Vorrede setzt den Rahmen für das Drama, der letzte Satz: »es möge genügen, um den Hörer wie eh und je in die Kindheit der Welt zu versetzen« (S. 7) und der Titel, der explizit auf die Heimkehr-Gesänge der Odyssee Bezug nimmt, markieren das zentrale Thema. Dieses ist die Heimkehr – auf allen Ebenen. Zunächst die Heimkehr Odysseus’, aber auch die Heimkehr in eine Ordnung, die durch seine Abwesenheit unterbrochen wurde. Doch ist diese Heimkehr mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Einerseits muss die Heimat von den störenden Elementen gereinigt werden, und zwar mit Hilfe der Gewalt. Zum anderen muss sie aber zunächst und auch zuletzt als Heimat erkannt werden. Der letzte Schritt der Heimkehr ist die Wiedervereinigung Odysseus’ und Penelopes. Das ideale Paar wird das ganze Stück über als komplementär zueinander dargestellt und bildet so am Ende eine sich ergänzende Einheit. Trotz allem steht der Ausgang immer fest, es finden sich Elemente, die deutlich machen, dass hier etwas vollzogen und getan wird, das auf einer höheren Ebene längst beschlossen ist. Doch leiden die Personen des Dramas nicht etwa an dieser Tatsache, sondern vor allem Odysseus fordert sie nachgerade ein. Der Mythos der Odyssee wird hier also als eine Heimat, ein sicherer Hafen, verstanden, der der Welt entgegensteht. Zu diesem setzen sich sowohl die Figuren als auch in der Wirkungsabsicht die Zuschauer in Beziehung. Die zyklische Struktur der Zeit, die immer wieder als eine mythische inter-

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pretiert wird, kommt zwar vor, aber nicht als ewiger Kreislauf, sondern als sich schließender Kreis. Zudem kollidieren die Zeitebenen nicht miteinander. Die lineare Zeit der Handlung wird als an sich wertlose Zwischenzeit verstanden, die es zu überwinden gilt. In der Tragödie bricht der Mythos in eine Zeit, in der gehandelt werden kann, ein und führt zur Paradoxie eines Handelns, das zwar unausweichlich, aber ebenso vernichtend ist – aber eben in der linearen Zeit, denn diese ist diejenige, in der die Figuren sich befinden. Eine solche Struktur ist hier nicht zu finden. Der Mythos, der als Erinnerung latent wirkt und sich durch Offenheit ausgezeichnet hat, wird hier als absolute und feste Bezugsgröße behauptet. Dadurch kann er nicht wirklich wirken, denn die mythische Zeit vertritt so keinen Anspruch in der realen Zeit218, sondern gegen sie. Mythos ist hier eine Chiffre, sowohl für die Heimkehr als auch für eine Sicherheit, die außerhalb der Realität steht. Die Frage ist dann eine politische, so interpretiert Scheuer, dabei auf einen politischen Dezisionismus Bezug nehmend219, in der Opfer für eine rückwärtsgewandte Utopie, eben die der Heimkehr, gebracht werden müssen. In diesem Zusammenhang ist die Grausamkeit jedoch überzogen und wirkt ebenso auf den Zuschauer. Sie ist gerade nicht mythisch legitimiert, was sich auch in der drohenden Fortsetzung der Gewalt nach Odysseus’ Tat zeigt, die eben nicht mythisch, sondern politisch ist. Die Antwort ist die Kunst, das Behaupten eines sicheren Hafens der Ästhetik gegen die Welt. »Strauß geht es um die emphatisch verstandene Kunst und erst dann um Mythos und Religion.«220 Auch im Aufbau des Stückes gibt es eine Gruppe von Figuren, die außerhalb der Handlung stehen und sie doch zugleich beeinflussen und lenken. Die drei fragmentarischen Frauen werden von einigen Interpreten als Chor221 verstanden. Janka stellt eine andere Interpretationsmöglichkeit der Frauen vor, die m.E. schlüssiger ist, – für ihn verkörpern sie den Rhapsoden.

218 Anders z.B. bei Schößler: Augen-Blicke. Sie sieht eine Überlagerung der Zeitebenen. Vgl. S. 164. 219 Scheuer, Hans-Jürgen: »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitung der dramatischen Homer-Lektüre »Ithaka« von Botho Strauß. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (81). S. 120-140. 220 Braungart, Wolfgang: »Blutige Reinigung«. ›Ithaka‹ von Botho Strauß. In: Braungart & Koch (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden III. S. 159-71. hier S. 160. 221 Als Chor interpretieren sie unter anderem Scheuer, Hans-Jürgen: »Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«. Zur Bearbeitungstendenz der dramatisierten Homer-Lektüre »Ithaka« von Botho Strauß. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (81). S. 129-140. Vgl. S. 130. Oder auch Righi, Luisa: Botho Strauß: Ithaka. Eine Heimkehr aus dem zweiten Jahrtausend. In: Csobádi et al. (Hrsg.): Europäische Mythen. S. 384-391.

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»Denn das Erzählerinnentrio – gesplittet in Knie, Handgelenk und Schlüsselbein – versinnbildlicht mit seinen mitunter selbstverständlich erscheinenden Kommentaren und Interpretationen des Geschehens viel eher den rhapsodischen Erzähler, den – durch die Philologie seit Friedrich August Wolf – ›in Stücke gerissenen‹ Homeros, als etwa den Chor der attischen Tragödie.«222

Denn in der attischen Tragödie war der Chor die Verbindung zwischen den Ebenen und keine auktoriale Komponente. Doch genau dies ist die Funktion der fragmentarischen Frauen in Ithaka: Sie sind Botinnen einer Vorzeit, die die Handlung bestimmt, sie wissen schon vorher, was passiert. Ihre Bezeichnungen sind allesamt Gelenkstellen des Körpers und auch die drei fragmentarischen Frauen erfüllen die Funktion von Gelenken im Drama und lenken es. Dadurch sind sie ein Element des Nicht-Autonomen, wie sie auch auf anderen Ebenen im Stück vorkommen. In der dritten Szene des zweiten Teils erzählen sie die Argos-Episode (S. 38), während Odysseus auf der Schwelle sitzt. Hier wird die Wiedererkennung durch das Tier, die der Wiedererkennung durch die Menschen voraus geht, erzählt und eben nicht gespielt. Auch der Moment, in dem die Amme Odysseus erkennt, wird von den drei Frauen erzählt, bevor er geschieht. Die Regieanweisung zu dieser Stelle lautet: »Das Folgende sprechen sie voraus dem Geschehen« (S. 63). Dort wird dieses Geschehen dann im wahrsten Sinne des Wortes nachgespielt. Die Bühnenhandlung vollzieht damit, was das Epos ihr vorschreibt, oder hier in mündlicher Form, vorsagt. Dieser Vorgang kommt auch in Verbindung mit Penelope vor (in der ersten Szene des dritten Teils, S. 53), hier greifen die fragmentarischen Frauen Satz für Satz den Äußerungen Penelopes vor. Sie haben also als Botinnen des Mythos einen Wissensvorsprung gegenüber den Personen der Handlung, stehen außerhalb bzw. über dieser Ebene. Doch sind sie eben nicht unversehrt, sondern fragmentarisch, so wie die Ebene, aus der sie stammen. »Die Vermittlerinnen erscheinen damit als fragmentarische Teile eines Körpers, ein Arrangement, das für den grundierenden Entwurf in Strauß’ Stück aufschlussreich ist. Denn die drei Gestalten lassen umgekehrt die Vision eines ganzen Leibes aufscheinen, der in der Tradition: genauer seit den paulinischen Briefen als Metapher der (Glaubens-)Gemeinschaft und eines wohlgeordneten Staates gilt.«223

Gleichzeitig erzählen sie das Morden, das auf der Bühne nicht gezeigt wird (S. 83). Dem geht ein Lichtwechsel voraus, so wird hier das Theater sinnbildlich ausgeschaltet. Denn das Theater ist die physische Darstellung, hier wird gerade der zentrale Moment, der wenige Seiten später als »göttliche

222 Janka, Markus: Odysseus 1996: Ithaka auf der Bühne, im Rundfunk und im Buch. Die Rezeption der Odyssee im Multimedia-Zeitalter. In: Korenjak & Töchterle (Hrsg.): PONTES I. S. 79-107. hier S. 84. 223 Schößler: Augen-Blicke. S. 164.

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Reinigung« (S. 85) bezeichnet wird, also aus dieser Ebene herausgehoben, und zwar auf diejenige des Erzählens. Das Epos liegt vor dem Theater, also auch hier findet eine Heimkehr statt, und zwar im zentralen Moment, der auf der Ebene der Bühnenhandlung den Weg frei macht für die Heimkehr, indem das falsche Interregnum mit aller Macht und Gewalt vernichtet wird. Damit wäre das Theater auf der Metaebene jedoch auch kein angemessener Gegenentwurf zur Welt oder eine Heimat, diese scheint davor zu liegen. Die Elemente, die aus einer anderen Sphäre stammen und die Handlung lenken, werden vor allem durch Licht, also mit einem theatralen Mittel, gekennzeichnet. Dabei stellt sich die Frage, was dieses Licht markiert. Zunächst handelt es sich um eine Differenz zur Bühnenhandlung, die mit einem theatralen Mittel gezeigt wird. Zum anderen ist das Licht aber auch ein Zeichen für eine andere Sphäre. Indem diese gerade mit Licht verbunden wird, wird ihr eine positive Dimension zugewiesen. Die Boten der alten Ordnung, der Götter und der Erzählung sind damit auch Heilsbringer. Dazu gehört neben den fragmentarischen Frauen vor allem Athene. Sie erscheint, als Odysseus in Ithaka landet. In der Regieanweisung ist von »leuchtende[n] Füßen« (S. 15) die Rede. Athene ist also die Basis, auf der die Handlung, die von den fragmentarischen Frauen ebenso (vor)getragen wird, steht. Sie ist es, die Odysseus’ Handeln bestimmt und dies auch Odysseus gegenüber formuliert: »Ich bin der Weitblick, ich habe klug es gelenkt. Heimkehr solltest du finden, doch alle Gefährten verlieren. Das wußte ich von Anfang.« (S. 17) Erstaunlich ist, dass Odysseus gegen diese Fremdbestimmtheit hier und auch sonst im Verlauf des Stückes keinen Einspruch erhebt. Damit leidet er weder an der Fremdbestimmung – was ein zentrales Moment der Tragödie ist –, noch ist er für seine Taten verantwortlich. »Odysseus in Ithaka ist ein gemachter, ein getaner Täter.«224 Er fordert in dieser ersten Szene, der physischen Heimkehr, der die metaphysische noch folgen muss, nachgerade die Anleitung von Athene ein: »Du Hohe, Göttin mit den Augen der Eule, erwirk einen Plan, ich will ihn verrichten.« (S. 18) Damit er diesen Plan durchführen kann, verwandelt Athene ihn in einem theatralen Vorgang (s.u.). Danach tritt Athene mehrmals unsichtbar auf. Sie macht ihre Verwandlung Odysseus’ wieder rückgängig, damit er den Kampf mit Iros gewinnen kann, doch spricht sie in dieser Szene nicht, tritt nicht in den Dialog ein. Sie demonstriert in ihrem stummen Handeln hier ihre Außerweltlichkeit, die zugleich alles auf der Welt beherrscht. In ihrem zweiten Auftritt erscheint die Halle vor der Ermordung der Freier in einem »starke[n] Licht« (S. 57). Das Licht verweist auf die Verantwortung Athenes für die folgenden Handlungen. Telemach sieht darin ein »Wunder« (S. 57). Doch Odysseus weist hier auf seine Verpflichtung (auch Athene gegenüber) zum Handeln hin. Denn trotz der Verantwortung, die bei Athene liegt, muss Odysseus das Handeln selber übernehmen. Er ist damit auch der Repräsentant einer anderen Reali-

224 Menke: »Niemals«. S. 310.

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tät in der Realität Ithakas. Auch zwischen den Freiern verbreitet Athene Verwirrung (vgl. S. 73). Hier bestimmt sie das Handeln von außen, jedoch immer nur vorbereitend, denn das Töten muss der Mensch übernehmen, diese Gewalt entstammt damit der menschlichen und nicht der göttlichen Sphäre. Dennoch treibt sie die Menschen, vor allem Odysseus, immer wieder zu dieser Grausamkeit an. Erst als Odysseus zweifelt, wird sie wieder zu einer Figur der Handlung und spricht mit ihm. Odysseus’ Zweifel beziehen sich nicht auf Schuld, sondern auf die Rache: »Was kommt danach? Kann ich mich retten, mich und meine Familie? Wie entgeh ich der Rache der Königshäuser, die ihre Söhne beklagen? Das muß doch vor dem Ermorden gründlich bedacht sein.« (S. 65-66) Diese Art zu denken ist nun in keiner Weise mythisch, nicht einmal um metaphysische Schuld, also ein modernes moralisches Dilemma geht es, sondern ganz einfach um den eigenen Vorteil. Es ist politisches Denken, das hier mit der Gewalt des Mythos verbunden wird. Im nächsten Satz versucht die Bühnenfigur Odysseus selbst eine Rückbindung an den Mythos, indem die Atriden genannt werden. »Sonst zieh ich ewiges Unheil auf mein Geschlecht, es geht unter in Wahnsinn und Blut wie die Atriden.« (S. 66) Doch dieser Versuch ist ein reines Zitat und keine mythische Legitimierung. In dieser Situation scheint für einen kurzen Moment ein anderes modernes Dilemma auf, Odysseus sagt: »Manchmal ist man trotzdem allein.« (S. 66) Doch ist Odysseus hier nicht allein, Athene ist in diesem Moment bei ihm und im Dialog mit ihm. Dieser eine Satz lässt hier in der Figur und im Stück die Gegenwart aufscheinen (denn der antike Held kannte das Gefühl der Einsamkeit, vor allem der metaphysischen, noch nicht), doch wird eben dieser Gedanke von Athene sofort verbannt: »Alter! Traust du meinen Kräften nicht mehr? Kleinmütig darfst du nicht werden. Sonst hast du hier nichts zu bestellen. Jetzt schick ich dir lindernden Schlaf. Das Wachen macht dich verdrießlich, es schwächt deinen Mut. Bedenken kannst du dir nicht mehr gestatten.« (S. 66) Athene ist es also, die hier die Heimkehr in einem metaphysischen Sinn, ebenso wie im physischen bestimmt. Der Schlaf ist auch ein Element, das im Stück immer wieder mit der Heimkehr, der Restitution von Ordnung, verbunden wird. Aber auch er wirkt von außen verordnet. Schlaf und Traum als Gegenrealitäten haben in Ithaka vor allem eine heilsame Funktion. Penelope verschläft den Mord an den Freiern und erwacht verjüngt (also auch hier findet eine Heimkehr in einen früheren Zustand statt). Sie selber sagt über diesen Schlaf er sei »so tief und fest nicht seit jenem Tag, da […] der Gatte von mir ging.« (S. 91) Vor der Ermordung der Freier, als Odysseus’ Heimkehr in den Palast noch nicht stattgefunden hat, kann sie hingegen nicht schlafen (S. 24). Auch Athene sieht im Schlaf für Odysseus das Mittel gegen das Grübeln, deshalb schickt sie ihn (S. 66). Also auch dieser Vorgang ist von der Göttin bestimmt. Der letzte Satz der fragmentarischen Frauen ist: »Damit schloß die Erzählung und ein weicher Schlaf löste ihm allen Gram von der Seele.« (S. 96) Doch direkt an diese Szene schließt der Alptraum des Odysseus an. Die Heimkehr in den friedli-

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chen Zustand ist also noch nicht gelungen. Denn der Weg dahin hatte grausame Konsequenzen. Deshalb »fährt [Odysseus] aus dem Traum auf.« (S. 97) Der Traum, der hier den Schlaf vergiftet, ist jedoch keiner aus einer anderen Welt, sondern holt die Schuld, die Odysseus auf sich geladen hat, zurück. Hier hat Odysseus Elemente eines modernen Menschen, der mit seiner Schuld hadert: »Wer weiß, ob ich mit meiner Seele noch eins bin?« (S. 97) Doch wird in der abschließenden Szene, im Vergessen, auch dieses Dilemma Odysseus’ von der Außeninstanz der Göttin gelöst. Nachdem Odysseus auf die Insel zurück gekehrt ist, also der erste Schritt zur Heimkehr hinter ihm liegt, und er in der Ermordung der Freier deren Interregnum, die Zwischenzeit, beendet hat, wird die Heimkehr am Ende noch in die Ewigkeit transzendiert. Das Ende hat damit wirklich etwas von einem Märchen. Doch auch dieser Vorgang muss von Athene bestimmt werden. Athenes Verantwortung für das Geschehen wird ihr auch von Zeus bescheinigt: »Du selbst hast den Odysseus geleitet zu mancher Gewalttat. Zuletzt ihn angetrieben zu blutgierigem Mord. Du selbst hast ihn in immer neues Unheil gestürzt. Jetzt weißt du nicht mehr, wie du den Liebling errettest? Laß es gut sein, Tochter. Komm zur Besinnung. Dann will ich durch deinen Mund verkünden, was für alle das Rechte ist.« (S. 101-102)

Es gibt Ansätze, die Athene, z.B. auf Grund dieser Stelle und ihrer engen Verbindung zu Odysseus, eben nicht als Göttin interpretieren: »Pallas Athene ist durch ihre geistige Verwandtschaft mit Odysseus keine Göttin mehr, sie ist entgöttert. Ihre christliche Selbststilisierung als Verkörperung der Providenz […] erscheint als groteske Staffage, denn in der Moderne gibt es den Glauben an göttliche Providenz nicht mehr. Pallas Athenes Erscheinungsbild erweist sich als eine postmoderne Zitatencollage, genauso eklektisch wie die Collage, die Penelope darstellt.«225

Doch versucht das Stück in der Athene-Figur diesen Glauben wieder herzustellen. Sie soll eine Göttin in der Moderne sein, auch ein Fremdkörper, aber einer, der Rettung verspricht. Sie ist der Versuch, den Mythos wieder in der Politik zu verorten, eine geistige Heimkehr in eine präexistente Harmonie. Doch diese ist nur auf dem Theater, in einem ästhetischen Rahmen möglich, der sich damit weiter von der Realität trennt und abschottet. Denn eine Ordnung, wie sie Athene am Ende verkündet, kann es in der Realität nicht geben, da diese auf Vergessen beruht, was selbstverständlich in der Wirklichkeit unmöglich ist.

225 Crăciun: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. S. 217.

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Bevor diese Ordnung installiert wird, die Heimkehr also vollständig vollzogen ist, kehren sowohl Odysseus als auch Athene zu ihren Vätern zurück. Das Motiv der Kindheit wird hier in Verbindung mit den Vätern wieder wachgerufen. Diese Heimkehr findet in einem Garten statt, dessen beherrschendes Motiv der Apfelbaum ist. Der Garten Eden und der Baum der Erkenntnis kommen hier in den Sinn. Doch sogar der Baum der Erkenntnis, allein schon ein Symbol für die Verlorenheit des Menschen, die in der Erkenntnis liegt, wird weiter in die Moderne geholt. Laertes bindet »verpfropfte Zweige« (S. 98), also wird sogar hier immer wieder eingegriffen, in der Absicht den Baum (und damit auch die Erkenntnis?) zu veredeln. In der Begegnung mit Laertes bricht Odysseus seine Lügengeschichte, die er zuvor in den unterschiedlichen Zusammenhängen vorgetragen hat, ab. Als Grund dafür wird die Zeit genannt: »Es fehlt uns die Zeit.« (S. 98) Auf die »Zwischenzeit«, die Odysseus mit Gewalt beendet hat, folgt zwangsläufig weitere Gewalt, das ist ein zyklisches Moment der politischen, realen Zeit. Auch im Opfer der Freier, wenn es sich denn um ein notwendiges Opfer für die Gesellschaft handelt, liegt damit nicht die Lösung. Das Morden war, wenn überhaupt, nur der erste nichtsdestotrotz notwendige Schritt. Zur Rückkehr in eine Ordnung ist dann das Eingreifen Athenes notwendig, sonst setzt sich die Gewalt in der linearen Zeit weiter fort. Aber auch Athene kehrt in diesem Garten zu ihrem Vater zurück, bevor sie die Ordnung errichtet. Der Baum – wieder durch das Licht markiert – wird zu Zeus. Zwar spricht Zeus davon, dass Odysseus Athenes Geschöpf sei und Athene selbst zur Besinnung kommen soll, doch der letzte Satz heißt: »Dann will ich durch deinen Mund verkünden, was für alle das Rechte ist.« (S. 102) Zeus wird hier durchaus auch mit christlichen Motiven eines Gottvaters angereichert, zum einen durch den Garten und zum anderen wird das Bild des brennenden Dornbusches evoziert. Der Baum leuchtet und Zeus spricht aus ihm, so wird der Baum der Erkenntnis auch zu einem Symbol der Rückkehr, da eine göttliche Ordnung angekündigt wird. Die Ordnung, die am Schluss verkündet wird, wird immer wieder mit dem Ende der Orestie verglichen.226 Doch diese Analogie funktioniert nicht. Menke analysiert den Unterschied m.E. genau zutreffend: »In der Orestie ist gedenkender Umgang mit dem Vergangenen ein unabdingbarer Bestandteil der gegenwärtigen politischen Lösung des Streits. Ithaka dagegen verspricht eine ›Verjüngung‹, in der alles zeitliche Geschehen, alle Ablagerungen und Verletzungen der Zeit, der ganze ›ausweglose Streit‹ abgestreift werden, in der am Ende des Stücks der Anfang vom Stück, der Anfang vor aller Zeit, aller geschichtlichen Zeit des Handelns, wieder erreicht wird. Der Schluß von Ithaka ist nicht der einer Tragödie, sondern eines Märchenspiels.«227

226 Diese Interpretationen werden möglicherweise auch von Odysseus' stückimmanenter Referenz auf die Atriden (S. 66) begünstigt. 227 Menke: »Niemals«. S. 308.

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Vergessen ist das zentrale Element und die Grundlage der Lösung, die Athene in Ithaka verkündet: »Wir aber verfügen, was recht ist: aus dem Gedächtnis des Volkes wird Mord und Verbrechen des Königs getilgt. Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens der Menschen. Aus göttlichem Spruch entstand der Vertrag. Wer ihn nicht einhält oder vergißt, der fürchte den Zorn und die Strafe des Vaters, der weit in die Welt schaut.« (S. 103)

Allein in dieser Rede tun sich Widersprüche auf, zum einen handelt es sich um einen »Vertrag«, aber dieser wird autoritär verkündet, was dem eigentlichen Vertragscharakter widerspricht. Zum anderen ist das Vergessen die Grundlage des Friedens und der Ordnung. Doch der Vertrag soll nicht vergessen werden. Jedoch, wenn das Vergessen umfassend wäre, müsste der Vertrag nicht erinnert werden, da das, was er bannt, eben vergessen wäre. Diese Widersprüche machen das Ende fragwürdig. Doch ist das ganze Thema des Dramas die Heimkehr. Dass diese im Endeffekt nicht möglich ist, zeigt dieser Schluss noch einmal. »Das Tragische wird zum einen auf eine höhere Sinnhaftigkeit und substanziellere Weltsicht bezogen, gleichzeitig aber werden dessen Möglichkeiten und Zulässigkeiten in Frage gestellt.«228 Zugleich behauptet dieser Schluss diese Heimkehr vehement229 – als Theater, auf dem Theater, in der Kunst und gegen die Welt und die Geschichte. Auch an dieser Stelle kommt das Licht wieder vor. »Athene wird erhellt« (S. 102) heißt es in der Regieanweisung nach Zeus’ Auftreten. Unscharf bleibt die Frage nach der Erleuchtung, im Sinne von Erkenntnis. Sind die Figuren erleuchtet, und können sie Erkenntnis in die Handlung einbringen? Im Vergessen, das eine der Grundvoraussetzungen für die Heimkehr ist, wird Erkennen eigentlich ausgeschaltet. Ganz am Ende, in der Beschreibung der Umarmung von Odysseus und Penelope, in der die letzte Heimkehr, die zum idealen Paar vollzogen wird, tauchen die fragmentarischen Frauen als Zitat wieder auf. Denn in der Beschreibung »schlingt ihre Arme um seinen Hals und das rechte Bein um seine Kniekehle« (S. 103) werden eben die Körperteile wieder angesprochen, die die Frauen bezeichneten. Auch Penelope war ohne Odysseus eine fragmentarische Frau, jetzt da er heimgekehrt ist und die Ordnung wieder hergestellt wurde, verschwinden die Frauen. Sie sind in dieser letzten Szene nicht mehr notwendig, da die Handlung, wie sich in der Umarmung zeigt, in die Ebene zurückgekehrt ist, die zuvor die Frauen verkörperten. Athene soll hier eben keine mythischen Probleme lösen, sondern politische und solche der modernen Existenz des Menschen, und zwar in Form eines (ästhetischen)

228 Thomas: Aufstand gegen die sekundäre Welt. S. 181. 229 Thomas spricht in diesem Zusammenhang auch von einem eschatologischen Bedürfnis (Hervorhebung von mir) bei Strauß (Ebenda S. 182).

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Ideals. »Liebe und Poesie siegen in romantischer Verschwisterung über die tödliche Gewalt und über das archaische Schlachten-Epos.«230 Probleme der Wahrnehmung und Selbstthematisierung Trotz der grundsätzlichen Bewegung der Heimkehr auf allen Ebenen gibt es auch in Ithaka Momente der Thematisierung von Theater und der Frage nach Wahrnehmung. Hören, das bereits in der Vorrede genannt wurde und auf die orale Tradition der Epen verweist, wird anders – und zwar doppelt, zum einen ursprünglicher und wahrer, aber zum anderen auch als Mittel der Täuschung in der Lüge – behandelt als das Sehen. Das Sehen kann täuschen und die Erkenntnis wird immer wieder »vernebelt«, richtiges Sehen muss von den Göttern gelenkt werden. Doch die Sprache können die Menschen sowohl (ge)brauchen als auch missbrauchen. Gerade Odysseus ist dafür bekannt, dass er die Doppeldeutigkeit der Sprache zu seinem Vorteil zu nutzen weiß. Darin liegt seine List. Und auch in Ithaka erzählt er immer wieder die gleiche Lügengeschichte, und zwar zunächst bei seiner Landung in Ithaka (S. 15-16), dann beim Schäfer (S. 22). Damit drückt das Stück auch eine Sehnsucht nach der Rückkehr zu einer wahrhaftigen Sprache aus. In der letzten Szene im Garten erzählt Odysseus seine Lüge nicht mehr. Zunächst ist die Begründung dafür die mangelnde Zeit. Doch dieser Zeitmangel ist eine Konsequenz aus dem Mord, der notwendig für die Heimkehr war. In einer wahrhaften, wenn auch gefährlichen und gewalttätigen Zeit, die sich zunächst dadurch auszeichnet, das sie zu schnell vergeht, ist kein Platz mehr für Lügen. Die drei fragmentarischen Frauen sind Repräsentantinnen einer erzählten Geschichte, die vor der Verunsicherung der eigenen Wahrnehmung stehen. Doch auch sie sind nicht unversehrt, sondern einerseits Fragmente und andererseits aufgeteilt auf drei Stimmen. Doch das, was sie sagen, bleibt eine Heimat, denn sie berichten, was schon vorher feststeht. Auch Odysseus gibt sich Telemach über eine Erzählung zu erkennen, und zwar über eine Erzählung »aus anderen Welten« (S. 37). Dieses Andere, diese »wahre Geschichte« (S. 36) ist ein sprachlich abgegrenztes und damit deutlich markiertes Zitat aus dem Epos.231 Darüber, also über eine Fremdheit, aber eine tradierte und positiv bewertete Fremdheit, entsteht hier Wiedererkennung in der Erinnerung, denn Telemachs Antwort lautet: »Große Worte rufst du mir ins Gedächtnis« (S. 36). 230 Braungart, Wolfgang: »Blutige Reinigung«. ›Ithaka‹ von Botho Strauß. In: Braungart & Koch (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden III. S. 159-71. hier S. 169. Für Braungart liegt darin auch ein Problem, da es so nicht mehr um das ›Andere‹ (also das Bedrohliche und Gewalttätige) gehe, sondern um eine einfache Formel des romantischen Idealismus. 231 Vgl. Strauß: Ithaka. S. 36.

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Auch Penelope will vor allem über Odysseus hören. Sie fordert Odysseus, in dem sie den Bettler sieht und ihn noch nicht erkennt, auf: »Setz dich zu mir und erzähle beim Feuer« (S. 58). Doch bevor Odysseus heimgekehrt ist, sind auch diese Worte keine echten, die fragmentarischen Frauen kommentieren: »Doch die Königin bedurfte seit jeher der Fremden, die ihr berichteten, nicht um die Wahrheit zu hören, sondern um besser weinen zu können.« (S. 60) Dieser Bericht über das Reden ist seinerseits wahr und wird ebenso gebrochen mit einem Zitat – also einem legitimierten Stück Rede – eingeleitet: »›Vielerlei log er zusammen und manches war ähnlich der Wahrheit‹« (S. 60). Hier greifen die Ebenen der Sprache ineinander, wobei immer deutlich bleibt, dass die fragmentarischen Frauen Wahrheit sprechen, zumal wenn sie zitieren. Doch im Hören liegt die Wahrheit verborgen. Die Frauen kommentieren im Verlauf der Szene weiter: »SCHLÜSSELBEIN: Sie hört nicht mehr zu. KNIE: Zu nah dem unfaßlichen Wiedererkennen, starrt sie versteinert zu Boden.« (S. 63)

Bevor Odysseus und Penelope endgültig – und zwar erst ganz zum Schluss – als ideales Paar reinstalliert worden sind, bedarf auch das Gespräch zwischen ihnen einer Mittlerinstanz. Das Gespräch wird über Telemach geführt, die Sätze beginnen mit »Sag ihm« und »Frag sie« (S. 92). Dabei ist auffallend, dass Odysseus derjenige ist, der auf den Fragen beharrt, denn eigentlich müsste Penelope ihn befragen, um in einem analytischen Verfahren, wie es zur Tragödie gehört, zu einer Wiedererkennung zu gelangen. Doch sie misstraut hier den Worten: »Die Menschen täuschen einander mit großem Geschick. Ihre Worte sind voller Spiegelungen, Blendwerk und Angeblichkeiten jeder Art« (S. 92). Die wahre Sprache ist also auch eine der Götter, eine der Vorzeit, in die erst zurück gefunden werden muss. Odysseus, der Heimkehrer, der die Heimkehr der Heimat vollzieht, wird an den unterschiedlichsten Stellen immer wieder als Gott bezeichnet, so in der ersten Begegnung mit Telemach, der fragt »Bist du ein Gott?« (S. 35) und auch hier, wenn auch indirekt, ironisch verkehrt, denn Penelope sagt: »Ein Gott wars, kein Sterblicher, der mich befreite« (S. 92). Doch wird die Göttlichkeit Odysseus’ so zwar behauptet, aber zugleich immer gebrochen. Denn Odysseus hat sich entfremdet, er ist ein Fremder geworden, das ist für einen Gott unmöglich, deshalb muss die Heimkehr, die Gewalt, von ihm vollzogen werden. Sprache hat also auch zwei Aspekte, einen göttlichen, wahren und einen menschlichen, der zur Lüge fähig ist. Auch hier ist eine Heimkehr nötig und beide Aspekte stehen einander gegenüber. Das Sehen wird immer wieder als Trugbild entlarvt. Odysseus erkennt seine Heimat nicht, als er endlich auf Ithaka landet. »Wieder einmal: welches Land?« (S. 15) Athene muss Odysseus die Heimat »entdecken« (S. 17). Diese Entdeckung ist gleichbedeutend mit einem Enthüllen, »der Nebel löst

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sich auf« heißt es in der Regieanweisung (S. 17). Hier muss also auch etwas frei gelegt werden, und zwar die Heimat. Auch Telemach glaubt zunächst ein »Trugbild« zu sehen (S. 35). Wie problematisch das Sehen ist, wird immer wieder von den Bühnenfiguren angesprochen. Eurykleia fordert Penelope auf: »Schau doch mit eigenen Augen« (S. 91). Doch Penelope kann nicht sehen. Dies kommentiert Telemach: »Die Götter machen dich blind, denn das können sie.« (S. 91) Damit ist das Sehen, sowohl als Sehen als auch als Erkennen und in der Verblendung, von den Göttern abhängig. Wohingegen die Sprache nur von den Menschen missbraucht wird. Zugleich ist die Sprache der Anteil auf den man sich verlassen kann, auch der Weg zum Erkennen, diese Sprache ist hier die des Mythos, vielleicht auch die des ästhetischen Kunstwerks. Sehen und Hören und ihre Problematik sind selbstreflexive ästhetische Diskurse, die hier im Drama, das eine ästhetische Gegenwelt zu behaupten versucht, verhandelt werden. Das Sekundäre ihrer Wahrnehmung wird problematisiert, jedoch nicht der eigentliche Kern. Das Problem ist, dass die Gegenwelt, die hier in der Ästhetik vorgeführt wird, ebenso sekundär ist, und zwar, weil es sich um Theater handelt. Die Mechanismen des Theaters werden zudem ausgestellt, vorgeführt im Wortsinn. Dies stellt einen Versuch dar, die Illusion zu durchbrechen. Das Sehen wird nicht nur von den Göttern erschwert, sondern auch in der Illusion des Theaters. In der Saalschlacht lautet die Regieanweisung: »Ein Viereck aus Segeltuchwänden sinkt herab« (S. 82). Hier wird im Theatervorgang etwas verdeckt. Doch in anderen Theatervorgängen wird etwas frei gelegt. Ein Theatervorgang wird ganz explizit zweimal ausgestellt: An Drähten werden Requisiten, Teile der Kostüme in die Luft gehoben. Zunächst in der Verwandlung Odysseus’ in einen Bettler durch Athene (S. 19). Hier sind es die Attribute des Helden »Stab, Rüstung und Kleidung«, die Odysseus in der Fremde, in Troja ausgezeichnet haben. In der Heimat braucht er sie zum einen nicht mehr, und zum anderen sind sie für die Durchführung des Plans, der die Heimkehr bringen soll, hinderlich. Die gleiche Anweisung findet sich bei Penelope. Bei ihr sind es »Maske und Körperteile der beleibten Penelope« (S. 53). Hier wird deutlich, dass das Fett Penelopes ihr eigentliches Wesen verdeckt hat. In gewisser Weise handelt es sich dabei auch um eine Rüstung, einen Schutzpanzer, der nicht mehr notwendig ist, da Odysseus heimgekehrt ist und sich bereits im Palast befindet. Auch wenn Penelope ihn noch nicht erkannt hat, befreit das Theater sie bereits jetzt – hier wirkt auch das Theater also als eine äußere Macht, die das Geschehen vorausdeutet. Schößler sieht die Heilsphantasie hier als Inszenierung entlarvt.232 Das ist einerseits richtig, doch andererseits ist die Inszenierung, vor allem im Zitat der alten Theatermittel, also der Vorzeit

232 Vgl. Schößler: Augen-Blicke. S. 189.

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auch dieser Kunst (die auch Schößler als solche sieht233), die einzige Möglichkeit einer Heilsphantasie und stärkt damit das Theater als Ort, der gegen die Realität steht. Das Theater ist damit sowohl Mittel der Illusion als auch potenzielles Mittel der Verjüngung und Heimkehr. Da beide Vorgänge an Odysseus und Penelope, den beiden Komplementärfiguren des Dramas, mit den gleichen Mitteln gezeigt werden, gehören sie zusammen. Doch stellen diese Theatermittel das Theater als solches nicht in Frage, im Gegenteil, es wird darin zwar einerseits als Illusion vorgeführt, doch andererseits auch als Gegenwelt festgehalten – und zwar als primäre Wahrnehmung, die den Illusionsapparat nicht mehr versteckt, was eine sekundäre Wahrnehmung wäre. »Von der Gestalt der zukünftigen Tragödie wissen wir nichts« heißt es im Anschwellenden Bocksgesang. Das stimmt vor allem für Ithaka, das versucht in eine alte Form, in ästhetische Überhöhung zurück zu kehren. Tragödie lebt von und mit Realität (ebenso wie der Mythos) und nicht gegen sie. Geschichte gilt in Ithaka als etwas zu überwindendes, das aber eben vergessen werden soll. Dies ist an sich unmöglich. Der Mythos wird nie in Frage gestellt, dass er genau das aushält, ist eine der wesentlichen Qualitäten des Mythos, der in der Tragödie durchbricht. Gerade so wird der Mythos in der Gegenwart lebendig, indem er die Gegenwart in Frage stellt und zugleich in ihr und von ihr verwendet wird, aber eben produktiv und nicht gegen sie gerichtet. Doch vertraut Ithaka dem Mythos nicht genug, um ihn dieser Befragung auszusetzen, damit wird zugleich die Heimat, die der Mythos bieten soll, problematisch – wenn auch im Kontext des Stückes unabsichtlich. Doch wird der Mythos in Ithaka nicht offen verstanden, sondern wird ästhetisiert hermetisch, und zwar aus der Sehnsucht nach Heimkehr und Kindheit, dem was Menke als »Märchen« bezeichnet. Aber diese Rückkehr ist nicht möglich und auch nicht tragisch. Sie braucht hier die Gewalt, damit ist aber keine Rückkehr in einen unschuldigen Zustand möglich, den die Kindheit eigentlich repräsentiert, da die Gewalt die Schuld in die Welt bringt. Odysseus versucht seine Macht mit Hilfe der Gewalt wieder herzustellen, doch am Ende muss Athene in Form des Pseudovertrags eingreifen. Das Stück selber ist auch nicht bereit, wirklich mit Gewalt zu wirken, da es die Heimkehr über den Schrecken stellt und damit eben keine Tragik aufkommt, sondern eine Hoffnung, die nicht die Rückkehr des Mythos ist, sondern die Verwendung des Mythos für die rückwärts gewandte Utopie. Alle möglichen Konflikte und Spannungen werden von Athene aufgehoben. Auch das Leid der Figuren erscheint als notwendiges Übel auf dem Weg der Heimkehr und nicht als unausweichliches tragisches Schicksal. Parry geht sogar so weit, den Mythos als eine von vielen möglichen, gleichwertigen Fiktionen anzusehen, wobei der Mythos sich nur durch seine Tradierung

233 Ebenda: »Dieses Nebeneinander von Alt und Neu betrifft auch die Bühnenmittel« (S. 185).

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von den anderen abgrenzt.234 Der Mythos ist hier nicht mehr die Bedrohung, sondern die Lösung. Die Rückbesinnung auf den alten Mythos, die VorGeschichte der Odyssee, die nicht mehr im kollektiven Gedächtnis verankert ist, wird gegen die erinnerte Geschichte positioniert. Auch Ithaka hat Brüche, Widersprüche, doch werden diese auf diesem Theater nicht ausgespielt. Im Gegenteil ist eines der Anliegen des Textes, diese in der Errichtung des zukunftsgerichteten Vertrags aufzuheben. Ithaka ist ein Theaterstück und eben kein politischer Kommentar oder Essay und auch nicht mit einem solchen zu verwechseln. Das Stück versteht sich selber (ästhetisch) als Theater. Doch ist das Theater, das sich hier positioniert, eben eines, das die Verbindung zum Publikum nicht auch auf einer emotionalen, ursprünglichen Ebene sucht. Wenn überhaupt findet hier Übertragung über Reflexion statt. Das Theater wäre dann ein ästhetischer Zufluchtsort gegen die Realität und kein Ort in ihr.

