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German Pages 224 Year 2018
Benjamin Bühler Ökologische Gouvernementalität
Edition transcript | Band 1
Benjamin Bühler (PD Dr.), geb. 1970, lehrt als Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität Konstanz. Er war von 2011 bis 2017 HeisenbergStipendiat und von 2014 bis 2017 (gemeinsam mit Stefan Willer) Leiter des Projekts »Sicherheit und Zukunft. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Security Studies« am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Literatur und Prognostik, Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, die Wissensgeschichte des Lebens und die politische Ökologie.
Benjamin Bühler
Ökologische Gouvernementalität Zur Geschichte einer Regierungsform
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz. Ich danke Lena Kugler für ihre Unterstützung und kritische Lektüre. Für das gründliche Korrektorat danke ich Eltje Böttcher, für die umfängliche Betreuung durch den Verlag Anke Poppen und Michael Volkmer.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4470-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4470-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-4470-8 https://doi.org/10.14361/9783839444702 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7 I. Ökologische Gouvernementalität | 21 1. 2. 3. 4. 5.
Protoökologische Modelle | 21 Vernetzung und Regulation | 26 Komplexe Ökosysteme und autoritäre Politik | 32 Zukunft der Bevölkerung | 37 Umweltkrise und sozialer Wandel | 43
II. Konstellationen politischen Wissens | 49 1. 2. 3. 4.
Nahrung: Landwirtschaft und Bevölkerung | 49 Energie: Sonne und Kohle | 72 Konfliktressourcen: Ausbeutung und Gewalt | 90 Recycling: Praxis und Modell | 106
III. Regieren als Regulieren | 119 1. 2. 3. 4.
Raumschiff Erde | 119 Künstliche Klimata: Treibhäuser und Raumstationen | 122 Terraforming: Planetarische Technik und Science-Fiction | 125 Biosphäre und Anthropozän | 131
IV. Wohnen | 139 1. In der Umwelt wohnen | 139 2. Buckminster R. Fuller: Mobiles Wohnen und Umweltkontrolle | 141 3. Ian McHarg: Landschaft als Akteur | 145 4. Umweltgifte | 152
V. Widerstand im Zeichen der Ökologie | 163 1. Resilienz | 164 2. T. C. Boyles literarische Typologie des/der Umweltaktivist*in | 169
VI. Politische Ökologie und Demokratie | 181 1. Ökodiktatur!? | 181 2. Antidemokratische Rhetorik und Narrative | 186 3. Unbestimmtheit und Zukunftsoffenheit: Leforts Theorie der Demokratie | 191 4. Politik als Streit: Mouffes Theorie des Agonismus | 196
Literaturverzeichnis | 203
Einleitung
Der Biochemiker und Verfasser mehrerer populärwissenschaftlicher Werke zu systemischem und vernetztem Denken Frederic Vester entwickelte Ende der 1970er Jahre das Umwelt-Simulationsspiel Ökolopoly. In diesem Brettspiel bilden die Spieler die Regierung im Land »Kybernetien« und haben die Aufgabe, einen »Gleichgewichtszustand mit möglichst hoher Lebensqualität« zu erreichen.1 Dafür investieren sie Aktionspunkte in die Bereiche Sanierung, Produktion, Aufklärung, Lebensqualität und Vermehrungsrate, die durch nicht-lineare mathematische Beziehungen miteinander verbunden sind, das heißt, jede Entscheidung zieht »eine Kette von Wirkungen und Rückwirkungen nach sich«.2 Wer zum Beispiel vor allem in Sanierung investiert, um die Umweltbelastung zu senken, erhält schnell ein zu hohes Bevölkerungswachstum mit sinkender Lebensqualität; wer das Bevölkerungswachstum dagegen zu stark senkt, erhält im nächsten Regierungsjahr weniger Investitionsmittel, also Aktionspunkte, die die Spieler einsetzen können. Erschwerend kommt hinzu, dass immer nach fünf Spieljahren eine Ereigniskarte gezogen wird, die die Situation in Kybernetien positiv oder negativ ändert, z. B. gelangen durch einen Unfall in einer Chemiefabrik Gifte in die Umwelt, man entdeckt ein neues energiesparendes Verfahren zur Aluminiumgewinnung oder es bricht in einem Land, das wichtige Rohstoffe liefert, ein Bürgerkrieg aus. Vester geht es mit dem Spiel um das Einüben kybernetischen Denkens, das die wechselseitigen Abhängigkeiten der Elemente eines komplexen Sys-
1 | Vester, Frederic, Umweltspiel Ökolopoly. Erweiterte Anleitung mit Funktionsbeschreibung, Ravensburg 1984, S. 3. Für den Hinweis auf dieses Spiel danke ich Anne Neubert und Andi Womelsdorf. 2 | Ebd., S. 4.
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tems miteinbezieht. Der von ihm entworfene »Papiercomputer«3 soll die dynamischen Beziehungen zwischen diesen Elementen sowie die zeitverzögerten Auswirkungen und Nebenwirkungen getroffener Entscheidungen erfahrbar machen. Das Spiel bietet eine Fülle an Variationsmöglichkeiten: Man kann die Ausgangsbedingungen unterschiedlich definieren – Kybernetien kann ein bevölkerungsarmes Industrieland oder ein Entwicklungsland mit großem Bevölkerungswachstum sein –, die Spieler können bestimmte Rollen einnehmen (Staatschef, Minister, Experten, Lobbyisten), oder man ändert die mathematischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen. Das Spiel führt vor, dass sich ›Ökologie‹ nicht auf allein eine naturwissenschaftliche Teildisziplin oder ein einzelnes soziales System bezieht. Ökologische Probleme zeichnen sich vielmehr durch ihre grenzüberschreitende Dimension aus: Umweltverschmutzungen und Industrieunfälle betreffen auch Nachbarstaaten, und die Auslagerung von Produktionsanlagen in Länder mit geringeren Umweltauflagen und Löhnen wird als Verschiebung ökologischer und sozialer Kosten sichtbar gemacht. Aber auch in zeitlicher Hinsicht sprengt die Ökologie die Grenzen, denn die Folgen heutiger Entscheidungen und Handlungen für die Zukunft, insbesondere für die nachfolgenden Generationen, müssen heute schon berücksichtigt werden. Und weil im Feld der Ökologie unterschiedlichste Aspekte miteinander verknüpft sind und in Wechselwirkung zueinander stehen, sind Wissenschaften wie die Biologie, Physik und Ökonomie ebenso relevant wie rechtliche und ethische Fragen, Imaginationen einer gewünschten Zukunft und Simulationen einer Postwachstums-Gesellschaft, reale Unfälle und in der Umwelt gelagerte Giftstoffe, Institutionen und politische Bewegungen, Ideologien und symbolische Repräsentationen, Formen des Konsums und des Konsumverzichts, Praktiken des Wiederverwertens und des ökologischen Designs. Die verschiedenen Dimensionen der Ökologie haben ihr notwendiges Korrelat auf der methodischen Ebene. Schon in einem Essay aus dem Jahr 1973 bezeichnet Hans Magnus Enzensberger die politische Ökologie als eine »hybride Disziplin, in der natur- und sozialwissenschaftliche Kategorien und Methoden nebeneinander her angewandt werden müssen«.4 Der 3 | Ebd., S. 3. 4 | Enzensberger, Hans Magnus, »Zur Kritik der politischen Ökologie«, in: Kursbuch 33 (1973), S. 1–42, hier S. 1.
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Ökologe Ludwig Trepl spricht von ihrem »methodisch und ideologisch hybriden und ambivalenten Charakter«,5 nach Niklas Luhmann gibt es kein gesellschaftliches Subsystem Ökologie, sondern allein mit der Ökologie verbundene Interferenzen zu gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Ökonomie, Politik, Recht oder Wissenschaft,6 und Félix Guattari entwickelt eine Ökosophie, die soziale, mentale und Umwelt-Ökologie unterscheidet.7 Aufgrund dieses hybriden Charakters der ›Ökologie‹, ihrer Verortung zwischen den sozialen Systemen, der Verknüpfung von Normen, Realem und Imaginärem sowie der Verschränkung von unterschiedlichen Wissens- und politischen Handlungsformen wird im Folgenden der Begriff ›politische Ökologie‹ verwendet.8 Dabei handelt es sich nicht nur um einen Diskurs, sondern um ein ›Dispositiv‹ im Sinne Michel Foucaults, denn die politische Ökologie konstituiert sich durch diskursive, materielle und institutionelle Faktoren.9 5 | Trepl, Ludwig, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1987, S. 226. 6 | Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Wiesbaden 1986. 7 | Guattari, Félix, Die drei Ökologien, übers. von Alec A. Scherer, überarb. von Gwendolin Engels [1989], 2. vollst. überarb. Aufl., Wien 2012. 8 | Der Begriff ›politische Ökologie‹ kann auf eine längere Tradition in unterschiedlichen Disziplinen zurückblicken. Dabei zeichnet er sich, wie Piers Blaikie in seinem Forschungsüberblick »A Review of Political Ecology. Issues, Epistemology and Analytical Narratives«, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 43, 3–4 (1999), S. 131–147 schreibt, nicht durch Kohärenz und Fokus aus, zumal man die Arbeiten in diesem Feld auch der Umwelt-Soziologie, -Anthropologie, -Ökonomie oder -Politikwissenschaft zuordnen könnte. Politische Ökologie ist nach Blaikie keine Theorie, vielmehr ermöglicht sie als ›Emblem‹ die Kommunikation und Entwicklung neuer Modelle für das Verständnis alternativer Konstruktionen der Natur und Kritik an ungleichen Machtverhältnissen über disziplinäre Grenzen hinweg. Einen guten Überblick zu diesem Forschungsfeld bieten: Bryant, Raymond L. (Hg.), The International Handbook of Political Ecology, Cheltenham, UK/Northampton, MA 2015; Perreault, Tom/Bridge, Gavin/McCarthy, James (Hg.), The Routledge Handbook of Political Ecology, Abingdon, Oxon/New York 2015. 9 | Nach Foucault ist ein Dispositiv eine heterogene Gesamtheit, bestehend aus »Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz,
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Die Nähe zwischen Ökonomie und Ökologie ist schon mit Blick auf die Vorsilbe evident, was im Folgenden auch immer wieder deutlich werden wird. Der Fokus der vorliegenden Untersuchung liegt allerdings auf der im 19. Jahrhundert entstehenden Differenz zwischen einer (neo-)liberal organisierten ökonomischen und einer auf Steuerung angelegten ökologischen Rationalität. Die Bandbreite reicht von diametral entgegengesetzten Positionen – gemäß der einen sollen sich die Märkte selbst regulieren, gemäß der anderen muss zentral eingegriffen werden – bis zu engen Verbindungen, so etwa im Konzept einer ökologischen Ökonomie.10 Kern des Dispositivs ›politische Ökologie‹ ist das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Wissen und Politik. Im Zentrum steht im Folgenden die Spezifität der ökologischen Regierungsform, also einer Weise des Regierens, die zum einen ökologische Probleme wie globale Erwärmung, Ressourcenknappheit oder Umweltverschmutzung zu Regulativen politischen Handelns macht und zum anderen dieses Handeln nach ökologischen Prinzipien und Konzepten organisiert. Mit dem Konzept der ökologischen Gouvernementalität wird das ökologische Regieren, das den Aspekt des Regulierens in den Vordergrund stellt und sich von neoliberalen Diskursen und Praktiken abzugrenzen versucht, historisch untersucht. ›Ökologisches Wissen‹ lässt sich nicht auf die biologische Teildisziplin reduzieren, hier ist vielmehr erstens der interdisziplinäre Verbund der Umweltwissenschaften gemeint, also auch Geologie, Geophysik, Meteorologie usw., sowie zweitens das in verschiedenen sozialen Bereichen, in Essays und Ratgebern, populärwissenschaftlichen Werken und Dokumentationen, Romanen und Filmen zirkulierende Wissen von der Umwelt. Die materiellen und symbolischen Dimensionen der politischen Ökologie lassen sich mit der Unterscheidung ›Politik/Politisches‹ untersuchen:11 Mit dem Ausdruck ›Politik‹ bezeichnet der französische PhiloGesagtes ebenso wie Ungesagtes«. Foucault geht es hierbei insbesondere um die »Verbindung«, die zwischen diesen heterogenen Elementen bestehen könne. Foucault, Michel, »Das Spiel des Michel Foucault. Gespräch mit D. Colas u. a.« [1977], übers. von Hans Dieter Gondek, in: ders., Schriften 3: 1976–1979, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2003, S. 391–430, hier S. 392 f. 10 | Vgl. z. B. Costanza, Robert, An Introduction to Ecological Economics, Boca Raton, Florida, 2. Aufl. 2015. 11 | Zur Geschichte dieser Unterscheidung und verschiedenen Theorien des Politischem vgl. Marchart, Oliver, Die politische Differenz. Zum Denken des Poli-
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soph Claude Lefort ein Subsystem innerhalb der Gesellschaft: Die Politik ergibt sich aus der Abgrenzung von dem, was nicht politisch ist, also ökonomisch, sozial, rechtlich, ästhetisch o. a. Mit Lefort wären demnach Bereiche wie die Umweltpolitik oder ökologische Ökonomie der Politik zuzuordnen, die zwar in andere Bereiche wie die Wirtschaft, den Städtebau oder den Verkehr eingreifen, gleichwohl aber ein eingegrenztes politisches Terrain besetzen. Das ›Politische‹ nimmt dagegen das »InForm-Setzen des menschlichen Miteinanderseins« bzw. das »Prinzip der Institution des Sozialen« in den Blick.12 Dieses In-Form-Setzen geschieht, indem sich eine Gesellschaft über »zahllose Zeichen« eine »quasi-Repräsentation ihrer selbst gibt«.13 Repräsentation meint hier nicht eine bloße Abbildung, sondern einen performativen Vorgang, denn sie bringt das, was sie repräsentiert, hervor.14 In diesem Sinn leistet Vesters Spiel Repräsentationen unterschiedlicher Gesellschaftsformen, nämlich solche, die Umweltbewusstsein und Bildung fördern, und solche, die auf Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung setzen. Die verschiedenen in einer Gesellschaft verhandelten ›quasi-Repräsentationen‹ befinden sich damit in einem Streit um die hegemoniale Position. Die Verbindung von Materiellem und Repräsentationen – und damit auch die zwischen der Politik und dem Politischem – ist ein zentrales Kennzeichen der politischen Ökologie. Denn auf der einen Seite müssen komplexe Beziehungsgefüge, Ganzheiten wie ›die Erde‹ oder Zukunftsszenarien allererst dargestellt werden, auf der anderen Seite hat es die Ökologie mit realen Dingen und Prozessen zu tun, mit Umweltgiften, verfügbarem Trinkwasser oder dem Schmelzen von alpinen Gletschern. Auf beiden Ebenen sind ökologische Phänomene immer schon vernetzte Phänomene, wofür sich exemplarisch Jussi Parikkas Konzept der »Geologie der Medien« anführen lässt. Parikka geht den Verbindungen zwitischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a. M. 2010; Bröckling, Ulrich (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010; Hebekus, Uwe/Völker, Jan, Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg 2012. 12 | Lefort, Claude, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, übers. von Hans Scheulen und Ariane Cuvelier, Wien 1999, S. 37 und S. 49. 13 | Ebd., 39. 14 | Ebd., S. 37, vgl. dazu: Hebekus/Völker, Neue Philosophien des Politischen, a. a. O., S. 68.
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schen Medien wie Smartphones oder Laptops und der geophysikalischen Natur nach, womit er Materialien wie Nickel, Kupfer oder ›Seltene Erden‹, Verfahren der Abfallentsorgung und des Recyclings zum Gegenstand der Medienwissenschaft macht. Den Ausdruck ›Geologie‹ gebraucht Parikka aufgrund der zeitlichen und räumlichen Erstreckung eines solchen Medienmaterialismus: Es dauert Millionen von Jahren, bis sich Rohstoffe wie Kohle oder Erdöl bilden, umgekehrt bleiben Plastikmüll und Brennstoffstäbe noch Millionen von Jahren erhalten; die Materialien, die man für die Herstellung von Kondensatoren, Superlegierungen oder medizinischen Implantaten benötigt, bewegen sich dabei über den gesamten Globus, so wird zum Beispiel Coltan in Afrika gewonnen, in China verarbeitet und in Europa verkauft. Parikka verweist aber auch auf die politische Ökonomie industrieller und postindustrieller Produktion oder die globale Erwärmung und schreibt seine ›Geologie der Medien‹ damit in eine »ecological agenda« ein.15 Es ist eine zentrale These dieser Arbeit, dass der Ökologie seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert ein ›Regierungswissen‹16 eingeschrieben ist, wobei Regieren als Regulieren konzipiert wird. In der Entstehungsphase der Ökologie als einer biologischen Teildisziplin steht zwar die Regulation von ›Pflanzen-‹ oder ›Lebensgemeinschaften‹ im Vordergrund, doch aufgrund der Einwirkungen menschlicher Tätigkeiten auf diese Verbünde oder Biozönosen bzw. Ökosysteme stehen auch stets politische Fragen im Raum. Es geht hierbei also nicht um einen Analogieschluss zwischen biologischen und sozialen Systemen, wie es etwa bei der prominenten Metapher des ›Staats-‹ oder ›Gesellschaftskörpers‹ der Fall ist, denn der Mensch ist immer schon ein Bestandteil ökologischer Systeme, wenn auch einer, der diese Systeme massiv verändert. ›Regulation‹ wird somit nicht bloß von pflanzlichen oder tierischen Populationen auf die menschliche Bevölkerung übertragen, denn aus der Perspektive der Ökologie macht es überhaupt keinen Sinn, pflanzliche und tierische Populationen und menschliche Bevölkerungen voneinander zu trennen.
15 | Parikka, Jussi, Geology of Media, Minneapolis 2015, S. 5. 16 | Zum Begriff ›Regierungswissen‹ vgl. Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collége de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2004, S. 159.
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Wenn Regieren als Regulieren konzipiert wird, kommen insbesondere demokratische Grundprinzipien immer wieder auf den Prüfstand. Denn in einer solchen Konzeption geht es um die Funktionsweise komplexer Systeme und weniger um die öffentliche Diskussion politischer Fragen oder Wahlentscheidungen. Das ›In-Form-Setzen des Sozialen‹ kann sich dann in Akten des Verwaltens und im Rahmen der Bürokratie abspielen. Das gilt vor allem, wenn der Fluchtpunkt der politischen Ökologie das zukünftige Überleben der Spezies Mensch ist, das durch die vom Menschen selbst verursachte Zerstörung seiner Lebensgrundlagen in Gefahr gerät. In dieser apokalyptischen Logik geht es erklärtermaßen nur noch um das Überleben, weshalb die Faktizität Vorrang vor einer Politik des ›Unvernehmens‹ erhält und der Experte zum politischen Entscheider wird.17 Der Philosoph Jacques Rancière beschreibt die Transformation der Politik in eine technokratische Expertenregierung als Zustand einer Postdemokratie,18 in der jeglicher Konflikt verschwinde und eine Gesellschaft entstehe, die berechenbar und repräsentierbar sei: Das »in der Form seiner statistischen Reduktion anwesende Volk ist zum Erkenntnisobjekt und zum Objekt der Vorhersage geworden, das Erscheinung und deren Polemiken verabschiedet hat«.19 Im Rahmen eines solchen Systems gibt es nach Rancière keinen »Streithandel« mehr, die Konflikte sind vielmehr in Probleme transformiert, die objektiviert und technisch gelöst werden. An die Stelle des Konflikts treten Verrechtlichungen, Expertenpraktiken, Meinungsforschung und damit ökonomische Notwendigkeiten und Rechtsregeln, die politisch nicht verhandelbar sind. Die Postdemokratie 17 | Vgl. Rancière, Jacques, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. von Richard Steurer, Frankfurt a. M. 2002. 18 | Den Ausdruch ›Postdemokratie‹ prägte Colin Crouch, eine seiner zentralen Thesen lautet: »Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert«. Crouch, Colin, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008, S. 13. 19 | Rancière, Jacques, »Demokratie und Postdemokratie«, übers. von Rado Riha, in: Riha, Rado (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien 1997, S. 94–122, hier S. 110.
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ist somit nicht ein gesellschaftlicher Zustand, sondern eine »Regierungsweise«,20 die bestimmt wird durch objektive Notwendigkeiten. Rancière bezieht seine Überlegungen zwar nicht (oder nur ansatzweise) auf ökologische Probleme, genau sie bilden aber den zentralen Gegenstand aktueller Diskussionen, was insbesondere das Verhältnis von Experten und politischen Entscheidern betrifft. Denn Themen wie globale Erwärmung, das Schwinden der Biodiversität oder technische Möglichkeiten regenerativer Energien lassen sich nicht ohne Expertenwissen diskutieren und entscheiden. Im besten Fall würden, so der Klimaforscher Mike Hulme, Politik und Wissenschaft gemeinsam Ziele und ihre Umsetzungsmöglichkeiten formulieren, die Öffentlichkeit in diese Prozesse miteinzubeziehen, um sich etwa über die verschiedenen Risiken einer globalen Erwärmung zu verständigen und zu diskutieren, welche Risiken eine Gesellschaft eingehen möchte.21 Dieser Fall ist jedoch nicht die Regel: Entweder wird vielmehr die Wissenschaft misstrauisch beäugt oder gar zum Gegenstand von Verschwörungstheorien, so bezeichnete der amerikanische Präsident Donald Trump den Klimawandel als eine Erfindung Chinas.22 Oder aber die Wissenschaft erscheint als nicht hinterfragbare Instanz, und Experten werden zu Problemlösern, die allerdings dazu neigen, gesundheitliche, ethische oder soziale Aspekte auszublenden, wie etwa die Folgen von gentechnisch verändertem Saatgut in Indien zeigen, zu dem zusätzlich teurer Dünger und Pestizide eingekauft werden müssen, was die Landwirte angesichts der Weltmarktpreise (zum Beispiel für Baumwolle) und insbesondere nach einem Jahr mit niedrigen Erträgen in die Verschuldung treibt.23 Sowohl das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft als auch ihre Erhebung zur letztgültigen Wahrheitsinstanz unter20 | Ebd., S. 116. 21 | Vgl. dazu: Hulme, Mike, Why we Disagree about Climate Change. Understanding Controversy, Inaction and Opportunity, Cambridge u. a. 2009, S. 99–105. 22 | Am 06. November 2012 twitterte Trump: »The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U. S. manufacturing non-competitive«. 23 | Vgl. z. B. den Dokumentarfilm Bitter Seeds (GB 2011) von Micha X. Peled. Inzwischen hat die indische Regierung Gegenmaßnahmen unternommen, um das Monopol des Saatgut- und Pestizidherstellers Monsanto, er kontrolliert 90 Prozent des Baumwollmarktes in Indien, zu brechen, indem sie u. a. die Lizenzgebühr senken. Vgl. Schreier, Doro, »Indien: Monsanto geht es an den Kragen«, abrufbar
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minieren ihren unbestreitbar wichtigen Ort in einer demokratischen Gesellschaft. Dem Soziologen Armin Nassehi zufolge wird von der Wissenschaft erwartet, uns mit »evidenzbasiertem, nachprüf barem, interessefrei erzeugtem und möglichst objektivem Wissen« zu versorgen. Doch die Wissenschaft kann die »Eindeutigkeitserwartung« nicht erfüllen, sie liefert nach Nassehi keine Handreichung für politisches Entscheiden oder unternehmerische Strategien. Vielmehr sei die große Stärke der Wissenschaft, »Fragen zu stellen, die man ohne sie nicht hätte. Und sosehr solche selbstgewählten Fragen bei der politischen oder ökonomischen Entscheidungsfindung helfen mögen – am Ende muss politisch oder unternehmerisch entschieden werden, also nach den Erfolgsbedingungen dieser jeweiligen Bereiche«. Gleichwohl liefere die Wissenschaft einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der gegenwärtigen Problemen, denn sie biete einen »Raum der Abweichungsverstärkung«, prämiere »Versuche, die Dinge anders als zuvor zu denken« und versorge die Gesellschaft mit den richtigen Fragen.24 Die heutige Lage stellt sich allerdings oftmals anders dar: Zwar folgt aus »Fakten keine Politik«, wie der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers formuliert,25 und mit dem Klimaforscher Mike Hulme kann man hervorheben, dass sich gute Forschung, insbesondere Klimawandelforschung, durch den Umgang mit Ungewissheit auszeichnet,26 aber die Politik bleibt gerade nicht in ihren systemtheoretisch vorgesehenen Grenzen, sondern betreibt ständige Grenzüberschreitungen, indem sie politische Entscheidungen auf nicht-politische Institutionen wie Wissenschaft, Recht oder Ökonomie auslagert, was zu einer Schwächung demokratischer Prinzipiunter: https://www.infosperber.ch/Wirtschaft/Indien-Monsanto-geht-es-in-anden-Kragen (letzter Zugriff: 15.02.2018). 24 | Nassehi, Armin, »Zu Fakten gibt es oft eine Alternative«, in: FAZ 28.06.2017, abrufbar unter: http://plus.faz.net/geisteswissenschaften/2017-06-28/rvriwxfv riu3usxsijrwnmf/ (letzter Zugriff: 15.02.2018). 25 | Möllers, Christoph, »Wir die Bürger(lichen)«, in: Merkur 71, 818 (Juli 2017), S. 5–16, hier S. 14. 26 | »Far from being able to eliminate uncertainty, science – especially climate change science – is most useful to society when it finds good ways of recognizing, managing and communicating uncertainty«. Hulme, Why we Disagree about Climate Change, a. a. O., S. 82.
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en führt. Der Grund für die Aushöhlung der Demokratie liegt aber noch tiefer, nämlich in der spezifischen Beschaffenheit demokratischer Systeme und der sämtliche räumliche und zeitliche Grenzen sprengenden ökologischen Probleme, wie der Soziologe Ingolfur Blühdorn ausführt:27 Nach Blühdorn sind Demokratien auf menschliche Akteure fixiert, was automatisch mit einer Ausgrenzung von Pflanzen, Tieren oder auch Landschaften einhergeht. Sie sind auf Mehrheitsentscheidungen ausgerichtet – die Mehrheit entscheidet aber nicht unbedingt ökologisch sinnvoll. Demokratien leben von ihrer Kompromissbereitschaft und zeichnen sich durch langsame und ressourcenaufwendige Verfahren aus. Schließlich sind Demokratien emanzipatorisch ausgerichtet, was sie für Beschränkungen ungeeignet macht. Andere Problembereiche sind nach Blühdorn modernisierungsbedingt, so seien etwa demokratische Gesellschaften durch die Globalisierung und gesellschaftlichen Differenzierungen überfordert, weshalb das politisch Verhandelbare immer enger definiert werde: Zahlreiche Felder würden aus Effizienz-Gründen Expertenkommissionen, Gerichten oder Regulierungsbehörden überlassen, was zur Entpolitisierung vormals politischer Bereiche führe. Dennoch diagnostiziert Blühdorn kein Ende, sondern einen »Formwandel« der Demokratie, worunter er die Gleichzeitigkeit von Erosion und Radikalisierung demokratischer Wertvorstellungen versteht.28 Die angeführten demokratieskeptischen Argumente verweisen auf die Dringlichkeit politischen Handelns, das als ein intervenierendes Regulieren erscheint. Zwar hat das neoliberale Programm eines freien Spiels der Marktkräfte längst schon die Umweltpolitik erreicht: Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht jedoch die politische Rationalität eines steuernden Eingreifens in die sozialen und ökologischen Systeme, weshalb die politische Ökologie, so die zweite zentrale These der folgenden Ausführungen, ein Gegenprogramm zur von Michel Foucault beschriebenen Gouvernementalität darstellt. Mit dem Begriff ›Gouvernementalität‹ beschreibt Foucault einen im 18. Jahrhundert erscheinenden Machttypus, der als »Hauptzielscheibe die 27 | Zum Folgenden: Blühdorn, Ingolfur, »Nachhaltigkeit und postdemokratische Wende. Zum Wechselspiel von Demokratiekrise und Umweltkrise«, in: Vorgänge 49, 2 (2010), S. 44–54, hier S. 47 f. 28 | Blühdorn, Ingolfur, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013, S. 44.
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Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches Instrument die Sicherheitsdispositive hat«.29 Gouvernementalität verweist »auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen«.30 Der Leitfaden von Foucaults Arbeit in diesem Zusammenhang ist, wie Thomas Lemke ausführt, der »Begriff der Regierung«, der Formen politischer Regierung mit Techniken des Selbstregierens verknüpft und eine systematische Untersuchung der Beziehungen zwischen Machttechniken und Wissensformen erlaubt.31 Dabei zeigt Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte dieses Machttypus auf, dass und wie das Prinzip der »ökonomischen Regierung« zur dominanten Regierungsform in der Moderne wurde32 – von seinen Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts. Das Erscheinen der ›Bevölkerung‹ markiert für Foucault ein zentrales Datum in dieser Geschichte, da damit erstens die Familie nicht mehr das Modell für die »Regierungskunst« abgibt.33 Zweitens ändert sich das Ziel der Regierung: Es geht nach Foucault nicht mehr um die Erhaltung der Stellung des Souveräns und seines Territoriums, sondern um die Regulation der Bevölkerung, ihrer Größe, Struktur, Gesundheit u. a., weshalb die Statistik zu einem zentralen Instrument der Regierung wird. Daraus folgt ein dritter Aspekt: Beobachtungen und Wissen über die Bevölkerung sind nun wesentliche Bedingungen des Regierens. Foucault spricht vom »Regierungswissen«, das untrennbar verbunden sei mit der »Bildung eines Wissens über all die Vorgänge, die sich im weiten Sinne um die Bevölkerung drehen, nämlich über genau das, was man die ›Ökonomie‹ nennt«.34 Daher erscheint mit der ›Bevölkerung‹ die Wissensform ›politische Öko29 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O., S. 162. 30 | Lemke, Thomas, »Gouvernementalität«, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/ Schneider, Ulrich Johannes (Hg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 260–263, hier S. 260. 31 | Ebd., S. 261. Vgl. dazu ausführlich: Lemke, Thomas, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997. 32 | Die »Kunst des Regierens ist gerade die Kunst, die Macht in der Form und nach dem Muster der Ökonomie auszuüben«. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, a. a. O., S. 144. 33 | Ebd., S. 156 f. 34 | Ebd., S. 159.
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nomie‹, der es um die Erfassung des vielfältigen Geflechts zwischen Bevölkerung, Territorium und Reichtum geht. Zugleich entsteht ein für das Regieren charakteristischer »Interventionstyp, nämlich die Intervention auf dem Feld der Ökonomie und der Bevölkerung«.35 Die im 19. Jahrhundert entstehende politische Ökologie ließe sich als Teilbereich einer solchen Gouvernementalität verstehen, denn auch ihr Objekt ist die Bevölkerung und auch ihr Ziel ist die Regulierung der Bevölkerung, wofür sie spezifisches Wissen erwerben und Formen der Fremdsowie Selbststeuerung hervorbringen muss. Allerdings unterscheidet sie sich auch grundlegend von Foucaults Modell, weshalb es gerechtfertigt ist, von einer spezifischen ökologischen Gouvernementalität zu sprechen. Erstens ändert sich die Form der Leitwissenschaft: Grundlage ist nicht die politische Ökonomie, sondern die Ökologie stellt Konzepte, Begriffe, Modelle und Theorien bereit, auf deren Grundlage sich ein ökologisches Regierungswissen bilden kann. Bereits in der Entstehungsphase der wissenschaftlichen Ökologie geht es darum, Wissen bereitzustellen über die Eigenschaften, die Struktur und Dynamik von kollektiven Lebensformen, Populationen bzw. Bevölkerungen, damit man sie regulieren kann. Zweitens ist der Neoliberalismus in den westlichen Industriestaaten zum hegemonialen Diskurs geworden. Der ›Rückzug des Staates‹ und die ›Dominanz des Marktes‹ bestimmen das gegenwärtige politische Programm.36 Dagegen werden ökologische Ideen entweder in den neoliberalen Diskursen integriert, wie der Emissionsrechtehandel oder die freiwillige Selbstverpflichtung von Industrieunternehmen exemplarisch zeigen, oder die ökologischen Regierungsformen bleiben partikulare Erscheinungen, die aber mit dem Anspruch auftreten, die gesamte Gesellschaft und den gesamten Staat nach ökologischen Prinzipien zu organisieren, weshalb die Fiktion eine wichtige Aussageform der politischen Ökologie bildet. Hier liegt auch der Einsatzpunkt einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der politischen Ökologie, ihr Gegenstand reicht nämlich von der Funktionsweise und Wirkung von Metaphern wie ›Pflanzengemeinschaft‹, ›Ökosystem‹ oder ›Raumschiff Erde‹ über die Semantik 35 | Ebd. 36 | Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas, »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2000, S. 7–40, hier S. 26.
Einleitung
von Räumen wie ›Wildnis‹, ›Landschaft‹ oder ›Großstadt‹, Fortschritts-, Untergangs- oder Regressionsnarrativen, Gattungen wie Naturlyrik, nature writing oder Science-Fiction bis zu Imaginationen alternativer Gesellschaften oder gar extraterrestrischer Zivilisationen.37 Das »multilineare Ensemble«38 ›politische Ökologie‹ bildet den Gegenstand der folgenden Ausführungen. Zuerst wird sie als Gegenmodell zur ökonomisch fundierten Gouvernementalität analysiert, der zweite Teil untersucht dann am Beispiel von Bevölkerung und Ernährung, Energie, Konfliktressourcen sowie Recycling historische Konstellationen politischen Wissens. Der dritte Abschnitt geht dem Konzept ›Regieren als Regulieren‹ nach, die Beispiele reichen vom Gewächshaus bis zum Terraforming ganzer Planeten, während sich der vierte Teil mit dem ›Wohnen‹ als ökologischem Grundbegriff beschäftigt. Der fünfte Abschnitt untersucht die Konzeption einer Widerstandskraft von Ökosystemen sowie der Figur des/der ökologischen Aktivist*in. Zum Schluss wird noch einmal das Verhältnis von politischer Ökologie und Demokratie beleuchtet.
37 | Vgl. Bühler, Benjamin, Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen, Stuttgart 2016. 38 | Deleuze, Gilles, »Was ist ein Dispositiv?«, übers. von Hans-Dieter Gondek, in: Ewald, François/Waldenfels, Bernhard (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 153–162, hier S. 153.
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I. Ökologische Gouvernementalität 1. P rotoökologische M odelle Die Ansätze einer protoökologischen Gouvernementalität lassen sich bereits im 18. Jahrhundert ausmachen, was nicht überraschend ist: Politische Ökonomie und politische Ökologie entstehen aus demselben Bedingungsgefüge, nämlich aus der Regierung und Regulierung der Bevölkerung auf Grundlage wissenschaftlicher Aussageformen. Veranschaulichen lässt sich die Beziehung zwischen ökonomischen und ökologischen Aussageformen anhand der Geschichte des Holzes und insbesondere an dem in diesem Rahmen erfundenen Konzept der Nachhaltigkeit. Nach Joachim Radkau ist die Geschichte des Stoffes ›Holz‹ zwar nicht durchgängig als hemmungslose Ausbeutung verlaufen, denn die Angst vor ›Holznot‹ in der frühen Neuzeit habe auch immer wieder zu einer den Bestand erhaltenden Nutzung, zu Forstordnungen und technischen Neuerungen wie der Verwendung von Holzabfällen geführt.1 Allerdings führten die Verwendung von Bau- und Brennholz, der Holzverbrauch im Schiff bau sowie in Salinen und Montanindustrien zur Verknappung von Holz, so dass im 18. Jahrhundert Klagen über Holzmangel zu einem populären Motiv wurden.2 Nach Radkau handelte es sich im 18. Jahrhundert jedoch weniger um eine ökologische als vielmehr um eine institutionelle Krise: Die Forst- und Holzämter waren durch die Vielfalt der Holznutzer überfordert, die Preise für Holz stiegen, seit es einen Marktpreis erhalten hatte, und das Transportwesen erreichte die Grenzen seiner Kapazitäten.3 Zur ›Holznot‹ gehörte jedoch auch, dass nicht alle gleichermaßen betrof1 | Radkau, Joachim, Holz – Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2007, S. 27–29. 2 | Ebd., S. 150. 3 | Ebd., S. 152.
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fen waren: Vor allem die arme Bevölkerung hatte unter ihr zu leiden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Kopplung des Holzverbrauchs an die technische Entwicklung, das betrifft den Verbrauch von Holz im Verlauf der industriellen Entwicklung genauso wie effektivere Nutzungen, mit denen der Wirkungsgrad gesteigert werden konnte, oder schließlich die Umstellung auf Kohle als Brennstoff, die im 18. Jahrhundert begann.4 Vor diesem Hintergrund wird die Begrenztheit der Ressource ›Holz‹ zum Thema diverser Abhandlungen – man könnte auch sagen: Aufgrund seines Mangels wird ›Holz‹ zu einem zentralen Akteur im ökonomischen Diskurs. So setzt John Evelyns Abhandlung Sylva, or A Discourse of ForestTrees and the Propagation of Timber in His Majesty’s Dominions aus dem Jahr 1662 mit der Befürchtung ein, durch die Holznot könne es zu einer Schwächung, gar Auflösung der englischen Nation kommen. Die offensichtliche Methode, die hier Abhilfe schaffe, sei Säen und Anpflanzen, wobei man die Sorten verwenden müsse, die vielseitig verwendungsfähig seien, wie Eiche, Ulme, Buche, Esche u. a.5 ›Bäume‹ bzw. ›Holz‹ konstituieren damit die, wie Ulrich Grober in seiner Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit formuliert, Ethik einer vorausschauenden Gesellschaft, denn man pflanze die Bäume, damit auch die Nachwelt versorgt sein werde.6 Es gab jedoch auch andere Strategien: Die Engländer verlagerten die Ausbeutung der Wälder in ihre Kolonien, aus denen sie Holz importierten, ersetzten das Holz aber auch durch Kohle, die zum zentralen Akteur der Industrialisierung werden sollte.7 In diesem Kontext entstand das Konzept der ›Nachhaltigkeit‹, das spätestens seit dem Brundtland-Bericht den Leitbegriff der ökologischen Modernisierung bildet.8 Geprägt hat den Begriff der Oberberghauptmann Carl von Carlowitz in seinem Werk Sylvicultura oeconomica (1713), die berühmte Stelle lautet: »Wird derhalben die groeste Kunst, Wissenschaft, Fleiß, und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen, wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuirliche be4 | Ebd., S. 212–217. 5 | Evelyns, John, Sylva, or A Discourse of Forest-Trees and the Propagation of Timber in His Majesty’s Dominions, London 1662, S. 1 f. 6 | Grober, Ulrich, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010, S. 96. 7 | Ebd., S. 96 f. 8 | Brundtland, Gro Harlem u. a. (Hg.), Our Common Future, Oxford 1987.
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staendige und nachhaltende Nutzung gebe, weiln es eine unentbehrliche Sache ist, ohnewelche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag.«9 Carlowitz’ Abhandlung steht im Kontext des Kameralismus und lässt sich damit auch in die Geschichte der Gouvernementalität einordnen. Denn vom Holz hängt die Ernährung, die Erstellung von Gebäuden, Handel sowie Gewerbe und damit die »Wohlfart des Landes« ab.10 Auch den in der Gegenwart noch unsichtbaren zukünftigen Schaden bezieht er mit ein: Denn wenn die Waldungen ruiniert seien, dann blieben die Einkünfte auf unendliche Jahre hinaus zurück, und »das Cammer = Wesen wird dadurch gaentzlich erschoepffet, daß also unter gleichen scheinbaren Profit ein unersetzlicher Schade liege«.11 Die »Schonung« und »conservation« des Holzes12 müsse demnach zum Leitprinzip einer vorsorgenden Regierung werden. Kann somit François Quesnays Formel der ›ökonomischen Regierung‹ mit Foucault als Grundlage der politischen Ökonomie gelten,13 so Carlowitz’ Formel der ›conservation‹ als Grundlage der politischen Ökologie. Indem Carlowitz die Technik des Konservierens konkreter Objekte auf die Bewahrung einer knappen Ressource überträgt, schreibt sich seine Abhandlung in einen protoökologischen Diskurs ein, der sowohl die gegenwärtige als auch zukünftige Begrenztheit und Knappheit von Ressourcen berücksichtigt, auf spezifische Wissensformen wie die Forstwissenschaft oder Techniken wie die Papierherstellung rekurriert und über Konzepte wie ›conservation‹ einen gegen eine pure Naturbeherrschung und -ausbeutung gerichteten kontrahegemonialen Diskurs zumindest ansatzweise entwickelt. Damit steht er keineswegs allein. Zum Beispiel entwickelt 9 | Carlowitz, Carl von, Sylvicultura oeconomica. Hausswirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht, Reprint der zweiten Aufl. 1732, Remagen-Oberwinter 2009, S. 69. 10 | Ebd., S. 63. 11 | Ebd., S. 57. 12 | Carlowitz bezieht sich auf Gott als vorbildlichen Gesetzgeber: »Will man dieser heilsamen Sache, nehmlich der Schonung des Holzes und dessen noethiger conservation nachdencken, so befindet sich, daß der groeßte und allgemeine Gesetz=Geber, der große Gott, selbige befohlen«. So gestatte Gott die Abholzung unfruchtbarer Bäume unter gewisser »Beschrenckung des noethigen Gebrauchs«, dass man aus ihnen nämlich in Kriegszeiten ein Bollwerk errichte, bis die belagerte Stadt eingenommen und der Krieg beendet sei. Ebd., S. 53. 13 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O., S. 144.
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der Jurist Justus Claproth in seiner Abhandlung Eine Erfindung aus gedrucktem Papier wiederum neues Papier zu machen, und die Druckerfarbe völlig heraus zu waschen (1774) ähnliche Ideen, allerdings nicht in Bezug auf die Knappheit von Holz, sondern von ›Lumpen‹, die im Zuge der frühneuzeitlichen Mechanisierung der Papierherstellung zu einer knappen Ressource wurden.14 Schon im späten 15. Jahrhundert stellte man die Ausfuhr der so genannten ›Hadern‹15 unter Strafe, Grenzkontrollen sollten Schmuggel verhindern, Papiermühlen benötigten eine Konzession für das Sammeln von Lumpen, und Preußen zwang im Jahr 1756 die Lumpensammler zum Mitführen eines Lumpenpasses. Claproth wollte dem bestehenden und sich seiner Ansicht nach in Zukunft verschärfenden Lumpen-Mangel zuvorkommen, indem er für die Wiederverwendung des bedruckten Papiers plädierte, das man bisher nur für die Herstellung von Pappe verwendet hatte – folgerichtig war seine Abhandlung auf ›recyceltem‹ Papier gedruckt. Dabei dachte auch Claproth gewinnorientiert: Mit den neuen Verfahren der Papiergewinnung aus Papier könnten unbrauchbare Bücher nicht nur den Mangel an Lumpen ersetzen, sie erhielten auch noch als Ausschussware einen ökonomischen Wert. Während Carlowitz und Claproth ökonomisch denken, kommt es im 19. Jahrhundert zu einer Gegenüberstellung von Ökonomie und Ökologie. Zugespitzt findet sich die Etablierung einer ›ökologischen‹ Position im Werk Henry David Thoreaus, dem »patron saint« des amerikanischen »environmental writing«.16 Kein anderer Autor der Literaturgeschichte amerikanischer Subkultur steht, so Lawrence Buell, »for nature in both the scholarly and the popular mind«.17 In seinen Aufzeichnungen Walden; or, Life in the Woods (1854) hält er der politischen Ökonomie eine economy of living entgegen, die den prakti14 | Vgl. Rieger, Stefan, »Papier«, in: Bühler, Benjamin/ders., Kultur. Ein Machinarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2014, S. 162–178. Allg. zur Papiergeschichte vgl. Tschudin, Peter F., Grundzüge der Papiergeschichte, Stuttgart 2002. 15 | Unter ›Hadern‹ verstand man abgerissene oder abgeschnittene Stücke Zeug, Fetzen, Lumpen oder Kleidungsstücke, die »vor Alter in stücken zerfallen«. Art. »Hader«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 10, Nachdr. d. Erstausg. 1877, München 1999, Sp. 109–114, hier Sp. 112. 16 | Buell, Lawrence, The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture, Cambridge, Mass. 1995, S. 115. 17 | Ebd., S. 2.
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schen Umgang mit Dingen betont. So schreibt Thoreau über das Studium an der Universität: »Even the poor student studies and is taught only political economy, while that economy of living […] is not sincerely professed in our colleges. The consequence is, that while he is reading Adam Smith, Ricardo, and Say, he runs his father in debt irretrievably.« 18 Thoreau sieht in der universitären Ausbildung eine Kluft zwischen dem, was gelernt werden sollte, nämlich der Umgang mit praktischen Dingen, und einem Buchwissen, das sich selbst unterminiert, wenn der Student der Ökonomie seinen Vater in die Schulden treibt. Letzteres ist jedoch nicht nur eine ironische Pointe, denn mit der politischen Ökonomie und ihren namentlich genannten Gründern bringt Thoreau seine Gesellschaftskritik auf den Punkt. Der arbeitende Mensch habe nicht Zeit, er selbst zu sein, er müsse vielmehr wie eine Maschine funktionieren, damit seine Arbeit nicht an Marktwert verliere. Somit aber werde er zum Sklaven seiner eigenen Arbeit und seinem beständigen Streben nach feinerer Kleidung und größeren Häusern, nach Luxus und Überfluss. Thoreau zielt somit auf das Verhalten des Einzelnen, der im Arbeitsprozess seine Individualität verliert. Dagegen setzt Thoreau eine economy of living. Die Alternative zum ›arbeitenden‹ Menschen ist für ihn der ›lebende‹ Mensch, nämlich derjenige, der sich nur um die necessaries of life kümmert, also um Nahrung, Obdach, Kleidung und Heizung: »I learned from my two years’ experience that […] a man may use as simple a diet as the animals, and yet retain health and strength.«19 Der Mensch wird damit zwar nicht zum Tier, das Tier aber in seiner naturgemäßen und einfachen Lebensweise zum Vorbild des Menschen.20 Thoreaus Experiment, über zwei Jahre alleine am Walden Pond zu leben, führt auch den doppelten Aspekt des Regierens vor: Es handelt sich um einen Selbstversuch, mit dem Thoreau zeigen möchte, dass und wie man ein einfaches, unabhängiges, großmütiges und vertrauenswürdiges Leben führen kann.21 Daher sei das Leben, das die meisten Menschen 18 | Thoreau, Henry David, Walden; or, Life in the Woods, 2. Aufl., hg. von William Rossi, New York/London 1992, S. 35. 19 | Ebd., S. 41. 20 | Vgl. zum Tier als Wissensfigur: Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2006. 21 | Thoreau, Walden, a. a. O., S. 9: »[…] a life of simplicity, independence, magnanimity, and trust«.
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führten, keineswegs unvermeidlich, was sie aber erst erkennen müssten: Der Mensch sei ein »slave and prisoner of his own opinion of himself, a fame won by his own deeds«.22 Mit seinem Bericht, der ausdrücklich in der ersten Person verfasst ist, möchte er eine Alternative schaffen: Das praktische Leben in der Natur kann nach Thoreau ein anderes Selbstbild erzeugen und aus den hierbei ausgeübten Techniken des Selbst könnte ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur entstehen, woran Umweltaktivisten vor allem seit den 1970er Jahren auch in praktischer Hinsicht anknüpften.
2. V erne t zung und R egul ation Während Thoreau das Konzept eines ökologischen Regierungswissens auf dem Feld der Literatur entwickelt, haben Biologen den Konflikt zwischen ökonomischer und ökologischer Rationalität an konkreten Objekten herausgearbeitet. Der Leitgedanke der Ökologie bestand von Anfang an in der Vernetzung der Lebewesen, woraus resultiert, dass bereits geringfügige Eingriffe in die biologischen Zusammenhänge weitreichende Wirkungen haben. In seinem für die Limnologie und Ökologie wegweisenden Aufsatz The Lake as a Microcosm (1887) untersucht der Zoologe Stephen A. Forbes die Beziehungen zwischen den Lebewesen eines Sees, der sich nach Forbes als Forschungsobjekt besonders gut eignet, da in ihm ein weitaus vollständigeres und unabhängigeres Gleichgewicht des organischen Lebens besteht als auf einem gleichwertigen Stück Land. Der See forme eine kleine Welt in sich: »[…] a microcosm within which all the elemental forces are at work and the play of life goes on in full, but on so small a scale as to bring it easily within the mental grasp«.23 Aufgrund dieser Geschlossenheit könne man nicht eine Spezies im See für sich allein betrachten. Denn was immer auch mit den Individuen einer Art geschehe, habe Auswirkungen auf die gesamte »assemblage«, wes22 | Ebd., 4. Vgl. auch: »Actually, the laboring man has not leisure for a true integrity day by day«, S. 3. 23 | Forbes, Stephen A., »The Lake as a Microcosm«, in: Bulletin of the Scientific Association (Peoria, IL) (1887), S. 77–87, hier S. 77 (ein Nachdruck ist abrufbar unter: www.wku.edu/~smithch/biogeog/FORB1887.htm, letzter Zugriff: 15.02.2018).
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halb Forbes von der »sensibility« eines solchen organischen Komplexes spricht. Beschäftige man sich zum Beispiel mit dem Schwarzbarsch, müsse man auch die Organismen beobachten, von denen seine Existenz abhänge, damit aber auch deren Existenzbedingungen berücksichtigen. Ebenfalls müssten die Konkurrenten des Schwarzbarschs und das gesamte System der mit ihnen aufgerufenen Bedingungen in die Forschung einbezogen werden. Und nicht zuletzt bezieht Forbes den Menschen als Faktor mit ein, wenn auch nur in negativer Weise. Er untersuche nämlich bewusst die Seen in Illinois, die geschützt seien »from the filth and poison of towns and manufactories by which the running waters of the state are yearly more deeply defiled«.24 Bei Forbes zeigt sich ein zweiter Leitgedanke der Ökologie: Die Beziehungen zwischen den Lebewesen sind zwar stabil, solange sie sich in einem Gleichgewicht befinden, sobald es jedoch zu gravierenden Störungen kommt, kann das System zusammenbrechen. Über die Idee des Gleichgewichts ließe sich die Geschichte der Ökologie bis in die Antike zurückführen, allerdings leistet erst die Naturgeschichte eine Beschreibung der Vielfalt der Natur.25 Nach Trepl verwendet wahrscheinlich der Physikotheologe William Derham erstmals den Begriff ›Gleichgewicht‹ im Jahr 1713 in einem (proto-)ökologischen Zusammenhang, wobei für ihn die Harmonie der Natur der göttlichen Schöpfung zu verdanken ist.26 Ausgearbeitet hat dieses Konzept aber Carl von Linné in seiner Abhandlung Oeconomia Naturae (1749), in der er schreibt: »Unter den Oeconomien der Natur verstehet man des höchsten Schöpfers weise Anordnung der natürlichen Dinge, vermöge der sie zur Hervorbringung der gemeinschaftlichen Zwecke und zur Leistung eines wechselseitigen Nutzens geschickt sind.«27 Jedes Lebewesen nimmt nach Linné einen bestimmten Platz in der Ordnung der Natur ein: Die einen Pflanzen sind kälteempfindlich und leben in den Tropen, die anderen gedeihen in der 24 | Ebd., S. 78. 25 | Vgl. Toepfer, Georg, »Ökologie«, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. Bd. 2: Gefühl – Organismus, Darmstadt 2011, S. 681–713, hier S. 686. Zur Bedeutung der Naturgeschichte für die Ökologie als wissenschaftlichen Typus und als historische Wissensform vgl. ausführlich: Trepl, Geschichte der Ökologie, a. a. O. 26 | Trepl, Geschichte der Ökologie, a. a. O., S. 81. 27 | Linné 1749, zit. n. Toepfer, »Ökologie«, a. a. O., S. 687 f.
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Kälte Sibiriens. Dementsprechend sind die Beziehungen zwischen den Organismen eingerichtet, jede Art diene einer anderen Art, indem sie für ihren eigenen Lebensunterhalt sorge. So leben auf Pflanzen Baumläuse, die von bestimmten Fliegen gefressen werden, von denen sich Hornissen und Wespen ernähren, die von kleinen Vögeln gejagt werden, welche von Falken verfolgt werden. Wie Donald Worster in seiner Ideengeschichte der Ökologie aufzeigt, vereint der Ausdruck ›Ökonomie‹ bei Linné unterschiedliche Begriffstraditionen. Abgeleitet von dem griechischen Wort oikos bezieht sich Ökonomie auf die Einrichtung des Haushaltes, seine Leitung und Organisation; in der theologischen Tradition verweist oeconomia auf die göttliche Fügung, im 17. Jahrhundert bezog sich der Ausdruck häufig auf die göttliche Regierung der natürlichen Welt. Im 18. Jahrhundert nahm der Ausdruck nach Worster diese unterschiedlichen Linien auf und bezeichnete die rationale Ordnung der Natur als ein interagierendes Ganzes.28 Dabei ermöglichte gerade die Ambivalenz des Begriffs ›Ökonomie der Natur‹, d. h. seine religiösen und säkularen Dimensionen, erstere zu kappen. Insofern legte Linné mit seiner Beschreibung der Beziehungen der Organismen die Grundlage für »alle späteren naturwissenschaftlichen Forschungen«.29 Die Leitkonzepte ›Vernetzung der Lebewesen‹ und ›Gleichgewicht‹ sind entscheidende Grundlagen für die Konzeption ökologischer Gouvernementalität, was sich exemplarisch an der Arbeit Die Auster und die Austernwirthschaft, die der Zoologe Karl August Möbius im Jahr 1877 veröffentlichte, aufzeigen lässt. In dieser Auftragsarbeit sollte Möbius die Möglichkeiten einer künstlichen Austernzucht an der deutschen Küste überprüfen. Denn der Ertrag der einst reichen Austernbänke hatte seit den 1850er Jahren weltweit abgenommen, woran auch die künstlich angelegten Austernbänke nichts änderten. Der Grund für die Abnahme der Bestände liegt nach Möbius vor allem in den neuen Verkehrs- und Vertriebsmöglichkeiten. Denn Dampfschiffe und Eisenbahnen ermöglichten die Verbreitung von Austern im Binnenland, was wiederum die Nachfrage nach Austern stark erhöhte.30 Möbius’ Abhandlung zeigt somit am Bei28 | Worster, Donald, Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas, Cambridge 1977, S. 37. 29 | Toepfer, »Ökologie«, a. a. O., S. 688. 30 | Möbius, Karl August, Die Auster und die Austernwirthschaft, Berlin 1877, S. 91.
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spiel der Austernbänke die Folgen des Modernisierungsprozesses auf, so wird die Eisenbahn zum entscheidenden Faktor: »Während vor der Zeit der Eisenbahnen die fallenden Marktpreise die Austernfischerei zu Gunsten eines guten Bestandes der Bänke regulirten, reizten in dem Zeitalter der Eisenbahnen die immer höher gehenden Austernpreise die Fischer dazu, ihre Bänke zu erschöpfen.«31 Möbius’ biologische Untersuchung geht somit von dem ökonomischen Befund aus, dass die freien Regeln des Marktes – mit der steigenden Nachfrage steigen die Preise – zu einer »schonungslos[en]« Befischung führten, bis sich die Austernbänke nicht mehr ausreichend regenerieren konnten.32 Eine ›gute‹ Austernwirtschaft dagegen habe ihr Ziel darin, »in ihrem Gebiete einen möglichst hohen Ertrag auf die Dauer zu gewinnen«.33 Hier habe der Biologe einzusetzen, denn die amtlichen Berichte über die Austernwirtschaft enthielten keine oder nur zerstreute Angaben über die Eigenschaften und Lebensbedingungen der Auster – ohne dieses Wissen über die Population aber könne es auch keine ökonomische Erschließung geben, anders gesagt: Nur wenn die Austernbänke in einem Gleichgewichtszustand erhalten werden, kann der maximale ökonomische Nutzen gewonnen werden. Möbius’ Schlüsselbegriff lautet »Biocönose«. Denn die Wissenschaft besaß ihm zufolge noch kein eigenes Wort für eine solche Gemeinschaft von lebenden Wesen, für eine den durchschnittlichen äußeren Lebensverhältnissen entsprechende Auswahl und Zahl von Arten und Individuen, welche sich gegenseitig bedingen und durch Fortpflanzung in einem abgemessenen Gebiete dauernd erhalten. Ich nenne eine solche Gemeinschaft Biocoenosis oder Lebensgemeinde. 34
Möbius bezieht in diesen Begriff sowohl die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen als auch die physikalischen Faktoren ein, denn Faktoren wie der Sandgrund und der schlickige Boden in der Nordsee schränken die Ausbreitung der Austern ein, und in der Ostsee gibt es zwar einen schlickfreien Meeresgrund, allerdings ist der Salzgehalt des Wassers für die Fortpflanzung der Austern zu niedrig, die niedrige Wintertemperatur 31 | Ebd., S. 91 f. 32 | Ebd., S. 89. 33 | Ebd., S. 107. 34 | Ebd., S. 76.
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dauert zu lange an, und es fehlen die Gezeitenströmungen, die den festsitzenden Tieren Sauerstoff und Nahrung zuführen. Aus der Betrachtung der Beziehungen zwischen Tieren, Pflanzen und Umweltfaktoren gelangt Möbius zu der Einsicht, dass jede Veränderung irgendeines mitbedingenden Faktors einer Biozönose Veränderungen anderer Faktoren derselben bewirke. Die Eingriffe des Menschen verändern in diesem Sinn diese Lebensgemeinschaften, was nur durch weitere Eingriffe ausgeglichen werden könne. So führe die Überfischung der Austern zur Vermehrung von Herz- und Miesmuscheln, denen nun mehr Raum zur Verfügung stehe, was durch das Wegfischen der Muscheln ausgeglichen werden müsse. Im Gegensatz zu Thoreau, der eine ›naturnahe‹ Lebensweise zum Paradigma erheben möchte, betrachtet Möbius das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie als ein Regulierungsproblem. Die Austernbänke fungieren als ein Exempel, wie in seinem Vorwort deutlich wird: »Ich glaube, deutlich gemacht zu haben, dass eine gesunde Austernwirthschaft dieselben Regeln zu befolgen hat, wie jede andere Massenkultur lebendiger Wesen.«35 Gegenstand ist demnach die Biozönose, die der Regulierung bedarf – so ist nach Möbius die künstliche Vermehrung von Kulturpflanzen und Haustieren die Grundlage für die Steigerung der Fortpflanzungsrate des Menschen, für die »Ausdehnung des biocönotischen Gebiets der Species Homo sapiens«.36 Austernbänke erscheinen insofern nicht als ein peripherer Gegenstand der ökonomischen Nutzung des Menschen, sondern vielmehr als Vorbild für die ökologische Organisation menschlicher Populationen. Möbius’ Beschäftigung mit den global verbreiteten Austernbänken begründet die Ökologie nicht einfach deshalb, weil er einen neuen Begriff einführt, sondern weil er am Beispiel der Austernbänke die Notwendigkeit der Regulierung einer ›Massenkultur lebendiger Wesen‹ vorführt. Während sich jedoch Biozönosen ohne Menschen selbst regulieren, müssen die Eingriffe des Menschen auch vom Menschen ausgeglichen werden bzw.: Es sind nicht konkrete, einzelne Handlungen, die die Austernbänke in ein ihren Selbsterhalt gefährdendes Ungleichgewicht bringen, sondern neue Technologien, Infrastrukturen und Marktbedingungen, was man mit dem Soziologen Ulrich Beck als »reflexive Modernisierung« 35 | Ebd., S. iv. 36 | Ebd., S. 84.
