106 3 12MB
German Pages [384] Year 1988
V&R
ALEKSANDRA SERGEEVNA CETVERIKOVA,
Lehrerin der russischen Sprache und Literatur und des orthodoxen geistlichen Lebens, in dankbarer Verehrung gewidmet.
MARTIN GEORGE
Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov'evs
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 54
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
George, Martin: Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov'evs / Martin George. - Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd. 54) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1983 ISBN 3-525-56261-6 NE: GT
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © 1988 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Garamond auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
Vorwort
Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Niimberg Ende 1983 angenommen wurde. Die bis 1986 erschienene Literatur wurde hier berücksichtigt. Die Veröffentlichung erfolgt nun in einem Jahr, in dem in der Sowjetunion erstmals einige Zeilen aus dem umfassenden Werk des russischen Religionsphilosophen Vladimir Solov'ev (1853 — 1900) gedruckt wurden. Der sowjetische Leser konnte einen Aufruf des Dichters und Propheten, der Solov'ev auch war, lesen (in der Zeitschrift Ogonëk, Moskau, No. 8/1987, S. 25) - einen Aufruf aus seinem Gedicht „EX O R I E N T E L U X " (1890), der nichts von seiner Aktualität verloren hat: „Du mußt, o Rußland, dich entscheiden: Zwei Osten gibt's - sie sind nicht gleich. Was willst du sein von diesen beiden: Des Xerxes oder Christi Reich?" Daß der russische Leser heute zuerst einen Zugang zum Dichter Solov'ev hat, ist wohl nicht untypisch für seinen Zugang zur christlichen Weltanschauung überhaupt. Der Leser dieses Buches dagegen wird in die Erkenntnistheorie Solov'evs eingeführt, ins Zentrum seines systematischen, religionsphilosophischen Denkens, und erhält damit Zugang zu einem Urteil über Solov'ev als Denker auf dem Hintergrund seiner philosophischen und theologischen Voraussetzungen. Solov'ev war Dichter und Denker. Beide Zugänge zu seinem Schaffen ergänzen sich, der über seine Dichtung und der über seine theoretischen Schriften. Denn die Einsicht, daß nur derjenige Gott erkennen könne, der ihn liebt und der Gottes Liebe erfährt, steht gleichermaßen im Mittelpunkt der Dichtung und des Denkens Solov'evs. Die Grenze dieser Studie ist die Analyse des theoretischen Denkens Solov'evs. Die Lektüre seiner Gedichte, die teilweise in deutscher Sprache vorliegen (siehe im Literaturverzeichnis), sei dem Leser als alternativer Zugang zur genannten Einsicht Solov'evs empfohlen. Mein Dank gilt allen, die diese Arbeit mit Auskünften, Rat, Kritik und Ermutigung gefördert haben. Es war eine wirklich ökumenische Unterstützung der Arbeit eines evangelischen Theologen. Genannt seien die Herren Professoren Serge Verkhovskoy (f), Alexander Schmemann (f) und John Meyendorff, meine Lehrer am St. Vladimir's Orthodox Theological Seminary (New York), Bernhard Schultze SJ und Tomás Spidlík SJ vom Pontificio 5
Istituto Orientale (Rom), Ludolf Müller (Tübingen) und Reinhard Slenczka (Erlangen) und besonders meine Lehrerin Prof. Fairy ν. Lilienfeld. Sie hat mich als Doktormutter kritisiert und mich während unserer Zusammenarbeit am Lehrstuhl für Geschichte und Theologie des Christlichen Ostens in Erlangen vielfältig und in meinem theologischen Denken spürbar angeregt. Was die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit betrifft, danke ich dem Lutherischen Weltbund und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für Stipendien zum Studium an den genannten theologischen Hochschulen in N e w York und Rom, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Forschungsfonds des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, der Zantner-Busch-Stiftung der Universität Erlangen und der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern für ihre Druckbeihilfen. Den 1. Preis der Dr.-Kurt-Hellmich-Stiftung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg habe ich nicht nur als akademische Auszeichnung, sondern auch als weiteres Zeichen ökumenischer Unterstützung für diese Arbeit besonders dankbar entgegengenommen. Erlangen, November 1987