»S TIRB , L IEBE ( R ), AUCH DU !« – ALBERT O STERMAIER : A UF S AND Albert Ostermaiers Stück Auf Sand (UA Thalia Theater Hamburg 2003) zitiert und verwendet unterschiedliche kulturelle Referenzgrößen. Die erste und wichtigste dieser Ebenen ist die Ilias, also ein Gründungsmythos der westlichen Zivilisation. Aber auch Gegenwart, Popkultur und vor allem Film spielen eine entscheidende Rolle. Schößler stellt zu Ostermaiers Stücken die These auf, dass »Film dezidiert eine Form mythischen Erzählens darstellt.«235 Zur Frage, was Mythen und Filme für seine Theaterstücke bedeuten, hat sich Albert Ostermaier im Jahr 2000 geäußert: »Die Mythologie beschreibt natürlich immer die Urkonflikte und -ängste. Sie ist der Subtext, auf dem alles andere aufgebaut ist. Das ist der Sand, der am tiefsten liegt. Sie wird immer wieder zum Stachel in den Figuren. Wir versuchen immer aus der Mythologie Orientierungshilfen zu ziehen. Die Mythologie ist ein Koordinatensystem, in dem wir uns bewegen und vernetzen. Spannend fand ich immer, daß das Grundwissen um die antike Mythologie in unserer Zeit immer mehr durch Filmmythen abgelöst wird, die wiederum auf sie referieren. Aber das ganze Referenzsystem hat sich verschoben, so daß du mit Anspielungen auf antike Mythologien keinen Resonanzboden mehr findest. Wenn du dagegen auf Filme anspielst, kannst du daran anknüpfen. So versuche ich einen Bogen von der Antike über die Filmmythologie zu schlagen. Darüber hinaus ist die Mythologie der Urakt des Sprechens und der Konstituierung von Wirklichkeit durch Sprache. Diese Ebene der Sprache wird auf einmal abgelöst durch den Körper. Durch Gewalt, die real wird, die einbricht. Gleichzeitig wird Mythologie immer auch zum Handlungsmotor, zum Identitäts- und Realitäts234 Parry: Der Aufstand gegen die Totalherrschaft der Gegenwart. S. 63. 235 Schößler: Augen-Blicke. S. 226.

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entwurf: zum Maßstab, wie du dich verhalten sollst, was cool ist, was richtig ist, was Liebe ist.«236

Bereits in dieser Äußerung taucht das Bild des Sandes auf. Die tiefste Schicht stellt die Mythologie dar, doch ist Sand eben nicht wie Erde oder andere Sedimentgesteine in Schichten voneinander abgegrenzt, sondern durchmischt sich permanent. Dies illustriert Auf Sand. Der eine Mythos, der auch nur eine Referenz sein kann, wird dabei von einem anderen abgelöst, ohne den anderen Mythos als eigene Kraft wirklich weiter präsent zu halten; eine Variante löst die andere ab. Der Mythos ist hier nicht das Unberechenbare (und damit letztlich auch nicht daimonisch), sondern erste Variante eines allgemeinen Prinzips, das sich durch die Zeit zieht und so präsent bleibt. »Der Krieg um Troja findet immer noch statt, die Namen und Kriegsgründe bzw. -vorwände sind austauschbar und dadurch traurig aktuell.«237 So positioniert sich der Mythos nicht als das Andere, sondern als das Eigentliche. Das zyklische Prinzip – auch dieses Stück ist zyklisch aufgebaut – durchbricht hier nicht die lineare Zeit, sondern alle Zeit wird in einem immer wiederkehrenden Kreislauf beschrieben. Darin kommen an einigen Stellen ältere Varianten wieder zum Vorschein. Im Stück ist dies teilweise auch an der Form zu beobachten: zwischen den Szenen finden sich monologische und lyrische Passagen. Mutieren und Variieren sind die Hauptbewegungen des Stückes und nicht die Spannung zwischen den unterschiedlichen Schichten. Der Mythos kann zudem ganz bewusst verwendet werden. Genau dies wird in der siebten Szene vorgeführt. Mythos wird verstanden als frühes Symbol der menschlichen Urängste, man könnte ihn psychologisieren, er hat keine bedrohliche Eigendynamik und stellt damit die Gegenwart nicht in Frage – denn das tut hier die Gegenwart aus sich selbst heraus. Der Schmerz entwickelt sich nicht gegen eine Instanz, sondern ist notwendig, um diese Instanz frei zu legen. Mythos ist ein Mittel dazu. Das eigentliche Thema von Auf Sand ist nicht der Mythos, sondern der Krieg. Die Referenzgrößen werden in Form der Motti, die aus den zitierten Bereichen stammen, dem Stück bereits voran gestellt. Die ersten beiden beziehen sich dabei auf das Bild des Sandes, das im Verlauf des Stückes zunächst zentral bleibt. Die nächsten zwei Zitate haben den Krieg zum Inhalt. Krieg ist das Thema, das in diesem Stück verhandelt wird: Krieg auf jeder Ebene, von der kleinsten, dem (Klein-)Krieg in der Beziehung der Hauptfiguren, bis zum mythischen Krieg um Troja, der jedoch seinerseits um eine Frau geführt wird. Doch der Krieg bricht auch in die Beziehung ein und ist einer der Gründe für das Scheitern. Die Referenzgrößen verändern sich also durch die Zeit nicht. Die Ausprägungsformen variieren, doch was darunter liegt, bleibt

236 Ostermaier, Stemann, Hirte. Ein Gespräch vor Probenbeginn. In: Ostermaier: Death Valley Junction. S. 91-107. hier S. 98. 237 »War Achill nicht unverwundbar?« Albert Ostermaier im Gespräch mit Sonja Anders. In: Ostermaier: Katakomben. Auf Sand. S. 135-137. hier S. 135.

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gleich und ist damit eine anthropologische Konstante – so könnte eine der Thesen des Stückes lauten. Das ist auch der Grund, dass die Gefährdung der Personen auch aus der Gegenwart alleine legitimierbar wäre. Doch liegt darin auch eine Gefahr für den Menschen. Wenn das Alte vergessen wird, kann es sich wiederholen. Andererseits können die Bezüge so disparat und vielschichtig werden, dass der Mensch sich selber nicht mehr einordnen kann. In der Suche nach den Referenzen verliert sich dann das Eigentliche. Die beiden Sand-Zitate verdeutlichen dies, vor allem das Foucault-Zitat weist auf das Verschwinden des Menschen im Sand, in den verschiedenen sich überlagernden Schichten hin. Gefährdung der Existenz ist auch die Verbindung zum Krieg, in ihm beginnt diese auf der physischen Ebene. Im Lauf des Stückes kommt aus dem Sand aber auch der Neubeginn: aus der Erinnerung kommend geht die Handlung von vorne los. Das Personenverzeichnis stellt diese Veränderung, die Variation, aus: Die Nachnamen der beiden männlichen Figuren – Alex Chilla und Chris Rokhet – sind Anagramme von Achill und Hektor, den beiden größten Kriegern des trojanischen Kriegs. Auch aus dem Namen Andy Drome lässt sich Andromache leicht heraushören. Diesen heutigen Namen, die zudem an Popstars oder Filmschauspieler erinnern, werden noch die Namen der griechischen Götter zugeordnet. Hier kommt es zu einer weiteren Brechung, denn Alex Chilla/Achill wird später auch Thetis, eine weibliche Göttin.238 Die Geschlechterrollen werden also auch durchlässig und zur Debatte gestellt. Die Figuren verwandeln sich, sie sind »später auch«, man mag ergänzen, auch noch die Götter. Ihrer gebrochenen Struktur kommt eine weitere Dimension hinzu, jedoch in einer zeitlichen Abfolge, während die trojanischen Helden bereits in sie eingeschrieben sind. Diese werden dann in der letzten Brechung der Schlussszene jedoch zu bloßen Spiel-Rollen. Landkarten unter der Haut Das erste Bild239 ist überschrieben mit »Psammos«240, griechisch für Sand. Das Stück führt hier direkt zu diesem zentralen Bild und dessen mythischen Aufladung, indem das griechische Wort verwendet wird. Der Ort, an dem die Handlung sich befindet, ist ein von der Welt abgeschlossener, »eingeschlossen von einer schroffen Felswand und dem Meer« (S. 73). Das Meer stellt eine Bedrohung und zugleich den einzigen Ausweg dar. Die Zeit wird zunächst, vorläufig, außer Kraft gesetzt »Doch das hat Zeit« (S. 73) heißt es über den Sonnenuntergang. Die Zeit der Handlung ist also die diffuse Zwischenzeit zwischen Tag und Nacht, die hier zugleich aufgeschoben wird. 238 Interessant ist, dass bei der Uraufführung in Hamburg die Rolle des Hektor von einer Frau (Karoline Eichhorn) gespielt wurde. 239 Die Bezeichnung der Szenen als Bilder, die durchaus gebräuchlich ist, ist hier auch als eine Referenz zum Film zu verstehen. 240 In der Geologie sind Psammite die gröberen Sandkörner.

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Über die Figuren heißt es »der Schatten durchschneidet ihre Gesichter« (S. 73). Auch sie sind also geteilt und verrückt in dieser Zeit. In der Mitte dieser ausführlichen Regieanweisung241 steht dann »Es ist fast alles still, das Paradies genügt sich selbst« (S. 73). Hier wird also ein Rahmen für die Handlung gesetzt, zum einen bildlich in der beschriebenen Situation und zum anderen auch in Form der Regieanweisung. In einem Gespräch über Death Valley Junction, einem Stück das 2000 in Hamburg am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt wurde und dessen Hauptbezugsgröße Dantes Göttliche Komödie ist, sagt Ostermaier über die Regieanweisung: »Sie rahmt und schafft zugleich auch Gegenwelten, Gegen-Sprachebenen. […] Die Regieanweisung will am Ende auch mitspielen.«242 Damit wird auch hier das Drama in Spannung zum Theater, zur Aufführung gesetzt, wobei bei Ostermaier die Aufführung, das Theater als solches, immer im Vordergrund bleibt.243 Die Frage, ob es sich nun wirklich um ein Paradies handelt, wie die Regieanweisung behauptet, und was mit diesem Paradies geschieht, wenn es von Menschen bewohnt wird, stellt sich nun für die folgenden Szenen. Wobei die erste Szene bereits weitestgehend die Hauptmotive und Themen einführt, auch wenn sie teilweise erst im Nachhinein als solche zu erkennen sind. Diese Spuren werden oft durch ironisierende Bemerkungen, die direkt auf sie folgen, (für den Zuschauer) verdeckt; im Bild des Stückes bleibend: ein wenig in den Sand eingegraben. Das Setting und die Figuren sind zunächst sehr heutig. In einem Gespräch anlässlich der Uraufführung von Auf Sand sagt Ostermaier über die Figuren: »Die drei sind Menschen aus unserer Zeit, die ihre antiken Rollenvorbilder wie eine Landkarte unter ihrer Haut tragen. Wo sie verwundet werden und sich und andere verletzten, bricht etwas auf, und diese Landkarte wird sichtbar. Sie sind an einem Strand, in einem Idyll scheinbar unberührter Natur. Doch hier, wo das Paradies nahe scheint, geraten sie in eine Hölle, und alle Lebenslügen und Traumgebäude zerrinnen im Sand.«244

Der Sand ist auch Inhalt der ersten Aktion und Äußerung auf der Bühne. Hier wird die Dimension der Ewigkeit (und damit auch des zirkulären Verlaufs) eingeführt: »CHRIS lässt Sand durch seine Hände rinnen. Ein Sandkorn ist nahezu unzerstörbar.« (S. 73) Das Durch-die-Finger-rinnen-Lassen

241 Wille findet die Szenenanweisungen »schwülstig«. Wille: Bei den Göttern. S. 13. 242 Ostermaier, Stemann, Hirte. Ein Gespräch vor Probenbeginn. In: Ostermaier: Death Valley Junction. S. 91-107. hier S. 103. 243 Vgl. dazu ebenda. 244 »War Achill nicht unverwundbar?« Albert Ostermaier im Gespräch mit Sonja Anders. In: Ostermaier: Katakomben. Auf Sand S. 135-137. hier S. 136.

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des Sandes verdeutlicht das Vergehen der Zeit, wie in einer Sanduhr, und zugleich das Nicht-festhalten-Können. Doch die verbale Äußerung zeigt die andere Dimension. Auch in der nächsten Äußerung Chris’ wird diese Unzerstörbarkeit wieder betont, im Verweis auf die »uneinnehmbare Stadt« (S. 73) wird hier bereits der Bezug zu Troja angedeutet. Andy hingegen ist mit ihrem Sonnenbrand beschäftigt, mit einem konkreten alltäglichen Problem. Doch wird darin auch das Ausgeliefertsein der Menschen gegenüber den Elementen der sie umgebenden Umwelt deutlich. Im Gegensatz zu den Menschen und ihrer Haut ist der Sand durch das Wasser geschützt, er »ist das endgültige Ergebnis der Arbeit von Wind und Wellen« (S. 73). Doch der Sand auf der Haut, die von Sonne, Wind und Wellen verbrannt ist, ist für die Personen schmerzhaft, zugleich wird durch diesen Schmerz ein Weg zu dem, was unter der Haut ist, freigelegt. Auch das Wasser wird sich als lebensbedrohlich für Andy erweisen. Die Menschen stehen hier der Ewigkeit dieser Elemente gegenüber. Andy spricht davon, von Chris im Sand erstickt zu werden, hier erreicht die Bedrohlichkeit bereits den Tod, auch wenn an dieser Stelle diese Bemerkung noch ironisch verstanden werden kann. Chris seinerseits hat Todesangst bei dem Gedanken, schwimmen zu gehen. Diese Todesangst ist eine Vorausahnung auf das Schicksal Hektors, das sich an Chris wiederholen wird. Einige Zeilen zuvor sagt Chris über seine Kopfschmerzen: »Ich fühle mich, als hätte man mich durch den Sand geschleift und die Haut von der Stirn gerieben« (S. 75). Auch das ist ein Verweis auf Hektors Schicksal, der von Achill nach dem tödlichen Duell vor den Mauern Trojas über die Erde geschleift wird.245 Nach dem Satz über die Todesangst kommt auch hier der Sand wieder in einer zunächst alltäglichen Bedeutung ins Spiel: »Mist, jetzt klebt der ganze Sand an meinen Händen« (S. 75). Dies lässt an das Blut denken, das als sinnbildliche Schuld an den Händen von Kriegern und Mördern klebt. So werden die Schuld und das Morden zu einem Prinzip, das aus der Ewigkeit kommt und allumfassend ist. Man kann aber auch auf einer oberflächlichen Ebene daran denken, dass der Sand gerade wegen der Sonnencreme, mit der Chris Andy eingerieben hat, an seinen Händen klebt. Die Sonnencreme ist ein Versuch, die Haut gegen den Schmerz und das sich Ablösen der Haut zu schützen, das zunächst auch ganz physisch zu verstehen ist. Gerade durch diesen Versuch bleibt der Sand nun jedoch kleben. Es entsteht eine Unausweichlichkeit, auf die die nächsten Szenen zusteuern. Das Ablösen der Haut vom Körper kommt auch im Zusammenhang mit dem »Buch«, das nicht weiter bezeichnet wird, aber als Erzählung der Geschichte der Ilias zu erkennen ist (spätestens im zweiten Bild), vor. Andy sagt, als Chris auf der Suche nach der Sonnencreme das Buch, das eigentlich ihr Buch ist, in die Hand nimmt und daraus liest (nur diesen einen Satz, der wieder sein eigenes Schicksal vorausdeutet: »Stirb dann, Lieber, auch du«):

245 Vgl. Homer: 22. Gesang der Ilias. Vers 395ff.

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»Könntest du mir jetzt bitte den Rücken eincremen? Sonst kannst du dir bald meine Haut in Streifen als Lesezeichen abziehen« (S. 74). So ginge die Haut in das Buch zurück, das das beinhaltet, was die Figuren unter der Haut tragen. Die Körperlichkeit, der Schmerz kommt zurück zum Wort – allerdings in seiner physisch manifesten Form des Buches. Der körperliche Schmerz scheint notwendig zu sein, um an diese Schichten zu gelangen, gleichzeitig ist er unausweichlich. Der Krieg als grundlegendes Moment, das sich durch die Zeit zieht und die Grundlage allen Handelns ist, wird in zwei kurzen Zeilen eingeführt: »CHRIS Siehst du, wie tief die Vögel fliegen? ANDY Solange es keine Abfangjäger sind.« (S. 75)

Chris versucht mit der Beobachtung der Vögel die Bedrohlichkeit der Situation zu untermauern. Dies erinnert an eine antike Vogelschau, in der der Willen der Götter oder das Schicksal, offenbar werden. Doch Andys Replik verweist auf den modernen Krieg, das Unheil, das von ihm droht. Dieses ist also immer noch das gleiche wie in Troja. Danach wird mit der Bemerkung »Es war ein Scherz« (S. 75) wieder versucht eine ironisch gebrochene Distanz her zu stellen. Diese Brechungen, die immer wieder auftauchen, führen auch dazu, dass dem Zuschauer die Verbindungen hier noch nicht deutlich werden können, sondern eher als beiläufige Bemerkungen scheinen. Im Verlauf des Stückes wird ihre Bedeutung dann erkennbar. Auch das Motiv des Verbrennens, das mehrfach aufgeladen ist, wird bereits in dieser Szene eingeführt. Es ist die Rede vom »brennenden Bett« (S. 75), das allerdings auch wieder als Scherz verstanden werden kann. Dieses Bild ist neben der Bedrohung der Liebe durch den Tod, der in ihr enthalten ist, auch eine Anspielung auf die Scheiterhaufen, auf denen die Helden Trojas verbrannt wurden, und die Brandopfer der Antike. Aus diesem Motivfeld stammt dann auch der vordergründig sprichwortartige Satz von Andy: »Ich liebe es mit dem Feuer zu spielen« (S. 75). Denn ein Spiel um Liebe und Tod, durch das Feuer (das Opfer) mit den Göttern verbunden, ist auch der (trojanische) Krieg. Die Grundbewegung des Mutierens wird in dieser ersten Szene bereits explizit angesprochen. Chris sagt zu Andy: »Es ist immer das gleiche mit dir, wenn wir an einem Strand sind, mutierst du« (S. 74). Das Mutieren wird also durch den Strand, den Sand und das Wasser und diese Situation ausgelöst. Es ist nicht zufällig, sondern Ergebnis dieser Reibung zwischen den Elementen, der Erinnerung und durch den Schmerz hervorgebracht. Zudem ist es kein einmaliges Ereignis, sondern »es ist immer das gleiche«. Doch als Andy schwimmen geht, sich der Gefahr des Wassers aussetzt, ist es zunächst Chris, der ganz langsam beginnt zu mutieren. Durch den folgenden Monolog bricht »Hektor« (S. 77) an einer Stelle durch. Dabei ist nicht klar,

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ob Chris Hektor ist oder Hektor der andere Mann, vor dessen Präsenz vor allem auch in Andys Kopf sich Chris fürchtet. Zudem beschreibt er sich hier selber als einen modernen Krieger. Die Bilder, die hier entstehen (Steppe, Sand, Dschungel, Rotorblätter S. 77) erinnern an den in der nächsten Szene explizit zitierten Film Apocalypse Now.246 Auch die Wiederholung als Variation wird mit einer (inzwischen etwas überholten) Medienmetapher beschrieben: »Ich spule das Band zurück, und alles fängt anders an« (S. 77). Das zyklische Prinzip wird zudem mit dem Tod, der seinerseits mit Liebe und Besitz zusammenhängt, in Verbindung gebracht. Denn die Frage nach der Liebe ist der eigentliche Grundkonflikt der Personen Chris und Andy. Dieser wird in die Personen transportiert, es ist unklar, ob es sich bei dem anderen Mann um Einbildung oder Realität handelt. Zudem scheint Liebe unabhängig von Verlust, dessen größte Form der Tod ist, unmöglich. Aber im Tod liegt dann auch die Chance auf Neubeginn (aber in einer Variante) durch das Vergessen: »Ich hatte Lust sie zu töten, nur um sie dann wieder zurückzuholen ins Leben, in mein Leben. Nur um sie mit meinen Lippen wieder ins Leben zu küssen. Ich löschte sie aus und löschte die Spuren des anderen, ihre Stimmen in seinem Kopf. Hektor. Und alles fängt anders an. Ich habe sie immer am meisten geliebt, wenn ich sie verliess.« (S. 77).

Der Schmerz der Liebe wird auch mit dem Sand verbunden, allerdings in einer bearbeiteten Form: im Bild der Glasscherbe, als die Andy beschrieben wird – als Fremdkörper. »Ich trage sie wie eine Glasscherbe unter meiner Zunge, damit ich sie schmecke, wenn mir der Gestank die Lunge zerreisst.« (S. 77) Glas ist verarbeiteter Sand, doch ist es hier eine Scherbe, also Glas, das wieder zerstört wurde und damit auch verletzen kann. Doch die Zertrümmerung von bearbeitetem Glas bringt eben nicht wieder Sand hervor, sondern die Glasscherbe, also eine Variante. Diese Glasscherbe, die später

246 USA 1979. Regie: Francis Ford Coppola. Vor allem die Rotorblätter verweisen auf die Anfangssequenz des Films, dort werden zu Musik (The End) die Rotorblätter der Hubschrauber (vor allem die Geräusche) in die Blätter eines Deckenventilators überblendet. Dieser Film ist nicht nur einer der berühmtesten (Anti-)Kriegsfilme des 20. Jahrhunderts, er weist seinerseits auch eine Fülle von literarischen und medialen Bezügen auf, angefangen bei Joseph Conrads Heart of Darkness über T.S. Elliots Waste Land bis hin zu Wagners Walkürenritt, in der auch als solchem berühmt gewordenen Szene. Auch die Odyssee und, wie der Titel bereits verdeutlicht, die Apokalypse sowie die Gralssuche spielen eine Rolle. Die Referenzgröße ist also bereits selber Ergebnis von Referenzen. Vgl. dazu u.a.: Devine, Jeremy: Vietnam at 24 Frames a Second. London 1995. Faulstich, Werner: Die Filminterpretation. Göttingen 1988. French, Karl: apocalypse now. London 2000.

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als Pfeilspitze wieder auftauchen wird, wird unter die Zunge, in den Körper, gelegt. Damit ist sie einerseits beschützt, geht in die tiefere Ebene, unter die Haut, doch verletzt sie auch. Das Blut kommt jetzt aus dem Inneren des Körpers. Doch ist dies nicht nur bedrohlich, sondern Chris sieht darin auch wieder die Möglichkeit der Unschuld, also der Rückkehr zu einem früheren Zustand (der allerdings nie wirklich unschuldig war): »Wenn ich sie unter meiner Zunge spüre, werde ich ganz unschuldig, egal, was meine Hände tun, egal, ob ich Blut spucke. Es gibt nur sie und mich in meinem Mund. Mein Körper draussen gehört einem anderen« (S. 77). Doch die Stimme, die Sprache ist gefährdet, denn die Glasscherbe im Mund kann auch so verletzen, dass Sprechen unmöglich wird. Der Monolog endet mit einer vorausgedeuteten ambivalenten Niederlage, denn Liebe ist zwar die Sehnsucht, aber auch Schmerz und Tod. »Nichts kommt zwischen uns, nur der Sand, das Wasser. Ich werde den Krieg in dir verlieren. Wir werden ein Schatten sein und die Sonne über uns. Wir lassen alles hinter uns« (S. 78). Zwar lassen die Figuren alles hinter sich, aber zugleich werden sich die Geschichten in den Schatten wiederholen. Sand und Meer, die beiden Bedrohungen, sind das Einzige, das zwischen die Figuren kommen kann, deren Krieg jedoch eigentlich in ihnen stattfindet. Sand und Meer legen genau das frei. Anschließend daran taucht Alex auf, er ist bereits eine Mutation, er wirkt fremd und kommt aus dem Nichts, das vor und hinter – und vielleicht auch in – den Figuren liegt. Er erwähnt bereits nach wenigen Zeilen »Das Buch« (S. 78). Doch zugleich kommt er auch aus dem Heute, wie er später durch sein Wissen über Chris und Andy, das Hotel und ihr Zimmer zeigt (S. 80). Dieses Wissen nimmt Chris dann neben anderem auch zum Anlass, diesen Fremden zunächst als Trick des Hotels, als Spiel zur Unterhaltung der Touristen abzutun (S. 81). Dies ist ein Versuch, aus heutiger Sicht zu rationalisieren, was passiert. Doch durch Alex spricht die Vergangenheit, der Mythos Troja. Er sieht sich in einer schicksalhaften Konstellation, die bereits feststeht. Auf die Frage, wer er ist, antwortet er: »Ich bin der, den du umbringen wirst« (S. 79). Davon ist er überzeugt, doch ist dies gerade nicht die Handlung der Ilias, Achill tötet Hektor, nicht Hektor Achill. Das Wissen über den Mythos ist nicht in dem Maße auktorial, wie es das Wissen über die Gegenwart ist. Hier hat die Figur Alex einen Außenblick (Hotelzimmer), aber der Mythos, der von Innen kommt, kann irren. Dennoch ist die zweite Vorausdeutung, »Ich werde hier sterben« (S. 79), zutreffend. Chris erkennt hier die Referenzen: »Mythologie, das kann ich auch« (S. 81), gibt er als Antwort auf Alex’ Überzeugung »Die Götter haben entschieden« (S. 81). Etwas später sagt Alex zu Chris: »Es wird dir nichts passieren. Du musst mich ja noch erschlagen, wie sollst du das machen, wenn du vorher ertrinkst?« (S. 83) Der Mythos wird zu etwas, das man benutzen kann, das zur Verfügung steht. Doch Alex nimmt an dieser Stelle den Mythos als eigenes Schicksal ernst. Chris sieht im körperlichen Kampf ein archaisches

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Ritual (S. 82). Damit ist hier die Körperlichkeit wieder ein Mittel zu dem, was unter der Haut liegt, zu gelangen. Alex sagt zu Chris: »Du kämpfst nur gegen dich selbst« (S. 82). Damit stellt sich wieder die Frage, ob Alex eine Projektion von Chris ist und aus dessen Innerem kommt. Im Körper findet der eigentliche Kampf statt, wie Chris in seinem Monolog vorher schon in Bezug auf Andy festgestellt hat. Dann wäre der Mythos, so wie auch Alex, eine auswechselbare Referenz, eine Projektion. Doch muss der Mythos, um in Chris zu wirken, an das Heute angeschlossen werden. Für Chris ist Alex der andere Mann, der in seinem Monolog schon vorkam: »Du hast mit Andy geschlafen.« Die Antwort darauf ist weder ja noch nein, sondern »Wenn dir das hilft.« (S. 82) Damit ist der Kampf hier auch einer um die Frau. Die Liebe wird so wieder zum Motor für den Kampf. Nach dem ersten Kampf der beiden, der in der Szenenanweisung als rituell, also auch vorbestimmt und zugleich ungefährlich, beschrieben wird, sagt Alex: »Ich wollte nichts mehr mit diesem Krieg zu tun haben« (S. 82), ein deutlicher Bezug zu Achill, der nicht in den Krieg um Troja ziehen wollte. Doch auf Alex’ Beschreibung der Toten des Trojanischen Kriegs antwortet Chris mit einer vollkommen anderen Referenzgröße, die aber ebenso passend an die Äußerung von Alex anschließt: »Wie das Ungeziefer lagen die Unseren im Sand, die Augen im Rauch, die Hände an den Kehlen rangen sie nach Luft und inhalierten den Tod.« (S. 82) Nun kommt die Filmebene explizit ins Spiel. Chris fühlt sich an den Film Apocalypse Now erinnert, er rekurriert auf die Figur und die Szene, die die Brutalität des Krieges und die erschreckende Gleichgültigkeit symbolisiert: den General, der surfen will und sich darüber ärgert, dass die Wellen durch das Napalm, mit dem er zuvor zahllose Menschen getötet hat, zerstört worden sind. Das klingt so brutal, dass es ein Spiel sein muss, doch es ist die Realität des Krieges, damit wird im Rückschluss das Spiel, das die Figuren miteinander spielen, zum Krieg, zum tödlichen Ernst. Auch wird die Austauschbarkeit der Mythen hier deutlich. Die Beschreibungen passen auf beide Referenzgrößen. An diese Szene schließen zwei weitere Monologe an. Der erste von Andy ist demjenigen, den Chris in der vorhergegangenen Szene hatte, ähnlich. Das prägende Motiv hier ist das Wasser, die Bedrohung und zugleich die Sehnsucht oder auch Gier nach Leben im Tod. Auch das Wasser wird gebrochen, in seine Bestandteile zerlegt, wie die Sandkörner, »Tropfen zerplatzen auf meiner Haut, so langsam. Millionen von Tropfen berührten mich« (S. 84). Der Sand auf der Haut in der ersten Szene war noch schmerzhaft, die Wassertropfen zerplatzen auf der Haut, gehen nicht unter sie. Das Wasser, auch wenn es als Meer bedrohlich ist, legt nicht wie die Sandkörner eine tiefere Schicht frei. Sondern das Wasser ist ein sicherer Ort, auch oder vielleicht gerade, weil es den Tod bringt. Der Monolog »Drowned« (hier also eine englische nach einer griechischen und lateinischen Szenenüberschrift) beginnt: »Ich bin so durstig. Ich schlucke Wasser. Die Wellen schlagen über mir zusammen« (S. 84). Wasser (also das Kom-

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plement zum Sand) ist das Motiv, das sich assoziativ durch den Text zieht: das Wasser, das notwendig zum Leben ist (zumal in der Wüste, im Sand); das Meer, in dem Andy beinahe ertrinkt; das Wasser der Dusche, unter der sie mit dem Mann steht, der über sich selber sagt: »Ich bin Achill« (S. 84).247 Dieser Mann kommt aus dem Krieg und geht in den Krieg. Er macht auch die Liebe zum Krieg, und zwar in Verbindung mit Wasser: »Das Laken auf dem Bett, das weisse Laken, wie Wellen, wir kämpfen in den Wellen« (S. 84). Das Kriegsmotiv wird hier wieder deutlich, aber jetzt ist Krieg nicht nur eine Beschreibung der kleinen und größeren Kämpfe in der Beziehung, sondern Andy beschreibt, was der Krieg mit Menschen und mit der Liebe macht. »Der Krieg, all der Sand. […] Dein Gesicht im Staub, als wir fuhren. Bis der Regen kam und das Wasser über deine Augen lief. Immer war Wasser zwischen deinen Händen und meiner Haut, wenn du mich berührt hast« (S. 84), sagt sie. Hier wird die Haut vom Wasser umgeben und die direkte Berührung damit unmöglich gemacht. Das gleiche hat Chris im ersten Bild über die Sandkörner gesagt. Damit sind die Menschen ebenso Sandkörner, werden zum Teil der sich überlagernden Erinnerungen. Doch zugleich sind sie auch getrennt. Wenn das Wasser verschwindet, das hier auch immer tröstlich beschrieben wird, ist der Sand, der Krieg wieder präsent. Das Verhältnis der Personen zu den Elementen ist also sehr ambivalent. Auch Andy stellt eine Mutation an sich fest, doch ist es so, als ob eine fremde Frau in ihrem Körper ist, die sie als solche wahrnehmen kann und die ihr dennoch wie eine Illusion, eine Einbildung vorkommt: »Da ist sie wieder, diese Frau. Du bildest sie dir ein. Ich habe sie mir nicht eingebildet. Ich habe mit ihr gesprochen, all die Nächte. Ich fühle sie unter meiner Haut, sie ist älter als ich. Ich muss mein Sprechen ihrem Herzschlag anpassen. Als gehöre meine Zunge ihr, und mir nur die Fremdheit meines Körpers unter ihren Worten. Ich verwandle mich in diese Frau, ich wiederhole ihr Schicksal, ihr Schicksal wiederholt sich in mir.« (S. 85)

Die Worte – denn die Geschichte (zumal der Mythos) lebt zunächst in der Erzählung – sind hier mächtiger als der Körper. Doch erhebt Andy Einspruch gegen Andromache, die Mutation wird darin auch zu einer Variation, da sie von der Antike in die (Post-)Moderne geholt wird: »Diese Schlampe hat viel durchgemacht. Ich spüre es. Gelitten. Gekämpft. Sich gefügt. Ich

247 Es fiel bereits beim Personenverzeichnis auf, dass der Name Andy Drome nicht wie die anderen beiden Namen in einem einfachen Anagramm in Andromache zu überführen ist. Hier ist die Andromache-Ebene der Figur dann auch gebrochen. Sie ist nicht nur wie in der Ilias Hektors liebende Frau, sondern in gewisser Weise auch Achills Beutefrau. Diese Positionen sind in sich noch weiter gebrochen, wie in Bezug auf die Liebe oben bereits beschrieben wurde, da es sich um moderne Figuren handelt.

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füge mich nicht. Das ist vorbei. Ich opferte mich nicht, für nichts, für niemand. Nicht für Liebe. Die Liebe, sie kommt und geht wie der Krieg« (S. 85). In der grammatischen Form der Vergangenheit »Ich opferte mich nicht« – während die vorhergehenden Ich-Sätze im Präsens stehen – wird das zyklische Prinzip der Zeit wieder angedeutet. In diesem Moment kommt ein Kind, also die Personifikation der Zukunft, ins Spiel. Dieses Kind, falls es überhaupt leben wird, denn seine Existenz ist von vornherein bedroht, wird den ewigen Kreislauf fortsetzen. Doch ist es hier eben nicht das Kind von Hektor und Andromache, sondern das Kind des Anderen und damit auch ein Kind des Krieges, der letztendlich ist wie die Liebe und umgekehrt. Andy sagt über das Kind: »Ich habe mit dem andren geschlafen. Ich weiss nicht warum. Spielt es eine Rolle? […] Ich bekomme ein Kind von ihm. Der Krieg treibt es ab. Und kommt es zur Welt, gibt es die Welt nicht mehr, nur Sand. Sand, in dem es spielen kann. Es wird die Krebse aus dem Sand graben, ihre Panzer zerschlagen, um zu sehen was darunter liegt. Das Geheimnis des Todes. […] Es wird lieben, um geliebt zu werden. Aus Liebe wird es töten. Aus Liebe die Liebe verteidigen, und verteidigt nichts als den Tod. Die Liebe ist nur der Spass, den sich der Tod mit uns erlaubt, wenn die Mechanik des Krieges ihn langweilt.« (S. 85)

Liebe und Krieg sind gemeinsame Ausprägungen des Todes, eng miteinander verknüpft und dazwischen die Menschen als Varianten der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft. Doch sind sie immer bedroht. Liebe kann in dieser engen Verschränkung mit dem Tod nur im Angesicht des Verlustes existieren und sich damit selber zum Krieg machen. »Und je fremder ich ihm wurde, desto mehr liebte er mich, desto mehr war seine Liebe eine Idee wie der Sieg. Der Sieg, der ausblieb« (S. 86). Die Verbindung von Liebe und Verlust bzw. Vergessen wird auch am Ende des Monologs mit dem Spiel mit den Geschlechterrollen, das bereits im Personenverzeichnis angelegt ist, aber auch in der Anspielung auf Achill, der sich in Frauenkleidern zu verstecken versucht, verknüpft: »Er wurde meine Frau, er wurde ängstlich wie eine Frau. Er vergass wie eine Frau. Denn ohne Vergessen kann man mit keinem Mann sein. Er liebt mich. Er möchte etwas zu verlieren haben. Mich.« (S. 86) Diese explizite Formulierung der Mechanismen ist eben nur im Wasser, im Ertrinken, im Angesicht des Todes, monologisch möglich, nicht im Spiel der Figuren miteinander. Denn in der Handlung müssen sie vor allem ihre Rollen erfüllen, zugleich die der modernen Menschen und die der antiken Helden. Das Ende des Monologs geht wieder in die Spielhandlung über, auch wenn die Figur Andy hier nicht gerettet werden will (»Das Licht, zieh mich nicht aus dem Licht.« S. 86), muss sie, der Logik der ewigen Variation folgend, wieder in das Spiel einsteigen. Andys Rettung aus dem Meer ist dann wieder Teil der vordergründigen Handlung, doch bevor diese weitergeht, steht eine Sichtbarmachung der tieferen Schicht, ein weiterer Monolog.

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Der Monolog, den Alex (als Achill) hält, ist die einzige Stelle, an der der antike Held als Figur genannt wird. Dieser Text ist dann auch mit »Grabung« (S. 87) überschrieben und seiner Form nach – im Gegensatz zu den beiden anderen Monologen – lyrisch. Hier ist damit nur die Schicht des Mythos präsent, auch wenn Bilder und Motive, die vorher bereits präsent waren bzw. angedeutet wurden (der Sand, das Feuer, die Glasscherbe, die Frauenkleider), vorkommen. Das Motiv der Rache für das Töten wird besonders deutlich gemacht: »den freund zu rächen mit/dem herz eines toten das/nur mehr schlägt in meiner/faust« (S. 87). Dies meint zunächst Patroklos248, den Hektor erschlug und für den Achill Rache nimmt. Aber indem das Herz eines Toten in der Faust schlägt, wird hier auch die Körpererinnerung an die tieferen Schichten, die der Toten, mit angedeutet. Der lyrische Text beschreibt in einer archaischen Art die Situation zwischen den Figuren Hektor und Achill. Zugleich ist die Lyrik der Ausdruck für das Wesentliche, das hier an die Oberfläche kommt. Es gibt keine direkten Referenzen auf das Heute. Doch werden Bilder und Motive aus der Zukunft, sowohl historisch gesehen (aber im Drama bereits präsent) als auch in der Handlung des Stückes, hier angedeutet: »lieg ich denn im sand das/blut im mund« (S. 88). Sowohl Chris als auch Alex werden tot im Sand liegen, auch wenn an dieser Stelle die Frage gegenteilig gemeint ist. Achill beschreibt damit Hektors Prahlen über Patroklos’ Tod, als ob er Achill getötet hätte. Das Blut im Mund verweist auf die Glasscherbe, die in Chris’ Monolog bereits vorkam. Achill ist anders als die anderen Figuren seiner selbst und der Situation sicher, auch damit gehört er einer anderen Ebene an: »ich kenne die/regeln des lebens.« (S. 89) Eine dieser Regeln und das zentrale Feld, auf dem sie angewandt werden, ist der Krieg. Während Chris und Andy sich immer fragen, was Illusion und was Wirklichkeit ist, vor allem in Bezug auf die Anderen, den anderen Mann, die andere Frau unter der eigenen Haut (also in der Verbindung mit der Liebe), und es auch möglich scheint, dass Alex eine reine Projektion von Chris ist, ist sich Achill des Illusionscharakters des Kriegsgrundes voll bewusst: »helena du schöne erwählt/von den göttern du warst/nie mehr als eine täuschung/des lichts nur der hat dich/gesehen dessen augen gegen/die sonne blickten die hand/vor der stirn/helena nie gab es dich.« (S. 90) Doch trotz allem ist Achill in den Krieg gezogen. Für ihn gilt die Verknüpfung von Liebe und Krieg nicht, er ist ein Krieger, für den ein Vorwand oder ein Anlass zwar gegeben sein können, doch sie sind nicht dringend notwendig. In seinem Monolog beschreibt er sich selber in dieser Art und

248 Auch auf die Rüstung und Patroklos’ Tod wurde bereits im zweiten Bild angespielt, doch ist die Rüstung bloß noch ein T-Shirt: »ALEX Woher hast du diese Rüstung? CHRIS Meinst du mein T-Shirt? ALEX Du hast Patroklos auf dem Gewissen.« (S. 82)

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Weise: »ich kann ja nichts als/schlagen und alles andre/langweilt mich aber vielleicht/wird mich hektor töten denn/ich weiss ich werde sterben im/kampf/drum warte ich hier wie die/götter es wollen und harre des/todes oder täusche ich mich.« (S. 91) Der Monolog endet mit einer Frage, aber ohne ein Fragezeichen. Damit stellt sich die Frage wieder selbst in Frage. Die Frage ist die nach der Illusion. Kurz zuvor war Achill sich der Täuschung bewusst, hier ist er sich nicht mehr sicher. Durch die Entlarvung des Kriegsgrundes als Illusion wird auch die Liebe als Antriebsgrund in Frage gestellt. Die Liebe als Kriegsgrund ist ein Teil des Spiels des Todes, wie es auch in Andys Monolog schon thematisiert wurde. Doch am Ende werden die Illusion und die Vorherbestimmung wieder in Frage gestellt. Nachdem alle Figuren so die Themen des Dramas in den monologischen Passagen auf unterschiedliche Art und Weise vorgestellt haben, kommen sie in Bild 4 »Trias« (S. 92) zusammen, damit sich das Schicksal erfüllt, das Spiel weiter geht – in der Variante. Der Krieg der Gegenwart wird hier offensichtlich, wenn auch nicht für die Figuren, die Szenenanweisung lautet: »Im Nachthimmel eine Aufklärungsdrohne, lautlose Leuchtfeuer, der Widerschein von Explosionen, die die Dunkelheit aufreissen. Die drei bemerken das nicht.« (S. 92) Bis zu diesem Punkt steht Alex den anderen beiden Figuren deutlich entgegen, denn er hat seinen Monolog als Achill gehalten, während die anderen beiden Figuren in der Gegenwart verblieben sind. Dabei hat vor allem Andy in der Grenzsituation die Vermischung der Ebenen weitergehend erkannt als Chris. Nachdem Chris Andy aus dem Meer gezogen hat, schlägt er auf sie ein, »verliert in seiner Verzweiflung, im Nachreflex seiner Angst jegliche Kontrolle« (S. 92), wie es in der Regieanweisung heißt. Rettung und Gewalt liegen also dicht beieinander, wie hier deutlich wird. Kurz darauf wird auch im Dialog die Verbindung von Liebe und Tod von Chris wieder gezogen: »Ja, manchmal wünsch ich mir, du wärst tot und du würdest nur mir gehören. Ich würde nie aufhören, dich zu lieben« (S. 93). Direkt darauf sagt Alex den Satz, in einer leichten Variante, den Chris ganz zu Beginn aus dem Buch vorgelesen hatte: »Stirb dann, Liebe, auch du« (S. 93). Dieser Satz, die Verknüpfung von Liebe und Tod in der Ankündigung oder auch Prophezeiung des Todes, ist der zentrale Satz des Stücks. Hier kommt noch eine weitere Dimension hinzu. Mit »Liebe« – während es vorher »Lieber« hieß – kann nicht nur Andy gemeint sein, sondern auch die Liebe an sich, die stirbt. Doch zunächst setzen sich die heutigen Personen mit der vordergründigen Situation auseinander, zu überleben, diesen abgeschlossenen Strand zu verlassen. Da es dunkel und kalt wird, schlägt Alex vor: »Wir müssen uns wie Sandkörner aneinander schmiegen« (S. 94). Damit werden sie Teil des Sandes, der Erinnerung und des ewigen Kreislaufes. Doch sie können auch nicht wirklich zueinander kommen, denn die Sandkörner sind von einer Schicht Wasser umhüllt, wie im ersten Bild erklärt wurde.