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bezeichnen kann: Reflexiv ist der Modernisierungsprozess, weil es nicht mehr um die »Nutzbarmachung der Natur« oder die »Herauslösung des Menschen« aus traditionellen Zwängen geht, sondern vor allem um die »Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung«, also Risiken, die aus dem Einsatz moderner Technologien entstehen und die insofern neu sind, als sie nicht mehr an den Ort ihres Entstehens gebunden sind und, denkt man etwa an die globale Erwärmung, das Leben auf der gesamten Erde in all seinen Erscheinungsformen gefährden.37 Der Mensch ist somit für die ökologischen Probleme verantwortlich, allerdings lassen sich in der Regel keine einfachen kausalen Beziehungen herstellen – außer es geht um Fälle wie die Lagerung chemischen Mülls in Wohngebieten oder den Einbau betrügerischer Software in Autos. Möbius, der die Nebenfolgen des Eisenbahnausbaus hervorhebt, sieht daher den Staat in der Verantwortung: »Die Erhaltung der Austernbänke gehört ebenso zu den Aufgaben des Staates wie die Erhaltung der Waldungen.«38 Demnach hat der Staat die ›Massenkultur lebendiger Wesen‹ so zu regulieren, dass die menschliche Bevölkerung, ebenfalls eine ›Massenkultur lebendiger Wesen‹, den größten Nutzen daraus zieht. So dürfe das jährliche Maß der Befischung weder durch die Nachfrage der Konsumenten noch durch die Höhe der Austernpreise bestimmt werden, sondern allein durch die Menge des Zuwachses. Möbius zeigt somit auf, dass erstens zuerst Wissen gewonnen werden muss, um, wie in diesem Fall, Nahrungsgrundlagen zu sichern. Zweitens stellt es einen fundamentalen Unterschied dar, ob dieses Regierungswissen auf der politischen Ökonomie oder der politischen Ökologie basiert: Während erstere den freien Marktmechanismen Priorität zuschreibt, setzt letztere auf starke Regulierungsinstanzen. Der hier erscheinende Widerspruch lässt sich als weiterer Grundzug der politischen Ökologie ausmachen. Denn sie verknüpft komplexe Regulationstheorien – schließlich sollen die vielfältigen Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt beschrieben und analysiert werden – mit der Forderung nach zentraler Steuerung der ökologischen Systeme. Auf der einen Seite zeigt sie auf, von wie vielen unterschiedlichen und 37 | Ausführlich zu den Nebenfolgen des Modernisierungsprozesses: Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; ders., Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a. M. 2007. 38 | Möbius, Die Auster und die Austernwirthschaft, a. a. O., S. 125.
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miteinander in vielfältigen Beziehungen stehenden Faktoren eine Biozönose oder ein Ökosystem abhängt, weshalb bereits die geringfügige Variation eines Faktors unvorhersehbare Auswirkungen haben kann, auf der anderen Seite scheinen die ökologischen Probleme die Etablierung eines starken Zentrums zu erfordern, das strikte Eingriffe und Kontrollen durchführt. In diesem Dilemma zwischen Pluralismus und Zentralismus verbirgt sich die demokratieskeptische Tendenz vieler – aber natürlich nicht sämtlicher! – politischer Ansätze im Feld der Ökologie.
3. K omple xe Ö kosysteme und autoritäre P olitik Die Kopplung höchst komplexer und abstrakter Theoriebildungen mit zentralistischen Steuerungskonzepten zeigt sich an dem für die Ökologie bis heute zentralen Begriff ›Ökosystem‹. Eingeführt hat diesen Begriff der Botaniker Arthur Tansley in seinem Aufsatz »The Use and Abuse of Vegetational Concepts and Terms« (1935), in dem er zuerst eine Reihe möglicher Kandidaten für die Beschreibung überindividueller Einheiten diskutiert u. a. Organismus, quasi-Organismus, Biozönose, sie dann aber verwirft. Für ihn ist nämlich entscheidend, dass Pflanzenformationen, die den Gegenstand der damaligen Diskussion bildeten,39 nicht den Entwicklungsgesetzen eines einzelnen Organismus folgen. Nach Tansley handelt es sich bei der Sukzession, der natürlichen Abfolge von Lebensgemeinschaften auf einem bestimmten Territorium, zum Beispiel nach einem Waldbrand, nicht um einen Reifungsprozess, sondern um eine »sequence of phases«, welche zu unterschiedlichen Endzuständen führen könne.40 So bezeichnet er Einheiten wie Pflanzengemeinschaften »simply as systems«,41 wobei er ›System‹ im Sinne der Physik versteht. Die Komponenten des ecosystem seien Pflanzen und Tiere sowie der gesamten Kom39 | Zur Rolle der Botanik in der Entstehung der Ökologie vgl. McIntosh, Robert P., The Background of Ecology. Concept and Theory, Cambridge 1985, S. 29–32; Trepl, Geschichte der Ökologie, a. a. O., 159–162. 40 | Ebd., S. 286. Zur ›Sukzession‹ als futurischem Begriff vgl. Bühler, Benjamin, »Ökologie«, in: ders./Willer, Stefan (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn 2016, S. 431–441. 41 | Tansley, Arthur G., »The Use and Abuse of Vegetational Concepts and Terms«, in: Ecology 16 (1935), S. 284–307, hier S. 297.
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plex der physikalischen Faktoren. Ökosysteme sind in diesem Verständnis selbstregulierende und -organisierende Systeme, allerdings aufgrund ihrer variablen Komponenten (Klima, Boden, Organismen) instabil und daher »extremely vulnerable«.42 Mit dem Systembegriff hat die Ökologie ihren Gegenstand generiert. Im Zentrum steht nun mit der Beschreibungssprache der Kybernetik der dynamische Gleichgewichtszustand von Ökosystemen. Tansleys Aufsatz blieb auf der theoretischen, sprachlichen Ebene, er selbst setzt den Begriff ecosystem in seinen wissenschaftlichen Arbeiten nicht ein. Damit dieser Ausdruck seine Erfolgsgeschichte antreten konnte, musste sich erst ein Forscher einem See widmen: Raymond L. Lindeman begann in den 1930er Jahren seine Arbeiten am Cedar Creek Bog in Minnesota, aus denen der wegweisende Aufsatz »Trophic-Dynamic Aspects of Ecology« (1942) entstehen sollte. Lindeman knüpft an Tansleys Begriff ecosystem an und betrachtet demgemäß den See als »a primary unit in its own right«, zumal die Unterscheidung zwischen lebenden Organismen (›biotic community‹) und toten Organismen sowie anorganischen Nährstoffen (›environment‹) willkürlich und unnatürlich erscheine.43 Gegen eine solche Trennung setzt Lindeman die Reformulierung sämtlicher biologischer Größen als energetische Größen. Um demnach eine quantitative Formulierung zu finden, verwendet er den Begriff der Produktivität: λ 0 gibt die Rate der Sonneneinstrahlung an, λ1 die Rate photosynthetischer Produktion, λ2 die Rate des primären Verbrauchs, λ3 die Rate des sekundären Verbrauchs und λ 4 die Rate des tertiären Verbrauchs. Auf diese Weise lässt sich mathematisch recht einfach die Produktivität jedes Levels (abzüglich der Energieverluste durch Atmung, Jagd und Dekomposition) ebenso berechnen wie die jeweilige biologische Effektivität, ausgedrückt durch das Verhältnis der Produktivität einer Ebene zu derjenigen der vorherigen Ebene. Dass Lindemans Aufsatz explosives Potential enthielt, zeigt sich an den Schwierigkeiten seiner Publikation.44 Zwei Gutachter, die prominen42 | Ebd., S. 301. 43 | Lindeman, Raymond L., »The Trophic-Dynamic Aspect of Ecology«, in: Ecology 23, 4 (1942), S. 399–417, hier S. 399. 44 | Im Folgenden wird Bezug genommen auf: Cook, Robert, E., »Raymond Lin deman and his Trophic-Dynamic Concept in Ecology«, in: Science 198 (1977), S. 22–26.
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ten Limnologen Chancey Juday und Paul Welch, rieten von einer Veröffentlichung in der Zeitschrift Ecology ab: Für den einen enthielt der Text zu wenig Datenmaterial, der Verfasser spreche selbst von »imaginary lakes«, für den anderen war der Text zu essayistisch. Erst die Intervention des ›Vaters der modernen Limnologie‹ George E. Hutchinson führte zu einer Wende, dabei argumentierte Hutchinson gerade mit dem theoretischen Gehalt des Aufsatzes: Für ihn seien weitreichende Hypothesen, die man anhand aktueller Daten teste könne und die, falls bestätigt, signifikante Verallgemeinerungen abgeben könnten, sehr viel wertvoller als die endlose Zahl von Papieren, die anzeigten, dass eine Menge nicht aufeinander bezogener Beobachtungen gemacht wurde. Lindemans Transformation eines Sees in ein System energetischer Größen wird solchermaßen zum Symbol der theoretischen Wende der Ökologie. Der System-Begriff leistet über die Quantifizierung eine Verwissenschaftlichung und durch die abstrakte Beschreibung die Universalisierung der Ökologie. Sie wird damit im Verein mit der Allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik zu einer Leitmetapher von Komplexitätstheorien, denn sie spricht nicht mehr von ›Lebensgemeinschaften‹, bezieht sich nicht auf vitalistische Modelle von ›Ganzheit‹ und verwendet (in der Regel) auch nicht organische Metaphern, sondern entwickelt abstrakte Modelle zur Beschreibung, Analyse und Manipulation komplexer Systeme. Einer der ersten, der den Ausdruck in einem solchen Sinn verwendet, ist der Anthropologe Gregory Bateson in seinem Buch Ecology of Mind (1972). Bateson verwendet den Ausdruck ›Ökologie‹ als eine epistemologische Kategorie, die die Dynamik ökologischer Krisen als Wechselwirkungen zwischen Technologien, Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum, Hungersnöten, Kriegen und menschlicher Hybris beschreibt.45 Eine »gesunde Ökologie der menschlichen Zivilisation« ist für Bateson ein »einziges System der Umwelt, verbunden mit hoher menschlicher Zivilisation, in dem die Flexibilität der Zivilisation auf die Umwelt abgestimmt sein soll, um ein fortlaufendes komplexes System zu bilden, das für langsame Veränderungen selbst grundlegender […] Charakteristika offen ist«.46 Daher fungieren für Bateson ›Erkenntnistheorie‹ und ›Ökologie 45 | Vgl. das Schaubild: Bateson, Gregory, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven [1972], übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt a. M., 7. Aufl. 1999, S. 630. 46 | Ebd., S. 512.
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des Geistes‹ als Synonyme. Bateson gebraucht den Ausdruck ›Ökologie‹ somit als Modell für komplexe Entitäten. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine metaphorische Übertragung, denn der Ökosystem-Begriff beschreibt nichts anderes als Wechselwirkungen zwischen miteinander vernetzten Elementen. Daher musste die Ökosystem-Theorie geradezu zwangsläufig über ihren Charakter als biologische Disziplin hinausgehen. Für Howard T. Odum, einem prominenten Vertreter dieses Ansatzes, versteht es sich von selbst, dass Ökosysteme Netzwerke von Komponenten und Prozessen sind, »[that] include humans and human-manufactured machines, units, or organization such as industry, cities, economic exchanges, social behavior, and transportation, communication, information processing, politics, and many others«.47 Während diese Netzwerke und Beziehungen hochgradig komplexer mathematischer und statistischer Analysen bedürfen, sind die politischen Ableitungen in dem von seinem Bruder Eugene P. Odum verfassten populärwissenschaftlichen Buch Ecology and Our Endangered Life-Support Systems einfacher gefasst. Nach E. P. Odum sind zukünftige Entwicklungen nicht zuverlässig vorhersagbar, weshalb es am wichtigsten sei, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer unerwünschten Zukunft zu reduzieren.48 Dass diese Maßnahmen so umfassend sind wie der ökologische Gegenstandsbereich selbst, wird schnell deutlich. Denn das Bevölkerungswachstum und der verschwenderische Umgang mit Ressourcen führten nicht nur zu Umweltproblemen, sondern auch zu sozialen Konflikten. Weil nach E. P. Odum die Sukzessionen menschlicher Gesellschaften nicht genetisch bestimmt sind, sondern aufgrund von Rückkopplungsmechanismen von Phase zu Phase voranschreiten, ist es für ihn unvermeidlich, Politik, Ökonomie und Ethik zusammenwirken zu lassen: Auch wenn E. P. Odum in seinen Forderungen vorsichtig bleibt, wird doch deutlich, dass die Prognosen einen grundlegenden Wandel der sozialen Ordnung nötig machen. So leitet E. P. Odum aus den zwischen 1971 und 1981 aufgestellten Zukunftsszenarien ab, dass eine stärkere politische Führung notwendig sei.49 47 | Odum, Howard T., Systems Ecology. An Introduction, New York u. a. 1983, S. 17. 48 | Odum, Eugene P., Ecology and Our Endangered Life-Support Systems, Sunderland, Mass. 1989, S. 257. 49 | Ebd., S. 262.
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Eine ähnliche Tendenz, Komplexität mit politischen Mitteln zu reduzieren, findet sich bei dem Philosophen Hans Jonas, der 1979 sein wirkmächtiges philosophisch-ethisches Werk Das Prinzip Verantwortung (1979) vorlegte. Jonas entwickelt darin eine Ethik, die die »globale Bedingung menschlichen Lebens und die ferne Zukunft ja Existenz der Gattung« berücksichtigt, was bisher noch keine Ethik geleistet habe.50 Das zukünftige Überleben der Menschheit wird zur unhintergehbaren und absoluten Grundlage der Ethik und letztlich auch Politik, denn der neue ethische Imperativ müsse lauten: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.«51 Nach Jonas kann man zwar »Nahprognose[n]« über das Verfahren wissenschaftlicher Extrapolation erstellen, »Fernprognose[n]« sind jedoch weitaus problematischer aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher und biosphärischer Wirkungsganzheit sowie der »Nicht-Vorerfindbarkeit« künftiger Erfindungen.52 Diese Zukunftsungewissheit beantwortet Jonas mit einem ethischen Grundsatz, der lautet: Der Unheilsprognose ist größeres Gewicht zu geben als der Heilsprognose, was er als eine »Heuristik der Furcht« bezeichnet.53 Die Reduktion des futurischen Möglichkeitsfeldes auf eine Unheilsprognose führt jedoch zu demokratiekritischen Konsequenzen: In der »kommenden Härte«54 einer Politik verantwortlicher Entsagung sei die Demokratie zumindest zeitweise untauglich, denn bei ihr führten notwendigerweise die Gegenwartsinteressen das Wort. Nur eine Elite kann nach Jonas die Zukunftsverantwortung übernehmen, wofür sie aber auch mit Macht ausgestattet werden müsse, diese auszuüben.55 50 | Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation [1979], Frankfurt a. M. 2003, S. 28. 51 | Ebd., S. 36. 52 | Ebd., S. 66. 53 | Ebd., S. 70 f. und 65. 54 | Ebd., S. 269. 55 | Vgl. dazu Nennen, Hans-Ulrich, Ökologie im Diskurs. Zu Grundfragen der Anthropologie und Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften, Opladen 1991. Nennen geht u. a. ein auf Jonas’ Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in der Jonas eine Lesart abzuwehren versucht, gemäß der seine Formulierung vom drohenden »Gespenst der Tyrannei« als Empfehlung
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4. Z ukunf t der B e völkerung Von ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert an zeichnet sich die Ökologie dadurch aus, dass sie sich mit kollektiven Lebensformen beschäftigt, mit Pflanzenformationen, Biozönosen, Lebensgemeinschaften oder Ökosystemen. Wie aufgezeigt, ist die menschliche Bevölkerung nicht einfach ein weiteres Objekt der Ökologie, sie bildet vielmehr immer schon ein Teilelement ihres Gegenstandsbereichs. Die verstärkte Fokussierung der Bevölkerung setzt vor allem seit den 1950er Jahren ein,56 wobei es in den 1970er Jahren zu einer gesteigerten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Umweltprobleme kommt, weshalb man hier auch von einer »ökologischen Epochenschwelle« spricht.57 ausgelegt worden sei. Es habe sich aber um eine Warnung gehandelt, insofern sich die Freiheit selbst zerstöre, »wenn sie es mangels rechtzeitiger Selbstzucht zu Extremsituationen kommen« lasse. Keinesfalls habe er an »charismatische Führer« gedacht (Hans Jonas zit. n. ebd., S. 195). Wie Nennen ausführt, bleibt trotz dieser »Richtigstellung« Jonas’ Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Demokratie unüberhörbar, in seiner Rede würden die Prämissen seiner politischen Implikationen nochmals erneuert. Ebd., S. 197. 56 | Christian Pfister (»Das ›1950er Syndrom‹: Zusammenfassung und Synthese«, in: ders. [Hg.], Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995, S. 21–47) versteht unter dem »1950er Syndrom«, dass in diesem Zeitraum zwar Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung massiv zunahmen, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aber Wohlstandssteigerung, Prosperität und Demokratisierung im Vordergrund standen. 57 | Dabei handelt es sich auch um eine Selbstbeschreibung: Im Jahr 1970 erscheint Max Nicholsons Buch The Environmental Revolution und Hubert Weinzierl veröffentlicht in demselben Jahr ein Buch mit dem Titel Die große Wende im Naturschutz. Zu den zitierten Formulierungen und zum kritischen Umgang mit der Zäsur 1970 bzw. auch 1972 oder 1973 vgl. Sieferle, Rolf-Peter, Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 248 ff.; Kupper, Patrick, »Die ›1970er Diagnose‹«, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325–348, hier S. 328; Uekötter, Frank, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003, S. 389 ff.; Hünemörder, Kai, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004; Brüggemeier, Franz-Josef/Engels, Jens Ivo, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Natur und Umweltschutz in Deutschland nach 1945. Konzepte, Konflikte,
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Die Ausbreitung, Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der politischen Ökologie hat ein zentrales Element in der Prognostik: Wissenschaften wie die Ökologie, Demographie oder Statistik liefern Vorhersagen, auf die sich dann wiederum Akteure der Umweltbewegung berufen; die Adressierung der ›kommenden Generationen‹ wird eine zentrale Legitimationsstrategie für gegenwärtige Handlungen und für die Ausbildung einer neuen Ethik; Sprechakte des Drohens, Warnens oder Aufforderns zielen auf individuelle und kollektive Verhaltensänderungen; Zukunftsfiktionen ermöglichen das Austesten von Hypothesen, die Darstellung geschichtsphilosophischer Theorien oder schlicht die Entfaltung ökologisch-apokalyptischer Szenarien. Wie Zukunftsszenarien als Regulative politischen Handelns fungieren, sollen im Folgenden einige Beispiele zeigen. Im Jahr 1948 veröffentlicht der amerikanische Behaviorist und Erfinder der operanten Konditionierung Burrhus F. Skinner einen utopischen Roman mit dem Titel Walden Two, den er als eine doppelte Erweiterung von Thoreaus Walden versteht: Er wollte Thoreau für das 20. Jahrhundert aktualisieren und ihn um das Element des Sozialen erweitern. Skinners Walden II ist nicht für eine Person gedacht, sondern für eine »experimental community«.58 Zwar sei sein Roman kein Handbuch für Hippies, aber durchaus ein Beitrag zum problematisch gewordenen Verhältnis von Mensch und Natur. Angesichts der Vergrößerung der Städte, der Ausbeutung der Ressourcen und der Umweltverschmutzung bräuchte es einen neuen way of life: The choice is clear: either we do nothing and allow a miserable and probably catastrophic future to overtake us, or we use our knowledge about human behavior to create a social environment in which we shall live productive and creative lives and do so without jeopardizing the chances that those who follow us will be able to do the same. 59
Auf der Grundlage der behavioristischen Verhaltenstechnik soll eine soziale Umwelt erschaffen werden, in der Menschen sich entfalten könKompetenzen, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 10–19; Radkau, Joachim, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 124 ff. 58 | Skinner, Burrhus F., »Walden II revisited«, in: ders., Walden Two. With a New Introduction by the Author, New York 1976, S. x. 59 | Ebd., S. xvi.
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nen – und zwar tatsächlich alle Menschen.60 Skinner glaubte, mit der Anwendung seiner Forschungen die Zukunft der Menschheit retten zu können. Der Königsweg hierfür ist nach Skinner der Behaviorismus, denn die experimentellen Methoden zur Vorhersage und Kontrolle komplexer Verhaltensweisen bei Ratten und Tauben ließen sich auch auf den Menschen anwenden.61 Die Übertragung der Verhaltenssteuerung von Ratten und Tauben auf Menschen kann Skinner nur in einem literarischen Gedankenexperiment durchführen, dem dann die Umsetzung in die Realität folgen sollte. Auch wenn Skinner die Wirkung seines Romans übertreiben mag, wurden nach dem Vorbild von Walden II tatsächlich experimentelle Gemeinschaften gebildet. Zum Beispiel gründeten im Jahr 1973 sieben Personen, darunter einige behavioristische Psychologen, die »Walden Two community« Los Horcones in Mexiko mit dem Ziel, einen alternativen Lebensstil auf der Grundlage von Kooperation, Pazifismus, Gleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit zu entwickeln, und zwar durch die Anwendung der Verhaltensforschung im Sinne Skinners.62 Was der Psychologe Skinner auf dem Feld der Literatur ausbuchstabiert, diskutiert der Autor Aldous Huxley in seinem politischen Essay The Politics of Ecology. The Question of Survival (1963), in dem er eine Gefährdung der Demokratie durch Bevölkerungswachstum, die Aufrüstung atomarer Waffen und die Zentralisierung politischer Macht ausmacht. Zugespitzt fragt Huxley: »How does the human race propose to survive 60 | Im Hintergrund dieser Utopie steht James Watsons berühmtes Gedankenexperiment: »Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, daß ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe: zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.« Watson, John B., Behaviorismus. Ergänzt durch den Aufsatz »Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht«, hg. von Carl F. Graumann, übers. von Lenelis Kruse, Frankfurt a. M. 1976, S. 123. 61 | Vgl. Bühler, Benjamin, »Ratte«, in: ders./Rieger, Stefan, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2006, S. 200–208. 62 | Siehe die Homepage der Community: www.loshorcones.org (letzter Zugriff: 15.02.2018). Vgl. auch den informativen Wikipedia-Artikel: »Los Horcones«, https://en.wikipedia.org/wiki/Los_Horcones (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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and, if possible, improve the lot and the intrinsic quality of its individual members?«63 Die einzige Lösung besteht für Huxley in einer Umstellung der Grundlagen des politischen Systems, nämlich seine Ausrichtung auf die basalen biologischen Aspekte der menschlichen Situation, das heißt Anerkennung der ökologischen Beziehungen, in denen der Mensch lebt. Huxley formuliert damit das Paradox, das die Basis der politischen Ökologie bildet: Der Umgang mit ökologischen Problemen muss und soll im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung geschehen. Es gilt aber auch: Eine Lösung ökologischer Probleme ist im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung nur schwer möglich. So zeigt Huxleys Essay, dass man für eine demokratische Lösung ökologischer Probleme plädieren kann und dabei zugleich einer demokratischen Lösung die Grundlagen entzieht. Denn Huxleys Überlegungen machen das zukünftige Überleben der Menschheit zum ultimativen Fluchtpunkt politischen Handelns. Damit zieht eine ›ökologische‹ necessitas in die Politik ein: Angesichts die Menschheit bedrohender Prozesse wie Bevölkerungswachstum, Wassermangel oder globaler Erwärmung mit all ihren Folgewirkungen scheint es keine Wahlmöglichkeiten mehr zu geben, politisches Handeln wird ›alternativlos‹. In Erscheinung tritt hier keine Biopolitik, die Foucault auf die Formel »leben machen, sterben lassen« brachte, sondern eine politische Ökologie, für die eine andere Formel gilt: »leben erhalten, sterben lassen« oder schlicht: »überleben«. Was für eine Politik aus einer solchen regulativen Idee entstehen kann – aber nicht muss! – zeigt die von dem Biologen Paul R. Ehrlich, Verfasser des Buches The Population Bomb (1968), und seinen Mitstreitern Ende der 1960er Jahre entwickelte Humanökologie. Ausgangspunkt ist – wie in der politischen Ökonomie – die Abhängigkeit der Bevölkerung von variablen Umweltfaktoren, wozu P. R. Ehrlich und Anne H. Ehrlich in ihrem Buch Population, Ressources, Environment. Issues in Human Ecology (1970) Faktoren zählen wie soziale Verhältnisse, Bildungsniveau, Städteplanung, Energietechnik oder Verkehr. Nachdem die Autoren Geburtenund Sterbeziffern, Wachstumsraten, die Geschichte des Bevölkerungswachstums, Altersstruktur, Bevölkerungsdichte u. a. untersucht sowie Prognosen über die zukünftige Bevölkerungsgröße, -dichte und -ver63 | Huxley, Aldous, The Politics of Ecology. The Question of Survival (An Occasional Paper on the Free Society), hg. von Center for the Study of Democratic Institutions, Santa Barbara, 1963, S. 6.
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teilung aufgestellt haben, widmen sie sich den begrenzenden Faktoren: Raum, Wärme, verfügbare Energie, Bodenschätze, Wasser und Nahrung. Gemäß ihrer Einschätzung ist die Erde überbevölkert, was drastische Folgeprobleme nach sich ziehen könne, nämlich Umweltzerstörung, Nahrungsmangel und die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines thermonuklearen Krieges.64 Gegenmittel sei die Bevölkerungskontrolle, die aber allein nicht ausreichen könne, denn Probleme wie Armut, Rassenspannungen, Großstadtelend und Umweltzerstörung würden weiterbestehen mit Auswirkungen auf die Bevölkerungsgröße und -struktur. Nach Ehrlich und Ehrlich muss daher das amerikanische Wirtschaftssystem mit den »ökologischen Realitäten und mit der Situation der Weltvorräte in Einklang« gebracht werden.65 Gleichwohl ist die Eindämmung der ›Bevölkerungsbombe‹ für Ehrlich eine unhintergehbare Notwendigkeit. So entstand zum Beispiel im Jahr 1968 die Organisation Zero Population Growth, die bis heute existiert. Ihre Ziele haben sich wie ihr Name – heute lautet er Population Connection – nur geringfügig geändert, das aktuelle »Mission Statement« lautet: »Overpopulation threatens the quality of life for people everywhere. Population Connection is the national grassroots population organization that educates young people and advocates progressive action to stabilize world population at a level that can be sustained by Earth’s resources.«66 Dass dieses politische Programm auf einem apokalyptischen Narrativ gründet, verdeutlicht Ehrlichs Zukunftsfiktion »Eco-catastrophe!« (1969).67 In diesem Text beschreibt er, wie die Welt in zehn Jahren aussehen könnte, wenn die gegenwärtige Umweltzerstörung fortgesetzt würde. Ausgangspunkt des Artikels ist die wissenschaftliche Beobachtung von Zeichen, die die kommende Katastrophe ankündigten, die aber ignoriert würden, etwa die Verringerung photosynthetischer Aktivität bei marinen Pflanzen durch DDT oder das schon jetzt zu beobachtende Verschwinden von 64 | Hier zit. n. der deutschen Ausgabe: Ehrlich, Paul R./Ehrlich Anne H., Bevölkerungswachstum und Umweltkrise. Die Ökologie des Menschen, übers. von Jochen Schatte, Frankfurt a. M. 1972, S. 427. 65 | Ebd., S. 428. 66 | Population Connection, »Mission and Programs«, www.populationconnection. org/us/mission/ (letzter Zugriff: 15.02.2018). 67 | Ehrlich, Paul, »Eco-catastrophe!«, in: Ramparts Magazine (Sept. 1969), S. 24–28.
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Fischen. Dabei sagt der Artikel selbst eine Zukunft voraus, in der seine eigene Zeichenhaftigkeit als ernstzunehmende Ankündigung gelesen werden wird: In der Zukunft werde man wissen, dass ein kalifornischer Ökologe 1969 den Begriff ›Eco-catastrophe‹ erfunden habe, um den unglaublichen Angriff des Menschen auf die Systeme zu beschreiben, die seine Lebensgrundlage bilden. Damit versteht er seinen Text im Sinne einer ›suicidal prophecy‹: Er entwirft ein Zukunftsszenario, um in der Gegenwart Handlungen, hier: Bevölkerungskontrolle, in Gang zu bringen, die das Eintreffen der von ihm vorhergesagten Zukunft verhindern. Solche apokalyptischen Fiktionen gehören bis heute zum festen Inventar der politischen Ökologie. Die in populärwissenschaftlichen Schriften wie Ehrlichs Population Bomb (1968) oder Filmen wie Roland Emmerichs 2012 (2009) entworfene »Ökologie der Angst«68 hat der französische Philosoph Alain Badiou heftig kritisiert: Die Ökologie werde hier zum neuen Opium des Volkes.69 Diese Formel haben unter anderem Slavoj Žižek und Eric Swyngedouw aufgegriffen und weitergedacht. Nach Žižek könnte die ›Ökologie der Angst‹ zur bestimmenden Ideologie des Kapitalismus werden und damit die absterbenden Religionen ersetzen. Die Ökologie fungiere als »unhinterfragbare Autorität«, die in der Lage sei, Grenzen zu setzen, indem sie uns unsere Endlichkeit aufzeige, da wir in eine Biosphäre eingebettet seien, die unseren Horizont bei Weitem überschreite.70 Mit der ›Ökologie‹ als hegemonialer Ideologie sei daher gar kein radikaler Wandel mehr wünschbar, könnte doch jeder Wandel zur Katastrophe führen. 68 | Geprägt hat diesen Ausdruck Mike Davies mit seinem provokanten Buch Ecology of Fear. Los Angeles and the Imagination of Disaster, übers. von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke und Gerlinde Schermer-Rauwolf, New York 1998. Davies geht es aber nicht um eine Kritik an Katastrophenimaginationen, vielmehr prognostiziert er gerade für Los Angeles eine kommende Katastrophe. 69 | »Let’s start by saying that after ›the rights of man‹, the rise of ›the rights of Nature‹ is a contemporary form of the opium of the people. It is an only slightly camouflaged religion«. Badiou, Alain, »Life Badiou. Interview with Alain Badiou, Paris, December 2007«, in: Feltham, Oliver, Alain Badiou: Live Theory, London/ New York 2008, S. 136–139, hier S. 139. 70 | Žižek, Slavoj, »Das Ökologische – Neues Opium für das Volk«, in: Grazer Architektur Magazin. Schwerpunkt: Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape 7 (2001), S. 33–51, hier S. 42.
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Der aus der ›Ökologie der Angst‹ resultierende Schlüsselbegriff lautet nach Erik Swyngedouw ›Nachhaltigkeit‹, der sich zugleich auf »alles und nichts« beziehe.71 Allein die Nennung von ›Nachhaltigkeit‹ garantiere, dass die Ängste angesichts ökologischer Bedrohungen ernst genommen würden, allerdings erzeuge der Begriff einen »phantasmagorischen Raum«, der die echte politische Dimension durch einen Rahmen ersetze, der technisch-operative Maßnahmen im Namen der Humanität einfordere. Die Rede von der ›Umweltkrise‹ und die »post-politische Neuanordnung unter dem Zeichen der ›Nachhaltigkeit‹« führen daher nach Swyngedouw zu einer »Entpolitisierung der Natur«.72 Swyngedouw kritisiert damit einen kapitalistisch vereinnahmten ›Ökologie‹-Begriff, der politischen Dissens durch Expertenmanagement und Administration ersetzt.73
5. U mweltkrise und sozialer W andel Die Ableitung einer ökologischen Expertokratie aus pessimistischen Prognosen ist aber nur eine Seite der politischen Ökologie. Die andere Seite besteht in der Freisetzung vorhandenen Handlungspotentials für einen Wandel und die Schaffung einer neuen, auf ökologischen Grundlagen basierenden Gesellschaft. Der Biologe Barry Commoner, dessen Portrait im Jahr 1970 auf der Titelseite des Time Magazine zu sehen war, lehnte dezidiert Ehrlichs Programm der aktiven Bevölkerungskontrolle ab. Denn nach Commoner liegt das eigentliche Problem in der mangelhaften Verwendung verfügbarer Technologien. Sie beziehen sich nämlich stets nur auf isolierte Probleme, ohne die ebenfalls in Erscheinung tretenden Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Würde man dagegen die Technologien von ökologischen Analysen herleiten, würde die Komplexität der Beziehungsgefüge mit einbezogen werden. Die Ökologie muss nach Commoner aber nicht nur zur Leitwissenschaft für die Organisation von Technik und Wissenschaft, sondern auch von Sozialem und Politischem 71 | Swyngedouw, Erik, »Öko-Planung? Ökologie – das neue Opium für das Volk«, in: Grazer Architektur Magazin. Schwerpunkt: Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape 7 (2001), S. 53–67, hier S. 61. 72 | Ebd., S. 62. 73 | Ebd., S. 64.
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werden, womit er einen fundamentalen Wandel des Sozialen einfordert. Die ökologische Transformation der Gesellschaft steht für Commoner gerade nicht im Kontrast zur Demokratie, im Gegenteil: Die Umweltkrise biete die Chance einer Erneuerung der demokratischen Kultur,74 so schreibt er: »Wir haben es hier mit Fragen der Moral, der gesellschaftlichen und politischen Bewertung zu tun. In einer Demokratie können solche Fragen aber nicht von ›Fachleuten‹, sondern nur von den Staatsbürgern und ihren gewählten Vertretern entschieden werden.« 75 Die Naturwissenschaften müssten demnach gestärkt werden, wofür sie erstens ihren molekularen zugunsten eines holistischen Ansatzes aufgeben und zweitens sich der Reglementierung durch die Politik entziehen müssten. So seien die Tests mit Atomwaffen in den USA nie innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft öffentlich diskutiert worden, was zu folgenreichen Fehleinschätzungen der von der Regierung beauftragten Arbeitsgruppe geführt habe.76 Jedoch können die Naturwissenschaften nach Commoner keine Entscheidungen darüber treffen, welche Risiken eine Gesellschaft eingehen möchte: Sie könne zwar aufzeigen, dass Atomwaffentests genetische Schäden verursachen, aber nicht, bis zu welchem Grad eine Gesellschaft dieses Risiko toleriert. Damit erteilt Commoner der Idee einer Regierung durch wissenschaftliche Experten eine Absage, zumal hinsichtlich der Folgen von Pestizideinsätzen oder radioaktiver Strahlung unterschiedliche wissenschaftliche Positionen existieren. Vor allem aber sei die Vorstellung, dass die Welt von den Naturwissenschaften bestimmt werde und die Naturwissenschaftler deshalb eine spezielle Kompetenz in öffentlichen Fragen hätten, »profoundly destructive of the democratic process«.77 Ihre Aufgabe liege vielmehr in der Aufklärung über bislang nicht bekannte Probleme und die Erzeugung eines kritischen Bewusstseins. So plädiert er für eine Partnerschaft zwischen »Wissenschaftlern und Bürgern«.78 Es sei die Verantwortung der Wissen74 | Vgl. dazu Egan, Michael, Barry Commoner and the Science of Survival. The Remaking of American Environmentalism, Cambridge/London 2007. 75 | Commoner, Barry, The Closing Circle – Nature, Man, and Technology, New York 1971. Im Folgenden zit. n. der deutschen Ausgabe: Wachstumswahn und Umweltkrise, übers. von Elena Schöfer, München u. a. 1971, S. 184. 76 | Ebd., S. 52. 77 | Commoner, Barry, Science and Survival, New York, 2. Aufl. 1967, S. 107. 78 | Commoner, Wachstumswahn und Umweltkrise, a. a. O., S. 184.
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schaft, der Öffentlichkeit die wissenschaftlichen Fakten in verständlicher Form zu präsentieren, damit sie sich in die Diskussion einbringen könne. Es gehe nämlich nicht einfach um Messwerte, sondern um Werturteile, die nicht durch wissenschaftliche Prinzipien bestimmt würden. Nötig sei eine öffentliche Diskussion über akzeptable Risiken sowie die Partizipation der Öffentlichkeit an Entscheidungen über den Einsatz von Risikotechnologien wie der Atomenergie. Als Biologe und Umweltaktivist spricht Commoner gleichwohl stets von den Naturwissenschaften – was wäre hier aber der Ort der Geistesund Kulturwissenschaften? Auch in den von John Brockman herausgegebenen Bänden Die dritte Kultur (1996) und Die neuen Humanisten (2004), die Beiträge von Nobelpreisträgern versammeln, wird die Deutungshoheit für relevante gesellschaftliche Fragen in die Hände der Naturwissenschaftler gelegt. Diese Übernahme konnte vor allem deshalb gelingen, weil die Geistes- und Kulturwissenschaften technische und wissenschaftliche Fragen nicht ausreichend thematisierten, auch wenn es durchaus kritische Stimmen gab. Zum Beispiel betrachtete der damalige Germanist und spätere Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme in seinem Beitrag zum Germanistentag 1991 den technischen und ökologischen Wandel als Herausforderungen für die Germanistik, für die er sodann neue Schwerpunkte entwirft, mit denen sie den sozialen, technischen und ökologischen Problemfeldern des 21. Jahrhunderts gewachsen sein könnte.79 Gemäß dem Wissenschaftshistoriker Michael Hagner haben die Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren allerdings die akademische »Zuständigkeit für die Zukunft […] vollständig an die Naturwissenschaften delegiert«, sie selbst hätten sich dagegen an den Paradigmen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ orientiert, wodurch eine »massive Hinwendung zur Vergangenheit« stattgefunden habe. Nun gebe es aber aktuell drängende Zukunftsprobleme – insbesondere nennt Hagner den anthropogenen Klimawandel –, die mit einem rein naturwissenschaftlichen Zugang gar nicht bearbeitet werden könnten. Hier sieht er erneut die Zukunftskompetenz der Geisteswissenschaften gefordert, damit man
79 | Böhme, Hartmut, »Literaturwissenschaft in der Herausforderung der technischen und ökologischen Welt«, in: Jäger, Ludwig/Switalla, Bernd (Hg.), Germanistik in der Mediengesellschaft, München 1994, S. 63–79.
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überhaupt grundlegend diskutieren könne, wie wir in Zukunft leben und welche Prioritäten wir setzen wollen.80 Dass hier überhaupt erst wieder eine politische Bedeutung erstritten werden muss, zeigt sich am Beispiel der literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtung des Ecocriticism. Am Anfang der Beschäftigung mit ökologischen Themen stand zuerst einmal eine Irritation über die Ignoranz der Literaturwissenschaft gegenüber der Umweltkrise. Während die Literaturwissenschaften in den USA bereits seit den späten 1960er Jahren soziale Bewegungen wie den Kampf für Bürgerrechte oder die Emanzipation der Frauen als Thema und Gegenstand neuer Theoriebildungen aufnahmen, zeigte man an der ebenfalls in den 1960er Jahren einsetzenden Umweltbewegung kaum Interesse. Dagegen nahmen andere Disziplinen wie Geschichte, Philosophie, Recht, Soziologie oder Religion Umweltfragen ernst, Cheryl Glotfelty spricht vom »greening« dieser Disziplinen seit den 1970er Jahren.81 In den Literaturwissenschaften setzte dieser Prozess jedoch erst um 1990 ein, und seither gelang dem Ecocriticism eine feste Etablierung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Vor allem in der Anfangsphase stellten die Vertreter dieser Forschungsrichtung die aktive Rolle der Literaturwissenschaft heraus. In seinem Vortrag vor der Western Literature Association (1990), der für die Durchsetzung des Ecocriticism als neuem literaturwissenschaftlichen Paradigma einen entscheidenden Beitrag leistete, warf Glen Love der Literaturwissenschaft ein Versagen vor, da sie auf die Umweltkrise noch nicht einmal reagiert habe.82 Dabei sei es die wichtigste Funktion der Literatur, das menschliche Bewusstsein umzulenken, um seine volle Aufmerksamkeit dem Ort des Menschen in einer bedrohten natürlichen Welt zu widmen.83 Denn schließlich seien die green studies, wie der englische Literaturwis80 | Hagner, Michael, »Haben die Geisteswissenschaften die Zukunft vergessen?«, in: Welzer, Harald/Soeffner, Hans-Georg/Giesecke, Dana (Hg.), KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 20– 32, Zitate S. 26 f., 30, 29. 81 | Glotfelty, Cheryll, »Introduction. Literary studies in an age of environmental crisis«, in: dies./Fromm, Harold (Hg.), The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology, Athens, Georgia 1996, S. xv-xxxvii, hier S. xvi 82 | Love, Glen, »Revaluing Nature. Toward an Ecological Criticism«, in: Western American Literature 25, 3 (1990), S. 201–215, hier S. 202. 83 | Ebd., S. 10.
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senschaftler Laurence Coupe ausführt, die radikalste aller kritischen Aktivitäten, denn zwar seien auch ›Rasse‹, ›Geschlecht‹ und ›Klasse‹ wichtige Gebiete der Literatur- und Kulturwissenschaften, aber die green studies fokussierten den gesamten Planeten Erde, seine Zukunft und damit das Überleben der Menschheit.84 Den Grund für diese weitreichende Bedeutungszuschreibung hat Lawrence Buell in einer häufig zitierten These ausgeführt: Die Umweltkrise sei eine Krise der Imagination der Natur und der Beziehungen zwischen Mensch und Natur, und die Literatur setze genau auf der Ebene der Imagination an.85 Dabei geht es nicht nur um die Krise, sondern überhaupt darum, dass, wie Axel Goodbody ausführt, ›Natur‹ und ›Umwelt‹ »kulturell bedingte Konstrukte [sind], an deren Konstituierung ›schöne‹ Literatur in der Vergangenheit wesentlichen Anteil gehabt hat und die sie heute noch beeinflussen kann«.86 Dieses Verständnis von Literatur ist für den Ecocriticism fundamental: Würde Literatur nicht unsere soziale Wirklichkeit mitorganisieren, dann wäre die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Literatur und Umwelt politisch irrelevant. So aber legitimieren die Thesen der kulturellen Konstruktion von ›Natur‹ und ›Umwelt‹ und der Beteiligung der Literatur an diesen Konstruktionen den Ecocriticism als ›relevanten‹ Theorie-Rahmen. Aus diesen Gründen kommt der pädagogischen Dimension eine besonders wichtige Rolle zu: An Schulen und Universitäten soll die ökologisch orientierte Lektüre von Texten dazu ermutigen, das eigene Naturverhältnis zu hinterfragen, alternative Lebensformen zu diskutieren und politisches Engagement zu entwickeln. Während der Ecocriticism in seiner Anfangsphase der Literatur eine allzu große Wirkkraft zuschrieb und hierbei auch einem naiven Natur-Begriff folgte, hat sich diese Forschungsrichtung inzwischen weiter ausdifferenziert und auch kulturtheoretische Positionen aufgenommen. Einen wichtigen Bezugspunkt bilden zum Beispiel Bruno Latours Arbeiten, und zwar insbesondere seine Kritik an einem simplen Naturverständnis. Für 84 | Coupe, Laurence, »Preface«, in: ders. (Hg.), The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism, London/New York 2000, S. 1–8, hier S. 5. 85 | Buell, Lawrence, The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture, Cambridge, Mass. 1995, S. 2. 86 | Goodbody, Axel, »Literatur und Ökologie. Zur Einführung«, in: ders. (Hg.), Literatur und Ökologie, Amsterdam 1998 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 43), S. 11–40, hier S. 25.
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Buell hat Latour als Ethnograph wissenschaftlicher Praktiken die »Große Trennung« zwischen Natur und Gesellschaft als Mythos entlarvt.87 Das Dispositiv der politischen Ökologie führt somit nicht zwangsläufig zu einem politischen Zentralismus, im Gegenteil: Die Umweltkrise kann auch zu einer Erneuerung der Demokratie führen. Die ›ökologische Gouvernementalität‹ als Machttypus resultiert nicht in einer konkreten politischen Position, sondern konstituiert den Rahmen, innerhalb dessen eine nicht-neoliberale politische Ökologie stehen kann: Ihr Fluchtpunkt wird aber stets eine Form der Regulierung der Bevölkerung nach den Prinzipien der Leitwissenschaft ›Ökologie‹ sein, die ihre Lebensgrundlagen erhält, und zwar nicht, indem den Märkten freies Spiel gegeben wird, wie es das neoliberale Konzept der ›ökologischen Modernisierung‹ vorsieht. Da eine ›ökologische Regierungsweise‹ jedoch noch auf ihre Implementation wartet, kann sie zum einen nur im Modus der Fiktion entworfen werden, zum anderen aber muss sie als gut informierte und wissenschaftlich sachkundige Kritikerin moderner Gesellschaften fungieren. Die folgenden Beispiele zeigen erstens anhand des Verhältnisses von Bevölkerung und Ernährung Repräsentationslogiken in diesem Dispositiv auf, gehen zweitens Ideen neuer Energieversorgungsformen nach, widmen sich drittens Konfliktressourcen und behandeln viertens Recycling als Praktik und Metapher.
87 | Buell, Lawrence, The Future of Environmental Criticism. Environmental Crisis and Literary Imagination, Malden, MA u. a. 2005, S. 20.
II. Konstellationen politischen Wissens 1. N ahrung : L andwirtschaf t und B e völkerung Die Kopplung von Ernährung und Bevölkerung ist ein Kernelement sowohl der politischen Ökonomie als auch der politischen Ökologie. Das Erscheinen dieser Verbindung auf der diskursiven Ebene korreliert durchaus mit der realgeschichtlichen Entwicklung. Nach dem dreißigjährigen Krieg hatte sich die europäische Bevölkerung um 1700 bei 125 Millionen Menschen eingependelt, um 1750 waren es ca. 146 Millionen, danach stieg das Bevölkerungswachstum relativ schnell auf 195 Millionen (um 1800), wobei zwischen den einzelnen Ländern und Regionen erhebliche Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung zu verzeichnen sind.1 Verantwortlich für die Bevölkerungsänderung sind eine Reihe unterschiedlicher Faktoren, Livi Bacci zählt die Verfügbarkeit von Raum und Land, Nahrungsmittelressourcen und epidemiologische Verläufe zu den großen wenig beeinflussbaren Faktoren, Heiratsalter, Mobilität, Migration und Siedlungsgeographie dagegen zu den lokalen, flexiblen Faktoren.2 Dabei ist auch ein Faktor wie ›Nahrungsmittel‹ zu differenzieren, zum Beispiel unterscheiden sich Kulturen und Regionen in ihren jeweiligen Techniken der Produktion und Konservierung. Im 18. Jahrhundert ist nicht nur eine Zunahme der Bevölkerung, sondern auch eine Reihe von verheerenden Hungersnöten zu beobachten, hinzu kam, dass die Bauern nach Ernteausfällen wenig Einkommen hatten und sich verschulden mussten, um den Eigenbedarf zu decken und neues Saatgut zu erwerben. Im deutschen Gebiet verschlimmerten die 1 | Vgl. die Tabelle und eine differenzierte Betrachtung der Zahlen in: Livi Bacci, Massimo, Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte, übers. von Rita Seuß, München 1999, S. 17–21. 2 | Ebd., S. 11–14.
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Agrarkrisen in den Jahren 1739–41, 1763 und 1771–72 die Situation der Landbevölkerung.3 Die Folge der Bevölkerungsentwicklung und zunehmenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln war eine landwirtschaftliche Revolution:4 Man erweiterte die Anbauflächen, in Frankreich wuchs sie innerhalb von 30 Jahren von 19 auf 24 Millionen Hektar, in England kultivierte man in der zweiten Jahrhunderthälfte Hunderttausende von Hektar und in Deutschland und Irland legte man Sümpfe und Moore trocken.5 Auch die Effizienz landwirtschaftlicher Produktion konnte man erhöhen, indem man Getreide und Hülsenfrüchte im Wechsel anbaute – die Hülsenfrüchte dienten als Tierfutter und reicherten den Boden mit Stickstoff an, was man freilich noch nicht wissen konnte. Schließlich nennt Montanari in seiner Kulturgeschichte der Ernährung als weiteres wichtiges Element der Agrarrevolution die Konzentration auf widerstandsfähige und ertragreiche Sorten wie Buchweizen, vor allem aber Mais und Kartoffeln. Die Ausdehnung des Mais- und Kartoffelanbaus war aber kein selbsttätiger Mechanismus, sondern wurde gesteuert von den Großgrundbesitzern und Regierungen.6 Zwischen Bevölkerungszunahme, Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Armut sowie Hungersnöten besteht keineswegs ein monokausaler Zusammenhang, vielmehr spielen hier auch von der Bevölkerungszahl unabhängige Aspekte wie Ernteausfälle, Unwetter, Mangelernährung, Preisentwicklungen oder die ungleiche Verteilung von Nahrungsmitteln eine wichtige Rolle. Hinzu kommt ein methodisches Problem. Wie Livi Bacci ausführt, ist über die Ernährungsbedingungen und das Konsumverhalten der europäischen Bevölkerung in der Vergangenheit nur wenig bekannt.7 Die Ausführungen zu den Beziehungen zwischen verschiedenen Aspekten zeigen, dass es sich bei der ökologischen Fokussierung des Bevöl3 | Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reichs bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700– 1815, München 1987, S. 79. 4 | Vgl. dazu z. B. ebd., S. 80; Montanari, Massimo, Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, übers. von Matthias Rawert, München 1993, S. 156. 5 | Vgl. dazu und zum Folgenden: Montanari, Der Hunger und der Überfluß, a. a. O., S. 156–159. 6 | Ebd., S. 160–168. 7 | Livi Bacci, Europa und seine Menschen, a. a. O., S. 63.
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kerungsproblems um die Reduktion eines komplexen Beziehungsgefüges auf zwei Faktoren handelt. Zugleich wird das Wissen um die Beziehungen zwischen Nahrung und Bevölkerung zur Voraussetzung für die Regulierung der Bevölkerung. Die politische Ökologie schreibt sich damit in einen bis in das 16. Jahrhundert zurückreichenden Diskurs ein, der die Bevölkerung als seinen zentralen Gegenstand formatiert. Dabei kann man zum einen eine zunehmende Verwissenschaftlichung der politischen Theorien ausmachen, zum anderen erscheinen ökologische Aussageformen als Korrektiv einer rein ökonomischen Betrachtung dieser Beziehung.
Bevölkerungswissen von Graunt bis Malthus Die enge Kopplung von Bevölkerung und Nahrungsmitteln hat Thomas Robert Malthus in seinem Essay On Population mit weitreichender Wirkung hergestellt, nicht zufällig beruft sich noch der bis in die Gegenwart reichende ›Überbevölkerungsdiskurs‹ mit der Bezeichnung Neomalthusianismus auf ihn.8 Erfunden hat Malthus die enge Kopplung von Bevölkerung und Nahrung aber keineswegs, wie etwa Christian Barth ausführt:9 Zum Beispiel heißt es im ersten Buch Mose, dass das Land, in dem Abraham und Lot gemeinsam wohnten, sie nicht getragen habe, weshalb sie sich trennten (Genesis 13, 6–10); andere Quellen sind Platons Gesetze, staatsphilosophische Abhandlungen wie Giovanni Boteros Delle causa della grandezza della cità (1588), der die Bevölkerungsregulierung im Kontext der Staatsräson diskutierte, Sir Walter Raleigh, der dafür plädierte, Kolonien für überschüssige Bewohner zu schaffen – was auch Thomas Morus als Lösung für eine potentielle Überbevölkerung auf der Insel Utopia anführte –, oder James Harringtons Entwurf eines Phantasiestaats, in dem durch das Steuersystem die Zahl der Nachkommen erhöht werden sollte. Allerdings entwickelten diese Autoren noch keine Theorie der Bevölkerung, eine solche entwarfen erst John Graunt und William Petty.10 Die 8 | Zur Analyse des »Überbevölkerungsdiskurses« vgl. Rainer, Bettina, Bevölkerungswachstum als globale Katastrophe. Apokalypse und Unsterblichkeit, Münster 2005. 9 | Zum Folgenden: Barth, Christian M., »Nachwort«, in: Malthus, Thomas Robert, Das Bevölkerungsgesetz, vollständige Ausg. nach d. 1. Aufl., London 1798, München 1972, S. 173–198, hier S. 180–193. 10 | Barth, »Nachwort«, a. a. O., S. 181 f.
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beiden erfanden die politische Arithmetik auf Grundlage der Datensätze in den bills of mortality, den Sterberegistern der Kirchengemeinden. In seiner 1662 erschienenen Abhandlung Natural and Political Observations upon the Bills of Mortality übertrug Graunt die Zahlen aus den Registern in Tabellen,11 »so as to have a view of the whole together, in order to the more ready comparing of one Year, Season, Parish, or other Division of the City, with another, in respect of all the Burials, and Christnings, and of all the Diseases, and Casualities, happening in each of them respectively«.12 Die neuartige Verarbeitung und Darstellung der Zahlen erzeugt neues Wissen – ermöglicht werden Verbindungen, nach denen zuvor nicht gefragt worden war, und es wird eine ›Ganzheit‹ überblickt, die zuvor nicht existierte: die Bevölkerung. Die Listen und Tabellen setzen das Wissen über die Natürlichkeit der Bevölkerung ins Verhältnis zu politischen Interventionen zu ihrer Regulierung. Mit seinen Anforderungen an das ›Regierungswissen‹ geht er aber weit über die bills of mortality hinaus: Kenntnisse um die Form und Grenzverläufe eines Territoriums seien ebenso wichtig wie das Wissen, wie viel Ertrag Heu ein Acker erbringt und wie viele Kühe von diesem Heu gefüttert werden können. Während dies nach Graunt zu den intrinsischen Faktoren zählt, führt er auch extrinsische oder zufällige Faktoren an. Darunter rechnet er die Gründe, weshalb ein Stück Land, das sich in der Nähe eines guten Marktes befindet, doppelt so viel wert ist wie ein Stück Land, das dieselbe intrinsische Güte hat, aber weiter entfernt vom Markt liegt. Weiterhin sei wichtig zu wissen, wie viele Menschen an einem 11 | Vgl. zu Graunts perspicious tables und überhaupt der Rolle der Tabelle im 17. und 18. Jahrhundert: Campe, Rüdiger, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 215 ff. 12 | Graunt, John, »Observations upon the bills of mortality« [5. Aufl. 1676], in: The Economic Writings of William Petty together with the Observations upon the Bills of Mortality more probably by John Graunt, hg. von Charles Henry Hull, Bd. 2, Cambridge 1899, S. 314–435, hier S. 333, vgl. auch die Table of Casualties, welche die Jahre 1647 bis 1659 umfasst. Wie sich die Bevölkerungswissenschaften als eine »Schule des Sehens« verstehen lassen, in welcher das Lesen der Tabellen und Kurven sowie das Erkennen der »Bevölkerung als eine Entität« erst erlernt werden muss, zeigt für das 20. Jahrhundert: Etzenmüller, Thomas, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, hier S. 14 f.
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bestimmten Ort wohnen, welchen Geschlechts, Alters, welcher Religion, aus welchem Stand oder Gewerbe sie sind und an welchen Krankheiten wie viele Menschen sterben. Denn allererst durch dieses Wissen könnten der Handel und die Regierung sicher und ordentlich gemacht werden.13 Als Gründer der Nationalökonomie gilt William Petty, denn er entwarf Theoreme, die für die Geschichte der Bevölkerungswissenschaften wegweisend werden sollten:14 Er berechnete erstmals den Zeitraum, in dem sich die Bevölkerungszahl verdoppelt, mit seinen Modellen stellte er fest, dass die Bevölkerungsdichte wichtiger sei als die absolute Bevölkerungsgröße, dass dicht besiedelte Gebiete mehr wirtschaftliche Möglichkeiten hätten als weniger dicht besiedelte oder dass die Bevölkerungszahl den Wert von Grund und Boden beeinflusse. Dabei sind die Nahrungsbedingungen ein zentraler Faktor für die Bevölkerungsentwicklung. So beginnt das erste Kapitel seines Werkes Political Arithmetick (1690) mit der Feststellung, ein kleines Land mit wenig Leuten könne in Hinsicht auf Wohlstand und Stärke äquivalent zu einem größeren Land mit mehr Leuten sein, denn »as one Acre of Land, may bear as much Corn, and feed as many Cattle as twenty, by the difference of the Soil«.15 Aber die Bodenfruchtbarkeit, landwirtschaftliche Anbautechniken oder die Umwandlung von Sümpfen in Anbauflächen sind Faktoren neben anderen, etwa der geographischen Lage, der Wasserversorgung, Arbeitsbereitschaft, den Transport- und Handelsbedingungen oder der Politik, wozu er mit Blick auf Holland zählt: Gewissensfreiheit, Sicherung der Eigentumsrechte an Land und Häusern, was die Erstellung von Registern voraussetzt, sowie die Einrichtung einer Bank, deren Ziel die Geldvermehrung sein müsse. Auf der Grundlage solcher Konzepte erstellt Petty auch quantitative Vorhersagen. Ausgehend von einer Weltbevölkerung von 320 Millionen Menschen und einer Verdopplungsrate von 360 Jahren kämen auf jeden 13 | Graunt, »Observations upon the bills of mortality«, a. a. O., S. 396. 14 | Zu Rolle der Quantifizierung des Wissens von der Bevölkerung s. z. B.: Buck, Peter, »Seventeenth-Century Political Arithmetic. Civil Strife and Vital Statistics«, in: Isis 68, 241 (1977), S. 67–84; Schmidt, Daniel, Statistik und Staatlichkeit, Wiesbaden 2005, S. 84. 15 | Petty, William, »Political Arithmetick« [1690], in: The Economic Writings of William Petty together with the Observations upon the Bills of Mortality more probably by John Graunt, hg. von Charles Henry Hull, Bd. 1, Cambridge 1899, S. 233–313, hier S. 249.
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einzelnen Menschen in 2000 Jahren zwei Acker Land im bewohnbaren Teil der Erde, weshalb in der Zukunft Kriege und riesige Massaker zu erwarten seien.16 Pettys politische Arithmetik leistet eine quantitative und differenzierte Betrachtung der Bevölkerung, die möglichst viele Elemente in ihre Analyse einbezieht. Dabei hat er sowohl Städte als auch Nationen und die gesamte Erde im Blick und macht über sie wissenschaftlich gestützte Aussagen und Prognosen, welche dann wiederum die Grundlage des Regierens bilden. Das Auftreten der Bevölkerung als einer »Hauptzielscheibe« des gouvernementalen Machtregimes17 geht somit mit der Öffnung des Zukunftshorizontes einher: Im Bevölkerungsdiskurs ist die Zukunft nicht einfach vorgegeben, sie kann und soll nicht mehr nur erwartet werden, vielmehr soll und muss sie auf rationaler Grundlage gestaltet werden.18 So dient auch für den Theologen Johann Peter Süßmilch das Bevölkerungswissen als Grundlage für die Regierung der Bevölkerung. Denn die zentrale These seiner 1741 erstmals erschienenen Abhandlung Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen lautet, dass sich die Struktur und Zahl der Einwohner eines Gebietes nicht rein zufällig ergeben, vielmehr manifestieren Listen und Berechnungen eine Ordnung, die Süßmilch auf die »Vorsorge Gottes« zurückführt.19 Im 18. Jahrhundert entstehen somit systematische Theorien, die die Bevölkerung als zentrales Element in der gesamten staatlichen Ordnung 16 | Petty, William, »Another Essay in Political Arithmetick, Concerning the Growth of the City of London« [1682], in: The economic writings of William Petty together with the Observations upon the bills of mortality more probably by John Graunt, hg. von Charles Henry Hull, Bd. 2, Cambridge 1899, S. 451–478, hier S. 463 f. 17 | Vgl. dazu Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a. a. O., S. 162, zur Ablösung der Familie als Modell des Regierens durch die Bevölkerung: Ebd., S. 156–163. 18 | In der politischen Arithmetik zeichnet sich somit die Öffnung des Zukunftshorizonts ab, die dann in der ›Sattelzeit‹ zwischen 1750 und 1850 zum dominanten Konzept wird. Vgl. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989. 19 | Süßmilch, Johann Peter, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 2 Teile, 2. Aufl. Berlin 1761/1762, Erster Teil, S. 22.
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ansehen und dabei zunehmend ohne die (bei Süßmilch noch vorhandene) theologische Rahmung auskommen. Schon hier lassen sich optimistische und pessimistische Ansätze beobachten – während gemäß ersterer der Wohlstand und die Macht eines Staates mit der Bevölkerungszahl steigen, nicht zuletzt wegen der steigenden Arbeitskraft, sehen letztere in ihr eine Bedrohung durch Nahrungsknappheit.20 Die Sicherung der Ernährung markiert dergestalt immer wieder die Obergrenze des Bevölkerungswachstums, wobei man sowohl einzelne Länder als auch die gesamte Erde in den Blick nahm.21 So bestimmte Süßmilch die Zahl, wie viele Menschen zugleich auf der Erde leben können,22 indem er zuerst die bewohnbare Erdfläche ermittelte, um dann zu berechnen, wie viel Getreide man anbauen kann und wie viel Getreide pro Person verzehrt wird.23 Die auf der gesamten Erde verfügbare Getreidemenge definiert damit die Obergrenze der Erdbevölkerung. Auch Adam Smith hat in seiner Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker (1776) einen engen Zusammenhang von Nahrungsmitteln (means of subsistence) und Bevölkerungszahl behauptet: Jede Tierart vermehrt sich natürlich entsprechend ihrem Nahrungsangebot, und keine Art kann sich darüber hinaus vermehren. In der zivilisierten Gesellschaft jedoch kann nur in den unteren Volksschichten der Nahrungsmittelmangel der weiteren Vermehrung der Art Mensch Grenzen ziehen; und das kann er auf keine andere Weise tun als durch Vernichtung eines großen Teils der Kinder, die deren fruchtbare Ehen hervorbringen. 24
Mit der Begrenzung der Vermehrung durch die Mittel des Lebensunterhalts verwendet Smith ein biologisches Argument, das William Derham bereits in seiner Schrift Physico-Theology or a Demonstration of Being and 20 | Einen Überblick über diese Positionen bietet Barth, »Nachwort«, a. a. O., S. 184–193. 21 | Vgl. dazu ebd., S. 189. 22 | Süßmilch, Johann Peter, Die göttliche Ordnung, a. a. O., S., 77. 23 | Ebd., S. 74. Er kommt dann auf die Zahl von vier bzw. drei Milliarden Menschen, ebd., S. 75 und 77. 24 | Smith, Adam, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, übers. von Monika Streissler, hg. und eingel. von Erich W. Streissler, Tübingen 2005, S. 153.