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Auch das Feuer hat eine mehrfache Bedeutung. Es dient als Verbindung zur Außenwelt (»Wir müssen ein Feuer machen, damit sie uns sehen.« S. 94249). Doch das Feuer als Opfer ist auch die Verbindung zu den Göttern. Die Figuren verbrennen die Kleider, um das Heutige so auch rituell abzulegen, während im Dialog immer mehr die archaischen Figuren durchbrechen, z.B. wieder in der Episode mit den Frauenkleidern. Chris provoziert Alex folgendermaßen: »Du willst dich rächen? Ist es das? Oder willst du den Feigling in Frauenkleider stecken, damit er sich verstecken kann und ich ihm nicht seine Haut abziehe.« (S. 95) Die Haut ist die Grenze und der Ort des Körpergedächtnisses. So geht die Erinnerung hier einen doppelten Weg, über die Sprache, die sich ritualisiert, und den Körper, der die Spuren von dem was unter der Haut ist, jetzt auch nach außen trägt. Während der »rituelle Kampf« im zweiten Bild (S. 82) nur ein kleines Intermezzo war, endet der Kampf nun tödlich. Doch ist dieser einer aus einer anderen Welt. Die Bewusstseinsveränderung wird auch deutlich in der Aufforderung, die Augen geschlossen zu halten. Dies ist auch ein Zeichen für eine Erinnerung und veränderte (körperliche) Wahrnehmung. Die drei gehen dann in den Figuren der Ilias auf: »ANDY Leben wir noch? Sei still. Schliess die Augen. Chris, schliess die Augen. Gib mir deine Hand. Alex, darf ich deine Narbe berühren? Sie führt Chris’ Hand über Alex’ Narbe. Was steht auf dieser Zeile? ALEX Ich erinnere mich nicht. Kannst du die Schrift der Götter lesen? ANDY Lass deine Augen geschlossen, Chris. Er ist ein Halbgott. CHRIS Und ich? ANDY Er ist sterblich wie du, Hektor. CHRIS Hektor? ANDY Du bist Hektor, denn ich liebe dich ALEX Andromache ANDY Der dein Zorn, alles, was sie liebt, erschlägt, nur nicht ihr Leid, das bei ihr bleibt. ALEX Ich will niemanden töten. ANDY Du musst.« (S. 95)

Auch hier kommen Sprache und Körper zusammen. Chris wird zu Hektor, indem Andromache/Andy ihn so nennt – und weil sie ihn liebt. Diese Kraft wird hier nicht in Frage gestellt. Doch gerade Achill/Alex ist es, der Andy daraufhin als Andromache erkennt. Die Sprache, die Schrift der Götter, von der die Rede ist, ist eben als Narbe in den Körper, in die Haut eingeschrieben. Es ist Alex’ Körper, obwohl Achill eigentlich unverwundbar war, auf

249 Zu Beginn der Orestie erfährt Klytaimnestra von Trojas Fall durch die Leuchtfeuer, die diese Nachricht bis zu ihr tragen. Damit ist das Feuer auch ein Zeichen für die Niederlage, auch wenn es den Figuren selber nicht bewusst ist.

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dem sich die Narbe befindet. Doch Alex ist es, der von Anfang an aus einer anderen Welt zu kommen scheint und der später in eine heutige Figur transformiert wird, während es sich bei den beiden anderen Figuren umgekehrt verhielt. Hier ist es Andy, die Alex/Achill, der sich vorher der Rolle, die er auszufüllen hatte, immer sicher war, darauf hinweist, dass er töten muss. Damit ist die Gewissheit des Mythos ebenso in die Figur übergegangen, wie die Figur Andromache in Andy. Die nächste Passage ist dann in einem lyrischen Ton gehalten, zunächst ist der Text auf die Personen aufgeteilt, danach haben sie weitere monologische Passagen.250 Als Andy dieses durchbricht, indem sie Chris mit diesem Namen anspricht, wird sie von ihm bewusstlos geschlagen, um den Ablauf des Kampfes, der nun folgt, nicht zu unterbrechen, er begleitet dies mit den Worten: »still ich muss es tun es kommt/aus mir an diesem strand.« (S. 98) Der Grund liegt also in der Figur selber, der Strand, der Sand, die Schichten sind der Motor und der Referenzrahmen, aber nicht eigentliche Ursache der Tat. Nachdem Andy zuerst bewusstlos geschlagen wurde, liest sie kurz darauf, ohne dass in einer der sonst so präzisen Szenenanweisungen deutlich wird, ob sie wieder bei Bewusstsein ist, aus dem Buch den Kampf zwischen Achill und Hektor vor, während sich dieser gleichzeitig vollzieht (S. 99100). Doch liest sie keine Versübertragung des 22. Gesangs der Ilias, sondern eine Zusammenfassung in heutiger Sprache, die in Prosa gehalten ist, doch in der Wortwahl Anklänge an Erzählformen des Mythos (oder auch des Märchens) hat. Am Ende geht die Erzählung/Lesung in den Dialog der beiden Kämpfenden, also in theatrale Handlung über. Der Mythos gibt hier einen Rahmen, wird zur Regieanweisung – in der Gegenbewegung der Bemerkung, dass »die Regieanweisung auch mitspielen will«. Nachdem Alex Chris getötet hat, fühlt er sich »befreit« (S. 101), er glaubt seinem Schicksal entgangen zu sein, das er bis dahin darin sah, dass er von Chris/Hektor getötet würde. Woher dieser Glaube kam, ist nicht vollkommen klar. Jetzt wird Alex zu einer heutigen Figur. Hier findet also die Umkehrbewegung statt. Der eine findet in der antiken Figur den Tod, während der andere durch den Mord im Heute angelangt und den zuvor immer vor sich her getragenen Schicksalsglauben (vgl. Bild 2) ablegt: »Die Götter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.« (S. 101) Im Bild des Feuers wird diese Rückbewegung deutlich. Er fordert: »Gib mir das Feuer!« (S. 101). Damit kappt er die Verbindung zu den Göttern im Feueropfer.251

250 In der Hamburger Uraufführung kamen noch weitere lyrische Passagen, die den drei Figuren zugeordnet sind, hinzu. Diese sind unter der Überschrift »Bewusstseinsströme« auf den Seiten 129-133 in der Buchfassung abgedruckt. 251 Die Verbindung von Feuer mit den Göttern der griechischen Mythologie lässt auch immer an Prometheus denken, der den Menschen das Feuer gebracht und sie damit in gewisser Weise von den Göttern befreit hat. Doch zahlt er für diese

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Die Umgebung verändert sich in der folgenden Szene (Bild 5: »Paris«): »Alles Tote erwacht zu einem künstlichen Leben. Die Wellen spucken Öl ans Ufer, das Wasser wird schwer. Detonationen – dann Stille, vollkommene Stille.« (S. 101) Währenddessen versucht Andy Chris im Sand zu begraben. Unweigerlich kommt hier das Bild von Antigone ins Gedächtnis, die versucht den toten Bruder wenigstens rituell zu begraben, also dem Götterrecht zu genügen. Doch ist das Eingraben in den Sand auch der Versuch, Chris in die tieferen Schichten, also die Erinnerung einzugraben, damit er daraus wieder hervorgehen bzw. auferstehen kann. Kurz darauf sagt Andy über Chris: »Ohne ihn bleibt nur Sand« (S. 102). Doch im nächsten Bild wird Chris aus genau diesem »Sandgrab« (S. 104) wieder aufstehen. Wie eng die Figuren im Leben und im Tod zusammengehören und sich dennoch fern bleiben, so wie die Sandkörner, wird in dieser Szene deutlich. Sie sind Projektionen und Illusionen der jeweils anderen Figuren, Teile einer Geschichte, die eigentlich nicht ihnen gehört, sondern immer dem anderen, in der sie aber ihre Rollen spielen. Andy sagt zu Alex: »Es ist deine Geschichte« (S. 102) und »Du machst keinen Sinn ohne ihn. Warum hast du ihn getötet?« (S. 102). In dieser Szene wird die Frage, ob die Liebe der Antrieb für den Mord war (»ANDY Hast du ihn nicht für mich…« S. 102), radikal mit ›nein‹, mit der Sinnlosigkeit von Gewalt beantwortet: »CHRIS Ich bin zum Totschlagen geboren. Warum soll ich, um zu lieben, sterben wollen?« (S. 102) Die Verbindung von Liebe und Tod, die zwar einerseits fatal, doch andererseits auch hoffnungsvoll war, die Andy und Chris immer gesehen haben, wird also hier von Alex negiert. Es bleibt die Sinnlosigkeit des Krieges und des Tötens. Daraufhin tötet Andy Alex mit Hilfe ihres Wissens um den Mythos. Also ist auch Alex/Achill nicht von seiner Schwachstelle, seiner Achillesverse, befreit. Diese Schicht kann nicht abgelegt werden, sie ist eingeschrieben und wird hier wieder hervorgeholt. »ANDY Nur das Gedächtnis deines Körpers hält dich für unverwundbar ALEX Ah. Was war das? Er greift in den Sand. ANDY Gib es mir! Eine Scherbe. ALEX Nein, es ist die Spitze eines Pfeils.« (S. 103)

Das physische Instrument, das sie zum Töten benutzt, ist eines der Hauptsymbole des Stückes: die Glasscherbe. Diese wird hier jedoch zusätzlich mythisch als Pfeilspitze aufgeladen. Sie stammt aus der alten Zeit und aus dem Heute. Die Glasscherbe war auch ein Instrument, um an die Körpererinnerung zu gelangen. Hier steht sie dieser geradezu entgegen, durchbricht sie. Die Körpererinnerung wird so zu einer weiteren Illusion (doch war sie das bereits vorher, da auf Alex’ Körper Narben zu finden waren, was bei ei-

Hybris einen hohen Preis. Auch Prometheus’ Strafe ist eine immer wiederkehrende.

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nem unverwundbaren Helden wie Achill nicht möglich gewesen wäre). Im Vorgang des Tötens wird die Verknüpfung von Liebe bzw. Lust und Tod noch einmal deutlich gemacht. »ANDY Wehr dich nicht mein Held. Sei mutig. Sie küsst ihn, fährt weiter mit der Pfeilspitze liebkosend an seinem Körper entlang. Wie zart die Haut an deiner Ferse ist. ALEX Nein, da nicht! ANDY drückt ihm die Pfeilspitze in die Ferse. Zu spät. ALEX lacht, halb erregt, halb voll Schmerzen. Ich sterbe. Erkennend, dass er wirklich stirbt. Nein! ANDY Sei nicht so empfindlich mein Schatz. Sie küsst seine Stirn und drückt ihn in den Sand. Stirb, mein Lieber, auch du!« (S. 103-104)

Der letzte Satz, bevor der Kreislauf wieder zu seinem Anfang zurückkehrt, ist eine weitere Variante des zentralen Satzes: »Stirb, mein Lieber, auch du!« (S. 104) Andy sagt ihn, als sie Alex tötet. Dieser Satz kommt ganz zu Beginn des Dramas in der ersten Szene schon vor, von Chris geäußert und dann von Alex, also bei allen drei Figuren in Abwandlung. Alle werden mit diesem Satz zum Tode verurteilt, die Männer sterben, Andy wird zumindest bewusstlos geschlagen und ist beinahe ertrunken, sie trägt eine Todessehnsucht in sich. Indem der Satz von allen drei Personen geäußert wurde, ist die Handlung zu ihrem Ende gekommen. Dieser Satz hat beinahe eine magische Wirkung im Verlauf des Dramas. Liebe, Tod und Sprache, die aus dem Mythos kommt, da der Satz das erste Mal aus dem Buch vorgelesen wird, werden in ihm miteinander verknüpft. Liebe in einer engen Verbindung zum Tod und der Gefährdung im Krieg ist damit der eigentliche Mythos, der in Auf Sand verhandelt wird. Auch dieses Thema ist ein altes, viel zitiertes, das hier noch einmal neu durchgespielt wird – in Verbindung mit dem griechischen Mythos. »und alles fängt anders an« In seinem Monolog in der ersten Szene hatte Chris gesagt: »Ich spule das Band zurück, und alles fängt anders an.« (S. 77) Doch trägt das nächste Bild auch die Überschrift »Memo« (S. 104), es wird also etwas erinnert, indem es von vorne beginnt. Hier wird Chris, der eigentlich tot ist, wieder lebendig, Andy, die aus dem Wasser kommt, erweckt ihn mit Hilfe des Wassers wieder zum Leben. »Andy geht zu Chris, beugt sich über ihn, schüttelt über seinem Gesicht ihre Haare aus, bis er erwacht und seinen Körper aus dem Sandgrab hebt.« (S. 104) Das ist die Umkehrung der vorherigen Situation, in der Andy im Wasser beinahe ertrunken und von Chris wiederbelebt wurde. Die Beschreibung, dass Chris »bis auf Brust und Kopf eingegraben im Sand« liegt (S. 104), er-

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innert an das als Motto verwendete Foucault-Zitat vom Menschen, der »verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (S. 72). Chris glaubt, geschlafen zu haben, eingeschlafen zu sein, während er in dem Buch gelesen hat. Andy erklärt daraufhin, er habe geträumt. Es scheint, dass er wie ein Kriegsveteran von Alpträumen verfolgt wird. Doch so einfach lässt sich das Vergangene (im doppelten Sinn) nicht abschütteln, denn Chris ist offensichtlich verletzt. Er fragt sich, wie das passieren konnte, obwohl doch nur Sand um ihn herum ist. Doch gerade der Sand ist die tödliche Vergangenheit, die ihn umgibt und durch Gewalt und Verletzung freigelegt wird. Folgerichtig kommt die Pfeilspitze bzw. Glasscherbe im Sand zum Vorschein. »ANDY Da haben wir das kleine Miststück. Eine Scherbe. Sieht aus wie eine Pfeilspitze. CHRIS Wirf sie weg! ANDY Willst du sie gar nicht sehen? Was hältst du davon, wenn ich dich ein wenig kitzle damit?« (S. 104)

Damit ist die Erinnerung an die vorhergegangene Szene ganz direkt wieder präsent. Den Vorschlag die Pfeilspitze mit nach Hause zu nehmen, »als Souvenir. Als Erinnerung an unseren Sex am Strand« (S. 105) lehnt Chris ab. Diese Art der Erinnerung ist unheimlich und bedrohlich und zugleich unausweichlich (die Pfeilspitze ist also als Erinnerung nicht notwendig), denn der Sand bleibt an den Körpern kleben: »Wir schleppen eh den ganzen Sand mit nach Hause. Er wird noch wochenlang aus allem rinnen« (S. 105). Sie fühlen sich beobachtet, als ob noch jemand da ist. In der vorherigen Schleife ist Alex aus dem Nichts aufgetaucht, ohne dass man ihn vorher wahrgenommen hätte. Nun ist es umgekehrt, es kommt niemand, aber es scheint so. Gleichzeitig ist nicht klar, welche Variante die bedrohlichere ist. Der Andere ist hier anwesend als Erinnerung, aber auch als »leere Drohung« (S. 106). Der Neubeginn ist hier zwar die Chance, dass alles anders wird, doch zugleich ist diese Endlosschleife auch gefährlich: »Ich habe Angst, dass sich alles wiederholt. Dass wir aus dieser Schleife nicht mehr herauskommen. Wir lieben uns, und dann kommt wieder ein andrer, der alles zerstört.« (S. 106) Auch das Wasser-Motiv, die andere Seite der Bedrohung kommt wieder. Chris hat Angst vor dem Wasser, wie bereits im ersten Durchgang durch das Drama. Damit ist die Wiederholung, auch die in der Variation, auch keine Lösung, sondern ein ewiger Kreislauf. Doch am Ende sieht Chris in dieser Ewigkeit auch etwas Tröstliches, obwohl anscheinend alles auf Krieg und Tod hinaus läuft. »CHRIS Nein, der Sand macht mir Mut. Weißt du warum? […]

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CHRIS Ein Sandkorn ist nahezu unzerstörbar. Er streut ihr Sand auf den Rücken. ANDY Hör auf, das tut weh.« (S. 107)

Hier beginnt also alles wieder von vorne, und zwar doch wieder mit dem Schmerz, wenn auch verbunden mit Hoffnung. Doch statt eines weiteren Durchgangs durch die gleiche Situation wird im nächsten Bild das Setting vollkommen geändert. Die Variante ist nun eine des Referenzsystems. Das Thema wird in eine andere Zeit und mediale Vermittlung verlegt. Die Szene erinnert an Kriegsfilme. Andy begibt sich in die Rolle einer Reporterin, während Alex ein moderner Krieger ist. Damit wird deutlich, dass die Themen durch die Zeit gleich bleiben. Die Motivik bleibt dabei sehr ähnlich. Hier ist das Wieder-von-vorne-Beginnen, der Kreislauf, vordergründig durchbrochen. Doch ist die Szene eine Erinnerung, filmisch gedacht eine Rückblende. Alex fragt Andy: »Sie fahren in den Urlaub?« (S. 108) Damit ist die Situation am Strand, die in den vorhergehenden Szenen zu sehen war, auf einer sehr oberflächlichen Ebene beschrieben. Auch das Buch, das Andy am Strand liest und das immer präsent war, wird hier als Alex’ Buch eingeführt. Alex sieht Achill als Schlächter, doch seine Schwachstelle kennt er nicht, dafür ist er blind. Andy hingegen weiß darum – deshalb war Alex im Bild 5 auch überrascht, dass er stirbt, als Andy seine Ferse mit der Pfeilspitz durchbohrt: er hat es nicht gelesen, er wusste es nicht. Alex schenkt Andy das Buch mit den Worten: »Das Ende interessiert mich nicht, nie. Aber es heizt gut an. Alles drin: Sex and violence. Sie können es mitnehmen. Gute Strandlektüre. Viel Sand drin.« (S. 108) So ist Alex mit dem Buch an den Strand gekommen. Im sechsten Bild kommt ein Mann vor, der Andy gedroht hat, sie zu verfolgen. Allerdings liegt diese Verfolgung an dieser Stelle des Stücks bereits zurück, das war der Inhalt der ersten fünf Szenen. Dennoch taucht dieses Motiv erst hier auf. Das Ende des siebten Bildes, also eine noch etwas spätere Stelle im Stück, enthält Alex’ Ankündigung, während er Andy die Pistole an den Kopf hält: »Ich gebe dir einen Tag Vorsprung, alles andere wäre unsportlich. Aber sei dir sicher: Ich finde dich, egal wo du bist. Und pass auf deinen Mann auf. Ich wollte schon lange mal wieder Surfen gehen. See you there!« (S. 111) Die Drohung ist also eine heutige, doch ihr Vollzug, der vorher auf der Bühne zu sehen war, wird aus der Antike legitimiert und mit dem zweiten Referenzsystem, dem Film, über die Erwähnung des Surfens verknüpft. Alex spricht über den Mythos, den er verwendet, und zwar als Mittel gegen die Skrupel: »Man ist in einer Parallelwelt. Ich suche mir immer Parallelwelten. Troja z.B., das gibt dem Ganzen so eine zeitlose Dimension« (S. 110) und einige Zeilen später: »Für Öl? Wie hässlich! Du brauchst eine Idee

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oder zumindest eine Fahne. Wie sähe es aus, wenn ich dort halb tot mit einem Ölkanister stehe.« (S. 110)252 Nicht nur die Kriegsgründe, der Versuch von Legitimierung, sondern auch die beiden Referenzsysteme, Ilias und Apocalypse Now, die als AntiKriegs-Buch bzw. -Film gelten, werden von Alex verkehrt, die Heuchelei, die dahinter steht, damit bloßgestellt: »Diese ganze Kunst-gegen-den-KriegScheisse! Lügen Sie sich doch nichts vor. Ihr hängt doch alle vor der Glotze, wenn die Bomben fallen, und geilt euch dran auf. Dann habt ihr euren Thrill und könnt euch auch noch empören dabei. Das Leben ist ja sonst so schrecklich langweilig.« (S. 108) Damit wird die Frage der medialen Wahrnehmung aufgeworfen, diese geht über in die Illusion, die Projektion. Deshalb ist die Antwort auf die Frage, ob er zitiert werden darf (also in eine überprüfbare Form gebracht werden), auch folgerichtig: »Wir haben uns nicht getroffen. Das ist alles in ihrem Kopf. Wenn nicht, platzt er. Bandsalat. Klar?« (S. 109) Die Frage nach dem, was im Kopf ist, im doppelten Sinn, als Illusion, aber auch als Form des Gedächtnisses im Körper, war bereits das ganze Stück über präsent. Damit stellt sich auch diese Szene, die zudem wie aus einem Film, also einem Illusionsmittel wirkt, ebenso in Frage, wie die Troja-Szenen. Alles könnte auch nur ein Traum sein, eine Einbildung, weil das Leben sonst »so schrecklich langweilig« ist. Auch das Bild des Sandes kommt in dieser Szene vor, hier wird auch dieses zentrale Bild mit der Illusion verknüpft. Auf die Frage: »Wofür kämpfen Sie denn überhaupt ausser für Ihre eigene perverse Lust?« (S. 109) lautet die Antwort: »Für Sand. Gegen den Sand. Er hat meinen ganzen Körper erobert, dieser Scheiss-Sand. Die Wüste ist überall, die Illusion ist überall. Ich komme nicht mehr raus aus dieser Wüste, verstehen sie. Du bist für mich eine Fata Morgana, nichts als eine Luftspiegelung.« (S. 109) Die Fata Morgana ist eine Illusion, die nur in der Wüste entstehen kann. Der Sand bringt also im Schmerz nicht nur tiefere Schichten hervor aus den Körpern an die Oberfläche, er erzeugt zugleich Täuschungen des Verstandes. Das Bild des Sandes in seinen unterschiedlichen Aufladungen wurde in den vorhergehenden Szenen deutlich. Diese liegen jedoch in einer logischen Chronologie hinter dieser Rückblende, damit ist hier wieder ein zyklisches Prinzip erkennbar. Was der Sand bedeutet ist allerdings für den Zuschauer klar, da er der Chronologie des Stückes folgt, die eine andere ist, als die des vordergründigen Plots.

252 Der Krieg, den die USA im frühen 21. Jahrhundert gegen den Irak führen, wird um Öl geführt, auch wenn der Krieg gegen den Terror, der auch hier thematisiert wird (»Wir sind die Guten, das sind Terroristen« S. 110), der offizielle Grund ist. Der Irak ist zudem, wie die meisten Ölstaaten, ein Wüstenstaat. Die Irakfeldzüge in den 1990er Jahren liefen zudem unter den Namen »desert storm« und »desert fox«. Das Öl kam bereits in der Beschreibung der Situation zu Beginn von Szene 5 vor (S. 101).

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Das Ende der Szene führt die Elemente, die Alex mit Krieg verbindet, und zwar »Sex and Crime«, in ihrer Verbindung noch einmal vor. Dabei handelt es sich auch hier um ein Spiel mit Manipulation: »ALEX Drück ab, das willst du doch. Sie ist entsichert, du kannst nichts falsch machen. Nicht zittern, nimm beide Hände. So ist es gut. Jetzt fick mich! Andy drückt ab, doch die Pistole war nicht geladen ALEX lacht nach einer Schrecksekunde. Hab ich doch gesagt. Ich bin unverwundbar. Wie Achill. Andy keucht. Alex küsst sie.« (S. 110-111)

Diese Szene ist vordergründig eine heutige, doch ist auch sie in den zyklischen Verlauf des Stückes eingebunden. Denn Andy hat Alex bereits getötet (in Bild 5) bzw. wird es in der Logik der Rückblende noch tun. In ihrem Monolog »Drowned« erinnert sie sich auch an den anderen Mann, Achill, mit dem sie geschlafen hat und an das Kind, das sie bekommt oder nicht (vgl. oben). Alex glaubt »an eine allmächtige Kraft, an die Magie, die den Kriegshelden unsterblich macht« (S. 111). Das ist zunächst pathetisch. Doch diese Magie ist, wenn sie denn existiert, der unausweichliche Zyklus, das Immerwieder-Kehren, das auch eine Angst ist. Für die anderen beiden Figuren gab es noch Tod und Liebe. Doch wenn es keinen Tod mehr gibt, dann gibt es auch keine Liebe mehr. Denn auch Achill ist letztendlich nicht unverwundbar. Das Ende ist die Drohung, die bereits erwähnt wurde, damit geht alles wieder in einen Kreislauf ein. Doch dem Stück steht noch ein Epilog nach, er scheint beinahe wie ein Satyrspiel in einer griechischen Tragödie. Während zuvor Tod, Gewalt und Krieg die Themen waren und auch die Liebe als mögliche Utopie nur in dieser Verbindung denkbar und möglicherweise lebbar war, kommt nun ein humoristischer, alberner Ton ins Spiel. Vorgeführt werden griechische Götter, Zeus, Hera und Thetis mit ihren allzu menschlichen Problemen. Anders als vorher ändern sich hier die Personennamen im Text. Dass es sich um die gleichen Figuren handelt, hatte das Personenverzeichnis bereits klar gesagt. Hier findet sich also zunächst nicht eine Variante des ewig Gleichen. Die Götter sind anders als die Figuren aus dem Heldenepos nicht von Archaik geprägt, sondern sehr heutig. Dies zeigt sich in den Referenzen, die teilweise sehr platt werden, wie z.B. das Viagra (S. 114), aber auch im Umgangston. Es scheint, als ob hier moderne ›Entscheider‹ ihre Abmachungen treffen. Dazu verwenden sie das entsprechende Vokabular, es ist die Rede von »Memoranden« (S. 113) und »Kompetenzbereichen« (S. 113). Diese Götter sind noch dazu in Gefahr. Sie sind teilweise »dem Monotheismus nicht gewachsen« (S. 113). Zeus’ ständiges Übergeben wegen des fetten Hammelfleisches in den Brandopfern der

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Menschen ist ein Zeichen für die übersättigte Gesellschaft. Diese wird mit dem Krieg verknüpft »Du weißt, die Hammel. Das ist ja das pure Fett. Frieden wäre da die beste Diät. Sollen sie mir Tauben opfern« (S. 114). Doch der Krieg ist auch das Spiel, das die Götter mit den Menschen treiben und das sie dann selber untereinander fortsetzen. Die Götter beschließen ihre Verwandlung in Menschen, um ihren eigenen privaten Konflikt in einem Spiel auszutragen, »ohne gleich all die Menschen abzuschlachten« (S. 116). Auch das scheint paradox, denn genau dieses Abschlachten wurde im vorhergehenden Drama als immer wiederkehrend dargestellt. Hera sagt: »Was soll denn dieser abschwellende Bocksgesang? Hast du Angst? Zeus und Angst?« (S. 117). Hier zitiert das Drama eindeutig Botho Strauß und den Anschwellenden Bocksgesang. In der Verkehrung von »anschwellend« in »abschwellend« ist implizit eine These zur Kulturkritik des Essays, aber auch zur Tragödie enthalten. Die Zeit ist eine andere, oder sie ändert sich nie, da sie in zyklischen Strukturen, wie das Drama sie vorführt, immer wieder kommt. Mal ist sie tragischer, mal weniger tragisch, mal hört man die Mahner lauter, mal weniger laut. Doch am Ende ist alles nur ein Spiel und vor allem auch das Theater, das hier eben nicht der utopische Gegen-Ort ist, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Spielplatz, auf dem die Strukturen wiederkehren und variiert werden und so nie den Anschluss an die Wirklichkeit verlieren. Der letzte Satz ist wieder der erste des Dramas, den hier Zeus, der Göttervater, äußert: »Weisst du: ein Sandkorn ist nahezu unzerstörbar« (S. 117). Damit wird alles eigentlich zum Spiel der Götter erklärt und verliert so auch an Ernsthaftigkeit. Diese letzte Variante relativiert die eigene These, die das ganze Stück über vorgestellt wurde. Denn wenn alles nur ein Spiel lächerlicher Götter in Menschengestalt ist, dann ist auch die Bedrohung keine reale. Doch durch diese Variante wird dann auch die Unmöglichkeit der Liebe und der Existenz angesichts des fortdauernden Krieges relativiert. So ist dieser zunächst unpassende Schluss vielleicht doch auch ein Weg, den Glauben an diese Möglichkeit aufrecht zu erhalten.

»Ü BER DIE M ASSEN « – D EA L OHER : B LAUBART – H OFFNUNG DER F RAUEN Blaubart – Hoffnung der Frauen (UA Bayrisches Staatsschauspiel München 1997253) zitiert im Titel ein bekanntes Märchenmotiv sowie einen fast ver-

253 Die Zitate folgen der Buchausgabe Manhattan Medea. Blaubart – Hoffnung der Frauen. Blaubart beginnt auf Seite 65. Tatsächlich ist das Stück als »Work-in-Progress« im Verlauf der Probenarbeit entstanden. Die Widmung lautet: »Für Andreas Kriegenburg und die Schauspielerinnen und Schauspieler, mit denen die Uraufführung am Bayerischen

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gessenen Einakter von Kokoschka aus dem frühen 20. Jahrhundert. Gemeinsam mit den anderen Stücken des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, die hier analysiert werden, hat es eine Fülle von intertextuellen Bezügen. Doch anstelle eines antiken Mythos verwendet Loher ein Märchenmotiv, und zwar eines aus der europäischen Kulturgeschichte.254 Ähnlich wie bei einem Mythos gibt es keine universal gültige Form dieses Stoffes. Märchen sind ein wichtiger Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Kultur und haben ihren Ursprung, ähnlich wie Mythen, oftmals in einer oralen Tradition. Auch mit diesen Stoffen wird immer wieder neu gearbeitet und so werden auch sie lebendig gehalten. Im Fall des Blaubart-Motivs geschieht dies auch in diesem Stück, das in einer gegenwärtigen Zeit angesiedelt ist und dennoch kein realistisches Zeitstück. Dea Loher selber sagt im Zusammenhang mit Klaras Verhältnisse: »Dieses Bedürfnis nach Realismus verkleinert nur das, was man selber damit anfangen kann.«255 Die Gegenwart des Stückes ist seltsam zeitlos, zwar kommt einmal eine Jahreszahl, 1997, vor, doch ist dies das Jahr der Uraufführung und diese Zeitangabe scheint austauschbar. Es geht nicht um 1997, sondern um heute. Im Stück heißt es dann auch: »Ich war heute im Englischen Garten« (S. 85). So ist der Auslöser für die Handlung, das Moment, das zudem wiederholt werden muss, immer präsent. Es ist »heute«, also nie abgeschlossen. »Jetzt« und »heute« sind Worte, die immer wieder vorkommen, damit behauptet das Stück auch als Theater eine momentane Gegenwärtigkeit. Doch mit der Zeitstruktur wird immer wieder gespielt. So auch in der ersten Szene. Es heißt in der Szenenanweisung »Frühling« (S. 72), aber der Geburtstag, der am selben Tag sein soll, ist am 26.11. (S. 74). Damit ist dieser Tag, diese Begegnung unmöglich oder aber auch utopisch. Widersprüche werden zusammengebracht und -gedacht. So ist das Stück gleichzeitig jetzt und niemals präsent.

Staatsschauspiel entstanden ist.« (S. 66) Vgl. zu Dea Lohers Verhältnis zu Andreas Kriegenburg als Regisseur Börgerding: »I’m just blue«. Die Uraufführung hat weitere Szenen und ist anders angeordnet, als die Textversion. Die Symmetrie, die an der Textversion zu beobachten ist, ist hier nicht mehr auszumachen. Der gravierendste Unterschied ist die Aufspaltung der Blaubart-Figur in zwei Figuren. »Heinrich II verkörpert den Blaubart, der rückblickend seine eigene Geschichte erzählt, Heinrich I ist derjenige, der sie linear erlebt.« (S. 135) Vgl. zu den Änderungen und zum Zusatzmaterial Loher: Manhattan Medea. Blaubart S. 135ff. 254 Vgl. dazu Frenzel: Stoff der Weltliteratur S. 126-132. Jirku beschreibt die Entwicklung des Mythos unter dem Gesichtspunkt des »soziokulturelle[n] Wandel[s] der Konstruktionen von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern.« Jirku, Brigitte E.: Blaubarts Geheimnis. In: Bascoy et al. (Hrsg.): Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur. S. 69-82. Vgl. S. 69ff. 255 Loher: »Wenn der Kitsch vorbei ist, geht der Kampf weiter«. S. 263.

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Formal weist es eine zyklische Struktur auf und im genauen Vergleich des Umgangs mit Zeitangaben im Stück sind mehrere Widersprüche auszumachen. Auch damit entzieht sich das Stück einer vordergründigen Einordnung als ›Zeitstück‹. Es behauptet eine Universalität, die sich auch in der Themenwahl und dessen Umsetzung zeigt. Dea Loher selber spricht davon, dass sie »nicht Sozialreportagen, sondern Tragödien« (s.u.) interessieren. Wertheimer hingegen sieht gerade darin das »Fehlen einer eigenständigen Blickrichtung.«256 Er geht von einer Reproduktion des Alltags aus.257 Für ihn »verkommt« Blaubart zum »Allerwelts- und Alltagsmythos.«258 Das greift m.E. zu kurz. Dieser Alltag ist eben kein solcher, sondern in seiner Verknappung und in seinen grotesken Momenten ästhetisch verschoben. Auch die Orte der Handlung sind zwar einerseits kenntlich, wie der Englische Garten, doch zugleich sind es immer Allgemeinplätze im Wortsinn. »Sie treffen sich an Niemandsorten: Park, Bar, Wald, Straße, Bahnhof, Bordell – anonyme Plätze, an denen sie auf das schon vergangene Leben schauen.«259 Damit sind alle Figuren immer unterwegs, sie kommen nie an und bleiben Suchende in einer Zeit und an einem Ort, die überall und nirgends zugleich sind. Haas definiert diese Technik Lohers folgendermaßen: »Im Rückgriff auf die Ästhetik des Flüchtigen, wie sie im Fin de Siècle entwickelt wurde, verklammert Lohers Dramatik die inhaltlich erzeugten Unschärferelationen und die Auflösung der eigentlichen Perspektive mit einem formal durchkonstruierten Theater. Dabei greift sie auf Heisenbergs Unschärferelation zurück, die im Rückblick als Paradigma für die Auflösung der beobachtbaren Eindeutigkeit nicht nur in der Physik, sondern auch der Kunst gelten kann. Dies setzt sie parallel zu ihrem politischen Theater, das eine Vielzahl individueller Perspektiven an die Stelle einer Geschichtsphilosophie treten lässt. Eindeutigkeiten sind durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt.«260

Das Bild der Unschärfe ist ein sehr zutreffendes, sowohl für den Aufbau des Stückes als auch für die Figuren. Aber es sind nicht nur Wahrscheinlichkeiten, die hier an die Stellen von Eindeutigkeiten treten, sondern auch Wider-

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Wertheimer: Don Juan und Blaubart. S. 158. Ebenda S. 159. Ebenda. Tiedtke, Marion: Du sollst Deiner Sehnsucht nicht nachgeben… Notizen zu Dea Lohers Text Blaubart – Hoffnung der Frauen. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 146-150. hier S. 147. 260 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 37. Den Begriff der Unschärfe in Bezug auf die Kunst verwendet Dea Loher selbst, und zwar im Zusammenhang mit den Bildern von Gerhard Richter. Vgl. dazu die Rede zur Verleihung des Gerrit-Engelke-Preises. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 224-229. Besonders S. 226-27.

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sprüche. Gerade so ist das Stück gegenwärtig und zugleich allgemein. In der Unschärfe lassen sich keine klaren Antworten mehr finden. Doch gerade darin liegt auch eine Aufforderung – und auch eine (utopische) Hoffnung in Bezug auf das Theater. Diese formuliert Dea Loher folgendermaßen: »Wenn das Theater seine Position als relevantes lebendiges soziales Forum zurückgewinnen will, müssen dorthin logisch auch die großen Fragen zurück geholt werden. Nicht Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Strahlenverseuchung, sondern Gewalt, Schuld, Verrat, Freiheit, nicht Sozialreportage, sondern Tragödie.«261 Doch müssen diese Fragen in eine Welt einbrechen, die für den Zuschauer gegenwärtig ist, eine Spannung zwischen dem Alltäglichen, Durchschnittlichen und dem Allgemeinen, Großen macht Tragödie möglich. »Über die Maßen« als tragische Struktur – die großen Fragen von Gewalt und Schuld Der Kern des Stückes und der Morde ist die Unverhältnismäßigkeit, das, was in der ersten Szene mit »über die Maßen« beschrieben wird. Indem sich Emotionen und Konstellationen so weit steigern – und zwar nicht aus Zufall, sondern aus den Figuren heraus – können sie nur noch im Tod enden. »Immer geht es um lebensbedrohliche Verbindungen, die unauflöslich scheinen.«262 Diese Struktur weist eine Nähe zur Tragödie auf, in der die Helden auch an etwas scheitern, das über sie hinaus geht. Zentral für das Scheitern ist immer auch die Tatsache, dass zumindest eine Hoffnung vorhanden gewesen sein muss. Die Frauen, denen Heinrich begegnet, leben in einer solchen Hoffnung, ebenso wie Heinrich, doch zugleich wissen sie paradox immer um deren Unerfüllbarkeit. »›Eine Utopie als unerfüllbaren Wunsch kann man gar nicht verlieren‹, sagt Dea Loher. Deswegen sind ihre Protagonisten zwar unglückliche Utopisten, aber keine Fatalisten.«263 Lohers Heinrich Blaubart erinnert an einen modernen Serienmörder. So stellt sich auch die Frage nach der Schuld auf mehreren Ebenen. Während die Frauen im Märchen von Blaubart auf Grund ihrer neugierigen Übertretung seines Verbots getötet werden, tötet dieser Blaubart die Frauen, weil

261 Nicht Harmonisierung, sondern Dissonanz. Juliane Kuhn im Gespräch mit Dea Loher. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 18-22. hier S. 22. 262 Khuon, Ulrich: Das Spiel des Schreibens und seine Anstöße. Dea Loher und das Autorentheater in Hannover. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 9-16. hier S. 9. 263 Umathum, Sandra: Unglückliche Utopisten. In: Weiler & Müller (Hrsg.): Stück-Werk 3. S. 101-105. hier S. 101. Das in diesem Zitat enthaltene Zitat von Dea Loher stammt aus dem Gespräch mit Franz Wille »Ich kenne nicht besonders viele glückliche Menschen«. S. 65.

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sie ihn lieben. Blaubarts eigener Tod ist im Märchen seine Strafe und die Rettung der Frauen. Hier ist Blaubarts Tod auch der Tod der Blinden. Der Tod der Frauen ist zudem der einzige Moment, in dem ihre Sehnsüchte nach Liebe erfüllt werden können und in dem Blaubart »über die Maßen« ist. Der Moment des Todes ist der Moment des Ausbruchs aus dem Alltag über den Dea Loher sagt: »Nicht das Kranke, sondern das Normale ist eine Sehnsucht und ein Geschwür.«264 Dem entgegen steht das Blaubart-Motiv, wobei es zugleich aus diesem Alltag hervor geht. Haas konstatiert in diesem Zusammenhang: »Im Ganzen stellt Lohers Stück eine Inversion der traditionellen Situation dar.«265 Doch spielt das Stück auch mit diesen Klischees, nicht zuletzt indem immer wieder Szenen zu Grotesken werden. »Das Pasticcio in Lohers Blaubart spielt mit den Geschlechterstereotypen. Die klischeehafte, zerstückte Handlung ist überzeichnet und derart montiert, dass die einzelnen Figuren wie groteske Hybride wirken, die die (ohnehin in sich widersprüchlichen) Stereotype ausagieren. Die Grenzen zwischen Täterschaft und Opfersein löst sich in einer ›Grauzone‹ auf.«266

So stellt sich die Schuldfrage, die auch für die Tragödie zentral ist im Zusammenhang mit dem Blaubart-Stoff. Doch ist die Frage eben nicht die nach der Schuld im juristischen oder auch psychologischen Sinn, sondern nach der Schuld als einem allgemeinen, möglicherweise mythisch überhöhten – tragischen – Prinzip. Künzel stellt die These auf: »So entsteht der Eindruck, dass es in den Stücken von Dea Loher eigentlich nur Opfer gibt.«267 Aber die Figuren sind auch alle zugleich Täter. Das hat Künzel einige Seiten zuvor in Bezug auf Adam Geist treffend als »Oszillieren zwischen Opfer- und Täterposition«268 beschrieben. Dieses wird auch in Blaubart an einigen Stellen deutlich, an denen die Figuren in einem Zwiespalt sind, sich nicht entscheiden können. Dabei werden die eigentlichen Widersprüche »Ja« und »Nein« beinahe im gleichen Atemzug ausgesprochen. So sagt die Blinde, nachdem Heinrich sich selber als Mörder bezeichnet hat: »Was denn – Wollen Sie jetzt mich. Ja. Nein. Wollen Sie jetzt mich. Bei der Hand nehmen. Ja. Nein. Wollen Sie jetzt mich. Umarmen. Ja. Nein. Wollen Sie jetzt mich küssen. Ja. Nein. Ja… Sie läuft weg« (S. 90). Auch Heinrich Blaubart spannt diese beiden Begriffe in einer anderen Szene zusammen, allerdings umgekehrt:

264 Nicht Harmonisierung, sondern Dissonanz. Juliane Kuhn im Gespräch mit Dea Loher. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 18-22. hier S. 21. 265 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 247. 266 Giesler: Überall Täter. S. 78. 267 Künzel: Vielleicht kommt die Gewalt von innen. S. 366. 268 Ebenda S. 361.

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»EVA zieht eine Pistole aus ihrer Handtasche Soll ich Sie erschießen. HEINRICH Nein. Ja.« (S. 115)

Auch diese Begegnung steht im Angesicht des Todes, doch wird sie hier kippen, denn Eva wird von Heinrich erschossen. Zur Frage nach der Schuld an Julias Tod (der gewissermaßen der Auslöser der Handlung ist) äußert Heinrich sich in der Szene mit Anna ebenso widersprüchlich, er kann sich nicht entscheiden, ob es seine Schuld war: »Weil es vorbei ist, und ich habe es beendet. Ich habe es getan. Ich.« (S. 87) und kurz darauf: »Ich habe es nicht getan. Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan. Julia, ich habe dich nicht umgebracht. Ich, ich war es nicht. Pause. Dann sag ich jetzt deinen Namen. Anna. Du bist aber eine andere. Eine andere. Auch blond. Aber du bist nicht über die Maßen, und du wirst nie über die Maßen sein.« (S. 88) Diese Frau stirbt, weil sie nicht »über die Maßen« ist. Julia als Tote ist eben genau das, darin liegt eine Verklärung, denn sie muss dem Anspruch, den sie selber aufgestellt hat, nicht mehr entsprechen; zugleich setzt sie mit ihrem Tod genau diesen Maßstab um so nachdrücklicher. Heinrich weiß um sein Dasein als Mörder und kann ihm trotzdem nicht entgehen. Er tötet, weil er geliebt wird, und wird getötet, weil er Liebe sucht. Für Jirku steht auch dies im Zusammenhang mit den Geschlechterrollen, in deren Erwartung die Figuren stehen. »Durch die unartikulierte Art und Weise der Gewalt glaubt Heinrich der geforderten Männlichkeit genüge zu tun, ohne fähig zu sein, sich mit ihr auseinander zu setzten.«269 Doch diese Liebe ist keine reale, sondern immer eine utopische und damit auch eine aus dem Märchen stammende. Im Zusammenhang mit anderen Protagonisten von Dea Lohers Stücken spricht Khuon davon, dass diese durch »eine Verbindung von scheinbarer Transparenz und gleichzeitigem unauflöslichen Rätsel, die dunkle Folie unserer Alltagsmythen«270 gekennzeichnet sind. Das trifft auch auf diesen Schuhverkäufer Blaubart zu. Das Töten lässt sich jedoch nicht allein aus Heinrich begründen, sondern es scheint zugleich auch immer durch ihn hindurch zu gehen, was eine tragisch-daimonische Struktur darstellt. »Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Lohers Darstellung von Gewalt zwischen einem essentialistischen Modell, das Gewalt als anthropologische Konstante voraussetzt […] und einem mythisch-metaphysischen Gewaltbegriff bewegt, der suggeriert,

269 Jirku, Brigitte E.: Blaubarts Geheimnis. In: Bascoy et al. (Hrsg.): Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur. S. 69-82. hier S. 73. 270 Khuon, Ulrich: Das Spiel des Schreibens und seine Anstöße. Dea Loher und das Autorentheater in Hannover. In: Groß & Khuon (Hrsg.): Dea Loher und das Schauspiel Hannover. S. 9-16. hier S. 15.

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dass Gewalt als Phänomen immer schon da sei.«271 In Bezug auf das konkrete Stück und die Verknüpfung von Liebe, Tod und Schuld bedeutet dies: »BLAUBART – HOFFNUNG DER FRAUEN zeigt, dass die Hoffnung den anderen zur Verwirklichung der eigenen Vorstellungen von Liebe benutzen zu können, auch schnell zum Verhängnis werden kann. Dabei verzichtet die Autorin neben einer möglichen Schuldfrage auf jegliche Psychologisierung. Sie zeigt, ohne zu erklären und ohne zu werten.«272

Unschärfe Das Stück hat einen nahezu symmetrischen Aufbau. Die Begegnungen mit den sechs Frauen werden von Szenen mit der Blinden, der siebten Frau, durchbrochen. Auch sie hat sieben Szenen, doch ist die eine Szene das Vorspiel, das einerseits außerhalb dieser Symmetrie steht und andererseits, indem es in die Zählung der Blindenszenen mit einbezogen ist, dazu gehört. Die Zahl Sieben spielt im gesamten Stück eine wichtige Rolle. Es gibt sieben Frauen, sieben Szenen mit der Blinden, die Blinde hat Blaubart vor sieben Jahren zum ersten Mal wahrgenommen, seit seinem siebten Lebensjahr geht Blaubart nicht mehr in den Zoo. Eva hatte sieben Ehemänner, Christine wartet auf den 77. Mann, der vorbei geht. Auf Grund dieser Überdeutlichkeit kommt Giesler zu dem Urteil: »Während jedoch die Zahl Sieben in Kult und Religion für Ganzheit, Fülle und Vollkommenheit und im Märchen für Totalität steht, wird das Heilige und Magische hier eher ins Lächerliche gezogen, so dass die magische Ziffer in Lohers Spiel zur überstrapazierten ›Schnapszahl‹ wird.«273 Diese Verwendung der Zahl Sieben wehrt sich jedoch auch gegen genau dieses Heilige und Magische, um es gleichzeitig zu zitieren. Hier wird ein ambiger Umgang deutlich. Das Märchenhafte ist so märchenhaft nicht, sondern kann ebenso grotesk sein. Das Groteske ist eine Verschiebung, die für das gesamte Stück zentral ist. Hier kann diese Technik an einem kleinen Detail, der Zahl Sieben, die im Märchen eine wichtige Rolle spielt, nachvollzogen werden. Doch hat dies eine Funktion, es geht darum, eine Differenz herzustellen. In solchen Differenzen zwischen Alltag und Märchen, das seine Allgemeingültigkeit verloren hat, aber die Figuren dennoch beherrscht, entsteht Spannung. Zwischen Vorspiel und Beginn der Handlung steht ein Prolog, der über Heinrich und seinen Beruf berichtet. Drei der vierzehn (zwei mal sieben) durchnummerierten Szenen sind ebenfalls Monologe. Der JUNGFRAUENMONOLOG (VI) ist der Blinden zugeordnet, während der TREPPEN- (II) sowie der WALDMONOLOG (XIII) ohne Rollenzuweisung sind. Sie stehen jedoch

271 Künzel: Vielleicht kommt die Gewalt von innen. S. 368. 272 Umathum, Sandra: Unglückliche Utopisten. In: Weiler & Müller (Hrsg.): Stück-Werk 3. S. 101-105. hier S. 102. 273 Giesler: Überall Täter. S. 85.

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an prominenten Stellen, nach der ERSTEN LIEBE (I) und vor der LETZTEN LIEBE (XIV). Auch die Symmetrie ist hier also etwas in die Unschärfe verzogen. In die Handlung brechen unterschiedliche Momente auf unterschiedlichen Ebenen ein. Die Figuren werden nicht psychologisch erklärbar gemacht. Heinrich wird in entpersonalisierten Monologen vorgestellt. Dem entgegen steht jedoch die Blinde, die in ihrem Monolog selber erklärt, aus welchen Beweggründen sie handelt. Allerdings ist auch dies keine Erklärung für ihren Mord an Blaubart am Ende. »Im Mittelpunkt der Stücke stehen nicht Charakterstudien. Vielmehr konzentriert sich Loher auf die (Sprach-)Handlungen der Figuren im geschichtlichen Kontext.«274 Haas sieht hier eine Verbindung zu Brechts gestischem Sprechen. Die Sprache spielt auf einer selbstreflexiven Ebene immer eine entscheidende Rolle. Doch wird sie so mit zur Diskussion gestellt. Auch hier gibt es eine Differenz zwischen der Veränderung, die durch Sprache erreicht werden kann, und dem, was durch Tun und Handeln möglich ist. Die Sprache ist dabei immer der Auslöser für die Morde. Die Figuren und ihre intertextuellen Bezüge Wie bereits erwähnt, zitiert der Titel ein Drama von Kokoschka, dessen Titel aber mit dem Märchenstoff vermischt wird. Aus Mörder, Hoffnun g der Fra uen275 wird Blaubart – Hoffnung der Frauen. Indem die allgemeine Bezeichnung hier durch den Namen des märchenhaften Frauenmörders ersetzt wird, wird ein anderer Horizont, eben der des Märchens, des kollektiven (Kindheits-)Gedächtnisses eröffnet. Lohers Stück steht in einem anderen Verhältnis zur Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter als Kokoschkas.276 Doch auch damit spielt sie. Der intertextuelle Ansatz ist im Ganzen von Ironie getragen. »Die starke Intertextualität des Stücks rückt die Figuren und die Handlung in eine ironische Distanz. Dazu trägt maßgeblich bei, dass fast sämtliche Figuren Namen tragen, die sie – zum Teil mehrfach – mit berühmten Geschlechtermythen der Kulturgeschichte verbinden.«277 Das Verhältnis zwischen den Figuren und ihren Vorbildern ist nicht nur ironisch, sondern auch Teil der inneren Spaltung der Personen. Das, was außergewöhnlich ist, »über die Maßen«, kommt auch 274 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 68. 275 Kokoschka: Werke. S. 137-151. 276 Vgl. dazu u.a. Štědroň: Dea Loher – Die elf glücklosen Stücke: »Lohers ›Blaubart‹ ist jedoch mehr als das ohne Kausalverknüpfung verfasste, nervige und provokativ veranlasste expressionistische Drama.« (S. 272) Sowie Szczepaniak: Der Mann als Erlöser? »Während also bei Kokoschka der Mann deutlich triumphiert und einer lichten Zukunft entgegen tritt, ist der weibliche Sieg bei Loher gleichbedeutend mit dem Abschied von weiblichen Träumen absoluter Liebe.« (S. 108). 277 Giesler: Überall Täter. S. 81. Vgl. zu den genauen Referenzen die folgenden Seiten.

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von diesen Vorbildern (oder ihrer Mythisierung), und diesem Anspruch können die Figuren nicht gerecht werden, sondern sterben an ihm. Die Bezüge sind vor allem literarisch, sie sind in Sprache manifest, wodurch diesem Aspekt noch weitere Bedeutung zukommt. Blaubart ist hier kein König, sondern ein Schuhverkäufer. Im Prolog heißt es: »Bei seiner etwas langwierigen Suche hatten sich alle Berufe als ungünstig erwiesen, in denen er mit der Pflege von etwas und der besonderen aufmerksamen Hingabe an etwas oder der Einfühlung in etwas zu tun hatte, die womöglich noch dazu sein Improvisationstalent, seinen Geruchs-. Geschmacks- oder Tastsinn sowie sein Vorstellungsvermögen verlangten. Man könnte vermuten, es fehlte Heinrich an Fantasie.« (S. 69)

An diesem Schuhverkäufer ist zunächst nichts Bemerkenswertes und es wird sich auch kein Abgrund seiner Persönlichkeit im Verlauf des Dramas auftun. »Dea Loher zeigt einen Blaubart-Mann ›ohne Eigenschaften.‹«278 Jirku kommt deswegen zu der Einschätzung: »Blaubarts Geheimnis? Dass er keines hat. Er hat kein Geheimnis. Dies endlich einzusehen, ist die Hoffnung der Frauen.«279 Doch hat die Figur einen Aspekt, der ihm selber ein Geheimnis ist. Durch Heinrich geht das Blaubart-Motiv hindurch, ohne, dass er es einordnen kann. Dort ist etwas Unberechenbares und gerade das lässt ihn »über die Maßen« werden, allerdings als Mörder. Das macht ihn (gerade in seiner ganzen Alltäglichkeit) auch zu einer daimonischen Figur, in dem Sinne, in dem in einer Daimonie diese beiden Anteile (eigenes Handeln und unerklärbare Dimension) immer zusammengehen. Auch wenn dieser Blaubart kein König ist, trägt er doch einen königlichen Vornamen: Heinrich. Heinrich VIII von England wird ähnlich wie Blaubart vor allem damit in Verbindung gebracht, dass er seine Frauen (zum Teil) tötet. So werden in dieser Theaterfigur die beiden Referenzgrößen Geschichte, die zum Mythos geworden ist und mythisches Märchen miteinander vermischt. Giesler weist auch auf ein negatives Verhältnis zu Faust hin: »Während Heinrich Faust als der (todbringende) Verführer der Unschuld in die Geschichte der deutschsprachigen Literatur eingeht, tötet Heinrich Blaubart Frauen, um sich selbst vor der Verführung zu retten.« 280 Doch die Frauen suchen den Verführer, sie verführen Blaubart auf paradoxe Weise in ihrer Hingabe auch zum Mord an ihnen. Gefahr für die Frauen entsteht, sobald sie einen Anspruch formulieren oder auch nur haben. In einer Szene mit der Blinden stellt Heinrich dies selber klar: »Überlegen Sie gut. Bis jetzt waren Sie in Sicherheit, weil Sie nichts von mir wollten. Aber ich bin immer noch

278 Szczepaniak: Der Mann als Erlöser? S. 109. 279 Jirku, Brigitte E.: Blaubarts Geheimnis. In: Bascoy et al. (Hrsg.): Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur. S. 69-82. hier S. 81. 280 Giesler: Überall Täter. S. 80.

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ein Mörder.« (S. 90) Dieser Grad von Reflexion über sein eigenes Handeln, das eigentlich nicht zu diesem Heinrich passt, zeigt wiederum paradox, das es etwas gibt, dem er nicht entgehen kann, auch wenn er es weiß. Doch was genau es ist, bleibt unklar. Hier wird der Stoff trotz der vordergründigen Alltäglichkeit des Helden in eine allgemeinere Ebene gerückt. Das Anpassen von Schuhen, also das Geschäft des Schuhverkäufers, wird im Prolog noch mit einem weiteren Märchen in Verbindung gebracht, und zwar mit Aschenputtel. Aschenputtel wird vom Prinzen durch den passenden Schuh erkannt und dieses Erkennen führt zum Happy-End des Märchens. Doch genau auf dieses wird hier nicht Bezug genommen, sondern auf das, was davor liegt, auf die vergeblichen Versuche der Schwestern, den Schuh anzuziehen: »Wer denkt schon in dieser Situation daran, daß es vor der Erfüllung heißen muß/Ruckedigu/ ruckedigu/Blut ist im Schuh.« (S. 71) Diese Hervorholung des negativen Teils des Märchens ist auch als Kommentar und Kritik zu einem Umgang mit den Mythen und Märchen zu verstehen, bei denen eben der bedrohliche Teil angesichts des glücklichen Ausgangs verdrängt wird. Die erste Frau, der Blaubart begegnet, trägt den Namen Julia. Sie ist sehr jung, hat an diesem Tag ihren 17. Geburtstag. Sie glaubt in Blaubart den Mann zu erkennen, der ihr in ihrem Horoskop vorausgesagt worden ist. Julia besteht auf einer Hochzeit, auch wenn Blaubart diese als Spiel ansieht. Am Ende vergiftet sie sich, stirbt, da ihre Liebe »über die Maßen« (S. 78) geht. Das alles verbindet sie mit Shakespeares Julia. Auch diese Julia ist jung, auch hier wird geheiratet und am Ende steht der Tod. Bereits im Prolog werden Romeo und Julia als »pair of star-crossed lovers« bezeichnet. In ihrer Begegnung liegt etwas Schicksalhaftes, von den Sternen geleitetes. Alle diese Parallelen werden zwar zitiert, dabei jedoch immer ironisch gebrochen. Aus den »star-crossed lovers« wird ein Horoskop, das der gegenwärtigen Trivialkultur angehört. An Horoskope zu glauben gilt als naiv, so wirkt auch diese Julia: »In meinem Horoskop steht: Sie werden heute jemandem begegnen, dem Sie für den Rest Ihres Lebens treu bleiben werden. – Heinrich!« (S. 76) Für Heinrich ist die Frage nach der Hochzeit ein Spiel: »HEINRICH Ein schönes Spiel JULIA Kein Spiel HEINRICH Nur ein Spiel, aber schön.« (S. 77)

Auch Julias Aussage »Ich liebe dich über die Maßen« (S. 79) scheint zunächst spielerisch naiv, doch genau daraus wird der bittere Ernst. Daraus resultiert Julias Selbstmord und auch Heinrichs Morden. An dem Anspruch »über die Maßen« scheitern alle Figuren, weil sie ihn in ihrer Durchschnittlichkeit nicht erfüllen können und andererseits genau dies immer suchen (müssen), hier liegt ihre Tragik.

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Andererseits scheint auch das wiederholte Töten in seiner Darstellung manchmal ein Spiel zu sein. Das Spiel thematisiert Heinrich selber an mehreren Stellen. Im TREPPENMONOLOG, in dem nach Julias Selbstmord viele der zentralen Motive verknüpft werden, heißt es über das Spiel: »Anstatt sich auf dieses Spiel. Dann wäre sie jetzt nicht tot. Ist kein Spiel. Wäre sie jetzt nicht tot.« (S. 81) In der Begegnung mit Tanja, die zwar nicht durch ihren Namen an eine andere Figur erinnert, aber ein Klischee darstellt, kommt das Spiel wieder zur Sprache, hier wird aus dem Spiel plötzlich ernst, daraus resultiert hier – genau umgekehrt zu der Situation mit Julia – der Tod. »TANJA nur im Spiel. Sag mir, was ich falsch mache. Zeig mir die Gesten. Sie küßt ihn. HEINRICH Du machst bestimmt alles richtig. TANJA Ich erwarte kein Gefühl. Du sollst nur so tun. HEINRICH Ich will nicht. Ich will nicht mehr spielen. […] TANJA Küß mich. Sie küßt ihn. Halt mich. Sie küßt ihn. Werde mein Fester. Sie küßt ihn. Liebe mich.« (S. 108-109)

Eine weitere Figur, die auf Grund ihres Namens an literarische Frauenfiguren erinnert, ist Judith. Judith ist in der Bibel eine Mörderin, sie köpft den feindlichen Heerführer Holofernes. Diese Mörderin ist im Gegensatz zu Blaubart eine Heldin. Doch ähnlich wie hier sind auch im biblischen Mythos von Judith und Holofernes (der auch für das Theater bearbeitet wurde) Tod und Liebe (oder Sex) eng miteinander verbunden. Judith ist auch einer der Namen von Blaubarts Frauen, der in anderen Varianten des Stoffes genannt wird, so z.B. in der Oper von Bartók. Dort fragt sie: »Liebtest Du schon andere Frauen … liebtest du sie mehr?« 281 Die Frage nach dem Maß der Liebe ist also auch eine, die bereits in anderen Bearbeitungen vorkommt. Doch wird diese hier bei Loher zu einem unerfüllbaren, utopischen Kriterium. Blaubart in seiner Durchschnittlichkeit ist nicht in der Lage, etwas »über die Maßen« zu tun, deshalb stirbt Julia und deshalb mordet er. In seinem Morden steht er außerhalb der Gesellschaft. So ist er paradox und tragisch »über die Maßen«. Auch der Umgang mit der Zeit ist widersprüchlich, hier gibt es ebenso Brechungen und Verschiebungen. Einige der Szenen (und Morde) sind in der Nacht oder der Dämmerung, also in Zwischenzeiten und Zeiten des Traums angesiedelt. Bei Judith ist es die Zeit nach Mitternacht (S. 91). Zeit spielt hier eine wichtige Rolle, für Judith vergeht diese zu langsam: »Sie scheinen überhaupt keine Vorstellung von der Langsamkeit zu besitzen, der ich unglücklicherweise ausgeliefert bin.« (S. 92)

281 Vgl. Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. S. 130.

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Doch gerade in der Langsamkeit, die, wenn sie sich immer weiter verlangsamt, zum Stillstand wird, im Warten, kann nichts gefunden werden. Die Zeit wird so zum Feind. Doch eigentlich liegt in der Zeit auch die Hoffnung auf etwas Neues. Wenn diese Hoffnung verschwindet (die Blinde jedoch hat sie noch, deshalb sucht sie seit sieben Jahren), dann ist das Leben grausam und sinnlos. Auch daraus begründet Heinrich diesen Mord: »Dann wollte ich ihr keine Zeit mehr zumuten. Keine Zeit mehr mit mir und überhaupt keine Zeit mehr. Da alle Zeit ihr zuviel sein würde. Schweigen. Obwohl – ihr die Zeit wie ein Schmerz war, von dem ich sie befreien mußte, weil ein Weiterleben grausam und in seiner Grausamkeit sinnlos sein würde. Schweigen. Es ist nicht – gut. Schweigen. Aber wer darf sagen: es ist falsch.« (S. 96)

Der letzte Satz behandelt die Frage nach der Schuld und nach einer moralischen Instanz, die hier jedoch negiert wird. Die eigentliche Frage wird in Form eines Aussagesatzes präsentiert (was für das gesamte Stück gilt). Dies ist eine weitere Paradoxie auf der Ebene der Grammatik. Es ist eine Frage, die nicht zu beantworten ist und deshalb sucht sie auch keine Antwort in Form des Fragezeichens, sondern behauptet sich als Frage gerade in Form des Aussagesatzes. Die Szenenanweisung zu der Szene mit Eva heißt »Es beginnt zu dämmern« (S. 112) und Eva sagt: »Ich liebe dieses Licht« (S. 112). Auch hier findet die Handlung in einer Zwischenzeit statt. Eva trägt den Namen der ersten Frau, doch ist ihre Funktion eher eine andere. Sie scheint selber eine Mörderin zu sein, denn sie war siebenmal verheiratet und davon dreimal verwitwet, wie sie Blaubart erzählt: »Viermal geschieden, dreimal verwitwet, unwichtig. […] Aber wissen Sie was ich nie fertig gebracht habe – ich konnte nie das Türschild mit dem Namen meines jeweiligen Mannes entfernen. So daß, wenn ich jetzt nach Hause gehe, mich sieben verschiedene glänzende Namen an meiner Tür begrüßen, einer unter dem anderen. Und ich stecke den Schlüssel ins Schloß und schließe eine Grabkammer auf.« (S. 114)

Die Grabkammer, die sie aufschließt, erinnert hier wieder an den Blaubart-Stoff, denn gerade das Aufschließen der verbotenen Zimmer ist die Probe für die Frauen. Hier wird auch die Bedeutung des Benennens, der Namen und der Sprache deutlich. Das Ende der Szene, der Mord, den Eva von allen Frauen am deutlichsten herausfordert, verbindet den Tod mit dem Namen: »Heinrich zielt. EVA Halt – Warte – Sag mir deinen Namen – HEINRICH Heinrich. Heinrich Blaubart. EVA Schöner Name. Ich werde mit deinem Namen auf den Lippen sterben, wie findest du das – Heinrich –

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Wenn sie nicht bald zu reden aufhört, ist es mit dem Zielen wieder vorbei. Heinrich kneift ein Auge zu. Sie nimmt einen letzten Zug und dreht den Kopf zur Seite. Jetzt. Heinrich schießt. Ins Herz. Sie muß nicht sagen, daß sie tot ist, er sieht es auch so.« (S. 118)

Hier ist eine andere Wirkung von Sprache in der Regieanweisung präsent. Tod und Leben werden in der Sprache verbunden. Auf Grund der intertextuellen Bezüge bezeichnet Giesler das Stück als »Sprach-Stück, ein Theater-Spiel mit Sprache und Worten.«282 Die Figur Anna, deren Name selbst bereits ein Palindrom, also eine Sonderform des Anagramms (deshalb der Name) ist, thematisiert diesen Zusammenhang am deutlichsten. »Sie ist die Figur, die explizit propagiert, dass (ihr) Charakter durch Sprache geschaffen ist.«283 Auch dieser Komplex wird nicht ohne Paradoxie eingeführt, gleich zu Beginn heißt es: »Nachdem ich meine Stimme verloren hatte« (S. 83) – aber nun spricht sie wieder. Im Dialog ist es gerade Anna, die Figur aus Sprache, die die Differenz der Wirkung von Sprache aufzeigt und auch ihre Vergeblichkeit, während Heinrich, der handelt, indem er tötet, über die Sprache als Mittel zur Veränderung reflektiert, also auch hier gibt es ein doppeltes Verhältnis: »HEINRICH Ob etwas gewisser wird, wenn man es aussprechen kann. Pause. Ob die Dinge sich verändern, wenn man ihnen andere Namen geben kann. Ob ich mich verändere, wenn ich etwas über mich ausspreche, von dem ich noch nicht weiß, ob es zutrifft. ANNA Wie ich nicht gesprochen habe, ist vielen Menschen nicht aufgefallen, daß ich nicht gesprochen habe. Weil sie nicht so sehr darauf achten, was man sagt, sondern darauf, daß das, was man sagt, ihren Ohren nicht weh tut. Sie möchten nicht verletzt werden durch Wörter. Oder sich verändern müssen, weil ein Wort auf sie trifft.« (S. 83-84)

Doch bei Anna ist Heinrichs Antwort noch »Nicht. Nicht sprechen. Nicht sprechen jetzt. Nicht lügen –« (S. 88). Die Sprache ist also beides, utopisches Mittel zur Veränderung und alltägliches Instrument der Lüge. Doch nicht nur in dieser Szene spielt Sprache eine wichtige Rolle. Während Anna Listen von schönen Wörtern macht, ihren eigenen Namen am Ende variiert und so versucht, sich selber in das Leben einzuschreiben bevor sie stirbt: »Sag Anna zu mir, bitte, Annagramm, Annanas, Annabolika, Annarchie« (S. 88), ist es in der nächsten Szene die Blinde, die die Farbe Blau mit vielen Referenzen umschreibt.

282 Giesler: Überall Täter. S. 80. 283 Ebenda S. 79.

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»DIE BLINDE Blau blau. Beschreiben Sie mir blau. Himmelblau türkis meerblau nachtblau krokodilblau dings kornblumenblau aschblau erstickungstodblau jeansblau stonewashedjeansblau oder wie. HEINRICH Blaubartblau.« (S. 89)

Paradox ist, dass eine Blinde nach dem Begriff für eine Farbe, die sie nicht sehen kann, sucht. Eines der Bilder, die sie zum Vergleich verwendet, ist bereits vom Tod gekennzeichnet »erstickungstodblau«. Das »Blaubartblau«, das Heinrich als einzige Beschreibung hat, steht für sich. Dieses Blau ist nicht ohne weiteres in die Alltagswelt einzuordnen, obwohl und gerade weil Heinrich Blaubart so alltäglich ist. Doch die eigentliche Sehnsucht der Blinden, die in einer eigenen kurzen Szene (X EIN KURZER SCHMERZENSMONOLOG) thematisiert wird, ist: »Einmal nur, einmal nur den Himmel sehen ..........« (S. 120) Mit den gleichen Worten endet das Stück, nachdem sie Blaubart getötet hat (S. 134). Auch der Himmel ist blau, »himmelblau« ist eine der ersten Beschreibungen, die vorkommt. Doch hat sie den Himmel nie gesehen, himmelblau ist nur eine Vorstellung. Auch die Farbe Blau ist also doppelt aufgeladen. Der blaue Himmel (auch wenn das blau hier unscharf weggelassen wird) ist die Sehnsucht, Blaubart der Mörder, der zugleich der Geliebte ist, den die Blinde seit sieben Jahren sucht. Sprache spielt immer eine Rolle, auch die ›Hochzeit‹ lebt davon. Die Sätze, die Julia vorspricht und Heinrich ihr nachspricht, sind ein klassischer performativer Sprechakt, in dem Sprechen und Handeln miteinander verbunden sind. Doch auch dieser Moment ist ein utopischer, der von Heinrich als Spiel wahrgenommen wird, so nimmt er die Sprache in ihrer Macht nicht ernst. Das führt zu Julias Tod. Auch in der Szene mit Christiane werden Sprechen und Handeln aufeinander bezogen. Heinrich fragt Christiane vor jeder Handlung, ob er sie ausführen soll. Nachdem diese ihm immer mit »Ja« zugestimmt hat, heißt die Regieanweisung, »Heinrich tut es« (S. 124-126). Hier wird also deutlich, wie sehr das Handeln, das Morden, von der Sprache abhängig ist. In dieser Szene wird die Literatur nun auch direkt zitiert. Christiane hat sich das Baudelaire-Gedicht »An eine, die Vorüberging« gemerkt und trägt es nun, da Heinrich an ihr vorübergeht, vor (S. 122-23).284 In diesem Vorübergehen kehrt die Szene einen weiteren Aspekt der ersten Begegnung zwischen Julia und Heinrich um, und zwar die Frage nach dem Zufall oder auch dem Schicksal, das ein tragisches Motiv ist. Doch auch dieses wird hier verschoben, denn der Zufall wird nie an eine höhere Instanz gebunden, sondern ist im Gegensatz zum Schicksal alltäglich. In der Szene ERSTE LIEBE antwortet

284 Doch auch dies nicht ohne ironische Brechung, denn Heinrich antwortet auf die Frage ob er »Bau-de-laire« kenne. »Ja. Das ist dieser französische Sachverständige für Spezialeinlagen. Kenn ich.« (S. 122). So wird der begrenzte Horizont deutlich, in dem Heinrich sich auf einer Ebene bewegt.

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Heinrich immer wieder »Es hat sich nicht ergeben« oder »Das ergibt sich nie« und Julias letzter Satz heißt: »Es hat sich doch noch so ergeben« (S. 80). Christiane, die ihrerseits auf der Suche nach dem ist, was sie verloren hat, als sie ihrer ersten Zufallsbekanntschaft nicht gefolgt ist, versucht hier, indem sie den Zufall herausfordert, einen Ausweg zu finden: »CHRISTIANE Ich habe mit mir selbst gewettet, daß ich den 77. Mann, der hier vorbeikommt, ansprechen werde. HEINRICH Dann bin ich also ein Zufall für Sie. […] HEINRICH […] Sie dürfen nicht an den Zufall glauben. Damit machen Sie sich schuldig. Sie legen Ihre Verantwortung ab. Tun Sie das nicht.« (S. 121)

Dieser Zufall ist also einer, den Christiane selber beschlossen hat, damit ist er zugleich eine Entscheidung und ein Zufall. Eigentlich ist Zufall das Gegenteil von Schuld und Verantwortung. So wird hier ein weiterer Aspekt der Tragik – zu handeln, obwohl man weiß, dass das Handeln schuldhaft ist – paradox ins Spiel gebracht. Der Zufall ist auch immer eine Art von Spiel, das mit den Menschen gespielt wird. So wird auch dieser Aspekt, der immer wieder thematisiert wird und seinerseits eine Verschiebung und Brechung darstellt, in einen weiteren Zusammenhang gesetzt. Die Blinde Es scheint sich bei Blaubart um ein Stationendrama zu handeln, das den Charakter einer Suche hat. Ausgehend von einem Grundmoment, dem Selbstmord Julias, verläuft es vordergründig konsequent. Jede Szene beinhaltet ähnliche Momente wie die ERSTE LIEBE, zitiert sie, erweitert sie und kehrt sie vor allem am Ende immer um: Aus dem Selbstmord, dem Opfer für die Liebe, wird Mord. Das erste Opfer hat nicht zum Frieden geführt, sondern immer weitere herausgefordert, erst Heinrich Blaubarts Tod bringt diese Mechanik zu ihrem Ende. Aber es gibt eine Figur, die dem entgegenläuft und immer wieder in die Handlung einbricht: die Blinde. Sie steht für sich, ihr Charakter bezieht sich nicht auf mythische Figuren – möglicherweise auf den Topos des blinden Sehers, aber auch das allgemein und nicht konkret. Sie hat keinen Namen, sondern nur diese Beschreibung ihrer Behinderung, die sie charakterisiert.285 Sie bricht also auch in diesem Sinn in die Handlung ein, entzieht sich dem 285 Jirku stellt die These auf: »Alle Frauen in Blaubart kennzeichnet physischer oder psychischer Mangel.« Jirku Brigitte E.: Blaubarts Geheimnis. In: Bascoy et al. (Hrsg.): Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur. S. 69-82. hier S. 78. Bei der Blinden ist es demnach am offensichtlichsten. Doch geht es immer auch um Projektion und Wahrnehmung – hier steht die Blinde den anderen Figuren dann entgegen.