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Attributes of God from his Work of Creation (1713) angeführt hatte,25 das Smith aber an den Arbeitslohn knüpft: Wenn die Arbeiter besser bezahlt werden, können sie besser für ihre Kinder sorgen und mehr von ihnen großziehen, was die Grenze verschiebe.26 Das Argument impliziert gleichwohl, dass die bessere Entlohnung nur so lange wirkt, wie ausreichend Subsistenzmittel verfügbar sind. Zum Gegenstand der »gesamten Polizeywissenschaft« erklärt der Kameralist Johann Heinrich Gottlob von Justi die Nahrungsversorgung, was sich schon im Titel eines seiner Hauptwerke niederschlägt: Die Grundfeste zu der Macht und Glueckseeligkeit der Staaten; oder ausfuehrliche Vorstellung der gesamten Policey=Wissenschaft. Erster Band, welcher die vollkommene Cultur des Bodens, die Bevoelkerung, den Anbau, Wachsthum und Zierde der Städte desgleichen die Manufacturen, Fabriken und Commercien, und den Zusammenhang des ganzen Nahrungsstandes abhandelt (1760). Unter ›Polizeywissenschaft‹ versteht Justi eine Wissenschaft, die »innerlichen Verfassungen des Staats solchergestalt einzurichten, daß die Wohlfahrt der einzeln Familien mit dem allgemeinen Besten bestaendig in einer genauen Verbindung und Zusammenhang sich befindet«.27 Entsprechend umfangreich ist das Werk, das Themen behandelt wie den Bau von Dämmen und die Schonung der Wälder, die Notwendigkeit einer Volkszählung – statt
25 | In einem Kapitel mit dem Titel »Of the Balances of Animals, or their due Proportion wherewith the World is stocked« führt Derham aus, dass das Verhältnis von Vermehrung und Lebensdauer durch göttliche Weisheit und Vorsehung im Gleichgewicht sei. »This Providence of God is remarkable in every Species of living Creatures: but that especial Management of the Recruits and Decays of Mankind, so equally all the World over, deserves our especial Observation«. Derham, William, Physico-Theology, or a Demonstration of Being and Attributes of God from his Work of Creation, Nachdruck der Ausgabe von 1713, Hildesheim/New York 1976, S. 172. 26 | Smith, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, a. a. O., S. 153. 27 | Justi, Johann Heinrich Gottlob von, Die Grundfeste zu der Macht und Glueckseeligkeit der Staaten; oder ausfuehrliche Vorstellung der gesamten Policey=Wissenschaft. Erster Band, welcher die vollkommene Cultur des Bodens, die Bevoelkerung, den Anbau, Wachsthum und Zierde der Städte desgleichen die Manufacturen, Fabriken und Commercien, und den Zusammenhang des ganzen Nahrungsstandes abhandelt, Königsberg/Leipzig 1760, S. 4.
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ungenauer Berechnungen auf Grundlage von Registern – und mögliche Regierungsfehler in der Förderung des Nahrungsstandes. Gegenstand ist somit die Instanz, die »vermoege der Circulation der Guether und des Geldes, den ganzen Zusammenhang des Staatskoerpers unterhaelt«.28 Justis umfangreiche Abhandlungen zur Polizey- und Kameralwissenschaft belegen eindrücklich die Bedeutung des ›Regierungswissens‹, zumal nun auch nicht mehr von der Vorsorge Gottes, sondern der »Sorgfalt« und »Vorsorge der Regierung« für den Unterhalt der Bevölkerung die Rede ist.29 Obgleich Justi zahlreiche Aspekte abhandelt, bildet der Zusammenhang von Nahrung und Bevölkerung den Kern seiner Überlegungen, was er trotz aller staats- und wirtschaftstheoretischen Unterschiede mit der französischen Physiokratie gemeinsam hat.30
Bevölkerung und Ernährung: Malthus’ Naturgesetz Schon zu Beginn der Schrift An Essay on the Principle of Population betont Thomas E. Malthus, dass seine These keineswegs neu sei, bislang sei sie aber nicht befriedigend dargelegt worden. Dabei geht es ihm allerdings weniger um die Darstellungsform als um die methodische Vorgehensweise, statt sich auf »speculations« zu verlassen, sollte eine Theorie nämlich auf Erfahrung gegründet sein und durch das Experiment bestätigt werden.31 Malthus’ Schrift bringt noch ein weiteres, durchaus neues Moment in den Bevölkerungsdiskurs ein: Er reduziert die Theorie der Bevölkerung auf das Nahrungsproblem und transformiert das Verhältnis Bevölkerung – Nahrung in ein Naturgesetz, das er anschaulich als mathematisches Prinzip darstellt. Ausgehend von der Notwendigkeit der Nahrung für die Existenz des Menschen und der Notwendigkeit der Leidenschaft zwischen den Ge28 | Ebd., S. 772. 29 | Ebd., S. 267 und 270. Vgl. zum Begriff der Bevölkerung als Wissens- und Interventionsobjekt in der Geschichte der Statistik unter Rekurs auf Foucaults Konzept ›Biopolitik‹: Schmidt, Staat und Staatlichkeit, a. a. O. 30 | Vgl. dazu: Bühler, Benjamin, Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit, München 2013, S. 210–226. 31 | Malthus, Thomas E., »An Essay on the Principle of Population, as It Affects the Future Improvement of Society (1798)«, in: ders., On Population, hg. von Gertrude Himmelfarb, New York 1960, S. 1–143, hier S. 7 und 10.
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schlechtern folgert Malthus, »that the power of population is indefinitely greater than the power in the earth to produce subsistence for man«.32 Anders formuliert: Die Bevölkerung wächst in geometrischer Reihe an, die Unterhaltsmittel aber nur in arithmetischer Reihe. Diese Formel sollte ihre Wirkmacht bis in die Gegenwart beibehalten. Die Anwendung wissenschaftlicher Verfahren und die Formulierung des mathematischen Prinzips konzipieren die Bevölkerungsentwicklung als einem sich nach Naturgesetzen vollziehenden, also unvermeidlichen Vorgang. Auf der Basis seines Ansatzes kann Malthus vergangene Ereignisse erklären, so sei der wahre Grund für die nordische Völkerwanderung die Nahrungsknappheit aufgrund der wachsenden Bevölkerungsgröße gewesen,33 und Prognosen erstellen: In Amerika werde die Bevölkerung fortdauernd zunehmen, was dazu führe, dass neues Land gewonnen werden müsse, und »so werden die Indianer weiter und weiter in das Land zurückgedrängt werden, bis zuletzt die ganze Race vertilgt und das Gebiet einer weiteren Ausdehnung unfähig ist«.34 Malthus macht sein Bevölkerungsgesetz somit zu einem gouvernementalen Universalschlüssel, weshalb er andere Faktoren aus dem Blick verliert. Reguliert wird der Bevölkerungsdruck nach Malthus vor allem durch zwei ›Hemmnisse‹: Erstens durch »preventive checks«, worunter er die freiwillig gewählte Enthaltsamkeit aufgrund einer in materieller und sozialer Hinsicht unsicheren Zukunft versteht; zweitens durch vor allem in den armen Schichten wirkende »positive checks«, worunter Malthus Faktoren, die zu einer erhöhten Sterblichkeit führen, wie Nahrungsmangel und ungesunde Wohnverhältnisse, fasst.35 Hier setzt seine Kritik an den Armengesetzen in England an, die seiner Meinung nach vorführen, wie eine Regierung, die an der Herstellung und Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen Bevölkerungsgröße und verfügbaren Nahrungsmitteln interessiert ist, nicht handeln sollte. Malthus’ berühmter Essay markiert einen diskursgeschichtlichen Knotenpunkt: Er bündelt die bisherigen bevölkerungstheoretischen Abhandlungen, fokussiert nun aber ausschließlich den einen Zusammenhang von Bevölkerung und Nahrung. Dabei missachtet er nicht nur den 32 | Ebd., S. 9. 33 | Ebd., S. 20. 34 | Ebd., S. 7. 35 | Ebd., S. 26 und 29.
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technischen Fortschritt, der die Nahrungsmittelproduktion in der Folgezeit erhöhen sollte, sondern auch andere, insbesondere strukturelle Ursachen der Armut sowie weitere Faktoren des Ressourcenverbrauchs; bekanntlich verbrauchen heute die Gesellschaften am meisten Ressourcen, die die geringste Bevölkerungszunahme verzeichnen. Auch seine Generalisierungen lassen sich nicht belegen: Etwa bewirkte, wie Andreas Weigl ausführt, die Verdopplung des Getreidepreises in Nordfrankreich durch den »Jahrttausendwinter 1709« wohl eine Verdopplung der Sterberate, in Winchester, England, blieb die Sterblichkeit dagegen konstant, und in der Toskana ging der Anstieg der Sterblichkeit dem Preisanstieg voran.36 Die nach Malthus entscheidenden Strategien der Senkung der Bevölkerungsvermehrung sind also nicht verallgemeinerbar. Das Regierungshandeln stellt Malthus auf eine naturwissenschaftliche Grundlage: Die Bevölkerungswissenschaft definiert den Handlungsrahmen der Politik, die steuernd eingreifen muss, indem sie entweder die Nahrungsmittelmenge erhöht oder das Bevölkerungswachstum begrenzt. Die Notwendigkeit der Regulation der Nahrungsbedingungen in Bezug auf Bevölkerungsgröße und -struktur ist somit nicht verhandelbar, sondern wissenschaftlich feststellbar: Man erhebt Daten, die man analysiert, übersichtlich darstellt und interpretiert.
Dünger Ein zentrales Element der Agrarrevolution im 19. Jahrhundert war der Einsatz des Düngers, der auf eine äußerst komplexe wissenschaftliche Auseinandersetzung und eine Reihe sehr fundamentaler Irrtümer verweist. Vor allem aber ist der Dünger-Diskurs an der Schnittstelle von Naturwissenschaft, angewandter Wissenschaft und Regierung angesiedelt, das heißt von Chemie, Landwirtschaft und der politischen Steuerung und Verwaltung der Nahrungsmittelproduktion. Diese spezifische Verbindung, die bis heute den Kern sowohl der politischen Ökonomie als auch der politischen Ökologie bildet, wurde im 19. Jahrhundert erstmals praktisch erprobt sowie theoretisch gefasst und reflektiert. Gemeinsam mit Forschern wie Carl Sprengel, John B. Lawes oder Justus Liebig und mit Substanzen wie Phosphor und Stickstoff, tierischen 36 | Weigl, Andreas, Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien u. a. 2012, S. 30.
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Exkrementen und Klärschlamm ist der Dünger gewissermaßen zu den Akteuren der Geschichte der Pflanzenernährung im 19. Jahrhundert zu zählen. So führen die Stoffe nach Südamerika, von wo man bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Guano, stickstoffreichen Vogelkot, nach Europa importierte. Die Entdeckung der Koprolithen, fossiler Exkremente, die man seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Dünger einsetzte, verweist dagegen in die evolutionäre Vergangenheit,37 während die Herstellung des Superphosphatdüngers auf Knochen beruhte, die man mit Schwefelsäure auflöste, ein Verfahren, das John B. Lawes 1842 patentieren ließ.38 Einen der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte des Düngers markiert die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft, insbesondere die Anwendung der Chemie auf den Ackerbau. Verbunden ist die Entstehung der Agrikulturchemie mit der Verabschiedung der Humustheorie39 und der Entwicklung einer Mineralstofftheorie, wie sie zuerst von dem Chemiker Carl Sprengel entwickelt wurde:40 Im Jahr 1824 zeigte er auf, dass Humussäuren ungelöste Mineralien im Boden aufschließen und so den Pflanzen verfügbar machen, 1826 fand er heraus, dass sich Pflanzen von Mineralstoffen ernähren, und 1828 formulierte er das Gesetz des Minimums: »Wenn eine Pflanze 12 Stoffe zu ihrer Ausbildung bedarf, so wird sie nimmer auf kommen, wenn nur ein einziger an dieser Zahl fehlt, und stets kümmerlich wird sie wachsen, wenn einer derselben 37 | Vgl. dazu Kugler, Lena, »Staub und Steine. Organische Überreste und die Tiefenzeit moderner Flüchtig- und Vergänglichkeit«, in: Bies, Michael/Franzel, Sean/ Oschmann, Dirk (Hg.), Flüchtigkeit der Moderne. Eigenzeiten des Ephemeren im langen 19. Jahrhundert, Hannover 2016, S. 183–204. 38 | Brock, William H., Justus von Liebig. Eine Biographie des großen Wissenschaftlers und Europäers, übers. von Georg E. Siebeneicher, Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 135. 39 | Zur Humustheorie sowie zur Entstehung der Agrikulturchemie vgl. SchlingBrodersen, Ursula, Entwicklung und Institutionalisierung der Agrikulturchemie im 19. Jahrhundert. Liebig und die landwirtschaftlichen Versuchsstationen, Braunschweig 1989. 40 | Zum Folgenden vgl. Thimm, Utz, »Carl Sprengel – mehr als ein ›Vorläufer‹ Liebigs«, in: Justus Liebig (1803–1873). Seine Zeit und unsere Zeit. Chemie – Landwirtschaft – Ernährung. Ausstellungskatalog, hg. von dem Präsidenten der JustusLiebig-Universität Gießen, Gießen 2003, S. 186–203, hier S. 188.
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nicht in derjenigen Menge vorhanden ist, als es die Natur der Pflanze erheischt.« 41 Die Mineralstofftheorie ist die Voraussetzung für eine Theorie und Praxis des Düngens, denn mit ihr kann nun mit Blick auf die einzelnen Stoffe differenziert werden. So benötigen Pflanzen, wie Sprengel in seinem Werk Die Lehre vom Dünger oder Beschreibung aller bei der Landwirtschaft gebräuchlicher vegetabilischer, animalischer und mineralischer Düngermaterialen nebst Erklärung ihrer Wirkungsart (1839) ausführt, im Allgemeinen für ihr Wachstum 15 Elementarstoffe in unterschiedlichen Mengen. Während sie Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff aus der Atmosphäre beziehen, erhalten sie die anderen Substanzen aus dem Boden – und hier muss dementsprechend die Düngung ansetzen.42 Daher sind nach Sprengel die Naturwissenschaften für die praktische Landwirtschaft unentbehrlich. Von der Wirkung der Düngermaterialien könne man sich nur dann eine klare Vorstellung machen, wenn man Chemie, Physik sowie Pflanzenanatomie und -physiologie zu Hilfe nehme.43 Seine Abhandlung beginnt folgerichtig mit dem Auf bau der Pflanze sowie den chemischen Prozessen der Ernährung, Gärung, Fäulnis und Verwesung. Erst mit diesem Wissen könne der Landwirt nämlich nachvollziehen, weshalb verschiedene Düngermaterialien auf eine bestimmte Pflanze verschiedene Wirkungen haben.
Justus Liebigs Protoökologie Zum Standardwerk sollte jedoch nicht Sprengels Buch, sondern Justus Liebigs Abhandlung Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, die so genannte »Agrikulturchemie«, werden. Dabei enthielt sie zu großen Teilen eine Synthese bereits gemachter Forschungen: Sowohl das bedeutende Gesetz des Minimums sowie die Mineralstofftheorie hatte, wie bereits ausgeführt, Sprengel ausgearbeitet.44 Eine 41 | Zit. nach ebd., S. 190. 42 | Sprengel, Carl, Die Lehre vom Dünger oder Beschreibung aller bei der Landwirtschaft gebräuchlicher vegetabilischer, animalischer und mineralischer Düngermaterialen nebst Erklärung ihrer Wirkungsart, Leipzig 1839, S. 8. 43 | Ebd., S. 4. 44 | Liebig formulierte erst 1855 das Gesetz des Minimums und in der »Agrikulturchemie« tauchte es erst in der siebten Auflage aus dem Jahr 1862 auf, wie Utz
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der weitreichendsten Kontroversen entzündete sich dagegen um Liebigs These, Pflanzen nähmen den Stickstoff aus der Atmosphäre auf. Wie William Brock in seiner Liebig-Biographie aufzeigt, kommt der dritten Auflage aus dem Jahr 1841 eine entscheidende Bedeutung zu. Liebig änderte nämlich den Satz, Kulturpflanzen empfingen Stickstoff zwar aus der Atmosphäre, dieser sei aber »nicht hinreichend für die Zwecke der Feldwirtschaft«, um in die Formulierung, der atmosphärische Stickstoff sei »durchaus hinreichend« für die Feldwirtschaft.45 Um die Frage, woher der Stickstoff stammt, entbrannte eine internationale und äußerst scharf geführte Debatte.46 Liebig selbst war von seiner These so überzeugt, dass er 1845 einen Patentdünger auf den Markt brachte, der nur wenig Stickstoff enthielt und daher weitaus schlechtere Wirkung hatte als Superphosphat-Dünger oder südamerikanischer Guano.47 Zu den wichtigsten Gegnern Liebigs zählten John B. Lawes und Joseph H. Gilbert, die in Rothamsted einen Versuchsbetrieb gründeten, der zum »Herzstück« der englischen Agrikulturchemie werden sollte und wo sie im Gegensatz zu Liebig die Bedeutung stickstoff haltigen Düngers erkannten.48 Auch wenn über die Zusammensetzung gestritten wurde, die Notwendigkeit der Düngung bestritt keiner der beteiligten Forscher. Es bestehe kein Zweifel daran, so Liebig in Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, dass, wenn man dem Boden durch die Ernte angebauter Pflanzen Nährstoffe entziehe, diese ersetzt werden müssen, damit sich die Fruchtbarkeit des Bodens erhalte.49 Und da alle Bestandteile der Tiere und Menschen von Pflanzen stammen, eigneten sich auch alle ihre Bestandteile als Lieferanten für Dünger, also anorganiThimm ausführt: »Carl Sprengel – mehr als ein ›Vorläufer‹ Liebigs«, a. a. O., S. 192 f. Zur Kontroverse zwischen Liebig und Sprengel: Ebd., S. 194–198. 45 | Zit. nach Brock, William H., Justus von Liebig. Eine Biographie des großen Wissenschaftlers und Europäers, übers. von Georg E. Siebeneicher, Braunschweig/Wiesbaden 1999, S. 138. 46 | Vgl. dazu Brock, Justus von Liebig, a. a. O., S. 137–149; Schling-Brodersen, Entwicklung und Institutionalisierung der Agrikulturchemie, a. a. O., S. 68–86. 47 | Brock, Justus von Liebig, a. a. O., S. 102–108. 48 | Ebd., S. 142. 49 | Liebig, Justus, Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1840, Hildesheim 1977, S. 156.
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sche Bestandteile in den Exkrementen, Stickstoff und Kohlenstoff als Produkte der Fäulnis und Verwesung sowie phosphorsaurer Kalk und andere Salze in den übrigbleibenden Knochen.50 Daher müsse als Prinzip des Ackerbaus gelten, »dass der Boden in vollem Maße wieder erhalten muß, was ihm genommen wird, in welcher Form dies Wiedergeben geschieht, ob in der Form von Excrementen, oder von Asche oder Knochen, dies ist wohl ziemlich gleichgültig«.51 Liebig entwickelt damit ein Kreislaufmodell, das den Menschen als Faktor berücksichtigt. Denn indem er mit der Ernte dem Boden Nährstoffe entzieht, unterbricht er die natürlichen Kreisläufe, weshalb der Kreislauf künstlich wiederhergestellt werden muss, in diesem Fall durch die Zufuhr von Stoffen in Form von Dünger.52 Explizit findet sich das Kreislaufmodell in den Chemischen Briefen:53 Ausgehend von den Meeren, in denen die Seepflanzen den von den Tieren verbrauchten Sauerstoff wieder ersetzen, weshalb dort ein »ewiger Kreislauf« stattfinde, konstatiert Liebig auch einen Kreislauf auf dem Land: »Auch an der Oberfläche der Erde hat man ja den nämlichen Kreislauf beobachtet, einen unaufhörlichen Wechsel, eine ewige Störung und Wiederherstellung des Gleichgewichts.«54 Die »Kunst des Ackerbaues« bestehe daher in der Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts – die durch die Ernte entnommenen Stoffe werden dem Boden wieder zugeführt, schließlich stammen die Exkremente der Tiere und Menschen von den Pflanzen.55 Aus dieser Beobachtung heraus leitet Liebig die Hauptaufgabe der Agrikultur ab, die nämlich darin bestehe, »daß wir in irgend einer Weise die hinweggenommenen Bestandtheile, welche die Athmosphäre nicht liefern kann, ersetzen. Ist 50 | Ebd., S. 156 f. 51 | Ebd., S. 167. 52 | Wie Engelbert Schramm zeigt, folgte Liebig allerdings in den ersten Auflagen seines Buches Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie keinem Kreislauf-, sondern einem Bilanzmodell, demgemäß durch die Ernte entnommene Nährstoffe durch Düngergabe ausgeglichen werden müssen. Schramm, Engelbert, Im Namen des Kreislaufs. Ideengeschichte der Modelle vom ökologischen Kreislauf, Frankfurt a. M. 1997, S. 191–194. 53 | Vgl. dazu ebd., S. 195. 54 | Liebig, Justus, Chemische Briefe. Zweiter Band, Leipzig/Heidelberg, 4. umgearbeitete und vermehrte Aufl. 1859, S. 197 und S. 198 f. 55 | Ebd., S. 199.
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dieser Ersatz unvollkommen, so nimmt die Fruchtbarkeit unserer Felder oder die des ganzen Landes ab, führen wir mehr zu, so wird die Fruchtbarkeit gesteigert.«56 Direkt an die Landwirte adressiert Liebig seine Naturwissenschaftlichen Briefe über die moderne Landwirtschaft (1859), die zu den populärwissenschaftlichen Chemischen Briefen zu zählen sind, aber auch in einer eigenständigen Publikation erschienen. Liebig bedauert im Vorwort, dass seine Versuche einer naturwissenschaftlichen Fundierung der Landwirtschaft von den Praktikern kaum wahrgenommen oder als Irrtümer beurteilt worden seien. Ziel der Briefe ist damit die Implementierung der Chemie als Grundlagenwissenschaft der Landwirtschaft. Bereits im ersten Brief betont Liebig die politische Komponente des Verhältnisses von wissenschaftlicher Chemie und praktischer Landwirtschaft, gehe es hier doch um die »wichtigsten materiellen Güter und um die Grundsäulen des Staates«.57 Von der Wissenschaft werde nämlich die Lösung dafür erwartet, wie man auf einer gegebenen Bodenfläche mehr »Brod und Fleisch« erzeugen könne, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren, womit die wichtigsten sozialen Fragen verknüpft seien.58 Die Agrikulturchemie avanciert damit zur Leitwissenschaft für die Regierung, die das Verhältnis von Bevölkerung und Ernährung zu regulieren hat. Es ist daher nur folgerichtig, dass Liebig Malthus’ Schrift aufgreift. So rekapituliert er in der Einleitung zur siebten Auflage seines Werks zur Agrikulturchemie, das im Jahr 1862 unter dem Titel Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie59 in zwei Teilen erschien, zuerst noch einmal die falschen Annahmen der Landwirte. Ihr Irrtum bestand nach Liebig darin, dass sie das Feld wie eine Maschine betrachteten, sie meinten, es reiche, dem Boden Bruchteile der entnommenen Produkte als Stallmist wiederzugeben. Wenn Liebig dieses System als »Raubwirthschaft«60 bezeichnet und seine mangelnde Zukunftssorge kritisiert – der 56 | Ebd., S. 227. 57 | Liebig, Justus, Naturwissenschaftliche Briefe über die moderne Landwirtschaft, Leipzig/Heidelberg 1859, S. 1. 58 | Ebd. 59 | Liebig, Justus, Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Teil 1: Der chemische Prozess der Ernährung der Vegetabilien. Teil 2: Die Naturgesetze des Feldbaus, Braunschweig, 7. Aufl. 1862. 60 | Ebd., S. xv.
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»sorglose unwissende Haushalter glaubt immerdar, daß es morgen so sein werde wie es heute ist«61 – formuliert er eine Kritik, die zum Kern des ökologischen Dispositivs in den 1970er Jahren werden sollte. Aber auch sein Blick auf die Natur erweist sich in dieser Auflage als dezidiert ökologischer. Die gesamte Naturforschung, so Liebig, beruhe auf der Überzeugung, dass zwischen allen Erscheinungen im Mineral-, Pflanzen- und Tierreich ein »gesetzlicher Zusammenhang« bestehe, so dass alle Elemente miteinander verbunden und verkettet seien und das Entstehen und Vergehen der Erscheinungen wie »eine Wellenbewegung in einem Kreislaufe« sei. Man betrachte die Natur als ein Ganzes, in dem alle Erscheinungen zusammenhängen »wie die Knoten in einem Netze«.62 Nun sorgen aber nicht einfach die Naturgesetze dafür, dass die Lebensbedingungen erhalten bleiben und die Ackerböden für immer ausreichend Nahrung erzeugen. Vielmehr sei es an dem Menschen selbst, seine Geschicke in die Hand zu nehmen, was Liebig auf das »Mißverhältniß zwischen dem Vorrath von Nahrung und dem Bedarf der Bevölkerungen« bezieht.63 Und nun zitiert er, ohne den Namen zu nennen, eine der kontroversesten Äußerungen von Malthus: »Der, welcher an dem Tische der Gesellschaft keinen Platz mehr findet, giebt sich nicht so ohne Weiteres dem Verhungern hin; im Kleinen wird er zum Diebe und Mörder, oder er wandert in Massen aus oder wird zum Eroberer.«64 Damit greift er Malthus’ Aussage auf, für den Angehörigen der nicht-profitablen Bevölkerung gebe es beim Fest der Natur kein freies Gedeck.65 Liebig wiederum holt erst einmal weit aus und geht ausführlich auf die römische Geschichte und die Völkerwanderungen ein, die er auf das Verhältnis von Nahrungsversorgung und Bevölkerung hin untersucht, um dann zu der weitreichenden These zu gelangen, ein »Volk entsteht und entwickelt sich im Verhältnis zur Fruchtbarkeit des Landes«.66 Für die europäischen Staaten konstatiert Liebig einen Anstieg der Einwoh61 | Ebd., S. 9. 62 | Beide Zitate: Ebd., S. 87. 63 | Ebd., S. 93. 64 | Ebd. 65 | Malthus, Thomas Robert, An Essay on the Principle of Population, London, 2. Aufl. 1803, 4. Buch, 6. Kap., S. 531. 66 | Liebig, Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, a. a. O., S. 110.
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nerzahl, mit dem ihre Produktionsvermögen nicht mithalten könnten. Aus seinen Beobachtungen leitet Liebig die Prognose ab, dass eines Tages Hunderttausende auf den Straßen sterben werden – nicht das Ob, nur das Wann sei unbestimmt.67 Daher müsse hier der Staat ansetzen, und das heißt nach Liebig: Sofortige Beendigung der »Raubwirthschaft«,68 Anerkennung der Chemie als Grundlagenwissenschaft des Ackerbaus sowie ausreichende Düngung der Felder. Von besonderer Bedeutung sind Liebigs Bemühungen, die Chemie im Bildungssystem zu verankern. Bereits 1840 fordert er in dem Aufsatz »Ueber das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen« eine stärkere Aufmerksamkeit für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Physik und Chemie, in den Schulen und Universitäten. Nicht nur Anwendungsmöglichkeiten im Handel, der Industrie und dem Militär hat Liebig im Blick, ihm geht es in erster Linie um eine Bildung des Menschen, die nicht nur die klassischen Sprachen, Geschichte und Literatur umfasst, sondern eben auch Mathematik, Physik und Chemie. Vor allem aber sei die Anerkennung und Förderung der Naturwissenschaft im Interesse des Staates, der sie allerdings bislang als »Mittel zur Geistesbildung« nie in Betrachtung gezogen habe.69 Diese Nichtbeachtung äußere sich unter anderem in der Unwissenschaftlichkeit des Ackerbaus, die Liebig in den folgenden Jahren immer wieder beklagen wird. Dabei lässt sich nach Liebig das landwirtschaftlich relevante chemische Wissen bereits in den Elementarschulen vermitteln. Der Gewinn eines solchen Unterrichts sei immens: »Wenn durch die Schullehrer auf dem Lande diese Elementarkenntnisse unter den Bauern verbreitet werden, so ist für die Zukunft alles gewonnen und der Staat hat damit das beste gethan, was er überhaupt für die Landwirthschaft thun kann.« 70 Reformiert werden müssen nach Liebig aber die landwirtschaftlichen Lehranstalten, die die Wissenschaften für obsolet halten und aus deren 67 | Ebd., S. 126. Bezüglich seiner Vorhersagen hebt er hervor: »Die Wissenschaft prophezeit nicht, aber sie rechnet«. 68 | Ebd., S. 124. 69 | Liebig, Justus, »Ueber das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen«, in: ders., Reden und Abhandlungen, Neudruck der Ausg. von 1874, Wiesbaden 1965, S. 7–36, hier S. 12. 70 | Liebig, Naturwissenschaftliche Briefe über die moderne Landwirtschaft, a. a. O., S. 234.
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falschen Lehren das gegenwärtige »Raubsystem« des Feldbaus resultierte.71 Es sei, so Liebig 1862, nicht ausreichend, dass die Wissenschaften die »Wahrheit« lehren und verbreiten, es müssten auch die »Altäre der Lüge zertrümmert« werden.72 Liebig klagt somit die Integration der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie, in die landwirtschaftliche Ausbildung ein. Obgleich Liebig das Wort ›Ökologie‹ nicht gebraucht, sind in seinen Abhandlungen die zentralen Diskurselemente der politischen Ökologie versammelt wie z. B. Konzepte von Vernetzung und Kreislauf, ein ganzheitlicher Blick auf die Natur und die Bildung, die Kritik einer unbekümmerten Raubwirtschaft und die Einbeziehung der Zukunft als Regulativ politischen Handelns. An seinen Veröffentlichungen lässt sich nachvollziehen, wie die Naturwissenschaft, hier die Chemie bzw. Agrikulturchemie, zur handlungsanleitenden Leitwissenschaft politischen Handelns wird, auch wenn Liebig einige Irrwege einschlug, wie mit dem von ihm erfundene Patentdünger oder seinem Vorschlag, die Londoner Abwässer als Düngemittel zu nutzen.
Rothamsted in den Tropen: Nahrung und Bevölkerung in der Literatur Auch die Literatur behandelt spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Bevölkerungsproblematik mit den ihr eigenen Verfahren und Aussageformen: Sie unterläuft wissenschaftliche und politische Konzepte satirisch, so führt Jonathan Swift in »Ein bescheidener Vorschlag: Um zu verhindern, daß die Kinder der Armen in Irland ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen, und um sie nutzbringend für die Allgemeinheit zu verwenden« (1729) aus, man könne durch den Import irischer Babys als Nahrungsmittel nach England Überbevölkerung und zugleich Armut beseitigen. Ebenso kann die Literatur aber auch der Stabilisierung politischer Projekte dienen: In seinem Gedicht »Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse« (1950) erzählt Bertolt Brecht davon, wie man unter Stalin den ›Kampf‹ mit der Dürre aufnahm, indem man auf der Grund71 | Ebd., S. 22. 72 | Liebig, Justus, Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Teil 1: Der chemische Prozess der Ernährung der Vegetabilien, Braunschweig, 7. Aufl. 1862, S. xv.
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lage von Trofim Lyssenkos neolamarckistischer Theorie die ›verwilderte‹ Hirse zu einem Grundnahrungsmittel ›erzog‹. Zu einem festen Gattungsmerkmal ist die Nahrungsbeschaffung durch Jagd und Anbau von Getreide in der Robinsonade geworden. Bereits in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) ist der Protagonist nicht einfach ein »Kulturheros an der Spitze eines hierarchischen Ordnungsgefüges«, sondern Robinson konstituiert sich erst durch Techniken wie Tierschlachtung, Domestizierung von Tieren und Getreideanbau zu einem solchen Subjekt.73 Auch in Zukunftsromanen ist das Verhältnis von Nahrung und Bevölkerung ein typischer Motivkomplex. In Alfred Döblins Zukunftsroman Berge, Meere, Giganten (1924) wird im 26. Jahrhundert die künstliche Lebensmittelsynthese Ackerbau und Viehzucht überflüssig machen und alle Lebensverhältnisse ändern, während in Cormack McCarthys Dystopie The Road (2006) in einer verbrannten Welt jeder gegen jeden um Nahrung und Kleidung kämpft. Wie die Literatur unter Bezug auf agrarwissenschaftliche, ökonomische und demographische Diskurse und Praktiken die individuellen sozialen und politischen Dimensionen der Ernährung der Bevölkerung herausarbeitet, lässt sich exemplarisch am Werk Aldous Huxleys verfolgen. Huxley diskutiert nämlich die politischen Dimensionen des Bevölkerungswachstums nicht nur in seinem bereits erwähnten Essay The Politics of Ecology. The Question of Survival, sondern auch in seinen Romanen. In Brave New World (1932) sind Fortpflanzung und Sexualität strikt getrennt, erstere erfolgt technisch und unter totaler Kontrolle. Man konditioniert bereits die Embryos, so dass aus ihnen Epsilons oder Alphas, Arbeiter in den Tropen oder Raketenmechaniker werden. Während Huxley in dieser Dystopie eine normierte Kontrollgesellschaft darstellt, entwirft er in Island (1962) eine ökologische Utopie.74 73 | Borgards, Roland/Klesse, Marc/Kling, Alexander, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Robinsons Tiere, Freiburg i. Br. u. a. 2016, S. 9–24, hier S. 15. 74 | Auf die Verbindung beider Werke hat Huxley selbst im Vorwort zur 2. Auflage von Brave New World hingewiesen: Wenn er heute, so Huxley 1946, das Buch noch einmal schreiben würde, dann würde er dem »savage« eine dritte Alternative anbieten: »Between the Utopian and primitive horns of his dilemma would lie the possibility of sanity […]. In this community economics would be decentralist and Henry-Georgian, politics Kropotkinesque and co-operative. Science and technology would be used as though, like the Sabbath, they had been made for man […].
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In dem Roman kommt ein Wissenschaftler Anfang der 1850er Jahre auf die Insel Pala, als dort eine Hungersnot herrscht. Gemeinsam mit dem Arzt MacPhail errichtet er eine Versuchsstation nach dem Vorbild von Rothamsted, ein »Rothamsted-in-den-Tropen«.75 Der unbenannte Forscher war ein Schüler der beiden Agrikulturchemiker John B. Lawes und Joseph H. Gilbert, womit Huxleys Roman explizit an den agrar- und bevölkerungswissenschaftlichen Diskurs anschließt, denn die Versuchsstation stand von vornherein im Zusammenhang mit der Bevölkerungsplanung.76 Man züchtete »neue Spielarten von Reis und Mais, Hirse und Brotfrucht« und verbesserte die Methoden der Anpflanzung und Kompostgewinnung.77 Durch die verbesserte Nahrungsversorgung stieg die Bevölkerungszahl an, worauf man dann wiederum gegensteuerte, indem man nun mit Verhütungsmitteln das Bevölkerungswachstum begrenzte. Dabei unterlagen die Einwohner Palas keinerlei Zwang, vielmehr regulierten sie die Einwohnerzahl aus Einsicht: »Das wurde des langen und breiten diskutiert. Schließlich kam man überein, Verhütungsmittel der Erziehung gleichzusetzen – frei zugänglich, aus den Steuergeldern subventioniert und, obgleich nicht obligat, soweit als möglich für alle erhältlich.« 78 In der Folge hatte niemand mehr als drei Kinder, bei den meisten waren es zwei, so dass die Bevölkerung um weniger als ein Drittel Prozent im Jahr stieg. Das Dilemma, das sich aus einer demokratischen Lösung ökologischer Probleme ergibt, löst Huxley damit ganz im Sinne der deliberativen Demokratietheorie, die von der Annahme ausgeht, dass eine vernünftige und rationale öffentliche Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen zu gerechten und vernünftigen Ergebnissen führen werde.79 Religion would be the conscious and intelligent pursuit of man’s Final End, the unitive knowledge of immanent Tao or Logos, the transcendent Godhead or Brahman.« Huxley, Aldous, »Foreword« [1946], in: ders., Brave New World, London 1977, S. 7–16, hier S. 9. 75 | Huxley, Aldous, Eiland, München 1984, S. 29. 76 | Ebd., S. 99. 77 | Ebd., S. 100. 78 | Ebd., S. 101. 79 | Vgl. dazu z. B.: Baber, Walter F./Bartlett, Robert V., Deliberative Environmental Politics. Democracy and Ecological Rationality, Cambridge, Mass./London 2005. Neuere ökologische Ansätze der deliberativen Theorie beziehen dabei auch
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Neben ökologischer Erziehung, vernünftigen Diskussionen und freiem Handeln bildet in Pala der Tantrismus eine weitere Säule der Gemeinschaft, mit dem das Empfindungsvermögen ausgebildet werden soll. Mit maithuna, dem ritualisierten Geschlechtsakt, erhält somit die Agrikulturchemie und die Idee der Bevölkerungsregulierung ihre insulare Ergänzung, womit Huxley westliche mit fernöstlicher Kultur verschmelzen lässt. So erlernt MacPhail maithuna von dem damaligen Radscha und baut sie sodann in das neue System der Bevölkerungsregulierung aus Einsicht ein. Maithuna ist aber nicht nur eine Technik, die den Liebesakt zum Yoga macht, sondern eine »Art von Gewahrsein, welche einem diese Technik ermöglicht«.80 Sexualität wird in Huxleys Roman zum Element einer Reihe von Selbsttechniken, mit denen ein bewusstes, ›ökologisches‹ Umweltverhältnis hergestellt wird. So erfährt der Journalist Will von dem Enkel MacPhails: »Selbst der konkreteste Materialismus wird einen nicht viel weiterbringen, wenn man sich nicht voll bewusst ist, was man tut und erfährt. Man muss sich der einzelnen Materialien, die einem durch die Hände gehen, völlig gewahr sein, der Handfertigkeiten, die man ausübt, der Menschen, mit denen man zusammenarbeitet.«81 Durch das ›Gewahrsein‹ werde Arbeit zum Yoga der Arbeit, Spiel zum Yoga des Spiels, das tägliche Leben zum Yoga des täglichen Lebens. Huxleys Protagonist formuliert hier das Programm, welches zur Grundlage spiritualistisch ausgerichteter Umweltbewegungen werden sollte. Die Ausbildung einer ›ökologischen‹ Subjektivität durch Selbsttechniken setzt Huxleys Roman auch formal um. Zu Beginn kommt der verbitterte und zynische Journalist Will mit einem geheimen Auftrag auf die Insel. Er soll für eine Ölfirma die Lage auf der Insel, die über große Ölvorkommen verfügt, auskundschaften und einen entsprechenden Vertrag vorbereiten. Für eine »Pro-Öl-Minderheit« auf der Insel leistet die Förderung des Öls die Industrialisierung und damit den Fortschritt auf der Insel.82 Will bleibt nach einem Unfall auf der Insel und wird, wie das die betroffenen Entitäten ein, die sich an diesem rationalen Diskurs eigentlich nicht beteiligen können, also Pflanzen, Tiere und zukünftige Generationen. Vgl. Eckersley, Robyn, The Green State. Rethinking Democracy and Sovereignty, Cambridge, Mass./London 2004. 80 | Huxley, Eiland, a. a. O., S. 94. 81 | Ebd., S. 180. 82 | Ebd., S. 31.
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in Utopien üblich ist, auf ihr herumgeführt. Man erklärt ihm die Familien- und Beziehungsstrukturen, er lernt verschiedene Einrichtungen wie Schulen kennen sowie auch die grundlegende Bedeutung der Ökologie. Man beginne Ökologie zugleich mit dem Multiplizieren und Dividieren zu unterrichten, damit die Kinder von Anfang an lernen, dass alles, was lebt, zueinander in Beziehung stehe. Dazu gehörten nicht nur die »Wissenschaft wechselseitiger Beziehungen«, sondern auch die ethischen Aspekte der Beziehungen zwischen Menschen und ihrem Umgang mit der Natur.83 Den Höhepunkt seiner Erkundung der Insel und der damit einhergehenden Veränderung seines Selbst bildet die Einnahme der bewusstseinserweiternden moksha-Medizin, wobei es auch hier um eine ritualisierte Technik der Selbsterfahrung geht. Denn moksha sei eine Droge, die den Konsumenten hinauf in den Himmel oder hinunter zur Hölle bringen könne, sie könne aber auch über beide hinausführen, »jenseits des Jenseitigen«. Wie im Fall von maithuna greift Huxley auch hier ein hinduistisches Konzept auf, moksha ist die Bezeichnung für das oberste Lebensziel, die Erlösung aus dem Kreis der Wiedergeburten. Allerdings wandelt er es ökologisch um: Denn es geht den Inselbewohnern darum, vom ›Jenseits des Jenseitigen‹ wieder dorthin zurückzukehren, von wo man ausgegangen war: »Nur daß selbstverständlich der Alltag nachher ein völlig anderer ist.« 84 Die Selbsttechniken in Huxleys Roman dienen nicht der Steigerung menschlicher Fähigkeiten oder ihrer ökonomisch effektiven Optimierung, vielmehr soll sich hier ein Subjekt formieren, das sich seiner Selbst und seiner Umweltbeziehung bewusst ist und auch danach handelt. Auch wenn sich dieses Subjekt von der ›normalen‹ Gesellschaft, die auf die Industrialisierung setzt, abgrenzt, geht es doch auch hier um eine bestimmte Normalität: Auch in Pala wird das Verhalten reguliert, auch hier gibt es Grenzen annehmbarer Handlungen, gleichwohl handelt es sich nicht um eine ökonomisch, sondern eine ökologisch fundierte Selbstformierung, im Zentrum steht nicht der homo oeconomicus, sondern der homo oecologicus. Huxleys Roman leistet somit eine Engführung von fernöstlicher Esoterik, wissenschaftlicher Ökologie und ökologischer Selbsttechniken, die in den 1970er und 80er Jahren zu einem wesentlichen Diskurselement der politischen Ökologie werden sollten. 83 | Ebd., S. 255. 84 | Ebd., S. 316.
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2. E nergie : S onne und K ohle Genauso wie die Nahrungsversorgung ist auch die Energiebereitstellung ein zentrales Element der politischen Ökologie – und wie die Nahrung ist auch sie ein äußerst umstrittener Faktor: Fossile Brennstoffe produzieren einerseits zu viel Kohlenstoffdioxid, andererseits schaffen sie Arbeitsplätze, was 2016 ein entscheidender Faktor für die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war. Und ganz gemäß der Rhetorik seines Wahlkampfes waren auch seine Ankündigungen zur Energiepolitik nach der Wahl paradox. Auf seiner Homepage konnte man im November 2016 lesen, dass er Millionen neuer Jobs schaffe, indem er die Energieressourcen in den USA nutze: noch unerschlossenes Schiefergas, Öl und natürliche Erdgasreserven – »plus hundreds of years in clean coal reserves«.85 Der Ausdruck ›clean‹ verweist darauf, dass seine Energierevolution saubere Luft und sauberes Wasser, natürliche Habitate und Ressourcen schützen werde – wie dieses Vorhaben technisch gelöst werden könnte, ließ Trump allerdings offen. Dafür scheint der Schock über Trumps Wahl den Rest der Welt enger zusammengebracht zu haben, wie die UN-Klimakonferenz im November 2016 in Marrakesch zeigt:86 Unter anderem trat Großbritannien dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 bei, 48 ›arme‹ Länder verabschiedeten eine Erklärung mit dem Titel »Marrakesch-Vision«, wonach sie bis spätestens 2050 ihre Energieversorgungssysteme auf erneuerbare Energien umstellen wollen, die Industriestaaten verpflichteten sich, den von der globalen Erwärmung besonders betroffenen Ländern ab 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar bereitzustellen, und die ›Proklamation von Marrakesch‹ gibt einen Plan für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens vor.
Selbstläufer ›Kohle‹ Der Konflikt zwischen fossilen und erneuerbaren Energien ist keineswegs ein Phänomen der Gegenwart. Zuerst einmal handelt es sich bei dem Einsatz fossiler Energieträger um eine Erfolgsgeschichte. Kohle war 85 | Trump, Donald, »An America First Energy Plan. Donald J. Trump’s Vision«, https://www.donaldjtrump.com/policies/energy/, abgerufen am 25.11.2016. 86 | Einen guten Überblick bietet der Wikipedia-Artikel »UN-Klimakonferenz in Marrakesch 2016«, auf den im Folgenden Bezug genommen wird: https://de.wikipedia. org/wiki/UN-Klimakonferenz_in_Marrakesch_2016 (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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die Grundlage der Industrialisierung, und wie Barbara Freese in ihrer Geschichte der Kohle schreibt, ging es nicht nur um den technischen Fortschritt. ›Kohle‹ symbolisierte vielmehr den Triumph des Menschen über die Natur und stand für die Zivilisierung der Welt, wofür sie unter anderem die berühmt gewordene Wendung, Kohle sei ein »portable climate« des amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson anführt. Denn Kohle, so Emerson, trage die Hitze der Tropen nach Labrador und zum Polarkreis, und sei dabei selbst das Mittel seines Transports: »Watt and Stephenson whispered in the ear of mankind their secret, that a halfounce of coal will draw two tons a mile, and coal carries coal, by rail and by boat, to make Canada as warm as Calcutta; and with its comfort brings its industrial power.« 87 Kohle trieb solchermaßen nicht nur die Industrialisierung voran, sondern wandelte auch die kalte Welt in eine warme, bequeme und zivilisierte Welt um, wie Freese mit Blick auf Emersons Zitat schreibt.88 Diese Eigenschaft der Kohle, Mittel seines eigenen Transports sein zu können, betont auch John Holland 1835 in seiner Geschichte und Beschreibung des Kohlebergbaus und -handels in England. Während der Kohleabbau begrenzt worden sei durch die Tierkraft – häufig nutzte man Pferde zum Antrieb der Wasserpumpen – konnte man mit der kohleangetriebenen Dampfmaschine tiefer gelegene Kohleflöze weitaus schneller als bisher abbauen.89 Dampfmaschine und Kohle beschleunigten solchermaßen den Prozess der Industrialisierung, gemeinsam revolutionierten sie Bergbau, Textil- und Hüttenindustrie, Verkehr, Transport und Landwirtschaft.90 87 | Zit. nach Freese, Barbara, Coal. A Human History, London 2003, S. 10. 88 | Ebd. 89 | Holland, John, The History and Description of Fossil Fuel, the Collieries, and Coal Trade of Great Britain, London 1835, S. 196. Zur Dampfmaschine schreibt er: »So rapid have been the steps by which the steam engine has been advanced from the primitive model, to its present degree of perfection, that one finds some difficulty in conceiving of its employment, no longer than from thirty to forty years since, being merely that of pumping water upon a wheel in the absence of natural brooks!« Ebd., S. 205. 90 | Zur Dampfmaschine vgl. Wagenbreth, Otfried/Düntzsch, Helmut/Gieseler, Albert, Die Geschichte der Dampfmaschine. Historische Entwicklung – Industriegeschichte – Technische Denkmale, Münster 2002.
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Zum Gegenstand der Literatur machte der Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth die Mechanisierung der Landwirtschaft, wobei er selbst als Ingenieur den Export und die Einführung von Dampfpflügen betreute sowie eine Reihe von Patenten entwickelte.91 Die Erzählung »Blut und Eisen« handelt von einem Ingenieur, der im Auftrag der Firma Fowler den Dampfpflug in Ägypten einführen soll – womit Eyth seine eigene Vergangenheit literarisch verarbeitet, denn er brachte selbst den Dampfpflug erfolgreich nach Ägypten.92 Im Zentrum der Erzählung steht der Konkurrenzkampf zwischen den Firmen Fowler und Howard, erstere vertritt ein Doppelmaschinensystem, letztere ein Einmaschinensystem. Höhepunkt der Erzählung ist schließlich ein »Wettpflügen« zwischen den beiden Modellen, das der Ingenieur für seine Firma gewinnen kann.93 Dieser Handlungsstrang ermöglicht es Eyth, die verschiedenen Aspekte des Dampfpfluges vorzuführen, vom Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Produktionsfirmen über die besonderen Bedingungen des Bodens und die Bedienung der Maschinen durch Fachkräfte bis hin zur Verknüpfung von Industrialisierung und Kolonialismus. Eyth verstand seine Erzählungen so auch als Realisierungen seines Programms einer »Poesie der Technik«: Denn zum einen stecke auch in der Technik Poesie, etwa in der Maschine, in der die »äußere Form in möglichst einfacher Weise und mit möglichstem Hervortreten der physikalischen und menschlichen Gesetze dem Zweck entspricht«, dem sie dienen soll.94 Zum anderen erschaffe auch die Technik – in einem »elektrisch bewegten Webstuhl, in einer Maschine, die Kraft in Licht verwandelt,« stecke mehr Geist »als in der zierlichsten Phrase, die Cicero gedrechselt, in dem rollendsten Hexameter, den Virgil [sic!] jemals gefeilt hat«.95 Genau 91 | Zur Geschichte des Dampfpfluges, zu Eyth und dem Zweimaschinensystem von John Fowler, das in Eyths Erzählungen bevorzugt wird, vgl. Kuntz, Andreas, Der Dampfpflug. Bilder und Geschichte der Mechanisierung und Industrialisierung von Ackerbau und Landleben im 19. Jahrhundert, Marburg 1979. 92 | Ebd., S. 41–45. 93 | Eyth, Max, »Blut und Eisen«, in: ders., Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschenbuch eines Ingenieurs, Stuttgart/Berlin 1919, S. 73–142, hier: S. 93. 94 | Eyth, Max, »Poesie und Technik«, in: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure 48, 31 (30. Juli 1904), S. 1129–1134, hier S. 1130. 95 | Ebd., S. 1132.
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in diesem Sinn betreiben Eyths Erzählungen eine Huldigung der Technik und Heroisierung des Ingenieurs.96 So endet seine berühmteste Erzählung »Berufstragik« damit, dass sich der Ingenieur auf einem Schiff Richtung Südamerika befindet, wo er mit seinem Dampfpflug den Zuckerfeldbau vorantreiben soll. Die Rhetorik des letzten Abschnitts folgt dabei ganz kolonialistischer Redeweise: Das »stolze Schiff« bog nach Westen, als ein Viermaster »majestätisch« und »voll beladen« am Horizont heraufstieg, aus unbekannten Ländern kommend, wo auch, so der Ingenieur, für ihn »neue Arbeit, neue Mühen, neue Freuden« warteten, was »Manneslos« sei.97 Eyths Schriften sind symptomatisch für das fortschrittliche Techniknarrativ in der Moderne, in dem technischer Fortschritt stets auch eine Zivilisierung unkultivierter ›Natur‹ und ›Völker‹ einschließt. Aber auch andere Seiten der Kohle waren immer wieder Thema. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts war Kohle die Hauptenergiequelle Englands, was nicht nur zu Innovationen wie dem Schornstein, der den Rauch aus dem Haus abführen sollte,98 sondern mit zunehmendem Gebrauch der Kohle in den Haushalten auch zur Luftverschmutzung führte. Bereits 1603 stellte Hugh Platt in seinem Traktat Of Coal-Balls for Fewell wherein Seacoal is, by the mixture of other combustible Bodies, both sweetened and multiplied fest, dass der Kohlerauch Gebäude und Pflanzen beschädigt, weshalb er die Herstellung von Briketts aus Kohle und anderen brennbaren Materialien empfahl.99 Im 19. Jahrhundert nahm die Verschmutzung entsprechend dem steigenden Verbrauch der Kohle massiv zu, wie Frank Uekötter in seiner Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und in den USA aufzeigt; so war die »Kohlenrauchplage«, womit Zeitgenossen die bei unvollständiger Verbrennung von Steinkohle entstehen96 | Zu Eyth vgl. Segeberg, Harro, Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1987, S. 137–172; zur Figur des Ingenieurs in der modernen Literatur: Leucht, Robert, »Die Figur des Ingenieurs im Kontext. Utopien und Utopiedebatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 36 (2011), S. 283–312. 97 | Eyth, Max, »Berufstragik«, in: ders., Hinter Pflug und Schraubstock, a. a. O., S. 376–501, hier S. 501. 98 | Freese, Coal. A Human History, a. a. O., S. 34. 99 | Ebd., S. 34.
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den Rauch- und Rußemissionen bezeichneten, das dringendste Luftverschmutzungsproblem bis in die 1950er Jahre hinein.100 Der Kohlebergbau markiert aber auch ein Schlüsselelement der Kritik der Lage der Arbeiter. Einer der ersten literarischen Texte, in denen die Hauptfigur nicht mehr geheimnisvollen Edelsteinen in der Tiefe des Berginneren nachspürt, wie in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (postum 1802) oder E. T. A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819), sondern der Realität der Arbeiter, war Emile Zolas Roman Germinal (1885). Sein Gegenstand ist ein Kohlebergwerk, das Zola als ein Menschen verschlingendes Monster charakterisiert: »In der Tiefe seiner Höhle aber hockte wie ein böses Tier der Voreux, duckte sich noch mehr und atmete mit stärkerem und länger anhaltendem Schnaufen, als sei er verdrossen über seine mühsame Verdauung von Menschenfleisch.« 101 Männer, Frauen und Kinder arbeiten sich in über fünf hundert Meter Tiefe an schmalen Kohleflözen ab, zwischen Gestein eingequetscht schlagen sie Kohlebrocken heraus und fahren die Karren durch enge, dunkle Schächte, immer von einem möglichen Einsturz bedroht. So wird schließlich die Kohle zu einem Teil ihrer Körper. Er habe, so der alte, Kohle hustende und spuckende Bonnemort, ein ganzes Kohlenlager am Leibe zugelegt.102 Im Zentrum von Zolas Roman steht aber der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung, also der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Dabei konfrontiert Zola verschiedene Strategien, das Spektrum reicht von der Bereitschaft, mit der Bergwerk-Gesellschaft zu verhandeln, über die sozialistische Utopie, gemäß der die Arbeiter eine »riesige Kathedrale der Welt« errichten und die Welt in spätestens drei Jahren erobern würden,103 bis zu dem destruktiven Vorgehen eines Anarchisten, der die Städte anzünden und die Völker niedermachen möchte, damit aus der »verfaulten Welt« eine bessere entstehe. Auch wenn Zolas Roman die unterschiedlichen politischen Haltungen ironisch gebrochen vorführt, liegt im Titel doch ein Aufruf: Germinal (lat. 100 | Uekötter, Frank, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003, S. 21. 101 | Zola, Emile, Germinal, übers. von Johannes Schlaf, Berlin 1965, S. 17. 102 | Ebd., S. 13. 103 | Ebd., S. 285.
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germen: Keim, Spross) ist der Monat im französischen Revolutionskalender, in dem der Frühling beginnt (21. März bis 19. April). Wenn es daher im letzten Abschnitt des Werkes heißt, »Männer drängten empor, ein schwarzes Heer von Rächern, deren Same langsam in den Furchen aufging und heranwuchs für die Ernte des kommenden Jahrhunderts – und bald würde dieses Keimen die Erde sprengen«,104 kündigt sich eine Revolution an. Ihr Ziel lässt Zola zwar offen, doch darüber, dass nun ihrerseits Menschen verschlingende Arbeitermassen in Erscheinung treten, lässt er keinen Zweifel bestehen. Die Ausbeutung der Arbeiter in Bergwerken sowie ihr Kampf gegen die Besitzer bleibt ein wichtiges Element der Literatur. Upton Sinclair beschäftigte sich in mehreren Romanen mit Energieträgern: Die Erzählung King Coal (1917) zeigt den Arbeiterkampf gegen die harten Bedingungen in einem amerikanischen Bergwerk, während der 1927 erschienene Roman Oil! den Aufstieg eines Öl-Magnaten sowie den Konflikt mit seinem Sohn, der mit dem Sozialismus sympathisiert, behandelt. Werner Bräunigs Roman Rummelplatz (postum 2007 erschienen) macht ein Uranbergwerk im Erzgebirge zum Handlungsort und endet mit dem Aufstand des 17. Juni 1953; die Konsequenzen des Kohlebergbaus in der DDR führt Monika Marons Roman Flugasche (1981) am Beispiel des Braunkohlekraftwerkes in Bitterfeld vor, und Volker Brauns Erzählung Bodenloser Satz (1990) behandelt in einem poetisch verdichteten Text die Umsiedlung eines Dorfes, das zum ›Bergbauschutzgebiet‹ deklariert wird. Energieträger wie Kohle, Erdöl und radioaktive Elemente verknüpfen in diesen Texten technische und industrielle, ökonomische und ökologische, soziale und politische Aspekte. Eine Reduktion von Fragen der Energie auf rein technische Sachverhalte stellt daher eine extreme Verkürzung auf nur einen Aspekt dar. In Diskussionen um eine drohende Kohleknappheit geht es immer auch um die Zukunft des Menschen und der Erde, denn sie verhandeln die Frage, welcher Energieform sich eine Gesellschaft in Zukunft bedienen soll. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstehen in diesem Rahmen eine Reihe von technischen Projekten und sozialen Entwürfen, in deren Zentrum alternative Energieformen stehen.
104 | Ebd., S. 603.
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Kohleknappheit und alternative Energien Zwar gab es in den 1860er Jahren Befürchtungen, die Kohlevorräte könnten sich erschöpfen, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand man neue Vorkommen und ohnehin versprach Erdöl, nachdem im Jahr 1870 die Standard Oil Company gegründet worden war, eine unerschöpfliche Energieressource. Aber nicht alle schauten so zuversichtlich in die Zukunft.105 In seinem Buch In hundert Jahren. Die künftige Energieversorgung der Welt (1931) rekurriert Hanns Günther, Verfasser einer Reihe populärwissenschaftlicher Werke, auf Vorträge zu den Kohlevorräten der Erde des Geologie-Kongresses aus dem Jahr 1913. In diesen Beiträgen kehrte nämlich aus den Statistiken über Kohleförderung und Kohlelager das »Gespenst einer künftigen Kohlennot« wieder.106 Zwar würden die Steinkohlelager theoretisch noch für 6.000 Jahre reichen, doch da die meisten Flöze äußerst dünn seien, lohne sich häufig ein Abbau nicht. Da außerdem der Kohleverbrauch stetig steige, werde England gerade mal noch ca. 200 Jahre und Deutschland noch ca. 400 Jahre lang über Kohle verfügen. Nicht zuletzt steht hier die hohe Geschwindigkeit des Rohstoffverbrauchs der langen Zeit der Bildung der Kohlelager gegenüber, »Jahrmillionen des Werdens stehen in diesem Prozeß gegen Jahrhunderte des Verbrauchs«.107 Günther entwirft daher die Zukunftsfiktion einer »Welt ohne Kohle«,108 welche die herausragende Rolle der Kohle für den Alltag und das Arbeitsleben verdeutlicht. Ohne Kohle gäbe es, so Günther, keine Heizung und keine Möglichkeit zu kochen, denn die Wälder wären schnell restlos abgeholzt. Zusammenbrechen würde auch der Verkehr, ob mit Eisenbahn, Schiff, Auto oder »Luftfahrzeugen«, denn »die Petroleumquellen der Erde sind bis dahin längst erschöpft, und die künstlich erzeugten Treibstoffe entstammen durchweg der Kohle«.109 Zum Erliegen kämen auch die Industrien, insbesondere wäre eine Verhüttung der 105 | Vgl. zum Folgenden: Bühler, Benjamin, »Kohle«, in: ders./Rieger, Stefan, Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2014, S. 102–119. 106 | Günther, Hanns, In hundert Jahren. Die künftige Energieversorgung der Welt, Stuttgart 1931, S. 15. 107 | Ebd., S. 6. 108 | Ebd. 109 | Ebd.