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komplexen Gewebe aus Bezügen, Zitaten und Referenzen. Sie ist eigentlich die erste Frau und sie ist die letzte. Das Vorspiel, das noch vor dem Prolog und der eigentlichen Dramenhandlung steht, setzt den Rahmen für die Beziehung zwischen Heinrich und der Blinden: »DIE BLINDE Sind Sie noch da. HEINRICH Ja. Ja, ich bin noch da. DIE BLINDE Suchen Sie jemand. Weil Sie diese merkwürdigen Fragen stellen. HEINRICH Nein. Nein. Im Gegenteil. DIE BLINDE Werden Sie gesucht. HEINRICH Ja. – Ja. DIE BLINDE Weswegen. HEINRICH Ich bin ein Mörder. DIE BLINDE Und jetzt. – Werden Sie mich gehen lassen. HEINRICH Ja. Gehen Sie. […] Er schläft ein.« (S. 68)

Das Vorspiel wird in Szene XII (S. 129-30) wiederholt, also auch hier findet eine Wieder-Begegnung statt. Doch eben durch den Beginn, die erste Szene, die erste Begegnung zwischen der Blinden und Heinrich, in der er sich selber als Mörder bezeichnet, obwohl noch keine der Frauen tot ist, auch Julia noch keinen Selbstmord begangen hat, zeigt sich eine zyklische Struktur. Zudem schläft Heinrich hier ein, damit könnte das gesamte Geschehen ein (Alp-)Traum sein, den der durchschnittliche Heinrich erlebt. Eine Projektion der Angst und gleichzeitig das Ausleben von Phantasien und der Sehnsucht »über die Maßen« zu sein. Die Blinde ist seit sieben Jahren, seit der ersten Begegnung, auf der Suche nach Heinrich, den sie liebt, wie sie in ihrem JUNGFRAUENMONOLOG sagt: »Dann verliebte ich mich. Ich saß in einem Café, es war Frühherbst, und ich hörte ihn vorbeigehen. […] Er setzte sich an den Nachbartisch und bestellte Eis.« (S. 99) Das Eisessen ist eines der Motive, das durch die Handlung geht und immer wieder Verbindungen schafft. Julia und Heinrich essen Eis, in Szene XII isst die Blinde Eis, als sie Heinrich das erste Mal begegnet (ohne dass er es gemerkt hat), hat er sich Eis geholt. Allerdings wird auch dieses Motiv verschoben, denn in der ersten Szene sagt Heinrich »Ich schlecke heute nur zufällig« (S. 72), er isst Eis nur im Zoo, wohin er aber seit seinem siebten Lebensjahr nicht mehr geht, weil es sich »nicht ergeben« hat. Damit ist auch die erste Begegnung mit der Blinden, die hier mit dem Eisessen verbunden wird, zufällig oder gar utopisch. Dennoch taucht das Motiv immer wieder auf und erzeugt Wiedererkennungseffekte. Die Blinde macht sich nach dieser ersten Begegnung, die eigentlich gar nicht hätte stattfinden sollen, auf die Suche: »Dann suchte ich ihn. Heinrich. […] Und dann, dann fand ich ihn« (S. 101). Auch in diesem Sinne wird

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Heinrich gesucht, ohne dass er es weiß. Im Vorspiel, spricht er davon, dass er gesucht wird, weil er ein Mörder ist, doch wird er auch als Phantasie der idealen Liebe von der Blinden gesucht. Auch Heinrich befindet sich auf einer Suche. Beider Suche kann paradox erst im Mord beendet werden. Aber auch dieses Suchen und Finden ist paradox, denn obwohl die Blinde Heinrich mehrmals begegnet ist, ist sie nicht sicher, ihn gefunden zu haben: »DIE BLINDE Ja, ich glaube, ich habe Sie einmal in einem Café getroffen. Vor langer Zeit. Vor sieben Jahren. Ich glaube, ich erkenne Sie nicht wieder. Sie will weggehen. HEINRICH Wenn ich die richtigen Worte fände, würden Sie dann bei mir bleiben.« (S. 89)

Hier wird die Macht der Sprache wieder thematisiert, damit reflektiert und in ihrer Paradoxie deutlich. Diese Paradoxien, dieses Nicht-sicher-Sein, das sich in der Verbindung von »Ja« und »Nein« (vgl. Szene IX s.o.) auch auf einer ganz grundlegenden Sprachebene manifestiert (bis hin zu der Verknüpfung von »Ja« und »Nein«, die beinahe im gleichen Atemzug genannt werden), sind Ausdruck der Unsicherheit oder auch der Unschärfe, die durch die Personen hindurch geht, und so auch die Handlung in diese Unschärfe verrückt. Auch in den Parallelen, die in der Struktur der Handlung immer wieder auszumachen sind, finden sich immer Verschiebungen und Paradoxien. Diese Struktur kann erst am Ende durchbrochen werden, in der Wiederholung der Julia-Szene mit der Blinden, in der sich durch Heinrichs Tod einerseits der Kreis schließt und andererseits der immer wiederkehrende Kreislauf des Tötens durchbrochen wird. In der Szene XII kehrt sich das Motiv der Hochzeit um: »HEINRICH Möchten Sie meine Frau werden. DIE BLINDE Ich glaube Sie sind pervers.« (S. 129)

Hier ist es Heinrich, der glaubt, in der Hochzeit etwas zurückholen zu können, während Julia am Anfang diejenige war, die auf der Hochzeit bestand. Diese Hochzeit war Teil des »Über-die-Maßen«-Seins dieser Figur, auch das versucht Heinrich zu reaktivieren. Trotz der Parallelitäten zwischen Julia und der Blinden ist ihr Äußeres verschieden: »DIE BLINDE Wie sehe ich eigentlich aus? HEINRICH Klein, schwarze Haare, olive Haut.« (S. 110)

Über Julia hat Heinrich in der Szene mit Anna gesagt: »Sie ist blond. […] Ihre Augen sind tiefseeblau mit einem goldenen Schleier« (S. 86). Die Ähnlichkeit, die Wiedererkennung liegt gerade nicht im Sichtbaren. Das, was

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sich ähnelt, liegt in der Sprache. So ist die Frage nach dem Aussehen eigentlich unerheblich, und dennoch gerade für die Blinde wichtig. »DIE BLINDE Ihr Aussehen hätte ihren Tod nicht verhindern können und hatte auch keinen Einfluß darauf. HEINRICH Sie sind doch blind, was spielt das für Sie für eine Rolle, was machen Sie sich um das Aussehen anderer Frauen Gedanken, Sie sehen doch nicht einmal, wie Sie selber aussehen. DIE BLINDE Ja. Eben. Deshalb habe ich Sie doch gebeten. Was muß ich befürchten. Pause. Sagen Sie mir, wie ich aussehe. Ab.« (S. 111)

Doch Heinrich hat bereits vorher ihr Aussehen beschrieben, auch hier liegt eine Paradoxie vor. Die Blinde hat sich also keine Vorstellung von dem gemacht, was sie sieht, sie sucht das Wirkliche im Sehen, was ihr nicht gelingen kann, deshalb ist ihr Wunsch auch ein utopischer (und eine Projektion), der sich darin ausdrückt, dass sie den Himmel sehen will. Die übrigen Figuren sind auf eine andere Art ebenso blind: Sie sehen nicht, was wirklich und gegenwärtig ist, sondern nur ihre eigenen Projektionen, die in der Vergangenheit oder der Hoffnung auf eine Zukunft verhaftet sind. »Aus ihren wechselseitigen Projektionen können sich weder Heinrich noch die Blinde befreien, einen Ausweg bietet nur der Mord.«286 Dieser Mord ist das Ende des Stückes, hier wiederholt sich die Begegnung mit Julia zunächst, um dann im Mord an Heinrich, der zugleich der eigentliche Selbstmord der Blinden ist, zu enden. Damit wird das Morden zwar beendet, aber um den Preis nicht nur eines weiteren Mordes, sondern auch um den Preis der Liebe. Die Szene heißt dann auch LETZTE LIEBE. »HEINRICH Könntest Du mich lieben. Vielleicht. […] HEINRICH Ich liebe dich. – Über die Maßen. DIE BLINDE Nein. Du versuchst es nur. Ich aber, ich werde dich töten. Für dich wird es sein wie Erlösung. Für mich wie mein eigener Tod. Dann aber. Werde ich frei sein von dir. Deiner Maßlosigkeit. Deinem Mittelmaß. Deinen Lügen. Und muß mich meiner Liebe nicht mehr schämen. Ich muß mich meiner Liebe nicht mehr schämen. Ich werde stolz sein auf sie. Sie schneidet ihm die Kehle durch.

286 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 251.

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Ich, die die Liebe tötet. Und das Verlangen danach. Einmal nur, einmal nur den Himmel sehen.« (S. 133-4)

Die Monologe Die Szenen werden von drei Monologen durchbrochen. Haas sieht in den Monologen Parallelen zu den brechtschen V-Effekten, da die Handlung aufgebrochen wird und eine Differenz entsteht, die der Zuschauer füllen muss. Zudem steht zwischen Vorspiel und erster Szene ein Prolog: DER BERUF (S. 69-71). Hier wird die Durchschnittlichkeit des Schuhverkäufers Heinrich Blaubart herausgestellt und zugleich mit einem Märchenmotiv (Aschenputtel) verbunden. Dieser Prolog ist entpersonalisiert, er steht außerhalb der Handlung. Wer ihn spricht ist unklar. So wird die dramatische Struktur an sich, bevor das Drama überhaupt beginnt, aufgebrochen. Damit gibt es auch formal eine weitere Ebene. Der TREPPENMONOLOG steht nach der Szene ERSTE LIEBE, damit im direkten Zusammenhang mit Julias Selbstmord, der in ihm thematisiert wird. Die Schuldfrage kommt hier zum ersten Mal ins Spiel. Dies findet aus Heinrichs Perspektive statt, auch wenn keine direkte Rollenzuweisung zu finden ist und der Monolog zunächst in die dritte Person verschoben wird. Er beginnt mit einer Beschreibung: »Er geht in sein Haus, die Treppe hinauf zu seiner Wohnung« (S. 81). Die gesamte Handlung wird in einen Zusammenhang von Wiederholung eingeordnet. Zu Beginn heißt es: »Hundert Mal ist er so nach Hause gekommen« (S. 81), am Ende »Tausende Male bist du so nach Hause gekommen« (S. 82). Auch hier finden leichte Verschiebungen statt. »Hundert« wird zu »Tausend«, »er« zu »du«. Aus der Rede über die Person wird am Ende eine Selbstanrede. Aber auch die erste Person kommt vor, und zwar in Verbindung mit der Frage nach der Schuld, sie wird hier mit dem »Ja. Nein« bzw. »Nein. Ja« verknüpft: »Aber Sie sagten doch die Tote sei Ihre Frau. Ja. Nein. Die Tote kündigte ihre Handlung also nicht an. Nein. Ja. Sie sagte daß sie für mich sterben würde. Wie soll ich das verstehen. Aus Liebe. Dann sind Sie also Schuld an ihrem Tod. Ich Ein Mörder« (S. 81-82). Der zentrale Satz ist im Schriftbild abgegrenzt, da alle Worte groß geschrieben sind (»Ich Ein Mörder«), es handelt sich so um eine vehemente Setzung, zumal in der elliptischen Form ohne Prädikat. Das Ich wird stark behauptet, obwohl es in diesem Monolog immer wieder in den anderen Formen von er und du verschwindet. Doch diese (Selbst-)Behauptung ist nur möglich in der Verbindung mit dem Dasein als Mörder, dort, wo Heinrich »über die Maßen« ist. Dieses Außergewöhnliche, das ihn hier als Ich ausmacht, ist eben das allgemeine Märchenmotiv, das BlaubartSein, das durch das Ich hindurch geht. Diese Verbindung von Individualität mit einem allgemeinen Prinzip erinnert an tragische Strukturen – auch wenn diese heute gebrochen werden (müssen).

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Ungefähr in der Mitte des Stückes befindet sich der JUNGFRAUENder Blinden. Dieser bricht anders in das Drama ein, als die anderen beiden Monologe. Die Blinde berichtet hier von ihren Beweggründen, von der Liebe zu Heinrich, die aus einer zufälligen ersten Begegnung entstand, und der Suche nach ihm. Damit wird diese Figur scheinbar erklärt. Doch auch diese Suche ist eigentlich eine Projektion, wie sich später zeigen wird. Der Titel wird ebenso ironisch gebrochen, denn das andere Thema neben der Suche nach Heinrich ist das Bemühen der Blinden, keine Jungfrau mehr zu sein.287 Damit findet eine Verkehrung des (Märchen-)Klischees der jungfräulichen Braut statt. Denn erst als sie keine Jungfrau mehr ist, beginnt sie Heinrich, den sie schon vorher liebt, zu suchen. Der WALDMONOLOG steht zwischen den beiden letzten Szenen mit der Blinden, in denen sich die Geschichte wiederholt. Auch dieser hat keine direkte Personenzuweisung, doch wird auch hier in einer Art Erinnerung oder Traum Heinrichs Julia, die hier genauso wenig greifbar ist, wie der Sprecher des Monologs auf der Metaebene noch einmal präsent gemacht. Das Vorgehen ist wieder verschoben, denn Julia erscheint im Monolog in der Erzählung und nicht in der Bühnenhandlung, in der sie in den beiden Szenen, die den Monolog rahmen, ebenso als Echo präsent war, denn ihre Szene der ERSTEN LIEBE wiederholt sich. Nun wird über sie gesprochen. Alles das sind weitere Verschiebungen der Anwesenheit der Person in der Handlung.

MONOLOG

»Es ist dunkel dunkel dunkel da draußen. Ich spüre eine große Ungeduld in mir. Ich meine nicht Ungeduld, wenn ich Ungeduld sage, ich meine – Traurigkeit. […] Vielleicht scheint das alles nur so, täusche ich mich, oder erinnere mich an eine Nacht, in der ich eine in der Erde verscharrte. Und wo war das hier. Oder nie und nirgends. […] Ich sehe dich, immer noch am Ende des Waldweges stehend, deinen Umriß nur, aber ich weiß, du bist es, sag mir, was unter der Erde ist, daß die Pflanzen zäh und voller Widerstand wachsen, wo sie nicht wachsen sollten, was habe ich getan, habe ich es getan, du kommst nicht näher, du hilfst mir nicht, die Pflanzen bringen mich zu Fall, regenschwere Erde, in die ich längsgeschlagen sinke, du gehst fort und ich erreiche dich nicht, kann dich nicht halten, Julia, rufe ich, Julia, bleib, bleib stehen bleib stehen, du hörst nicht.« (S. 131-32)

Alle Szenen haben Momente, in denen sie komisch, lächerlich, grotesk wirken. Dies gilt nicht nur für die intertextuellen, literarischen Referenzen, sondern mindestens ebenso für die Diskurse des späten 20. Jahrhunderts, wie den Feminismus. »Die neu-alten Mythen und Zöpfe des (Post)Femin-

287 Hier kommt auch das Inzestmotiv, das in anderen Stücken Lohers zentral ist, vor. Allerdings eher beiläufig und ebenso gebrochen. Es ist der Bruder, der ihr »half« (S. 101).

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ismus erscheinen so in einem amüsanten Licht.«288 Loher selber spricht von einem »intelligenten Lachen«289, das das Stück erzeugen soll. Komik ist die andere Seite der Tragik, die aus Ambiguitäten entstehen kann. Doch vor allem für den Zuschauer, der damit eine gewichtige Rolle spielt. Haas konstatiert dann auch: »Im Mittelpunkt ihrer Ästhetik steht die Frage nach der Rezeption des Kunstwerks.«290 Politisches Theater? Explizit als politisches Theater in der Tradition von Brecht interpretiert Haas die Stücke von Dea Loher. Sie grenzt sie dabei von der Postdramatik ab. »In Lohers dramatischem Schaffen […] lässt sich eine Hinwendung zu einem politischen Theater erkennen, das sich einem brechtschen Zugriff verdankt.«291 Haas sieht allgemein den politischen Charakter der Dramen Dea Lohers in einer Auseinandersetzung mit ungerechten Machtstrukturen. »Alle diese Unrechtsszenarien beruhen nicht auf einem absurd-unerklärlich, spukhaften Einbruch einer gleichsam fantastischen Gewalt in das normale Leben, sondern sind von Menschen verursacht.«292 Zu Blaubart heißt es dann auch »Die Funktion des Stückes ist, die gesellschaftlich bedingten Machtstrukturen darzustellen.«293 Das ist vor allem in Bezug auf den Mord und die Gewalt m.E. zu eng. Denn der Ursprung der Gewalt liegt in der Julia-Szene, auch wenn diese verschoben wird (bereits im Vorspiel bezeichnet Heinrich sich als Mörder), denn gerade so kann sie eine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die persönliche Beziehung ist zwar politisch aufgeladen, aber bleibt dabei zugleich auch persönlich. Auch andere Interpreten sehen zwar Gemeinsamkeiten zu Strömungen der Postmoderne und grenzen Dea Loher zugleich auch von diesen ab. »Trotz einer formalen Nähe zum Postmodernismus lehnt jedoch Dea Loher die Trennung mit der moralischen Funktion des Theaters ab – sie betont die soziale Verantwortung des Autors und des Dramas.«294 Diese soziale Verantwortung besteht hier in einer Öffnung zum Publikum, die in der Reduktion auf das Essentielle, die theatralen Vorgänge zwischen den Figuren, liegt. »Der Zugriff auf die Politik wird vermittelt durch die Ambiguitäten und

288 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 273. Jirku hingegen nimmt den Geschlechterdiskus ernst. Jirku Brigitte E.: Blaubarts Geheimnis. In: Bascoy et al. (Hrsg.): Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur. S. 69-82. 289 So in einem Interview anlässlich der französischen Erstaufführung von »Blaubart« in Straßburg. Im Programmheft S. 10-11. Zu finden unter www.tns.fr. 290 Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 56. 291 Ebenda S. 14. 292 Ebenda S. 84. 293 Ebenda S. 248. 294 Štědroň: Dea Loher – Die elf glücklosen Stücke. S. 275.

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Widersprüche, die sich aus der Interaktion ihrer Figuren ergeben.«295 Ein Teil dieser Ambiguitäten ist das Alltägliche, der andere Teil etwas, das neben dem Alltäglichen liegt, aber aus ihm hervorgeht, verschoben ist und dadurch in eine Allgemeingültigkeit verrückt wird. »Dahinter steht Lohers dramatisches Credo, dass die großen Themen auf der Bühne verhandelt werden sollen: ›nicht Sozialreportage, sondern Tragödie.‹ Dies geschieht nicht mit Hilfe einer parabolischen Verkleinerung geschichtlicher Abläufe, sondern dadurch, dass Politik durch individuelle Wahrnehmung gefiltert wird, so dass sie absichtlich ›unscharf‹ wirkt.«296

Doch eben in dieser Unschärfe sind die Figuren gegenwärtig und aus einer anderen Zeit zugleich. Damit haben sie für den Zuschauer sowohl einen Grad von Gemeinsamkeit als auch einen von Fremdheit. Gegen Haas und ihre dezidiert politisch, moralische These gibt es auch gravierende Einwände: »Bei Haas geht es in erster Linie um das Theater als ›moralische Anstalt‹, was problematisch ist, da dieser Begriff bei Schiller eben nur eine strategische Funktion erfüllt und als ästhetisches Konzept nie umgesetzt worden ist.«297 Die Figuren haben auch keinen moralischen Anspruch, der direkt übertragen werden könnte. Sie sind sich auch in den Dramen der Unmöglichkeit der eigenen Ansprüche bewusst, während sie doch nach der Utopie suchen. »Ihre Figuren können ihre Unschuld wie Schillers Figuren nur noch erträumen oder inszenieren und leben somit bestenfalls in höllischen Paradiesen.«298 Michael Börgerding geht auf das Verhältnis zu Brecht in seiner Beschreibung von Lohers Theater ein. Er sieht die Beziehung durchaus ambivalent. »Und wenn sie auf die Frage nach Brecht als Vaterfigur diesen als ›chauvinistisches Arschloch‹ bezeichnet – im Übrigen im Gestus dem jungen Brecht sehr ähnlich –, ist das so falsch ja nicht.«299 Auch zur Frage des politischen Schreibens findet er ein Bild, das dem Verlauf der Theaterstücke, die sich zum Teil als Suche und Bewegung entlang verschiedener Begegnungen und Konstellationen darstellen, folgt und zugleich eine Paradoxie beschreibt. »Ihre Suchbewegung im Schreiben entfernt sich so auch konsequenterweise vom dezidiert politischen Theater – und verfolgt es auf Umwegen doch immer wieder.«300 Die Verbindung zum Publikum liegt zugleich in den Verfremdungen. »Paradoxerweise liegt in der epischen Distanz ihrer Stücke die menschliche

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Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 87. Ebenda S. 39. Gürtler & Wendt: Höllische Paradiese. S. 355. Ebenda S. 358. Börgerding: Auf der Suche nach den vielen Antworten. S. 42. Ebenda.

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Nähe zwischen dem Publikum und den Figuren.«301 Der Grund dafür ist, dass dieses Theater sich eben als ein solches behauptet und nicht den Alltag imitieren will oder gar in Form eines Happenings auf der direkten Ebene hinübergreift. Denn die Verbindung, die Wirkung, findet eben auf einer anderen Ebene – auch hier wieder paradox – statt. »Je größer die ästhetische Distanz, so könnte man sagen, desto größer ist die politische Wirkung auf den Zuschauer.«302 Nicht jede Wirkung muss politisch sein. Dieser Mechanismus kann auch auf die allgemeinere Ebene übertragen werden. Es geht nicht um eine Belehrung. »Stattdessen geht es darum, den Konsens zwischen Zuschauer und Bühne bzw. unter den Zuschauern zu stören.«303 Hier entsteht ein Raum, in dem Wirkung, und zwar auch tragische, entstehen kann. Das Tragische liegt bei Blaubart – Hoffnung der Frauen eben in dem Anspruch »über die Maßen« und dem vielschichtigen Scheitern daran, das sich immer in der Verschiebung auf den unterschiedlichen Ebenen zeigt. Diese Ebenen gehen dabei auch immer sowohl durch die Sprache als auch durch die Figuren hindurch und damit möglicherweise in den gemeinsamen Raum von Bühne und Zuschauer ein.

»W ER

BEI MIR SPRICHT , SPRICHT UM SEIN L EBEN , DAS 304 – ABER EH SCHON VERLOREN IST .« E LFRIEDE J ELINEK : U LRIKE M ARIA S TUART Mythen und intertextuelle Bezüge: Das Verfahren von Jelineks Theatertexten Elfriede Jelineks Theaterstück Ulrike Maria Stuart (UA Thalia Theater Hamburg 2006) setzt sich mit einem Konflikt zwischen zwei Frauen, die sich selber zu Subjekten von Geschichte machen wollen und daran scheitern, auseinander. Dazu wird nicht nur die Konstellation zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin kritisch betrachtet, sondern auch das schillersche Drama Maria Stuart in den Text eingewoben. Bereits der Titel beschreibt dieses Über- und Ineinanderschieben der verschiedenen Ebenen (»Morphing«). Elfriede Jelinek sagt über das Stück: »In dem Stück treffen zwei historische Figuren (Maria und Elisabeth) auf zwei andere historische Personen, also sind es schon vier Stück Frau.«305 Diese Begegnung findet in 301 302 303 304

Haas: Die Rekonstruktion der Dekonstruktion in Dea Lohers Dramen. S. 294. Ebenda. Haas: Das Theater von Dea Loher. S. 48. Jelinek, Elfriede: Zu »Ulrike Maria Stuart«. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (117). S. 15-18. Hier S. 16. 305 »Vier Stück Frau«. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater Hamburg (Hrsg.): Programmheft zu Ulrike Maria Stuart. S. 7-22. hier S. 9.

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den aus Zitaten und Referenzen zusammengesetzten Texten, die nicht als Personenrede zu verstehen sind, statt. So sind die Ebenen in sich selbst ebenso wenig sicher, sie verschwinden in der vielschichtigen und vielstimmigen Referenz und stellen sich damit permanent selber in Frage. »Auf Grund der Art und Weise des Zitierens glaubt man nie sagen zu können, wer in diesen Texten spricht.«306 Dennoch kommen alle diese Stimmen hier zu Wort, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit. Für das Textherstellungsverfahren Elfriede Jelineks hat Sander die folgende, zutreffende Beschreibung gefunden: »Beide Verfahrenstechniken, die Elfriede Jelinek zu ihrer Textherstellung verwendet – das ›Zitieren ohne Anführungsstriche‹ und das Entmythologisieren –, stehen in engem Bezug zueinander und bedingen sich gegenseitig, wobei ihr gemeinsamer Nenner darin liegt, daß sie ein Instrumentarium bereitstellen, um sprachlich den Dingen ihre Geschichte wiederzugeben und Erinnerung wachzuhalten.«307

Die Frage ist also, welche Texte zitiert Jelinek hier und wieso, und zum anderen, welche Mythen werden hier bearbeitet, und zwar ausgehend von welchem Begriff von Mythos. Jaeger stellt folgende These auf: »Der Mythos kann nicht dekonstruiert werden, sondern wird lediglich ständig reproduziert.«308 Die Mythen werden m.E. zwar als solche entlarvt, doch wird zugleich ein neuer Mythos geschaffen, dieser Mythos ist ein anderer, und zwar ein offener und bedrohlicher, einer, der sich gegen das Verschließen in der Erinnerung sperrt. Genau dieses wäre dann das Ziel des Textes: das Wachhalten der Erinnerung in einer kritischen Art und Weise. Zu einer solchen Haltung fordert der Text, und dann auch die Inszenierung, den Zuschauer heraus. Der Umgang mit den Mythen ist also durchaus ambivalent, denn auch die Entlarvung der gesicherten, nicht-bedrohlichen Mythen funktioniert zunächst in einem Verfahren, dass dem der Mythisierung ähnlich ist. »Obwohl das Zitierverfahren in den verschiedenen Texten keineswegs einheitlich ist, werden doch generell die Prä- und Intertexte eingesetzt als ›Mythen‹, die es zu destruieren gilt. Indem sich aber die Texte immer extremer vom Intertextuellen ›Fremdmaterial‹ nähren, destruieren und simulieren sie das Verfahren des Mythos selber.«309

Im Zusammenhang mit Jelineks Mythendekonstruktion wird immer wieder auf Roland Barthes Mythen des Alltags verwiesen310, doch auch hier findet sich eine Formulierung, die auf einen neuen Mythos hinweist: »Die beste

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Annuß: Theater des Nachlebens. S. 11. Sander: Textherstellungsverfahren bei Jelinek. S. 183. Jaeger: Theater im Medienzeitalter. S. 151. Janz: Elfriede Jelinek. S. 14. Vgl. dazu z.B. ebenda S. 9ff.

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Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mystifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen.«311 Jelineks Umgang mit den Mythen findet in der Sprache statt, so ist er künstlerisch und künstlich zugleich. Gerade indem die Figuren in den Textflächen, einer höchst artifiziellen Sprachform, aufgelöst werden und dabei nicht mehr greifbar sind, werden sie in einen kollektiven, offenen Diskurs überführt. Das ist eine Art von Mythos, der dann auf dem Theater befragt werden kann, dazu muss er jedoch in dieser Art und Weise zugleich erzeugt werden. Dieser Mythos dient nicht der Selbstbestätigung einer Kultur, in der die Vergangenheit abgeschlossen ist, sondern ist im Gegenteil Umgang mit der Bedrohung, die zunächst wieder offengelegt werden muss. Der MythosBegriff, gegen den sich Jelineks Texte richten, ist einer, in dem die Geschichte in eine Distanz zur Gegenwart gebracht werden soll, der eine Verharmlosung beinhaltet312 – und so seinerseits auch eine Trivialisierung des Mythos-Begriffs darstellt. »Reinigung, Beseitigung, Verschleierung – Historizität wird im Mythos verdreht (beseitigt, bereinigt) […] Und Entmythologisierung, in dem Sinne, dass sie die ›endlose Unschuldigkeit‹ des Mythos aufdeckt (der Mythen des Alltags wie der anderen […]) war schon immer das Anliegen der Literatur von Elfriede Jelinek.«313 Gerade in der Offenheit und der Unabgeschlossenheit, die Jelinek den Figuren in den Texten wiedergibt, liegt die Bedrohung der Gegenwart – aber im Endeffekt auch die Chance, denn ohne Erinnerung ist keine wirkliche Zukunft möglich. Im Zusammenhang mit Ulrike Maria Stuart und der Beziehung zu Schiller stellt Lücke folgende zunächst gewagt scheinende These auf: »Elfriede Jelinek verbindet über diese gemeinsame Wurzel zugleich zwei Kunstauffassungen, indem sie Schillers Ästhetik mit ihrer eigenen verknüpft und sie dann ›verdreht‹ (eine ästhetische Umkehrungs- oder Inversionsfigur: Es ist dies die Grundfigur der Dekonstruktion, der die Bedeutungsverschiebung folgt). Bei beiden – Schiller wie Jelinek – so die These, ist die Ästhetik zugleich mit der Moral verbunden.« 314

Das Moralische an Jelineks Ästhetik wäre dann eben das Nicht-Vergessen, wenn auch das grausame, vampirhafte und brutale, denn die Alternative, das Vergessen und Verdrängen, hätte weitaus schlimmere Konsequenzen. Mythos stellt in diesem Zusammenhang immer auch eine Form der (kollektiven) Erinnerung dar. Aber Jelineks Texte verwenden und zitieren nicht nur Historie und Literatur, sondern auch Trivial- und Popkultur. Diese Ebenen werden ineinander

311 Barthes: Mythen des Alltags. S. 121. 312 Das wäre dann nach Assmann & Assmann der »polemische« Mythos-Begriff. Vgl. dazu Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier S. 179. 313 Lücke: Jelineks Gespenster. S. 225. 314 Ebenda S. 227.

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geschoben, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind. »Alle diese Figuren mythisieren und trivialisieren ihre Vorlagen.«315 Denn die Einordnung in die Trivialität, die oftmals auf die Medien bezogen wird, ist ein wichtiges Mittel der Verankerung der Mythen, der Wirkung auf das Publikum. Gerade indem die Medialisierung der Geschichte ausgestellt wird, wird sie zugleich wieder problematisiert. Hier wird die Differenz zwischen der Bühnenfigur, dem medialen Hype und der realen Figur deutlich. Diese Texte haben nicht den Anspruch, die Wirklichkeit durch ihre Fiktionalisierung zu ersetzen und sie zu verharmlosen. Es ist nahezu unmöglich zu glauben, dass man hier erfährt, ›wie es wirklich war‹. In der Inszenierung von Nicolas Stemann wird dieses Phänomen, dem sich sowohl der Text als auch die Inszenierung entgegenstellen, mit dem Schlagwort »Der Untergang 2. Die letzten Tage von Stammheim« plakativ, also genau dieser Art des trivialisierten und medialisierten Umgangs mit Geschichte entsprechend, vorgeführt. Auch der Umgang mit der Trivialisierung ist ambivalent. Zum einen ist sie notwendig, um die Wiedergänger, die mythischen Figuren in der Gegenwart präsent zu halten. Aber zum anderen ist die Trivialisierung genau einer der Mechanismen, die zu der Art von Mythisierung der Vergangenheit führt, gegen die sich Jelineks Theater stellt. In ihrem Bestreben gegen das Vergessen anzuschreiben und das Vampirhafte der Geschichte in der Gegenwart deutlich zu machen, ist Jelineks Schreiben auch ein politisches: »Dadurch entblößt sie alle einer Ideologie zu Diensten stehenden Machtstrukturen, auch die der Massenmedien, die im Trivialmythos verborgen liegen. Diese Strukturen der Macht sollten dadurch gleichzeitig auch zerstört werden.«316 Dieser mehrschichtige Umgang mit der Vergangenheit lautet aus der Perspektive der Figuren formuliert: »Denn das sind alle Figuren Elfriede Jelineks: Klagende und Anklagende, und alle Texte sind: Klage und Anklage.«317 Die Klage ist ein klassisches tragisches Element, das hier in Bezug zur Geschichte gesetzt und diese um eine weitere Brechung ergänzt wird. Die Stimmen beklagen die eigene Situation in der Geschichte und klagen gleichzeitig an, und zwar diejenigen, die die Geschichte für sich instrumentalisieren. Damit klagen sie auch einen anderen Umgang mit Geschichte ein. So leben die Mythen als Vampire und Wiedergänger weiter, auch als Mahnung und Provokation zu einem anderen Umgang mit der Geschichte. Jelineks Texte stellen diesen Mechanismus aus und gleichzeitig holen sie die Mythen damit aus dem sicheren Vergessen in die lebendige Erinnerung

315 Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. S. 48. 316 Brunner: Die Mythenzertrümmerung der Elfriede Jelinek. S. 2. 317 Lücke, Bärbel: Elfriede Jelineks ästhetisches Verfahren und das Theater der Dekonstruktion. Von Bambiland/Babel über Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach) (für Christoph Schlingensiefs Area 7) zum Königinnendrama Ulrike Maria Stuart. In: Janke et al. (Hrsg.): Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater.« S. 61-85. hier S. 67.

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zurück. Mehr kann der Text nicht leisten und will es auch nicht. Erst im Zusammenspiel mit dem Publikum wird sich erweisen, ob die Mythen als bedrohliche Wiedergänger der Geschichte in der Gegenwart präsent bleiben. »Ob die Mythisierung der RAF letztlich nur ein leeres Gedenken bedeutet oder in der Verdrängung der Antriebe zum Vampirsein der Geschichte der RAF beiträgt, lässt das Stück letztlich offen: Es beschwört ja erst einmal diese Lebend-Toten als geschichtliche Gespenster und mag gerade in dieser Geisterbeschwörung seine Antwort geben.«318

Das Verfahren des Stücks kann als eine Doppelbewegung beschrieben werden. Zum einen werden die Trivial- und trivialisierten Mythen entlarvt, zum anderen wird (auch ästhetisch) ein Mythos präsent gehalten und gemacht, der eine Differenz ausstellt. Das Stück ist die reine Überforderung. Alle Referenzen und intertextuellen Anspielungen aufzuschlüsseln würde den Rahmen sprengen und ist beinahe unmöglich319 – und auch nicht sinnvoll. In der Uraufführung wird dies an einer Stelle vorgeführt, an der der eine Schauspieler den Journalisten, den der Text erwähnt, als »Stefan Aust« identifiziert und angesichts dieser Erkenntnis freudig strahlt wie ein Kind. Die Schauspieler geraten darüber in einen Konflikt über ihre Rollen und Möglichkeiten. Die direkte Benennung und Entschlüsselung steht also dem angemessenen Umgang mit dem Text entgegen, und gerade dies wird so auf dem Theater selber thematisiert. Nicolas Stemann, der Regisseur der Uraufführung, betont in mehreren Gesprächen die Musikalität der Sprache. Es entsteht dabei ein Kunstwerk, das mit einer Analyse der Referenzen nicht zu begreifen ist und auch nicht vollends begriffen werden soll: »Es ist eine Musikalität des Denkens. Das Denken gefällt sich ja, wenn es rational und logisch sein kann, bei Jelinek darf und soll es irrational und antilogisch sein, ohne jedoch weniger systematisch sein zu müssen, denn seine Systematik ist die der Musik. Da gibt es dann eben ›Paraphrasen‹, ›Zitate‹, ›Wiederholungen‹ und ›Variationen‹ - ebenso wie ›Kontrapunkte‹ und ›Leitmotive‹.«320

318 Lücke: Elfriede Jelinek. S. 144. 319 Jelinek selber setzt unter das Stück Referenzen: »Die Götter: Schiller, Shakespeare, Büchner, Marx/Dann die übrigen, die Originaltexte und -kassiber der RAF und ihres Umfelds, Briefwechsel Gudrun Ensslins (»Zieht den Trennungsstrich, jede Minute«), Stefan Aust, Butz Peters, Albrecht Wellmer und sehr viele andere mehr« (S. 102). Die Zitate folgen den Seitenzahlen der Version, die auf der Homepage der Autorin abrufbar war. Vgl. zu einer ersten Annäherung Lücke: Elfriede Jelinek. S. 142. 320 Stemann, Nicolas: »Das Theater handelt in Notwehr, also ist alles erlaubt«. Ein Interview. In: Gutjahr (Hrsg.): Ulrike Maria Stuart. S. 123-140. hier S. 130.

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Diese Musikalität wird in Ulrike Maria Stuart auch von der gebundenen Sprache, in der das Stück abgefasst ist (also auch hier auf der Formebene eine Referenz an Schiller), unterstützt. Stemann geht in seiner Inszenierung so weit, dass er einzelne Textpassagen singen lässt. Am Ende werden die Schauspieler zu einer Band, die die Texte, mit denen der Abend begonnen hatte, noch einmal singen. Doch das Stück ist auch eine Überforderung an Theater und Zuschauer.321 Es thematisiert in der Zitierweise eben auch große Theatertexte und Traditionen. So wird das Theater hier auf eine weitere Art und Weise herausgefordert – auch als Mythos von dem, was Theater ist und kann. Doch ist dieses Theater, das Jelinek als anderes Theater einfordert, auch eines, das auf Wirkung basiert und damit der ursprünglichen Definition von Tragödie nicht unähnlich. Auf Grund dieser Überforderung werde ich meine Beobachtungen auf die Frage nach den Mythen und ihrer Wirkung, und zwar in Hinblick auf Geschichte sowie auf die Theaterliteratur, beschränken. Das Stück ist explizit ein Theaterstück, was sich auch darin zeigt, dass es nur wenige Tage auf der Homepage der Autorin abzurufen war und seitdem nur unter der Prämisse einer geplanten Aufführung vom Verlag zu bekommen ist. Anders als bei Stücken Jelineks, die in zeitlicher Nähe zu Ulrike Maria Stuart entstanden sind (z.B. Bambiland 2004), gibt es hier Rollenzuweisungen. Auch ein Konflikt zwischen den beiden Königinnen scheint vorhanden zu sein, doch der eigentliche Konflikt, der sich zeigen wird, ist der zwischen den Figuren (und zwar jeder Art von personaler Figur) und der Geschichte und auf der Ebene des Stückes auch dem Text in seiner Vielschichtigkeit. Gerade indem die Figuren diese Texte sprechen und sie zugleich nicht als ihre eigenen wahrnehmen, die Texte also durch sie hindurch gehen, wird dieser Konflikt offenbar. Aber auch in den Texten selber liegen Konflikte. Keiner der Textanteile, der einer Person zugeteilt ist, ist in sich konsistent, sondern im Gegenteil widersprüchlich und disparat. Damit wird nicht nur der Konflikt in die Person verlegt, wie es ein Kennzeichen für modernes Theater ist, sondern in den Text selber. Den Texten ist nicht mehr zu trauen und sie trauen sich selber nicht. Auch die Texte der unterschiedlichen Rollenzuweisungen sind nicht unterscheidbar, sie könnten vertauscht werden – wie es in der Inszenierung von Stemann im Vergleich mit dem Text immer wieder passiert. Diese Texte ›machen‹ also auch keine Personen. So sind die Rollennamen nur vordergründig eine Hilfe. Ein Name, eine Rolle bedeutet auch hier keineswegs, dass sich dahinter eine Person im klassischen Sinn, ein Subjekt, befindet. »In Jelineks Texten sprechen keine souveränen Subjekte, sondern aus ihren Texten sprechen andere Texte und Diskurse: das Subjekt wird als reine Sprachfigur zum Subjectum der Rede.«322 Indem es

321 Zum Umgang mit dem Text auf dem Theater vgl. die abschließenden Bemerkungen zur Uraufführung durch Nicolas Stemann am Ende des Kapitels. 322 Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. S. 34.

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diese Rollennamen gibt, die sich zum Teil zudem auf die konkreten Personen der Geschichte beziehen, werden eben diese Figuren weiter problematisiert und gleichzeitig in der Benennung mythisiert. Die Frage nach dem, was Subjekte und Objekte der Geschichte sind, ist ein Grundthema in Jelineks Schreiben. Hier in diesem Stück ist das Material, das Jelinek bearbeitet, der ›Mythos RAF‹, selber Teil eines solchen Konflikts. Jelinek sagt über diese Figuren: »Ich will Personen zeigen, die sich zu Protagonisten von Geschichte machen wollen, was ihnen nicht gelingen konnte, weil die Geschichte selbst bestimmt, wo sie hingeht.«323 Vielleicht können Figuren, die so an der Geschichte gescheitert sind, nur noch im Mythos aufgehoben werden und auf dem Theater wieder zu Wort kommen. Das zeigt sich dann auch in der ent-subjektivierten Sprache in diesem Stück, die aber eben nur in der Brechung der Kunst möglich ist. Wenn die Figuren tot sind, also Teil der Geschichte geworden und nur noch als Wiedergänger zurückkommen können, erst dann können sie sprechen, können eine Sprache finden, aber gerade die unsichere, nicht persönliche Sprache, in die die Geschichte in Form der Referenzen eingeschrieben ist. »Die beiden Königinnen dieses Stückes geben sich immer schon als Verstorbene und Entzogene zu erkennen, die das Wort nicht mehr ergreifen können und deren Sprechen auch nicht mehr greifbar ist.«324 Aber dennoch sprechen sie, und zwar unentwegt und in der Jelinek eigenen Weise. Damit sprechen sie auch gegen das Vergessen an und sprechen/schreiben sich in die Erinnerung und den Mythos ein. Die Möglichkeit der Erinnerung liegt nicht in der Heroisierung als Einzelperson (also der trivialen Mythisierung), sondern im Aufgehen in den Mythen, die hier auf der Textebene in Form der Zitate präsent sind. Zunächst müssen diese Figuren jedoch eine Geschichte finden, in die sie sich einordnen können. Jelinek sagt über den Umgang mit der RAF: »Ich nehme die ganze RAF als mythisches Material, das sie ja inzwischen ist, und versuche das, was Mythos ist, zu deduzieren. In diesem Fall dem, was noch gar nicht Geschichte ist (besser: was verleugnete Geschichte ist), seine Geschichte zurückzugeben.«325 So werden die Figuren Teil des kollektiven Erinnerns und des übergreifenden Diskurses, der das Material für die Schreib- und Zitierweise Jelineks ist. Damit reproduziert sich der Mythos auch hier wieder selber.

323 »Vier Stück Frau«. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater Hamburg (Hrsg.): Programmheft zu Ulrike Maria Stuart. S. 7-22. hier S. 10. 324 Gutjahr, Ortrud: Im Echoraum der Stimmen. Elfriede Jelineks »Ulrike Maria Stuart«. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (117). S. 19-30. hier S. 21. 325 »Vier Stück Frau«. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater Hamburg (Hrsg.): Programmheft zu Ulrike Maria Stuart. S. 7-22. hier S. 9.