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Eisenerze ohne Kohle nicht denkbar, und so gäbe es auch keine Weiterverarbeitung des Roheisens zu Stahl oder schmiedbarem Eisen. Lange vor dem berühmten Bericht an den Club of Rome und den Diskussionen um die Grenzen des Wachstums führt Günthers Zukunftsvision aus, dass Rohstoffe wie Kohle oder, wie sich hinzufügen ließe, Erdöl und Erdgas endliche Güter sind, weshalb es in der Situation einer Kohlennot zwangsläufig zu Kriegen zwischen kohlenreichen und kohlenarmen Ländern kommen werde. Günther setzt dieser düsteren Zukunftsvision einer ›Welt ohne Kohle‹ alternative Formen der Energiegewinnung entgegen, ausführlich und mit Schemazeichnungen entwickelt er Modelle zu Wasser-, Gezeiten-, Wind- und Eiskraftwerken. Alternativen zur Verbrennung fossiler Brennstoffe wurden schon längst technisch in Angriff genommen. Bereits im Jahr 1869 hatte Augustin Mouchot ein Buch mit dem Titel La Chaleur solaire et ses applications industrielles publiziert, in dem er ausführlich auf die bis in die Antike zurückreichende Geschichte der Brennspiegel und Solarmaschinen sowie die im 17. Jahrhundert einsetzenden physikalischen Forschungen zum Verhalten von Glas bei Sonneneinstrahlung eingeht. Besonders hebt Mouchot die Versuche des Botanikers Horace Bénédict de Saussure hervor, der von der schlichten Beobachtung ausging, dass Sonnenstrahlen einen Raum stärker erwärmen, wenn er sich hinter geschlossenem Glas befindet, als wenn er offen ist. In Briefen an Buffon und an das Journal de Paris schilderte de Saussure im Jahre 1784 seine neuartigen Versuche, für die er rechteckige Kästen aus weißem böhmischem Glas anfertigen ließ, die er ineinander verschachtelte und auf einer Tischplatte befestigte.110 Mit insgesamt sieben unterschiedlich angebrachten Thermometern stellte er im fünften Kasten eine Temperaturerhöhung von 87,5 Grad Celsius fest. In weiteren Versuchen variierte er diese Anordnung, setzte die Kästen möglichst lange und direkt der Sonneneinstrahlung aus, verwendete unterschiedliche Materialien, wobei sich die leichten Materialien Kork und Fichtenholz auch deshalb besonders gut eigneten, weil er in seinen Experimenten zwischen Ebene und Hochgebirge unterscheiden wollte, der Behälter also leicht zu transportieren sein musste. De Saussure erreichte auf diese Weise eine Temperatur über dem Siedepunkt von Wasser: 109,6 Grad Celsius. 110 | Wichtige Passagen sind abgedruckt in: Mouchot, Augustin, Die Sonnenwärme und ihre industriellen Anwendungen, übers. von Friedrich Griese nach der 2. Aufl. von 1879, Oberbözberg 1987, S. 24–28.
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Saussure beschrieb nichts anderes als den Treibhauseffekt, worauf auch Mouchot rekurriert, wenn er ausführt, verglichen mit den Weiten des Weltraums sei die Erde eigentlich nur ein Treibhaus.111 Dabei war der Anwendungsbereich der Sonnenwärme vielfältig. Neben der Solardampfmaschine konstruierte er zum Beispiel einen Solarofen, der in einer Dreiviertelstunde ein Pfund Brot buk, in drei Stunden Rindfleisch gar kochte und sich ohne Weiteres in einen Grill umbauen ließ, wobei Mouchot die Solarkraft auch noch in den Dienst der Kolonialisierung stellen wollte. Mit ihrer Hilfe könne man schließlich »unsere Soldaten in Afrika kostengünstig mit einer kleinen, tragbaren Küchenausrüstung versehen, die zum Kochen der Nahrung keine Brennstoffe erfordert und daher im Sand der Wüste wie im Schnee des Atlasgebirges von großem Nutzen sein dürfte«.112 Für die industrielle Anwendung der Sonnenwärme waren nach Mouchot in erster Linie nordafrikanische Länder wie Ägypten und Algerien geeignet, da es in diesen Ländern bei einem Preis von fünfzig bis hundert Franc pro Tonne Steinkohle an billigen Energiequellen für Maschinen fehlte, mit denen man die Felder bewässern, Speisen zubereiten und Wasser abkochen konnte. Wie Mouchot plädierte auch der Professor für Naturphilosophie William G. Adams, der einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung des photoelektrischen Effekts leistete, für die Nutzung der Sonnenenergie. In seinem Buch Solar Heat. A Substitute for Fuel in Tropical Countries for Heating Steam Boilers, and other Purposes (1878) stellt er eine Technik vor, bei der man mithilfe von Spiegeln eine Dampfmaschine antreiben konnte. Sein Modell des ›Power Tower‹ wird bis heute in Solarwärmekraftwerken angewendet. Allerdings waren die von Mouchot, Adams und anderen vorgeschlagenen technischen Vorhaben für eine Umsetzung zu teuer. Genau hier setzte daher der Ingenieur Frank Shuman an. Gemäß einem Artikel der Zeitschrift Engineering News aus dem Jahr 1909 arbeitete Shuman anfangs mit flachen Holzboxen, die eine doppelte Glasschicht bedeckte. Zwischen den Glasscheiben befand sich Wasser. Mit dem durch die Erwärmung entstandenen Wasserdampf trieb Shuman in seinen ersten Versuchen immerhin eine Ein-Dollar-Spielzeugmaschine an. Doch der kommerzielle Einsatz lag in weiter Ferne. Um die Leistung von nur einer Pferdestärke herzustellen, benötigte seine Ma111 | Ebd., S. 14. 112 | Ebd., S. 211.
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schine sonnige Tage und eine Fläche von ca. 90 bis 180 Quadratmetern. Shuman entwickelte sein Modell aber weiter, fand eine Lösung für das wichtige Problem der Energiespeicherung und gründete im Jahr 1908 die Sun Power Company. Nachdem sein erstes Solarkraftwerk in Tacony, Pennsylvania, mit einer Fläche von über 9.000 Quadratmetern noch keine größere Dampfmaschine antreiben konnte, ging er nach Ägypten, wo es ausreichend Sonne und billige Arbeitskräfte gab. Dort baute er eine solargetriebene Pumpe zur Bewässerung, die mit Parabolspiegeln 50 Pferdestärken erreichte und pro Minute über 22.000 Liter Wasser pumpte. Nun hatten auch Regierungen Interesse, sowohl die Briten als auch die Deutschen sandten Ingenieure nach Ägypten, die Shumans Maschine beurteilen sollten, und Shuman wurde zu einer Anhörung vor dem deutschen Reichstag und dem Kaiser eingeladen. Shuman verband mit seinem Projekt weitreichende Visionen. Ein New York Times-Artikel mit der Überschrift »American inventor uses Egypt’s sun for power« zitiert Shuman folgendermaßen: »We have proved the commercial profit of sun power in the tropics and have more particularly proved that after our stores of oil and coal are exhausted the human race can receive unlimited power from the rays of the sun.«113 Shuman hatte bewiesen, dass Solarkraft auch wirtschaftlich konkurrenzfähig ist, zumindest in den heißen Regionen, und er zog daraus die Konsequenz. Der Bau einer Anlage von »sun heat absorbers« in der Wüste würde zwar Kosten in Höhe von 98 Milliarden Dollar generieren, hätte jedoch einen enormem Wert, denn: »it can perpetually give us as much heat and power as all of the coal fields and oil fields of the world put together«.114 Die notwendige Summe solle die gesamte Menschheit auf bringen, denn für deren Überleben sorge schließlich der Bau einer solchen Anlage. Wenn er abschließend konstatiert, entweder nutze die Menschheit die Sonnenkraft oder sie falle zurück in die Barbarei, nimmt er ein Narrativ vorweg, das die Tatsache der Endlichkeit der Ressourcen mit apokalyptischen Szenarien verbindet, und das auch in Büchern wie Georg Borgströms The Hungry Planet. The Modern World at the Edge of Famine (1965) oder dem Bericht The Limits to 113 | Anonym, »American Inventor Uses Egypt’s Sun for Power«, in: The New York Times, 2. Juli 1916, http://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=990C E7DF1E3FE233A25751C0A9619C946796D6CF (letzter Zugriff: 15.02.2018). 114 | Shuman, Frank, »The Feasibility of Utilizing Power from the Sun«, in: Scientific American 110 (25. February 1914), S. 179.
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Growth (1971) erscheint. Im Falle Shumans verhinderten allerdings der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und sein Tod im Jahr 1918 eine Weiterarbeit an der Realisierung seiner Visionen. Vor allem aber richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf Erdöl, das schon im Ersten Weltkrieg für den Einsatz von Maschinen eine zentrale Rolle gespielt hatte.
Energien zukünftiger Gesellschaften Ähnlich weitreichende Pläne wie Shuman hatte auch der Architekt Herman Sörgel. Ausgangspunkt seiner Schrift Atlantropa (1932) ist die These, die »wahrscheinlichsten Wandlungen der Zukunft scheinen diejenigen zu werden, die mit der Erschöpfung der Kohle und der erweiterten Anwendung der Wasserkraft zusammenfallen«.115 Sörgel, nach dessen Meinung England in 200 Jahren über keine Kohle mehr verfügen werde, wollte die Kraft des vom Atlantik in das Mittelmeer strömenden Wassers als Energiequelle nutzen. Mit gehörigem Pathos schreibt Sörgel: »Es gibt für Europas Zukunft keine andere ausreichende Kraftquelle wie [sic!] das Mittelmeer«.116 In einem von allen europäischen Ländern gemeinsam durchzuführenden Projekt solle ein Staudamm an der Straße von Gibraltar errichtet werden, der das Mittelmeer teilweise trockenlegen, die Sahara bewässern und neues Land an der Küste Nordafrikas schaffen würde. Aus Europa und Afrika sollte der neue Kontinent ›Atlantropa‹, nach Sörgel das »Festland am Atlantik«,117 entstehen, mit Afrika und Europa als einer Wirtschaftseinheit. Allerdings handelt es sich nicht um ein gleichberechtigtes Projekt zwischen Europa und Afrika. Denn um zu überleben und die »Selbstvernichtungsgefahr« Europas abzuwenden,118 erschließen die Europäer Afrika. Atlantropa ist demzufolge ein imperialistisches Projekt. Sörgel positioniert seine technokratische Vision in einem Feld, in dem politische Mächte um die Vorherrschaft kämpfen. Einerseits müsse Europa eine neue Energiequelle erschließen, um nicht von anderen Erdteilen »überflügelt« zu werden, andererseits müsse man Afrika kultivieren, da es »gemessen an der abendländischen Kultur erst im Erwachen be115 | Soergel, Herman, Atlantropa, Zürich/München 1932, S. 75. 116 | Ebd., S. 78. 117 | Ebd., S. xii. 118 | Ebd., S. 100.
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griffen« sei.119 Mit unverhülltem Rassismus führt Sörgel aus, dass Afrika von Europa erschlossen werden müsse, wenn die »schwarze Rasse« nicht eines Tages die »weiße an Bevölkerungszunahme überflügeln soll«.120 Die Besetzung und Nutzung von Energiequellen sowie die Regulierung der Bevölkerungsgröße sind somit Strategien im geopolitischen Kampf der Großmächte – Atlantropa würde Panasien und Panamerika gegenüberstehen – um die Herrschaft. Die Grundlage dieses großpolitischen Vorhabens ist die Technik, denn es handle sich nicht um die »Idee eines philosophierenden Politikers«, sondern das »Projekt eines organisierenden Technikers«.121 Demgemäß ist die Technik ein Faktor, von dem die Wirtschaft und somit auch die Politik abhängen, weshalb das zukünftige Europa weniger mit Diplomatie als mit Energiewirtschaft zu tun haben werde.122 Politik erscheint bei Sörgel als eine von der Technik abhängige Größe, weshalb Techniker und Ingenieure den Lauf der Geschichte und die Organisation des Sozialen bestimmen. Dabei übersetzt Sörgel den technischen Fortschritt in eine zunehmende Raumbeherrschung – und zwar deshalb, weil von den drei Faktoren Bevölkerung, Lebensraum und Energie/Technik, von denen das Schicksal Europas abhänge, nur der Faktor Lebensraum beeinflussbar sei. Für den Mittelmeerraum als »Mittelstück der Landhalbkugel« gelte: »entweder Weltbeherrschung oder Risiko der Aufteilung durch die Nachbarn!«123 Sörgels Zukunftsentwurf zielt auf eine technokratische Realisierung einer ökologischen Gouvernementalität, schließlich basiert das gesamte Projekt auf der Knappheit von Energie, Lebensraum und Rohstoffen. Die eigentlichen die Zukunft einer Gesellschaft betreffenden Entscheidungen liegen dabei allerdings in einem vorpolitischen Raum. Wie Sörgel ausführt, sei die ungleiche Bevölkerungsverteilung hauptsächlich durch Naturverhältnisse, also Klima, Rohstoffe, geographische Besonderheiten usw. bedingt124 – weshalb man sie konsequenterweise nur auf der Basis technisch-wissenschaftlicher Strategien regulieren könne. 119 | Ebd., S. 78 und 80. 120 | Ebd., S. 80 f. 121 | Ebd., S. 82. 122 | Ebd., S. 83. Vgl. auch: »Die Technik bestimmt die Wirtschaft und diese die Politik«. Ebd., S. 85. 123 | Ebd., S. 107. 124 | Ebd., S. 131.
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Wie Sörgel oder der bereits erwähnte Günther entwickelt auch der Ingenieur Anton Lübke Zukunftsszenarien ausgehend von der Diagnose einer Knappheit der Kohlevorräte. In seinem Buch Die sterbende Kohle geht er der Bedeutung der Kohle für die modernen Industriestaaten in »kultureller, wirtschaftlicher, industrieller, verkehrstechnischer und lebenserhaltender Hinsicht« nach.125 Dabei hat Lübke noch in der Klage über ihr Ableben die Kohle als Akteur im Blick, denn ihm geht es ausdrücklich darum, wie sich durch die Kohle das gesellschaftliche Leben änderte und wie sie das moderne Industrie-, Handels- und Verkehrsleben gestalte: Die Kohle sei »Gradmesser für unsere Lebensbedürfnisse und der Ausstrahlungspunkt für die Gestaltung der europäischen Wirtschaft«.126 Und schließlich ließen Kohle und Dampfmaschine Malthus’ Prognosen scheitern.127 Doch die Kohlevorräte sind, wie Lübke hervorhebt, »endlich« und durch unverantwortlichen »Raubbau«, zunehmende Förderschwierigkeiten und den Ersten Weltkrieg128 rücke die »geologische Erschöpfung der Kohle« in bedrohliche Nähe.129 Abhilfe könne in dieser Situation zwar Erdöl schaffen, aber auch das werde zur Neige gehen. Dann aber würden Stoffe wie Kohle und Erdöl nach Lübke zu »Konfliktstoff[en]«, die in Europa und anderen Erdteilen die Beziehungen der Länder in eine sehr schwere Lage brächten.130 Notwendig sei daher ein grundlegender Wandel, nämlich die Nutzung anderer Energiequellen. Diesen Alternativen der Energiegewinnung widmet sich Lübke in seinem Buch Technik und Mensch im Jahr 2000 (1927), mit dem er lange vor der Erfindung der Futurologie als Wissenschaft eine ›futurologische‹ Abhandlung vorlegt.131 Lübkes futurologische Ausrichtung zeigt sich schon 125 | Lübke, Anton, Die sterbende Kohle. Das kulturelle und wirtschaftliche Schicksal Europas, Regensburg 1925, S. iv. 126 | Ebd., S. v. 127 | Ebd., S. 447. 128 | Ebd., S. 253 f. 129 | Ebd., S. 313. 130 | Ebd., S. 374. 131 | Der Begriff ›Futurologie‹ stammt von Ossip Flechtheim, der überhaupt die Frage der Wissenschaftlichkeit einer Zukunftswissenschaft reflektierte, vgl. allgemein dazu: Bühler, Benjamin/Willer, Stefan (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn 2016.
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in der Vorrede, die sowohl den »Gegenwartsmenschen« als auch den »Menschen im Jahr 2000« adressiert.132 Dabei wendet Lübke ein Verfahren an, das die späteren Futurologen als Extrapolation bezeichnen werden: Zuerst gibt er ein Bild über die »Vorbedingungen der Energiewirtschaft« im »primitiven Zeitalter der Technik«, in dem Holz von zentraler Bedeutung ist, geht sodann auf die ersten Maschinen sowie das Phantasma des Perpetuum mobile im Mittelalter und schließlich auf die gegenwärtige Zeit ein, in der Kohle, Erdöl und auch Wasserkraft die Energie für Dampfmaschinen und Elektrizität bereitstellen. Auf dieser Grundlage sowie unter Berücksichtigung der zukünftigen Umwertung von Kohle und Erdöl entwirft Lübke die zukünftige »Gestaltung des Lebens, der Technik, der Industrie, der Stadt, des Verkehrs, der erwachenden Industrievölker und eines Zukunftskrieges« – in Hinblick auf die heute schon im »Keime bestehende Entwicklung«.133 Dabei berücksichtigt er auch unterschiedliche Geschwindigkeiten des Wandels, habe Kohle und Öl doch gezeigt, dass sich das »Weltbild« innerhalb von zehn Jahren von Grund auf ändern und völlig neue Denkrichtungen und Handlungsmöglichkeiten vorgeben könne. Auch wenn Lübke demnach um die Unsicherheit jedes Zukunftswissens weiß, entwirft er im Folgenden den Menschen des Jahres 2000 im Modus des »Vielleicht«. Auf einer Stufe der »technischen Vollkommenheit« wird man nach Lübke im Jahr 2000 Energie aus Pflanzen und Holzabfällen (»grüne Kohle«) gewonnen haben, aus Wind (»blaue Kohle«), Luftelektrizität, Atomzertrümmerung, Erdwärme, Wasser (Flüsse und aufgespeicherte Seen), Meereswellen bzw. -gezeiten und der Sonne. Lübke hat aber auch die Geopolitik im Auge, seine Aufmerksamkeit gilt den Ländern, denen er ein baldiges »industrielle[s] Erwachen«134 aufgrund ihrer Rohstoffvorräte vorhersagt. So biete Russland aufgrund seiner unermesslichen Erdschätze – es besitze etwa zweieinhalb Mal so viel Erdöl wie die USA – »gewaltige Zukunftsmöglichkeiten«,135 doch die »größte industrielle Zukunft« dürfe China haben.136 Diese Ausführungen erscheinen allerdings in einem etwas anderen Licht, wenn man Lübkes 132 | Lübke, Anton, Technik und Mensch im Jahr 2000, München 1927, S. 5. 133 | Ebd., S. 6. 134 | Ebd., S. 267. 135 | Ebd., S. 267. 136 | Ebd., S. 271.
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Buch Das deutsche Rohstoffwunder (1940) heranzieht, das sich mit Kohle und Erdöl, aber auch mit Metallen, Holz, Öl, Farben, Kunststoffen, Leder u. a. beschäftigt. Im Vorwort der sechsten Auflage stellt Lübke fest, dass die »wiedergewonnenen Ostprovinzen mit den bedeutenden oberschlesischen Kohlenschätzen und der Kornkammer Posen« zu einer »wesentlichen Erweiterung der Rohstoffversorgung« geführt hätten, dass mit der Eroberung Polens der ganze Osten mit den russischen Rohstoffgebieten offen stehe und durch die Beherrschung des Südostraumes die Ölversorgung gesichert sei.137 Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg erscheint damit als Realisierung eines Zukunftskrieges, dem Lübke in Technik und Mensch im Jahr 2000 ebenfalls in einem Kapitel nachgeht. Der Krieg der Zukunft wird, so Lübke, nicht nur »ein Krieg um die Kohle und das Öl, sondern auch ein Krieg mit der Kohle und den neuen Energien in der kompliziertesten Form sein«.138 Ein solcher Krieg werde über Kriegstechniken wie ferngelenkte Kampfflugzeuge und weiterentwickelte chemische Waffen verfügen und möglicherweise unterirdische Festungen und Tunnelsysteme bauen.139 Damit soll hier nicht behauptet werden, dass Lübke mit seiner Prognose Recht behalten habe, vielmehr geht es darum, dass er geopolitische Beziehungen ebenso wie kriegerische Auseinandersetzungen unter dem Gesichtspunkt der Rohstoffe betrachtet, die auch heute zunehmend in den Blick kommen. Die Knappheit der Ressourcen ist eine unbestreitbare Realität, es handelt sich aber auch um das Kernelement eines Narrativs, das die menschliche Geschichte als Ausbeutungs- und gleichermaßen Fortschrittsgeschichte konzipiert und das sowohl ein apokalyptisches Szenario der zukünftigen Rohstoff kriege als auch das utopische Szenario einer energietechnisch hochentwickelten Gesellschaft kennt. Letztere, Konflikte um knappe Ressourcen sowie die Ausbildung neuer Energietechniken, sind zentrale Topoi literarischer Zukunftserzählungen, insbesondere der Science-Fiction-Literatur. Bei Jules Verne gehören alternative Energieformen zum festen Inventar seiner Romane. Zum Beispiel verwendet Kapitän Nemo in Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (1869/70) Elektrizität, sie gewähre seiner 137 | Lübke, Anton, Das deutsche Rohstoffwunder. Wandlungen der deutschen Rohstoffwirtschaft, Stuttgart, 6. Aufl. 1940, S. 23. 138 | Lübke, Technik und Mensch im Jahr 2000, a. a. O., S. 352. 139 | Ebd., S. 354.
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Nautilus »Wärme, Licht, Bewegung, kurz sein Leben«.140 Nemo gewinnt das notwendige Sodium aus dem Meerwasser, benötigt dafür aber wiederum Kohle, welche er aus Minen am Meeresboden gewinnt.141 Dagegen kommen die Protagonisten in Die geheimnisvolle Insel (1874/75) angesichts der Frage, was die Kohle in zwei- bis dreihundert Jahren ersetzen könne, zu dem Schluss: »Ich glaube also, daß man, wenn unsere jetzigen Kohleschächte einmal erschöpft sein werden, mit Wasser heizen wird. Das Wasser ist die Kohle der Zukunft.«142 Während Verne im Rahmen der technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten bleibt, hat Edward Bulwer-Lytton in seinem Roman Vril, the Power of the Coming Race (1871) eine außergewöhnliche Energieform ersonnen, die eine bis heute anhaltende Rezeptionsgeschichte aufweist. In Bulwer-Lyttons Roman stehen die unter der Erde wohnenden Vril-ya weit über dem Menschen durch das Vril-Fluidum, eine Energieform von unvorstellbarer Kraft. Gemäß der »subterranen Philosophen« und mit Bezug auf den Physiker Michael Faraday könne man die Wirkungsart des Vril als »atmosphärischen Magnetismus« bezeichnen.143 Die Vril-Kräfte beendeten den Krieg, da sie »die Kunst der Vernichtung« zur Perfektion brachten, was auch für die politische Struktur Auswirkungen hat: Gewaltherrschaft und Staaten verschwanden, da jeder jeden anderen ohne Weiteres und umgehend töten konnte.144 Die Vril-ya leben daher in Familienverbünden, deren Regierungsform die »wohlwollende Autokratie« sei, wobei es der »Oberste Magistrat« insofern leicht hat, als dass den Vril-ya der »Gehorsam gegen eine von der Gemeinschaft gebilligte Vorschrift […] so sehr zum Instinkt geworden [ist], als sei er von der Natur eingepflanzt«.145 Die politischen Möglichkeiten einer solchen machtvollen Energieform sollten immer wieder unter Rekurs auf Bulwer-Lyttons Roman aus140 | Verne, Jules, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Bd. 1, Berlin 1984, S. 98. 141 | Ebd., Bd. 2, S. 98. 142 | Verne, Jules, Die geheimnisvolle Insel, Reprint des Originals von 1876, Paderborn 2011, S. 371. 143 | Bulwer-Lytton, Edward, Das kommende Geschlecht, übers. von Michael Walter, Frankfurt a. M. 1980, S. 32. 144 | Ebd., S. 38. 145 | Ebd., S. 40.
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formuliert werden, wie Julian Strubes Studie Vril. Eine okkulte Urkraft in Theosophie und esoterischem Neonazismus (2013) eindrucksvoll zeigt: Esoterische Autoren wie Helena Blavatsky und Rudolf Steiner erkannten im Vril eine gewaltige Urkraft, Okkultisten stellten Vril als Naturkraft der Destruktivität der Moderne entgegen, gemäß dem Esoteriker Peryt Shou werde Vril das künftige Europa beherrschen.146 Nach 1945 vermutete man eine ›Vril-Gesellschaft‹ als okkulte Lenkerin nationalsozialistischer Eliten und schließlich ist der spirituelle Kampf gegen den Materialismus bis heute durch einen esoterischen Neonazismus sowie die Nazi-Popkultur geprägt. Kern dieser Konzepte war, so Strube, die Nutzbarmachung geheimnisvoller Mächte auf einer technologischen Grundlage, wobei die Vorstellung einer dynamischen Energie einem auf das Materielle reduzierten wissenschaftlichen Fortschritt entgegenstellt wird.147 In einen politisch-planetarischen Rahmen spannt Kurd Laßwitz Energiefragen in seinem Roman Auf zwei Planeten (1897). Darin lebt auf dem Mars eine Zivilisation, die dem Menschen sowohl in technischer als auch moralischer Hinsicht weit überlegen ist. Vor allem die Nutzung der Gravitationskraft führte einen »ungeahnten Umschwung der Technik« herbei, der die Marsianer zu »Herren des Sonnensystems machte«.148 Dabei repräsentieren die Marsianer die Menschheit in einem fortgeschrittenen Stadium der Geschichte: »Die Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie sie der Mars schon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte.«149 Laßwitz’ Roman folgt damit einem linearen Evolutionsmodell, wie es Ernst Haeckel Ende des 19. Jahrhunderts in biologischer Hinsicht geprägt hat.150 So habe man auf dem Mars das Zeitalter der Kohle längst überwunden: Als die Menschen gerade anfingen, über Naturwissenschaft zu sprechen, hätten die Marsianer schon auf das Zeitalter des Dampfes zurückgeblickt wie auf ein »altes Kulturerbe«.151 Die »Periode der Kohlenenergie« liege bei ihnen mehrere 146 | Zit. nach Strube, Julian, Vril. Eine okkulte Urkraft in Theosophie und esoterischem Neonazismus, München 2013, S. 93. 147 | Ebd., S. 197. 148 | Laßwitz, Kurd, Auf zwei Planeten, Berlin 1984, S. 73. 149 | Ebd., S. 73. 150 | Vgl. dazu z. B. Bowler, Peter, The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, Baltimore/London 1988. 151 | Laßwitz, Auf zwei Planeten, a. a. O., S. 73.
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Hunderttausend Jahre zurück.152 Zu »Herren des Sonnensystems« wurden sie aber, weil sie die Gravitation nutzen können, indem sie sie in eine andere Energieform überführen. Die Umstellung auf neue Energieformen bildet die Grundlage der marsianischen Gesellschaft. So zeigen sie angesichts des durch Kohleverbrennung verursachten Nebels über den Städten ihr Unverständnis, denn die Menschen lebten »ja vom Kapital statt von den Zinsen«.153 Auf dem Mars gewinnt man dagegen Energie von der Sonne, wie etwa der Verkehr zeigt: Auf »glühenden, trockenen Hochplateaus in ausgedehnten Strahlungsflächen« sammelt man die Sonnenstrahlung und führt sie Motoren in Form von Elektrizität zu.154 Für die Marsianer ist die Erde daher aus Gründen der Energiegewinnung von besonderem Interesse, denn sie empfange fast das Zehnfache der Sonnenenergie wie der Mars, was weitreichende Visionen hervorbringt: Was läßt sich unter unseren Händen aus dieser Riesenkraft schaffen! In einem Jahr wird die Erde bedeckt sein mit Fabriken, in denen wir mit Hilfe der Sonnenenergie aus den unerschöpflichen Quellen der Erde von Luft, Wasser und Gesteinen Lebensmittel erzeugen und verteilen, die nahezu nichts kosten. Die äußerste Not ist mit einem Schlage auch von den Ärmsten genommen.155
Laßwitz’ Roman setzt damit einen umgekehrten Kolonialismus in Szene.156 Einerseits geht es den Marsianern darum, die Menschen ihrer höheren Kultur entgegenzuführen. Andererseits erklärt eine Partei auf dem Mars, es sei eine »nationale Pflicht«, von der Erde »alles zu gewinnen, was das wirtschaftliche Interesse des Mars irgend daraus ziehen konnte«. Neben Steuern sind damit vor allem bedeutende Energiemengen durch Anlegung von »Strahlenfeldern« in Tibet und Arabien gemeint.157 Die Idee einer auf Sonnenenergie basierenden friedlichen Gesellschaft bleibt somit eine Uto152 | Ebd., S. 165. 153 | Ebd., S. 165. 154 | Ebd., S. 291. 155 | Ebd., S. 347. 156 | Vgl. dazu Schweikert, Rudi »Von Martiern und Menschen«, in: Laßwitz, Kurd, Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1984, S. 903– 976, hier 906 f. 157 | Alle Zitate: Laßwitz, Auf zwei Planeten, a. a. O., S. 592.
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pie, denn der Kulturplan der Marsianer, mit dem sie die Menschen auf ihre Stufe heben wollen, wird zu einem Zwangssystem. Die Frage, ob es gelingen kann, eine Bevölkerung durch die »Autorität der Macht«, durch »Einschüchterung und Beherrschung« zur »inneren Freiheit« und »freien Entwicklung aller Kräfte« zu führen,158 steht im Zentrum der zweiten Hälfte von Laßwitz’ Roman. Laßwitz entwirft somit zwar das Zukunftsszenario einer auf regenerativen Energiequellen basierenden Gesellschaft, zeigt aber auch auf, dass knappe Ressourcen – Strahlenfelder für die Sonnenenergie oder Wasser – nach wie vor Anlässe für Kriege und Kolonialismus sind.
3. K onflik tressourcen : A usbeutung und G e walt Im Dispositiv der politischen Ökologie sind Ressourcen materielle Voraussetzungen einer ökologisch stabilen Gesellschaft, weshalb sie bei Knappheit oder Ungleichverteilung zu ›Konfliktressourcen‹ werden. Die Nichtregierungsorganisation Global Witness, die den Verbindungen zwischen Nachfrage nach natürlichen Ressourcen, Korruption, bewaffneten Konflikten und Umweltzerstörung nachgeht, definiert diesen Begriff folgendermaßen: »Conflict resources are natural resources whose systematic exploitation and trade in a context of conflict contribute to, benefit from or result in the commission of serious violations of human rights, violations of international humanitarian law or violations amounting to crimes under international law«.159 Ressourcen müssen dabei nicht unbedingt der Hauptgrund eines bewaffneten Konflikts sein, zumal sich Rebellengruppen häufig der Rohstoffe bedienen, um ihre ethnisch oder politisch motivierten Konflikte zu finanzieren. Gleichwohl spricht die politikwissenschaftliche Forschung von Ressourcenkriegen: Thomas F. Homer-Dixon untersucht in seinem Buch Environment, Scarcity, and Violence (1999) den Zusammenhang von »environmental scarcity« und Gewalt. Er prognos158 | Ebd., S. 492. 159 | Global Witness, »Definition of Conflict Resources«, https://www.globalpo licy.org/home/198-natural-resources/40124-definition-of-conflict-resources. html (letzter Zugriff: 15.02.2018). Vgl. dazu auch den knappen Überblick in: Richter, Solveig, »Ressourcenkonflikte«, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Innerstaatliche Konflikte, abrufbar unter: www.bpb.de/internationales/weltweit/ innerstaatliche-konflikte/76755/ressourcenkonflikte (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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tiziert eine Zunahme gewalttätiger Konflikte insbesondere in Entwicklungsländern, die nicht durch finanzielle Mittel knappe Güter ersetzen können und in denen die wirtschaftlichen und politischen Institutionen häufig instabil sind.160 Konflikte müssen nach Homer-Dixon keineswegs ausschließlich negativ sein, denn sie können auch gesellschaftliche Umstrukturierungen hervorbringen, technische Unternehmensinitiativen stimulieren oder internationale Kooperationen einleiten.161 Die Rolle von Ressourcen für die Transformation der US-amerikanischen Sicherheitspolitik nach dem Kalten Krieg hat Michael T. Klare in seinem Buch Resource Wars. The New Landscape of Global Conflict (2001) herausgearbeitet. Die Schaffung von Allianzen gegen die Sowjetunion seien in der Agenda der USA von nationalen Interessen abgelöst worden, zu denen auch der Zugang zu Ressourcen gehöre. Amerikanische Strategien fokussierten verstärkt den Schutz von Ölfeldern, die Verteidigung maritimer Handelsrouten und andere Aspekte der »resource security«.162 Klare zitiert hierfür exemplarisch eine Bemerkung John C. Gannons, damals Deputy Director der Central Intelligence Agency, aus dem Jahr 1996: »We have to recognize that our nation will not be secure if global energy supplies are not secure.«163 Eine solche Ausrichtung ist nicht neu, wie Klare ausführt, gleichwohl zeige sich, dass die Sicherheit und Macht einer Nation vor allem auf ökonomische Dynamiken und technologische Innovationen bezogen werden, die von der Verfügbarkeit über Ressourcen abhängen.164 Diese Entwicklung beobachtet Klare aber nicht nur für die USA, denn man könne von einer »economization of international security affairs« sprechen, welche die Sicherung kritischer Ressourcen wie Öl, Erdgas, Wasser, Holz und Mineralien in den Mittelpunkt strategischer 160 | Homer-Dixon, Thomas F., Environment, Scarcity, and Violence, Princeton/Oxford 1999, S. 4. Den Begriff »environmental scarcity« definiert er als Knappheit erneuerbarer Ressourcen wie Anbauflächen, Wälder, Trinkwasser oder Fischbestände. 161 | Ebd., S. 5. Vgl. dazu auch Dinar, Shlomi (Hg.), Beyond Resource Wars. Scarcity, Environmental Degradation, and International Cooperation, Cambridge, Mass./London 2011. Die Beiträge zeigen auf, dass Knappheit und Umweltzerstörung auch Kooperationen zwischen Staaten hervorbringen. 162 | Klare, Michael T., Resource Wars. The New Landscape of Global Conflict, New York, 2. Aufl. 2002, S. 6. 163 | Zit. nach ebd., S. 6. 164 | Ebd., S. 7.
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Planungen und geopolitischer Interessen rücke.165 Wenn demnach nahezu jede Nation die Erlangung und Sicherung essentieller Materialien zur Priorität ihrer nationalen Sicherheitsplanung macht, sind militärische Konflikte geradezu unvermeidlich.166 Klares zentrale These lautet daher, dass Ressourcenkriege in den kommenden Jahren zur entscheidenden Größe der globalen »security environment« werden.167 Wie es unter den Bedingungen der globalen Erwärmung zu einer Verschärfung der Konflikte kommt, hebt der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird (2008) hervor: Wenn nutzbare Bodenflächen verloren gehen oder Wasser zur knappen Ressource wird, dann erscheint Gewalt angesichts der Bedrohung des Überlebens des Einzelnen, der Familie und Gesellschaft als Handlungsoption, wie Welzer anhand von Konflikten und Bürgerkriegen in Staaten wie etwa dem Sudan aufzeigt. Dabei markiert der Sudan nur die Spitze einer Liste von sechzig vom Scheitern bedrohter Staaten – und der Klimawandel verschärft ihre Lage zunehmend. Der Zusammenbruch solcher Staaten erzeugt nach Welzer anarchische Zustände, Entgrenzung von Gewalt bis zum Völkermord und Massenmigrationen. Mit Letzterem sind dann auch weitere Staaten betroffen, die dann ihrerseits durch die ›Abwehr‹ der Flüchtlinge durch militärische Absicherung, Überwachung der Flüchtlingswege oder Einrichtung von Lagern demokratische Werte in Frage stellen.168 Den engen Zusammenhang zwischen knappen Ressourcen und Gewalt verdeutlicht auch ein Papier des Umweltprogramms der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2009. Wie der UN-Bericht hervorhebt, sind natürliche Ressourcen in den seltensten Fällen die einzige Ursache für gewalttätige Konflikte, hinzu kommen Bevölkerungswachstum, Urbanisierung,
165 | Ebd., S. 10. 166 | Ebd., S. 14. Klare legt in seinem Buch mehrere Fallstudien vor, etwa zu militärischen Auseinandersetzungen um Öl in den Regionen um den Persischen Golf, dem Kaspischen Meer und dem Südchinesischen Meer, um Wasser, insbesondere wenn Flüsse zwischen verschiedenen Staaten verlaufen wie im Fall des Jordan, Euphrat und Tigris oder dem Indus sowie um Mineralien und Holz. 167 | Ebd., S. 213. 168 | Welzer, Harald, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a. M. 2008.
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Armut, sinkende Anbauflächen, Verteilungsprobleme u. a.169 Allerdings sind seit 1990 mindestens achtzehn gewalttätige Konflikte auf Ressourcen zurückzuführen. Der Bericht führt u. a. an: Bürgerkriege in Afghanistan wegen Edelsteinen, Holz und Opium, in der Republik Kongo wegen Diamanten, Coltan, Gold, Kupfer, Zinn, im Sudan wegen Öl.170 Und in den letzten sechs Jahrzehnten hatten wenigstens 40 Prozent aller innerstaatliche Konflikte in irgendeiner Weise mit natürlichen Ressourcen zu tun.171 Eine wichtige Rolle spielen natürliche Ressourcen als Mittel zur Finanzierung militärischer Gruppierungen. So könne man den angolanischen Bürgerkrieg als »the ultimate natural resource war« bezeichnen.172 Denn die Nationale Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas (UNITA) finanzierte sich durch illegalen Diamantenhandel, während die Regierung von Öleinnahmen abhing. Der Verlauf des Krieges hing daher maßgeblich von den internationalen Preisen für Diamanten und Öl ab. Auseinandersetzungen um natürliche Ressourcen unterminieren aber auch friedensbildende Maßnahmen, für die man vier Schwerpunkte festmachen kann:173 Etablierung von Sicherheit, Herstellung grundlegender Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Abwassersystem, Energie und Gesundheits- und Schuleinrichtungen, Wiederherstellung der Ökonomie und Lebensgrundlagen, wozu die Reparatur der Infrastruktur zählt, und der Wiederauf bau der Regierung und politischer Strukturen. In jedem dieser Felder kommt den Ressourcen eine entscheidende Funktion zu, ohne sie können weder Sicherheit und Dienstleistungen garantiert noch ein funktionierendes politisches System dauerhaft etabliert werden. Dabei sind Ressourcen sowohl als materielle als auch als semiotische Objekte Gegenstände der politischen Ökologie, weshalb sich an ihnen 169 | United Nations Environment Programme, From Conflict to Peacebuilding. The Role of Natural Resources and the Environment, Nairobi 2009, S. 8. Der Bericht beleuchtet die unterschiedlichen Rollen, die Ressourcen in Konflikten spielen, auch anhand von vierzehn kurzen Fallstudien. 170 | Ebd., S. 11. 171 | Ebd., S. 8. 172 | Ebd., S. 12. 173 | Young, Helen/Goldman, Lisa, »Managing Natural Resources for Livelihoods: Supporting Post-Conflict Communities«, in: dies./Goldman, Lisa (Hg.), Livelihoods, Natural Resources, and Post-Conflict Peacebuilding, Abingdon u. a. 2015, S. 1–12, hier S. 3.
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auch die Notwendigkeit eines um das Materielle erweiterten Kulturbegriffs zeigt: Ressourcen lassen sich kaum mit dem Konzept ›Kultur als Text‹ analysieren, vielmehr sind sie einer materiellen Kultur zuzuordnen.174 Ressourcen sind aber auch semiotische Größen, wie anhand der Diskussion um die Verfügbarkeit der Kohle um 1900 bereits aufgezeigt wurde. Die materiellen und semiotischen Dimensionen finden sich im Terminus ›Knappheit‹ wieder:175 Knappheit lässt sich einmal als Verhältnis zwischen der Größe der Nachfrage nach einer Ressource zu ihrer Verfügbarkeit in der Umwelt verstehen. Die Nachfrage ist, wie Robert Mandel schreibt, eine Funktion der Größe der Bevölkerung, der psychologischen Neigung zum Konsum, der Existenz Ressourcen fördernder Technologien, ökonomischer Interessen und soziopolitischer Anreize zum Konsum. Der verfügbare Vorrat an Ressourcen ist eine Funktion des physischen Abbaus der Ressource, der Wahrnehmung ihrer Verfügbarkeit, des Besitzes von Techniken und praktikabler ökonomischer Mittel zu ihrer Förderung, ihrem Transport und ihrer Verteilung sowie politischer und sozialer Restriktionen. Entscheidend ist nach Mandel das Verhältnis von Nachfrage und Angebot, das verkompliziert wird durch die ökologisch-physische, psychologischperzeptuelle, technisch-ökonomische und politisch-soziale Dimension. Dabei stehen reale und semiotische Knappheit in einem komplexen Verhältnis zueinander: Wahrgenommene Knappheit muss nicht mit der realen Knappheit einhergehen, zumal sie durch eine Reihe weiterer Faktoren, etwa die Konjunktur apokalyptischer Szenarien, bestimmt wird, während für die reale Knappheit politische Entscheidungen relevant sind, wie etwa die Regulierung der Ölfördermenge in den arabischen Staaten zeigt. Auch der Aspekt der Technologien lässt sich nicht alleine auf die eine oder andere Seite beziehen: Tatsächliche Knappheit forciert neue 174 | Eine bündige Definition lautet: »Materielle Kultur umfasst alle in menschlichen Gesellschaften verwendeten oder bedeutungsvollen Dinge, gleichviel, ob sie in der betreffenden Gesellschaft hergestellt, lediglich in Gebrauch genommen oder konsumiert werden bzw. worden sind.« Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K. H./Hahn, Hans Peter (Hg.), Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014, S. 4. 175 | Im Folgenden wird Bezug genommen auf: Mandel, Robert, Conflict over the World’s Resources. Background, Trends, Case Studies, and Considerations for the Future, New York u. a. 1988, S. 4 f.
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Technologien wie Fracking, die Förderung neuer Technologien hängt aber auch von Risikobereitschaft und politischen Rahmenbedingungen ab, wie an der Energiewende in Deutschland nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima deutlich wurde.
Coltan Für die Verknüpfung von ökonomischen Interessen, Umweltzerstörung, militärischen Konflikten, Verletzungen der Menschenrechte sowie Unterminierung politischer Strukturen durch Korruption und Amtsmissbrauch sind die Förderung und der Handel mit Coltan ein Paradebeispiel. Coltan ist die in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) gebräuchliche Bezeichnung für Columbit-Tantalit, eine Mischung aus zwei Mineralien.176 Das Metall Tantal ist aufgrund seiner hervorragenden elektrischen Leitfähigkeit und extrem hohen Schmelztemperatur (3017 Grad Celsius) ein wichtiger Bestandteil sehr kleiner Kondensatoren, die man in Geräten wie Smartphones, Digitalkameras, DVD-Spielern, Spielkonsolen und Laptops verwendet. Aber auch in der Medizintechnik, im Automobilbau und in der Luft- und Raumfahrt wird Tantal gebraucht, vor allem in Form von Legierungen. Berühmtheit erlangte Coltan durch Berichte der UN aus dem Jahr 2001, die die Förderung von Coltan in der DRK mit Gewaltaktionen in Verbindung brachten. Zu nennen ist hier vor allem der Bericht einer Expertenkommission vom 12. April 2001, gemäß dem die Kontrolle von fünf Schlüsselmineralien (das sind: Coltan, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Gold) im Zentrum des Konflikts zwischen der kongolesischen Regierung und verschiedenen Rebellengruppierungen stand.177 Der Bericht bildete die Grundlage für die Verurteilung der illegalen Ausbeutung natürlicher Ressourcen in der DRK durch den Sicherheitsrat der UN. Eine Pressemitteilung lautete: »The Security Council notes with concern the terrible toll the conflict is taking on the people, economy and en176 | Hier und im Folgenden wird Bezug genommen auf: Nest, Michael, Coltan, Cambridge/Malden 2011. 177 | Report of the Panel of Experts on the Illegal Exploitation of Natural Resources and Other Forms of Wealth of the Democratic Republic of the Congo, 12. April 2001, S. 41. Abrufbar unter: www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B 65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/DRC%20S%202001%20357.pdf (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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vironment of the Democratic Republic of the Congo«.178 Coltan erhielt in der Folge auch die verstärkte Aufmerksamkeit von Nichtregierungsorganisation, Aktivisten und Journalisten, die die Gewalttaten, Massenvergewaltigungen, Versklavungen und Morde dokumentierten und die öffentliche Aufmerksamkeit suchten. Initiativen und Kampagnen um Coltan waren und sind, wie Michael Nest ausführt, zwar nicht immer frei von Übertreibungen, zumal Coltan nicht die einzige Ursache für den Krieg in der DRK war und ist,179 aber sie machten Coltan zum Symbol dafür, wie Menschen in den Industriestaaten durch ihre Konsumgewohnheiten in gewaltförmige Konflikte und Ungleichheiten verwickelt sind, was zur Politisierung der Diskussion um Konfliktressourcen beitrug.180 Möglich wurde die Nutzung des Coltans durch bewaffnete Gruppen nicht deshalb, weil es Columbit-Tantalit nur in der DRK gäbe, was nicht der Fall ist. Nach Nest ist diese Behauptung ein Mythos – sowie auch die Aussagen über die Knappheit der Weltvorräte an Tantal.181 Die Rebellen, die die Cobalt-Minen in der DRK besetzten, profitierten vor allem von den Marktentwicklungen. Wie Nest aufzeigt, kam es um 2000 zu einem Preisanstieg für Tantal, der weniger mit mangelnden Vorräten als vielmehr mit Spekulationen auf den Märkten zu tun hatte.182 Tantal war auf den offenen Märkten nicht mehr verfügbar, weil einige große Unternehmen zur Zukunftssicherung teure und langfristige Verträge abgeschlossen hatten, die das Tantal an sie banden. In dieser Situation kam die DRK ins Spiel, denn die international gut vernetzten Minenbetreiber und Kriegsparteien nutzten das Defizit an freiem Tantal aus. Die Preise fielen zwar bereits 2001 wieder, was aber nichts daran änderte, dass die kongolesische Tantal-Produktion Preis178 | United Nations, »Security Council condemns illegal exploitation of Democratic Republic of Congo’s atural resources«. www.un.org/press/en/2001/sc70 57.doc.htm (letzter Zugriff: 15.02.2018). 179 | Nest, Coltan, a. a. O., S. 186. 180 | Ebd., S. 104. Vgl. dazu auch die von Nest zitierte Äußerung des US-Senators Richard Durbin aus dem Jahr 2009: »[…] without knowing it, tens of millions of people in the United States may be putting money in the pockets of some of the worst human right violators in the world simply by using a cell phone or laptop computer«. Ebd., S. 2. 181 | Ebd., S. 18. 182 | Ebd., S. 12.
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schwankungen und damit auch Destabilisierungen globaler Märkte verursachen konnte.183 Das Beispiel ›Coltan‹ führt die verschiedenen Aspekte von Konfliktressourcen vor: Es geht um Materialien, die real verwendet werden, die aber auch von Entwicklungen auf globalen Märkten abhängen und die wiederum die internationalen Märkte mitbeeinflussen; sie dienen der Finanzierung bewaffneter Konflikte und tragen damit zur Destabilisierung ganzer Regionen sowie zu massiven Menschenrechtsverletzungen bei; sie fungieren aber auch als Elemente der Politisierung des Gebrauchs natürlicher Ressourcen – und zwar gerade in Alltagsgegenständen wie Smartphones. Die Förderung von Coltan verursacht auch gravierende Umweltschäden, etwa durch Abholzung von Wäldern, Abtragen der Böden und hohen Wasserverbrauch.184 Für einen solchen Zusammenhang von natürlichen Ressourcen und Umweltverschmutzung wurde der Begriff »environmental crime« geprägt. Der Begriff beschreibt, wie es in einem UN-Bericht heißt, »illegal activities harming the environment and aimed at benefitting individuals or groups or companies from the exploitation of, damage to, trade or theft of natural resources, including, but not limited to serious crimes and transnational organized crime«.185 Solche Umweltverbrechen reichen von der Tötung geschützter Tiere und dem Handel mit ihnen, illegaler Abholzungen und Müllentsorgungen, illegalem Fischfang bis zum Abbau natürlicher Ressourcen, wozu noch die Umweltverschmutzung und die grundlegende Schädigung ganzer Ökosysteme hinzukommen, etwa durch die Verwendung von Quecksilber bei der Goldsuche oder die Zerstörung von Wäldern und Anbauflächen. Zu diesem Feld gehören aber auch die Finanzierung terroristischer Gruppen, Geldwäsche und Steuerbetrug. Umweltverbrechen unterminieren damit Entwicklungsbestrebungen und die Stabilität von Staaten, weshalb sie eine ernstzunehmende Bedrohung sozialer Sicherheit darstellen.186 Dass es hier um konkrete Verbrechen geht, die von den Behörden verfolgt werden sollen, 183 | Ebd., S. 13 und 26. 184 | Ebd., S. 48 f. 185 | United Nations Environment Programme-Interpol, The Rise of Environmental Crime. A Growing Threat to Natural Resources, Peace, Development and Security, ohne Ort 2016, S. 17. 186 | Ebd., S. 17.
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zeigt auch eine Begriffsverschiebung: Man habe den Ausdruck »environmental security« durch den kollektiven Terminus »environmental crime« ersetzt, weil diese Verbrechen dann unter bereits etablierte Gesetze fallen und nicht ausschließlich auf der Grundlage von Umweltgesetzen, die in vielen Staaten nicht differenziert ausgearbeitet sind, nur geringfügige Strafen vorsehen oder nicht durchgesetzt werden. Wenn Umweltverbrechen dagegen als Kapitalverbrechen geahndet werden können, verfügen die Behörden über wirkungsvolle Instrumente bei der Strafverfolgung, Prävention und der Herstellung einer Verhältnismäßigkeit zwischen Vergehen, Absicht und Strafmaß.187
Wasser ›Konfliktressourcen‹ verweisen nicht nur auf heute begangene Verbrechen, sondern stets auch auf die zukünftige Sicherheit. Eines der akutesten Felder, für die gewalttätige Konflikte in der nahen Zukunft vorhergesagt werden, ist die Verfügbarkeit von Trinkwasser. Nicht gemeint ist damit die Wassermenge, sondern, wie die Aktivistin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva in ihrem Buch Water Wars. Privatization, Pollution, and Profit (2002) ausführt, »Governance«: »Wasser gerecht verteilen, Wasser nicht verschmutzen, Wasser nicht verschwenden«.188 ›Wasser‹ wird nicht aufgrund eines Mangels zur Konfliktressource, sondern aufgrund gesellschaftlicher und politischer Prozesse und Entscheidungen. Insofern kann man zum einen wie der ehemalige Weltbank-Vizepräsident Ismail Serageldin konstatieren: »Wenn es in den Kriegen dieses Jahrhunderts um Öl ging, so wird es in den Kriegen des nächsten Jahrhunderts um Wasser gehen.«189 Zum anderen aber finden Kriege um Wasser längst schon statt, Shiva führt zum Beispiel den gewalttätigen Konflikt zwischen Tamil Nadu und Karnataka um die Nutzungsrechte des Flusses Kaveri in Indien an, der sich bis in das Jahr 1892 zurückverfolgen lässt. In der Folge von Krawallen im Jahr 1991 verloren rund 100.000 Menschen ihr Zuhause.190 Auch an den Flüssen Euphrat und Tigris ent187 | Ebd., S. 26. 188 | Shiva, Vandana, Der Kampf um das blaue Gold. Ursachen und Folgen der Wasserverknappung, übers. von Bodo Schulze, Zürich 2003, S. 9. 189 | Äußerung aus dem Jahr 1995, zit. n. ebd., S. 13. 190 | Ebd., S. 109–111.
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zündeten sich Konflikte, und zwar zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak. Dabei zogen Vertreter der Türkei explizit eine Verbindung zum Öl, denn das gesamte Flusswasser gehöre ihnen genauso, wie das Öl des Irak dem Irak gehöre.191 Die politische Bedeutung der Konfliktressource ›Wasser‹ zeigt ein von der US-amerikanischen Regierung angeforderter Bericht der Nachrichtendienstgemeinschaft Intelligence Community mit dem Titel Global Water Security, der folgender Frage nachgeht: »How will water problems (shortages, poor water quality, or floods) impact US national security interests over the next 30 years?«192 Damit wird von offizieller Stelle der Zusammenhang der wohl fundamentalsten natürlichen Ressource, Trinkwasser, und der Sicherheit einer Nation hergestellt. Verschärft wird die Problematik durch den wachsenden Bedarf an Trinkwasser aufgrund der steigenden Weltbevölkerung und des wirtschaftlichen Wachstums, der weniger werdenden Vorräten gegenübersteht, wobei zum wachsenden Verbrauch Misswirtschaft (schlechte Planung und Verteilung, Abholzung und Erosion, schlechte Infrastruktur), mangelhafte Kenntnisse und fehlende Technologien, aufgrund der globalen Erwärmung zurückgehende Gletscher und Zerstörungen von Wasservorräten durch Vergiftung und Überdüngung hinzukommen. Laut Bericht kann es daher in den nächsten zehn Jahren in für die USA wichtigen Staaten aufgrund von Wasserproblemen in Verbindung mit Armut, sozialen Spannungen, schlechter werdenden Umweltbedingungen und ineffektiven sowie schwachen politischen Institutionen zu sozialen Störungen kommen, die zur Destabilisierung bis hin zum Zusammenbruch eines Staates sowie zu zwischenstaatlichen Konflikten führen können. Weitere Prognosen beziehen sich auf die Verwendung von Wasser als Waffe in Kriegen, auf terroristische Angriffe, Gesundheitsrisiken sowie Auswirkungen auf die Nahrungsund Energieversorgung. Allerdings gibt es gemäß den Verfassern der Berichts gegensteuernde Maßnahmen. Vielversprechend sei die Entwicklung neuer Technologien, wobei das Spektrum vom Anbau salzresistenter Pflanzen über nanotechnologische Verfahren zur Filterung bis zur Reduktion des Wasserverbrauchs durch Tropf bewässerungssysteme reicht. Unvermeidlich scheint der Handel mit Wasser, zumal es als ›virtuelles 191 | Zit. nach ebd., S. 112. 192 | Intelligence Community Assessment, Global Water Security, 02. Februar 2012, o. S.
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Wasser‹ bereits gegenwärtig im Wert von Handelswaren, etwa Nahrungsmitteln, enthalten ist. Allerdings warnen sie vor einer Privatisierung der Wasserversorgung, denn aufgrund von Prozessen auf den Märkten könnten die Preise derart steigen, dass sich Landwirte sowie arme Privathaushalte kein Wasser mehr leisten könnten, was wiederum zur sozialen und politischen Destabilisierung führen könne. Die empirische und futurologische Expertise hat denn auch klare Handlungsanweisungen auf politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene vorzuweisen: Laut Bericht sollten die USA ›Wasser‹ zu einer globalen Priorität machen, Entwicklungsprojekte auf diesem Feld sowie internationale Abkommen zur Wassernutzung fördern. Sie sollen aber auch betroffenen Staaten notwendige, etwa über Satelliten gewonnene Daten und hydrologische Modelle zur Verfügung stellen, die unentbehrliche Voraussetzungen für eine tragfähige Politik und ein vernünftiges Wassermanagement seien. Die USA könnten umgekehrt angesichts einer zunehmenden Wasserknappheit in verschiedenen Teilen der Welt wirtschaftlich von einem zunehmenden Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten profitieren.193 Dem Bericht geht es demnach weniger um die Rettung der Menschheit als um die Sicherung des Einflusses der USA: »Active engagement by the United States to resolve water challenges will improve US influence and may forestall other actors achieving the same influence at US expense.«194 Der Bericht generiert Zukunftswissen über die Ressource ›Wasser‹, um es politisch zu implementieren: Letztlich geht es um die Aufrechterhaltung der technologischen, wirtschaftlichen und politischen Hegemonie der USA.
Seltene Mineralien im Politthriller Die vielseitigen Aspekte des Zusammenhangs von natürlichen Ressourcen, insbesondere seltenen Mineralien, und Gewalt ist Gegenstand vor allem eines Genres, nämlich des politischen Thrillers.195 Dieses Genre lässt sich, so Hans-Peter Schwarz, als eine Spielart des Kriminalromans verstehen: als Polit-Kriminalität auf höchster, nämlich staatlicher 193 | Ebd., S. vi. 194 | Ebd., S. 11. 195 | Zum Ökothriller vgl. Dürbeck, Gabriele, »Ökothriller«, in: dies./Stobbe, Urte (Hg.), Ecocriticism. Eine Einführung, Köln u. a. 2015, S. 245–257.
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Ebene.196 Zu seinen Elementen gehören Spionage, politische Intrigen, Erpressungen hoher Beamter, Korruption, Terrorismus, Folter und Ähnliches. Dabei bedient sich der Politthriller Verfahren des Unterhaltungsromans, schließlich adressiert er eine möglichst große Leserschaft, weshalb Schwarz ihn auch als modernen Abenteuerroman betrachtet. Vor allem aber hebt Schwarz hervor, dass die Politthriller von Autoren wie Eric Ambler, Graham Greene, Ian Fleming, John le Carré, Frederick Forsyth, Robert Ludlum oder Tom Clancy Themen der Zeitgeschichte behandeln, den Kalten Krieg, Staatskrisen oder Terroranschläge. Viele dieser Autoren nehmen auch selbst politisch Stellung, Schwarz verortet Autoren wie Ambler, Greene und Ludlum politisch links, während Fleming und Clancy konservative Positionen vertreten.197 Ein typischer Roman dieses Genres ist Eric Amblers Dirty Story (1967), in dem der Antiheld Abdel Simpson, der bereits in Amblers Bestseller Topkapi (1962/1969) auftrat,198 in einem fiktiven zentralafrikanischen Nachbarland des Sudan namens Mahindi in einen Konflikt um seltene Mineralien gerät. Um einen Passfälscher zu bezahlen, muss sich Simpson auf einen Auftrag einlassen, der zum Anlass für seine unfreiwillige Reise von Athen über Dschibuti bis in das Grenzgebiet zwischen den fiktiven Republiken Mahindi und Ugazi wird. Simpson gerät an einen Major Kinck, der im Auftrag der Societé Minière et Métallurgique de l’Afrique Centrale (SMMAC) Söldner für die Sicherung eines Lagers seltener Erden anwirbt. Aufgrund eines Versehens hält er Simpson für einen ehemaligen Abwehroffizier, denn der hatte damit geprahlt, in der Wüste Libyens gedient zu haben. Wie sich herausstellt, ist die Aufgabe dieser Söldner aber weitaus heikler als die Sicherung einer Mine: In einvernehmlichen Verhandlungen sollte die Grenzfrage zwischen den ehemaligen französischen Kolonien Mahindi und Ugazi geklärt werden, indem man einen Fluss zu einer natürlichen Grenze erklärte. Allerdings bricht Ugazi die Verhandlungen ab, als sie auf ihrem Staatsgebiet, das auf der anderen Seite des Flusses liegt und nach Abschluss des Vertrages also Mahindi zufallen würde, wertvolle Mineralien 196 | Schwarz, Hans-Peter, Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert im Spiegel des Polit-Thrillers, München 2006, S. 7. 197 | Schwarz, Phantastische Wirklichkeit, a. a. O., S. 10. 198 | Der Roman erschien zuerst mit dem Titel The Light of Day (1962), danach als Topkapi (1969).
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finden. Beide Staaten verhalten sich so, als ob sie nichts von den Vorkommen wüssten, versuchen aber, das Gebiet zu sichern. Die Söldner, unter denen sich auch der militärisch völlig unbedarfte Simpson befindet, sollen das Gebiet heimlich besetzen und gegen alle Versuche von Gegenangriffen schützen. Dabei widmet sich der Roman geographischen, politischen und kulturellen Aspekten der zentralafrikanischen Republik, der Korruption, militärischen Taktiken und Strategien sowie dem Alltag der Söldner und der enormen Macht der beteiligten Unternehmen. Zwar wird nicht gesagt, um welche Mineralien es sich handelt, doch Major Kinck gibt ein anschauliches Beispiel: So komme zum Beispiel Titan relativ häufig vor, dennoch liege der Weltmarktpreis bei dreitausend Dollar pro Tonne. Denn Titan sei schwer zu gewinnen. Das gelte auch für das Metall Niob, das für Legierungen, die hohe Temperaturen aushalten müssen, verwendet werde und für das der Preis derzeit einhundertzehntausend Dollar pro Tonne betrage. Man müsse nur erkennen, dass es neben Gold, Edelsteinen oder Uran noch eine Fülle weiterer wertvoller Substanzen gebe. Mit dem Antihelden Simpson knüpft Ambler an der Tradition des Pikaroromans an. Zwar ist Simpson, der nur seine eigenen Interessen verfolgt – ohne zu zögern verrät Simpson die SMMAC und läuft zur Ugazi Mining and Devopment Corporation (UMAD) über –, keineswegs so naiv wie Mateo Alemáns ›Guzman‹ oder Grimmelshausens ›Simplicius‹, denn er durchschaut durchaus die Situationen, in die er unwillentlich gelangt. Aber wie diese Figuren aus den Romanen des 16. und 17. Jahrhunderts ist Simpson ein Außenseiter, der sich in den Grenzräumen des Sozialen und Politischen bewegt und davon aus der Ich-Perspektive erzählt, womit sowohl seine aktuelle als auch nachträgliche Sicht der Ereignisse zur Darstellung kommt.199 In Dirty Story korrespondiert mit dieser Grenzfigur die Thematik des Passes und der Staatenlosigkeit sowie der kurze Kampf um den Grenzverlauf zwischen den Staaten. Der gesamte Roman spielt somit in einem realen, geographisch verortbaren und einem symbolischen, nämlich moral- und rechtsfreien Grenzraum. Verhandelt wer199 | Simpson führt etwa aus, er sei bereit »völlig offen und unverblümt über das zu reden, was passierte, nicht jedoch, mich selbst dadurch in Schwierigkeiten zu bringen, daß ich damit zeige, genau zu wissen, wo alles passierte«. So habe er die Ortsnamen geändert, um sich selbst zu schützen. Ambler, Eric, Schmutzige Geschichte, übers. von Günter Eichel, Zürich 1978, S. 138.
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den damit auch die verschiedenen Dimensionen natürlicher Ressourcen, sowohl ihre Materialität sowie die durch sie konstituierte reale Gewalt als auch ihre semiotische Dimension, etwa die Abhängigkeit ihres Wertes von Preisentwicklungen oder die durch sie konstituierten politischen Verhältnisse. Ambler legt mit seinem Roman bereits in den 1960er Jahren eine zugespitzte literarische Darlegung von Konfliktressourcen vor, denn es ist ausschließlich die Kontrolle über die seltenen Mineralien, die zum Anlass des bewaffneten Konflikts wird, bei dem alle Akteure nur an einem interessiert sind: dem Geschäft.200 Weder die Vereinten Nationen noch die Regierungen der beiden Länder werden am Ende etwas daran ändern können, dass sich die beiden Organisationen SMMAC und UMAD einigen und den Gewinn teilen werden, schließlich, so eine Protagonistin, gebe es seit mehr als fünfzig Jahren einen Grenzstreit um Mineralvorkommen zwischen Venezuela und dem, was früher einmal Britisch-Guayana hieß, ohne dass die internationale Gemeinschaft irgendetwas daran geändert hätte.201 Die Kampfhandlungen in dem Roman sind vergleichsweise harmlos, zwar gibt es Tote, aber mit einem Söldner des Gegners ist man gut bekannt, weshalb man sich mit ihm freundlich über die Lage unterhält. Doch die Bedrohung einer Eskalation ist stets gegeben, Amblers Roman lässt keinen Zweifel daran, dass die Söldner über Leichen gehen, um in den Besitz der Lagerstätten zu gelangen. Dagegen sind Gewalteskalationen zum festen Bestandteil von in den letzten Jahren erschienenen Politthrillern geworden. Edward Zwicks Film Blood Diamond (2006) beginnt mit einem Massaker an den Bewohnern eines Dorfes in Sierra Leone, der Sohn eines der Protagonisten wird als Kindersoldat missbraucht und Söldner greifen die illegale Diamantenmine der Revolutionary United Front schonungslos mit schweren Waffen an. Aber die politische Dimension der Diamanten als Konfliktressource ist ebenso zentrales Element des Films. So unterstützte Amnesty International den Film und veröffentlichte dazu einen Companion Guide, in dessen Einleitung Zwick ausführt, der Film sei zwar konventionell gemacht, ihm sei es aber darum gegan200 | Vgl. z. B. S. 251: Einer der Söldner Ugazis meint, wenn nötig, werde man die Erzkähne versenken: »Schwer ist es für uns nicht. Der UMAD geht es ums Geschäft«, worauf er die Antwort erhält: »Uns auch«. 201 | Ebd., S. 295.
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gen, mit ihm die politische Aufmerksamkeit auf den illegalen Abbau und Handel mit Diamanten zu lenken.202 Der Companion Guide liefert auf der Grundlage des Films Anregungen und Hinweise, um mit Lernern – das anvisierte Publikum sind Schüler, Studenten und Erwachsene – den Zusammenhang von natürlichen Ressourcen und regionalen Konflikten zu diskutieren. Auch der Journalist Paul Mason hat sich den ›Seltenen Erden‹ im Medium der Literatur gewidmet. Sein in China spielender Roman Rare Earth (2012) versammelt die typischen Elemente des Politthrillers wie Verfolgungsjagden, korrupte Polizisten, eine kapitalistische Motorradgang, streikende Arbeiter und wilde Sexszenen. Genauer wäre der Roman als Ökopolitthriller zu bezeichnen. Denn sein Ausgangspunkt ist die Reise einer Gruppe britischer Journalisten, die eine siebenminütige Dokumentation über den Kampf der Regierung Chinas gegen die Umweltzerstörung drehen sollen.203 Aufgrund eines Zufalls weichen sie von ihrer vorgesehenen Route ab und landen in einer Wüstenstadt, wo sich Bewohner über eine Fabrik beklagen, von der jede Nacht eine chlorhaltige Wolke aufsteigt. Kinder und Erwachsene seien krank und der Friedhof sei voll von Menschen, die weit unter 50 Jahren starben.204 In der Folge gerät die Situation außer Kontrolle, einige der Journalisten fliehen und geraten in diverse Auseinandersetzungen, die hier nicht erläutert werden sollen. Die titelgebenden ›Seltenen Erden‹ bilden gleichwohl ein Schlüsselelement, so geht dem dritten Teil ein pointiertes Zitat Deng Xiaopings als Motto voraus: »Saudi Arabia has oil. China has Rare Earth«.205 Als der Journalist Brough in der Wüste von der Motorradgang gefangen genommen wird, erfährt er, dass er sich inmitten des größten Marktes für Seltene Erden befindet. Mehr oder weniger geduldig erklärt ihm die Anführerin, was darunter zu verstehen sei:206 So hält sie ihm pulverförmiges Neodym unter die Nase, das man u. a. für starke Magnete braucht, die in 202 | Amnesty International USA Human Rights Education Program, Companion Curriculum to Blood Diamond, o. J., o. S. 203 | Mason, Paul, Rare Earth, Harpenden 2012, S. 19. 204 | Ebd., S. 28. 205 | Ebd., S. 89. 206 | Einen guten Einblick bietet der Wikipedia-Artikel »Metalle der Seltenen Erden«: https://de.wikipedia.org/wiki/Metalle_der_Seltenen_Erden (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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Kernspintomographen, Computern, Windkraftanlagen und Elektrofahrzeugen verwendet werden. Ihre Gang schütze die Minen und den Transport des Neodyms, da es illegal abgebaut werde, man befinde sich hier in einem Graumarkt, der in China sehr groß sei.207 Ein weiteres Metall der Seltenen Erden, das in einem anderen Handlungsstrang des Romans eine Rolle spielt, ist Lanthan, notwendiger Bestandteil von Nickel-Metallhydrid-Batterien. Ein Kartell gewinnt das Lanthan in Fabriken, verkauft jedoch neun Zehntel davon auf dem Schwarzmarkt.208 Mason verfolgt mit diesem fiktiven Werk ein größeres Projekt, wie das 2015 erschienene Buch Postcapitalism. A Guide to our Future zeigt. Nach Mason ist der Kapitalismus nicht einfach eine Wirtschaftsstruktur, sondern ein ›ganzes System‹, zu dem soziale, ökonomische, demographische, kulturelle und ideologische Elemente gehören. Zu diesem System gehören auch Märkte, Unternehmen und Staaten – aber ebenso organisiertes Verbrechen, geheime Netzwerke, skrupellose Wall Street-Analysten und Slums.209 Allerdings schaffe der gegenwärtige technologische Wandel Bedingungen, an die sich der Kapitalismus nicht mehr anpassen könne, die Ära des Postkapitalismus beginne. Denn das Informationszeitalter habe einen neuen Akteur des historischen Wandels hervorgebracht: »the educated and connected human being«.210 Die neu entstehende ›sharing economy‹ ist nach Mason der Fluchtweg in die Zukunft – neue Formen des Eigentums, des Leihens oder legaler Verträge.211 Notwendig hierfür sei allerdings eine Umorganisation sämtlicher Bereiche unseres gesellschaftlichen Systems. Mason betrachtet sein Plädoyer für eine offene, auf freier Information basierende Gesellschaft selbst als ein utopisches Projekt, das aber durchaus realisierbar sei, wie er an konkreten Vorschlägen aufzuzeigen versucht. Damit vermeidet er nicht zuletzt den derzeit verbreiteten Katastrophendiskurs, vielmehr geht es ihm darum, die Diagnose vom Beginn des Postkapitalismus in ein Projekt zu transformieren. Zu diesem Projekt gehören auch seine Veröffentlichungen, seine journalistischen Arbeiten in Zeitungen, sein Blog, seine theoretischen Bücher und natürlich auch 207 | Mason, Rare Earth, a. a. O., S. 98. 208 | Ebd., S. 274. 209 | Mason, Paul, Postcapitalism. A Guide to our Future, London 2015, S. xiii. 210 | Ebd., S. xvii. 211 | Ebd., S. xv.
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der Ökopolitthriller. Mit den Mitteln der Fiktion lässt sich die abstrakte Kritik am neoliberalen System und die Diskussion verschiedener theoretischer Systeme nämlich konkret und anschaulich vortragen, indem die Missstände anhand von konkreten Personen, ihren Lebensgeschichten und ihrem sozialen Umfeld in einem unterhaltsamen Roman vorgeführt werden. Solche Romane sind engagierte Literatur im besten Sinn:212 Sie ermöglichen andere, bislang ungewohnte Perspektiven auf aktuelle Problemlagen, indem sie sie in komplexe narrative Beziehungsgeflechte transformieren.
4. R ecycling : P r a xis und M odell Recycling als Modell des Politischen Recycling ist im Dispositiv der politischen Ökologie nicht einfach eine Alltagspraxis, vielmehr ist es am Kreuzungspunkt von Wissenschaft, Technik und Politik angesiedelt. Eine Studie der UN zur ›Ökologie des Recycling‹ schildert seine Bedeutung folgendermaßen: Cycling materials for use in other production processes reduces the lifecycle impacts, when compared with virgin materials that must be extracted from the earth and then transformed and transported through numerous stages. […] Cycling water means using it more than once, a critical and increasingly urgent practice where water is scarce owing to expected changes in precipitation patterns brought on by climate change. To capture these concepts, industrial ecologists use the term ›embedded utility‹: the total amount of the water, energy, and materials used for all different lifecycle stages of a product from beginning to end. 213
212 | Nach Schwarz habe man weitgehend übersehen, dass Tausende von Politthrillern häufig auch »littérature engagée« seien. Es sei geradezu erstaunlich, wie »penetrant« und »schonungslos«, mal »unverblümt«, mal »unterschwellig«, die Autoren ihre Werke nutzten, um ihre politischen Botschaften zu verkünden. Schwarz, Phantastische Wirklichkeit, a. a. O., S. 9 f. 213 | Chertow, Marian, »The Ecology of Recycling«, in: UN Chronical. The Magazine of the United Nations 46.3, 4 (2009), Online-Standort: https://unchronicle. un.org/article/ecology-recycling (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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Die erwähnte industrielle Ökologie zeigt die wissenschaftliche, ökonomische und politische Dimension des Recyclings par excellence auf. Denn darunter ist ein interdisziplinärer Verbund von Ökonomen, Ingenieuren, Toxikologen und Vertretern anderer Disziplinen zu verstehen, die nicht nur die Industrie als Ökosystem beschreiben, sondern auch auf ökologisch verträgliche Produktionsverfahren abzielen. Recycling soll demnach zum Organisationsprinzip industrieller Materialflüsse werden.214 Recycling ist somit zwar eine alte, bereits in der Antike verwendete Kulturtechnik,215 aber im Dispositiv der politischen Ökologie ist es auch ein Modell für die Einrichtung des Sozialen. Der Begriff ›Recycling‹ impliziert, dass man es mit gebrochenen Kreislaufprozessen zu tun hat. Denn während das Verb cycling einen Kreislauf bezeichnet, der den Menschen miteinschließt, verweist die Vorsilbe Re- auf dem Kreislauf entnommene Dinge, die ihm zurückgegeben werden sollen. Solchermaßen konstruiert ›Recycling‹ als Praxis und Modell das imaginäre Konstrukt eines geschlossenen Kreislaufes, der allerdings nie wirklich geschlossen ist, was die Frage nach dem Rest solcher geschlossener Systeme aufwirft. Denn der Mensch wird hierbei als besonderer Akteur hervorgehoben, da er derjenige ist, der die Kreisläufe unterbricht, wobei es in seiner Macht zu liegen scheint, sie auch wieder zum Laufen zu bringen. Recycling ist somit im Kern der politischen Ökologie zu verorten, denn mit ihm geht es um die Frage, wie menschliche Interventionen die vom Menschen selbst massiv gestörten Ökosysteme erhalten und stabilisieren können. Pointiert auf den Punkt gebracht hat die Unterbrechung und Wiederherstellung von Kreisläufen der bereits erwähnte Barry Commoner in seinem Buch The Closing Circle. Nature, Man, and Technology (1971). Commoner leistet nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Kritik der Industriegesellschaft, er entwickelt auch einen alternativen Ansatz, dessen Kern im Recycling liegt und der zu einer anderen, besseren Zukunft führen soll. Ausgangspunkt Commoners bilden ökologische Kreisläufe, denn der wesentliche Grund der Umweltprobleme liege darin, dass ›wir‹ aus dem Kreis des Lebens ausgebrochen seien, indem ›wir‹ die unendlichen Zirkulationsprozesse der Natur zu linearen Abläufen verformt hätten. Ob 214 | Vgl. dazu den wegweisenden Aufsatz: Frosch, R. A./Gallopoulos, N. E., »Strategies for Manufacturing«, in: Scientific American 261, 3 (1989), S. 144–152. 215 | Vgl. zum Beispiel die Papierherstellung: Tschudin, Grundzüge der Papiergeschichte, a. a. O.
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durch Überdüngung Nitrate oder durch Waschmittel Phosphate in Flüsse und Seen geraten, ob Autoabgase photochemischen Smog erzeugen oder Kernwaffentests die Umwelt radioaktiv verseuchen: Für Commoner liegt der Fehler in Technologien, mit denen scheinbar jedes Problem gelöst werden kann, die aber darüber hinwegtäuschen, dass sie sich stets nur auf isolierte Probleme beziehen, ohne die ebenfalls in Erscheinung tretenden Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Commoner verdammt jedoch nicht die Technik als solche, sondern schreibt diese Kurzsichtigkeit einer reduktionistischen Wissenschaft zu. Technologien müssen ihm zufolge von ökologischen Analysen hergeleitet werden, da diese allein in der Lage seien, die Komplexität der Beziehungsgefüge zu analysieren und zu überschauen. Anschaulich macht Commoner diesen ökologischen Ansatz anhand seiner häufig zitierten »Gesetze der Ökologie«: Jedes Ding steht mit jedem anderen in Beziehung. Alles muß irgendwo bleiben. Die Natur weiß es besser. So etwas wie ›Freibier‹ gibt es nicht. 216
Wie Commoners Grundgesetze zeigen, ist das »weltumspannende Ökosystem« ein unzertrennliches Ganzes. Der von ihm beschriebene geschlossene Kreislauf umfasst Natur, Wissenschaft, Technik und Ökonomie gleichermaßen, weshalb es sich bei den Umweltproblemen auch um soziale Probleme handelt, die in seinen Augen nur durch eine grundlegende gesellschaftliche Umstellung der Produktionsweise und des Verbrauchs zu lösen sind. Wenn Commoner von Ökologie spricht, meint er damit nicht die biologische Teildisziplin oder die Weltanschauung einer sich zu Beginn der 1970er Jahre konstituierenden Umweltbewegung, sondern eine Wissenschaft vom Überleben: »Um zu überleben«, müssen die Zusammenhänge und die Kreisläufe verstanden werden. Der größte Teil seines Buches besteht deshalb darin, »jene Tätigkeiten des Menschen aufzudecken, mit denen der Kreis der Natur durchbrochen wurde, und die Gründe dafür anzugeben«.217 Dass ökologische Erwägungen wirtschaftliche und politische Überlegungen leiten, ist für Commoner die Voraussetzung für das Überleben der Umweltkrise. 216 | Commoner, Wachstumswahn und Umweltkrise, a. a. O., S. 38–50. 217 | Ebd., S. 21.
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Hier kommt das Recycling ins Spiel, mit Commoner ausgedrückt: Um zu überleben, muss die »Gesellschaftsordnung der Menschheit in Einklang mit der Ökosphäre gebracht werden«.218 Zum Maßstab der gesellschaftlichen Ordnung wird solchermaßen ›die Natur‹ selbst, denn Commoner geht zur Entstehung des Lebens zurück. Die ersten Organismen auf der Erde lebten von den verfügbaren organischen Substanzen, die sie dann in »Abfallstoffe« verwandelten. Da die Menge dieser Nährstoffe begrenzt war, wären diese Lebewesen aber bald zugrunde gegangen. Allererst die Photosynthese betreibenden Organismen wandelten diesen bisherigen »räuberischen Kurs« in den »ersten großen ökologischen Zyklus der Erde« um, und indem diese Bakterien den Kreis schlössen, ermöglichten sie, so Commoner, was kein Lebewesen allein erreichen könne: ein Weiterleben.219 Commoner führt hier ein zentrales Argument der Ökologiebewegung vor, das, wie schon Ludwig Trepl gezeigt hat, einem konservativen Muster folgt. Begriffe wie ›Kreislauf‹, ›Gleichgewicht‹, ›Stabilität‹ oder ›Ökosystem‹ verweisen darauf, dass der Natur Veränderungen nur in begrenztem Ausmaß zugemutet werden können.220 In diesem Sinn führt Commoner aus, dass jede größere vom Menschen herbeigeführte Änderung eines natürlichen Systems mit großer Wahrscheinlichkeit schädlich für dieses System sei.221 Eine konkrete Veranschaulichung dieser Überlegungen leistet die Literatur. Das wohl berühmteste Beispiel einer ökologischen Utopie bieten Ernest Callenbachs Romane Ecotopia (1975) und Ecotopia Emerging (1981), die eine nach ökologischen Prinzipien organisierte Gesellschaft entwerfen. Commoners Bedeutung zeigt sich dabei bereits am Motto des Romans Ecotopia, bei dem es sich um ein Zitat aus The Closing Circle handelt: »In nature, no organic substance is synthesized unless there is provision for its degradation: recycling is enforced«.222 Der Ermöglichungsgrund für die Gründung des neuen Staates Ecotopia liegt im Recycling, d. h. in der Vermeidung der Produktion von Abfällen und Giftstoffen sowie in der Institutionalisierung von »stable state life systems«. Ein »Assistant 218 | Ebd., S. 273. 219 | Ebd. 220 | Trepl, Geschichte der Ökologie, a. a. O., S. 21 f. 221 | Commoner, Wachstumswahn und Umweltkrise, a. a. O., S. 46. 222 | Ernest Callenbach, Ecotopia. The Notebooks and Reports of William Weston, hg. von Klaus Degering, Stuttgart 1996, S. 3.
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Minister« fasst das Prinzip am Beispiel der Nahrungsmittelproduktion zusammen: »In short, we have achieved a food system that can endure indefinitely«.223 Aber auch das Recycling von Plastik wird zum Thema des Romans, dem sich eine ganze Reportage des Protagonisten Wheston widmet. Man verwendet nämlich nur Plastik aus lebenden biologischen Quellen und nicht aus fossilen Rohstoffen wie Erdöl oder Kohle. Dementsprechend gewinnt man in Ecotopia Energie aus Solar- und Wasserkraftwerken, und überhaupt stellt die Erfindung einer Photovoltaikzelle die Urszene der Gründung des neuen Staates dar.224 Es ist dann nur konsequent, dass auch der Mensch selbst Teil des Recyclings wird: »At any rate, when they feel their time has come, they let it come, comforting themselves with their ecological religion: they too will now be recycled.«225 Das Recycling des Menschen erscheint in Callenbachs Roman nur in einem Nebensatz, zumal es sich notwendigerweise aus den gesellschaftlichen Spielregeln von Ecotopia ergibt. Noch radikaler hat dagegen der Regisseur Richard Fleischer die Frage des Menschen-Recyclings in dem Science-Fiction-Film Soylent Green (1973) in Szene gesetzt. Aufgrund der Bevölkerungszunahme und der weitreichenden Umweltverschmutzung ist im Jahr 2022 die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen, allein in New York leben vierzig Millionen Menschen. Nachdem auch die Algenpopulationen der Meeresverschmutzung zum Opfer gefallen sind, kann die Ernährung dieser Menschenmassen nur noch dadurch geleistet werden, dass menschliche Körper zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden, zu so genanntem »Soylent Green«, das angeblich von Algen stammt und aufgrund seines Wohlgeschmacks bei den hungernden Massen äußerst begehrt ist. Die Bevölkerungsexplosion erzeugt somit einen industrialisierten Kannibalismus. Der Film führt den Gedanken des Recyclings konsequent zu Ende, zumal man seit jeher Getreidefelder mit Fäkalien düngte und aus Tierresten Tiernahrung herstellte. Damit zeigt Soylent Green auch, inwiefern Zukunftsfiktionen als Kommentare der Gegenwart zu lesen sind: in diesem Fall als Kommentar zu dem ein Jahr zuvor erschienenen Bericht an den Club of Rome, der eine massive Zunah223 | Ebd., S. 48. 224 | Callenbach lieferte 1981 mit dem Roman Ecotopia Emerging die Vorgeschichte von Ecotopia nach. Darin schafft die Erfindung einer besonders effizienten Solarzelle die energetischen Grundlagen des neuen Staates. 225 | Callenbach, Ecotopia, a. a. O., S. 299.
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me der Bevölkerung und gleichzeitige Abnahme verfügbarer Ressourcen prognostiziert hatte. Eine Verbindung zwischen dem Recycling als alltäglicher Praxis und der ökologischen Ökonomie stellen der Chemiker Michael Braungart und der Architekt William McDonough mit ihrem in den 1990er Jahren entwickelten Konzept from cradle to cradle her. Das Ziel der beiden Autoren ist eine abfallfreie Gesellschaft. Gegen eine auf Verbrauch, Müllverbrennung und Wegwerfgesellschaft ausgerichtete Konsumkultur entwickeln sie ein Konzept, in dem ein Produkt entweder kompostierbar ist, also in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt werden kann, oder aber es wird dazu verwendet, ein neues Produkt herzustellen. Eines ihrer Paradebeispiele sind Schuhe.226 Denn Lederschuhe sind Mischungen aus organischem Material, Leder, und technischen Stoffen, etwa Chrom und anderen Substanzen, die für die Ledergerbung wichtig sind. Der Schuh als ganzer ist daher nicht recycelbar, er landet auf der Mülldeponie. Dagegen ließe sich ein Schuh herstellen, dessen Sohle aus biologischem Material besteht, die ablösbar ist und wieder dem natürlichen Kreislauf zugeführt werden kann. Den Rest des Schuhs könnte man aus unschädlichen Kunststoffen herstellen, die man zu neuen Schuhen verarbeitet. Das Beispiel ist simpel, hat aber weitreichende Konsequenzen für eine Bewertung der Technik ›Recycling‹: Erstens setzt das Prinzip eine enge Verbindung von Industrie und Umwelt voraus – was in der Umweltbewegung lange Zeit als undenkbar galt. Zweitens geht es den beiden ausdrücklich nicht um downcycling, es soll also kein Produkt entstehen, das eine niedrigere Qualität als das Ausgangsprodukt hat. Vielmehr steht im Zentrum das Prinzip upcycling, gemäß dem ein gleich- oder höherwertiges Produkt entstehen soll. Dabei solle man gerade nicht einheitlichen und universalen Designstandards folgen und funktionale Massenartikel herstellen. Denn die in den Materialien enthaltenen Wertstoffe legen nach Braungart und McDonough das Design fest 227 – ein intelligentes Design würde es somit ermöglichen, ein Auto so zu gebrauchen wie Amerikas Ureinwohner einen erbeuteten Büffel genutzt hätten: Sie verwendeten 226 | Braungart, Michael/McDonough, William, Cradle to cradle. Einfach intelligent produzieren, übers. von Karin Schuler und Ursula Pesch, München 2014, S. 30 f. 227 | Ebd., S. 136.
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alle Teile zum bestmöglichen Zweck, von der Zunge bis zum Schwanz.228 Ganz in diesem Sinne wären auch alle Teile eines Autos zu nutzen – vom in den Kabeln enthaltenen Kupfer bis zum Stahl der Karosserie. Braungart und McDonough verbinden das Recycling mit einer anspruchsvollen Designkultur: »Inmitten des Geredes über die Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks bieten wir eine andere Vision. Was wäre, wenn die Menschen Produkte und Systeme entwerfen würden, in denen die Fülle an menschlicher Kreativität, Kultur und Produktivität zum Ausdruck käme?«229
Recycling und Kunst Die stoffgeschichtliche und metaphorische Dimension der Wiederverwendung des Abfalls verbindet Walter Benjamin in seiner Poetik des ›Lumpensammlers‹. Zum einen geht es Benjamin um ein literarisches Verfahren, eine Notiz in seinem Passagen-Werk lautet: »Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.«230 Daher ist für ihn der Lumpensammler eine zentrale Figur der Moderne: Siegfried Kracauer erschien ihm als ein Lumpensammler, der »mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen«.231 Vor allem aber Charles Baudelaire habe neben dem Flaneur, Dandy und Apachen auch die Rolle des Lumpensammlers angenommen. Wenn Baudelaire den Lumpensammler als einen Mann vorstelle, der die Abfälle des vergangenen Tages in der Hauptstadt aufsammle, sortiere und schütze, dann beschreibt er zugleich, so Benjamin, 228 | Ebd., S. 143. 229 | Ebd., S. 33. 230 | Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 5, 1: Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1982, S. 574. 231 | Benjamin, Walter, »Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, ›Die Angestellten‹«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, S. 219–225, hier S. 225.
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das »Verfahren des Dichters nach dem Herzen von Baudelaire«.232 Denn der Abhub gehe beide an, Lumpensammler und Poet gingen einsam ihrem Gewerbe zu Stunden nach, wo »die Bürger dem Schlafe frönen«.233 Der Lumpensammler erscheint bei Benjamin aber auch als eine soziale Figur, wie seine Analyse von Baudelaires Gedicht Le Vin des Chiffoniers zeigt. Denn der Lumpensammler ist für ihn ein Produkt der industriellen Verfahren, durch die der Abfall einen gewissen Wert bekommen habe. An ihm untersuchten die ersten Erforscher des Pauperismus die Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei. Zugleich könnten die Angehörigen der Bohème, vom Literaten bis zum Berufsverschwörer, im Lumpensammler ein Stück von sich selbst finden, stand doch jeder von ihnen in »mehr oder minder dumpfem Auf begehren gegen die Gesellschaft, vor einem mehr oder minder prekären Morgen«,234 wie für Benjamin Edouard Manets Gemälde Le Buveur d’absinthe (1859) vorführt. Nicht nur, weil er wie der Poet den Abfall sammle, sondern auch weil er wie der Poet am Rande der Gesellschaft stehe, sei der Lumpensammler die Verkörperung des Dichters. Hinzuzufügen wäre diesem Vergleich aber noch eine metonymische Relation: Denn ohne den Lumpensammler hätten die Papierfabriken keine Rohstoffe, aus denen sie Papier herstellen, auf das Dichter schreiben. Die ästhetische Dimension des Recyclings zeigen zahlreiche Werke des 20. Jahrhunderts, vom Dadaismus bis zu ökologisch ausgerichteten Kunstwerken. Ein zentraler Protagonist einer »Müllkunst« nach 1945 ist Robert Rauschenberg, der sich in einem Interview einmal als »Müllmenschen« bezeichnete.235 In seinen in den 1950er Jahren entstandenen Collagen, den so genannten Combines, verwendet er u. a. Zeitungsausschnitte, Stahlwolle, Glasscherben, Flaschen, Holzstücke und ausgestopfte Tiere.236 Auf die 232 | Benjamin, Walter, »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1, 2, Frankfurt a. M. 1974, S. 509–653, hier S. 583. 233 | Ebd. 234 | Ebd., S. 522. 235 | Rauterberg, Hanno, »›Ich habe meinen Himmel‹. Gespräch mit Robert Rauschenberg«, in: DIE ZEIT 12.01.2006 (Online-Standort: www.zeit.de/2006/03/ Rauschenberg/seite-4, letzter Zugriff: 15.02.2018). 236 | Rauschenberg, Robert, Combines [Ausstell.kat.], hg. von Paul Schimmel, Göttingen 2005.
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Frage nach der Entstehung seiner Combines antwortete Rauschenberg in einem Interview: I wanted something other than what I could make myself and I wanted to use the surprise and the collectiveness and the generosity of finding surprises. And if it wasn’t a surprise at first, by the time I got through with it, it was. So the object itself was changed by its context and therefore it became a new thing. 237
Rauschenberg stellt die Transformation des Objekts in den Vordergrund, je zufälliger das Objekt ausgewählt ist, je belangloser es erscheint, desto größer ist der ästhetische Effekt einer solchen Umwandlung. Der Einsatz von Müll in der Kunst, insbesondere in der Pop Art, hat unterschiedliche Funktionen: Es geht um die Abgrenzung gegenüber anerkannten Kunstformen und die Entwicklung einer neuen Ästhetik, um Techniken der Collage und der Kombination unterschiedlicher Materialien sowie unterschiedlicher Kunstformen in »Happenings«,238 aber auch um eine Kritik an der Konsumgesellschaft und Massenindustrie, die hier mit ihren Abfällen und Resten konfrontiert wird. Rauschenberg geht es nicht um Recycling im heutigen Sinn; gleichwohl bringt er die weggeworfenen, zu Abfall gewordenen Dinge zurück in einen ästhetischen und diskursiven Kreislauf, zumal er die Combines ausdrücklich als Provokationen der Betrachter verstand. Auf den »Zusammenhang von Abfall und (Akten-)Archiv« zielen nach Sven Spieker die Müllinstallationen des russischen Künstlers Ilya Kabakov,239 denn wie Akten ist für Kabakov auch Abfall kulturell kodiert. Seine in den 1980er Jahren entstandene Installation Mann, der niemals etwas wegwarf 240 237 | »Rosetta Brooks Interviews Robert Rauschenberg«, in: Modern Painters 17 (2004/05), Online-Standort: www.blouinartinfo.com/news/story/9117/rosettabrooks-interviews-robert-rauschenberg (letzter Zugriff: 15.02.2018). 238 | Vgl. Hunter, Sam, Robert Rauschenberg, New York 1999, S. 66. 239 | Spieker, Sven, »›Il y a‹. Kabakovs Weigerung den Mülleimer zu leeren. Bürokratie und ›feedback‹ in der Installation ›Der Mann, der nie etwas wegwarf‹«, in: Goller, Mirjam/Strätling, Susanne (Hg.), Schriften – Dinge – Phantasmen. Literatur und Kultur der russischen Moderne I, München 2002, S. 393–430, hier S. 401. 240 | Die Installation befindet sich im National Museum of Art, Architecture and Design in Oslo. Vgl. http://samling.nasjonalmuseet.no/en/object/MS-03746-1995 (letzter Zugriff: 15.02.2018).
II. Konstellationen politischen Wissens
besteht aus verschiedenen Kisten mit Papieren, Notenblättern und Alltagsmüll. In den drei Räumen der Installation finden sich unzählige beschriftete Objekte auf Tischen, in Vitrinen und an den Wänden hängend, in denen das Prinzip des Archivierens ebenso ad absurdum geführt wird wie die Unterscheidung zwischen ästhetisch wertvollen und nicht wertvollen Dingen. Im Gespräch mit Kabakov führt Boris Groys aus, dass sich viele Künstler des 20. Jahrhunderts mit Müll beschäftigt und Galerien und Museen regelrecht damit überschüttet hätten. Dabei zieht er eine Linie zwischen der ästhetischen und der ökologischen Verwendung von Müll. Der Müll, so Groys, habe keinen Gebrauchswert, sei den Gesetzen des Marktes entzogen, und erinnere daher an Kunst: Zwar wird der Müll gerade jetzt […] in das ökonomische System integriert, dank der ökologischen Bewegung, die ihre Liebe zur unberührten Natur verkündet, sich in Wirklichkeit aber ausschließlich mit dem Müll beschäftigt. So wird der Müll in den Tauschzyklus einbezogen und ist für die Kunst verloren. Übrigens haben wahrscheinlich gerade die Künstler mit ihrer ästhetischen Bearbeitung des Mülls den Weg geebnet zu seiner technologischen Beherrschung. 241
Groys erklärt damit die Kunst zur Wegbereiterin der ökologischen Bewegung, zugleich schließt er die Möglichkeit einer ökologischen Kunst dezidiert aus. Damit dürfte er die tatsächliche Entwicklung der Rolle von Recycling in der Kunst unterschätzen, denkt man an jene seit den 1960er Jahren entstandenen Kunstprojekte, die geradezu programmatisch aus Müll Kunst mit ökologischem Anspruch machen. Allerdings berührt Groys durchaus einen zentralen Aspekt. Denn während Künstler wie Rauschenberg, Kabakov und andere bedeutungsoffene Objekte erschaffen, integriert eine ökologische Kunst eben diese ästhetischen Objekte in das Programm der politischen Ökologie. Der Einsatz von Müll-Dingen in dieser Kunst zielt weniger auf das Freisetzen von deren Semantik, sondern im Gegenteil auf die Formierung eines ökologischen Bewusstseins und einer ökologischen Lebensweise. Das spricht nicht gegen solche Kunstformen, gleichwohl ist es wichtig, eine solche Positionierung von Kunst zu reflektieren.
241 | Groys, Boris/Kabakov, Ilya I., Die Kunst des Fliehens. Dialoge über Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, München/Wien 1991, S. 105.
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Politische Kunst Der brasilianische Künstler Vik Muniz hat wie kaum ein anderer die Müllproblematik in ihrer ökologischen Dimension aufgenommen. Auf dem People’s Summit, einer Parallelveranstaltung zur Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung, die im Jahr 2012 in Rio de Janeiro stattfand, baute er zum Beispiel diese Stadt ausschließlich aus Müll nach. Wie eine Journalistin berichtet, ist das Landscape Project bei den Besuchern besonders beliebt gewesen: Alleine an einem Tag hätten mehr als 1.000 Besucher ihren Müll an Muniz’ Zelt abgegeben und zahlreiche Leute bestiegen die Müllberge.242 Die Menschen hatten somit Anteil an der Entstehung eines Kunstwerks, indem sie Recycling betrieben.243 Muniz’ Müllcollage zielt dabei nicht auf eine Metaphorisierung des Mülls, sondern zeigt die Notwendigkeit, die ökologischen Kreisläufe geschlossen zu halten. In einem anderen, mehrere Jahre dauernden Projekt ging Muniz auf die damals größte Mülldeponie der Welt, Jardim Gramacho, am Rande von Rio de Janeiro gelegen. Die so genannten Catadores suchen dort nach wiederverwertbaren Dingen, die sie dann getrennt sammeln und an Recyclingfirmen verkaufen. Denn in Brasilien gibt es kein System der Mülltrennung, weshalb die ›Pflücker‹ Glas- und Plastikflaschen, Dosen, Papier u. a. aus den Müllbergen herausholen. Die Regisseurin Lucy Walker begleitete Muniz bei diesem Projekt über drei Jahre lang und dokumentierte es in dem Film Waste Land (2010).244 Nachdem es Muniz zu Beginn durchaus unbehaglich war, auf die Deponie zu gehen, stellte er dann jedoch fest, dass sich die Catadores als Arbeiter verstehen, die mit dem Sammeln von wiederverwertbaren Materialien ihren Lebensunterhalt verdienen und damit eine Alternative 242 | Vgl. Charner, Flora, »Rio + 20«, http://vikmuniz.net/news/acclaimed-brazil ian-artist-vik-muniz-serves-up-garbage-guanabara-bay-for-rio20-earth-summit (letzter Zugriff: 15.02.2018). 243 | Auch Muniz geht es dabei um die Ansprache der Betrachter, die dazu angeregt werden sollen, ihre eigenen Handlungen zu überdenken: »We have a chance to meditate on our place in nature by making the representation a symbol of that from within. It may not solve all the problems, but it puts you in a state to meditate on our own decisions« (zit. n. ebd.). 244 | Waste Land, USA 2010, R: Walker, Lucy.
II. Konstellationen politischen Wissens
zur Drogenkriminalität oder Prostitution haben. Allerdings arbeiten dort auch Kinder, die Arbeits- und Wohnbedingungen sind schlecht, und von der Bevölkerung werden die Catadores abwertend behandelt. Muniz porträtierte einige der Müllpflücker und vergrößerte die Fotos anschließend. Auf diesen Vorlagen ›malten‹ die Catadores ihre eigenen Porträts mit Müll, was Muniz dann noch einmal fotografierte. Die so entstandenen Bilder wurden ein Erfolg – den Erlös der verkauften Werke gab Muniz den porträtierten Catadores. Nach der Schließung der Deponie im Jahr 2012 entstand von dem Geld ein Ausbildungszentrum, um den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, einen anderen Beruf zu erlernen. In Lucy Walkers Film Waste Land führt Muniz aus, dass es ihm darum gehe, mit seiner Kunst, die er auch als eine Art Sozialarbeit verstehe, Denkweisen zu ändern. Die Umsetzung dieses Kunstverständnisses gelingt Muniz in doppelter Weise: Das erworbene Geld kommt den Arbeitern zugute, und das Projekt führt die Vorurteile gegenüber den Catadores vor. Sowohl in diesem Projekt als auch in seiner Repräsentation von Rio de Janeiro mit Müll bildet Muniz das Recycling nicht einfach ab, sondern setzt es als künstlerische Strategie ein. Muniz betreibt damit die Ästhetisierung des Recycling und zugleich die politisch-ökologische Formierung der Kunst. Über die Einbeziehung des Rests, in diesem Fall des Mülls, verschaltet er die Kreisläufe der Wissenschaft, des Sozialen, des Politischen und der Kunst. Einer solchen Kunst kann es nicht nur um die offene Bedeutung ästhetischer Objekte, um Repräsentation oder Provokation, um die Verwendung neuer Materialien oder Entwicklung neuer Verfahren gehen, sondern sie versteht sich immer auch als intervenierende politische Kunst. Eine langfristig angelegte Verbindung von Recycling und Kunst findet sich in dem Future Library Project der schottischen Künstlerin Katie Paterson. In Norwegen pflanzt sie 1.000 Bäume an, die das Papier für eine spezielle Anthologie liefern sollen. Jedes Jahr stellt eine Autorin oder ein Autor einen Text bereit, den man in einhundert Jahren drucken und veröffentlichen wird. Den Anfang machte die Schriftstellerin Margaret Atwood am 26. Mai 2014, ihr Skript wird bis zum Jahr 2114 unveröffentlicht und ungelesen bleiben, in der Hoffnung, Leser in einer noch unbekannten Zukunft zu finden. Patersons Projekt verortet Recycling somit in der Differenz zwischen gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart und bringt den Begriff ›Kultur‹ auf seine Etymologie, also auf colere im Sinne von bebauen
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und pflegen zurück: Es geht heute darum, den Wald zu pflegen, damit es in hundert Jahren noch eine (Buch-)Kultur geben wird. Walkers Projekt führt somit kongenial vor, dass beim ›Recycling‹ und den ›Konfliktressourcen‹ die materielle und symbolische Komponente nicht einfach nebeneinander bestehen oder Ansätze unterschiedlicher Perspektiven darstellen. Vielmehr organisiert die Fiktion, hier ein Zukunftsszenario, die realen Handlungen, das Anpflanzen und Pflegen eines Waldes, wie umgekehrt der reale Wald die Voraussetzung für die zukünftige (Buch-) Kultur darstellt.
III. Regieren als Regulieren
Wie sich am Recycling als Modell für das In-Form-Bringen des Sozialen zeigt, verstehen die wissenschaftlichen und literarischen Fiktionen einer nach ökologischen Prinzipien organisierten Gesellschaft Regieren als eine Form des Regulierens. Denn ›ökologisches Regieren‹ sieht seine hauptsächliche Aufgabe in der Einrichtung einer überlebensfähigen menschlichen Population, was unter anderem die Fundierung politischen Handelns durch naturwissenschaftliche Theorien und einen kontrollierten Umgang mit natürlichen Ressourcen, Energiequellen und Nahrungsmitteln voraussetzt. Ein Paradigma dieser Regierungsweise ist die Theorie geschlossener Systeme, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
1. R aumschiff E rde Der Ausdruck ›Raumschiff Erde‹ ist eine Leitmetapher des ökologischen Diskurses, denn sie leistet eine anschauliche Darstellung wesentlicher Diskurselemente. Erstens zeigt sich an ihr die ganzheitliche Betrachtung der Ökologie: Sie hat nicht einzelne physikalische Parameter und Organismen im Blick, sondern Wechselbeziehungen in Ökosystemen. Dabei setzt sie, das wäre ein zweiter Aspekt, diese Systeme als technisch kontrollierte und regulierte Räume in Szene, womit ein dritter Aspekt verbunden ist, nämlich die Konzeption des Raumschiffs als Überlebensraum. Sowohl die Insassen eines Raumschiffs als auch die Bewohner der Erde müssen die Bedingungen so gestalten und aufrechterhalten, dass sie überleben können. Die metaphorische Beschreibung der Erde als ›Raumschiff‹ macht sie als Ganzes zum Gegenstand eines Regulierungsphantasmas, denn so wie der abgeschlossene Raum eines Raumschiffes als Ergebnis avancierter
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Technik suggeriert, dass hier nichts dem Zufall überlassen bleibt, soll auch auf der Erde eine universale Steuerung stattfinden. Wie Sabine Höhler ausführt, beschreibt spaceship earth das technische Modell einer natürlichen Umwelt, die noch kommen werde: Die Metapher transformiere die Erde in ein komplexes, sich selbst organisierendes Zirkulationssystem.1 Populär machte die Metapher R. Buckminster Fuller mit seinem Buch Operating Manual for Spaceship Earth (1969). Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen besteht in der Feststellung, dass es keine Anleitung dafür gebe, wie wir das ›Raumschiff Erde‹ erfolgreich steuern könnten: »Thus, because the instruction manual was missing we are learning how we safely can anticipate the consequences of an increasing number of alternative ways of extending our satisfactory survival and growth – both physical and metaphysical.«2 Nach Fuller müssen ›wir‹ vorausschauend handeln, also verschiedene Zukunftsszenarien entwickeln, um den besten Weg für das Weiterbestehen der menschlichen Spezies zu finden. Doch eine Antizipation von Konsequenzen kann nicht auf einfache Modelle rekurrieren, womit der Begriff der Synergie ins Spiel kommt: »synergy means: behavior of whole systems unpredicted by the separately observed behaviors of any of the system’s separate parts or any subassembly of the system’s parts«.3 Damit hat Fuller den Kern dessen ausgemacht, was er zuvor als Kurzsichtigkeit bezeichnet hat: Denn Synergie sagt, dass das Verhalten eines Ganzen nicht durch das Verhalten der Teile vorhergesagt werden kann, die Gesellschaft aber meint, so Fuller, ein solches unvorhersehbares Verhalten gebe es nicht. Damit erklärt er die gesellschaftlich anerkannten Denkformen als unfähig, zu einem erfolgreichen Steuern des Raumschiffs Erde beizutragen. Das Problem liegt also in der Art und Weise, wie das Verhalten komplexer Systeme vorhergesagt wird. Verschärfend kommt hinzu, dass nach Fuller die Wissenschaftler selbst aufgrund der ausschließlichen Spezialisierung in allen Fächern nicht in 1 | Höhler, Sabine, »›Spaceship Earth‹. Envisioning Human Habitats in the Environmental Age«, in: Bulletin of the German Historical Institute 42 (Frühjahr 2008), S. 65–85. Eine ausführliche Darstellung dieser Metapher bietet ihre Monographie Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990, London/ Brookfield 2008. 2 | Fuller, R. Buckminster, Operating Manual for Spaceship Earth, New York 1969, S. 53. 3 | Ebd., S. 71.
III. Regieren als Regulieren
der Lage sind, solche Prognosetechniken zu entwickeln, und daher das Feld den Politikern überlassen. Eine Realisierung hat die Metapher ›Raumschiff Erde‹ in dem Projekt Biosphäre 2 gefunden. Angeregt durch ›Bucky‹ Fuller4 und finanziert durch den Milliardär Ed Bass wurde 1991 in Arizona ein Gebäudekomplex gebaut, der ein von der Außenwelt völlig abgeschlossenes Ökosystem sein sollte. Biosphäre 2 war, wie der Name sagt, ein Modell für die Erde, Biosphäre 1. Dementsprechend sollten alle wichtigen Ökosysteme modellhaft darin vertreten sein: Wüste, Regenwald, Savanne sowie ein Miniatur-Ozean mit einem Korallenriff. Für die acht Menschen, die Biosphäre 2 zwei Jahre lang bewohnten, gab es einen landwirtschaftlichen Bereich mit einer 2.000 Quadratmeter großen Ackerfläche sowie Ziegen und Hühner. Alle von der Besatzung benötigten Nahrungsmittel sollten selbst hergestellt werden, Stoffe und Wasser bereitete man zu neuem Verbrauch auf, und die Pflanzen sorgten für den notwendigen Sauerstoff. Das Projekt in der Wüste Arizonas sollte nicht nur Aussagen über die Funktionsweise von Ökosystemen liefern, sondern auch die Grundlage für eine »space colonization« bilden: Das anvisierte »life support system« sollte den zukünftigen Raumreisenden eine totale materielle Autonomie von der Erde gewähren.5 In einer Resolution formulierten die Teilnehmer des Second International Workshop on Closed Ecological systems (1989) Herausforderungen der Forschung an ganz und teilweise geschlossenen ökologischen Systeme, sie nannten u. a.: eine Biosphäre für »human life support« zu schaffen, die essentiell sei für eine dauerhafte Präsenz des Menschen im Weltall, die Entwicklung von Technologien zur Lösung des Problems Umweltverschmutzung sowie eine nachhaltige Landwirtschaft.6 Gerade weil im Falle von Ökosystemen das Vorhersagen der Zukunft nur in Form von Wahrscheinlichkeiten möglich ist, sollte Biosphäre 2 Zukunftswissen unter kontrollierten experimentellen Bedingungen erzeugen, auch wenn das Projekt selbst weitgehend scheiterte: Sauerstoff 4 | Poynter, Jane: The Human Experiment. Two years and twenty minutes inside Biosphere 2, New York 2006, S. 20. Poynter war in der ersten Gruppe, die zwei Jahre in Biosphäre 2 blieb. 5 | Ebd., S. 64. 6 | Zit. nach: Allen, John/Nelson, Mark, »Biospherics and Biosphere 2, mission one (1991–1993)«, in: Ecological Engineering 13 (1999), S. 15–29, hier S. 16.
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wurde von den Betonwänden absorbiert, die Konzentration von Kohlendioxid nahm bedrohlich zu, eine Ameisenart, wegen ihrer zuckenden Bewegungsweise als crazy ant bezeichnet, verbreitete sich und rottete andere Insekten aus. Und nicht zuletzt gab es soziale Konflikte zwischen den ersten acht Bewohnern.7 Dabei, und das ist der zweite Aspekt der Zukunftsdimension, handelte es sich gerade auch um ein soziales Projekt. Die erste Gruppe, die für zwei Jahre in Biosphäre 2 blieb, bestand nämlich keineswegs allein aus ausgebildeten Wissenschaftlern. Es handelte sich um Mitglieder des im Jahr 1973 gegründeten Institute of Ecotechnics, entstanden aus der Umweltbewegung (mit Verbindungen zu Steward Brands Netzwerk) und mit dem Ziel, die Gegensätze zwischen Natur und Technik aufzuheben. Sie verstanden sich, auf Fuller rekurrierend, als social synergists. Jane Poynter deutet denn auch das Projekt nachträglich folgendermaßen: »We were creating a new way of life, a new civilization based on the notion of social synergism.« 8 Die Idee von Biosphäre 2 bestand demgemäß darin, ein spaceship earth zu erstellen, das neue Techniken (sich selbst regenerierende Lebenssysteme) mit einem neuen way of life verband, um damit die Probleme der Biosphäre 1 zu lösen.
2. K ünstliche K limata : Treibhäuser und R aumstationen Die Verwendung der Metapher ›Raumschiff Erde‹, ihre Transformation in ein wissenschaftliches Objekt und Modell sowie ihre Materialisation in einem Großprojekt hat ihrerseits eine metaphorische und materielle Vorgeschichte. Denn was für Fuller das ›Raumschiff‹ ist, war im 19. Jahrhundert das ›Treibhaus‹. Auch das Treib-, Gewächs- oder allgemeiner formuliert Glashaus ist ein lichtdurchlässiger, aber sonst weitgehend abgeschlossener Raum. Mit dieser architektonischen Einrichtung wollte man, 7 | Das Projekt lieferte aber noch in seinem Scheitern wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse: Vgl. dazu das Heft Ecological Engineering 13 (1999) mit dem Schwerpunkt Biosphere II. Im Jahr 1994 ging eine zweite Gruppe für sechs Monate in die Biosphäre 2, von 1996 bis 2003 führte die Columbia University dort Versuche zum Klimawandel durch. Zum derzeitigen Stand vgl. die Homepage: www. b2science.org/. 8 | Poynter, The Human Experiment, a. a. O., S. 91.
III. Regieren als Regulieren
wie John Hix in seiner materialreichen und detaillierten Geschichte des Glashauses schreibt, Pflanzen in einer kontrollierten Umwelt geschützt wachsen lassen.9 Während de Saussure ein Miniatur-Treibhaus zur Erhitzung von Wasser nutzte,10 wird das Treibhaus nun selbst zu einem Experimentalsystem, insofern sich darin sämtliche Variablen bestimmen und isoliert abwandeln lassen. Darüber hinaus wird es zum Ort von Kultur, geht es doch um die Kultivierung von Pflanzen unter kontrollierten Bedingungen. Methodische Ansätze, die Gewächshäuser systematisch mit botanischem Wissen verbinden, bilden sich nach Hix seit dem 16. Jahrhundert, so integrierten zum Beispiel die Universitäten in Padua und Leyden ›Pflanzenkammern‹ in ihre botanischen Gärten.11 Aber auch mit dem Handel korrespondierten die Gewächshäuser, insbesondere über Venedig und Genua kamen aus Asien neue Pflanzen, für die man im Winter geeignete Bedingungen schaffen musste, und für die Aristokratie boten Orangerien geeignete Instrumente für ihre Selbstinszenierung.12 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem Innovationsschub im Bau von Treibhäusern, weshalb ihre Herstellung und Organisation in zum Teil neu gegründeten Gesellschaften für den Gartenbau, in Zeitschriften und Büchern intensiv diskutiert wurde. Den Begriff ›künstliches Klima‹ als Bezeichnung für die Herstellung der Temperatur und Atmosphäre, die dem natürlichen Habitat der Pflanze entspricht, verwendete nach Hix erstmals der Botaniker John Loudon im Jahr 1817. Loudon führte Versuche mit künstlichem Regen sowie mit Automaten durch, die mit Wasserdampf heizten und für die notwendige Durchlüftung sorgten. Mit dem Einsatz neuester Geräte erreichte er eine Automatisierung des Treibhauses: Das installierte System, bestehend aus einem Thermostaten, der mit Ventilatoren und einem Dampfkessel verbunden war, bezeichnete er als »automaton gardener«.13 Loudon trieben darüber hinaus weit9 | Hix, John, The Glasshouse, London 1996, S. 8. 10 | Vgl. Kapitel II, 2: Energie: Sonne und Kohle. 11 | Hix, The Glasshouse, a. a. O.: »plant chamber«: Ebd., S. 10. 12 | Obwohl man zwischen Orangerien und Gewächshäuser keine einfache Linie ziehen könne, habe man die Gewächshäuser eher als zweckgebundene Gebäude angesehen, bei denen der architektonische Stil nur eine untergeordnete Rolle spielte. Ebd., S. 16. 13 | Ebd., S. 59.
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reichende Visionen um, so sei das künstliche Klima in den Treibhäusern auch geeignet für exotische Pflanzen, Vögel oder Affen, und man könnte dort auch Exemplare der menschlichen Spezies anderer Kontinente unterbringen. Die Idee des Treibhauses als eines vollständig regulierten Raumes findet sich auch in einem weiteren Feld wieder: der Konstruktion von Raumstationen. Von der NASA ernst genommen wurden etwa die Pläne zu dauerhaften Raumstationen, die der Physiker Gerard O’Neill in den 1970er Jahren entwickelte und die Christopher Nolans Film Interstellar (2014) wieder aufgreift. Nach O’Neill sollen auf Raumstationen Atmosphäre, Temperatur und Sonneneinstrahlung so eingestellt werden, dass optimale Bedingungen bestehen, nichts soll dem Zufall überlassen werden. In seinem Buch The High Frontier. Human Colonies in Space (1977), das mit dem Titel ausdrücklich eine Parallele zu amerikanischen Gründungserzählungen um die frontier als Grenze von Wildnis und Zivilisation ansetzt, schreibt er: »Auf engem Raum können gezielt die Klimabedingungen geschaffen werden, die ideale Voraussetzungen für den Anbau bestimmter Pflanzen und Früchte, für das menschliche Wohlbefinden oder für die diversen Industriezweige bieten«.14 In einem fiktiven Brief aus der Zukunft lässt O’Neill den Bewohner einer Raumstation über seinen Alltag berichten. So werde zwar in den Wohnstätten eine künstliche Schwerkraft erzeugt, aber bei der Arbeit sei man möglicherweise der Schwerelosigkeit ausgesetzt, weshalb man sich an den ständigen Wechsel gewöhnen müsse. Die Habitate seien kugel-, zylinder- oder ringförmig, darin herrsche ein Klima, das in etwa dem von Hawaii entspreche, man wohne in Häusern mit Gärten, verfüge über Freizeitanlagen und besuche regelmäßig die Bewohner anderer Habitate. Wohnen im Weltraum ist für O’Neill nicht nur Sache durchtrainierter Astronauten, Ziel sei vielmehr ein »gutes und angenehmes Leben für die Familie«.15 Dafür muss eine ›natürliche‹ Umwelt künstlich geschaffen werden, man führt einen Wechsel von Tag und Nacht ein, Pflanzen versorgt man mit keimfreiem Wasser und chemischen Düngemitteln und durch die Sonne hat man stets ausreichend Energie zur Verfügung. Die 14 | O’Neill, Gerard, Unsere Zukunft im Raum, übers. von Fritz Oberli, Rita Kümmel und Guido Wemans, Bern/Stuttgart 1978, S. 67. 15 | Ebd., S. 46.
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Errichtung von ›dwelling places‹ im Weltraum erfordert somit eine ökologische Planung, Voraussetzung für die Realisierung dieses Projekts ist eine funktionierende Einrichtung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt.16
3. Terr aforming : P l ane tarische Technik und S cience -F iction Der Übergang von der Umweltregulation in einer Raumstation zur Regulation des Klimas auf einem ganzen Planeten ist nicht mehr qualitativer, sondern nur quantitativer Art. Geprägt hat den Begriff ›Terraforming‹ der Science-Fiction-Autor Jack Williamson in der Erzählung Collision Orbit (1942 alias W. Stewart), seither ist er zu einem festen Element der ScienceFiction-Literatur geworden, wie eine Fülle an Romanen zeigt, z. B. Robert A. Heinleins Farmer in the Sky (1950), Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie Red Mars (1993), Green Mars (1994) und Blue Mars (1996) oder Jack Williamsons Terraforming Earth (2001). Der Begriff ging aber auch in die astrophysikalische Forschung ein.17 Als einer der Ersten verfasste Carl Sagan einen wissenschaftlichen Artikel dazu, der 1961 mit dem Titel »The Planet Venus« in der Zeitschrift Science erschien. Sagan entwickelt darin 16 | Vgl. auch aktuelle Projekte der NASA zu Wohnräumen imWeltraum und auf anderen Planeten: Zum Beispiel veranstaltete sie einen Wettbewerb, bei dem man architektonische Konzepte entwickeln sollte, um mithilfe von 3-D-Druckern Habitate auf dem Mars zu bauen: NASA, NASA Awards Top Three Design Finalists in 3-D Printed Habitat Challenge, https://www.nasa.gov/directorates/spacetech/ centennial_challenges/3DPHab/2015winners.html (letzter Zugriff: 15.02.2018). Bereits realisieren konnte man die Installation des aufblasbaren Wohnmoduls »Beam« an der Internationalen Raumstation ISS (vgl. NASA, Bigelow Expandable Activity Module, https://www.nasa.gov/content/bigelow-expandable-activity-mo dule, letzter Zugriff: 15.02.2018). 17 | Der Physiker Martyn Fogg definiert Terraforming als einen »process of planetary engineering, specifically directed at enhancing the capacity of an extraterrestrial environment to support life. The ultimate in terraforming would be to create an unconstrained planetary biosphere emulating all the functions of the biosphere of the Earth – one that would be fully habitable for human beings.« Fogg, Martyn J., Terraforming: Engineering Planetary Environments, Warrendale, PA. 1995, S. 9.
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die Idee eines mikrobiologischen »planetary engineering«.18 Voraussetzung für eine menschliche Besiedlung der Venus sei die Senkung der Temperatur und die Erhöhung der Sauerstoff konzentration, was durch Mikroorganismen geschehen könne. Infrage kämen hierfür insbesondere Arten von Cyanobakterien, die in heißen Quellen bis zu einer Temperatur von 80°C überleben, Stickstoff fixieren und Photosynthese betreiben. Sagans Artikel basiert zwar auf physikalischer Forschung, ist aber vor allem ein narrativ entfaltetes Szenario.19 An genau dieser Zwischenstellung des ›Terraforming‹ setzt das nach einer Gattung der Cyanobakterien benannte Unternehmen Nostoc an, das der Künstler Mike Tyler in einem fiktiven in der Zukunft verfassten Artikel darstellt. In einer Broschüre aus dem Jahr 2046 heiße es, bei Nostoc handle es sich um den Zusammenschluss von NOS (Novel Orange Systems), das über sich selbst organisierende Schwärme arbeite, und T. O.C (Terraforming Operations Company), ihre Mission laute: »The development of pioneering organisms for nearby planets«.20 Die »cyborgization of microorganisms« sei eine neue molekulare Artistik, weshalb Tyler von ecopoiesis spricht: »Nostoc’s ecocentrism led to a ›biosphere first‹ orientation to terraforming Mars. The term Ecopoiesis described their soft approach to planetary engineering, altering the atmosphere by introducing primary life forms.«21 Tylers Projekt, zu dem es auch ein Poster mit Bildern der Organismen, Astronauten im Raumschiff und auf dem Mars sowie wissenschaftlichen, philosophischen und literarischen Zitaten und Kommentaren gibt, inszeniert das Terraforming von Planeten auf der Basis von gegenwärtigen Forschungen und Technologien, womit er sie gleichermaßen vorführt und verfremdet sowie historisch und politisch kontextualisiert. Im Zentrum steht das Terraforming auch in Reinhard Jirgls Roman Nichts von euch auf Erden (2014), in dem die Menschheit gespalten ist in 18 | Sagan, Carl, »The Planet Venus«, in: Science 133 (1961), S. 849–858, hier S. 857. 19 | Vgl. zum Gedankenexperiment als narrativem Szenario: Macho, Thomas/ Wunschel, Annette, »Mentale Versuchsanordnungen«, in: dies. (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a. M. 2004, S. 1–9. 20 | Tyler, Mike, »Nostoc Terraformers«, in: Matysik, Reiner (Hg.), Zukünftige Lebensformen, Berlin 2000, S. 145–153, hier S. 146. 21 | Ebd., S. 150.