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Das Stück beginnt mit einer Regieanweisung, einem Kommentar, einem Zuruf der Autorin, die eine Schwierigkeit in der Umsetzung des Textes benennt: »Ein Problem wird sein, daß die fast immer ›gebundene‹ Sprache des Textes (Jamben, Trochäen) eine ›Höhe‹ herstellt, die unbedingt konterkariert werden muß von der Regie. Die Figuren müssen sozusagen fast jeden Augenblick von sich selbst zurück gerissen werden, um nicht mit sich selbst ident zu werden.« (S. 1)

Der Text problematisiert sich hier auf unterschiedlichste Weise selber. Während es schwierig ist auszumachen, welche Teile des Textes Zitat sind und welche von der Autorin Jelinek selber stammen – was der Begriff des »Zitierens ohne Anführungsstriche« beschreibt – und diese Unterscheidung dem Text in seiner Ästhetik und vor allem seiner Wirkungsabsicht nicht angemessen ist, benennt die Autorin sich hier ganz zu Beginn selber. Doch ist sie hier eine Autorität für das Problematische an dem Text, und damit wird ihre Autorität den Text selber betreffend wieder untergraben.326 Das Stück trägt den Untertitel »Königinnendrama« – darin finden sich in der Abwandlung Referenzen zu mindestens zwei weiteren Dramenkomplexen neben Schillers Maria Stuart. Zum einen hat Jelinek selber eine Reihe von fünf kleinen Dramen unter dem Titel Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen (zuerst zwischen 1999 und 2003, gemeinsam 2003) veröffentlicht und zum anderen werden acht Stücke Shakespeares unter dem Titel »Königsdramen« zusammengefasst.327 So kommt auch der Mythos Shakespeare als ein Mythos des Theaters ins Spiel. Die Königsdramen sind zudem der Moment, in dem Geschichte als Tragödie einen Platz auf dem Theater findet – konkret und allgemein zugleich. Den Unterschied zwischen Prinzessinnen und Königinnen beschreibt Jelinek im Zusammenhang mit Ulrike Maria Stuart folgendermaßen:

326 In der Inszenierung Stemanns klingelt relativ zu Beginn, als die Prinzen einen Umgang mit dem Text suchen, ein Telefon. ›Gudrun‹ fragt daraufhin ›Ulrike‹, die das Telefon beantwortet »Ist das Elfriede?« Doch sie ist es nicht, eine anonyme Stimme hat mitgeteilt, dass die Wirtschaft in Schwierigkeiten ist, damit kommt der anti-kapitalistische Anspruch der RAF hier ins Spiel. Zugleich wird die Autorin aber vergeblich herbeizitiert. 327 Und zwar die Dramen Richard II, Henry IV (1&2), Henry V, Henry VI (1-3) und Richard III. Grundthema der Stücke ist der permanente Kampf um die englische Krone zwischen den Häusern York und Lancaster. Die Frage nach Legitimität, Macht und Königswürde wird dabei unterschiedlich ausgeleuchtet. Doch sind auch diese Könige Subjekte der Geschichte, teils durch ihre Geburt (Richard II), teils durch Selbstermächtigung (Richard III). Hier sind es die Könige, die handeln. Auch zu dieser männlichen Besetzung von Geschichte setzt Jelinek sich hier mit ihren weiblichen Königinnen in Differenz.

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»Prinzessinnen sind noch nicht fertig, obwohl sie glauben, schon fertig zu sein, sie sind sozusagen Königinnen im Larvenstadium, […] aber jedenfalls sind sie sich ihres Zustands bewusst und sprechen, teilweise sogar recht selbstironisch, darüber. Die Prinzessinnen sind vielleicht eine weibliche Lebensmüllhalde, aber der Müll besteht aus Gegenständen, die nicht fertig geworden und vorzeitig weggeschmissen worden sind. Sie sprechen davon, was hätte sein können oder was wäre wenn… […] Die Königinnen dagegen sind, ob sie es wollen oder nicht, Subjekte von Geschichte. Sie haben diesen Status, entweder durch Geburt (die historischen Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I.) oder durch ihren leidenschaftlichen Wunsch, sich zu Subjekten der Geschichte zu machen, als ›angemaßte Königinnen‹.«328

Gerade weil die Königinnen Subjekte der Geschichte sind oder sich selber zu solchen machen, ist ihr Konflikt mit der Geschichte, die letztendlich immer siegt (vgl. dazu auch das Jelinek-Zitat am Anfang), besonders stark. Zugleich können sie auch nur so in die Geschichte eingehen und aus ihr heraus weiter wirken, als Wiedergänger oder, in Jelinkes Vokabular, »Vampire«. Sie sind damit Bestandteile einer anderen (Zeit)Ebene, ähnlich einer mythischen, die dann wieder in die Gegenwart einbrechen kann. Jaeger stellt zu den Prinzessinnendramen folgende These auf: »Die toten Erscheinungen sind zum Mythos geworden und können lediglich immer nur ihren Mythos weiterproduzieren.«329 Dies gilt verstärkt auch für die Königinnen. Doch hier ist das Verhältnis paradoxer. Während die realen Königinnen entweder auf Grund ihrer Position (Elisabeth und Maria) oder noch stärker aus eigenem Willen (Meinhof und Ensslin) an ihrem Status als Mythen arbeiten, sich selbst dazu machen wollen, wird eben diese Selbstmythisierung in Ulrike Maria Stuart desavouiert. Gleichzeitig macht das Stück diese Figuren und die RAF als Komplex zu einem anderen Mythos. Eben nicht dem alltäglichen, umgangssprachlichen – gerade indem der Text sich auch mit Trivialmythen auseinandersetzt –, sondern zu einem kollektiven, erinnerten und damit wenn auch negativ besetzten lebendigen und produktiven. Einige Mythen in Ulrike Maria Stuart Der Engel Ein weiterer Mythos im Text, der zunächst nicht dem Themenkomplex RAF entstammt, ist der Engel, der neben den beiden Frauen-Stimmen und den kollektiven Stimmen der Prinzen im Tower und der Greise auftaucht. Der Engel kommt in jedem der drei Abschnitte vor und wird immer in Brechung eingeführt. Zunächst in Brechung zu den Vorbildern und später auch in Brechung zu sich selbst. Er lässt an den »Engel der Geschichte« 328 »Vier Stück Frau«. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater Hamburg (Hrsg.): Programmheft zu Ulrike Maria Stuart. S. 7-22. hier S. 11. 329 Jaeger: Theater im Medienzeitalter. S. 150.

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Walter Benjamins denken und zugleich ist er auch ein Zitat aus Tony Kushners Theaterstück Angels in America, wie Jelinek selber sagt: »Der Engel ist vieles (er kommt aus Tony Kushners ›Angels in America‹, ich habe ihn mir geborgt). Er steht z.B. auch für die Vergeblichkeit des linken Engagements, die Sinnlosigkeit und Lächerlichkeit, sich überhaupt noch für etwas zu engagieren, nachdem die sozialistischen Länder mit einem whimper, nicht einmal mit einem bang, zum Glück, zusammengebrochen sind.«330

In dem Bild des Engels wird auch eine Haltung zur Geschichte formuliert, »wenn sie [Jelinek] in Ulrike Maria Stuart diesem Engel den Kopf verdreht, sodass er in die Zukunft schauen muss, die ohne Heilserwartung ist.«331 Doch der Engel schaut nicht nur in die Zukunft, sondern er kommt aus ihr, er weiß also um sie. Damit ist seine Zeit eine zyklische, aus der heraus er in die andere Zeit einbricht – ganz ähnlich wie die mythische Zeit in die Zeit der Menschen. Seine erste ›Rollenbeschreibung‹ (im 1. Bild) lautet dann auch: »EIN VERSPRENGTER ENGEL AUS AMERIKA, AUS DER ZUKUNFT KOM332 MEND, WILD, WENN AUCH SINNLOS MIT DEN FLÜGELN SCHLAGEND« (S. 17). Das wilde, sinnlose Flügelschlagen ist ein Ausdruck für die Vergeblichkeit und die Unmöglichkeit, die Zukunft, den Verlauf der Geschichte, beeinflussen zu wollen. Auch dieser Vorgang ist widersprüchlich, da der Engel aus der Zukunft kommt. Dieser Engel ist ein wirklich »glückloser Engel« und erinnert so auch an Heiner Müller. Im zweiten Bild versucht sich der Engel mit der Aidsschleife zu erhängen. Die Aidsschleife ist neben der Formulierung ein »Engel aus Amerika« ein weiteres Indiz für den Bezug zu Kushner, denn der Umgang mit Aids ist eines der Hauptthemen des Dramas Angels in America. »DER VERSPRENGTE ENGEL, DIE AIDSSCHLINGE BEREITS UM DEN HALS UND AUF EINEM SCHEMEL, BEREIT ZUM SPRUNG, TRITT AUF UND SCHREIT DEN REST WÜRGEND AUF DIE BÜHNE, KANN SICH ABER VON SEINER SCHLINGE AM ENDE NOCH EINMAL BEFREIEN« (S. 57). Die Sprache wird hier zu einem Kampf um die Zukunft und damit auch um das Leben selber, der Engel, der aus der Zukunft kommt, versucht sich hier paradox die eigene Zukunft zu nehmen. Ebenso sinnlos wie das Flügelschlagen des Engels ganz zu Beginn sind auch die Aktionen (die Taten, die den Worten gegenüberste-

330 »Vier Stück Frau«. Vom Fliessen des Sprachstroms. Einige Antworten von Elfriede Jelinek. In: Thalia Theater Hamburg (Hrsg.): Programmheft zu Ulrike Maria Stuart. S. 7-22. hier S. 18. 331 Lücke, Bärbel: Elfriede Jelineks ästhetisches Verfahren und das Theater der Dekonstruktion. Von Bambiland/Babel über Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach) (für Christoph Schlingensiefs Area 7) zum Königinnendrama Ulrike Maria Stuart. In: Janke et al. (Hrsg.): Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater.« S. 61-85. hier S. 67. 332 Die im folgenden in Kapitälchen gesetzten Zitate aus dem Text sind im Original gefettet, die Änderung dient der besseren Lesbarkeit des Schriftbildes.

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hen) der RAF-Mitglieder.333 Später werden auch in den Texten des Engels Elemente zu finden sein, die eher zu den Königinnen passen würden, zumal im Wechsel zur weiblichen Form in der Selbstbezeichnung. Dieser Text reflektiert jedoch zugleich die Situation des Subjekts zur Geschichte, ist damit also auch aus einer zukünftigen Perspektive rückwärts gewandt lesbar: »Denn es ist schließlich klar, daß das Objekt der blutigen Geschichte nicht automatisch wie mit einem Klick auch zum Subjekt dieser Geschichte werden kann, der Revolutionär muß an sich arbeiten, nein, es genügt ihm keinesfalls, daß er zur Konkretion dann schreiten würde, jawohl, ich mein zur Tat, es ist doch Scheiße, Scheiße ist es immer, daß ein Subjekt es jemals geben könnte und zwar außerhalb des Subjekts, nicht einmal reden als Subjekt kann Mensch, ach Scheiße, wer kann schon reden als er selbst, es selbst, an sich, für sich. Ich bin die Vorstandsvorsitzende der Ausgebeuteten, soviel steht für mich fest und damit für euch ebenfalls, das soll von nun an meine Rolle sein.« (S. 64)

So schiebt sich in den Texten die Geschichte ineinander. Der Mythos bekommt eine geschichtliche Legitimation, zugleich wird er in der Gegenwart und vielleicht auch in der Zukunft präsent gehalten, kann so wirken. Aber im gleichen Atemzug wird alles als »Rolle« bezeichnet. Damit ist auch hier wieder Unidentität vorhanden, denn gerade zuvor hieß es, »soviel steht für mich fest«. Doch eine Rolle steht nicht fest, sie wird gespielt und vielleicht ausgefüllt, existiert aber immer in Differenz zu demjenigen, der sie spielt – auch hier spielt der Jelinek-Text mit tradierten (Theater-)Mythen. Der Engel wird in den Beschreibungen seiner Rolle ironisch gebrochen, in diesem Auftritt heißt er dann schon: »ENGEL EGAL (WAS SOLL MAN DA MACHEN, DER HÖRT UND HÖRT NICHT AUF! LASSEN WIR IHN HALT IM FERNSEHEN AUFTRETEN, DAS IST DER EINZIGE ORT, WO IHM NUN WIRKLICH KEINER ZUHÖRT)« (S. 61). Hier wird in Form des Fernsehens die Alltags- oder Trivialkultur und damit auch deren Umgang mit dem mythischen Material mit dem Engel zusammengebracht. Im Fernsehen, das den Alltag bestimmt und die Informationshoheit in Anspruch nehmen kann (wenn auch inzwischen das Internet eine starke Konkurrenz ist), wird die Geschichte zwar konserviert und trivialisiert, aber auch vergessen. Doch wird hier nicht direkt Kritik geübt, sondern wieder indirekt über die Brechung. Denn dieser Engel tritt nicht im

333 In Stemanns Inszenierung wird der Sprung Ulrike Meinhofs aus dem Fenster, der gemeinhin als Sprung in die Illegalität und Sprung in die Tat gewertet wird, dann auch zu einem beliebig wiederholbaren und nachgerade albernen Kinderspiel. Nachdem Ulrike/Maria gesprungen ist, springt auch Gudrun/Elisabeth und danach die Prinzen. Kommentiert wird das ganze auch, mit »Ich spring noch mal« oder »Wir haben den Hals noch lange nicht voll« aber auch mit dem leitmotivischen Satz »Ich weiß nicht, was passieren muss, damit endlich was passiert.« Nach dem letzten Sprung wird ein kleines Feuerwerk gezündet – es ist also ein Spaß, ein Spiel.

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Fernsehen auf und wäre dazu auch vollkommen ungeeignet, er ist eine Theaterfigur. So wird der Engel auch zu einem Mythos, der über das Trivialmythische hinausgeht – auch wenn es sich dessen teilweise bedient – und einen Platz in der Realität beanspruchen kann, wenn auch einen fragilen, erinnerten, gerade auch, weil er aus der Zukunft kommt. Auch im letzten Bild, in dem der Konflikt am sichtbarsten zu Tage tritt, kommt der Engel zweimal ins Spiel. Beim ersten Mal wird, wieder in der ironischen Brechung, der zweite Auftritt bereits angekündigt. »EIN LETZTES MAL, NA, DA WÄR ICH MIR NICHT SO SICHER!, DER VERSPRENGTE ENGEL« (S. 90). Das letzte Wort, der letzte Text, des Stückes gehört dem Engel. Doch ist er dabei nicht der Bote der Zukunft oder gar der Heilsbringer, sondern er ist der übrig gebliebene, derjenige, der sich nicht einordnen kann. »DER ENGEL IN AMERIKA, DER LETZTE, DER KEINEN ANSCHLUß UNTER DIESER NUMMER FÜR EINE NUMMER GEFUNDEN HAT, TRITT AUF, DIESMAL, WIE ES SICH GEHÖRT, MIT DEM RÜCKEN ZUM PUBLIKUM« (S. 101). Mit dem Rücken zum Publikum steht er hier, also findet er auch keinen Anschluss mehr zu dem, was vor der Bühne ist. Doch zugleich muss auch der Engel in (seiner) Textfläche aufgehen, verschwinden. Die Zukunft findet hier also zunächst keinen Anschluss, doch ist sie immer da. Zukunft ist unvermeidlich, doch eben nicht beeinflussbar. Andererseits kann sie auch nicht zurück wirken, der Versuch des Engels aus der Zukunft zurückzukehren ist ebenso unmöglich, wie der Versuch der Figuren sich zu Subjekten der Geschichte zu machen. Die Gegenwart, und zwar auch die der Theateraufführung zwischen Bühne und Publikum, ist der einzige Moment, der möglich ist. Im Rücken der Zukunft, des Engels, kann das Publikum die Nachwirkung der Vergangenheit, wenn auch als Bedrohung in der Gegenwart, erfahren. Mit dem Engel bricht ein Mythos aus einer anderen Sphäre als der Geschichte ein und geht mit den anderen Mythen gemeinsam in der Erinnerung auf. Die Stimmen – Mythen statt Figuren Das Stück ist in drei Teilstücke aufgeteilt.334 Das erste ist überschrieben »Elisabeth von England / Maria Stuart«, diese Überschrift rekurriert also ganz direkt auf das Schiller-Drama. Dennoch sind die ersten, die zu Wort kommen, die Prinzen im Tower, die fragen: »Väter, sagt uns, ist die Mutter tot?« (S. 3). Die Prinzen im Tower verweisen jedoch auf Richard III, das letzte der shakespeareschen Königsdramen. Dort werden die Prinzen im Tower gefangen gehalten und ermordet, weil sie die Macht, die Richard sich anmaßt, bedrohen. Diese Kinder jedoch fragen nach ihrer Mutter, sie sind hier die Bedrohten. Zudem sind die Kinder Ulrike Meinhofs, auf die in den 334 Vgl. dazu Lücke: Elfriede Jelinek S. 134: »In seinen drei Teilstücken mag es als Mimikry an das klassische Drama mit seinen drei (fünf) Akten erscheinen, aber dieses Stück dreht alles ideologisch-klassische ebenso um wie alles ideologisch-moderne und verschiebt seine zeitlos-scheinenden Bedeutungen in die Zeit, also in das Werden und Vergehen.«

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folgenden Texten immer Bezug genommen wird, zwei Mädchen.335 Gudrun Ensslin hingegen hatte einen Sohn, doch dieser spielt nicht die gleiche Rolle wie die Kinder Ulrike Meinhofs. Das eigentliche Kind Gudrun Ensslins ist Andreas Baader, den sie »Baby« nennt. Diese Konstellation wird im Text ein ums andere Mal thematisiert.336 Doch die Prinzen sind keine Rollen, denn sie werden als »verschiedene Stimmen, deren Urheber man aber nicht sieht« (S. 3) eingeführt. Sie besetzen damit eine Funktion im Gewebe aus Stimmen und Zitaten. Sie kommen ebenso wie der Chor der Greise, der ihnen antwortet, nur im ersten Teilstück vor. Alle Stimmen bestehen aus vielen unterschiedlichen Zitaten, dabei stellen sie die zitierten Mythen zur Debatte, fordern auf, diese zu befragen und nicht zu kanonisieren. Gleichzeitig schreiben die Stimmen sich so als Mythen in das Gedächtnis (möglicherweise auch der Zuschauer) ein. Der Chor der Greise scheint ein Wissen um die Zukunft zu haben. Sie entlarven sich ebenso wie die Königinnen selber als Tote: »Schon damals wie sies heute wissen, sogar wir Toten haben das einmal geglaubt.« (S. 9) Tod, Vergangenheit, Zukunft kollidieren so mit der Gegenwart – es entsteht ein mythischer Zeit-Raum. Der Tod ist allgegenwärtig, alle Stimmen sind nur noch Echos, denn eigentlich sind alle bereits tot. Der Chor als Form entspricht dem Verfahren des Textes, denn es handelt sich dabei um ein Phänomen der Kollektivität. Das Kollektiv weiß mehr und kann mehr in sich aufnehmen als der Einzelne, durch den, zumal im Körper des Schauspielers, dieses Andere hindurch geht. Das gilt auch für die Struktur der Textflächen. Die Stimme Ulrike wirft in einem ihrer ersten Textanteile die Frage, wer denn spricht, selber auf: »Wer spricht in den Text hinein, wer sucht ihn zu verwischen mit der eigenen Stimme? Ich kenn mich jetzt nicht mehr aus, wer spricht, es ist ja alles sinnlos, unverständlich« (S. 15) und etwas später »Wer spricht da eigentlich? Wahrscheinlich bin ichs selbst!« (S. 16). Die eigene Stimme wird so zur fremden und als solche in dem Text, der seinerseits versucht von den Stimmen unabhängig zu sein, nicht mehr als Ausdruck eines Charakters kenntlich. Dieses Problem oder auch diesen Konflikt tragen die Figuren bis zum Ende in sich, wenn es sich überhaupt um Figuren handelt. »Jelinkes Figuren im ›Königinnendrama‹ bleiben Gespaltene, und sie werden auch nicht tendenziell oder paradox ›versöhnt‹.«337 Dieser Versöhnungsgedanke, vor allem mit sich selbst, verweist auf das SchillerDrama. Doch dessen Moral ist heute nicht mehr möglich. Auch die Stimme von Ulrike zitiert das Schiller-Stück, doch wird auch diese Referenz aus eben diesem Grund direkt gebrochen:

335 In Nicolas Stemanns Inszenierung sind die Prinzen drei Männer in Frauenkleidern. In diesen Theaterzeichen wird also die Brechung sichtbar gemacht. 336 Vgl. zu dieser Konstellation u.a. Lücke: Elfriede Jelinek. 337 Lücke: Jelinkes Gespenster. S. 291.

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»Ich bin die Schwache, sie die Mächtgen, wer auch immer, Hans oder Grete, oder wie sie sich gerade nennen. Sie brauchen die Gewalt, sie töten mich. Sie töten mich. Der Staat muß gar nichts tun. Sie töten mich schon selber, die Genossen, debattieren klassisch, und dann töten sie. Wer sich auf Geschichtlichkeit verläßt und ihre schrecklichen Gesetze, der ist ganz verloren, denn er hat nichts mehr davon, was immer sie beschließen, die Gesetze, heute richtig, morgen falsch, Hans oder Grete, wer auch immer, bald sind sie selber tot, ich schwörs euch.« (S. 23)

Doch wird hier in der ersten Variante, denn es heißt »sie die Mächtgen« im Plural, deutlich, dass es sich nicht um einen Konflikt allein zwischen den beiden Frauen handelt, sondern auch zwischen Individuum und Gruppe. Aber auch hier wird die »Geschichtlichkeit« als Mechanismus benannt, der in den Tod führt und eben nicht beherrscht werden kann. So wird der Konflikt verschoben, denn eigentlich ist der Gegner der terroristischen Gruppe der Staat. Doch steht hier die eine der Gruppe gegenüber. Damit wird dieser Konflikt zwischen einer individuellen Position (die ihren Ausdruck auch in einer kleinen Gruppe haben kann) und einem größeren undurchschaubaren Kollektiv zu einem allgemeinen (vielleicht mythischen) Prinzip, das sich auf mehreren Ebenen fortsetzt. Am Ende der Passage steht hier eine direkte Anrede, doch wer wird angeredet: die Prinzen, die Greise, die Lebenden? Da die Figuren auf der Bühne alle tot sind und dies auch wissen, öffnet sich der Text an solchen Momenten in eine größere Dimension, will wie ein Mythos durch die Zeit wirken. Das wäre dann das politische Moment, das schon im Zusammenhang mit der Mythendekonstruktion zu sehen war. Die Geschichte wird hier nicht nur aus dem Vergessen geholt, sondern durchaus auch zur Beurteilung gestellt: »ULRIKES STIMME (off): Das wollt ich nicht – beim großen Gott des Himmels! Wann hätt ich das gewollt? Wo sind die Proben? Was ist das Problem? DIE PRINZEN IM TOWER: Ach, wir proben doch schon Mutter! Proben, wissen aber nicht, für welches Stück, wir wissen nur den Ort, der immer ein Gerichtssaal ist. Dank dir.« (S. 26)

Mehrere Brechungen werden deutlich, die Stimme kommt aus dem Off, die Figur ist also nicht mehr sichtbar. Zugleich ist der Inhalt der Rede gerade hier persönlich: »Das wollt ich nicht.« Doch werden alle Handlungen, die hier bereut bzw. in Frage gestellt werden, als Proben gekennzeichnet, also als nicht fertige Handlungen, die anders wiederholt werden könnten. Auch die Prinzen proben (die Theatermetapher ist hier kein Zufall), aber in dieser zweiten Generation ist das Stück, also der Inhalt und das Ziel, schon nicht mehr auszumachen. Was bleibt, ist der Gerichtssaal, und zwar der der Geschichte, in dem alle Handlungen, und zwar gerade diejenigen, die sich anmaßen Geschichte beeinflussen zu wollen, von ihr eingeholt werden. Ein Urteil steht den Menschen nicht zu, sondern die Geschichte fällt es. Die Ge-

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schichte bleibt trotz aller Bemühungen unbeeinflussbar. Hier ist die Geschichte auch der Text, der polyphone Raum der Stimmen, in dem die einzelne Stimme zwar vorkommt, doch in den anderen Stimmen aufgelöst wird. Dennoch stellt eben der Text, auch und gerade in seiner ästhetischen Form, hier den Umgang mit der Geschichte zur Debatte. Einen ähnlichen Mechanismus der Revolution, wenn auch einer Revolution, die durchgeführt wurde und nicht wie die der RAF in der Ideologie verhaftet blieb, beschreibt auch Büchners Dantons Tod. Einen der aussagekräftigsten und berühmtesten – und damit auch immer in der Gefahr zum Trivialmythos zu werden – Sätze zitiert der Text der Stimme Ulrike, natürlich in Abwandlung: »Die Revolution frißt jetzt ein Kind, und das bin ich, ich sage dazu, wohl bekomms!« (S. 29) Revolution und Geschichte sind, ebenso wie Tragik, mit dem Phänomen der Zeit verbunden. Der Umgang mit ihr, deren Ebenen sich ähnlich wie die Referenzen in den Texten übereinander schieben, wird auch von den Stimmen selber thematisiert. Ulrike sagt: »Doch grad über die Vergangenheit sollt ihr ja sprechen! Denn die Gegenwart ist schrecklich, und die Zukunft, die wird noch viel fürchterlicher, und zwar aus dem einen Grund, daß in der Zukunft es uns leider nicht mehr geben wird, daher ist sie so öde heute schon für uns.« (S. 34) Doch auch das ist paradox, denn jede Art von Revolution ist auf die Zukunft ausgerichtet, sonst wäre sie sinnlos. Zugleich ist der Text selber das Gegenteil von dem, was er hier formuliert. Eine der Absichten des Textes, die auch ganz klar formuliert wird, ist es, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, die Toten zu Wort kommen zu lassen. Damit sind sie jedoch auch in ihrer eigenen Zukunft weiterhin präsent. Die Gegenwart ist gerade deshalb schrecklich, weil sie die Vergangenheit verleugnet. »Die Kollision der Zeitebenen kommt in den Texten Jelineks mit der Vergegenwärtigung der toten Opfer der Geschichte zum Ausdruck.«338 In der Verbindung mit der Zukunft entsteht hier wieder eine zyklische Zeit. Zum Ende des ersten Teilstückes kommt eine Stimme hinzu, die hier nur als »Königin« bezeichnet wird. Das zweite Teilstück beginnt dann mit einer Stimme, die Gudrun heißt. Wie, um diese unterschiedlichen verwirrenden Rollenzuweisungen zu kommentieren, beginnt ihre Rede: »Jetzt weiß ich nicht mehr, wer aus mir spricht. Bin ich die eine oder diese andre? Was bestimmt mir ist: Ich bin die Königin.« (S. 44) Bevor sie sich also hier selber zur Königin erklärt hat, wurde sie im ersten Teilstück von der Regieanweisung/Rollenzuweisung schon als solche benannt. Auch der Text ist in seiner zeitlichen Abfolge so nicht konsistent. »Königin« ist vor allem eine Funktion und die Verbalisierung des Mythos der Herrscherin und keine potenzielle Persönlichkeit wie sie in der Zuweisung von Namen liegt. Auch in diesem Abschnitt vermischen und trivialisieren sich die Referenzen, eben indem sie auch dieses vielschichtige Spiel aushalten, erweist sich ihre eigentliche mythische Qualität. Dieses zeigt sich im gesamten Text schon in kleinen De-

338 Jaeger: Theater im Medienzeitalter. S. 121.

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tails: »Als hätt es Farben nicht gegeben als Geschenk des Hauses für zwei Rosen, nein, nicht Lancaster, nicht Leicester und nicht York, ich meine ganz normale Rosen.« (S. 44) Die beiden Rosen sind die Wappenblumen der Häuser York und Lancaster, die in Shakespeares Königsdramen um die Krone kämpfen. Doch nicht nur diese beiden werden hier erwähnt, sondern zudem Leicester, der Lord, um dessen Gunst die Königinnen in Schillers Drama streiten. Dazu kommen die »ganz normalen Rosen« als Ausdruck eines alltäglichen Klischees. Die Referenzen sind für alle Figuren dieselben. Die den Personennamen zugeordneten Texte sind eigentlich ein Text, der aus allen diesen Stimmen und Bezügen besteht. Die Personen kommen nur kurzfristig zum Vorschein, versuchen sich als Subjekte zu behaupten. Doch sie sind, indem sie bereits in den gleichen Referenzen aufgegangen und selber zu solchen geworden sind, Teil der Geschichte – aber anders als sie es beabsichtigt haben. Auch deshalb kann es keinen wirklichen Konflikt zwischen den Königinnen geben. Doch sprechen die Figuren, wenn auch von vornherein zum Scheitern verurteilt, dagegen an, so Gudrun: »Ich bleibe mir als letzte übrig. Bleib mir selber überlassen, bevor ich anderen was überlasse. Meinen Körper haben sie. Was ich behandle, das ist unweigerlich verloren.« (S. 45) Hier wird wieder die Differenz zu den Körpern deutlich, denn die Figuren, wenn es sie überhaupt noch gibt, sind Stimmen und von den Körpern abgelöst. Pewny weist in ihrer Analyse der Inszenierung von Stemann in diesem Zusammenhang auf eine Parallelität zur Realität hin, die aber auch schon für den Text gilt: »Die Inszenierung präsentiert die Meinhofsche Geschichte als unabgeschlossen und spielt damit auf die ›unheimliche‹ Präsenz der Toten an: Bis heute ist Ulrike Meinhof nicht vollständig ›begraben‹, ihr Gehirn lagert noch immer zu Forschungszwecken in einem Magdeburger medizinischen Institut ein.«339 Die Toten stellen sich dem Tod entgegen, damit sind sie Untote, die in der Erinnerung aufgehoben werden und gleichzeitig von dieser leben. »GUDRUN: Habt keine Angst vorm Tod, nicht einmal das Gesetz des Todes soll uns herrschen, denn wir wollten daß es kein Gesetz gibt, gar keins, soviel kann ich immerhin euch flüstern, denn indem wir töten, ist der Tod von uns als ganzes abgeschafft! Wir sind das Volk!« (S. 51) Der Tod kann nicht abgeschafft werden und in der Abschaffung der Gesetze liegt gerade der Tod. In solchen Kippfiguren gibt Jelinek den Mythen nicht nur eine neue Sprache, die der Wiedergänger und Untoten, sondern sie entlarvt auch deren Anmaßung. Indem die Figuren in den Texten aufgelöst werden und die Königinnen anhand ihrer Texte nicht zu unterscheiden sind, wird ihnen im Text der Narzissmus, der eine der Triebfedern ihres Handelns war, genommen. Erinnerung der Geschichte ist das Ziel, aber Erinnerung als

339 Pewny, Katharina: Die Befreiung der Zeichen aus der Haft der Repräsentation. Ulrike Meinhofs Wiederkehr in Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelinkes Ulrike Maria Stuart (2006). In: Stephan & Tacke (Hrsg.): NachBilder der RAF. S. 106-120. hier S. 116.

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kritischer Blick. Diese Art der Erinnerung entsteht im Umgang mit einem Material, das wie ein offener Mythos befragt und mit dem gearbeitet wird. Erlösung liegt in dieser Geschichte nicht, das verdeutlicht auch der Engel. Aber auch die Stimme Gudrun, die sich immer wieder für kurze Momente, ebenso wie die Stimme Ulrike, durch den Stimmenraum durchsetzte, verkehrt die Hoffnung auf Erlösung, jedoch im Duktus einer Verkündigung: »Ich will keinen Frieden haben! Ich beneide dich um ihn, ich beneide dich um dich. Und ich will keinen Frieden geben. […] Diese Dornenkrone steht mir nicht, da nehm ich lieber die Perücke mit den Locken. Und ich sage: Keinen Frieden geb ich euch!« (S. 47) Frieden bedeutet auch immer Verzicht auf Gewalt, doch eben die Gewalt als notwendiges Mittel propagierte die RAF. »Indem die beiden Trieb-, Terror- und Todes-›Königinnen‹ für alle andern Heil und Erlösung, marxistische Eschatologie als Anarchie herbeischießen und herbeimorden wollen, täuschen sie sich über die Motive ihres Unterbewussten: Auch so sind sie ihre eigenen Doppelgänger und Wiedergänger geworden, Zombies und Vampire, die sich vom Blut ihrer Opfer ernähren und so ein ideologisch-idealistisches Scheinleben erhalten.«340

Keinen Frieden zu geben, sondern im Gegenteil das Bedrohliche offen zu legen, die permanente Störung und Verstörung, ist das Ziel des Textes – der damit auch eine andere Deutung dieses Ausspruchs eröffnet, als aus dem Denken der Figuren möglich wäre. Das ist dann auch die Herausforderung und Forderung an das Theater und auch an den Zuschauer. So geht dieser Text über die vordergründige, wenn auch nur paradoxe und vielleicht sogar nur scheinbare und damit behauptete Versöhnung hinaus. In dem, was als politische Absicht der Texte Jelineks beschrieben wird, wollen diese Texte nicht nur im geschlossenen Raum des Theaters wirken, sondern darüber hinaus verstören, gerade deshalb bedienen sie sich so vieler Trivialmythen. Dazu gehört dann auch die (Selbst)Stilisierung bis hin zur (Selbst)Mythisierung der Autorin und ihrer Texte.341 Der Unterschied zwischen Reden und Handeln ist für die RAF wesentlich. Daraus leitet sich einer der Hauptvorwürfe der Gruppe an Ulrike

340 Lücke, Bärbel: Elfriede Jelineks ästhetisches Verfahren und das Theater der Dekonstruktion. Von Bambiland/Babel über Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach) (für Christoph Schlingensiefs Area 7) zum Königinnendrama Ulrike Maria Stuart. In: Janke et al. (Hrsg.): Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater.« S. 61-85. hier S. 80. 341 Vgl. dazu Löffler, Sigrid: Die Masken der Elfriede Jelinek. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (117). S. 3-14.

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Meinhof ab, der im Stück immer wieder thematisiert wird.342 Eine ähnliche, wenn auch genau anders gewichtete Spannung besteht auch im Stück selber, denn es ist reine Sprache. Die Toten können nicht mehr handeln, sie kehren nur als Stimmen zurück. Mythos ist auch Sprache der Erinnerung. Dennoch beginnt das dritte Teilstück mit: »und: action!« (S. 75), dann folgt das Schillerzitat, das dort den Konflikt der Königinnen, die direkte Konfrontation, einleitet: »Wer war es denn, der eine Tiefgebeugte uns hat angekündigt?« (S. 75) Aber auch hier genauso wie an der Stelle, an der Ulrike das Schillerzitat gesprochen hat, folgt zunächst die assoziative Vielstimmigkeit der Referenzen. Dennoch ist zwei Seiten weiter eine Art Replik nach gleichem Muster auszumachen: »So will ich mich noch diesem unterwerfen, Schwester, auch wenn es mir recht schwerfällt« (S. 77). Hier wird der Konflikt zwischen den beiden Frauen thematisiert. Mit Ausnahme des Engels sind ihre Stimmen die einzigen, die in diesem dritten Teilstück vorkommen. »Im Duett der Dissonanzen wird in Bezug auf Schillers rhetorisch ausgefeilten Königinnenstreit somit hier eine verlorene Sprache vergegenwärtigt – und zwar nicht, weil sie nicht imitierbar wäre, sondern weil ihre Aussage nicht mehr generierbar ist. Jelineks Sprachspiele aber werden in jeder Inszenierung durch den spezifisch konstellierten Echoraum der Stimmen neu hörbar gemacht: in sinnliche Präsenz übersetzt.«343

Der Konflikt kann keiner mehr zwischen zwei Personen sein. Auch sie sind bereits Geschichte und Konflikt erfordert eine Gegenwart. Auch im Konflikt liegt ein Versuch, sich selber in die Zukunft bzw. Gegenwart zu transportieren. Gerade indem ein historischer Konflikt in literarischer Bearbeitung mit einem Konflikt, der nach Jelineks Aussage noch seiner Historizität bedarf, in einem Text verwoben wird, wird das Wiedergängerische, das Vampirhafte deutlich. Dieser Konflikt bedient sich am anderen Konflikt, um selber gegen die Geschichte, deren Teil er schon selber geworden ist, zu bestehen. Die Position der Figuren wird dann auch folgerichtig von Ulrike thematisiert: »Das sind wir, jawohl, die Nummer, die vorhin wir aus diesem Automat gezogen haben, bevor wir in den Wartesaal der Weltgeschichte uns gesetzt, die Nummer ist jetzt aufgerufen.« (S. 81) Deshalb hat das letzte Wort wieder der Engel, auch wenn er »keine Nummer hat.« Er ist die gebrochene Geschichte. Hier dreht er dem Publikum den Rücken zu, möglicherweise schaut er gerade so in die Zukunft. Denn der kritische Blick, zu dem der Text, zumal als Inszenierung, den Zuschauer herausfordert, ist die Bedingung für die Zukunft.

342 In der Uraufführung wird dieses noch weiter verschärft, indem der Aufruf »Wir wollen Taten« gegen den Text, den Ulrike alleine spricht, von den anderen Darstellern gemeinsam gesungen wird. 343 Gutjahr, Ortrud: Im Echoraum der Stimmen. Elfriede Jelineks »Ulrike Maria Stuart«. In: Arnold (Hrsg.): Text und Kritik (117). S. 19-30. hier S. 29.

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Das Theater als Ort der Begegnung mit den Mythen In der Tragödie wird das, was im Mythos gesichert scheint, wieder in Frage gestellt. Das Theater ist der Ort der Tragödie, aber auch die Texte Elfriede Jelineks gewinnen auf dem Theater weitere Brüche, Schnitte und Konflikte hinzu. Sie sind explizite Theatertexte, die einerseits das Theater herausfordern und andererseits des Theaters bedürfen, um ihre Wirkung zu entfalten. In ihren Texten stellt sich immer die Frage: ›Wer spricht?‹ Im Theater ist jedoch immer ein Schauspieler da, der ganz vordergründig spricht. Aber ob er mit der Sprache identisch ist, eine Figur, ist nicht sicher und von Elfriede Jelinek, wie es ihre Vorbemerkung zeigt, auch nicht erwünscht. Es entsteht so eine Spannung, die diejenige beim Lesen eines Textes übertrifft. »Jelinek subvertiert die zentrale Produktivkraft des theatralischen Mediums, den Schauspielerkörper: Sie schreibt durch ihn hindurch, und darin liegt eine der revolutionärsten Kräfte ihrer Theatertexte.«344 Jelineks Texte suchen ein anderes Theater als ein solches, das selber schon zu einem (Trivial)Mythos geworden ist. Sie selber formulierte bereits in den 1980er Jahren: »Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater.«345 Jelineks Theater ist auch eines, das sich aus einer anderen Welt, aus der der Toten bedient und herschreibt, wenn auch wieder auf eine kritische Art und Weise. »Ist das Theater von jeher Ort kollektiver Totenbeschwörung, so wenden sich Jelinkes Stücke durch die Zitierpraxis gegen die kultische, gemeinschaftsstifende Vergegenwärtigung von Abwesendem in personaler Gestalt.«346 Aber genau auf diese kollektive Erinnerung (und die in ihr aufgehobenen Mythen) muss dieses Theater in seiner Zitierpraxis bauen. Diese Totenbeschwörung ist keine im positiven Sinn einer Mystifizierung und Glorifizierung, sondern eine Entlarvung der Bedrohung durch diese Vergangenheit, die so aus der, auch und vor allem medial gestützten, Verharmlosung hervorgeholt wird. In dieser Art der Erinnerung leben die Untoten und Vampire produktiv weiter, auch wenn ihre Produktivität zunächst eine parasitäre ist. Und diese ist umso bedrohlicher, je undeutlicher die Zuordnung in den »Textflächen« ist. »Die Figuren werden ganz auf den Diskurs reduziert. Der Text kennt keine Tiefe oder Perspektive, sondern ist einzig Oberfläche: Sprache und kein Meinen dahinter. […] Das theatralische Moment dahinter potenziert sich: wir haben es mit der Inszenierung von Inszenierung zu tun.«347 Diese Inszenierung von Inszenierung ist ein weiteres Mittel der Differenz, die dieser Potenzierung zu Grunde liegt und gleichzeitig ein Raum, der für die Wirkung zwischen Bühne und Publikum eröffnet wird. »Der Leser und Zuschauer kann so zum Mitautor werden und der

344 Caduff: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. S. 255. 345 Vgl. dazu Roeder: Autorinnen. Das Gespräch mit Jelinek (S. 141-158) steht unter diesem Titel. 346 Annuß: Theater des Nachlebens. S. 251. 347 Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. S. 10-11.