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einen Teil, der auf der Erde lebt, und einen Teil, der Mond und Mars besiedelt hat. Jirgls Roman handelt erstens davon, wie es zu dieser Spaltung durch bestimmte gentechnische Programme kommt, zweitens davon, wie die Marsianer auf die Erde zurückkommen, um nun die Erdbewohner in ihrem Sinn umzugestalten, während sich der letzte Teil dem scheiternden Versuch widmet, auf dem Mars Terraforming durchzuführen. Damit führt Jirgls Roman sowohl die Anpassung der Umwelt an den Menschen via Terraforming als auch die Anpassung des Menschen an Umwelten via gentechnischem Umbau vor. Das Paradigma geschlossener Systeme bildet dabei in zweierlei Hinsicht die Achse des Romans: Zum einen befinden sich die Bewohner der Erde in einem geschlossenen System, zum anderen wird auch der Mars als ein geschlossenes System betrachtet, und zwar in doppelter Weise: Die Menschen auf dem Mars leben in abgeschlossenen Höhlensystemen und der Mars erscheint als technisch manipulierbares System. Die narrative Raumorganisation folgt somit der Theorie und Architektur geschlossener Systeme. Die Besiedlung des Mondes und dann des Mars erfolgt explizit in Analogie zur europäischen Kolonisation des australischen Kontinents im 17. und 18. Jahrhundert: Man verschickt Menschen, deren sozialer und psychologischer Status in problematischen Bereichen rangiert.22 Daher initiiert man ein sozial-medizinisches Korrekturprogramm. Gene, die für die Steuerung des Grundwillens sowie für Angst- und Stressverarbeitung zuständig sind, werden isoliert und den Menschen implantiert: Ziel dieser Forschung war, die betreffenden Gene dergestalt umzuprogrammieren, dass im Stammgutträger die Ausrichtung sämtlicher willensgesteuerter Funktionen eine umgekehrte Orientierung erfuhren: eine Abwärts-Orientierung; die Verwandlung des forcierten Aggressionstriebs in einen Detumeszenz-Trieb unter Ausschaltung von Angst- und Stressreaktionen. 23
Das Programm ist erfolgreich, gerät dann aber völlig außer Kontrolle. Das Detumeszenz-Gen verbreitet sich, gelangt auf die Erde und verändert nun auch hier die Menschen. Dieser Kontrollverlust ist das große Thema von Jirgls Roman, was man als literarisch vorgetragene Wissenschafts- und Technikkritik verstehen kann. Dabei zeigt der Roman aber auch auf, wie 22 | Jirgl, Reinhard, Nichts von euch auf Erden, München 2014, S. 18. 23 | Ebd., S. 19.
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die Implantation veränderter Gene ganze Gesellschaften verändert, womit er die sozialen und politischen Konsequenzen der Transformation des Menschen durch Gen-Implantationen aufzeigt. Denn aus den Erdbewohnern macht das Detumeszenz-Gen erschlaffte Menschen, ihr Tatwille ist völlig erloschen und es kommt zu einem »Ermatten und Abklingen jeglicher vitalen Steigerungs- und Bemächtigungstriebe«.24 Auf der Erde entsteht eine »Diktatur der Sanftheit«.25 Mit dem Detumeszenz-Gen ändern sich die Umweltbeziehungen grundlegend, die Erdbewohner leben isoliert in Behausungen, man trifft sich nur in Ausnahmen mit anderen Personen, die Ehepartner leben getrennt und treffen sich nur für einen ritualisierten Geschlechtsverkehr, man schminkt das Gesicht mit weißer Farbe und die Köpfe sind kahlgeschoren, direktes Fragestellen ist bei Gesprächen untersagt und die Kommunikation findet nur medial vermittelt in den Wohnungen über so genannte Holovisionen statt. Exemplarisch lässt sich dieser Wandel anhand der ›Imagosphären‹ erläutern, in denen die Menschen auf der Erde leben: Imagosphären erschaffen den auf den einzelnen, voneinander strikt separierten Kontinenten den dort angesiedelten Bevölkerungen eine Lebensweise der dritten Natur. War des Menschen erste Natur von der gedachten Einsheit mit seinen Gottheiten inmitten von beseelt empfundenen Mensch-Natur-Verhältnissen geprägt (Animismus), entsprach die zweite Natur der so benannten ›Vergegenständlichung sich selbst verfremdetet menschlicher Verhältnisse‹. Daraus folgernd ließ sich für die nachindustrielle Phase des Menschen dritte Natur formulieren als die Virtualisierung verfremdeter menschlicher Verhältnisse in Form von deren Erlebens-Zuspitzung auf die Freiheitsgrade durch hochspezifizierte Technik/Technologie. – So findet sich in den Umgangssprachgebräuchen die Lebensweise dieser dritten Natur unterhalb der Imagosphären auch bezeichnet als ›Leben unter der Glückshaube‹. 26
Jirgl stellt die Geschichte des Menschen als Transformationen des Umweltverhältnisses aufgrund verfügbarer Techniken dar. Während die frühen Menschen mit Schiller ausgedrückt noch ›naiv‹ in der Natur lebten, folgt mit der ›zweiten Natur‹ die Entfremdung des Menschen von der Na24 | Ebd., S. 26. 25 | Ebd., S. 34. 26 | Ebd., S. 26.
III. Regieren als Regulieren
tur und sich selbst, bei der aber immerhin noch die körperliche Dimension zentral ist. Dagegen stellt die Virtualisierung der Umweltverhältnisse eine Entkörperlichung dar. Ihren Ausdruck findet diese ›dritte Natur‹ in der Imagosphäre, einer Hülle, die die Stadt umgibt und eine Fläche bietet, auf die über Datenschnittstellen zwischen Bevölkerungssensorik und Gerätschaften zur Witterungsbeeinflussung die Empfindungen, Gefühle und Wünsche der Bewohner übertragen werden.27 Man hat sich somit einen eigenen Himmel erschaffen, der die durchschnittliche emotionale Grundstimmung wiedergibt. Weil somit die »kollektiven Wünsche der Menschen in Form von Wettererscheinungen« an den künstlichen Himmel projiziert werden, herrscht unter der Imagosphäre in der Regel eine »konstante Abendstimmung« mit dem permanent festgehaltenen Schein des Sonnenuntergangs und der konstanten Temperatur von 20° C.28 Bei der Ankunft der Mars-Delegation erscheinen allerdings aufgrund der Aufregung und Unruhe ein paar Wolken.29 Die traditionsreiche literarische Strategie, subjektive Befindlichkeiten über das Wetter auszudrücken, die der Autor Friedrich Christian Delius auf die Formel ›Der Held und sein Wetter‹ brachte, trägt Jirgl damit in das moderne Medien-Dispositiv ein. Die Imagosphäre ist aber auch Grundlage der sozialen Beziehungen, sie ermöglicht nämlich jedem, an einem beliebigen Ort in Form einer Holovision zu erscheinen, so dass innerhalb der Imagosphäre ein vollständig virtueller Raum entsteht, in dem persönliche Begegnungen nicht mehr vorgesehen sind. Diese Welt ist ein geschlossenes System, in dem die Wirklichkeit radikal ausgeschlossen ist. Als die Rückkehrer vom Mars die Imagosphäre zerstören und der reale Himmel sichtbar wird, ist das für die Menschen ein Schockerlebnis.30 Zugleich beginnt eine neue Ära: Alle Erdbewohner müssen sich einem »Kontrektations-Gen-Umgestaltungsprogramm« unterziehen, mit dem die mit einem Detumeszenz-Gen präparierten Exemplare in kontrollierter Form umgestaltet werden sollen.31 Während die Rückkehrer auf der Erde die geschlossenen Systeme aufbrechen, sind sie auf dem Mars nach wie vor lebenswichtig. Denn dort 27 | Ebd., S. 34. 28 | Ebd., S. 478. 29 | Ebd., S. 45 und 63. 30 | Ebd., S. 126–132. 31 | Ebd., S. 38.
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befinden sich die Großmächte, wie der Protagonist erfahren muss, nicht nur in einem planetaren Krieg, sie leben außerdem unter der Oberfläche des Planeten: Jeder Distrikt verfügte über eigene Sauerstoff- Wasser- & Lichtversorgung. – Abgetrennt vom Himmel: Draußen, existierten in den kilometerweiten warmen Höhlendistrikten innerhalb der Marsstadt weder Wechsel von Tag & Nacht noch der Jahreszeiten, stillstehend Daslicht Dasklima um die beständig gleichbleibende Temperatur in stets derselben Witterung (fast wie einst auf=Erden unter der Hülle der Imagosfäre) […]. Unablässig dröhnten in-Höhlenfernen die Aufbereitungsaggregate für Sauerstoff & Wasser, drückten preßten stießen in die Belieferungsröhren für die-Behausungen & die-Arbeitsstätten die dem menschlichen Leben notwendigen Gasgemische. 32
Der Mars wird somit zum Spiegelbild der Erde, auch hier überleben Menschen nur in künstlichen geschlossenen Systemen, zugleich arbeitet man an der Neugestaltung der marsianischen Atmosphäre, indem man den Treibhauseffekt nutzt: Fabriken mit Überleistung und im Akkord bringen über riesige »Schornsteinwälder« Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre, man bedeckt die Pole mit Schmutz, um niedrige Albedowerte zu erhalten, und erzeugt Gase durch Schwefelsäureproduktion, Zinnwerkstätten, Bleihütten und Aluminium-Werke.33 Noch in der forcierten Überspitzung folgt Jirgl den zirkulierenden Visionen einer raumfahrenden Zivilisation, die man etwa im Buch Entering Space. Creating a Spacefaring Civilization (2000) des astronautischen Ingenieurs Robert Zubrin nachlesen kann. Nach Zubrin werde der Mars der erste Planet sein, den man terraformen werde; und zwar indem man Treibhausgase wie Fluorkohlenwasserstoffe auf dem Mars freisetze – den Rest würden dann Bakterien übernehmen.34 Die letzte Pointe von Jirgls Roman besteht darin, dass so genannte ›biomorfologische Bücher‹ das Computersystem hacken und einen Prozess einleiten, der den Mars zerstört und die Erde umwandelt: Die neue Erde liege kalt, felsennackt und meeresblank. Und weil das Sonnenlicht 32 | Ebd., S. 374. 33 | Ebd., S. 281. 34 | Zubrin, Robert, Entering Space. Creating a Spacefaring Civilization, New York 2000, S. 227.
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nicht mehr durch die Staubschicht dringen könne, vereise der gesamte Planet.35 Den Roman der Zukunft schreiben daher nicht Menschen, sondern die Bücher, die ein Eigenleben angenommen haben. In Jirgls Roman, der mit seinem düsteren Glauben an die Wirkmacht des Buches noch einmal die Gutenberg-Galaxis beschwört, bilden geschlossene Systeme nicht einfach den Rahmen der Handlung, vielmehr arbeitet er die sozialen und politischen Dimensionen eines Lebens in künstlichen Klimata heraus, und zwar sowohl in Hinsicht auf abgeschlossene Räume, hier in Gestalt der Imagosphären, als auch in Hinsicht auf ganze Planeten, hier in Gestalt des Terraforming. ›Klima‹ ist dabei Gegenstand einer technischen und politischen Umweltregulation, denn die Einrichtung von physikalischen und biologischen Parametern wie Temperatur oder Gaszusammensetzung legt auch die Rahmenbedingungen sozialer Beziehungen fest.
4. B iosphäre und A nthropoz än Die Prominenz der ›Erde‹ als Objekt des ökologischen Diskurses ist eng mit dem Beginn der Umweltbewegung verbunden: Das erste vom Weltraum aus geschossene Foto der Erde – von der Besatzung der Apollo 17 im Jahr 1972 – sollte zum Symbol der zur gleichen Zeit aufkommenden Umweltbewegung werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Erde als Ganzheit geht jedoch wesentlich weiter zurück. Bereits Naturforscher der Frühen Neuzeit beschäftigten sich mit der Erde, man suchte nach wissenschaftlichen Erklärungen für ihre Entstehung und Oberflächenbeschaffenheit oder für die Sintflut. Zum Beispiel entwickelte René Descartes im vierten Teil der Principia Philosophiae (1644) eine mechanistische Theorie zur Entstehung der Erde sowie zur Beschaffenheit der Erdoberfläche, John Woodward legte unter dem Titel An Essay towards a Natural History of the Earth (1692) eine Naturgeschichte der Erde vor und William Whiston wollte in seiner Schrift Gruendlicher Beweis, daß die Offenbahrung befindliche Geschichte von der Schoepfung der Welt und die allda geschehene Verkuendigung von dem Untergang der Welt mit der gesunden Vernunft keineswegs streite (1720) das Sechstagewerk wissenschaftlich er-
35 | Jirgl, Nichts von euch auf Erden, a. a. O., S. 469.
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klären.36 Der Theologe Thomas Burnet erläuterte in seinem Werk Sacred Theory of the Earth (1684) nicht nur die bisherige Naturgeschichte der Erde, sondern auch ihre Zukunft, für die er eine noch anstehende zweite Katastrophe ankündigt, die in Form des Feuers über die Erde kommen werde. Für die Ökologie von besonderer Bedeutung war aber die Bildung des Begriffs ›Biosphäre‹, den der Geologe Eduard Suess 1875 als Bezeichnung der Oberfläche der Lithosphäre prägte, auf der das Leben lokalisiert ist und der heute die »Summe aller Lebensräume der Lebewesen auf der Erde« bezeichnet.37 Eine konzeptionelle Ausarbeitung dieses Begriffs leistete der russische Naturwissenschaftler und Begründer der Biogeochemie Vladimir I. Vernadskij in den 1920er Jahren. Vernadskij versteht unter ›Biosphäre‹ die Anwesenheit des Lebens auf dem Planeten Erde, hebt dabei aber hervor, sie bestehe sowohl aus lebenden Organismen als auch aus unbelebten, »inerten« Körpern, welche selbst »heterogene Naturkörper« wie Böden, Schlämme oder Oberflächengewässer bildeten.38 Damit hatte Vernadskij bereits Überlegungen formuliert, die Tansley 1935 unter den Begriff ›Ökosystem‹ fasste – beide betonen die Relevanz nichtlebender und lebender Faktoren. In Vernadskijs Konzept der Biosphäre sind die Organismen nicht passive, den geologischen Kräften und Großereignissen bloß ausgesetzte Wesen, sondern auch die ökologischen Verhältnisse beeinflussende Akteure (was für Tansleys Ansatz ebenso gilt). Die aktive Rolle der Lebewesen für die Gestaltung der Biosphäre zeige sich in dem ständigen Austausch von Materie zwischen den verschiedenen Sphären der Erde, weshalb sich die Biosphäre nach oben bis zur Stratosphäre und nach unten bis in die Sedimentgesteine hinein erstrecke. Zwei Prozesse sind nach Vernadskij besonders wichtig: Der erste Prozess sei inzwischen bekannt und wer36 | Es handelt sich um die deutsche Übersetzung seines Werkes A New Theory of the Earth aus dem Jahr 1696. 37 | Toepfer, Georg, »Biosphäre«, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1: Analogie – Ganzheit, Darmstadt 2011, S. 296–304, hier S. 296. Vgl. auch Oldroyd, David R., Die Biographie der Erde. Zur Wissenschaftsgeschichte der Geologie, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a.M 1998, S. 387 ff. 38 | Vernadskij, Vladimir I., Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft, hg. von Wolfgang Hofkirchner, übers. von Felix Eder und Peter Krüger, Frankfurt a. M. 1997, S. 41.
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de auch erforscht, nämlich die Evolution der Arten im Lauf der geologischen Zeit, also die Veränderung der lebenden Körper. Der zweite Prozess sei dagegen weniger gut erforscht, weshalb er sich diesem verstärkt widmen wolle: Nach Vernadskij tritt im »Lauf der geologischen Zeit die Kraft der lebenden Materie in der Biosphäre immer auffälliger hervor«.39 Mit dem Programm der Biogeochemie zielt Vernadskij auf die Verbindung dieser Prozesse, denn die Evolution der Arten erfasse auch die Biosphäre und wirke sich, wenn auch weniger radikal, ebenfalls auf die inerten Naturkörper aus, weshalb sich von einem »Evolutionsprozeß der Biosphäre selbst«40 sprechen lasse. Eine dritte Stufe sieht Vernadskij im Erscheinen des Menschen als neuer »geologischer Kraft«: Mit dem Einfluss wissenschaftlichen Denkens und menschlicher Arbeit gehe die Biosphäre in die »Noosphäre« über,41 was die geologischen Prozesse wiederum beschleunige. Vernadskijs Überlegungen zu lebenden Organismen und Menschen als geologischer Kraft, mit denen die Disziplinen Geologie, Chemie und Biologie eine neue Verbindung eingehen, ist in den letzten Jahrzehnten in den Blickpunkt der Wissenschaften gerückt. Eine erste Variante der Rezeption dieses Konzepts findet sich bei James Lovelock, der in den 1960er Jahren die Gaia-Theorie entwickelte, mit der er nach seinem eigenen Verständnis eine Radikalisierung von Vernadskijs Theorie leistete.42 Während dieser nämlich mit der Biogeochemie Organismen und ihre materielle Umwelt als koexistierend und koevolutiv betrachtet habe, würde seine Geophysiologie Organismen und Gaia als ein System ansehen.43 Lovelock integriert daher die Kybernetik in seine Theorie und beschreibt auf dieser Basis das Verhältnis von Organismen und ihrer materiellen Umwelt in Konzepten von Regelkreisen. 39 | Ebd., S. 42. 40 | Ebd., S. 43. 41 | Ebd., S. 44. 42 | Ein Vergleich der Theorien findet sich in Levit, George S., Biogeochemistry – Biosphere – Noosphere. The Growth of the Theoretical System of Vladimir Ivanovich Vernadsky, Berlin 2001, S. 92–105. 43 | Lovelock, James, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Was wir heute über Anatomie und Physiologie des Organismus Erde wissen und wie wir ihn vor der Gefährdung durch den Menschen bewahren können, übers. von Jochen Eggert und Marcus Würmli, Bern u. a. 1992, S. 68.
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›Lebendig‹ ist Gaia nach Lovelock daher in einem kybernetischen Sinn: Die Erde ist ein selbstregulierendes System, welches dem Thermostaten eines Bügeleisens genauso gleiche wie einem Bakterium oder einem Bienenstaat.44 Diese globale Perspektive verbindet Lovelock mit der These, dass die lebenden Organismen selbst ihre Umwelt miterzeugen. Das berühmteste Beispiel für eine von Organismen verursachte Änderung der Atmosphäre ist die Produktion von Sauerstoff durch Organismen: Gemäß dem Biologen Hubert Markl handelte es sich um die »schlimmste globale Umweltvergiftung, der das Leben je ausgesetzt war«.45 Vor mehr als 3 Milliarden Jahren, als der Sauerstoffpegel in der Atmosphäre unter 1 Prozent lag, begannen blaualgenähnliche Einzeller damit, Photosynthese zu betreiben. Damit verdrängten sie zum einen andere Organismen, die nicht das Sonnenlicht als Energiequelle nutzen konnten, zum anderen erzeugten sie Sauerstoff, welcher für die ausschließlich anaeroben Organismen auf der Erde ein Zellgift war. Photosynthese betreibende Einzeller verursachten somit das erste große Massenaussterben auf unserem Planeten, womit sie freilich Platz machten für die Organismen, die aus der Verarbeitung des Zellgifts Sauerstoff wiederum Energie gewannen, und zwar wesentlich mehr als anaerobe Organismen aus der Vergärung organischer Substrate.46 Während sich Lovelock in seinem ersten Buch vor allem dem Wechselverhältnis von Organismen und Atmosphäre widmet, fügt er später weitere Beispiele hinzu: Meeresalgen seien etwa an der Wolkenbildung maßgeblich beteiligt, indem sie Dimethylsulfide abgeben, welche als Kondensationskerne für Wasserdampf fungieren, also für die Wolkenbildung über den Meeren mitverantwortlich sind.47 Und selbst für die Plattentektonik macht Lovelock die Mitwirkung von Organismen aus. Die Sedimentation von Kalk auf dem Meeresboden könnte den Chemismus und die Temperatur der Krustengesteine so verändert haben, dass es zu Plattenbewegungen kam.48 44 | Ebd., 11 und 31. Vgl. dazu auch Margulis, Lynn, Symbiotic Planet. A New Look at Evolution, New York 1998. 45 | Markl, Hubert, Evolution, Genetik und menschliches Verhalten. Zur Frage wissenschaftlicher Verantwortung, München 1988, S. 22. Vgl. Lovelock, James, Gaia. A New Look at Life on Earth, Oxford u. a. 1979, S. 31 f. und 109. 46 | Markl, Evolution, Genetik und menschliches Verhalten, a. a. O., S. 22. 47 | Lovelock, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen, a. a. O., S. 127. 48 | Ebd., S. 130.
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Lovelock geht es aber nicht nur um die Beschreibung der Art und Weise, wie Organismen ihre Umwelt erzeugen, sondern auch um die technische Herstellung einer Umwelt durch Terraforming. In dem gemeinsam mit Michael Allaby verfassten Buch The Greening of Mars (1984) berichtet ein zukünftiger Bewohner des Mars von dessen Kolonisierung und der Lebensweise auf diesem Planeten. Rückblickend konstatiert der Erzähler, dass man eigentlich hätte voraussehen können, dass die »Umwandlung dieses toten Planeten in ein Gestirn, auf dem lebende Organismen von der Erde gedeihen können, viel einfacher vonstattengehen würde, als man ursprünglich angenommen hatte«.49 Diese Zukunftsfiktion ist keineswegs als bloße Science-Fiction zu verstehen, denn die beiden Verfasser wollen die konkrete Forschung für solche Projekte anstoßen. Die doppelte Perspektive – Organismen als umweltkonstituierende Agenten und den Menschen als Konstrukteur der Umwelten ganzer Planeten zu betrachten – kehrt in dem Begriff ›Anthropozän‹ wieder, mit dem eine neue Erdepoche ausgerufen wird.50 Geprägt haben diesen Begriff der Biologe Eugene F. Stoermer und der Chemiker Paul J. Crutzen, wobei sie selbst seine historische Herkunft aufzeigen: Nachdem Charles Lyell den Begriff »Holocene« für die nach-eiszeitliche geologische Epoche eingeführt hat, habe eine Reihe von Forschern nach Lyell bemerkt, dass menschliche Aktivitäten während des Holozäns allmählich zu einer signifikanten geologischen Kraft geworden seien. Schon in dieser Phase der Forschungsgeschichte spielt auch die Ökologie eine wichtige Rolle. Crutzen und Stoermer führen als Beleg George Perkins Marshs im Jahr 1864 erstmals publiziertes Buch Man and Nature an, das zehn Jahre später unter dem Titel The Earth as Modified by Human Action. A new edition of Man and Nature (1874) in einer erweiterten Fassung erschien. Marshs Buch, in dem er v. a. die Zerstörung des Waldes und deren Folgen für den Wasserhaushalt kritisiert, ist bis heute ein wichtiger Bezugstext der amerikanischen Umweltbewegung. Ebenfalls in diese Reihe gehören gemäß 49 | Lovelock, James/Allaby, Michael, Operation Marsblüte. Wie der rote Planet bewohnbar wird. Ein Bericht, Bergisch-Gladbach 1985, S. 8. 50 | Eine ausführliche Analyse unterschiedlicher Konzeptionen des Anthropozäns bietet: Bonneuil, Christophe/Fressoz, Jean-Baptiste, The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us, übers. von David Fernbach, London/New York 2013.
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den beiden Autoren der Geologe Antonio Stoppani, der 1873 erstmals von der »anthropozoic era« sprach, Vernadskijs Begriff »biosphere« (1926) und Edouard Le Roys und Teilhard de Chardins Terminus »noösphere« (1924), mit dem sie auf eine Phase der geistigen Entwicklung verweisen und die Formung der Umwelt und damit Zukunft durch den Menschen markieren. Crutzen und Stoermer schließen hier an, wenn sie schreiben: Considering these and many other major and still growing impacts of human activities on earth and atmosphere, and at all, including global scales, it seems to us more than appropriate to emphasize the central role of mankind in geology and ecology by proposing to use the term ›anthropocene‹ for the current geological epoch. The impacts of current human activities will continue over long periods. 51
Die beiden Forscher lassen das Anthropozän in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen, da seither die Zunahme von Treibhausgasen in der Atmosphäre nachweisbar sei. Vor allem aber stelle die neue geologische Epoche für den Menschen eine enorme Herausforderung dar, denn es bedürfe der intensiven Erforschung der Biosphäre sowie der ›weisen‹ Anwendung dieses Wissens. Dabei sind sie recht zuversichtlich, wenn sie ankündigen: »mankind will remain a major geological force for many millenia, maybe millions of years, to come«.52 Das ›Anthropozän‹ erweist sich hier als ein technisch-ökologisches Narrativ, dessen Kern die vollständige Kontrollierbarkeit der Umwelt ist. Das ›Anthropozän‹ ist somit einzuordnen in die Geschichte der institutionalisierten Regulierungen und der Regulierungsphantasmen, den materiellen Arrangements Gewächshaus, Biosphäre 2, der Leitmetapher ›Raumschiff Erde‹ und den Visionen von Raumstationen und durch Terraforming bewohnbar gemachten Planeten. In diesem Sinn hebt der Philosoph Falko Schmieder in einer begriffsgeschichtlichen Studie hervor, dass der Anthropozän-Begriff unter der Hand einen Anthropologismus wiedereinführe, von dem sich die Sozial- und Kulturwissen-
51 | Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F., »The Anthropocene«, in: Global Change Newsletter 41 (2000), S. 17–18, hier S. 17. 52 | Ebd., S. 18.
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schaften schon seit einiger Zeit verabschiedet hätten.53 Denn der Begriff ›Anthropozän‹ erkläre letztlich den Menschen doch wieder zur absoluten Kontrollinstanz, wie auch die Vision eines geo-engineering die Erde zum »Managementobjekt« mache.54
53 | Schmieder, Falko, »Urgeschichte der Nachmoderne. Zur Archäologie des Anthropozäns«, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 3, 2 (2014), www. zfl-berlin.org/forum-begriffsgeschichte-detail/items/forum-interdisziplinaerebegriffsgeschichte-fib.304.html, S. 47. 54 | Ebd., S. 48.
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IV. Wohnen 1. I n der U mwelt wohnen Das Bild des ›Hauses‹ ist der Ökologie schon seit ihrem Entstehen eingeschrieben: Der Biologe Ernst Haeckel leitete im Jahr 1866 diesen Begriff von dem griechischen Ausdruck oikos ab, was seiner Meinung nach den ›Haushalt‹ der Natur am treffendsten beschreibt.1 In den environmental studies wurde allerdings weniger das Haus als vielmehr das ›Wohnen‹ zu einem Kernbegriff. Denn, so Greg Garrard, das ›Wohnen‹ verweist auf die Modi praktischer Existenz in der gegebenen Umwelt, dabei bezieht es das kulturelle Gedächtnis ebenso ein wie das Alltagsleben und zukünftige Lebensformen.2 Allerdings zeigt Garrard auch auf, dass das in den frühen amerikanischen environmental studies behauptete und geforderte ›natürliche Wohnen‹ einem Narrativ folgt, das Natur und Kultur gegeneinander ausspielt. Das grundlegende Schema bietet hierfür Henry David Thoreaus Bericht über sein Leben am Walden Pond, das selbst alles andere als ein ›natürlicher‹ Aufenthalt in der Wildnis war: Thoreau kaufte sich zuerst einmal Werkzeug, Nägel und Bretter, um eine Hütte zu bauen. Hier ist auch Garrards Kritik an Heideggers Konzept des ›Wohnens‹ einzuordnen. Denn zwar fordere Heidegger dazu auf, das Wohnen zu denken,3 aber sein sozial-konservatives Programm beziehe das ›Wohnen‹ in erster Linie auf Abstammung, Familie und Tradition.4 1 | Zu Haeckels unterschiedlichen Defintionen von ›Ökologie‹ vgl. Toepfer, »Ökologie«, a. a. O., S. 681 f. 2 | Garrard, Greg, Ecocriticism, London/New York 2004, S. 108 f. 3 | Ebd., S. 110: »The political consequences of idealising the rootedness of rural folk in place and ancestral time are illustrated most starkly by Martin Heidegger.« 4 | Ebd., S. 113. In den environmental studies ist Heideggers Konzept des Wohnens äußerst umstritten. Während z. B. nach Val Plumwood Heideggers Reduktion
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›Wohnen‹ bildet ein zentrales Feld im Dispositiv der politischen Ökologie: Erstens unterläuft es die Unterscheidung von Natur und Kultur – in Abwandlung einer Formulierung von Helmuth Plessner könnte man sagen, Wohnen ist von Natur aus künstlich.5 Zweitens ist Wohnen nicht auf ein Abbild oder eine symbolische Repräsentation sozialer Strukturen zu reduzieren, vielmehr ist es ein Komplex von architektonischen Gegebenheiten, Dingen, Tieren und Menschen sowie Instrumenten und Praktiken, zwischen denen komplexe Wechselwirkungen bestehen und die Formen des Zusammenlebens strukturieren. Dabei wird die Umgebung nicht einfach vom Menschen geformt, vielmehr tritt angesichts des Klimawandels, der urbanen Explosionen und des zunehmenden Bedarfs an Energieträgern und Rohstoffen die Landschaft selbst als ein »formender Akteur« unserer kulturellen Entwicklung in Erscheinung, wie es in dem Schwerpunktheft Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape des Grazer Architektur-Magazin heißt.6 Genauso wie von materiellen Dingen wird das Wohnen, das wäre ein dritter Punkt, von imaginären Zukünften organisiert, ob präventive Maßnahmen ergriffen werden oder überhaupt die Frage nach dem Wohnen in der Zukunft aufgeworfen wird. Viertens beinhaltet Wohnen die Komponente des Regulierens: Das gilt zum einen für die Organisation des inneren Raumes, der häuslichen Tä-
des Wohnens auf einen ›wahren‹ Ort die ökologischen Aspekte verdecke, wirft Samantha Clark den Heidegger-Kritikern verkürzte Lektüren vor, denn ihm gehe es gerade darum, dass Wohnen eine kontinuierliche Befragung, Öffnung sowie radikale Akzeptanz der Grundlosigkeit und Sterblichkeit sei. Vgl. Plumwood, Val, »Shadow Places and the Politics of Dwelling«, in: Australian Humanities Review 44 (2008), 139–150; Clark, Samantha, »Strange Strangers and Uncanny Hammers: Morton’s The Ecological Thought and the phenomenological tradition«, in: Green Letters 17, 2 (2013), 98–108. 5 | Eines der anthropologischen Grundgesetze Plessners lautet »natürliche Künstlichkeit«: Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich.« Plessner, Helmuth, Gesammelte Schriften IV: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt a. M. 1981, S. 384. 6 | Loenhart, Klaus H., »Editorial«, in: Grazer Architektur Magazin. Schwerpunkt: Zero Landscape. Unfolding Active Agencies of Landscape 7 (2001), S. 11–13, hier S. 12.
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tigkeiten und der Beziehungen zwischen den Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, zum anderen kommt mit dem ›Wohnen‹ auch das Verhältnis zur Umwelt ins Spiel, wenn es etwa um die Abwehr von Feinden oder den Kontakt zu Freunden oder die Verfügbarkeit von Wasser- und Nahrungsquellen geht.
2. B uckminster R. F uller : M obiles W ohnen und U mweltkontrolle Beide Aspekte der Regulation – die Regulierung des Innenraums und des Verhältnisses zur äußeren Umwelt – stehen im Mittelpunkt der Arbeiten Buckminster R. Fullers. Dass Fuller einer der innovativsten und kreativsten Architekten und Designer war, zeigt sich bereits an seinem Ende der 1920er Jahren entworfenen Dymaxion House,7 das eine sechsstrahlige Symmetrie aufweist, im Zentrum einen dreifüßigen Tragmast besitzt, von dem aus Kabel gespannt sind, das transparente Außenwände hat und dessen Innenräume durch ein Spiegelprismen-Umlenkungssystem indirekt beleuchtet werden.8 Das Dymaxion House verband technische und biologische Elemente, denn, so Fuller in einem Vortrag aus dem Jahr 1929, es solle strukturiert werden »after the natural systems of humans and trees, with a central stem or backbone, from which are provided all pumping, supply, filtering units, aerial systems, nerves or reception units, with appropriate covering and temperature retention«.9 Fuller hatte aber auch das Außenverhältnis seiner Wohnentwürfe im Blick, d. h. zum einen sollten seine Wohneinheiten an den unterschiedlichsten Orten einsetzbar sein, zum anderen sollten sie den Außentemperaturen und Windkräften standhalten. Für das Militär konzipierte er 1941/42 die Dymaxion Deployment Unit, eine runde Schale aus gebogenem galvanisierten Stahlblech.10 Diese Notunterkunft sollte man leicht 7 | Im Folgenden wird Bezug genommen auf: Krausse, Joachim/Lichtenstein, Claude (Hg.), Your Private Sky. R. Buckminster Fuller. Design als Kunst einer Wissenschaft, Zürich 1999; Neder, Frederico, Fuller Houses. R. Buckminster Fuller’s Dymaxion Dwellings and Other Domestic Adventures, Baden (Schweiz) 2008. 8 | Krausse/Lichtenstein, Your Private Sky, a. a. O., S. 122 ff. 9 | Zit nach Neder, Fuller Houses, a. a. O., S. 41. 10 | Krausse/Lichtenstein, Your Private Sky, a. a. O., S. 212.
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demontieren, transportieren und wiederauf bauen können, so hatte der Mast hier auch nur noch die Funktion einer Montagehilfe.11 Allerdings baute man nur wenige Einheiten, die von Fuller erwünschte Massenproduktion blieb auch bei diesem Projekt aus. Eine Weiterentwicklung dieser Arbeiten findet sich im Entwurf Wichita House, das ebenfalls kreisrund war und aus industriell vorproduzierten Einheiten bestehen sollte, die man vor Ort montierte.12 Vor allem aber mit seinen geodätischen Domen sollte Fuller Berühmtheit erlangen. Ein erster Prototyp entstand 1948 am Black Mountain College, Berühmtheit erlangte dann seine für die Expo 67 in Montreal gebaute geodätische Kuppel, deren Tragwerk aus Aluminium bestand, so dass es ohne Mast hochgehoben werden konnte.13 Dabei konstatierte Fuller eine Relation von Bauweise und Lebenshaltung, worauf die ›sozialen Synergisten‹, die die Biosphäre 2 bezogen, anknüpfen sollten: »Die Qualitäten von Ökonomie, die am Ende synergetisch ein Ergebnis zeitigen, bewirken bei uns etwas in dem Sinne, dass sie unsere Empfindsamkeit zu neuen sensorischen Grenzen vorantreiben.«14 Auch die ökologische Dimension hatte Fuller im Blick, so etwa in dem Projekt Garden Eden, das zwei geodätische Dome als »environment controls« entwickelte, als »Raum- und Klimahüllen als Regler und Ventile des gewünschten Austauschs mit der Umwelt«.15 Den Leitgedanken seiner Arbeiten formulierte Fuller in der Vorlesung »Die Aussichten der Menschheit 1965–1985« folgendermaßen: Meine Arbeit befasst sich mit der Erforschung der ökologischen Probleme und ihrer kompromisslosen Lösung mit Hilfe der heute bestmöglichen wissenschaftlichen, technologischen, industriellen und funktionellen Kompetenz, in der Hoffnung, dadurch ständig verbesserte bestmögliche Benutzerzufriedenheit zum organisatorisch frühestmöglichen Zeitpunkt zu erreichen.16
11 | Ebd., S. 215. 12 | Ebd., S. 246 f. 13 | Fuller, »Geodätische Strukturen«, in: Krausse/Lichtenstein, Your Private Sky, a. a. O., S. 334. 14 | Ebd. 15 | Krausse/Lichtenstein, Your Private Sky, a. a. O., S. 412. 16 | Fuller, R. Buckminster, Die Aussichten der Menschheit 1965–1985, übers. von Lothar M. Hohmann, Frankfurt a. M. 1964, S. 33 f.
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Fuller meinte, man könne eine »vorteilhafte Umwelt« nur durch ihre »sachkundige Reform« schaffen.17 Daher wollte er Häuser konstruieren, die dem Menschen ein Überleben sicherten, ohne die Umwelt zu schädigen. Dementsprechend habe er das Dymaxion House als Grundlage für eine wissenschaftlich orientierte »Wohnservice-Industrie« konzipiert: Man könne es auf der ganzen Welt in Massenproduktion herstellen und mit dem Flugzeug transportieren, »um neues menschliches Leben zu schützen und zu erhalten«18 Fullers Ansatz zielt nicht auf die Anpassung des Menschen an die Umwelt, sondern auf die Anpassung der Umwelt an den Menschen, was er an einem einfachen Beispiel veranschaulicht: Die meisten Menschen, die eine Wespe im Haus hätten, versuchten sie zu verscheuchen, anstatt die Umwelt so zu ändern, dass die Wespe dazu stimuliert werde, zu entkommen.19 Pointiert fasst er diese Idee folgendermaßen: »Verbessere die Umwelt – nicht den Menschen«.20 Damit verabschiedet er sämtliche Ideologien, die an der Verbesserung des Menschen ansetzen, von der Erziehung der Kinder durch die Eltern bis zu politischen Ideologien der Formung menschlicher Kollektive. Schließlich könne man eine Autobahnkurve in einem solchen Winkel überhöhen, so dass selbst schlechte oder betrunkene Fahrer scharfe Kurven unbewusst bewältigen könnten.21 Nach Fuller muss man das Wohnen an die neue »Ökologie des Weltund Weltraummenschen«22 anpassen, wobei eine besondere Herausforderung in der aufgrund der Weltindustrialisierung zunehmenden Mobilität liege: Das »Zubehör« der statischen Umwelt veralte, wohingegen der »Trend zur Entwicklung von Miet-Service-Industrien« ungeheuer schnell zunehme.23 Im Fall von Wohnungen sei zu berücksichtigen, dass der schnelle Wechsel der Jahreszeiten, die Verwischung von Tag und Nacht durch Zeitverschiebungen oder häufiger Temperaturwechsel für den Reisenden belastend sein könne, weshalb eine verstärkte »Umweltkontrolle« 17 | Fuller, R. Buckminster, Konkrete Utopie. Die Krise der Menschheit und ihre Chance zu überleben, übers. von Joachim Schulte, Düsseldorf/Wien 1974, S. 13. 18 | Beide Zitate: Ebd., S. 17. 19 | Ebd., S. 334. 20 | Ebd., S. 355. 21 | Ebd., S. 356. 22 | Ebd., S. 326. 23 | Ebd., S. 365.
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erforderlich sei.24 Die Wohnbedingungen müssten also so gestaltet werden, dass der Reisende unabhängig von Sonnenlicht seine acht Stunden Schlaf finde. Abhilfe schaffen nach Fuller »Standardhotelschlafzimmer«, in denen innerhalb von 24 Stunden zwei oder drei verschiedene Leute wohnen könnten.25 Man könne diesen »neuen Begriff vom Menschen auf der Erde […] als frequenzmoduliertes Umweltwohnen bezeichnen«.26 Dieses Konzept ist nach Fuller beliebig erweiterbar, wobei die Kontrolle sämtlicher Bedingungen der Umwelt die entscheidende Voraussetzung ist, womit er dem Konzept geschlossener Systeme folgt – von seinen Ideen zum Einsatz von Gewächshäusern27 bis zur Metapher ›Raumschiff Erde‹. So sei es technisch und wirtschaftlich durchaus möglich, eine »tetraedrische Stadt zur Behausung einer Million Menschen« zu bauen.28 Man würde dabei nicht nur den ganzen »maschinellen Organismus« innerhalb des Tetraeders unterbringen, die Stadt könne auch so konstruiert werden, dass sie auf den Ozeanen schwimmen könne. Diese Idee hat in Zeiten des Klimawandels und der steigenden Meeresspiegel wieder Anhänger gefunden: Man kann sich in gemäßigten Breiten aufhalten, produziert selbst die notwendige Nahrung und Energie und ist vom Festland und damit von Migrationsdruck und Armutsproblemen befreit. Zum Beispiel verfolgt die Vision AEQUOREA des Architekten Vincent Callebaut den Bau von »Oceanscrapers«, von denen jeder ca. 10.000 Einheiten für Wohnen, Labore, Büros, Arbeitsräume, Biolandwirtschaft, Gemeinschaftsgärten u. a. enthalten soll.29 Das Grundprinzip des 24 | Ebd., S. 364. 25 | Ebd., S. 364. 26 | Ebd. 27 | Am Beispiel des Gewächshauses als Grundlage der Produktion und Distribution von Nahrungsmitteln erläutert Fuller die Notwendigkeit, Ganzheiten und Beziehungen in den Blick zu nehmen: »In zu drei Vierteln sphärischen geodätischen Gewächshäusern sind Wachstum, Konservierung und Verpackung der Nahrungsmittel automatisiert, und die Bewirtschaftungs-, Pflanzungs-, Kultivierungs- und Erntemaschinen sind kreisförmig in Gestalt eines Baumes angeordnet.« Ebd., S. 326. 28 | Ebd., S. 389. 29 | Siehe dazu die Projektbeschreibung Callebaut, Vincent, Aequorea, http:// vincent.callebaut.org/object/151223_aequorea/aequorea/projects (letzter Zugriff: 15.02.2018).
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Projekts ist ›Recycling‹: So sollen die Inseln aus dem Müll des ›siebten Kontinents‹ gebaut werden, also aus den in Ozeanwirbeln angesammelten ungeheuren Mengen an Plastikmüll. Man nutzt regenerative Energiequellen, etwa die Meeresströmung oder grüne Algen, die Biolumineszenz symbiotischer Organismen sorgt für Beleuchtung, man gewinnt Trinkwasser durch Entsalzung des Meereswassers und ernährt sich von Algen, Plankton, Mollusken und Fischen sowie von in Treibhäusern angebauten Pflanzen. Das Wohnen muss sich somit dem mobilen Menschen anpassen. Fuller träumte denn auch nicht nur von schwimmenden, sondern auch von fliegenden Städten: Eine seiner geodätischen Kuppeln mit einer Grundfläche von 1.000 m² hatte man bereits mit Hubschraubern transportiert, weshalb man in einigen Jahren auch geodätische Kuppeln per Luft befördern könne, die kleine Städte umfassten. Mit solchen Kuppelstädten könne man die Arktis und Antarktis bewohnen, und in Wüsten würden sie als riesige Treibhäuser fungieren.30 Nach außen seien sie gegen Regen, Schnee und Stürme sowie Industrieabgase abgeschirmt, im Inneren ließen sich alle Faktoren regulieren, man stabilisiere die Temperatur und lasse die Sonne scheinen, wenn man es möchte.31 Folgerichtig werde der Mensch früher oder später den Weltraum besiedeln, wofür man black boxes konstruieren werde, die die Biosphäre in einer »verkleinerten und verkapselten menschlichen Ökologie reproduzieren werden, die alle chemischen und physikalischen Transaktionen nachahmt, die zur Erhaltung des Prozesses ›Mensch‹ erforderlich sind«.32 Mit der künstlichen Umwelt einer solchen black box sind dem Menschen keine Grenzen mehr gesetzt.
3. I an M c H arg : L andschaf t als A k teur Die von Fuller geschilderte black box findet sich auch im Hauptwerk Design with Nature (1969) des Landschaftsarchitekten Ian McHarg: In einem Gedankenexperiment sendet er einen Astronauten mit möglichst wenig Gepäck auf den Mond. Hierbei komme es weniger auf die physische Fitness des Astronauten als auf die Relation von Mensch und Umwelt, 30 | Fuller, Konkrete Utopie, a. a. O., S. 393. 31 | Ebd., S. 391 f. 32 | Ebd., S. 394.
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konkret Algen und Bakterien an. Denn durch diese Paarung entstehe ein Kreislauf von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid, der die notwendige Atemluft erzeuge, sowie ein Wasser- und Nahrungskreislauf.33 McHarg zeigt an dieser experimentellen Umwelt exemplarisch die ökologischen Bedingungen des Wohnens auf. McHarg war überhaupt einer der ersten, der systematisch ökologische Aspekte in das Wohnen einbrachte. Dabei verortet bereits der Titel Design with Nature das Wohnen zwischen Natur und Kultur: Erstens kann nach McHarg menschliches Wohnen nicht ohne Gestaltung der Umgebung erfolgen. Zweitens existiere eine vom Menschen unabhängige Natur ohnehin nur noch in den seltensten Fällen. Als Beispiele führt er das Vorkommen des Pflanzenschutzmittels DDT im arktischen Eis oder in den Tiefen des Ozeans an, die weitreichende Ausbeutung der geologischen Ressource ›Boden‹ und das Verschwinden der meisten urtümlichen Wälder.34 Natur ist in der industrialisierten Moderne zu einer vom Menschen geschaffenen Umwelt geworden. Drittens ist der Ausgangspunkt seiner theoretischen und praktischen Überlegungen zur Landschaftsarchitektur die Transformation der Natur in eine wissenschaftliche Umwelt: Sein ökologisches Modell erfordert die Integration sämtlicher Umweltwissenschaften wie Ökologie, Geologie, Hydrologie oder Meteorologie in Landschaftsplanungsprozesse. McHargs zentraler Begriff ›fitting‹ meint sowohl die Anpassung an eine bestimmte Umwelt als auch die Adaption der Umwelt an die Bedürfnisse der Konsumenten. Dabei bezieht er sich nicht nur auf Darwins Theorie vom ›surival of the fittest‹, sondern auch auf Lawrence Hendersons Buch The Fitness of the Environment (1913). Nach Henderson habe Darwin zwar die Anpassung des Organismus an seine Umgebung hervorgehoben, seither habe man die Umwelt aber stets als eine unabhängige Variable angesehen.35 Henderson ergänzt Darwins Theorie daher um den Begriff der ›Eignung der Umwelt‹: Er kehrt die Blickrichtung um und rückt die Eigenschaften der Materie, die verfügbare Energie und die mit ihnen verbundenen Mechanismen, die eine bestimmte Umwelt schaffen, 33 | McHarg, Ian, Design with Nature, New York u. a. 1992, S. 95–97. 34 | Ebd., S. 22. 35 | Henderson, Lawrence J., Die Umwelt des Lebens. Eine physikalisch-chemische Untersuchung über die Eignung des Anorganischen für die Bedürfnisse des Organischen, übers. von R. Bernstein, Wiesbaden 1914, S. 3.
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in den Blick.36 Indem Henderson die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wassers untersucht, arbeitet er heraus, weshalb es besonders geeignet für jede Form des Lebens ist. Die von ihm untersuchten Faktoren sind nichts anders als das, was die Ökologie später als abiotische Umweltfaktoren bezeichnen wird. McHarg macht aber nicht nur die ›Eignung‹ der Umwelt zu einem Element der Landschaftsarchitektur, sondern betrachtet die Umwelt auch als eine aktive Entität, womit er den Anthropozentrismus, der den Menschen über die Natur stellt, unterläuft. Denn nach McHarg sind Wasserkreisläufe, Photosynthese und Gase in der Atmosphäre »major actors of the biosphere«,37 die die jeweilige Umwelt konstituieren. Am Beispiel seiner Ausführungen zur Bebauung von Dünen lässt sich dieser AkteurStatus verdeutlichen. Die verheerenden Auswirkungen von Stürmen an der Küste der USA zeigten nach McHarg, wohin eine Bebauung ohne wissenschaftliche Fundierung führen könne. Denn das Wissen der Botaniker und Ökologen wurde in dem Bebauungsprozess schlichtweg ignoriert: Der schönen Aussicht wegen baute man Häuser auf Dünen und zerstörte andere Dünen, um Zugänge zum Strand zu schaffen, man zerstörte Gräser und pflasterte Wege, so dass sich der Grundwasserspiegel absenkte.38 Im Jahr 1962 sollte sich diese Bauweise rächen: Ein Sturm zog drei Tage lang über die gesamte Nordostküste von Georgia bis Long Island und hinterließ enorme Schäden. Menschen starben und wurden verletzt, über 2.400 Häuser sowie Straßen und Versorgungseinrichtungen zerstörte der Sturm. Aber in den Gebieten, in denen man nicht auf, sondern hinter den Dünen gebaut und die natürlichen Strukturen belassen hatte, überstanden die Häuser das Unwetter, abgesehen von einigen kaputten Fenstern und verlorenen Dachplatten. Hier setzt McHarg mit der »ecological planning method« ein.39 McHarg betrachtet den Planer als einen Katalysator, als Auslöser und Beschleuniger eines Prozesses. Ausdrücklich lehnt er eine Reduktion des Planungsprozesses auf Effizienz und Ökonomie ab und plädiert für ein ökologisches Vorgehen. Darunter versteht er eine ganzheitliche Planung, 36 | Ebd., S. 18. 37 | McHarg, Design with Nature, a. a. O., S. 50. 38 | Ebd., S. 16. 39 | Ebd., S. 127.
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die nicht nur die Kosten und Arbeitsstunden einberechnet und die auch nicht nur eine einzige Vorgehensweise vorschlägt. Vielmehr sind nach McHarg die Wertvorstellungen der betroffenen Menschen zu berücksichtigen, und ›Planung‹ versteht er als das Entwerfen verschiedener wissenschaftlich fundierter Zukunftsszenarien.40 Eine ökologische Planung operiert mit biophysikalischen und sozialen Systemen, »within the framework of a biophysical culture«.41 In das Zentrum rücken somit der konkrete Ort, die Umweltbedingungen und die Bedürfnisse der potentiellen Bewohner sowie die verfügbaren Technologien.42 Ein einfaches Beispiel einer solchen humanökologischen Planung ist die Bebauung einer Küstenlandschaft.43 Dabei unterzieht McHarg zuerst einmal die an der Küste gelegenen Dünen einer ökologischen Analyse, die nach der Funktion der Dünen und Pflanzen fragt. Den Pflanzenformationen komme eine besondere Bedeutung zu, weil sie die Dünen stabilisieren. Ihre Zerstörung durch den Bau von Straßen und Häusern würde daher die Schutzfunktion der Dünen zerstören. Gräser wie Strandhafer besetzen damit eine doppelte Position: Da sie für die Stabilisierung der Dünen sorgen, die wiederum den Menschen schützen, sei es im Sinne des öffentlichen Interesses, das Überleben dieser Gräser zu sichern. Als Stabilisatoren der Dünen kommt ihnen aber auch eine kulturelle Wirkmacht zu, mit Bruno Latour kann man ihnen einen Akteur-Status zuweisen, denn sie strukturieren Handlungsmöglichkeiten – ohne die Gräser gäbe es keine Dünen, und ohne Dünen wären die Küstengegenden nicht vor Überschwemmungen geschützt, was die Voraussetzung für den Bau von Häusern darstellt. Diese Erkenntnisse bilden die Voraussetzung für den Bebauungsplan einer solchen Landschaft. Das betrifft den Ort der Bebauung, die 40 | McHarg, »Ecological Planning. The Planner as Catalyst [1978]«, in: ders./ Steiner, Frederick R. (Hg.), To Heal the Earth. Selected Writings of Ian L. McHarg, Washington 1998, S. 139–141, hier S. 140 f. 41 | Ebd., S. 140. 42 | »People in a given place with opportunities afforded by the environment for practicing a means of production will develop characteristic perceptions and institutions. These institutions will have perceptions and values that feed back to an understanding of the environment – both national and social – and that have a modification of technology.« Ebd., S. 141. 43 | Zum Folgenden: McHarg, Design with Nature, a. a. O., S. 7–15.
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Häuser sollten hinter den Dünen liegen; die Beschaffung von Ressourcen wie Wasser, das man wegen der Vegetation nicht dem Grundwasser entnehmen dürfe; das Baumaterial, denn man sollte den nötigen Sand auf keinen Fall von den Dünen nehmen; oder die Einrichtung von Abwasserauf bereitungssystemen, um die sensible Dünenumwelt nicht zu verschmutzen. Das Konzept der ökologischen Planung entwickelte McHarg in den 1960er Jahren, später wechselte er zum Begriff des ökologischen Designs,44 mit dem die Aspekte Form und Gestaltung sowie die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in den Vordergrund rückten, wie die Begriffserläuterung in seinem Artikel »Ecology and Design« (1997) zeigt. Während »ecological planning« eine Region als biophysikalischen und sozialen Prozess versteht, führt »ecological design« das Subjekt der Form ein: »Design requires an informed designer with a visual imagination, as well as graphic and creative skills.« 45 Damit erweitert er auch sein Konzept der Einpassung, denn hier geht es ihm um »creative fitting«.46 McHarg wendet sich sowohl gegen eine Landschaftsarchitektur, die die Wissenschaften zugunsten der Kunst vernachlässigt, als auch gegen eine solche, die die Kunst missachtet, denn die bedeutsame Formgebung sei wesentlich für die Landschaftsarchitektur. McHarg bezieht sich auf zwei Schulen der Landschaftsarchitektur, die sich in den 1920er Jahren ausbildeten: Architekten im Anschluss an die Arbeiten von Frederick Law Olmsted betonten den Naturschutz sowie Regionalund Stadtplanung, während sich Architekten wie Bremer Whidden Pond, James Sturgis Pray u. a., selbst als Ästheten verstanden und, wie McHarg polemisch schreibt, Ländereien der Reichen und Berühmten gestalteten. Aus dieser Zweiteilung von Design und Planung, Kunst und Wissenschaft sei ein bis heute anhaltendes Schisma entstanden, das es angesichts der ökologischen Herausforderungen nun zu überwinden gelte.47 44 | »I invented ecological planning during the early 1960s and became an advocate of ecological design thereafter.« McHarg, Ian, »Ecology and Design [1997]«, in: ders./Steiner, Frederick R. (Hg.), To Heal the Earth. Selected Writings of Ian L. McHarg, Washington 1998, S. 194–202, hier S. 194. 45 | Ebd., S. 195. 46 | Ebd. 47 | Ebd., S. 196.
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McHargs Idee der Landschaftsarchitektur setzt somit die Ökologie zum einen als Grundlagenwissenschaft ein, zum anderen fungiert sie als eine Denk- und Organisationsform. So gelte es nicht nur verschiedene Wissenschaften in die Untersuchung der Umwelt einzusetzen, sondern auch die Repräsentationsformen seien zu ändern. Denn das zweidimensionale Papier, auf dem architektonische Bauten entworfen werden, entspreche nicht den Anforderungen der Umwelt: »nature is multi-dimensional, living, growing, moving with forms that tend to be amorphous or amoebic«.48 Daher müssten neue Formen der Datenerhebung und -darstellung entwickelt werden, welche die unzähligen Aspekte der Umwelt berücksichtigen. Landschaftsarchitektur ist somit auf Medien angewiesen, die der ökologischen Komplexität gerecht werden. Einen solchen mehrdimensionalen Ansatz entwickelte McHarg gemeinsam mit Kollegen, was seinen Niederschlag in dem für das Environmental Protection Agency (EPA) verfassten Dokument A Prototype Database for a National Ecological Inventory (1992) fand. Das Papier schlägt einen dreiteiligen Prozess vor: Die Erstellung einer nationalen Bestandsaufnahme im Maßstab 1 : 2.000.000 mit Beschreibungen sämtlicher natürlicher und sozialer Regionen, eine regionale Bestandsaufnahme im Maßstab 1 : 250.000 sowie schließlich Stichproben im Maßstab 1 : 24.000.49 Diese Dokumente und Pläne, die physikalische, biologische und soziale Systeme berücksichtigen, dienen einem mit Umweltwissenschaftlern, Landschaftsarchitekten und Regionalplanern besetzten Exekutivkomitee als Entscheidungsgrundlage für die Gestaltung von Landschaften, Städten und Regionen. Auf der einen Seite erklärt McHarg die Landschaft zu einem eigenständigen Akteur, denn sie konstituiert aufgrund ihrer Eigenschaften und ihrer Struktur einen Möglichkeitsraum, in den sich die Landschaftsplaner und Architekten einfügen müssen. Allerdings folgt daraus kein »Parlament der Dinge«,50 sondern ökologisches Design folgt bei McHarg dem Modell einer Expertokratie. Zwar hat er durchaus im Blick, dass das Wertesystem der aktuellen oder zukünftigen Bewohner in den Pla48 | Ebd., S. 198. 49 | Ebd., S. 200. 50 | Vgl. Latour, Bruno, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie [1999], übers. von Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 2010.
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nungsprozess zu integrieren ist, gleichwohl sind es die Wissenschaftler und Architekten, die sämtliche Prozesse, von der Organisation der wissenschaftlichen Untersuchung über die Repräsentation der betroffenen Gebiete bis hin zur Entscheidung über die Bebauung, steuern. So erfolgt die Information der Öffentlichkeit, der Umweltgruppen und der Regierungsbeamten erst dann, wenn der Plan fertiggestellt ist.51 Hier geht es nicht um die Diskussion von Bebauungsplänen, sondern darum, andere von ihnen zu überzeugen. McHarg fordert denn auch eine massive Öffentlichkeitsarbeit und Werbekampagnen – ein demokratischer Prozess der Entscheidungsfindung sähe anders aus. Ausgehebelt wird die Demokratie aber nicht nur durch diese Organisationsform, sondern auch durch die erhobenen Daten selbst. Denn McHarg hat auch bereits die so genannten Big Data im Auge, wenn er ausführt, bald seien gewaltige Datenmengen in digitaler Form verfügbar. Wer über diese Masse an Daten verfüge, habe immense Macht – und das können für McHarg nur die Landschaftsarchitekten sein, die schließlich als erste diese Daten für Planung und Design nutzen, weshalb gelte: »Landscape architects must learn to lead«.52 Was sich hier in der Semantik zeigt, lässt sich auch an der Form der Bestandsaufnahme festmachen. Die Erfassung und Darstellung der Umweltsysteme erfordern, wie Ana Jeinić ausführt, einen durch »technische und wissenschaftliche ›Prothesen‹ vermittelten Blick von oben […], der die Erdoberfläche in eine Plattform zur Steuerung von ökologischen Prozessen verwandelt«.53 Dementsprechend zeigen die meisten Abbildungen in McHargs Design with Nature die »Draufsicht«, was das Verhältnis zwischen steuernden Umweltexperten und den gesteuerten ›Objekten‹ widerspiegelt.54
51 | McHarg, »Ecology and Design«, a. a. O., S. 200. 52 | Ebd., S. 201. 53 | Jeinić, Ana, »Auf dem Weg zu einem Landschaftsbegriff für die urbane politische Ökologie«, in: Grazer Architektur Magazin 7 (2001), S. 92–103, hier S. 96. Der Ausdruck ›Prothese‹ bezieht sich direkt auf McHarg, für den die Herstellung einer Prothese die Verkörperung von Wissenschaft und Kunst ist. McHarg, »Ecology and Design«, a. a. O., S. 199. 54 | Jeinić, »Auf dem Weg«, a. a. O., S. 96.
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4. U mweltgif te Während der Fluchtpunkt der Konzepte McHargs und Fullers in der möglichst vollständigen Steuerung des Wohnens durch eine Expertengemeinschaft liegt, führen Umweltgifte fehlende oder scheiternde Regulierungen vor. Zugleich erscheint hier eine völlig neue Klasse bisher nicht existierender Objekte: Pestizide wie DDT werden synthetisch hergestellt und radioaktive Isotope wie Strontium 90 entstehen in einer bedrohlichen Häufigkeit erst durch Atombombenexplosionen. Die hybride Fraktur dieser Stoffe hat Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht »an alle fernsprechteilnehmer« herausgearbeitet, die erste Strophe lautet: etwas, das keine farbe hat, etwas, das nach nichts riecht, etwas zähes, trieft aus den verstärkerämtern, setzt sich fest in die nähte der zeit und der schuhe, etwas gedunsenes, kommt aus den kokereien, bläht wie eine fahle brise die dividenden und die blutigen segel der hospitäler, mischt sich klebrig in das getuschel um professuren und primgelder, rinnt, etwas zähes, davon der salm stirbt, in die flüsse, und sickert, farblos, und tötet den butt auf den bänken. […]. 55
In einem Kommentar zu diesem Gedicht führt Enzensberger aus, der Sprecher des Gedichts versuche das unbekannte »etwas« zu fassen, indem er es fortwährend einkreise und ihm Attribute zuschreibe.56 Das gelinge ihm aber nicht, da das ›etwas‹ nicht zu fassen sei, zugleich setze es 55 | Enzensberger, Hans Magnus, »an alle fernsprechteilnehmer«, in: Domin, Hilde (Hg.), Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser, Frankfurt a. M. 1989, S. 125 f. Zum ersten Mal erschien das Gedicht in: Enzensberger, Hans Magnus, landessprache. Frankfurt a. M. 1960, S. 28 f. 56 | Ebd., S. 129.
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sich in die »nähte der zeit« fest, es sei »klebrig« und tödlich. Das Gedicht beziehe auch die politische Ebene ein, die »ministerien mauscheln«, während im August das Plenum »leer« sei. Das farblose und geruchlose »etwas« sei aber gegen »uns« gerichtet, zumal das zähe »etwas« in das Getreide gelange, das wir »arglos« essen. Gemeint sind mit dem »etwas«, so Enzensberger in seinem Kommentar, radioaktive Stoffe. Allerdings wird das Wort ›radioaktiv‹ im Gedicht nicht erwähnt, wogegen die angeführten Eigenschaften auch Stoffen wie DDT zukommen. Auch Edgar Lohner stellt fest, dass sich darüber streiten ließe, ob das erwähnte »etwas« den »Atomausfall, die Wirkungen der Bombe selber oder alle von der moralisch indifferenten Findigkeit des Menschen herauf beschworenen Vergiftungs- und Vernichtungserscheinungen« bezeichne.57 Seine besonderen Überraschungseffekte erzeugt das Gedicht nach Lohner vor allem durch das Kunstmittel des concetto, das disparate Bilder und Begriffe zusammenbringt, womit es auch den durch diese Stoffe erzeugten Dissens im Realen, in der Politik und im Alltagsleben, ausstellt. So bringt das Gedicht die Eigenschaft des Flüssigen und des Zähen zusammen, Verben beziehen sich auf verschiedene Satzteile, das etwas »bläht« die Dividenden auf, aber auch die »blutigen segel der hospitäler«, oder Gegensätze werden gleichgesetzt, wenn der »embryo« es dunkel weiß, »in seinem warmen, zuckenden sarg«. Enzensbergers Gedicht führt sowohl die spezifischen Eigenschaften von Umweltgiften als auch ihre diskursive Formierung vor. Denn wenn man mit Lohner in den erwähnten sprachlichen Mitteln das »Unpassende« und »Unnatürliche« ausmacht,58 wird hier die Vergiftung einer an sich heilen Natur suggeriert und ihr Verlust beklagt. So real die erst durch den Menschen in der Umwelt verteilten Gifte sind – das Bild einer verloren gegangenen Natur und die Inszenierung einer Erweckung angesichts der zerstörten Natur sind damit auf der Ebene des Gedichts in erster Linie Diskurseffekte.
57 | Lohner, Edgar, »An alle Fernsprechteilnehmer«, in: Domin, Doppelinterpretationen, a. a. O., S. 132–135, hier S. 132. 58 | Ebd., S. 133.
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Carson: DDT und der ›toxische Diskurs‹ Das wohl bekannteste Beispiel der Thematisierung von Umweltgiften ist Rachel Carsons Buch Silent Spring (1962). Die Biologin und Journalistin widmet sich darin den Folgen des großflächigen Einsatzes von Chemikalien, insbesondere DDT, einem Insektizid, das die gezielte Tötung schädlicher Insekten versprach, was es auch zu einem wichtigen präventiven Mittel gegen Malaria machte. Mit der Produktion von Insektiziden tauchten jedoch völlig neue Risiken auf: Diese Insektizide schienen für den Menschen völlig harmlos zu sein, zumal es bisher keine anderweitigen Informationen gab. Man hatte nämlich während des Krieges Tausende Soldaten und Gefangene mit DDT eingestäubt, um Läuse zu bekämpfen, und ihnen war nichts geschehen.59 Allerdings hatte man, wie Carson ausführt, damals das DDT in Pulverform verabreicht, und in dieser Form wird es nicht so leicht durch die Haut aufgenommen. Für das Insektizid löst man DDT allerdings in Öl, wodurch es zu einer äußerst giftigen Substanz wird. Schluckt man das DDT, gelangt es über den Verdauungsapparat in die Organe. Es lagert sich ein in Nebennieren, Schilddrüse, Leber und Hoden. Dort löst DDT Mutationen aus, hemmt Enzyme oder verursacht die Zersetzung von Leberzellen. Das Neue von Substanzen wie DDT liegt in ihren stofflichen Eigentümlichkeiten: Sie sind unsichtbar in der Umwelt verteilt, wirken nicht selektiv, d. h. es kann jeden treffen. Und sie wirken in winzigen Mengen, indem sie sich über längere Zeiträume hinweg anhäufen, weshalb zwischen Aufnahme und ersten Symptomen meist ein großer zeitlicher Abstand liegt, was es schwer macht, einen direkten Zusammenhang festzumachen.60 Damit erkennt man nach Carson aber nicht ihre »unheimlichste[n] Eigentümlichkeiten«, nämlich die Fähigkeit solcher chemischer Stoffe, über alle Glieder der Nahrungskette hinweg weitergegeben zu werden.61 So werden zum Beispiel Felder der Luzern-Art Alfalfa mit DDT 59 | Carson, Rachel, Der stumme Frühling, übers. von Margaret Auer, München 2012, S. 32. Vgl. dazu auch den informativen Wikipedia-Artikel »Dichlordiphenyltrichlorethan«, abrufbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Dichlordiphenyltri chlorethan (letzter Zugriff: 15.02.2018). 60 | Vgl. Carson, Der stumme Frühling, Kap. 12. 61 | Ebd., S. 34.
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behandelt, das Alfalfa wird zu Mehl verarbeitet und an Hennen verfüttert, die Eier legen, welche DDT enthalten. An solchen Beispielen veranschaulicht Carson die globale Dimension: Seit man synthetische Mittel zur Schädlingsbekämpfung einsetze, »haben sie sich so gründlich über die ganze belebte und unbelebte Welt verteilt, daß sie eigentlich überall vorkommen«.62 Da wir aber in einem »Zeitalter der Spezialisten« lebten, könne oder wolle man den größeren Rahmen der Wirkung von Insektiziden nicht wahrhaben.63 Carson setzt dieser Spezialisierung mit ihrer Arbeit einen aufklärerischen Wissenschaftsjournalismus entgegen. Damit bewegt sie sich gleichwohl selbst in einem ›toxischen Diskurs‹. Darunter versteht der Literaturwissenschaftler Lawrence Buell, der diesen Begriff geprägt hat, eine geäußerte Angst angesichts einer Umweltgefahr, die von chemischen Materialien ausgeht.64 Im Blick hat Buell sowohl die mediale und soziale Konstruktion als auch die materielle Grundlage der ›Vergiftung der Umwelt‹, denn der ›toxic discourse‹ sei ein Präzedenzfall für das Konzept einer »›mutual construction‹ of discourse and material world«.65 Vier Elemente dieses Diskurses stellt Buell heraus. Erstens den Topos des ›Schocks einer erwachten Wahrnehmung‹, was das erste Kapitel von Rachel Carsons Silent Spring in Szene setzt. Unter der Kapitelüberschrift »Ein Zukunftsmärchen« schildert Carson eine Stadt, über die eine Seuche zieht, Menschen sterben, und es stellt sich eine ungewöhnliche Stille ein: Die Vögel sind verschwunden oder tot. Die Popularisierung der Wirkungen giftiger Stoffe folgt dabei dem Mythos eines ›verratenen Edens‹: Der Mensch ist der Zerstörer einer ihm anvertrauten gesunden Welt.66 Ein zweiter Aspekt sind ›totalisierende Bilder der Welt‹, es gibt keine Auswege aus der Durchdringung der Umwelt durch Gifte.67 So ist nach Carson zum ersten Mal in der Weltgeschichte »jedes menschliche Wesen vom Augenblick der Empfängnis bis zum Tode der Berührung 62 | Ebd., S. 27. 63 | Ebd., S. 26. 64 | Buell, Lawrence, Writing in an Endangered World. Literature, Culture, and Environment in the U. S. and Beyond, Cambridge, Mass./London 2001, S. 31. 65 | Ebd., S. 31. 66 | Ebd., S. 37: Buell arbeitet die »narratives of rude awakening« am Beispiel von Carsons Märchen und der Medienkampagne um den Giftmüllskandal in Love Canal heraus, auf den unten näher eingegangen wird. 67 | Ebd., S. 38.
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mit gefährlichen Stoffen ausgesetzt«.68 Ein weiteres Element ist die Fokussierung spezifischer Fallgeschichten und Beispiele, wobei Buell ihre Überführung in das Format einer Schauergeschichte betont, so spricht er von der »gothification« von Geschichten, in denen Menschen chancenlos zum Opfer giftiger Substanzen werden.69 Viertens kennzeichnet den toxischen Diskurs das Szenario von David und Goliath – als übermächtige Gegner erscheinen der Kapitalismus, die Industrie oder die Regierung. Diese Wir – Sie-Unterscheidung dient aber nicht nur dazu, dem übermächtigen Gegner ein Gesicht zu verleihen, sondern darüber werden auch Gegenmaßnahmen entworfen. Carson macht neue Industrien, die Regierung, das Militär, aber auch die »moderne Lebensweise« für die weitverbreitete Verwendung der Insektizide verantwortlich – und genau hier setzt ihr Gegenentwurf an. Wir befänden uns nämlich an einem »Scheidewege« – was man als Situationsbeschreibung dem von Buell beschriebenen ›toxic discourse‹ hinzufügen kann – und müssten nun den Weg einschlagen, der die Erhaltung der Erde sichere.70 Carson rekurriert hier selbst auf die Wissenschaften, nämlich die Entwicklung einer biologischen Schädlingsbekämpfung wie das Ausbringen von sterilisierten Insekten, Lockstoffen oder von Viren, Bakterien und Pilzen, die die Insekten befallen. Der sorglos agierenden Wissenschaft und der nur auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Industrie setzt sie eine andere Form der Regulierung entgegen, die ebenfalls wissenschaftlich, allerdings ökologisch begründet zu sein hat. Kernelement dieses Diskurses ist aber die Giftsubstanz selbst, deren Realität Buell in keiner Weise infrage stellt. Am Beispiel der Umweltgifte zeigt er aber auf, wie wissenschaftliche und kulturelle Repräsentationen materieller Entitäten den Umweltdiskurs konstituieren. Dass diese Beobachtung nicht nur für den öffentlichen Diskurs, sondern auch die wissenschaftliche Ökologie gilt, zeigt sich an einer anderen Stoff klasse, nämlich den radioaktiven Substanzen, auf die auch Carson hinweist: Strontium 90, das durch Kernexplosionen in die Luft abgegeben wird, fällt mit dem Regen zur Erde oder schwebt als radioaktiver Niederschlag herab, setzt sich im Boden fest, gelangt in das Gras, den Mais oder den Weizen, die dort angepflanzt 68 | Carson, Der stumme Frühling, a. a. O., S. 27. 69 | Buell, Writing in an Endangered World, a. a. O., S. 42. 70 | Ebd., S. 278.
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werden, und lagert sich mit der Zeit in den Knochen eines menschlichen Wesens ab, um dort bis zu dessen Tode zu verbleiben.71
Was Carson hier als eine wissenschaftliche Tatsache wiedergibt, musste aber erst noch zu einer solchen werden.72
Love Canal: Toxischer Abfall und Environmental Justice Movement Stoffe wie DDT oder radioaktives Strontium sind sozial neutral: Aufgrund ihrer Anreicherung in Grundnahrungsmitteln ist von ihnen (nahezu) jeder gleichermaßen betroffen. Dagegen sind Umweltbelastungen wie Mülldeponien oder der Zugang zu Rohstoffen wie Wasser sozial ungleich verteilt. Mit der Beziehung zwischen Umweltverschmutzung sowie knappen Ressourcen und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen beschäftigt sich die Environmental Justice Movement (EJ). Gemäß der EJ verfehlt die bloße Thematisierung von Natur- und Umweltzerstörung einen entscheidenden Aspekt, nämlich die Verschlechterung der Umweltbedingungen in Gebieten, in denen Arme, Natives und Afro-Amerikaner wohnen. Dort herrsche, so die Literaturwissenschaftlerin Joni Adamson, »environmental racism«.73 Die Leitthese der EJ lautet demgemäß, dass alle Menschen das Recht auf eine gesunde Umwelt und auf Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen haben.74 Paradigmatisch für diese Theorie ist Love Canal, ein Stadteil von Niagara Falls in den USA.75 Im Jahr 1974 stellte eine Familie fest, dass ihr Pool 71 | Carson, Der stumme Frühling, a. a. O., S. 18. 72 | Zu Uran 238 und Strontium 90 als Bestandteil des Fallouts bei Atomwaffenversuchen und seinen Folgen für Umwelt, Gesundheit und Wissenschaft vgl. Bühler, Benjamin, »Radionuklid«, in: ders./Rieger, Stefan, Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2014, S. 170–187. 73 | Adamson, Joni, American Indian Literature, Environmental Justice and Ecocriticism. The Middle Place, Tucson 2001, S. xvf. 74 | Adamson, Joni/Evans, Mei Mei/Stein, Rachel (Hg.): The Environmental Justice Reader. Politics, Poetics & Pedagogy. Tucson 2002, S. 4. 75 | Im Folgenden wird Bezug genommen auf die ausführliche Darstellung der Ereignisse durch den Journalisten Michael H. Brown, der maßgeblich zur Aufdeckung des Skandals beitrug (Laying Waste. The Poisoning of America by Toxic Chemicals [New York/Toronto 1980, S. 3–59]) sowie den informativen Wikipedia-Artikel
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anstieg, was sie auf eine ungewöhnliche Erhöhung des Grundwassersspiegels zurückführte. Als sie ihn erneuern wollten, füllte sich die Grube mit ›chemischem Wasser‹, das auch in den umgebenden Garten gelangte. Als das Wasser sank, war der Garten regelrecht versengt, als ob er verbrannt worden sei.76 Das war nur der Anfang, Menschen erkrankten, besonders betroffen waren Kinder, es kam häufig zu Fehlgeburten, und Neugeborene wiesen Herzfehler, partielle Taubheit, deformierte Ohren, Gaumenspalten und geistige Behinderungen auf.77 Die Bewohner stellten bei diesen Fällen aber keinen Zusammenhang mit Abfällen oder Verschmutzungen her, man vermutete eher Gendefekte als Umwelteinwirkungen. Wie sich aber bald herausstellte, hatte man den durch das Viertel führenden Kanalgraben als Deponie für chemischen Abfall genutzt. Angelegt wurde der Kanal bereits Ende des 19. Jahrhunderts, der Unternehmer William T. Love wollte Niagara Falls als Industriestadt ausbauen, und der Kanal sollte zum einen der Schifffahrt, zum anderen der Nutzung von Wasserkraft dienen. Der Plan scheiterte aus finanziellen Gründen, und man schüttete den ca. 1,5 km langen Kanal wieder zu. Spätestens in den 1930er Jahren nutzte die Hooker Company, die Pestizide, Weichmacher, Natronlauge u. a. herstellte, den Graben als Mülldeponie. Mindestens 20.000 Tonnen Abfall wurden dort abgelagert.78 1953 übertrug die Firma den Kanal dem Bildungsausschuss der Stadt für den symbolischen Betrag 1 $. Sie informierte die Behörde aber nicht über den chemischen Abfall, dafür besagte eine Klausel, dass die Firma keinerlei Haftung für Verletzungen oder Tode auf diesem Gebiet übernehmen werde. Die Stadt baute dann auf dem so großzügig verkauften Grundstück eine Schule und einen Spielplatz, und nach und nach zog eine Reihe junger Familien in die Nähe des Kanals, zumal die Grundstückspreise dort niedrig waren. Obgleich in den 1970er Jahren zunehmend klar wurde, dass es einen Zusammenhang zwischen den chemischen Resten und den Erkrankungen gab, unternahm die Stadt – nichts. Zum einen hatte man Sorge wegen der drohenden Kosten für die Beseitigung der Abfälle und die Entschädigung der Anwohner, zum anderen war die Hooker Company eine »Love Canal« (https://en.wikipedia.org/wiki/Love_Canal#cite_ref-14, letzter Zugriff: 15.02.2018). 76 | Brown, Laying Waste, a. a. O., S. 5. 77 | Ebd., S. 7. 78 | Ebd., S. 5.
IV. Wohnen
mächtige Firma, die zeitweise 3.000 Angestellte hatte und für ein hohes Steueraufkommen sorgte. Außerdem hatte Hooker angekündigt, ein Gebäude für die Verwaltung in Niagara Falls zu bauen.79 Im Jahr 1978 formierten sich dann aber die Anwohner zu einer Initiative namens Love Canal Homeowners Association, zu deren Präsidentin Lois Gibbs gewählt wurde. Unter ihrer Leitung setzte eine der ersten großen Medienkampagnen hinsichtlich eines Umweltskandals ein, mit der es gelang, das Problem der Lagerung chemischer Abfälle zu einem nationalen Thema zu machen.80 Noch im gleichen Jahr erklärte der damalige Präsident Jimmy Carter das Wohngebiet zum Katastrophengebiet. Zugleich ist diese Kampagne, wie Buell ausführt, in den ›toxischen Diskurs‹ einzuordnen. So schildert Gibbs in ihrer Autobiographie Love Canal: My Story (1982), dass sie im Jahr 1972, als sie nach Niagara Falls kam, noch nicht einmal von dem Kanal gewusst hätte: »It was a lovely neighborhood in a quiet residental area, with lots of trees and lots of children outside playing. It seemed just the place for our family.«81 In Gibbs rückblickendem Bericht wird ein schockartiges Erwachen in Szene gesetzt, das scheinbare Idyll transformiert sich in das Horrorszenario eines schutzlosen Ausgeliefertseins. Dass aber auch die amerikanische Mittelschicht ein solch schockartiges Erwachen erleben kann, zeigt der 1984 erschienene Roman White Noise des amerikanischen Autors Don DeLillo.82 Im Zentrum des Romans stehen der College-Professor Jack Gladney mit dem Forschungsschwerpunkt »Hitler Studies« sowie seine Patchworkfamilie, mit der er in einer typischen amerikanischen Vorstadt wohnt. Als es zu einem »luftübertragenen toxischen Vorfall kommt«, aus einer Chemiefabrik tritt ein so genanntes Nyoden-Derivat aus, beruhigt Gladney seine Kinder folgendermaßen: Solche Sachen passieren Leuten, die in exponierten Gegenden wohnen. Die Gesellschaft ist so organisiert, dass es immer die Armen und Ungebildeten sind, die unter dem Hauptdruck der natürlichen und von Menschen verursachten Katastro79 | Ebd., S. 13. 80 | Hierzu finden sich Informationen und eindrückliche Fotos auf der Homepage der EPA: EPA, Love Canal. Press Releases and Articles, https://www.epa.gov/his tory/love-canal (letzter Zugriff: 15.02.2018). 81 | Zit. nach Buell, Writing in an Endangered World, a. a. O., S. 36. 82 | Vgl. zum Folgenden ebd., S. 51 f.
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phen leiden. Leute in tiefliegenden Gebieten kriegen Überschwemmungen, Leute, die in Hütten wohnen, kriegen Hurrikane und Tornados. Ich bin Professor an einem College. Hast du bei irgendeiner Fernsehüberschwemmung schon mal einen Collegeprofessor in einem Boot seine Straße herunterpaddeln sehen?83
Was die EJ kritisch in den Blick nimmt, ist für Gladney Normalität: Er kann es sich leisten, dort zu wohnen, wo man (vermeintlich) von Umweltkatastrophen nicht erreicht werden kann. Umso erschütternder ist es für ihn, dass er gemeinsam mit seiner Mittelschicht-Familie das Haus tatsächlich verlassen muss – und sich später in Gesellschaft von afroamerikanischen Familien und Prostituierten wiederfindet. Denn Nyoden-D ist kein vergrabener chemischer Müll, sondern ein unsichtbares, sich ausbreitendes Gas, das keine sozialen Unterschiede kennt. Es ist Gladneys Sohn Heinrich, der einige »Neuigkeitssuchende« aufklärt: Nyoden-D falle als Nebenprodukt bei der Herstellung von Insektiziden an, in Pulverform sei es farblos und geruchlos. Wenn es einmal in den Boden gelange, habe es eine Lebensdauer von vierzig Jahren, in dieser Zeit wachsen zuerst Pilze an den Fenstern, dann rosten und zerfallen die Fensterrahmen: »Nach zwanzig Jahren werden Sie sich vermutlich auf dem Dachboden einsiegeln müssen und einfach abwarten und Tee trinken. Ich nehme an, hinter all dem steckt eine Lehre. Man lernt seine Chemikalien kennen.« 84 DeLillos Roman stellt somit zum einen die Spezifität von Umweltgiften dar: Das Toxin ist unsichtbar, geruchlos, wirkt noch nach Jahrzehnten und kann daher auch von jedem aufgenommen werden. Zum anderen aber zeigt er auch die sozialen Asymmetrien in Hinsicht auf Umweltgefahren, die ein fester Bestandteil des Selbstverständnisses der weißen amerikanischen Mittelschicht darstellt. Umweltgifte unterlaufen somit sowohl auf der materiellen als auch diskursiven Ebene die Idee eines planbaren und durchkontrollierten Wohnens. Und sie schließen jeden einzelnen Haushalt, ob es sich um ein Haus mit Grundstück, eine Etagenwohnung oder ein Mikroappartment handelt, an die globale Zirkulation von Stoffen, Energien und auch Daten an. Vor allem Letzteres gewinnt zunehmend an Bedeutung, denn schon heute sind Wohnungen ausgestattet mit Sensoren, die die Luftzirkulation, 83 | DeLillo, Don, Weißes Rauschen, übers. von Helga Pfetsch, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 161 f. 84 | Ebd., S. 186.
IV. Wohnen
den Energieverbrauch oder die Funktionsweise von Geräten überwachen und über das Internet mit den verschiedensten Institutionen verbinden. Ökologisches Wohnen wird daher zunehmend dem Menschen die Herrschaft in seinem eigenen Heim entziehen und an technische Geräte abgeben. Sensoren, intelligente Oberflächen und Regelungstechniken ermöglichen solchermaßen zwar ein ökologisches Wohnen, verschieben die politische Handlungsmacht damit aber auch auf Apparate sowie die Unternehmen, die die Apparate herstellen und die natürlich auch die gesammelten Daten aus den privaten Haushalten sammeln und verwalten. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann auch die Frage, wie ökologischer Widerstand begriffen werden kann: Handeln hier die Apparate oder die Menschen?
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In ihren Anfängen war die Umweltbewegung eine kontrahegemoniale Bewegung. Den damaligen Akteuren ging es zuerst einmal darum, überhaupt auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen, die Gefahren für einzelne Menschen sowie für die Menschheit als Ganze herauszustellen und wissenschaftlich zu fundieren. Auf dieser Grundlage entwickelte man eine Kritik an den neoliberalen Grundlagen westlicher Gesellschaften mit ihrem Wachstumswahn und versuchte sich an alternativen Konzepten, deren Bandbreite von ›back-to-the-land‹-Bewegungen über technisch kontrollierte Räume bis zum Öko-Terrorismus reicht. Allerdings haben neoliberale Theorien die Umweltbewegung längst eingeholt. Zum Beispiel ist das Narrativ einer ›ökologischen Modernisierung‹, gemäß dem die ökologischen Probleme durch Wissenschaft, Technik und Management ohne grundlegende Beschränkungen wirtschaftlichen Wachstums gelöst werden können, im Verlauf der 1980er Jahre zu einer der wirkmächtigsten Weisen eines »talking Green« in der Umweltpolitik geworden.1 Im Folgenden sollen zwei Formen ökologischen Widerstandes mit unterschiedlicher politischer Temperierung vorgestellt werden: zum einen das ›kühle‹ Konzept ›Resilienz‹, gemäß dem ökologische Systeme aufgrund ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit widerstandsfähig sein sollen, zum anderen das ›heiße‹ Konzept des Aktivismus, mit dem die Figur des/der Aktivist*in zu einem Kerntypus der politischen Ökologie wird. 1 | Hajer, Maarten A., The Politics of Environmental Discourse. Ecological Modernization and the Policy Process, Oxford u. a. 1995, S. 30. Zum gegenwärtigen Stand dieser Ausrichtung vgl. Mol, Arthur P. J./Sonnenfeld, David A./Spaagaren, Gert (Hg.), The Ecological Modernization Reader. Environmental Reform in Theory and Practice, New York u. a. 2009.
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Ökologische Gouvernementalität
1. R esilienz In den 1970er Jahren entwickeln sich zwei zentrale Narrative in Bezug auf die Stabilität ökologischer Systeme: Erstens geht man davon aus, dass ökologische Systeme stabil sind, wenn sie sich in einem Gleichgewicht befinden. Der Mensch muss folglich, nachdem er die ökologischen Kreisläufe massiv gestört hat, dieses Gleichgewicht wiederherstellen. Ein anderes Narrativ bildete sich um den Begriff ›Resilienz‹, der auf die Widerstandsfähigkeit ökologischer und sozialer Systeme abzielt. Geprägt hat dieses Konzept der Ökologe C. S. Holling zu Beginn der 1970er Jahre, der die Verwendung des Gleichgewicht-Begriffs kritisierte. Wie er in seinem Aufsatz »Resilience and Stability of Ecological Systems« (1973) schreibt, sei nämlich eine auf Gleichgewicht ausgerichtete Betrachtungsweise notwendigerweise statisch und gebe wenig Einsicht in das Verhalten von Systemen, die sich nicht nahe an einem Gleichgewichtszustand befinden.2 Nun sind nach Holling durch den menschlichen Einfluss natürliche Systeme in der Regel gerade nicht in einem Gleichgewichtszustand, da die Bevölkerungszahl steigt und Ressourcen unverhältnismäßig stark genutzt werden. Symptomatisch für das Ungenügen von Gleichgewichtsmodellen sind nach Holling die zunehmende Umweltverschmutzung und das Artensterben, weshalb es gelte, den Fokus der Forschung von Gleichgewichtszuständen auf die Bedingungen des Fortbestehens eines ökologischen Systems zu verschieben. Konkret kritisiert Holling Modellierungen des Verhältnisses zweier Populationen, einer Jäger- und einer Beute-Population, die es rechnerisch ermöglichen, einen Gleichgewichtszustand zu bestimmen, den es in der Realität gar nicht gebe, da Gleichgewichtsmodellierungen Faktoren wie Zufälle, räumliche Heterogenität und zahlreiche Variablen ausschlössen. Mit diesem Ansatz stehen nicht mehr die Gleichgewichtsbedingungen von Systemen im Vordergrund, sondern die Schwellen, an denen ein Störungen ausgesetztes System fortbesteht, in einen anderen Systemzustand übergeht oder zusammenbricht. Unter anderem am Beispiel der Verschmutzung und Überfischung von Seen untersucht Holling, unter welchen Bedingungen ökologische Systeme den Veränderungen widerstehen und an welchem Punkt Populationen aussterben. Die Frage lautet 2 | Holling, C. S., »Resilience and Stability of Ecological Systems«, in: Annual Review of Ecology and Systematics 4 (1973), S. 1–23, hier S. 2.
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daher nicht mehr, wie stabil ein System unter bestimmten Bedingungen ist, sondern »how likely it is for the system to move from one domain into another and so persist in a changed configuration«.3 Die Resilienz eines Systems beschreibt diese Widerstandsfähigkeit, die nach Holling gerade durch Instabilität, etwa Schwankungen aufgrund von Beziehungen zwischen negativen und positiven Rückkopplungen, vergrößert werde.4 Eine Verallgemeinerung des Resilienz-Begriffs entwickelte bereits Holling selbst, wofür er auch die geeigneten institutionellen Bedingungen fand, nämlich das 1972 gegründete International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), das sich zum Ziel setzte, für die Menschheit relevante Probleme block- und systemübergreifend zu untersuchen. Den ganzheitlichen Zugriff auf diese Aspekte sollte ein Bereich unterstützen, der systemanalytische und simulationsgestützte Techniken und Instrumente entwickelte.5 Von katastrophischen Weltmodellen grenzte man sich hierbei ausdrücklich ab. Die IIASA verstand sich vielmehr als Forum für die Bewertung und Diskussion von Szenarien und Prognosen.6 In seinem Aufsatz »Blind Man’s Buff. Exploring the Response Space Generated by Realistic Ecological Simulations Models« (1971) stellt Holling Versuche für die Erstellung eines computergestützten Simulationsmodells dar. Dabei sollte die Modellierung von Interaktionen innerhalb von Populationen, nämlich von Räuber-Beute-Beziehungen, realistisch, präzise und verallgemeinerungsfähig sein.7 Einerseits hat sich dieser Ansatz in der Verhaltensökologie weiterentwickelt, nämlich in einer Analyse der Räuber-Beute-Beziehungen im Rahmen einer ›virtuellen Ökologie‹.8 Andererseits ist die Verallgemeinerung dieses Modells auf andere Felder 3 | Ebd., S. 10. 4 | Ebd., S. 15. 5 | Schrickel, Isabell, »Von Schmetterlingen und Atomreaktoren: Medien und Politiken der Resilienz am IIASA«, in: Behemoth: a Journal on Civilization 7, 2 (2014), S. 5–25, hier S. 7. 6 | Ebd., S. 8. 7 | Holling, C. S., »Blind Man’s Buff. Exploring the Response Space Generated by Realistic Ecological Simulations Models«, in: Patil, Ganapati G. (Hg.), Sampling and Modeling Biological Populations and Population Dynamics, University Park u. a. 1971, S. 207–229, hier S. 208. 8 | Vgl. z. B. Kamil, Alan C./Bond, Alan B., »The Evolution of Virtual Ecology«, in: Dugatkin, Lee Alan (Hg.), Model Systems in Behavioral Ecology. Integrating, Con-
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übergegangen, was schon für Holling selbst gilt, wie Schrickel ausführlich dargestellt hat:9 Holling führte gemeinsam mit A. D. Chambers einen »Resource Science Workshop« durch, bei dem Teilnehmer aus verschiedenen Disziplinen, Institutionen und Nationen ein »Social Game« durchführten, bei dem man »Lerneffekte über die Resilienzeigenschaften interaktiver Systeme evozieren wollte«.10 Ziel des Workshops war, wie Holling und Chambers schreiben, »to develop the same kind of resilience that has evolved in natural systems. It is the resilience, that can accommodate the unknown.«11 Es ging bei dem ›social game‹ demnach darum, »ökologische Strukturzusammenhänge« in einer medialen Umwelt abzubilden, wodurch man »Resilienzeigenschaften von Ökosystemen auf soziale Systeme übertragen konnte«.12 Der Begriff ›Resilienz‹ fand damit ein breites Anwendungsfeld, am IISA übertrug man es auf Bereiche wie die Energiepolitik, Risikoforschung oder das Ressourcenmanagement.13 Diese Übertragbarkeit hat wesentlich zu seiner weiteren Karriere beigetragen, wobei er in Verbindung mit dem Begriff ›Vulnerabilität‹ zum Leitkonzept eines »umfassenden Sicherheitsdispositivs« wurde, wie Stefan Kaufmann und Sabine Blum schreiben.14 Die beiden Soziologen machen vor allem drei Bereiche fest, in denen Resilienz erscheint: Umweltpolitik, militärische und zivile Sicherheit. In diesen Feldern sei ein »epistemische[r] Wandel« auszumachen, denn in ihnen ziehen »komplexitätstheoretische Argumentationsfiguren« ein, mit denen sich »Problemwahrnehmungen und Zeitdiagnosen verschieben«.15 So werden Vernetzung, Komplexität und Ungewissheit zu Kernelementen des Sicherheitsdispositivs, das auf der Diagnose auf baut, dass ceptual, Theoretical, and Empirical Approaches, Princeton/Oxford 2001, S. 288– 310. 9 | Schrickel, »Von Schmetterlingen und Atomreaktoren«, a. a. O., S. 11–15. 10 | Ebd., S. 12. 11 | Zit nach ebd., S. 13. 12 | Ebd., S. 14. 13 | Ebd., S. 15. 14 | Kaufmann, Stefan/Blum, Sabine, »Vulnerabilität und Resilienz. Zum Wandern von Ideen in der Umwelt- und Sicherheitsdiskussion«, in: Detten, Roderich von/Faber, Fenn/Bemmann, Martin (Hg.), Unberechenbare Umwelt. Zum Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2013, S. 91–120, hier S. 92. 15 | Ebd., S. 93.
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wir uns in einem Zeitalter radikalen Wandels und gesteigerter Dynamik befänden.16 ›Resilienz‹ ist hierbei zum einen eine deskriptive Kategorie, die das Verhalten von komplexen Systemen in Hinsicht auf ›Störungen‹ wie Terrorismus, Pandemien, illegale Migration, extreme Wetterereignisse, Klimawandel oder Unfälle in großtechnischen Anlagen beschreibt, zum anderen eine Strategie für das Management solcher Systeme.17 Diese ›zwei Gesichter der Resilienz‹ hatte Holling selbst in seinem Aufsatz »Engineering Resilience versus Ecological Resilience« (1996) ausgearbeitet: Die eine Variante, »engineering resilience«, fokussiere Effizienz, Konstanz und Vorhersagbarkeit, was Kernattribute des Ingenieurswunsches nach einem »fail-safe design« seien; die andere Variante, »ecological resilience«, fokussiere Persistenz, Wandel und Unvorhersagbarkeit, was Biologen mit einer evolutionären Perspektive und diejenigen, die »safe-fail designs« suchen, in den Vordergrund stellen.18 Da es in dem modernen Sicherheitsdispositiv weniger um die Annäherung an Gleichgewichtszustände geht, sondern darum, Instabilität, und das heißt hier Adaptivität und Flexibilität, als Garanten von Sicherheit auszuweisen, spielt in ihnen die ökologische Resilienz eine bedeutendere Rolle. Dieses Sicherheitsdenken kommt nicht ohne Simulation der jeweiligen dynamischen Systeme aus. So dienen Klimamodelle dazu, die Folgen globaler Erwärmung abschätzen zu können, und man entwirft Katastrophenszenarien, um Managementstrategien zu entwickeln, mit denen angemessen reagiert wird. ›Resilienz‹ verweist somit nicht auf präventives Handeln, mit dem man zukünftige Ereignisse verhindern möchte, sondern auf Strategien der »preparedness«, welche vom Scheitern präventiver Maßnahmen ausgeht und an den »Folgen antizipierter Bedrohungen ansetzt«: Ihr Ziel ist die »Steigerung der Fähigkeit zur Bewältigung dessen, was sich nicht verhindern lässt«.19 Es geht also darum, das System 16 | Ebd., S. 93 und 101. 17 | Ebd., S. 100. 18 | Holling, C. S., »Engineering Resilience versus Ecological Resilience«, in: Schulze, Peter C. (Hg.), Engineering within Ecological Constraints, Washington D. C. 1996, S. 31–43, hier S. 33. 19 | Blum, Sabine, »Worst Case«, in: Bühler, Benjamin/Willer, Stefan (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn 2016, S. 339–349, hier S. 345.
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flexibel und adaptiv zu gestalten, damit es auf mögliche Störungen reagieren kann, ohne zusammenzubrechen. Im Zuge der »Versicherheitlichung« der Gesellschaft (»securitization«)20 gelangen dabei immer mehr Bereiche ins Spiel, denn prinzipiell kann jeder Teil der Infrastruktur, jede technische Anlage, jeder Ort zu einem Sicherheitsproblem werden. Indem Resilienz demnach Ungewissheit nicht ausschaltet, sondern eine Regierungstechnologie bezeichnet, die auf den Umgang mit ihr zielt, lässt sie sich gouvernementalen Regierungsmodellen zuordnen.21 Auf bauen können resiliente Strategien auf computerbasierten Systemen, die Vernetzungen einer Vielzahl von Variablen, Zufallsereignissen oder nicht-linearen Effekten zur Darstellung bringen. Holling selbst hat sich zum Beispiel der Bedeutung von Biodiversität für die Resilienz von Ökosystemen gewidmet,22 wozu es inzwischen eine Fülle von Forschungsarbeiten gibt.23 Insbesondere die Klimaforschung wäre ohne die Herstellung virtueller Umwelten nicht denkbar: Man untersucht die dynamische Resilienz von an Küsten gelegenen Metropolen gegenüber Katastrophen, die auf die globale Erwärmung zurückgeführt werden,24 die Widerstandsfähigkeit der Grundwasserversorgung und des Getreideanbaus im kalifornischen Central Valley im Hinblick auf verschiedene
20 | Buzan, Barry/Wæver, Ole/Wilde, Jaap de, Security. A New Framework for Analysis, Boulder, Colo. u. a. 1998. 21 | Kaufmann, Stefan, »Resilienz als Sicherheitsprogramm. Zum Janusgesicht eines Leitkonzepts«, in: Endreß, Martin/Maurer, Andrea (Hg.), Resilienz im Sozialen. Theoretische und empirische Analysen, Wiesbaden 2015, S. 295–312, hier S. 298. 22 | Allen, Craig R./Holling, C. S./Peterson, Garry, »Ecological Resilience, Biodiversity, and Scale«, in: Ecosystems 1, 1 (Jan.–Feb. 1998), S. 6–18. 23 | Exemplarisch seien genannt: Downing, Andrea u. a., »The Resilience and Resistance of an Ecosystem to a Collapse of Diversity«, in: PLoS ONE, veröff. am 27. September 2012, http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal. pone.0046135 (letzter Zugriff: 15.02.2018); Oliver, Tom H. u. a., »Biodiversity and Resilience of Ecosystem Functions«, in: Trends in Ecology & Evolution 30, 11 (2015), S. 673–684. 24 | Simonovic, Slobodan P./Peck, Angela, »Dynamic Resilience to Climate Change Caused Natural Disasters in Coastal Megacities Quantification Framework«, British Journal of Environment and Climate Change 3, 3 (July–September 2013), S. 378–401.
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Dürreszenarien25 oder die Resilienz tropischer Regenwälder angesichts von Änderungen der atmosphärischen Gaszusammensetzung.26 Resilienz setzt demnach gerade nicht auf grundlegende Änderungen des Verhaltens oder gar der sozialen Ordnung, vielmehr geht es mit der Steigerung und Optimierung der Widerstandsfähigkeit um die Stabilisierung der menschlichen Ordnung. Resilienz zielt, wie Sabine Höhler in ihrer historischen Einordnung dieses Konzepts in das systemtheoretische Denken zeigt, darauf ab, dass ein System durch das flexible Zusammenwirken seiner Elemente und Funktionen schnell auf Störungen jeder Art reagieren und sich neu organisieren kann.27 Das »einkalkulierte Systemversagen« ist somit eine Bedingung für die »Selbstoptimierung des Systems«.28 Über den Systembegriff, der psychische wie soziale, ökologische und wirtschaftliche Systeme einschließt, wird somit eine Generalisierung des Begriffs ›Resilienz‹ möglich, wodurch er als eine naturwissenschaftliche Fundierung neoliberaler Konzepte fungieren kann.
2. T. C. B oyles liter arische T ypologie des/der U mweltak tivist *in Während das Konzept ›Resilienz‹ die Umweltprobleme aus einer wissenschaftlichen Distanziertheit aus betrachtet, weshalb es eingangs als ›kühl‹ bezeichnet wurde, geht es dem Umweltaktivismus darum, in Bewegung zu kommen, Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben und aktiv zu ihrer Überwindung beizutragen. Dieser ›heiße‹ Widerstand zeigt sich etwa in Edward Abbeys Roman The Monkey Wrench Gang (1975), der sich den Sabotageakten einer kleinen Gruppe von Akteuren widmet, die 25 | Dale, Larry L. u. a., »Simulating the Impact of Drought on California’s Central Valley Hydrology, Groundwater and Cropping«, in: British Journal of Environment and Climate Change 3, 3 (July–September 2013), S. 271–291. 26 | Huntingford, Chris u. a., »Simulated Resilience of Tropical Rainforests to CO 2 -Induced Climate Change«, in: Nature Geoscience 6 (2013), S. 268–273. 27 | Höhler, Sabine, »Resilienz: Mensch – Umwelt – System. Eine Geschichte der Stressbewältigung von der Erholung zur Selbstoptimierung«, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2014): www.zeithistorische-forschungen.de/3-2014/id%3D5141 (letzter Zugriff: 15.02.2018). 28 | Ebd.
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sich zwischen Utah und Arizona bewegen und der zunehmenden Industrialisierung der Landschaft leiden. Ein besonderes Hassobjekt ist für sie der Glen-Canyon-Staudamm, der enorme ökologische Auswirkungen auf den Colorado River hatte. Gemeinsam nehmen sie den Kampf gegen Straßenbau, Kraftwerke, den Damm und weitere Infrastrukturprojekte auf. Die ausgeübte Gewalt richtet sich jedoch nicht gegen Menschen, sondern Objekte, es handelt sich nicht um ecoterrorism, sondern um ecotage – oder mit Abbey: monkeywrenching.29 Während Abbey verschiedene Strategien der ecotage literarisch darstellt, hat George Foreman, der 1980 die Organisation Earth First! mitgründete, ein Anleitungsbuch für Ecotage-Akte verfasst, nämlich das 1985 erschienene Buch Ecodefense: A Field Guide to Monkeywrenching. Der Field Guide gibt eine systematische Auflistung, was unter ecotage zu verstehen sei: Monkeywrenching sei nicht gewalttätig gegenüber Menschen oder anderen Lebensformen, nicht organisiert, dafür individuell, über die ganze USA verbreitet, äußerst unterschiedlich in der jeweiligen Ausführung, sie mache Spaß, und die Aktivisten verwendeten einfachste Werkzeuge. Die geschilderten Vorgehensweisen reichen vom tree spiking, bei dem Nägel in Bäume geschlagen werden, so dass sie für die Holzindustrie wertlos werden, über das Durchschneiden von Zäunen bis hin zur Sabotage von Walfangschiffen. Mit der Forderung nach einem grundlegenden Umbruch des Sozialen und der Organisation der Gesellschaft nach ökologischen Prinzipien schreiben sich die Akteure der ecotage in die zeitliche Logik der Revolution ein. Ihre Zielsetzungen können dabei zukunfts- oder vergangenheitsorientiert sein, d. h. es kann um die Vermeidung einer kommenden Katastrophe gehen oder um die Wiederherstellung eines ehemaligen ›natürlichen‹ Zustandes. In beiden Fällen aber ist der Bruch mit der gegenwärtigen Verfassung des Sozialen das zentrale Ziel. Dabei tritt die Figur des/der Aktivist*in in den Vordergrund, wobei hier die weibliche Form deshalb hervorgehoben wird, weil die Geschlechtergleichheit ein zentrales Element dieses Typus darstellt und er sich damit von zwei anderen historisch signifikanten Figuren grundlegend unterscheidet, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen, nämlich zum einen vom ›Spaziergänger‹, den Schiller in seinem Gedicht »Der Spaziergang« (1800) plastisch dargestellt hat und der die Form bürger29 | Vgl. dazu Bühler, Benjamin, »Monkey wrench«, in: ders./Rieger, Stefan, Kultur. Ein Machinarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2014, S. 118–129.
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licher Naturerschließung verkörpert; zum anderen von dem von Walter Benjamin entworfenen ›Flaneur‹, der den Großstadtmenschen im Zeitalter des Hochkapitalismus repräsentiert. Schillers Gedicht »Der Spaziergang« versammelt verschiedene Naturkonzepte, es beginnt mit Topoi des locus amoenus, lässt das artikulierte Ich die Natur als Erhabenes erfahren, stellt die Einheit des Menschen anhand des Landlebens dar, um dann vorzuführen, wie sich der Mensch im Verlauf der Geschichte von der Natur zunehmend distanziert. Das artikulierte Ich steht in einem sentimentalischen Verhältnis zur Natur, denn das einst harmonische Verhältnis zur Natur hat der Mensch aufgrund des Fortschritts der Zivilisation verloren, weshalb er diese Einheit nur imaginieren und reflektieren kann. Gleichwohl wird die Erfahrung der Landschaft in Schillers Gedicht zu einem identitätssichernden Akt, weshalb der Spaziergänger am Ende konstatieren kann: »Und die Sonne Homers, siehe! Sie lächelt auch uns«.30 Demnach können wir heute zwar nicht mehr wie Homer natürlich empfinden, dafür aber mit Hilfe der Dichtung das Natürliche empfinden. Indem das Ich die historische Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit reflektiert, konstituiert es sich als modernes Subjekt.31 Der Flaneur ist dagegen, wie Walter Benjamin aufzeigt, eine Figur der Großstadt: Er geht »auf dem Asphalt botanisieren« und findet in den Passagen, der neuen Erfindung des industriellen Luxus, seinen Tummelplatz.32 Während Schillers Spaziergänger durch die Natur flaniert, spaziert der Flaneur entlang der Warenläden und lässt sich von der Menge treiben. Benjamin stellt selbst diese Beziehung heraus, indem er Baudelaire zitiert: »[W]as sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen?«33 Doch nicht nur die Gefahren ändern sich unter den Umweltbedingungen der Großstadt, sondern auch die Wahrnehmungsweisen, nämlich, 30 | Schiller, Friedrich, »Der Spaziergang« [1800], in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dahn u. a., Bd. 1: Gedichte, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 34–421, V. 200. 31 | Vgl. Alt, Peter-André, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2., München 2000, S. 291; Riedel, Wolfgang, »Der Spaziergang«. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989, S. 115. 32 | Benjamin, »Charles Baudelaire«, a. a. O., S. 538. 33 | Ebd., S. 540.
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wie Georg Simmel ausführt, durch die »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke« und die »Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen«.34 Der Flaneur ist daher ein Beobachter, der die »Dinge im Flug« erfasst und »Formen des Reagierens« ausbildet, die der Großstadt anstehen.35 Auch hier stellt Benjamin Verbindungen zwischen natürlicher und städtischer Umwelt her, denn im Genre der Detektivliteratur werde die Pariser Unterwelt zu dem, was in James F. Coopers Abenteuerromanen der Urwald und die Prärie seien. Während sich allerdings Schillers Spaziergänger in der landschaftlichen Umwelt als Ich erfahren darf, geht der Flaneur in der »Großstadtmenge« auf.36 Im Gegensatz zum Spaziergänger und Flaneur, die letztlich in einer passiven Haltung verbleiben, zeichnen sich ökologische Aktivisten durch ihre Initiative, ihren Enthusiasmus aus, den sie meist – zumindest bis zu einem bestimmten Punkt – trotz aller Rückschläge und Frustrationen beibehalten. Sie sind die Kerntypen der politischen Ökologie, wobei mit der Ökologie nun auch endlich die Geschlechtergerechtigkeit ins Spiel kommt: Männer wie Frauen setzen sich gleichermaßen für die Umwelt ein. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Neuerfindung: Wie Spaziergänger und Flaneur ist auch der/die Aktivist*in eine Figur, die sich durch verschiedene Umwelten bewegt. Während sich Spaziergänger und Landschaft sowie Flaneur und die Passagen der Großstadt wechselseitig konstituieren, ist der/die Aktivist*in eine Figur der ökologischen globalen Krise. Mit Schillers Figur teilt sie das sentimentalische Naturverhältnis, das Wissen um die vom Menschen verursachten Verluste, die Pflanzenund Tierarten ebenso betreffen wie ganze Ökosysteme. Mit Benjamins Flaneur wiederum teilt sie die Haltung des Detektivs, auch ihr entgeht nichts – darf nichts entgehen, weshalb sie auf moderne Wissenschaften setzt und gelegentlich auch Gesetze überschreitet. Und natürlich schreibt sie sich in die Geschichte der Widerstandsfiguren ein, so etwa in die der Maschinenstürmer und Saboteure. Allerdings richten sich ihre Aktionen nicht gegen vereinzelte Fabriken oder Industriezweige, sondern ihr Ziel 34 | Simmel, Georg, »Die Großstädte und das Geistesleben« [1903], in: ders., Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. von Rüdiger Kramme u. a. Frankfurt a. M. 1995, S. 116–131, hier S. 116. 35 | Benjamin, »Charles Baudelaire«, a. a. O., S. 543. 36 | Ebd., S. 546.
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ist das Überleben der sich langsam, aber stetig vollziehenden ökologischen Katastrophe, was in ihren Augen nur durch eine Transformation der Weltgesellschaft zu leisten sein wird. Eine ganze Typologie von weiblichen und männlichen Aktivisten hat der amerikanische Autor T. C. Boyle in seinen Romanen entworfen. A Friend of the Earth (2000) schildert zunächst den Werdegang eines ÖkoTerroristen, wobei er sich zwischen zwei Zeitebenen bewegt: Der eine Handlungsstrang findet zwischen 1989 und etwa 2001 statt und erzählt, wie der Protagonist Ty Tierwater in die Umweltbewegung gelangt und sich zunehmend radikalisiert. Die zweite Ebene liegt in der nahen Zukunft, nämlich im Jahr 2026. Inzwischen hat eine Klimakatastrophe stattgefunden, die zu Lebensmittelknappheit, Unwettern und ständigem Regen in Kalifornien sowie auch zum Aussterben vieler Säugetiere geführt hat. Tierwater arbeitet zu dieser Zeit für einen Millionär, der die Tiere retten möchte, »die sonst keiner haben will«,37 dazu gehören Schabrackenhyänen, Warzenschweine, Pekaris, Schakale, Löwen und ein Patagonischer Fuchs. Gemeinsam mit seiner Freundin Andrea ist Tierwater im Jahr 1989 Mitglied der radikalen Umweltgruppe Earth Forever!, was eine offensichtliche Anspielung auf Earth First! ist, zumal diese Gruppe bekannt sei für das »Spicken von Bäumen mit Stahlnägeln«.38 Die Handlung setzt ein mit der Schilderung einer gewaltlosen Aktion: Mit einem Freund, Andrea und seiner Tochter lässt sich Tierwater in der Nacht auf einer Straße einbetonieren, um Holzfäller daran zu hindern, zum Siskiyou National Forest, der sich in Oregon und Kalifornien befindet, zu fahren, um Bäume zu fällen. Die Aktion ist friedlich, wird aber weitreichende Konsequenzen haben: Nicht nur, dass die Arbeiter und die Polizisten die vier Aktivisten mit äußerster Brutalität behandeln – Tierwater verliert durch die Aktion seine Tochter, die im Folgenden zu einer Pflegefamilie gegeben wird. Die Erfahrung polizeilicher Gewalt, die Wirkungslosigkeit der Aktion und der Verlust der Tochter führen zur Radikalisierung Tierwaters: Er entführt seine Tochter, sprengt eine Planierraupe, beschädigt Maschinen, sägt Strommasten an und brennt eine Baumplantage nieder.
37 | Boyle, T. Coraghessan, Ein Freund der Erde, übers. von Werner Richter, München 2003, S. 23. 38 | Ebd., S. 18 f.
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Boyle liefert in seinem Roman keine Verteidigung dieser Vorgehensweisen, vielmehr behandelt er sie satirisch: Tierwater folgt zwar durchaus einer Programmatik, er hat sich in Arne Naess’ Tiefenökologie eingearbeitet und liest Bill McKibbens Buch The End of Nature (1989), das sich der globalen Erwärmung widmet. Zugleich sind seine Aktionen dilettantisch und wenig erfolgreich. Über die erwähnte Blockade der Straße wird in den Medien nicht berichtet, weil die Polizei die Straße einfach sperrt. Ein anderes Unternehmen soll dagegen die Öffentlichkeit für ihre Ziele gewinnen. Gemeinsam mit Andrea verbringt Tierwater dreißig Tage nackt im Wald, wofür sie mehrere ›Survival-Handbücher‹ studiert haben. Begleitet werden sie von einem Journalisten, der sich in ihrer Nähe auf hält, aber mit ihnen keinen Kontakt aufnimmt. Während der Journalist ohne Mühe Feuer macht und Konserven kocht, reiben sich die beiden die Hände wund, um Feuer zu machen, und leiden bald unter extremem Hunger. Boyle bringt seine Figuren in eine ökologische Fallhöhe: Mit großem Enthusiasmus zogen die beiden vor einer Menge an Journalisten in den Wald, Tierwater hoffte auf ein erotisches Zusammensein, im Verlauf des Monats werden ihre Körper allerdings »verschmutzt, geschunden und praktisch sexlos«,39 und jeder Augenblick dient der Suche nach Nahrung.40 Die Medien sind aber begeistert, die beiden kommen auf ein Titelblatt und sämtliche Presseorgane sind an Interviews interessiert.41 Auch aus Tierwaters Tochter wird eine Aktivistin: Sie verbringt drei Jahre ohne Unterbrechung auf einem alten Redwood-Baum, um eine Holzfirma von seiner Fällung abzuhalten. Schon nach den ersten vier Wochen wird die Presse aufmerksam und macht aus ihr ein »Idol von Tausenden«. Sie entgeht diversen Angriffen der Holzfirma, der die Baumplantage gehört, beginnt aber auch zu einer »wahnsinnigen Heiligen« zu werden, die am Ende zu vergessen scheint, »warum sie überhaupt auf dem Baum lebt«. Vor allem aber steht ihr Tod im Kontrast zu ihrer Aktion, mit der sie erreichen will, dass die Holzfirma ihre Geschäfte aufgibt und die »Reparatur des Ökosystems« in Angriff nimmt:42 Obwohl sie drei Jahre auf dem Baum sicher verbracht hat, verliert sie 39 | Ebd., S. 239. 40 | Ebd., S. 241. 41 | Ebd., S. 275. 42 | Alle drei Zitate: Ebd., S. 340.
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während eines Telefongesprächs mit ihrem Vater das Gleichgewicht und stürzt hinunter.43 Und schließlich zeigt der Roman auch auf, wie die einst radikale Gruppe Earth Forever! im politischen System ankommt. Während Tierwater aufgrund seiner Sabotageakte mehrere Jahre im Gefängnis verbringt, macht Andrea Karriere bei der Organisation, sie wird Sprecherin, Direktorin und schließlich Vorstandsmitglied mit eigenem BMW. Folgerichtig lehnt sie nun sämtliche Guerillataktiken ab und distanziert sich von »Öko-Spinnern«, die etwas in die Luft jagen oder Bäume mit Stahlnägeln spicken.44 Boyle führt jedoch nicht nur die unterschiedlichen Typen ökologischer Bewegungen vor, vom fanatischen Öko-Saboteur über eine Märtyrerin bis zur professionellen Politikerin, sondern rahmt diese Geschichten durch die zukünftige Klimakatastrophe. Damit konfrontiert Boyles Roman anhand der Erinnerungen Tierwaters die Zukunftshoffnungen der Öko-Aktivist*innen mit einer globalen Katastrophe, weshalb ihm auch all seine Aktivitäten als erfolgs- und somit sinnlos erscheinen, wie Tierwater einem seiner Gegenspieler anvertraut: Auf die Frage, was er erreicht habe, antwortet er »›Nichts‹«, sage ich. ›Überhaupt nichts‹«.45 Andererseits zieht er am Ende im Jahr 2026 mit Andrea und einer Patagonischen Füchsin in eine Hütte in den Wald, der sich zu erholen scheint.46 Während dieser Roman die politische Umweltbewegung satirisch vorführt, arbeitet Boyles When the Killing’s Done (2011) die Paradoxien heraus, die sich aus dem Zusammentreffen von Tierschutz und Umweltschutz ergeben. Die Protagonisten des Romans sind eigentlich die Inseln, die an der kalifornischen Küste liegen, und zwar Santa Cruz und Anacapa, die zum Kampffeld zweier Öko-Aktivisten werden: Da ist zum einen die Biologin Alma, die den ursprünglichen Zustand auf den Inseln wiederherstellen möchte. Dafür müssen aber die unzähligen Ratten sowie auch verwilderte Schweine, die sich dort befinden, getötet werden. Denn für Alma handelt es sich um invasive Spezies, durch welche es zum Zusammenbruch des Ökosystems auf der Insel komme, denn Ratten seien »weltweit für 60 % des Aussterbens von Inselpopulationen verantwortlich […]. Und 43 | Ebd., S. 343. 44 | Ebd., S. 308. 45 | Ebd., S. 350. 46 | Ebd., S. 355.
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Ratten sind dabei, die Bodenbrüter auf Anacapa auszurotten.«47 Daher sollen die Ratten mithilfe eines durch Flugzeuge verteilten Gifts getötet werden, um die Bestände von Alkenvögeln, Taubenteisten, Westmöwen und Kormoranen zu schützen. Das ist auch die Argumentation, mit der sie begründet, dass auf der Insel Santa Cruz die Schweine abgeschossen werden, wofür sie eigens einen Jägertrupp engagiert. Ihr Gegenspieler ist der radikale Tierschutzaktivist Dave LaJoy, für den jedes Lebewesen schützenswert ist: »Der Tod auch nur eines einzigen Tieres – einer einzigen Ratte – ist unmenschlich, ungerecht und nicht hinnehmbar.«48 Für Dave sind die Biologen und der National Park Service daher »Nazis«.49 Zugleich bringt er die Problematik des Ausrottungsprojekts aber auch auf den Punkt: »Welche Welt wollen sie wiederherstellen? Die von vor hundert Jahren? Tausend? Zehntausend? Warum […] nicht gleich einen Zwergmammut klonen und auf der Insel aussetzen, wie in Jurassic Park?«50 Der Konflikt zwischen Alma und Dave dreht sich um genau diese Frage, die überhaupt für den Naturschutz zentral ist. Josef Reichholf hat diese Problematik – durchaus polemisch – in seinem Buch Naturschutz. Krise und Zukunft behandelt, im Vorwort schreibt er: »Das gezielte Konservieren eines bestimmten Zustandes stellt zwangsläufig eine Stabilisierungsmaßnahme und damit einen Eingriff in die natürlichen Abläufe dar«.51 Hinzu kommt nach Reichholf, dass Städte oder ehemalige Industriegebiete sogar mehr ›Natur‹ geschaffen haben: Städte sind häufig artenreicher als eine gleich große Fläche in der so genannten ›freien Natur‹. Ein dritter Aspekt, der hier relevant ist, sind die invasiven Arten. So wolle der Naturschutz eingewanderte Arten wie Waschbären, Wandermuscheln oder den Riesenbärenklau gern loswerden, da sie unsere Natur verfälschten, aber die als schützenswert deklarierten Arten – Reichholf nennt u. a. Feldhasen, Fasan, Blaue Kornblume und Roter Mohn – seien nichts anderes als »Neue von früher«.52 47 | Boyle, T. Coraghessan, Wenn das Schlachten vorbei ist, übers. von Dirk van Gunsteren, München 2012, S. 79. 48 | Ebd., S. 83. 49 | Ebd., S. 84. 50 | Ebd., S. 85. 51 | Reichholf, Josef H., Naturschutz. Krise und Zukunft, Frankfurt a. M. 2010, S. 9. 52 | Ebd., S. 64.
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Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach dem Ursprung, dem reinen Ausgangszustand, der in der Ökologie und im Naturschutz lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt hat.53 Doch die ›reine Natur‹ ist nur ein vermeintlich ursprünglicher Zustand, denn auch sie hat immer schon eine Vorgeschichte. Während Reichholf dieses Fundament des Naturschutzes argumentativ aushebelt, bietet Boyles Roman eine literarische Auseinandersetzung. Dabei stellt er sich weder auf die eine noch die andere Seite, denn seine beiden Haupt-Protagonisten sind gleichermaßen sympathisch und unsympathisch. Am Ende verbleibt nichts anderes als das paradoxe Verhältnis von Natur- und Tierschutz – und zwar durchaus mit Humor, wie der Schluss zeigt: Um das Programm der Biologin durcheinanderzubringen, bringt Dave LaJoy einen Waschbären auf die Insel, wovon aber niemand etwas weiß, nicht zuletzt deshalb, weil Dave inzwischen bei einem Unfall verunglückt ist. So findet die Biologin, nachdem alle Schweine auf Santa Cruz abgeschossen wurden, diesen Waschbären, den sie für einen Kolonisten hält, der vielleicht auf einem Stück Treibholz auf die Insel gekommen sei: »[D]ieses Tier ist auf demselben Weg hergekommen wie die Skunks und die Füchse und die Mäuse und die Eidechsen und der ganze Rest, und unsere Pflicht besteht ganz klar darin, uns nicht einzumischen. Wir können es markieren. Ihm ein Halsband anlegen. Aber die Natur muss ihren Lauf nehmen.«54 Diese ›Natur‹ aber ist, wie die Leser wissen, eben alles andere als ›Natur‹. In dieser Schlusspointe, dieser letzten Täuschung der Umweltschützerin, liegt der entscheidende Kommentar, nämlich dass sich Natur und Kultur nicht mehr eindeutig unterscheiden lassen und der ›reine Naturzustand‹ eine Fiktion ist. Einer ganzen Gruppe von Aktivisten widmet sich Boyles Roman The Terranauts (2016), nämlich den schon erwähnten ›sozialen Synergisten‹, die 1991 Biosphäre 2 bezogen. Boyle schildert vor allem die sozialen Auswirkungen des Experiments auf die acht Bewohner, die er aber mit dem technischen Experiment korrespondieren lässt. So spricht eine der Protagonistinnen von »mysteriösen Verbindungen«, die die »unsichtbaren Sensoren und Fühler und Tentakel« sowohl in der menschlichen Sphäre 53 | Die Frage nach dem Zustand, den man wiederherstellen oder erhalten möchte, stellt sich in ähnlicher Weise für das Weltkulturerbe, vgl. dazu: Willer, Stefan, »Weltkulturerbe«, in: Bühler, Benjamin/Willer, Stefan (Hg.), Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, Paderborn 2016, S. 143–153. 54 | Boyle, Wenn das Schlachten vorbei ist, a. a. O., S. 455.