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Theatertext zum dialogischen Ereignis zwischen Autor/in, Bühne und Publikum.«348 Hier arbeiten alle (Text, Theater, Bühne) gemeinsam an und mit den Mythen, auf sehr vielschichtige und durchaus auch widersprüchliche Weise. Die Uraufführung von Ulrike Maria Stuart Im Fall von Ulrike Maria Stuart verschärfen sich durch das Publikationsverbot des Textes alle diese Herausforderungen an das Theater noch. Der Text ist selber zum Mythos geworden und die Aufführung zum eigentlichen Text. Die Frage ist nicht nur, ›Wer spricht‹, sondern ›Wer hat das geschrieben, was ist jetzt Jelinek, was Stemann, was kommt von den Schauspielern?‹ ›Was reden die da eigentlich?‹ Dieses bringt die Aufführung selber auf die Bühne, indem am Ende der Regisseur mit einer Zopfperücke (die an die Frisur von Elfriede Jelinek erinnert) und einen wienerischen Akzent imitierend, während an der Wand ein Bild der Autorin zu sehen ist, auf der Drehbühne sitzt und aus dem Stück vorliest – und zwar einen der Abschnitte, in dem der Selbstmord angekündigt wird. Deshalb scheinen einige abschließende Bemerkungen zur theatralischen Umsetzung des Textes in der Uraufführung sinnvoll, auch diese beschränken sich auf die zentralen Fragen nach Mythos, Differenz, Identität und Herausforderung an das Theater in ihrer Wirkung auf das Publikum. Die Inszenierung stellt die Überforderung, die der Text in seiner Dichte und Inkompatibilität mit herkömmlichen Theaterformen auch für das Theater darstellt, von Anfang an aus. Dabei ist bemerkenswert, dass sich diese Inszenierung die Freiheit erlaubt, nicht nur zu kürzen und umzustellen (circa ein Drittel des Textes bleibt übrig), sondern noch weitere Referenzen hinzu nimmt. Die beiden auffälligsten Beispiele sind das Gespräch zwischen Elfriede Jelinek und Marlene Streruwitz, das als ›Vagina-Dialog‹ vorgeführt wird, und die ›Ruck-Rede‹ von Roman Herzog. Genau damit geht die Inszenierung weiter produktiv mit dem Text um, indem dieser Text trotz seiner unüberschaubaren Referenzen noch weiter vernetzt wird und damit offen bleibt, trotz und gerade wegen der Überforderung, die er schon darstellt. Der Abend beginnt damit, dass ein Mann in Frauenkleidern, einer der Prinzen, vor den Vorhang geschubst wird; das Textbuch wird ihm hinterher geworfen.349 Damit muss er nun umgehen – das ist die Situation vor der das Theater am Beginn des Probenprozesses steht. Die Prinzen im Tower versuchen den Text auf unterschiedliche klassisch-theatrale Arten zu sprechen und damit für das Theater zugänglich zu machen, dies muss scheitern. Dabei sind sie schon gleichzeitig die Prinzen und der Chor und auch Ulrike, wie sie durch die Requisiten Trenchcoat und Perücke zeigen. Sie lesen zudem 348 Ebenda S. 61. 349 Die Blätter des Textbuches bleiben den ganzen Abend über präsent. Es wird immer wieder aus ihnen vorgelesen, das Stück dadurch manchmal auch weiter voran getrieben.

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die Regieanweisungen mit. Fragen und Antworten werden von der gleichen Person gegeben. Es entsteht ein Streit um die Figuren, wer denn nun wer sei. Dann werden die drei auch wieder zum Chor. Dieser Chor ist teilweise disharmonisch, indem die Texte auf die unterschiedlichen Arten gleichzeitig gesprochen werden. In anderen Momenten werden die Schauspieler auch zu einem homophonen Chor. Die drei Schauspieler fordern sich dabei immer wieder heraus und kommen sich in die Quere. Das alles ist eine theatrale Übersetzung der Schwierigkeiten, die der Text macht, allein in der ersten Szene. In den ausgestellten Differenzen befindet sich auch der Ort, an dem die Begegnung mit den Mythen in der Art dieses Theaters stattfinden kann. Die Unidentität der Figuren wird besonders bei den Figuren Ulrike und Gudrun, die als solche auch phänotypisch deutlich zu erkennen sind, sichtbar. Es sind nicht zwei Schauspielerinnen, sondern vier.350 Jede Figur wird jünger (ungefähr in dem Alter, in dem sie starb) und älter (in einem Alter, das keine von beiden je erreicht hat, das sie aber inzwischen hätten) dargestellt. Gutjahr spricht in diesem Zusammenhang von einem »dreifachen Alter Ego«351. Damit werden die unterschiedlichen Zeitebenen auch auf der Bühne präsent. »Die beiden zentralen weiblichen Assoziationsfiguren werden mit ihrer Sterblichkeit wie Historizität und zugleich ihrer eigenen Wiederkehr, als Mythos konfrontiert.«352 Das Theater kann dafür andere Zeichen finden als der reine Text. Einmal ist zu sehen, wie die jungen Schauspielerinnen auf offener Bühne über die Renaissancekleider die Perücken und Accessoires ziehen, die sie wieder als Ulrike und Gudrun und nicht mehr als Elisabeth und Maria kenntlich machen. Die andere Schicht bleibt jedoch sichtbar. In der Szene, in der Ulrike sich aufhängt, wird der Text von der älteren Schauspielerin im Kostüm der Maria gesprochen, während die Tat von der jüngeren im Trenchcoat der Ulrike durchgeführt wird. Die ältere hilft der jüngeren jedoch ganz praktisch, sie bringt das Seil und in einer Offenlegung der Theatermittel befestigt sie das Seil am Rücken der jüngeren. So zeigt sich, wie die Mythen durch die Zeit bestehen, unter der Oberfläche bleiben und immer wieder neu befragt werden können. Stemann inszeniert eine Konfrontation zwischen den Königinnen, in der er die jüngeren Schauspielerinnen in historischen Kostümen mit Flöten auftreten lässt. Diese wird als »Königinnenduett« angekündigt und vor jedem Flötenspiel wird der Text angelesen und eine musikalische Tempoanweisung gegeben. Der Dialog wird an die Wand projiziert, während die jungen Königinnen ihren Streit in einem abwechselnden Flötenspiel führen, das in einem wütenden gegenseitigen ›Anpfeiffen‹ gipfelt, nachdem Gudrun/ Elisabeth sich Stellen angeeignet hat, die laut Ankündigung Ulrike/Maria

350 Möglicherweise Jelineks »Vier Stück Frau« (s.o.). 351 Gutjahr, Ortrud: Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Friedrich Schillers Maria Stuart. In: Dies. (Hrsg.): Ulrike Maria Stuart. S. 19-35. hier S. 23. 352 Ebenda.

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zustanden. Hier wird die Differenz zwischen den Personen, den Texten und der Darstellung eindrücklich demonstriert. Der Kommentar der Autorin, der dem Stück voran geht, wird an dieser Stelle zitiert. Die Darsteller der Prinzen bringen das Spiel wieder in eine halbwegs geordnete Form. Die Szene schließt mit dem Sprung in die Tat. Also dem Übergang vom Reden zum Handeln. Die Trivialisierung, die über eine selbstreflexive Ironie des Mediums hinausgeht, die sich auch in der Drehbühne zeigt, die immer wieder das zeigt, was das Illusionstheater eigentlich verbirgt und in ihrer Bewegung gleichzeitig den Verlauf der Zeit symbolisiert, wird in dieser Inszenierung zum Anlass für eine Revue schriller Bilder, Musik und filmischer Elemente. Dabei wird auch das Publikum nicht vergessen, das in einer Art Happening aufgefordert wird, das »Schweinesystem«, dargestellt von Pappfiguren mit Masken gegenwärtiger Prominenter aus Politik, Wirtschaft und Medien, mit Wasserbomben abzuwerfen. Die Schauspieler schießen mit Wasserpistolen zurück. Alles jedoch erst, nachdem die Zuschauer in den ersten Reihen fürsorglich und zuvorkommend mit Plastikplanen versorgt wurden. Damit wird einerseits die Absurdität deutlich, andererseits aber auch das Geschütztsein der Zuschauer heute, aus dem das Theater sie trotz aller Ironie versucht wach zu rütteln. Doch diese Elemente des Trivialen sind auch der Versuch der Selbstheroisierung, die bereits der Text immer wieder anspricht, die das Theater jedoch in ganz anderen Formen zeigen kann. Zum einen gibt es die ikonenhaften Zeichen. Ganz zu Beginn ist das Bild Ulrike Meinhofs, von dem es im Text heißt, dass es »überall auf jedem Postamt hängt, auf jeder Polizeistation und in Behörden« (S. 28), auf dem Vorhang zu sehen. Am Ende wird das Bild dann langsam zu Angela Merkel werden. Ein leiser Kommentar zur Frage nach Macht von Frauen 30 Jahre später. Über dem Portal, das für die Revue immer wieder verwendet wird, ist der rote Stern der RAF den ganzen Abend zu sehen. Auch die Kostüme der Schauspielerinnen verweisen auf Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Damit führen sie zugleich vor, wie deren Bilder schon zu der Art von Mythen geworden sind, gegen die Jelineks Theater angeht. Eben im Ausstellen der Differenz auf dem Theater geht das Theater mit den Mythen um, dekonstruiert sie und verwendet sie für das eigene Anliegen. Film spielt in dieser Art der Selbstheroisierung ebenso eine Rolle wie Popmusik. Zum Ende singen alle Schauspieler gemeinsam mit großem Pathos »I will talk and Hollywood will listen«. Zu Beginn filmen sich die Schauspieler gegenseitig, diese Bilder werden auf die Wand projiziert und ähneln in ihrer Schwarz-Weiß-Ästhetik den Bildern aus der RAF-Zeit. Zudem werden sie wie in einem Kinotrailer aneinander geschnitten und zwischen die Titel von »Der Untergang 2« gesetzt. Gudrun fragt dann auch nicht nur danach, wer durch sie spricht, sondern auch: »Bin ich jetzt im Kino? Wo bin ich jetzt?« Die Figuren werden auch so in ihrer Geltungssucht entlarvt, wie auch die Gesellschaft vorgeführt bekommt, wie die Geschichte

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in Form dieser trivialen Medialisierung von der Gegenwart abgeschnitten wird. Indem dies aber auf dem Theater, also in der realen Gegenwart geschieht, wird der Vorgang zugleich kritisch beleuchtet. In der Medialisierung, zumal in Bildern und Filmen, liegt immer ein Moment des Todes. Dem stehen die lebendigen Schauspieler entgegen, die so auf dem Theater den Toten eine neue Art Leben, ein künstliches, ein untotes, wiedergängerisches und vampirhaftes wiedergeben. Gleichzeitig kann das Theater behaupten, Tote auf der Bühne zu zeigen, obwohl sie lebendig sind. Gudrun geht durch die Toten, die Opfer der Revolution hindurch, und sagt: »Ich seh heut nur noch Tote«. Damit wird auch dieses Spiel von Leben und Tod noch einmal in die andere Richtung gebrochen. Der Engel kommt in der Inszenierung erst am Ende vor. Er tritt auf in der Figur des gealterten Andreas Baader, der zuvor bereits mit den älteren Königinnen zu sehen war. Hier wird das ikonische Bild der Geschichte mit dem, was die Geschichte unmöglich gemacht hat (denn auch Andreas Baader ist nicht alt geworden) gemorpht. Die Mythen, die in diesem Theater verwendet werden, stammen aus der Geschichte. Die Mythisierung der Geschichte wird kritisch beleuchtet, zugleich wird sie jedoch produktiv verwendet und in einen mythischen Kreislauf, der auch irreal ist, überführt. Woran auch die Zuschauer einen Anteil haben sollen.

»E IN T HEATER GEGEN ALLES « – W ERNER F RITSCH : H EILIG H EILIG H EILIG Werner Fritschs Drama Heilig Heilig Heilig (UA Bielefeld 2004) ist ein Theaterstück, das versucht, das Theater als sakrales Moment gegen die es umgebende Welt vehement zu behaupten. Aus dem Kult ist das Theater entstanden und hier versucht ein konkretes Stück der Gegenwart, wieder ein solches Moment – ganz anders – zu etablieren. Neben der theatralen Situation, die immer wieder thematisiert wird, werden Bezüge aus Religion, Literatur aber auch eigene poetologische Aussagen, Bezüge zum Medium Film und vor allem zu dem großen Komplex Erinnerung, Geschichte, Tod, miteinander verwoben. Das Stück hat zudem starke intertextuelle Momente, vor allem zu Allen Ginsbergs Gedicht Howl.353 Alte Mythen und unterschiedliche Religionen, auch als Ausdruck von Ur- und Gründungsgeschichten, werden hier ebenso zu einem mythischen, sakralen Theater verknüpft wie christliche Motive. Die Neuordnung der unterschiedlichen Einflüsse in diesem utopischen Moment des Jetzt und des Todes ist zugleich eine Mythisierung sowie eine produktive Arbeit mit dem Material. Erinnerung ist immer auch subjektiv und nicht verlässlich, auch dieser Umgang erinnert an einen Mythos. Zugleich gibt es eine tiefer liegende Schicht gerade der Erinnerung, die immer wieder zur Sprache kommt, durch die Figur hindurch geht. Die 353 Ginsberg: Howl and other Poems.

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Körperlichkeit der Sprache und des Theaters wird hier direkt vor Augen geführt. Der Körper ist der Ort, an dem sich die Diskurse schneiden, und zwar in einer non-hierarchischen und assoziativen Weise, die auch im Stück selber mit der Metapher des »Rhizoms« beschrieben wird. Diese Verknüpfungen sind dabei durchaus immer wieder von Ambivalenzen und Paradoxien geprägt. Fritsch selbst teilt seine Werke in zwei Hauptrichtungen ein: Traumspiele und Lustspiele, daneben stehen die Monologe.354 Doch ist Heilig Heilig Heilig der äußeren Form nach auf den ersten Blick kein Monolog. Es gibt neben dem zentralen Ich noch die Figur Allen, Meine Liebe und den Engel der Geschichte. In einem Gespräch sagt Fritsch über seine Theaterstücke: »Selbst meine Theaterstücke finden […] im Kopf einer Hauptfigur und letztlich im Kopf des Zuschauers statt.«355 Die anderen Figuren sind damit auch als Erinnerungen und Projektionen des Ich lesbar oder als Figuren in einem Traum. Zentral für das Theaterverständnis, das hier in Form eines konkreten Stückes, also als Theater, vorgestellt wird, ist der Glaube und die Behauptung eines metaphysischen Charakters des Theaters, das zur Realität in einem Verhältnis von Differenz steht und dennoch versucht mit ihr zu kommunizieren. »Er hat das Theater als Kunst ernst zu nehmen gefordert, als einen Raum, der die Wirklichkeit nicht etwa verdoppelt, sondern vielmehr transzendiert, der Vorstellungsbilder sprachlich arrangiert und das theatrale Geschehen in einen Akt von Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum, Schauspieler und Publikum überführt.«356

Theater als metaphysisches Moment Seine Theaterauffassung beschreibt Fritsch u.a. in dem programmatischen Essay Hieroglyphen des Jetzt. Einige Passagen hieraus werden in Heilig Heilig Heilig direkt zitiert. Die Gegenwärtigkeit des Theatermomentes, die sich zugleich immer der Geschichte bewusst sein soll, ist einer der zentralen Momente der Überlegung. Doch nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft ist von der Erinnerung, die auch in Heilig Heilig Heilig immer versucht wird wach zu halten, abhängig. »JETZT, zur Jahrtausendwende brechen wir auf, in eine Zukunft, die durch Mördergruben im Herzen

354 Gibt es heute noch Eulen:Spiegel? Werner Fritsch im Gespräch mit Konstanze Wolgast. In: Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. S. 167-175. Vgl. S. 171. 355 Das Cherubim-Rhizom. Werner Fritsch im Gespräch mit Thomas Geiger. In: Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. S. 236-250. hier S. 242. 356 Eke, Norbert Otto: »Muß ich wirklich durch alles durch?« Werner Fritschs »Theater des Todes«. In: Ders.: Wort/Spiele. Drama-Film-Literatur. S. 57-74. hier S. 62.

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nur eine neue Form der Vergangenheit ist.«357 Diese Gegenwart der Jahrtausendwende ist eine, die beherrscht wird vom »Overkill als Megathrill am medialen Horizont«358, die sich selber als »Fun« versteht und dabei letztendlich »Blindheit im Auge des TV-Taifuns«359 ist. In dieser Gegenwart geht die Geschichte und die Erinnerung und damit auch die Möglichkeit eines Lernens aus der Geschichte verloren. Es ist nur eine Möglichkeit oder Hoffnung, die hier behauptet wird und keine definitive Lösung. Dieses Theater wendet sich explizit gegen ein Vergessen und versteht seinen Auftrag unter anderem auch darin, diesen Tendenzen entgegen zu wirken. »Jetzt ist gerade die Gegengeschichtsschreibung wichtig.«360 Das Theater wird als Gegengewicht zu dieser Realität behauptet und auch als Ort, an dem ein Umgang mit der Vergangenheit, der mehr ist als die Trivialisierung, sondern im Gegenteil einen metaphysischen Aspekt hat, möglich ist: »Theater heißt: in der jüngsten Geschichte uns wenigstens als Gestalten in Geschichten zu erkennen./Ist Theater nicht immer Traum – vom Jüngsten Gericht.«361 Hier kommen die Aspekte der Geschichte, mit der das Theater auch immer ins Gericht geht, des Traums, also des utopischen und gleichzeitig freien, da keiner Realitäts-Logik unterworfenen Aspektes von Theater, mit der Metaphysik zusammen. Doch wird auch mit dem Theater und dieser Wirkungsmöglichkeit ins Gericht gegangen, sie wird immer auch kritisch hinterfragt. Dennoch sollte das Theater der Befragung durch die Wirklichkeit standhalten. So wird Theater dann auch definiert: »THEATER IST, seit der Gottesdienst an Bedeutung verloren hat und an Wahrhaftigkeit, in unserer Gesellschaft der letzte Ort für Metaphysik – durch das Fleisch und Blut der Menschen und die Materialität der Requisiten beglaubigt.«362 Dabei wird vor allem der Aspekt der körperlichen Materialität, die Theater immer ausmacht, betont, allerdings in Verbindung mit einem höheren, transzendenten und immateriellen Prinzip. »Ist Theater nicht: in den Körper gefahrener Geist?«363 Einer der Momente des Geistes, die auf dem Theater manifest werden, ist die Sprache. Opel stellt deshalb auch folgende These auf »Die Sprache verdrängt […] die theatrale Figur als Zusammenhang von Sprache und Körper und wird selbst zum Körper, zum Sprachkörper.«364 Doch braucht diese Sprache eben den körperlichen Moment, das Theater und den

357 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227-235. hier S. 227. 358 Ebenda. 359 Ebenda. 360 Das Cherubim-Rhizom. Werner Fritsch im Gespräch mit Thomas Geiger. In: Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. S. 236-250. hier S. 250. 361 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227- 235. hier S. 228. 362 Ebenda S. 229. 363 Ebenda. 364 Opel: Sprachkörper. S. 9.

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Schauspieler, damit sie wirken kann, es ist eine Theatersprache, die auf den Zuschauer zielt. »Sprache ruft immer noch die tiefsten Bilder in den Köpfen der Zuschauer und Zuhörer hervor.«365 Die Geschichte in Heilig Heilig Heilig kann nur durch das Ich zur Sprache kommen. Auch deshalb ist die Sprache dabei ebenso fragil wie der Theatermoment selber, möglich nur am Rande des Abgrunds in der (Selbst-)Gefährdung. »Sprache ist – wie Theater – Widerstand oder Arbeit an der eigenen Abschaffung.«366 Doch zugleich wird beides, das Theater und die Sprache, vehement gegen eine Realität gestellt, die relativiert, entwertet, nivelliert. Das Theater findet trotz allem in und mit dieser Realität statt. Diese Realität wird im konkreten Theaterereignis von den Zuschauern repräsentiert. Die Sprache der Außenwelt wird präsent gehalten, indem sich die Theatersprache an dieser Sprache bedient, sie zitiert und sich so mit ihr auseinandersetzt. Auch die Sprache, die bei Fritsch oftmals volkssprachliche Elemente aufweist, ist ambivalent. »Die vox populi ist […] nicht nur die vox dei, sondern auch die vox diaboli. Das heißt: Die Sprache des Volkes ist, trotz ihrer ungeheuren Poesie, voller gewaltiger Schatten.«367 Diese Schatten sind es auch, die sich auf der Bühne als Zeichen aus einer Gegenwelt manifestieren, doch zugleich ist die Sprache, in ihrer körperlichen Manifestation auf dem Theater, der einzige Weg, Licht in diese Schattenwelt zu bringen. »Diese Texte versuchen Unsagbares zu sagen und üben damit eine beinahe gespenstische Faszination aus.«368 Die Theatersprache und die Sprache des Textes sind dabei immer auch auf der Suche nach einem Moment von Sprache jenseits oder vor der Sprache. »THEATER IST TROTZDEM in meiner Vorstellung: die Nabelschnur des Nichts durchschneiden, bis die Blitze des Jetzt das Dunkel durchzucken, […]: im Idealfall intensiv genug, das Jetzt der Schauspieler kurzzuschließen mit dem Jetzt der Zuschauer. Und doch: in der Vorstellung sind, sowie der Vorhang aufgeht, die Gedanken frei.«369 Diese Freiheit der Gedanken unterliegt einer anderen Logik und Ästhetik als die Realität. Auch darin ist das Theater eine Gegenrealität, und zwar eine der Entgrenzung und der Utopie, die sich dennoch zugleich aus der Geschichte und der Realität herschreibt und diese produktiv verwendet (damit der Arbeit am Mythos nicht unähnlich). Das Bild für diese Ästhetik ist das des Traums. Dieser Traum ist im Idealfall der gemeinsame Traum von Theater und Zuschauern.

365 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227- 235. hier S. 230. 366 Ebenda. 367 Das Cherubim-Rhizom. Werner Fritsch im Gespräch mit Thomas Geiger. In: Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. S. 236-250. hier S. 240. 368 Pokroppa: Sprache jenseits von Sprache. S. 7. 369 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227- 235. hier S. 233.

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»In dem Maße aber, in dem Fritsch (etwa in den Monologen wie Nico und Heilig Heilig Heilig oder Texten wie Bach) in seiner Weise das Theater der Aktion zu einem der Reflexion und der Meditation verwandelt, schichtet auch er sprachlich vermittelte Bilder zu einem nicht zwingend logischen Nacheinander. Hier kommt Traum im Wortsinn ins Spiel: als Modell einer non-hierarchischen Theaterästhetik, die es erlaubt, in einem aus Vergangenheit und Gegenwart gebildeten Kraftfeld die Oberflächenschichten der Wirklichkeit zu durchbrechen und so die Dinge wieder und auf nicht (mehr) gesehene Weise ins Spiel zu bringen.«370

Ebenso wie die Sprache soll sich auch der Traum im Körper manifestieren. Hier kommt es zu einem weiteren Moment der Spannung, denn der Körper bleibt anders als die Sprache, die Phantasie oder der Geist im Traum den Gesetzen der realen Welt unterworfen. So kann in diesem Paradox die Sprache in der Realität, der der Körper weiterhin angehört, hörbar werden. »IN MEINER VORSTELLUNG ist Theater der Ort, wo unser Geist aus der Unsterblichkeit und Schwerelosigkeit des Traums landen kann im Körper, der den Gesetzen der Zeit unterworfen ist wie alle anderen Körper im Raum.«371 Theater wird hier also vor allem als Differenz, wie hier zwischen Körper und Geist, Zeit und Raum, Realität und Traum definiert. »Fritsch schleudert dem konsternierten Publikum das Ideal vom Theater als GegenÖffentlichkeit, als (in seiner Existenz beständig bedrohter, bestürmter und perforierter) Raum der Freiheit, des Träumens und der Utopie entgegen.«372 Diese Differenz ähnelt immer auch derjenigen zwischen Profanem und Sakralem. Das Theater ist der sakrale Ort, an dem sich das Profane, der Schutt der Geschichte, der sich auch in der Sprache, doch vor allem auch im Gedächtnis abgelagert hat, zur Sprache kommt und somit be- oder (im Idealfall auch) verarbeitet werden kann. Das passiert, indem der Geist in den Körper fährt, so manifest wird auf dem Theater: »Wenn ein Text gelingt, wird das Negative des Inhalts durch die Form erlöst. / Das sind dann, über tausend Jahre nach den Merseburgern, die Wondreber Zaubersprüche.«373

370 Eke, Norbert Otto: »Muß ich wirklich durch alles durch?« Werner Fritschs »Theater des Todes«. In: Ders.: Wort/Spiele. Drama-Film-Literatur. S. 57-74. hier S. 66. 371 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227- 235. hier S. 234. 372 Eke, Norbert Otto: »Muß ich wirklich durch alles durch?«. Werner Fritschs »Theater des Todes«. In: Ders.: Wort/Spiele. Drama-Film-Literatur. S. 57-74. hier S. 64. 373 Das Cherubim-Rhizom. Werner Fritsch im Gespräch mit Thomas Geiger. In: Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt. S. 236-250. hier S. 248.

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Das konkrete Theater des Jetzt Heilig Heilig Heilig trägt als Untertitel »Das Theater von Jetzt«374, als Ort ist im Personenverzeichnis »Hier: Im Theater« angegeben. Die Zeit ist diejenige »Des Jetzt«. Hier und Jetzt, Ort und Zeit sind also ebenso wichtig wie die Figuren, diese Aspekte gewinnen so eine beinahe physische Präsenz. Dies ist die theatralische Umsetzung eines der Grundgedanken aus dem Essay Hieroglyphen des Jetzt, dort heißt es »Theater ist Jetzt.«375 »Das ›Theater des Jetzt‹ hat Fritsch dieses ›andere‹ Theater genannt, was erst in zweiter Linie auf die zeitliche Bestimmung seiner Gegenwart anhebt, vielmehr die Unmittelbarkeit des Theaters als Begegnungsstätte lebender Menschen vor Augen hat und von hier aus auf die performative Dimension von Theater zielt.«376

Doch nicht nur der Untertitel, sondern das gesamte monologische Stück versucht die Aussagen, die in den programmatischen Schriften über das Theater gemacht werden, umzusetzen. Hier wird das Theater als Gottesdienst gefeiert und führt zugleich seine Gefährdung vor. Das Stück ist der Versuch, im Theater über das Theater und sein Verhältnis zur – oder auch gegen die – Welt zu handeln. Damit ist es einerseits gegenwärtig, andererseits aber auch ein Metatheater, das seine eigenen Bedingungen reflektiert und in Frage stellt. Das sakrale Moment des Theaters spiegelt sich sowohl in den Aussagen als auch in der Form des Textes, der in seiner Poetik einen Sog und eine Kraft entwickelt, wider. In Bezug auf den sakralen Charakter und auch die Frage nach Schmerz, der Erlösungs-Topoi auch im Zusammenhang mit christlichen Leidensmotiven beinhaltet, erinnert dieser Anspruch des Theaters an Artaud. Doch im Gegensatz zu Artaud, der in Bildern und Manifesten verbleibt, wird hier die Probe aufs Exempel gemacht. Das Theater bedient sich unterschiedlicher Mythen und wird selber mythisch. Es speist sich aus dem kollektiven Gedächtnis der Zuschauer und versucht in der Art und Weise der Darstellung auch seinen Platz darin zu finden. »Werner Fritsch stiftet mit seinen Stücken ein Theater der Erinnerung, im Sinne einer kollektiven Erinnerung. Sie setzen individuell Erfahrenes als Traumata in Szene und präsentieren es dem Publikum als einem an derselben Geschichte teilhabenden Kollektiv.«377 Dies ist verbunden mit einem Moment des Todes, als einem Moment, in dem sich die Erinnerungen 374 Der Prolog ist dann allerdings mit »Theater des Jetzt« überschrieben, was auch der sonstigen Verwendung entspricht. 375 Fritsch, Werner: Hieroglyphen des Jetzt – Theater Sprache Hörspiel Film. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 227- 235. hier S. 233. 376 Eke, Norbert Otto: Einsenkungen in Finsternisse oder: Flossenbürg liegt (nicht nur) in der Oberpfalz. Werner Fritschs Grabungen. In: Eke & Knapp (Hrsg.): Neulektüren – New Readings. S. 359-375. hier S. 361. 377 Opel: Sprachkörper. S. 77.

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des Lebens zusammenziehen. So kommen ähnlich wie im Traum neue Verbindungen zustande. Die behauptete Gegenwärtigkeit des Theaters ist immer auch zugleich die Behauptung des Anderen und des Todes, denn Gegenwärtigkeit ist nur um den Preis des Todes festzuhalten. In diesem Zusammenhang mit der Differenz, dem Anderen und dem Tod spielt in Fritschs poetologischen Überlegungen auch die Auseinandersetzung mit Pasolini und seiner Filmästhetik eine Rolle. Der Film unterliegt einer anderen Logik als das Theater, während das Theater immer im Jetzt lebendig ist, ist der Film immer tot, da immer vergangen. Dennoch liegt gerade in dieser Differenz des Films zur Realität ein sakrales Moment, das Fritsch auch für das Theater sucht und behauptet. Im Film kann die Realität neu und anders geordnet werden, ähnlich wie es dieser Theatertext versucht. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit Pasolini steht ein Zitat: »Alles ist heilig. Alles ist heilig. Alles ist heilig.«378 Dies wird im Titel des vorliegenden Dramas verkürzt zu Heilig Heilig Heilig. Der Titel ist jedoch noch weiter aufgeladen, z.B. zitiert er auch einen liturgischen Gesang. In Auseinandersetzung mit diesem filmischen Werk wird ein Urzustand gesucht, der vor der Kontamination durch die Geschichte liegt und damit ein sakrales Moment beinhaltet. »Ich ist ein anderer. Ich werde als Autor Teil eines fremden Wahrnehmungssystems und vermag mich dem Punkt zu nähern, wo meine eigenen Prägungen dieses Anderssein noch zuließen: Ich kehre zurück in einen Zustand vor dem Zuschlagen jeglicher Sozialisation und jeglicher historischer Kodifikation.«379 Das versucht auch das Ich in Heilig Heilig Heilig in diesem »Theater des Jetzt«. Ich ist die zentrale – möglicherweise einzige – Figur des Stückes. Es ist ein subjektives Moment, in dem sich Geschichte und Gegenwart treffen und manifestieren. Damit wird auch das Persönliche Teil des Theaters, der Kunst und des Erinnerungsdiskurses. Zugleich wird aber auch das Theater Teil der persönlichen körperlichen Erinnerung. Dabei werden alle zentralen Themen des Schreibens von Werner Fritsch angesprochen: Traum, Sprache, Körper, NS-Zeit, Religion, Natur, Tod werden sowohl explizit thematisiert als auch im ästhetischen Moment des Theatertextes aufgehoben. Damit ist auch deutlich, dass die Rückkehr zu einem Zustand, der vor dieser Sprache und vor der Geschichte und Erinnerung liegt, nicht möglich ist, auch wenn dieser Anspruch im Umgang mit der Wirklichkeit aufrecht erhalten wird. »Es ist eine Art postmodernes Puzzle-Spiel aus Bildwelten, das aber ganz und gar nicht von der Annahme eines ›Endes der Geschichte‹ ausgeht, son-

378 Fritsch, Werner: Der Schatten des Sophokles. Flüchtiges zu Zeichen und Wunden des Pier Paolo Pasolini. In: Ders.: Hieroglyphen des Jetzt. S. 253- 265. hier S. 253. 379 Ebenda S. 255.

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dern kombiniert, um eine künstliche Ganzheit zu inszenieren, die in unzählige Splitter auseinanderfallende Wirklichkeit zu heilen.«380 Das Ich hat sowohl individuelle Züge, deutlich auch biographische, aber indem sich in ihm die Erinnerungen schneiden, unterschiedliche Elemente zugleich zu Wort kommen und auch literarisch gebrochen werden, hat es zugleich – paradox – etwas Chorisches. »Dem Sprech-Text wiederum kommt eine chorische Bedeutung zu – auch dort, wo Fritsch nicht […] explizit den Einsatz von Chören vorgesehen hat: etwas in den großen Monologen Nico. Sphinx aus Eis (UA 2001, Staatstheater Darmstadt) und Heilig, Heilig, Heilig (UA 2004, Bielefeld), die als Übermalungen des Orpheus und Eurydike-Mythos bzw. von Allen Ginsbergs Poem Howl Stimmen aus einem Zwischenreich zur Sprache verhelfen.«381

Der Anlass der Erinnerung ist im Fall dieses Stückes neben der persönlichen Geschichte also Allen Ginsbergs Gedicht Howl. Dabei handelt es sich um einen der Gründungstexte der sogenannten Beat-Generation. Auch dieses Gedicht stand zu seiner Entstehungszeit außerhalb der vorherrschenden öffentlichen Meinung – also auch dieser Text ist ein Text gegen etwas oder beinahe gegen alles. Es formuliert die Erinnerung an eine verlorene Generation (»I saw the best minds of my generation destroyed by madness«), doch zugleich thematisiert es Erfahrungen von Entgrenzung, also von Alterität. Sie sind in diesem Diskurs mit Drogen sowie mit »madness«, psychischen Störungen, verbunden. Damit liegt auch hier eine enge Verbindung zwischen Selbstbehauptung in Abgrenzung und Selbstzerstörung vor. Das gesamte Gedicht hat etwas Szenisches, den Charakter einer Performance (in dieser Form wurde das Gedicht öffentlich vorgetragen), während das Theaterstück Heilig Heilig Heilig durchaus lyrische Elemente aufweist, was zum sakralen Moment beiträgt. Die Stimme, die hier zu Wort kommt, auch als Figur Allen, ist aber nicht nur eine aus dem Zwischenraum, die Teil des Theaters wird, sondern sie ist auch eine Gegenstimme zu den Stimmen, die den »Tornado des Todes« ausmachen. Dieser besteht aus den unerlösten Stimmen, aus der Masse, die ungefiltert auf das Bewusstsein einprasseln und nicht mehr differenzierbar sind. Einzelne Themen, Erinnerungen und Momente sind nicht mehr erkennbar. Das wird im Stück selber in Form der drei anderen Ginsberg-Gedichte/Lieder vorgeführt. Diese überlagern einander nach und nach und werden so zum Teil dieses Tornados der Stimmen. Das Theater hat auch die Aufgabe einzelne Stimmen herauszulösen. So wird hier also paradox in den Gegenstimmen, die jedoch auch einer Außenrealität

380 Fischer, Maren: O Haupt voll Blut und Wunden: Schau mir in die Augen. In: Weiler & Müller (Hrsg.): Stück-Werk 3. S. 55-60. hier S. 58. 381 Eke, Norbert Otto: »Muß ich wirklich durch alles durch?« Werner Fritschs »Theater des Todes«. In: Ders.: Wort/Spiele. Drama-Film-Literatur. S. 57-74. hier S. 63.