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als auch in den Biomen herstellen.55 Etwas nüchterner bringt eine andere Figur diese Verbindungen unter Bezug auf Rachel Carson auf den Punkt: So wie jedes Ökosystem aus »Vernetzung und Interdependenzen« bestehe, eine Gemeinschaft von Organismen sei, die »zusammenwirken, um das Ganze zu erhalten«, so auch ihre Gemeinschaft: »Was einen betraf, betraf auch die anderen«.56 Für die ›Terranauten‹ geht es dabei wirklich um das Ganze: Man habe sie kritisiert, weil sie mit der Biosphäre eine »künstliche Umwelt« geschaffen hätten, zumal hier Tier- und Pflanzenarten wohnten, die sonst nie miteinander in Kontakt gekommen wären. Aber genau das ist Absicht. Denn: »Doch außerhalb dieser Glashülle leben wir alle in einer geochronologischen Epoche, die Wissenschaftler als Anthropozän bezeichnen und die genau dadurch definiert ist: Der Mensch formt die Welt.«57 Für sie ist die Biosphäre eine »mögliche Welt« und ihr Ziel, die Welt im Laufe von hundert Jahren so zu verändern, dass es eine »ideale Welt« sein würde.58 Dafür müssen sie die Welt aber auch von ihrem Projekt überzeugen, was nicht ohne öffentliche Aufmerksamkeit funktioniert. Daher sind die Medien eine konstitutive Komponente des/der Aktivist*in. Vom Einzug in das Glashaus über die zwei Jahre hinweg bis zum Auszug sind Kameras, Mikrophone und ständige Besucher elementarer Bestandteil des Projekts, womit die Bewohner – bis auf wenige Ausnahmen – unter Dauerbeobachtung stehen. Ein Medienereignis ist denn auch der Höhepunkt des Romans: Die Protagonistin Dawn wird schwanger, gebiert das Kind vor Kameras, und während ihre Kollegen nach zwei Jahren die Sphäre verlassen, wird sie mit dem Baby nach zwei Jahren nicht ausziehen. Die Inszenierung dieser Nachricht gelingt denn auch. Zwar gibt es nach ihrer Verkündigung erst einmal keinen »tosende[n] Applaus«, vielmehr rutschen die Leute unbehaglich hin und her, am Ende aber »pfiffen und johlten« sie, bis sie nicht mehr können.59 Was sie nicht wissen können: Mit ihrer Entscheidung, ›drin‹ zu bleiben, handelt Dawn gegen ihre Mitbewohner. Denn die Gemeinschaft hatte in einer Abstimmung entschieden, dass 55 | Boyle, T. Coraghessan, Die Terranauten, übers. von Dirk van Gunsteren, München 2017, S. 327. 56 | Ebd., S. 358 57 | Ebd., S. 385. 58 | Ebd., S. 386. 59 | Ebd., S. 566.
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niemand zurückbleibt. Die ökologische Idee, dass alle zusammenwirken, um das Ganze zu erhalten, die sowohl für die Bewohner als auch für jedes Ökosystem und die Biosphäre überhaupt gültig sein soll, wird somit von Dawn infrage gestellt. Wie in seinen anderen Romanen führt Boyle auch hier vor, wie die Aktivisten an ihren Ansprüchen scheitern, sie an ihre psychischen und physischen Grenzen gelangen, sich aber auch an die Medien ›verkaufen‹. Dabei kann der/die Aktivist*in trotz aller Frustrationen und vergeblichen Mühen nie zur Ruhe kommen und sich seiner Position versichern, er/sie muss immer aktiv bleiben, um das Ziel, das sich nicht erreichen lässt, wenigstens anzustreben. Das Umweltverhältnis des/der Aktivist*in ist somit nicht auf Beobachtung, Empfindung und Reflexion beschränkt, vielmehr auf das Ergreifen der Handlungsinitiative ausgerichtet, für die dann aber auch eine möglichst große Öffentlichkeit hergestellt werden muss. Dabei bewegt sich diese Figur jedoch unweigerlich in aporetischen Verhältnissen: Man möchte, wie in A Friend of the Earth, die ganze Welt retten, indem man Straßen absperrt und Bäume besetzt, befindet sich in der paradoxen Situation, dass Umweltschutz die Tötung von Tieren erfordert wie in When the Killing’s Done, oder man handelt gerade gegen die Prinzipien, die man eigentlich vertreten möchte, wie in The Terranauts. Während demnach das Modell der Resilienz auf die Stabilisierung und Optimierung bestehender Systeme setzt, zielen die hier vorgestellten Aktivist*innen auf einen Umbruch der sozialen Ordnung, wofür sie sich auch immer wieder außerhalb oder zumindest am Rand dieser Ordnung bewegen. Auf der Ebene der Staatsgründung hat diese Problematik Ernest Callenbach in seinem Roman Ecotopia Emerging (1981) behandelt. Darin erzwingt die Partei der Survivalists die Abspaltung eines eigenen Staates von den kapitalistischen und umweltzerstörenden USA, um ein ökologisches Staatsmodell realisieren zu können. Der zentrale Handlungsstrang dieses Romans ist um die Erfindung einer Solarzelle organisiert, die zur technischen Grundlage einer weitreichenden sozialen und politischen Neustrukturierung wird, da sie die Möglichkeit einer dezentralen Energieversorgung schafft – jeder versorgt sich in dieser Utopie selbst mit Energie. Allein durch Technik lässt sich aber kein Staat gründen, erst recht nicht gegen den Widerstand des amerikanischen Staatsapparates. So stellt sich angesichts eines drohenden militärischen Angriffs die Frage nach der Legitimität von Gewaltaktionen. Neben den so genannten »cancer commandos«, unheilbar an Krebs erkrankten Menschen, die chemi-
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sche Fabriken – und eben auch sich selbst – sprengen,60 spielt hier vor allem eine nukleare Erpressung die zentrale Rolle: Man deponierte Atombomben in Washington und New York und drohte mit ihrer Sprengung im Fall eines militärischen Angriffes.61 Letztlich sind die Survivalists mit ihrer Strategie erfolgreich, doch bleibt dieser Akt der Drohung ein Makel in der Gründung des demokratischen und ökologischen Staates Ökotopia.
60 | Callenbach, Ernest, Ecotopia Emerging, Berkeley, California 1981, S. 255 f. 61 | Ebd., z. B. S. 317, 332.
VI. Politische Ökologie und Demokratie 1. Ö kodik tatur!? Wenn im Dispositiv der politischen Ökologie Regieren als Regulieren konzipiert wird, stellt sich die Frage nach ihrer Verträglichkeit mit demokratischen Strukturen, was vor allem seit den 1970er Jahren vermehrt diskutiert wird. Im Jahr 1968 veröffentlicht der Ökologe Garett Hardin den wirkungsreichen Aufsatz »The Tragedy of the Commons«, in dem er die liberale Demokratie für die Umweltkrise verantwortlich macht. Es folgten Bücher wie William Ophuls Ecology and the Politics of Scarcity. Prologue to a Political Theory of the Steady State (1972), Robert Heilbronners An Inquiry into the Human Prospect (1974), Herbert Gruhls vielgelesenes Buch Ein Planet wird geplündert (1975) oder auch Hans Jonas’ philosophisch-ethisches Werk Das Prinzip Verantwortung (1979). Die in diesen Texten entwickelten demokratieskeptischen Positionen leiten ihre jeweiligen Forderungen nach einer elitären Regierung oder gar Ökodiktatur von der Bedrohung der Lebensgrundlagen ab, weshalb man diese Ausrichtung auch als ›survivalism‹ oder ›doomsayers‹ zusammengefasst hat.1 Das Konzept ›Ökodiktatur‹ fungiert zuerst einmal als Abschreckungsszenario: Demnach könnten die demokratischen Institutionen jetzt noch agieren, ab einem bestimmten Punkt aber würden sich die ökologischen Probleme schlichtweg nicht mehr in einem demokratischen System lösen lassen. Zum Beispiel schreibt Ivan Illich im Jahr 1975: Wenn die Menschheit nicht in sehr naher Zukunft die Auswirkungen ihrer Werkzeuge auf die Umwelt begrenzt und eine wirksame Geburtenkontrolle verwirklicht, dann werden unsere Nachfahren die schreckliche Apokalypse erleben, die von 1 | Carter, Neil, The Politics of the Environment. Ideas, Activism, Policy, Cambridge 2001, S. 42 f.
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manchen Ökologen vorhergesagt wird. Die Gesellschaft kann sich um des Überlebens willen innerhalb der von einer bürokratischen Diktatur festgelegten und durchgesetzten Grenzen verschanzen, oder aber politisch auf die Bedrohungen reagieren, indem sie zu politischen und juridischen Verfahren Zuflucht nimmt. 2
Zwei Jahre später verweist André Gorz u. a. unter Rekurs auf Illichs Buch mit dem Begriff ›Ökofaschismus‹ auf die mögliche Gefahr einer Ökodiktatur, die nur durch grundlegende Umstrukturierungen abgewendet werden könne.3 Und noch heute ist der Rekurs auf eine Ökodiktatur eine Argumentationsstrategie, um einen fundamentalen Wandel der Gesellschaft einzufordern. So diskutiert der Journalist Bernhard Pötter in seinem Buch Ausweg Ökodiktatur? Wie unsere Demokratie an der Umweltkrise scheitert die Gefahren einer Ökodiktatur, um dann die Erweiterung der Demokratie zu einer »Ökokratie« einzufordern, also einer Demokratie, die eine stabile Atmosphäre, Artenvielfalt oder Zugang zu sauberem Wasser garantiert und Zukunftsrechte als nicht verhandelbare Grundrechte formuliert.4 Gemäß den Überlegungen von Illich, Gorz oder Pötter ist es demnach eine Frage des Zeitpunkts, an dem der Umschlag in die Apokalypse bzw. die Diktatur stattfinden wird, wenn nichts gegen die ökologischen Bedrohungen unternommen werde. So unterscheiden sich Verwendungsweisen des diskursiven Operators ›Ökodiktatur‹ vor allem in der Art und Weise, mit der sie die jeweilige Gegenwart auf diesen Umschlagspunkt in Beziehung setzen: Entweder hat die Demokratie noch etwas Zeit, Maßnahmen zu entwickeln, oder aber es ist schon zu spät. Für die mangelnde Leistungsfähigkeit der Demokratie führen die ›Survivalists‹ auch systematische Argumente an, die im Folgenden erläutert werden sollen. Ein Grund für ihr Misstrauen gegenüber der Demokratie liegt in der Reichweite der gegenwärtigen und zukünftigen ökologischen Probleme. Kaum ein Werk, das sich nach 1945 mit Umweltproblematiken beschäftigt, kommt ohne den Hinweis auf die Gefährdung des Fortbestehens der menschlichen Spezies aus. Bereits im Jahr 1948 widmet sich Henry 2 | Illich, Ivan, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, übers. von Nils Thomas Lindquist, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 175. 3 | Gorz, André, Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 86. 4 | Pötter, Bernhard, Ausweg Ökodiktatur? Wie unsere Demokratie an der Umweltkrise scheitert, München 2010, S. 30.
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Fairfield Osborn Jr. in seinem Buch Our Plundered Planet (1948) dem, so Osborn, stillen, weltweit ausgetragenen und äußerst tödlichen Krieg, nämlich dem Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur. Lange vor dem Ausrufen der neuen Erdepoche ›Anthropozän‹ bestimmt Osborn den Menschen als geologische Kraft. Bis auf wenige isolierte Regionen gebe es auf der Erde kein vom Menschen nicht beeinflusstes Land, dabei habe der Mensch zunehmend fruchtbare Flächen durch Erosion, falsche landwirtschaftliche Methoden oder den Einsatz von Pestiziden zerstört.5 Vor allem aber um 1970 wird das zukünftige Überleben der Menschheit zum Basisnarrativ im ökologischen Diskurs. So lautet der Titel einer 1966 erschienenen Monographie des Biologen und Umweltaktivisten Barry Commoner Science and Survival, das letzte Kapitel von Barbara Wards und René Dubos’ Only One Earth (1972) widmet sich »Strategies for Survival«, und 1972 veröffentlicht eine Gruppe von Naturwissenschaftlern aus dem Umfeld der Zeitschrift The Ecologist die Schrift A Blueprint for Survival, in dem sie einen Weg zur Ausbildung einer stabilen Gesellschaft aufzeigen möchten. Denn die Lage sei besorgniserregend, wie auch der Philosoph Georg Picht angesichts der Studie The Limits to Growth (1972) schreibt: Das Überleben der Menschheit könne ohne eine »planetarische Verwaltung der lebenswichtigen Rohstoffe auf die Dauer nicht garantiert werden«.6 Dabei wissen sowohl die Verfasser des Blueprint for Survival als auch Picht, dass ihre Forderungen angesichts der gegenwärtigen politischen Strukturen nicht oder nur sehr schwer umzusetzen wären. Dennoch arbeiten sie ihre Überlebensprogramme und Maßnahmenkataloge aus, denn ihre Schriften sind keine bloßen Utopien, sondern verstehen sich als Versuch von Interventionen in das politische Geschehen. Einfach etwas zu tun, reicht angesichts solcher Diagnosen nicht aus – es müsse vielmehr schnell und umfassend gehandelt werden. Daher macht Ophuls die Zeit als ein knappes Gut aus: »The great danger from the sudden emergence of ecological scarcity is that we will not respond to its challenges in time.« 7 Die Situation ist nach Ophuls umso prekärer, 5 | Osborn, Fairfield, Our Plundered Planet, Boston, Mass. 1948, z. B. S. 35 und 69 f. 6 | Picht, Georg, »Die Bedingungen des Überlebens. Die Grenzen der MeadowsStudie«, in: Nussbaum, Heinrich von (Hg.), Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum ›Bericht des Club of Rome‹, Düsseldorf 1973, S. 45–58, hier S. 50. 7 | Ophuls, William, Ecology and the Politics of Scarcity. Prologue to a Political Theory of the Steady State, San Francisco 1977, S. 134.
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da kleinere Reformen oder Institutionalisierungen eines ökologischen Managements die Krise nicht verhindern; notwendig ist seiner Meinung nach vielmehr ein radikaler Wandel. Seine These lautet: In brief, liberal democracy as we know it […] is doomed by ecological scarcity; we need a completely new political philosophy and set of political institutions. Moreover, it appears that the basic principles of modern industrial civilization are also incompatible with ecological scarcity, and that the whole ideology of modernity growing out of Enlightenment, especially such central tenets as individualism, may no longer be viable. 8
Ophuls betont, dass politische Einrichtungen wie die Monarchie oder Demokratie keinen Ewigkeitsanspruch haben, er veweist also auf die Kontingenz politischer Macht. So müsse sich die Politik im anbrechenden Zeitalter der ökologischen Krise notwendigerweise fundamental ändern, wobei er die Grundlagen der Moderne infrage stellt. Damit ersetzt Ophuls jedoch die kontingente Grundlage politischer Macht durch ihre Ermächtigung im Zeichen der Katastrophe. So wird gerade hier der ›Hass auf die Demokratie‹ sichtbar, denn der »Skandal« der Demokratie besteht gemäß Jacques Rancière im Fehlen einer letztgültigen Begründung, in der Anerkennung der Kontingenz politischer Macht. Dagegen verstünden sich heutige Regierungen, und hier ließe sich auch Ophuls Position einordnen, oftmals nur noch als »einfache Verwalter dessen […], was die globale historische Notwendigkeit an lokalen Auswirkungen zeitigt«, weshalb sie sich fleißig bemühten, den demokratischen Zusatz (supplément) auszuschließen, womit sie politische Angelegenheiten stetig entpolitisierten.9 Ebenfalls im Widerspruch zu gegenwärtigen Demokratien steht nach Meinung der Survivalists die planetarische Dimension ökologischer Probleme. Faktoren wie Bevölkerungswachstum, verfügbare Ressourcen wie Wasser und bewohnbarer Raum oder Niveau der Meeresspiegel lassen sich ebenso wenig national bewältigen wie die Frage nach der Legitimation von Ölbohrungen in der Antarktis, dem Tiefseebergbau, der Abholzung der Regenwälder oder der Ablagerung von Müll in Staaten der Dritten Welt. 8 | Ebd., S. 3. 9 | Rancière, Jacques, Der Hass der Demokratie [2005], übers. von Maria Muhle, Berlin 2012, S. 98.
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Ein Versuch der politischen Implementierung ökologischer Lösungsstrategien auf supranationaler Ebene sind die Umweltkonferenzen der UN. Dabei formulieren schon Ward und Dubos in ihrer im Auftrag der UN verfassten Studie Only One Earth (1972) die Grundfrage in wünschenswerter Klarheit: Wie kann man souveräne Staaten dazu bringen, Maßnahmen für die gesamte Biosphäre zu ergreifen?10 Dabei können sie zwar auf eine Reihe von internationalen Organisationen, Konventionen, Verträge und Kooperationen verweisen, allerdings seien wir so in unserem nationalen Rahmen eingeengt, dass wir gar nicht in der Lage seien, die »Notwendigkeit einer konzertierten Aktion für den Gesamtbereich der Umweltprobleme klar zu erkennen«.11 Genau von diesem Vorbehalt zeugt denn auch die Geschichte der Umweltkonferenzen zwischen 1972 und 2015. Bereits die Stockholmer Konferenz habe nicht die Erwartungen erfüllt, wie Ophuls schreibt. Unter anderem betont er die Beharrung auf das Recht souveräner Staaten, ihre eigenen Ressourcen nach Belieben zu nutzen, ohne die potentiellen ökologischen Kosten für die Weltgemeinschaft einrechnen zu müssen.12 Die Souveränität der Nationalstaaten erweist sich damit als eines der Kernprobleme für eine ökologisch geleitete Politik. Die logische Konsequenz der Problemlage wäre eine Weltregierung »with coercive power over fractious nation states to achieve what reasonable men would regard as a planetary common interest«.13 Allerdings weiß Ophuls um den utopischen Charakter dieser Forderung, die realistischere Annahme sei das Eintreten eines Krieges aller gegen alle. Bekanntlich hat sich die Situation heute nicht wesentlich geändert. Zwar hatte die große Umweltkonferenz 1992 in Rio de Janeiro enorme institutionelle Auswirkungen. Beteiligt waren zahlreiche Staaten, aber auch Nicht-Regierungsorganisationen und Interessengruppen. Man verabschiedete eine Biodiversitätskonvention und ein Rahmenabkommen zum Klimawandel sowie die Agenda 21, mit der nachhaltige Entwicklung als internationales Leitprinzip etabliert wurde. Schließlich schien nach einer Vielzahl nur bedingt erfolgreicher, zum Teil auch gescheiterter UNKlimakonferenzen mit der Klimakonferenz in Paris 2015 eine Wende der 10 | Dubos, René/Ward, Barbara, Only One Earth. The Care and Maintenance of a Small Planet, London 1972, S. 268. 11 | Ebd., S. 271. 12 | Ophuls, Ecology and the Politics of Scarcity, a. a. O., S. 217. 13 | Ebd., S. 219.
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Klimapolitik zu geschehen. Zum einen rückt das Ziel, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, unter die bisher genannte Marke 2,0 Grad Celsius, zum anderen haben die USA und China das Abkommen mitunterzeichnet. Allerdings hat die Klimapolitik mit dem Amtsantritt Donald Trumps und seinem Ausstieg aus dem Pariser Abkommen wieder einen herben Rückschlag erlitten. Und schließlich wird auch Deutschland trotz aller Verlautbarungen seine Klimaziele – u. a. die Reduktion der Emmission von Treibhausgasen bis 2020 um mindestens 40 Prozent (Bezugsjahr: 1990) – kaum erreichen können.
2. A ntidemokr atische R he torik und N arr ative Es geht im Feld der politischen Ökologie nicht nur um den rationalen Austausch von Argumenten, Daten und Statistiken: Metaphern, rhetorische Durchsetzungskraft und Narrativen kommt hier eine ebenso große Wirkmacht zu. So wird die Dringlichkeit umfassenden Handelns immer wieder auch sprachlich hergestellt, wie etwa Ophuls Buch zeigt: Ereignisse üben Druck auf uns aus,14 weshalb wir mit tragischen Entscheidungen konfrontiert seien,15 wir dürften aber nicht zaudern.16 Damit einher gehen Strategien der dramatischen Zuspitzung: Wenn die letzte Schwelle überschritten sein werde, was bald geschehen könne, dann sei die unvermeidbare Konsequenz der Kollaps.17 Eine Dramatisierung findet sich auch bezüglich historischer Prozesse. In dem Buch A Blueprint for Survival kann man förmlich den gleitenden Übergang von einer wissenschaftlichen in eine alarmistische Prognostik beobachten. Für die Autoren ist klar: »Unsere Überlebenschance beruht seit jeher darauf, dass ökologische Prozesse vorhersagbar sind.«18 Die wissenschaftliche Ökologie habe hierfür zwei Grundsätze ausgemacht: Ers14 | »Events are pressing on us«. Ebd., S. 3. 15 | »[A]lready we confront an array of potentially tragic choices.« Ebd, S. 3. 16 | »But we must not delay«. Ebd., S. 3. 17 | Ebd., S. 134. 18 | Goldsmith, Edward/Allen, Robert, A Blueprint for Survival, Boston 1972, im Folgenden zit. n. der deutschen Ausgabe: Planspiel zum Überleben. Ein Aktionsprogramm, übers. von Hans-Dieter Heck, Stuttgart 1972, S. 13.
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tens strebten alle ökologischen Systeme einem Zustand der Stabilität zu, zweitens wachse die Stabilität mit der Komplexität des Systems. Durch die massiven Eingriffe des Menschen seien die ökologischen Systeme allerdings nicht mehr in der Lage, Störungen auszugleichen und sich selbsttätig in Richtung größerer Stabilität zu entwickeln.19 Nachdem solchermaßen das natürliche Grundgesetz formuliert ist, konkretisieren es die Autoren an unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. Dabei kulminieren die Verwendung von Pestiziden, die Erschöpfung der Böden, der Verlust von Arten und die Erschöpfung der Rohstoffe im Zusammenbruch der Gesellschaft 20 – womit in eine andere Form der Prognostik übergegangen wird. Während nämlich die ökologische Prognostik als wissenschaftlich gesichert gilt, sind die Vorhersagen der sozialen Entwicklung in Graden der Wahrscheinlichkeit ausgeführt: In Zeiten chaotischer sozialer Zustände – wenn soziale Systeme in der Folge von Industrialisierung und Verteuerung durch knappe Rohstoffe zusammenbrächen, wenn durch Umweltverschmutzung die Gesundheit beeinträchtigt werde, sich durch zunehmenden internationalen Verkehr Krankheiten ausbreiteten und der Zusammenbruch der Wasserversorgung Epidemien hervorrufe – sei es »sehr wahrscheinlich«, dass sich »skrupellose Elemente der Regierungsgewalt bemächtigen«, welche nicht vor Angriffskriegen um Rohstoffe zurückschrecken würden. Schließlich nehme die Wahrscheinlichkeit von Serien »lokaler, wenn nicht globaler« nuklearer Kriegshandlungen rapide zu aufgrund der wachsenden Zahl von Kernkraftwerken. Die Autoren gehen selbst auf den Unterschied dieser Vorhersage zu den »Grundgesetzen« der Ökologie ein und ergänzen sie noch um eine dritte: Aber der Gedankensprung von den vorliegenden wissenschaftlich bestätigten Daten zu der Voraussage einer Menschheitskatastrophe ist fast bedeutungslos gegenüber dem, der notwendig ist, sich, ohne lächerlich zu werden, eine Erde mit 19 | Ebd. S. 13 und 14. An diesen Positionen zeigt sich der Wandel, den die Ökologie selbst seither erfahren hat. Denn heute ist nicht mehr davon die Rede, dass sich ökologische Systeme ›selbsttätig‹ in Richtung Stabilität entwickeln, sondern sie erscheinen als »stabile Ungleichgewichte« oder »discordant harmonies«. Vgl. Reichholf, Josef H., Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft, Frankfurt a. M. 2008; Botkin, Daniel, Discordant Harmonies. A New Ecology for the TwentyFirst Century, Oxford 1992. 20 | Goldsmith/Allen, Planspiel zum Überleben, a. a. O., S. 17.
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10 bis 15 Milliarden Bewohnern vorzustellen, die alle denselben Lebensstandard wie die USA genießen sollen, auf einer betonierten Erdoberfläche, auf der sich außer ihnen nur noch Maschinen bewegen. 21
Während der erste »Gedankensprung« eine kontinuierliche Entwicklung behauptet, in der die Ereignisse konsequent auseinander folgen, versetzt der zweite »Sprung« den Leser direkt in ein Zukunftsszenario, das seinen Appellcharakter und seine Plausibilität aus der drastischen Darstellung gewinnt. An der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik setzt somit notwendigerweise das Imaginäre ein, welches leitend für die politischen Aktionen ist, die das düstere Zukunftsszenario verhindern sollen: »Da wir unausweichlich vor einer gewaltigen Veränderung stehen, haben wir Entschlüsse zu fassen und müssen wir sie völlig nüchtern treffen, aufgrund der umfassendsten Informationen, nicht aber als Karikaturen geisteskranker Wissenschaftler«.22 Um eben nicht eine Karikatur zu sein, müssen Zukunftsszenarien entwickelt werden, die ihre Plausibilität nicht nur aus wissenschaftlichen Daten und Argumenten beziehen, sondern auch aus ihrer drastischen Inszenierung. Ein wesentliches Element der Ökologie ist die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt oder überhaupt zwischen Umweltfaktoren. Da sich diese Komplexität schwer darstellen und vermitteln lässt, spielen Veranschaulichungsstrategien von Komplexität eine wichtige Rolle für die Problematisierung des Verhältnisses von Ökologie und Demokratie. So liegt der Erfolg des Aufsatzes »The Tragedy of the Commons«, den der Ökologe Garett Hardin 1968 in der Zeitschrift Science publizierte, nicht nur in seiner apokalyptischen Redeweise.23 Hardin veranschaulicht die Konsequenzen der Endlichkeit der Ressourcen bei zunehmendem Bevölkerungswachstum am Beispiel eines Szenarios, das er bewusst als 21 | Ebd., S. 20. 22 | Ebd. 23 | Hardin, Garett, »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248. Hier zit. n. der deutschen Übersetzung: »Die Tragik der Allmende«, in: Lohmann, Michael (Hg.), Gefährdete Zukunft. Prognosen angloamerikanischer Wissenschaftler, München 1973, S. 29–46. Hardins Szenario ist auch die Grundlage für Ophuls Problematisierung der Demokratie: Ophuls, Ecology and the Politics of Scarcity, a. a. O., S. 145–152.
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›Tragödie‹ bezeichnet. Denn unter den gegebenen Bedingungen ist der Untergang der Menschheit vorprogammiert, ganz im Sinne dieser literarischen Gattung gerät der Mensch aufgrund seiner Hybris in die unvermeidliche Katastrophe. In Hardins Szenario stellt eine Gemeinde allen Bürgern eine Viehweide zur Verfügung. Als Folge wird jeder Viehhalter versuchen, so viel eigenes Vieh wie möglich auf der Allmende zu halten, das aber wird in letzter Konsequenz zum Zusammenbruch einer solchen Allmende führen. Das Prinzip der Allmende funktioniere durchaus, allerdings nur »unter den Bedingungen einer geringen Bevölkerungsdichte«.24 Über dieses Gedankenexperiment gelangt Hardin zu einer Kritik der liberalen Demokratie: Die verteidige nämlich die individuellen Freiheitsrechte – gemäß einem Text der Vereinten Nationen liege die Entscheidung im Hinblick auf die Größe der Familie ausschließlich bei der Familie selbst – was nach Hardin aber letztlich zu dem angeführten tragischen Szenario führen wird.25 Um den »Schrecken der Allmende« zu verhindern, muss nach Hardin die Gültigkeit der »Deklaration der Menschenrechte« infrage gestellt und der »Verzicht auf die Freiheit der Fortpflanzung« muss durch ein Zwangssystem durchgesetzt werden.26 Ein anderes klassisches Veranschaulichungsszenario ist das Bild vom ›Rettungsboot‹. Nach Ophuls erzeugt die Begrenztheit der Ressourcen auf der Erde die Situation, dass sich mehrere Personen in einem Rettungsboot mit begrenzten Vorräten befinden. Wenn die Insassen überleben wollen, müssen sie Wasser und Nahrungsmittel streng rationieren.27 Auch Lovelock führt dieses Beispiel mit Blick auf die Bedrohungen durch die globale Erwärmung an, denn wenn der Meeresspiegel durch das Abschmelzen der Polkappen steigt, werden nur noch Inseln übrigbleiben als die »lifeboats for humanity«. 28 Dabei sei allerdings die Rettungsboot-Ethik, deren Imperativ das Überleben ist, grundlegend verschieden von der gemütlichen Zügellosigkeit des späten 20. Jahrhunderts. Er könne sich kaum vorstellen, was es bedeuten 24 | Hardin, »The Tragedy of the Commons«, a. a. O., S. 45. 25 | Ebd., 39. 26 | Ebd., S. 43, 40 und 46. 27 | Ophuls, Ecology and the Politics of Scarcity, a. a. O., S. 12. 28 | Lovelock, James, The Vanishing Face of Gaia. A Final Warning, New York 2009, S. 17.
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würde, zu entscheiden, wem man erlauben werde, das ›Rettungsboot‹ zu betreten.29 Lovelock rekurriert hier auf ein Modell, das die Philosophin Onora O’Neill in ihrem Aufsatz »Lifeboat Earth« (1975) ausgearbeitet hat. Aus ethischer Sicht untersucht O’Neill Situationen, in denen das Töten einer anderen Person gerechtfertigt sein kann. Dazu zählen erstens unvermeidbare Tötungen, nämlich wenn eine Person eine Tötung verursacht, die sie nicht verhindern kann. Als Beispiel führt sie das Überfahren einer Person durch einen Zug an, das der Zugführer nicht vermeiden konnte. Zweitens nennt O’Neill Selbstverteidigungen, denn aus dem Recht, nicht getötet zu werden, folge, dass man etwas unternehmen dürfe, um eine Tötung zu verhindern. Um diese Fälle zu diskutieren, führt O’Neill das Szenario eines Rettungsbootes ein: Besonders wichtig ist hier die Situation, in der die Vorräte nicht ausreichen werden, um sechs Überlebende in einem Rettungsboot ausreichend lange zu ernähren. In dieser Situation könne die Tötung einer oder mehrerer Personen gerechtfertigt sein: Über ein Auswahlverfahren können die Personen ausgewählt werden, die kein Wasser mehr erhalten. Entweder verdursten die Personen oder sie bitten darum, erschossen zu werden. In beiden Fällen wäre die Tötung nach O’Neill ethisch gerechtfertigt. Dies gelte auch dann, wenn sich die über das Auswahlverfahren bestimmten Personen gegen ihre Tötung wehren.30 O’Neill selbst bezieht ihre ethische Analyse auf die ökologische Situation, worauf bereits der Aufsatztitel »Rettungsboot Erde« verweist. Bisher sei die Argumentation durchaus vertretbar gewesen, dass die reichen Nationen zwar Millionen Hungernde auf der Welt sterben ließen, weil sie nichts dagegen getan haben, aber sie hätten ihren Tod auch nicht verursacht. Doch heutige ökonomische und technische Interdependenzen ließen eine solche Argumentation nicht mehr zu. Dabei seien durchaus genügend Ressourcen vorhanden, die Erde befinde sich somit in der Situation eines Rettungsbootes mit guter Versorgung, aber schlechter Aufteilung. Doch O’Neill entwirft auch das fiktive Szenario der Erde als Rettungsboot mit Unterversorgung. Einerseits könnte man in diesem Fall 29 | Ebd., S. 18. 30 | O’Neill, Onora, »Rettungsboot Erde«, übers. von Doris Gerber und Weyma Lübbe, in: Lübbe, Weyma (Hg.), Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen, Paderborn 2004, S. 35–52, hier S. 39 f.
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von einer gerechtfertigten Tötung der Hungernden sprechen, da ihr Tod unvermeidbar sein werde. Doch diese Behauptung greife zu kurz, denn nach O’Neill ist es die Politik der Gegenwart, die eine solche Situation in der Zukunft erzeuge; der zukünftige Tod von Millionen von Menschen kann daher nach O’Neill gerade nicht gerechtfertigt werden. Auf diese Weise werden politische Handlungen nach ökologischen Leitprinzipien durch die Imagination einer zukünftigen Situation gerechtfertigt. Hierfür nennt O’Neill unterschiedliche Ansätze, unvermeidlich sei jedoch eine Bevölkerungs- und Ressourcenpolitik. Die dürfe aber nicht nur danach fragen, wie die Knappheit von Ressourcen die Lebensqualität einschränke, sondern auch danach, wie sie die Möglichkeit zu überleben beeinflusse. Damit führt O’Neills Aufsatz vor, wie die extremste Möglichkeit, verkörpert im Bild des Rettungsbootes mit Unterversorgung, zum Regulativ gegenwärtiger Politik werden kann.
3. U nbestimmtheit und Z ukunf tsoffenheit : L eforts Theorie der D emokr atie Wie die ›Rettungsboot‹-Erzählung zugespitzt zeigt, stellt das ›zukünftige Überleben‹ der Menschheit einen wichtigen Fluchtpunkt des Dispositivs der politischen Ökologie dar: Die Bedrohung des zukünftigen Überlebens der Menschheit ist eine regulative Fiktion, die die gesamte Gesellschaft auf die Einrichtung einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft verpflichtet. Diese Verpflichtung kann autoritativ umgesetzt werden, sie kann sich als Ergebnis eines rational und offen ausgetragenen Dialogs erweisen, sie kann geleugnet und verdrängt werden oder zu einer Lähmung und damit zur Erhaltung des status quo führen. Dass sowohl der Aspekt der Begründung als auch der der gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung problematisch sind, zeigen postfundamentalistische Theorien, weshalb im Folgenden auf den Begriff des Politischen bei Claude Lefort und Chantal Mouffe eingegangen werden soll. Für Lefort vollzieht sich die ›moderne demokratische Revolution‹ als eine ›Mutation‹ auf der symbolischen Ebene:31 Gemeint ist damit die Be31 | Zum Folgenden: Lefort, Claude, »The Image of the Body and Totalitarianism«, in: ders., The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cambridge u. a. 1986, S. 292–306, hier S. 303.
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seitigung eines politischen Modells im Verlauf der französischen Revolution, nämlich der Repräsentation der Macht im Körper des Königs, die in der Enthauptung Ludwig XVI zum Ausdruck kommt. Die Gesellschaft des ancien régime repräsentierte ihre Einheit und Identität als Körper, der seine Figuration im Körper des Königs fand.32 Die demokratische Revolution ist daher charakterisiert durch die Zerstörung des Körpers des Königs, die Enthauptung des Königs ist auf der symbolischen Ebene die Enthauptung der Körper-Politik. Mit dem Verschwinden dieses Repräsentationsmodells erscheint der Ort politischer Macht als ›leerer Ort‹, der immer nur vorübergehend besetzt werden kann. Aus der neuen symbolischen Ordnung der Demokratie resultieren eine gesellschaftliche Spaltung, nämlich die Trennung von Gesellschaft und Staat, sowie die Entflechtung von Politik, Recht und Erkenntnis. Da die politische Macht nicht mehr als Organisationsprinzip der Gesellschaft fungiert, »behaupten sich Recht und Wissen ihr gegenüber in einer neuartigen, gleichsam exterritorialen Äußerlichkeit und Unreduzierbarkeit«.33 Mit Niklas Luhmann kann man hier von einer strukturellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft sprechen, in der die jeweiligen Teilsysteme ihren eigenen Regeln und Codes folgen. Lefort geht es dabei aber vor allem darum, dass diese Ausdifferenzierung aus einer »neuen symbolischen Konstituierung des Gesellschaftlichen entspringt«.34 In den Blick kommt somit nicht nur die empirisch beobachtbare Teilung der Gesellschaft, sondern vielmehr auch eine weitaus fundamentalere ›politische Teilung‹. Diese Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft, Regierenden und Regierten ist, wie Leforts Schüler Marcel Gauchet deutlich macht, nicht aus der Spaltung zwischen Kapital und Arbeit ableitbar, vielmehr bringt die politische die gesellschaftliche Teilung hervor.35 Ursprünglich ist die politische Teilung, wie Gauchet ausführt, weil der »antagonistische 32 | Lefort bezieht sich hier (ebd., S. 303) auf Ernst Kantorowicz’ Studie The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957. 33 | Lefort, Claude, »Die Frage der Demokratie«, in: Rödel, Ulrich (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1990, S. 281–297, hier S. 294. 34 | Ebd., S. 294. 35 | Gauchet, Marcel, »Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen«, in: Rödel, Ulrich (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1990, S. 207–238.
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Gegensatz der Gesellschaft zu sich selbst auf keine vorgängig konstituierte Grundlage in der Gesellschaft bezogen werden kann«.36 Wie Oliver Marchart ausführt, ist mit Leforts postfundamentalistischer Theorie des Politischen keine Letztbegründung politischer Macht mehr möglich.37 In der Selbstteilung der Gesellschaft liegt die »Ermöglichungsbedingung von Gesellschaft«, die nicht von empirischen Fakten abgeleitet werden kann.38 Das Wesentliche an der Demokratie ist nach Lefort daher die Auflösung der »Grundlagen aller Gewißheit«.39 Die Fundamente der Macht, des Rechts und des Wissens sowie die Beziehungen zwischen »dem Einen und dem anderen in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens« bleiben solchermaßen unbestimmt.40 Gleichwohl zerfällt die demokratische Gesellschaft nicht in ihre Bestandteile, sie besitzt durchaus eine gesellschaftliche Identität: Diese ergibt sich nach Lefort dadurch, dass sich die Gesellschaft als identischen Raum definiert, indem sie sich auf den symbolisch ›leeren Ort‹ der Macht bezieht. Daher kommt der Wahl in Leforts Konzept zentrale Bedeutung zu. Denn mit ihr unterliegt die Machtausübung einem wiederkehrenden und geregelten »Wettstreit«, in den die »Institutionalisierung des Kon36 | Ebd., S. 224. 37 | Nach Marchart verweist die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen auf die Krise des fundamentalistischen Denkhorizonts, also jener Positionen, die von Gesetzen oder objektiven Realitäten ausgehen, die jedem politischen Zugriff entzogen sind. Einen solchen fundamentalistischen Ansatz erkennt Marchart zum Beispiel im ökologischen Determinismus, aber auch im Neoliberalismus, der von den unabänderlichen Naturgesetzen des Marktes ausgehe (Marchart, Oliver, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a. M. 2010, S. 15). Diesen Letztbegründungsversuchen setzt Marchart ein postfundamentalistisches Denken entgegen, das er bei Theoretikern wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe oder Claude Lefort ausmacht. Entscheidend ist hierbei nicht die Grundlosigkeit politischer Herrschaft, sondern das Verhältnis zu ihr: »Im Unterschied zu anderen Formen der symbolischen Instituierung des Gemeinwesens – modern vor allem natürlich im Unterschied zu Formen totaler Herrschaft – steht Demokratie zum abwesenden Grund nämlich in keinem Verhältnis der Verleugnung oder gar Verwerfung, sondern in einem institutionalisierter Akzeptanz.« Ebd., S. 331. 38 | Marchart, Die politische Differenz, a. a. O., S. 130. 39 | Lefort, »Die Frage der Demokratie«, a. a. O., S. 296. 40 | Ebd., S. 296.
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flikts« eingeschrieben ist.41 So markiert sie auch die Spaltung zwischen dem gesellschaftlich Inneren und Äußeren: In einem »Quasi-Außen« treten die Kandidaten vor den Augen der Wähler auf der »Bühne des Konflikts« einander gegenüber, während die Veröffentlichung des Ergebnisses der Stimmauszählung den Konflikt wieder in das Innen der Gesellschaft einträgt.42 ›Innen‹ und ›Außen‹, Politik und Politisches befinden sich dabei in einem unauflöslichen »Chiasmus«, sie sind in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis voneinander getrennt und miteinander verbunden.43 Nach Lefort zeigt die Demokratie somit eine völlig neue und einzigartige Weise des »In-Form-Setzen[s] der Gesellschaft«.44 Sie konstituiert sich nämlich als Gesellschaft durch Bezug auf einen abwesenden Punkt und bleibt damit offen für Veränderungen. Damit manifestiert sich eine »Exteriorität« der Gesellschaft, die sich jedoch nicht ins Reale übertragen lasse.45 Das Außen der Gesellschaft, über welches sie sich Form gibt, ist vielmehr ein virtueller Bezugspunkt. Marchart hat hinsichtlich dieser Konzeption des Verhältnisses von Innen und Außen auf Merleau-Ponty und Heidegger verwiesen,46 man könnte hier aber auch Helmuth Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität anführen.47
41 | Ebd., S. 293. 42 | Lefort, Claude/Gauchet, Marcel, »Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen«, in: Rödel, Ulrich (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1990, S. 89–122, hier S. 115. 43 | Diesen Begriff entlehnt Lefort Merleau-Ponty, vgl. Marchart, Die politische Differenz, a. a. O., S. 121; Flynn, Bernard, Political Philosophy at the Closure of Metaphysics, London u. a. 1992, S. 185. 44 | Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, a. a. O., S. 49. 45 | Ebd., S. 49. 46 | Marchart, Die politische Differenz, a. a. O., S. 130. 47 | Plessner erkennt in dieser Organisationsform den Unterschied zwischen Tier und Mensch: Während das Tier im absoluten Hier und Jetzt, also seiner positionalen Mitte, aufgeht, vermag der Mensch Distanz zum Zentrum der Positionalität einzunehmen. Er hat, wie es Wolfgang Eßbach formuliert, seinen »Mittelpunkt außerhalb« (Eßbach, Wolfgang, »Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie«, in: Dux, Günter/Wenzel, Ulrich [Hg.], Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontologischen und historischen Entwicklung
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Die moderne Demokratie ist nach Lefort das einzige Regime, in dem der Abstand zwischen Symbolischem und Realem gewahrt bleibe, ihr Verdienst liege darin, »die Gesellschaft an die Erfahrung ihrer Instituierung zurückzubinden«.48 Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelt Lefort seine Theorie des Totalitarismus: Er versteht ihn nicht als Rückfall in die Barbarei oder in alte Formen der Macht, sondern seinerseits als Mutation der symbolischen Ordnung der Demokratie.49 Der Totalitarismus besetzt nach Lefort den ›leeren Ort der Macht‹, sieht Staat und Gesellschaft als verschmolzen an und stellt eine Homogenität her, in der Recht, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kultur nur noch der Logik der Macht gehorchen dürfen. In einer solchen totalitären Ideologie muss alles organisiert und bestimmt sein: »Es wird eine Logik der Identifikation durchgesetzt, die der Vorstellung einer verkörpernden Macht (pouvoir incarnateur) gehorcht.«50 In einem solchen System darf es keine Unbestimmtheit geben: »Any social relation, any exchange, any communication, any reaction that might express individual, unexpected, unknown initiatives, situated outside the domesticated space of the collective, becomes a target«.51 Das gilt auch für den Zukunftsbezug einer Gesellschaft. Während man im Anschluss an Lefort der demokratischen Form Zukunftsoffenheit zuschreiben kann, gilt für das totalitaristische System: »The unknown, the unpredictable, the indeterminable are avatars of the enemy«.52 Auf dieser Grundlage lassen sich die demokratietheoretischen Grundlagen der Ökologie noch einmal anders diskutieren. Denn auch wenn des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 15–44). Die exzentrische Position ist von Plessner als ein neutraler, psychophysisch indifferenter Begriff gedacht, der das doppelte Verhältnis von Körper Sein und Körper Haben ausdrückt. Der Doppelaspekt des Seins innerhalb des Leibes und außerhalb des Leibes sei unaufhebbar »ein wirklicher Bruch seiner [des Menschen, Anm. B. B.] Natur«. Plessner, Gesammelte Schriften IV: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 365. 48 | Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, a. a. O., S. 53. 49 | Lefort, »Die Frage der Demokratie«, a. a. O., S. 286. 50 | Ebd., S. 287. 51 | Lefort, Claude, »The Logic of Totalitarianism«, in: ders., The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cambridge u. a. 1986, S. 273–291, hier S. 290. 52 | Ebd., S. 288.
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eine politische Ökologie ausdrücklich kein totalitäres System anvisiert, sondern im Gegenteil Pluralität und möglichst vielfältige Formen der Partizipation fordert, besetzt sie doch immer dann das virtuelle Außen, von dem aus sich die Gesellschaft konstituiert und identifiziert, wenn sie sich restlos dem Narrativ des ›zukünftigen Überlebens‹ verschreibt. Nicht »Apokalypseblindheit«53 zeichnet die politische Ökologie aus, sondern im Gegenteil eine fortwährende Inszenierung der »Zukunft als Katastrophe«.54 Diese Zukunftsfiktionen versuchen sich als Letztbegründung ökologischer Machtausübung zu installieren, wodurch es zu einer Homogenisierung sämtlicher Teilbereiche der Gesellschaft kommen würde, da – gemäß diesem Narrativ – nur eine Bündelung aller Kräfte und ihre Unterstellung unter den einen Zweck das zukünftige Überleben der Menschheit garantieren könnte.
4. P olitik als S treit : M ouffes Theorie des A gonismus Aus Leforts Überlegungen folgt keineswegs, dass die politische Ökologie stets und unabänderlich totalitaristisch ausgerichtet sein muss, jedoch zeigen Leforts Überlegungen die Gefahren einer Politik auf, die den ›leeren Ort der Macht‹ – aus welchen Gründen auch immer – ideologisch besetzt. Die hier entstehende Entpolitisierung zeigt sich etwa in der expliziten Aufhebung der politischen Gegensätze. Gemäß dem Soziologen Anthony Giddens ist die Umweltbewegung die bedeutsamste aller gegenwärtigen politischen Bewegungen, wobei sie nicht auf Umweltschäden, Restriktionen oder Stilllegungen reduziert werden dürfe, gehe es hier doch um die Frage: »Wie sollen wir leben?«55 Dabei lassen sich grüne Bewegungen nach Giddens keineswegs mehr eindeutig der politisch Linken oder Rechten zuordnen: Würde man die grüne Bewegung eher links verorten, müsse man doch auch konstatieren, dass frühe Formen ökologischen Denkens aus einer konservativen Modernisierungskritik resultierten, mit der 53 | Anders, Günter, Die Antiquiertheit des Menschen 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 1987, S. 267. 54 | Horn, Eva, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M. 2014. 55 | Giddens, Anthony, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1997, S. 11 (Vorwort zur deutschen Ausgabe).
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sie noch heute Gemeinsamkeiten aufwiesen. Grüne Vorstellungen sind für Giddens Ausdruck eines »politischen Orientierungswechsel[s]«, der aus der Entleerung politischer Ideologien entstanden sei.56 Die Aufhebung des Gegensatzes von links und rechts aufgrund »ökologischer Notwendigkeiten«57 ist für Giddens aber nur eine Manifestation einer grundlegenden Änderung der politischen Ordnung, die er mit dem Begriff des ›dritten Weges‹ bezeichnet, wonach die Unterscheidung von links und rechts in zentralen Politikfeldern an Bedeutung verliert. Dazu zählt er die »großen Revolutionen unserer Zeit«: ökologische Fragen, der Wandel von Familie und Lohnarbeit, von persönlicher und kultureller Identität sowie die Globalisierung.58 Dass mit der Auflösung der Links-Rechts-Unterscheidung eine bestimmte Konzeption des Politischen verlorengeht, führt Giddens selbst aus, indem er Norberto Bobbios Abhandlung Left and Right (1996) zitiert. Diese beiden Kategorien haben nach Bobbio deshalb einen großen Einfluss auf politisches Denken, weil die Politik auf »Widerstreit«, auf den »Streit zwischen entgegengesetzten Ansichten und Programmen« angelegt sei. Giddens aber hebt mit seinem Konzept des ›dritten Weges‹ diesen Widerstreit auf. So geht es Giddens zwar ausdrücklich um eine »Demokratisierung der Demokratie« und eine Neugestaltung des Staates,59 aber eben auch um eine Überwindung des von Theoretikern wie Chantal Mouffe oder Jacques Rancière als notwendige Bedingung der Demokratie ausgewiesenen Konflikts, des Agonismus bzw. Unvernehmens.60 Ein grundlegender Einwand Mouffes gegen Giddens Konzept besteht darin, dass Politik nicht nur ein Austausch von Meinungen, sondern ein Streit um Macht sei.61 Im Gegensatz zur Idee einer konsensorientierten 56 | Ebd., S. 272. 57 | Giddens, Anthony, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, übers. von Bettina Engels, Frankfurt a. M. 1999, S. 68. 58 | Ebd., S. 57 und 80. 59 | Ebd., S. 86. 60 | Zur Kritik von Mouffe an einem Modell »jenseits der Gegnerschaft«, die sie u. a. in Auseinandersetzung mit Ulrich Beck und Anthony Giddens ausführt, vgl. Mouffe, Chantal, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, übers. von Niels Neumeier, Frankfurt a. M. 2007, S. 48–84. 61 | Mouffe (ebd., S. 68) zitiert hier Perry Anderson, »Power, Politics, and the Enlightenment«, in: Miliband, David (Hg.), Reinventing the Left, Cambridge 1994, S. 43.
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›dialogischen Demokratie‹ plädiert Mouffe dafür, demokratische Diskussionen als »reale Konfrontationen« zu führen, bei denen sich die Gegner durchaus »erbittert« bekämpfen können, sich aber stets an einen gemeinsamen Regelkanon halten.62 Mouffe entwickelt ihr Argument ausgehend von Carl Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen, da er das Politische vom Konflikt und Antagonismus her denkt. Während Schmitt den ›Antagonismus‹ aber auf die Freund-Feind-Unterscheidung reduziert, konstruiert Mouffe die Wir-SieUnterscheidung als »Agonismus«.63 Die Hauptaufgabe der Demokratie liegt nach Mouffe nämlich darin, antagonistische (im Sinne Schmitts) in agonistische Kräfteverhältnisse umzuwandeln. Zwar stehen sich auch im Agonismus unvereinbare hegemoniale Projekte gegenüber, die niemals rational versöhnt werden können, aber die reale Konfrontation wird »durch eine Reihe demokratischer von jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert«.64 Wenn die Gründung politischer Ordnung umstritten und umkämpft sein muss, dann kann die Demokratie auch nicht als machtfreie Regierungsform konzipiert werden, wie Mouffe und Ernesto Laclau in ihrem Buch Hegemonie und radikale Demokratie (1985) ausführen. Die wichtigste Frage demokratischer Politik laute nicht, wie Macht zu eliminieren sei, »sondern wie Machtformen zu konstituieren sind, die mit demokratischen Werten vereinbar sind«.65 Demnach kann Demokratie nur existieren, wenn sich kein sozialer Akteur die »Repräsentation der Totalität« zuschreiben und von sich behaupten kann, über die »Macht der Gründung zu verfügen«.66 Daher problematisieren sie die Idee eines »vollkommen einheitlichen und gleichartigen kollektiven Willens« genauso wie die Kategorie der historischen Notwendigkeit.67 Laclau und Mouffe entwickeln dagegen unter Rekurs auf Lefort den Begriff einer »demokratischen Revolution«, d. h. der Durchsetzung des demokratischen Prinzips der 62 | Mouffe, Über das Politische, a. a. O., S. 70. 63 | Ebd., S. 24 f. 64 | Ebd., S. 31. 65 | Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, übers. von Michael Hintz und Gerd Vorwallner, Wien 2000, S. 25. 66 | Ebd. 67 | Ebd., S. 32 und 33.
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Freiheit und Gleichheit als »neue Matrix des sozialen Imaginären« vor zweihundert Jahren.68 Allerdings verstehen sie ›Revolution‹ nicht einfach als Umsturz eines Unterdrückungssystems, denn der klassische Begriff der Revolution habe die »Institution eines Punktes der Konzentration der Macht, von dem aus die Gesellschaft ›rational‹ reorganisiert werden könnte,« impliziert.69 Ein solches Verständnis widerspräche aber von vornherein der Pluralität und Öffnung einer »radikalen Demokratie«. Der »revolutionäre Akt« sei nämlich ein inneres Moment des Prozesses jeder radikalen Transformation der Gesellschaft, deren Richtung unbestimmt sei: Sie könne sowohl zu Rechtspopulismus und Totalitarismus als auch zur radikalen Demokratie führen. Laclau und Mouffe wollen ausdrücklich keine neue Teleologie einführen, weisen aber der Linken die Aufgabe zu, die liberal-demokratische Ideologie in Richtung einer radikalen und pluralen Demokratie zu vertiefen und auszuweiten.70 Statt der Konstruktion eines einheitlichen, kollektiven Willens zielen Laclau und Mouffe folgerichtig auf die Vervielfältigung politischer Räume, Standpunkte und Logiken, die sich agonistisch zueinander verhalten. Aus diesem Grund dürfe man nicht in die verschiedenen Formen des Utopismus verfallen, da die Utopie als Inszenierung des idealen Staates die Möglichkeiten unterschiedlicher Räume negiere. Gleichwohl käme die Konstitution eines radikalen Imaginären nicht ohne utopisches Denken aus: Der Zukunftshorizont der radikalen Demokratie ist demnach ein offener Verhandlungsraum, woraus sich nicht zuletzt ein Kurzschluss mit der Futurologie ergibt: Nach Bertrand de Jouvenal jedenfalls kann sich das auf die Zukunft gerichtete Denken allein mit möglichen Zukünften beschäftigen.71 Ganz in diesem Sinn stellen Claus Leggewie und Harald Welzer der gegenwärtigen »inneren Erosion der Demokratie« das Projekt einer Modernisierung demokratischer Institutionen entgegen: Man müsse eine Haltung entwickeln, die darauf basiere, dass eine Revolution angesichts der Klimakrise nur eine »Kulturrevolution des Alltags« sein könne, schließlich gelte: »das Private ist politisch«. Im Gegensatz zur Imagination einer zukünftigen Katastrophe setzen sie somit eine positive 68 | Ebd., S. 195. 69 | Ebd., S. 221. 70 | Ebd., S. 210. 71 | Jouvenal, Bertrand de, Die Kunst der Vorausschau [1964], Neuwied/Berlin 1967, S. 33.
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Zukunftsidee, die zum Regulativ heutigen Handelns werden soll.72 Die Offenheit der Zukunft wird somit – wie auch bei Lefort – zu einem Gradmesser für den Stand der Demokratie. Laclau und Mouffe sowie Lefort verbinden somit die Demokratie mit radikaler Zukunftsoffenheit und sehen in der kontingenten Gründung politischer Macht eine wesentliche Bedingung der Demokratie. Damit aber stellt sich die Frage nach der Verträglichkeit einer solchen Demokratiekonzeption mit den politischen Notwendigkeiten, die sich aus der politischen Ökologie ergeben. Denn wie kann angesichts der Kontingenz politischer Macht den ökologischen Problemen angemessen begegnet werden, und wie kann auf dieser ›Grundlage‹ ein Umbau gegenwärtiger Gesellschaften in ökologische Gesellschaftsformen erfolgen? Muss eine ökologische Politik nicht zwangsweise bestimmten Notwendigkeiten folgen und die Politiker somit zu ›Verwaltern‹ dieser Aufgabe machen? Sind es angesichts der enormen Komplexität gegenwärtiger ökologischer Probleme nicht unvermeidlich – zumindest immer auch – die Experten und Spezialisten, die die Deutungshoheit über die Organisation unserer Gesellschaft übernehmen müssen? Und schließlich: Soll angesichts drohender Ressourcenkriege Politik als Streit konzipiert werden? Und wie sollte man Politik zukunftsoffen gestalten können, wenn die Szenarien drohender ökologischer Katastrophen den Zukunftshorizont abgeschlossen haben? Die Analyse der gegenwärtigen ökologischen Krise aus Perspektive von Theorien des Politischen bietet vielleicht keine konkreten Lösungsstrategien gegenwärtiger ökologischer Probleme, sie zeigt aber zugespitzt, wie sich aus demokratischen Grundprinzipen wie Freiheit und Offenheit auf der einen und ökologischen Grundprinzipien wie Regulierung und Steuerung auf der anderen Seite ein Konflikt ergibt, der sich nicht eindeutig entscheiden lässt. Vielmehr ist auszuhandeln, wie viel Offenheit und wie viel Agonismus eine nach ökologischen Prinzipien organisierte 72 | Leggewie, Claus/Welzer, Harald, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a. M. 2009, S. 139 und 227. Vgl. hierzu auch das Projekt FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit (https:// futurzwei.org), dessen Leitfrage lautet: Wie werden wir gelebt haben wollen? Durch die grammatische Form des Futur 2 erhält die Zukunft eine Repräsentation in der Gegenwart, denn man soll hier aus der Zukunft auf seine Handlungen und die daraus entstandenen Folgen zurückblicken.
VI. Politische Ökologie und Demokratie
Gesellschaft aushalten und wie der Streit um die politische Macht trotz der unsere Lebensgrundlagen gefährdenden ökologischen Risiken agonistisch organisiert werden kann. Damit sich diese Fragen aber überhaupt stellen lassen können, muss das Prinzip des Ökologischen – also die Regulierung bzw. Regierung der Bevölkerung auf der Grundlage der Leitwissenschaft ›Ökologie‹ und unter Berücksichtigung der Komplexität ökologischer Systeme und damit der dezentralen Position des Menschen – die bestehende Ordnung disartikulieren und als kontrahegemoniale Verfahrensweise etabliert werden. Hierfür kommt der Literatur eine bedeutende Rolle zu: Denn einerseits schreiben einzelne Texte in Gestalt von konkreten Utopien oder Dystopien die Zukunft fest, was bereits H. G. Wells kritisch bemerkte. In seinem Buch Anticipations of the reaction of mechanical and scientific progress upon human life and thought (1902) wendet sich der Verfasser von Romanen wie Time Machine (1895) oder The War of the Worlds (1898) gegen die Literatur als Zukunftsgenre: »Fiction is necessarily concrete and definite; it permits no open alternatives; its aim of illusion prevents a proper amplitude of demonstration; and modern prophecy should be a branch of speculation, and should follow with all decorum the scientific method.« 73 Wells’ Diagnose mag für den einzelnen Text zutreffen, doch andererseits bleibt die Fiktion der Modus, in dem Zukunft entworfen werden kann, ob sie utopisch oder dystopisch, elegisch oder satirisch, fortschrittseuphorisch oder -kritisch verfasst ist. Zukunftsfiktionen sind erstens aufgrund ihrer Pluralität und der Breite ihrer Äußerungsformen, von ›weichen‹ Zukunftserzählungen über Science-Fiction bis zu wissenschaftlichen Extrapolationen und Szenarien, noch in ihren verschiedenartigen Schließungen Garanten für die Erhaltung von politischer Konfrontation und Zukunftsoffenheit. Dabei sind sie alles andere als Medien der Politikberatung, sie führen nämlich zweitens die Widersprüche, Verwicklungen und nicht zuletzt auch das Allzumenschliche politischer Ökologie vor, wie etwa T. C. Boyle immer wieder aufs Neue zeigt. Und dabei verdeutlichen sie drittens, dass ökologische Prozesse nicht einer vollständigen Kontrolle durch den Menschen unterliegen können: Objekte wie radioaktiver Müll und Plastiktüten sowie Prozesse wie das Schwinden der Biodiversität und die globale Erwärmung 73 | Wells, H. G., Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought, Leipzig 1902, S. 8.
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haben längst schon eine Eigenmacht und Eigendynamik angenommen, die auf den Menschen zentrierte technokratische Projekte als absurd erscheinen lassen. Gerade deshalb liegt im Konzept der ökologischen Gouvernementalität auch eine Chance, und zwar dann, wenn sie nicht als totalitäres Regime realisiert wird, sondern als Rahmenmodell fungiert, das agonistische Beziehungen, nicht-lineare Dynamiken, komplexe Systeme und unterschiedliche Verteilungen von Handlungsoptionen, und zwar auch auf nicht-menschliche Akteure, zu denken erlaubt.
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Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
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Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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