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entstammen, zugleich auch die Bewegung gezeigt, wie ein solcher Tornado, ein Stimmengewirr entstehen kann. Der »Tornado des Todes« erinnert an den »TV-Taifun«, der im poetologischen Essay Hieroglyphen des Jetzt vorkommt, doch in der Verbindung mit dem Tod ist das Bild hier radikaler. In der Blindheit im Auge des Sturms befindet sich die medial geprägte Gesellschaft. Auch in Heilig Heilig Heilig kommt ein Auge des Sturms vor. Doch findet hier die Handlung, das Anschreien des Ich gegen diesen Sturm, in diesem Auge statt. Diese Position wird immer wieder auch mit einem Faradayschen Käfig verglichen. Das bedeutet, dass das Ich in diesem Auge des Sturms zwar von diesem umgeben ist, aber nicht wirklich erreicht wird. Es handelt sich um einen sicheren Ort inmitten des Sturms. Das Bild des Blitzes taucht immer wieder auf. Doch ist die naturwissenschaftliche Analogie hier nicht vollkommen schlüssig. Denn der Blitz ist im Text das Symbol für eine Verbindung, ein Aufhellen, dazu muss der Faradaysche Käfig jedoch verlassen werden, denn Blitze werden von ihm abgeleitet. Das Verhältnis zwischen dem Theater, das hier im Jetzt vorgestellt wird, und der Welt ist immer ein paradoxes. Der Ort des Auges des Sturms ist zentral mitten im Sturm, aber dennoch getrennt von dem, was um ihn herum stattfindet. Jedoch ist das Theater damit auch im Zentrum des Geschehens angekommen. Das Stück im Aufbau der magischen Zahl Drei Der Titel Heilig Heilig Heilig weist bereits eine Dreierstruktur auf. Diese setzt sich formal im ganzen Stück fort. Eingerahmt von einem Prolog »DAS THEATER DES JETZT« und einem Epilog »DAS HEILIGE THEATER DES TODES« besteht das Stück aus drei Szenen, die »TORNADO DES TODES« überschrieben sind und drei Szenen »HEILIG HEILIG HEILIG«. Die drei Szenen »TORNADO DES TODES« werden von drei Gedichten/Songs von Allen Ginsberg »dominiert«. Gegen diesen Tornado »brüllt« das Ich an. Damit kontrastiert werden die »HEILIG HEILIG HEILIG«Szenen. Direkt bevor diese beginnen, äußert Ich als Wunsch an den Engel der Geschichte »Stille« (in den ersten beiden Szenen) und in der dritten wünscht es sich den Engel selbst. Diese dreifache Struktur erinnert an den dreieinigen Gott der Christenheit, doch ist drei in vielen Kulturen eine magische Zahl. Auch negative Konnotationen wie das ›Dritte Reich‹ spielen eine Rolle. Allen Ginsbergs Gedicht Howl besteht ebenfalls aus drei Teilen und einer »Footnote«. Diese beginnt mit »Holy! Holy! Holy! Holy! Holy!….« Hier wird das Wort 15mal wiederholt. Alles wird in diesem Nachtrag heilig erklärt. »Howl« und »Holy« als Wörter weisen eine phonetische Nähe zueinander auf. Damit wird gerade das, was in diesem Aufschrei beklagt wird, hier in der Fußnote heiliggesprochen. Bei Fritsch wird diese ausufernde, sich selber zu einem neuen Stimmengewirr (auch wenn sie gegen die vorherrschende Meinung

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steht) machende Sprache, immer wieder in eine Form gebracht. Diese Form, auch die der magischen Dreierstruktur, birgt Anteile von Erlösung in sich. Zu Beginn steht ein kurzer Prolog, in dem Ich, die zentrale Figur, das Theater des Jetzt, das im Folgenden vorgeführt wird, beschreibt: »HEILIG HEILIG HEILIG Allen/Ist ein Theater gegen alles/Theater Allen/Es macht den Raum hier/ Zu einer Oase der Stille/Die Zuschauer sitzen im Aug/Des Tornados Tod/Der rings um uns tobt.« (S. 2) Der Zuschauer wird hier explizit in das Theater mit einbezogen, aber seine Position befindet sich im Auge des Tornados, dem Ort des (heiligen) »Theaters des Jetzt«; also seltsam sicher und zugleich von der Bedrohung umgeben. Die Stille, die immer wieder thematisiert wird – so am Ende der »TORNADO DES TODES«-Abschnitte –, ist ebenso paradox, denn das Theater braucht die Sprache, in ihm wird Sprache manifest. Diese Sprache ist die der Erinnerung, kommt aus einem Zwischenreich, aber zugleich kann sie zugeordnet werden. Die Hauptstimme ist Ich, also die stärkste Setzung einer Person, die (nicht nur in diesem Zusammenhang) möglich ist. Doch zugleich ist das Ich der Moment, der am meisten gefährdet ist. Die Konstituierung des Ich angesichts der Realität, in Auseinandersetzung mit ihr und auch immer mit dem Scheitern verbunden, ist ein Moment, das die Tragödie ausmacht. Heilig Heilig Heilig geht sogar darüber hinaus, da dieses Ich sich nicht nur der Realität gegenüber sieht, sondern sie auch in sich aufnimmt. Diese Realität ist in ihrer diffusen Vielstimmigkeit ähnlich bedrohlich, wie es die Willkür der Götter in der attischen Tragödie war. Doch auch im Prolog kommt schon Allen vor. Mit diesem Namen wird doppeldeutig gespielt. Zum einen sind damit alle, also eine allgemeine Öffentlichkeit angesprochen, zum anderen und vornehmlich ist Allen hier auch der Schatten Allen Ginsbergs, der im Verlauf des Stückes vorkommt. Ihn und seine Lyrik nimmt das Ich zum Anlass zur Auseinandersetzung mit der als »Tornado des Todes« verstandenen Welt. Dabei werden einzelne andere Gedichte explizit genannt und das große Gedicht Howl, das seinerseits ein Gründungsmythos einer Generation ist, im Text aufgehoben. Das Theater wendet sich gegen alles, es geht gegen die Realität an, die es durchaus anerkennt und aus der es sich auch in Form von (sprachlichen) Bildern bedient. Das ist möglich aus der Situation eines sakralen Moments heraus und zugleich sakralisiert sich das Theater hier selber. Paradox nimmt es Momente der Realität, gerade die wesentlichen, denen zur Sprache verholfen werden soll, in sich auf, macht sie so zum Teil des heiligen, mythischen Theaters. Auch andere Literatur kann so ein Anlass sein, vor allem wenn sie sich – so wie die Gedichte Ginsbergs – durch eine (politische) Wirkungsabsicht auszeichnet. Das zeigt sich im ersten Bild des Tornados des Todes, das sich an den Prolog anschließt. Dieses wird »dominiert von Allen Ginsbergs Song: Birdbrain.«382 Birdbrain (deutsch: Spatzenhirn) ist eine Abrechnung mit

382 In: Holy Soul Jelly Roll: Poems and Songs 1949-1993. 1994.

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Ausbeutung, Krieg, Weltpolitik, den Missständen im Allgemeinen. Doch zugleich wird die Verstrickung jedes Einzelnen deutlich, da es auch immer wieder heißt »I am Birdbrain«. Dieser Song ist damit eine Thematisierung der Dinge, die im »Tornado des Todes« enthalten sind. Diesem stellt sich Ich nun mit einem Gründungsmythos, einer Ursituation entgegen. Dies geschieht in Form einer »Hymne« (S. 2), also eines religiösen Gesangs, einer ganz anderen Form eines ›Songs‹. Sonne und Meer, Feuer und Wasser spielen eine Rolle, doch auch der Körper, der hier zunächst als »Kostüm/Aus Fleisch und Blut« (S. 2) bezeichnet wird – später sind es »Haut und Knochen« (S. 3), also der verhungerte Körper. Dieses Kostüm, die Verkleidung, aber auch das theatrale Mittel eben durch die Verkleidung etwas anderes zu zeigen, wird immer überstrahlt von der »Muttersprache« (S. 2), mithin einer ursprünglichen Sprache, die mit der Sonne als Grundlage des Lebens zusammengebracht wird. Hier geht es also wieder um einen Zustand am Anfang, der auch in der Auseinandersetzung mit Pasolini bereits vorkam. Im Angesicht des Todes wird also der Anfang beschworen, die Erlösung, der Neuanfang. Genau dies tut auch der Engel der Geschichte, der auftritt, denn er verbindet den »Tornado des Todes« mit der »Apokalypse« (S. 3). Damit ist dieser Tornado nicht nur die permanente Bedrohung, sondern auch die Möglichkeit des Neubeginns. Dieser Engel der Geschichte zitiert einige der Aussagen aus Fritschs programmatischen Essays. Auch Allen kommt zu Wort. Diese Figur spricht hier im Gestus der Gedichte, in einem anderen Rhythmus. Dieser beschreibt den atemlosen »Moloch« (S. 4), durch den die Apokalypse nicht zu unrecht weht. Allen ist Teil dieses Tornados, doch zugleich auch eine Instanz, die diese analysiert. Im Dialog mit dieser Figur wird die Gegenwart relevant, gerade auch weil es sich um eine Schattenfigur handelt. Der Engel der Geschichte ist es, der immer wieder die Erinnerung einbringt. Hier spielt also die Vergangenheit eine wichtige Rolle. Ziel des Ich ist es im (geträumten, imaginierten) Dialog mit diesen Vertretern der Zeiten, die ihrerseits Topoi der Gegenwartskultur sind, in der Gegenwart eine utopische – und damit auch zukünftige – Möglichkeit in diesem Theater zu etablieren. Alle Zeitebenen schneiden sich in diesem Sprach-Raum und seiner physischen Präsenz. Das ist jedoch nur mit dem Tod und im Angesicht des Todes möglich. Der Engel der Geschichte spannt einen Bogen der Geschichte (S. 5) von »dem Blut Agamemnons und dem Klytämnestras« (Mythos und Theater) über »Gott im zweiten christlichen Jahrtausend/Dem unsrigen vor der Auszeit« (Christentum) zum »Feuer der Öfen die Asche« (der Katastrophe des 20. Jahrhunderts). Dies sind die tödlichen Grundlagen der Zivilisation, die in ihr immer weiter wirken und durch sie hindurch gehen. So »verwandelt das ›Theater des Jetzt‹ die Bühne zur sinnlichen Anstalt einer kollektiven

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Erinnerung, die die Toten birgt: Opfer und Täter.«383 Das Bild hierfür ist ein »Magmastrom« (S. 5), also ein an sich auch wieder paradoxes Bild: eigentlich ein Fluss, doch einer aus Feuer und nicht aus Wasser. So ist die Geschichte weiterhin lebendig, doch auch eine Bedrohung. Erlösung liegt in einem Menschen, die Toten können zum Leben erwachen, also wieder eine Stimme haben, nicht im Vergessen bleiben: »Wenn sich ein Mensch aus Fleisch und Blut opfert/Die Wort und Taten der Toten auf sich nimmt/In sich aufnimmt.« (S. 5) Hier kommt also ein Christusmotiv mit ins Spiel, das eine Erlösungshoffnung beinhaltet. An einer solchen arbeitet dieses »Theater des Jetzt«, doch nicht nur in einer konkreten Form, sondern auch als Metatheater, indem diese allgemeinen Aussagen über das Theater in der Figur Ich manifest werden. Das ist dann Theater als »Traum/Vom Jüngsten Gericht« (S. 5). Allens apokalyptische Visionen wollen in einer »heiligen Zeit« die »Scheidung aufheben« (S. 6). Doch ist dies auch der Moment des Todes, den dieses Theater immer mitdenken muss. Der Engel gewährt dem Ich einen Wunsch, dieser ist dann »Stille« (S. 6). Die Stille im Auge des Tornados ist auch die Position des Zuschauers, die im Prolog genannt wurde. Sie ist der Gegenmoment, die Utopie, die im genauso utopischen Moment des Jetzt nur möglich ist. »Das Bild der Stille schließt Fritschs Theater der Erinnerung, schließt seine Grabungen in einer Hoffnung ein, die über alle Finsternisse hinweg den Glauben nicht aufgibt – nicht an den Menschen, nicht an die von ihm gemachte und in der Freiheit der sittlich-moralischen Entscheidung zu verantwortende Geschichte. Die Möglichkeit der Selbsterlösung durch die Moral (die Vernunft) bleibt für Fritsch mit anderen Worten eine Option. Die Hoffnung darauf allerdings ist grundlos, d.h.: sie begründet nichts und sie benennt auch keine guten Gründe.«384

In diese Stille spricht, oder spricht eben nicht, Ich die lange monologische Passage »HEILIG HEILIG HEILIG I«. Hier wird heiliggesprochen: »Alles was den Augenblick/Im Schatten unserer Geschichte/Allen jetzt erhellt Alles/Ist heilig was diesem Leben/Licht gibt« (S.7). Wenig später heißt es »Nach Auschwitz kann man nur/Ein Gedicht noch schreiben HOWL.« (S. 7)385 In der Footnote zu Howl findet sich folgende Passage »Everything is holy! everybody is holy! everywhere is holy! everyday is in eternity! Everyman’s an angel!« Hier wird alles heilig gesprochen, doch in »Heilig Heilig Heilig« ist alles das heilig, was ein Lichtblick, ein Durchbrechen der

383 Eke, Norbert Otto: Einsenkungen in Finsternisse oder: Flossenbürg liegt (nicht nur) in der Oberpfalz. Werner Fritschs Grabungen. In: Eke & Knapp (Hrsg.): Neulektüren – New Readings. S. 359-375. hier S. 366. 384 Ebenda S. 374. 385 Auch hier wird das Adorno-Diktum über die Möglichkeit von Dichtung nach Auschwitz evoziert.

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Realität ist. Diese Erfahrung wird mit dem Gedicht Howl gemacht. Es geht den Dingen auf den Grund, ohne zu begründen, wie die folgende Passage beschreibt. Damit kommt es zu den Toten. Hier wird die Erfahrung mit diesem Gedicht als Lichtblick, als Blitz in der Dunkelheit – ähnlich wie das, was das Theater sein soll –, beschrieben. Diese Erfahrung wird mit Naturerfahrung und Familiengeschichte, länger zurückliegender und gegenwärtiger, verknüpft. Sie sind jedoch ebenso von Bedrohung gekennzeichnet, der Tod spielt so immer eine Rolle. Auch Ginsberg verbindet in dem Gedicht Howl eine persönliche Geschichte mit der Gegenwartskritik. Anlass ist Carl Solomon und dessen Schicksal in Rockland, das im dritten Teil von Howl explizit thematisiert wird. Das Gedicht ist immer gegenwärtig »Dieses Gedicht im Kopf Allen die Flügel/Der Grammatik im Kreuz.« (S. 11) Das Gedicht macht den Menschen damit zu einem Engel386, einem Engel der Geschichte und der Erinnerung – und so auch zu einem utopischen Wesen und Moment. Das Persönliche wird hier ebenso zum Teil der Geschichte wie die äußere Realität. Indem das Gedicht, die Sprache, immer präsent ist, macht sie es möglich, auch in der Realität das Heilige zu erkennen. So ist Allen, der immer wieder angesprochen wird, auch in der Figur Ich präsent, Teil des inneren Vorgangs, der die Möglichkeit des Heiligen eben in einem Körper eröffnet, trotz der äußeren Bedrohung, mit Hilfe dieser Sprache. Doch ist sie eben eine andere, sie hat eine »Syntax der Stille« (S. 9), damit ist sie eine utopische und auch heilige Sprache. »Wünsche ich Allen mit dieser/Vollkommenen unvollkommenen/Ungepanzerten nein unbeschuhten/Fußnote zur Fußnote von HOWL/Von Herzen daß es genügt Soviel Licht/Als irgend möglich/Durchzulassen durch sich/Und seis in der Sprache Allen.« (S. 8) Das Licht, die Metapher des Blitzes erinnernd, ist auch die Erkenntnis. Aber ebenso der Moment des Lebens, verknüpft mit den Sonnenmythen, der Schöpfung und dem Leben. Doch damit ist diese Möglichkeit nur eine momenthafte, eben das Jetzt, das vorbei ist, bevor es fest gehalten werden kann. Dieser Moment, dieses Theater ist heilig. Doch zugleich ist dies eine Erfahrung, die in der Stille der metaphysischen Sprache allein möglich ist, denn es folgt darauf wieder der »Tornado des Todes«, gegen den angebrüllt werden muss. Das zweite »TORNADO DES TODES«-Bild beginnt mit Allen, der hier als »Schatten-Chronos« bezeichnet wird, »der mit einer Schatten-Sense die Sekunden senst« (S. 12). Die Zeit spielt also eine wichtige Rolle für die Erinnerung, aber auch für den »Tornado des Todes«. Sie vergeht unentwegt und doch ist sie in der Erinnerung als Schatten aufgehoben. Die Zeit ist unerbittlich, sie ist nicht zu besiegen und als Chronos des Menschen auch nicht zugänglich, so ist sie eine andere Zeit. Nur ein Schatten kann wieder zur

386 In der »footnote« zu Howl heißt es auch: »Everyman is an angel«. Das wird in Heilig Heilig Heilig differenzierter dargestellt, auch und gerade in der Verknüpfung mit dem Engel der Geschichte.

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Sprache kommen, da er durch die Zeit hindurch gegangen ist und diese Zeit in sich aufgenommen hat, so wie die Zeit ihn als Erinnerung in sich aufgenommen hat. Die Vergeblichkeit, das Utopische des Anspruchs, der in diesem Theater formuliert wird, beherrscht nun nach der Hoffnung auf das Heilige, die im ersten »HEILIG HEILIG HEILIG«-Bild im Vordergrund stand, das Anbrüllen gegen den »Tornado des Todes«. In ihm überlagern sich nun zwei Ginsberg-Gedichte. Das zweite, das hier zitiert wird, Hum Bom!387 geht in lautmalerischer, beinahe dadaistischer Weise in einem sich wiederholenden monotonen Rhythmus der Frage nach Gewalt im Krieg, ihrer Rechtfertigung und Zurechenbarkeit nach. Auch der Engel der Geschichte offenbart hier seine Position als eine, die eigentlich bereits vergangen ist: »Ich wurde fortgeweht/Aus dem brennenden Theater.« (S. 13) Hier wird die Vernichtung und Gewalt, die in der Geschichte liegt und in Beispielen von Auschwitz bis zur Atombombe zitiert wird, und der Tod als ewiger Gegenspieler der Menschen etabliert. Doch zugleich hat der Tod seinen Platz in diesem Theater, die Toten werden hier aufgehoben: »ENGEL DER GESCHICHTE Ja Und die Seele des Todes Ist jedes Leben ICH […] Auf dem Fluß des Vergessens Genannt Gegenwart Charon und sein übervoller Kahn Ist dies Theater ein Bollwerk gegen den Tod Durch zwei Stunden gemeinsames Jetzt Ist dann Christus mitten unter uns Allen« […] ICH Hier im heiligen Theater des Jetzt Sind auch die Toten Allen Unter uns Alle Seelen Sind unterwegs« (S. 16-17)

387 In: Cosmopolitan Greetings: Poems 1986-1992. New York 1994.

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Zwar ist das Theater hier auch gegen den Tod gerichtet, so wie es gegen die Realität gerichtet ist, als »Bollwerk« (S. 16), doch zugleich müssen die Toten in diesem Theater wieder zur Sprache kommen. Diese Erinnerung ist dann die Voraussetzung für die Zukunft, in dem Bild des Unterwegsseins der Seelen wird die zu Grunde liegende Dynamik wieder deutlich. Tod und Heiligsprechung sind notwendigerweise miteinander verbunden, nicht nur in diesem Theater, sondern auch in der Religion. Eine weitere Assoziation mit dem Tod, und zwar die Verbindung von Film und Tod wird im nächsten »HEILIG HEILIG HEILIG«-Abschnitt in Verbindung mit Pasolini und seiner Ästhetik thematisiert. Das Bild, in dem sich hier die unterschiedlichen Diskurse überlagern, ist das des Pferdes. Es wird mit der Ländlichkeit in Verbindung gebracht, aber auch mit dem göttlichen, mythologischen Mensch-Tier-Wesen: dem »Kentaur« (S. 18). Später werden ägyptische und griechische Totengötter zitiert (S. 19), auch diese haben oftmals Tierköpfe. Der Kopf des Pferdes kommt ebenso als Schatten wieder. Damit ist Allen auch ein Zettel (auch wenn dieser einen Eselskopf trägt), ein verwandeltes Theaterwesen, dem die Welt wie in einem Traum erscheint. Das Heilige ist ebenso ambivalent wie das Bild der Totengötter. Auch die Natur als Gegenbild zur Zivilisation wird in Frage gestellt.388 So stellt sich die Frage nach Visionen. Der Engel der Geschichte scheint der Einzige zu sein, der solche noch hervorrufen kann (und wird dies im dritten Abschnitt auch tun). Nachdem der erste »HEILIG HEILIG HEILIG«-Text das Gedicht Howl als Begleiter und dessen Sprache als mögliche Erlösung etabliert hatte, die immer präsent ist und die Wahrnehmung der Welt und der eigenen Geschichte steuert und sich mit ihnen vermischt, wird dieser Vorgang jetzt auf eine Metaebene gehoben. Zunächst wird dafür eine Theatermetapher verwendet: »Da unsere Vorstellung von der Welt/Die Züge einer teuflischen Tragödie/Anzunehmen im Begriff ist.« (S. 19) Damit wird die Welt selber relativiert, doch wenn die Referenzgröße, gegen die sich das Theater wendet, selber nur ein Traum ist und die Visionen zugleich (wenn überhaupt) nur aus der Geschichte noch möglich sind, entsteht ein mehrfach gebrochenes, kaum mehr zuordenbares System, das später als »Rhizom« (S. 24) bezeichnet wird. Die Realität selber ist Theater, wenn auch eine »teuflische Tragödie« (S. 19), aber damit als Gegenpol zum Theater auch wieder unsicher. Doch zuvor sind es die ähnlichen Größen, Geschichte und Familie, die sich hier in diesem Körper treffen und dabei einen »Kurzschluß aller/Stillen Augenblicke unseres Lebens« (S. 19) darstellen. Die »stillen Augenblicke« sind eben die gegenwärtigen, die Jetzt-Momente, die Hoffnung und zugleich auch Tod beinhalten. Das Mittel bleibt immer die in den Körper gefahrene Sprache, die Syntax und die Grammatik, die sich so manifestiert und den

388 Wie es auch der Sommernachtstraum in seinem vordergründigen Idyll des Waldes tut.

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Körper damit zu einer »Kulisse« (S. 22) macht. Doch brennt auch diese Sprache, wie an Pfingsten kommen »Feuerzungen« (S. 22), eben nicht aus dem Himmel, sondern aus »Jetzt«, dem Moment der absoluten Gegenwärtigkeit, in dem dann auch wie im Pfingstwunder alle Sprachen verstanden werden, denn in diesem utopischen Moment begegnen sie sich. Auch dies ist ein Ziel dieses »Theaters des Jetzt«, der universelle Anspruch, die Verständigung der unterschiedlichen Sprachen, die eben nicht mehr nur zu einem »Tornado des Todes« werden, sondern in genau diesem Moment zum Mittel der Erkenntnis. Dann kann folgendes passieren: »auf dem Grund der weit/Verästelten Syntax im Rhizom/Der Synapsen ist alles ein Gespräch/Mit Gott und Tod und der Schutzengel des Jetzt/ Spreitet seine Flügel Allen/In der Dämmerung über unseren Horizont aus pulsierendem Nichts.« (S. 24) Ähnlich wie zuvor der Text, also die Manifestation von Sprache, des Gedichtes Howl Anknüpfungspunkt für die Assoziationen war, wird hier nun der eigene Text ebenso thematisiert, auch mit sich selber ist Ich weiter im Gespräch: »Wo ich heuer HEILIG HEILIG HEILIG I/Geschrieben nein wie diesen Text jetzt/Direkt ins Diktiergerät gesprochen habe/Allen gewidmet.« (S. 23) Der Text ist so jedoch auch seiner selbst nicht sicher, die Instanz des Autors, des Ich, in dem die unterschiedlichen Referenzgrößen zusammenkommen, wird von einem literarischen Ich erzeugt, das damit auch nur ein Produkt ist. Diese eigentlich persönliche Rede des Ich ist zudem auch die eines anderen, gerade das Andere. Die Differenz also macht den heiligen Charakter des Textes aus: »Das Heilige der Rede/Die es nur dann ist/Wenn sie nicht aus/Mir hervorkommt.« (S. 26) Also obwohl Ich der Punkt ist, an dem sich die unterschiedlichen persönlichen, theatralen und historischen Erinnerungen treffen, ist ein Mehr notwendig, um daraus ein heiliges Theater zu machen. Doch trotz dieses esoterischen Momentes – oder gerade deshalb – hat dieses Theater eine Voraussetzung, die zugleich auch sein Anliegen und seine Bedingung ist: »Die Toten zu erlösen/Bin ich unterwegs im Schnee/Gestöber der deutschen Sprache.« (S. 23)389 Hier kommen die wesentlichen Elemente, die Toten, die erinnert werden müssen, und zwar indem sie wieder zu Sprache gebracht werden, aber auch die Widerständigkeit der Sprache, in der dies geschieht, zusammen. Das Gespräch wird im Idealfall auch mit den Zuschauern geführt, die in diesem Sprachgeflecht das Andere und sich selbst erkennen können. Der dritte »TORNADO DES TODES«-Text kreist nun nicht mehr um die Realität, gegen die sich das Theater positioniert, sondern beschreibt das Theater als »Nabelschnur« (S. 28), als Blitz, als kurzen Moment der Erleuchtung. Doch der »Tornado des Todes« ist hier ungebrochen, ein dritter

389 Sowohl die Betonung des Gesprächs, als auch die Schneemetaphern für die Sprache sowie das Schwarze, das getrunken wird (S. 24), lassen an Paul Celan und sein Verhältnis zur (deutschen) Sprache denken, das von dem unauflöslichen Konflikt geprägt ist, in der Muttersprache schreiben zu müssen, die gleichzeitig die Mörder-Sprache ist.

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Song von Ginsberg kommt hinzu und zwar der Father Death Blues.390 Das korrespondiert mit der immer stärker werdenden Präsenz des Todes im Text. Der Tod ist es, der auch hier in Verbindung zum Film und zum Leben, diesen Moment des Jetzt der paradoxen Ewigkeit, in dem sich die Gegensätze treffen, in denen Ich ein Anderer ist, »Alpha und Omega« (S. 28) zusammenkommen, seine Funktion erhält: »Der Tod schneidet den Film des Lebens Und klebt die entscheidenden Bildfolgen aneinander Sicher sind die Sequenzen in diesem Zustand Anders belichtet Das Jetzt dieses letzten Films ist die einzige Ewigkeit Die uns gewiß ist Und doch sind es nur wenige Augenblicke Des Übergangs Wie Blitze die das Dunkel aufheben in dem wir zeitlebens verhaftet sind Allen« (S. 29)

Im Bild der Filmschnitte wird das Verfahren, das in den vorhergehenden Texten im Umgang mit der Realität und der Erinnerung angewandt wurde, umschrieben. Licht und Dunkel, momenthaftes Erkennen im Jetzt als heiligem Augenblick, der zugleich vom Tod geprägt ist, werden hier noch einmal in der Filmmetapher verknüpft. Doch auch dieser Moment wird relativiert, denn die Stimme Allens beschreibt die Ewigkeit, die utopische Sehnsucht, die diesem Theater zu Grunde liegt, als »heilige Kuh« (S. 29). Diese käut die Zeichen wieder. Das bedeutet auch, dass alles bereits zuvor da gewesen ist und immer wieder hochgeholt wird. Dieser Vorgang ist dem, was in der Filmmetapher beschrieben wird, nicht unähnlich und deutet zudem einen ewigen Kreislauf an. Zudem ironisiert dieses Bild. Doch was diesem Bild fehlt, ist die Radikalität des Todes und der Erinnerung. Im Wiederkäuen wird alles verflacht. Konturengewinnen aus der Erinnerung ist für dieses Theater jedoch zentral. Damit dies möglich ist, müssen die Erinnerungen wieder an die Oberfläche geholt werden, müssen sichtbar werden und in der Gegenwart präsent. Deswegen ist die Antwort auf die letzte Frage des Engels, was Ich sehen möchte: »Dich« (S. 30). Im folgenden, dritten »HEILIG HEILIG HEILIG«-Bild ist der Engel dann auch beherrschend: »ICH liegt auf dem Rücken. Über ihm der Engel der Geschichte. Die Arme wie Flügel gespreitet.« (S. 31) Das erinnert an die Beschreibungen der Voraussetzung für die Erinnerung und die Kombination der verschiedenen Elemente in den vorhergehenden Bildern, so wie das Gedicht Ich zum Engel der Erinnerung und der »Schutzengel« das Gespräch

390 In: Holy Soul Jelly Roll: Poems and Songs 1949-1993. 1994.

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erst möglich macht (s.o.). Unter dem Schutz des Engels kann dann erinnert werden und zugleich in dieser Erinnerung, die durch Ich hindurchgeht, in die Zukunft gedacht werden. Es wird ein »Film aus der Zukunft« (S. 31) beschrieben. Dafür wird nun ein anderes Bild aus der Vergangenheit verwendet. Der ägyptische Sonnenkult und mit ihm das Paar Echnaton und Nofretete werden hier von Ich und Meiner Liebe wieder herauf beschworen. Hier wird die Dualität von Ich und einem Anderen noch einmal anders thematisiert: als sich ergänzendes Paar. Die Liebe, die hier ebenso mit dem Tod verbunden wird wie die Erinnerung, ist eine weitere Utopie und Hoffnung auf Erlösung. Dies ist auch ein Aspekt des Persönlichen, das immer zentral ist. Denn das Ich, als Ich als Anderes, als Ich und das Andere, ist der Moment, der Körper, das Jetzt, in dem sich die unterschiedlichen Bilder der Erinnerung, der Realität, der Utopie treffen. Die Sonne, das Licht, ist hier Quelle des Lebens und erinnert doch auch an den Blitz, an die kurze Erkenntnis im Angesicht des Todes. Auch der ägyptische Kult war immer auf die Ewigkeit ausgelegt. Doch ist dieser Sonnenkult, der hier zitiert wird, auch ein Kult, der sich gegen alles vorher Bestehende gewandt hat und das Alte versucht hat zu beseitigen. Das Bild der Hieroglyphe als Manifestation der Sprache in einem sinnlich erfahrbaren Gegenstand, der zudem eine Totenmagie beinhaltet, ist hier wesentlich. Die Hieroglyphen überdauern die Zeit und bergen gleichzeitig ein Geheimnis.391 Sie sind ewige Momente des Jetzt. »Die Hieroglyphen auf den Sarkophagen der alten Ägypter Waren Zaubersprüche Zeichen für gute Taten Zeichen für Augenblicke puren Glücks Die ein Weiterleben im Jenseits zeigen sollten Auch dieser Text ist was ich sehen will Im letzten Film in meiner zum Himmel emporgereckten Herzgroßen Handfläche ein Kind Wirft mir die Sonne auf den Kopf Ist Liebe der Tod ein geflügeltes Wort« (S. 33)

Genau einen solchen Moment versucht dieses Theater wieder zu gewinnen. Dabei ist jedoch die Geschichte und auch der Umgang mit dem Tod in den Jahrtausenden ein anderer geworden. Der Tod wird zum Tabu, zum Verbrechen, und nicht mehr zur Fortsetzung des Lebens. Die Toten klagen an, erst wenn ihre Stimmen wieder einen Platz im Jetzt haben, kann das Jetzt sich auf produktive Weise in den Tod fortschreiben und darüber hinaus. Dazu muss sich die Sprache in den Körpern der Lebenden auf dem Theater manifestieren. Die Geschichte muss in der Sprache, wie in einer Hieroglyphe,

391 Die Hieroglyphen sind auch bei Artaud ein wesentliches Bild. Auch Fritschs eigener poetologischer Essay trägt den Titel Hieroglyphen des Jetzt.

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aufgehoben werden, um so aus dem Totenreich weiter zu wirken. Deshalb trägt der Epilog dann auch den Titel »DAS HEILIGE THEATER DES TODES«. Denn der Moment des Jetzt, der vorher immer behauptet wurde, ist der des Todes, der im Verlauf des Stückes immer mehr an Präsenz gewonnen hat. Hier kommt nun eine weitere Religion ins Spiel, und zwar der Hinduismus. Mit dem Hinduismus, und vor allem dem Buddhismus, hat sich Allen Ginsberg stark auseinander gesetzt. Dabei wird das Motiv des Wassers, als heiliger Fluss Ganges, das zuvor bereits als Grenzfluss, aber auch als Naturbild relevant war, noch einmal anders verwendet. Auch die heilige Kuh, die im vorhergehenden Bild vorkam, hat nun eine andere Bedeutung, denn im Hinduismus ist diese Bezeichnung vollkommen unironisch. Hier wird also die non-hierarchische Assoziation der Ebenen, die mit der Metapher des Rhizoms beschrieben wird, weiter fort gesetzt. Das Feuer, das als Teil der Sonne zuvor noch lebensspendend war, ist hier das Feuer, in dem Tote verbrannt werden. Zum einen handelt es sich um die traditionelle Verbrennung der Toten, die auch am Ganges in Varanasi stattfindet, zum anderen wird aber auch wieder der Toten, die in Auschwitz verbrannt wurden, gedacht. Auch das Bild des Verbrennens ist damit höchst ambivalent. Denn zum einen wird die Notwendigkeit der Erinnerung gerade dieser Toten immer betont, zum anderen ist das Ziel des Buddhismus und des Hinduismus den Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen, im Nirvana aufzugehen. Allen hat einen langen Monolog, den er als »Schatten-Buddha« (S. 35) hält.392 Auch dies ist ein Paradox an sich, denn ein Buddha ist gerade ein Erleuchteter und keine Schattengestalt. Doch kann er nur so in diesem Theater noch zu Wort kommen. Der Monolog beginnt mit »Alles brennt« (S. 35). Beinahe alle Bilder und Assoziationen des Stückes werden hier als brennend beschrieben. Dabei wird Ich hier als Du angesprochen. Ich ist damit in diesem Stück direkt der Andere und zugleich ist Ich auch alles, was es bisher begleitet hat, was es in sich aufgenommen hat. Dieses Verbrennen ist jedoch der Moment des Jetzt, der Moment der Vernichtung und auch der Moment des Theaters, aus dem Neues entstehen kann, nachdem alles gegen das dieses Theater steht brennt. Doch muss das Feuer, das hier wieder mit der Sonne verbunden wird, sich aus diesen Momenten speisen. Das, wogegen das Theater sich richtet, ist genauso notwendig, wie es überwunden werden muss. »HEILIG HEILIG HEILIG/Ist ein Theater gegen alles/[…]/Das ist der Anfang Die Sonne und das Meer/Dies ist eine Hymne Allen/[…]/Im Theater des Jetzt/Das brennt« (S. 38). Auch der Engel der Geschichte kann sich dem nicht mehr entgegenstellen. So wie er es angekündigt und befürchtet hat, wird auch er nun vernichtet: »Am Baum der Wirklichkeit in tausend

392 Auch ein Buddha symbolisiert eine Sphäre, die den Menschen nicht zugänglich ist, ähnlich wie Chronos. Nur als Schatten sind sie wahrnehmbar, ihre eigentliche Realität bleibt verschlossen.

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Stücke zerreißen/Mich die Winde aus der Apokalypse dieser Welt« (S. 3839). Damit ist der Engel nicht nur aus dem Theater verschwunden, wie es im Vorhergehenden schon thematisiert wurde, sondern auch aus der Welt. Das ist die größte Gefahr, dass auch die Erinnerung verschwindet. Dem entgegen wirken kann nur ein Theater, das in allen diesem auch die Chance auf einen Neuanfang finden kann. Am Ende steht ein Neubeginn, eine Hoffnung, die letztendlich in den Herzen, also im Persönlichen liegt: »Und wer baut sie in drei Tagen/Von deiner Sanftmut erfüllt wieder auf/In unserem Herzen durch das der Ganges fließt/Als unser Blut/Der Ewigkeit roter/VORHANG.« (S. 39) Damit ist in diesem Moment des Jetzt, der von Tod geprägt ist, auch die Möglichkeit des neuen Anfangs, vor allem für das Theater als Ort der Begegnung vielleicht von Bühne und Zuschauer, sicherlich von Ich und Anderem, Erinnerung und Utopie, Anfang und Ende, gegeben.

Schluss Tragödie als Mythos

Der Umgang mit Mythen, die Frage nach dem, was ein Mythos ist, was er leisten kann und welche Bedeutung er für die tragische Wirkung hat, war im Vorhergehenden einer der Hauptpunkte der Untersuchung. Der Begriff des Mythos ist dabei sehr vielschichtig. Doch nicht nur die Definitionen von Mythos unterscheiden sich, auch die einzelnen Begriffe, vor allem der funktionale, können durch die Zeit verschiedenartig aufgeladen werden. Trotz aller Veränderungen bleibt aber ein mythischer Kern, der einerseits konstant, andererseits aber auch immer offen und gerade so paradox von Dauer ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff und Faktum Tragödie. Was Tragödie oder Tragik ist, wird immer wieder neu und anders definiert. Dabei geht die Debatte um die Tragödie sogar so weit, sie für tot zu erklären (20. Jahrhundert), was dem polemischen Mythenbegriff nahe kommt, oder erweitert den theatralen Begriff als Tragik auf die ganze Welt (19. Jahrhundert). Doch taucht die Tragödie immer wieder in neuer Form auf, gerade wenn man sie als theatralen Moment der Wirkung zwischen Bühne und Publikum versteht. Dabei ist die unauflösliche Spannung, das (Be-)Fragen, ohne, dass eindeutige Antworten möglich sind, wesentlich. So erweist sich auch Tragödie als Gattung, als Konzept und vor allem als Theater1 als Mythos in ambiger Form. Sie ist Bestandteil der Realität und zugleich eine eigene Realität. Text, Aufführung und Zuschauer zusammen machen diesen Moment aus. Ähnlich wie es Zeiten gab und gibt, in denen Mythen scheinbar vergessen oder verharmlost werden, verhält es sich auch mit der Tragödie. Auch sie hat ihre Zeit, doch verschwunden ist sie nie ganz. Ähnlich wie der Mythos tritt die Tragödie in bestimmten Zeiten in den Hintergrund, um dann wieder durchzubrechen. Doch einzelne Aspekte, die im Athen des 5. Jahrhunderts für die Tragödie zentral waren, sind inzwischen vergessen. Auch und gerade Vergessen ist für das kulturelle Gedächtnis wesentlich, »denn 1

Passagen von Lehmanns Postdramatischem Theater können als Polemik gegen einen Begriff und eine Wirkung von Text- bzw. Illusionstheater gelesen werden, das so auch als Mythos verstanden werden kann.

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Gedächtnis umfasst immer schon beides: Erinnern und Vergessen.«2 Das gilt für Mythen als funktionale Komponenten, aber auch für die Tragödie. Hier sind z.B. der agonale Charakter und der Kult verschwunden oder zumindest zu Expertenwissen geworden, vom lebendigen in das Speichergedächtnis übergegangen. Dass ein solcher Übergang immer möglich ist und permanent stattfindet, stellt Aleida Assmann dar, sie geht davon aus, »dass die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis nicht hermetisch ist, sondern in beiden Richtungen überschritten werden kann.«3 Dennoch waren diese – vergessenen oder in das Speichergedächtnis übergegangenen – Voraussetzungen zentral für das Entstehen von dem, was bis heute nachvollzogen werden kann (s. Kapitel I) und Tragödie ausmacht: die Fragen in einem gemeinsamen Raum zwischen Bühne und Publikum, die den Horizont, aus dem sie stammen, teilen, der in jener Zeit eben der religiöse und agonale war. Diese Wirkung im Zusammenspiel von Mythos auf der und über die Bühne hinaus ist geblieben, auch wenn die sakralen und religiösen Momente verschwunden sind. Die Verbindung findet in den darauffolgenden Zeiten über Elemente der gemeinsamen Erinnerung, des kollektiven Gedächtnisses statt, die ihrerseits an die historische Realität gebunden sind und als Ausdruck eines Mythos verstanden werden können.4 Auch so ist die Tragödie von der Zeit, die sie umgibt, abhängig. Ebenso wie es mehr oder weniger mythische Zeiten gab und gibt, gab und gibt es mehr oder weniger tragische Zeiten. Ein gemeinsames Element von Mythos und Tragödie ist die enge Verbindung zum Tod. Mythen sind auch immer Geschichten des Todes und der Toten, die so im Leben präsent bleiben. Auch das Theater, vor allem das der Tragödie, ist Dialog mit den Toten.5 Der Moment der Tragödie, der bis heute bleibt und wieder verstärkt zu Tage tritt, ist immer nicht nur ein Reflex auf die sie umgebende Umwelt, sondern auch selbstreflexiv oder gar selbstgefährdend. Dieser Moment, der durchaus mit mythischen Momenten vergleichbar ist, setzt sich gerade auf dem Theater fort. Denn das Theater als solches existiert nur in der permanenten Selbst-Infragestellung und im Paradox zwischen Wiederholung und momenthafter Einmaligkeit. Dennoch behauptet es sich gerade in der Selbstgefährdung vehement. Diese Behauptung – oder gar erst Konstituierung – angesichts der Gefahr trifft seit der attischen Tragödie auch auf das

2 3 4

5

Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll & Nünning (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnis. S. 45-60. hier S. 47. Ebenda S. 59. Im Sinne des funktionalen Mythenbegriffs. Assmann & Assmann: Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band IV. S. 179-200. hier 179. Vgl. dazu Müller: Gesammelte Irrtümer 2. S. 64: »Das Tote ist nicht tot in der Geschichte. Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung – der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.«

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Subjekt zu. Auch hierzu ist das Theater wieder besonders geeignet, da der Schauspieler als Einzelner in seiner Körperlichkeit direkt anwesend ist. Zugleich ist er jedoch immer verdoppelt, da er eine Rolle spielt. Diese doppelten, ambigen, sich gegenseitig in Frage stellenden und dabei paradox zugleich verstärkenden Strukturen lassen sich auf dem Theater immer finden, besonders, wenn es sich mit einer Tragödie auseinandersetzt. Theater ist ebenso wie der Mythos und in Zusammenhang mit ihm ein Medium des kollektiven Gedächtnises. Theater ist die Kunst, die am direktesten mit den Menschen und einer unmittelbaren Situation verbunden ist. Die Tragödie ist dabei die Form, die sich in ihrer Wirkung, über die sie definiert ist, mit den elementaren Elementen des menschlichen Lebens (eben denen, die auch der Mythos beinhaltet) auseinandersetzt. Dabei wirkt es sowohl rational als auch emotional, Theater und Tragödie haben immer beide Anteile, ebenso wie Mythen. Doch das Theater ist zugleich auch der Ort, an dem Geschichte mythisiert wird und die Erfahrung als Tragödie unmittelbar werden kann. Tragödie hält sich, verändert sich, ist Material, mit dem gearbeitet werden kann und damit offen wie der Mythos, solange sie Teil des kulturellen Gedächtnisses ist. Mit jeder Inszenierung wird sie auch weiter in dieses eingeschrieben, mit jeder Variation neu befragt. Ein Theatertext entsteht, wird geschrieben, um in der Inszenierung befragt und Teil eines gemeinsamen Prozesses zu werden. Damit ist echten Tragödien dieses Potenzial, das auch ein echter Mythos hat, bereits eingeschrieben. Aber wie ich versucht habe zu zeigen: Ein Kern von Tragödie bleibt und hält auch die dauerhafte Befragung und Infragestellung aus; fordert sie nachgerade heraus. Deshalb bleibt auch die Tragödie, wie ein Mythos, nur lebendig in aller Veränderung, wenn sie als gemeinsames Moment zwischen Produktion und Rezeption verstanden und immer wieder neu befragt wird – auf dem Theater.

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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten November 2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche März 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7

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