6
Martin George
Inhalt
Vorwort
5
Abkürzungsverzeichnis
16
Einleitung 1. Das Thema
21
2. Die Methode
25
3. Das Ziel
29
Erster Teil: Leben und Werk Solov'evs 1. Solov'evs geistige, seelische und religiöse Entwicklung 1.1 Einflüsse in Kindheit, Jugend und Studium 1.2 Solov'ev als Theosoph. Seine mystische Erfahrung 1.3 Freie Theokratie. Solov'ev und der Katholizismus 1.4 Solov'evs Beziehungen zu Frauen. Der Sinn der Liebe 1.5 Solov 'ev als Bekenner des ökumenischen Christentums 2. Die persönliche religiöse Erfahrung und Berufung Solov'evs 2.1 Der mystische Charakter der religiösen Erfahrung Solov'evs . . 2.2 Die Interpretation der persönlichen Erfahrung Solov'evs in seinem Denken 2.3 Lebensaufgabe und Berufung Solov'evs 2.31 Der Denker und Dichter 2.32 Der Prophet 2.33 Der Asket und Narr um Christi willen
31 32 39 43 46 50 55 56 58 60 60 62 64
3. Die theosophische Sprache Solov'evs 3.1 Sprache der Erfahrung in allgemeinen Begriffen 3.2 Begriffspaare zur Unterscheidung von lebendiger Wirklichkeit und Abstraktion
67 67
4. Die Frage der Periodisierung des Werkes Solov'evs 4.1 Verschiedene Einteilungsmöglichkeiten des Gesamtwerks Solov'evs
74
70
74 7
4.2 Die Perioden des Denkens Solov'evs über die Vereinigung der Kirchen 4.3 Die Kontinuität der Erkenntnislehre Solov'evs
Zweiter Teil: Philosophische und theologische Wurzeln des Denkens über die Erfahrung
Solov'evs
I. Stellung und Aufgabe der Philosophie und der Theologie im System des ganzheitlichen Wissens 1. Schulphilosophie und Lebensphilosophie 2. Schultheologie und Lebenstheologie 3. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie 4. Solov'evs Theosophie 5. Theosophie und Erkenntnistheorie II. „Erfahrung" in der Philosophie- und Theologiegeschichte. Die Übernahme durch Solov'ev und die Wirkung auf seine Erkenntnislehre A. „Erfahrung" in der von Solov'ev rezipierten Philosophiegeschichte 1. „Erfahrung" und „Erlebnis" in der Alltagssprache 2. Zwei Entwicklungslinien der philosophischen Erkenntnistheorie 2.1 Erfahrung als Synthese von Wahrnehmung und Überlegung 2.2 Erfahrung als unmittelbare Wahrnehmung
3. Die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Erfahrung 3.1 Intuition und intellektuelle Anschauung 3.2 Innere Erfahrung und Metaphysik 3.3 Innere Wahrnehmung und Intention
4. Ganzheitliche Erfahrung und Erlebnis B. Mystische Erfahrung in der von Solov'ev rezipierten patri stischen Theologie 1. Mystische Erfahrung und Theologie 2. Zwei Arten der Spiritualität 2.1 Die Spiritualität des Intellekts 2.2 Die Spiritualität des Herzens
..
3. Drei Stufen der mystischen Erfahrung und Erkenntnis Gottes 3.1 Die Selbstverleugnung des Menschen 3.2 Betrachtung und unmittelbares Wissen in der Liebe 3.3 Die mystische Vereinigung mit G o t t
4. „Rechtgläubige Mystik" bei den Vätern und bei Solov'ev
109 111 113 114
116
C. Solov'evs Beurteilung der religiösen Erfahrung im Protestantismus
118
1. Das positive Anliegen der persönlichen Erfahrung im Protestantismus
119
2. Die negative Konzentration auf das unmittelbare Erlebnis
121
3. Mystik im Protestantismus
122
4. Der Zugang zum Denken Solov'evs für evangelische Theologen heute
123
Dritter Teil: Erfahrung als Grundlage der Erkenntnislehre Solov'evs. Überblick über die Grundbegriffe seiner Erkenntnislehre I. Erfahrung A. Der Anwendungsbereich des Begriffs „Erfahrung" (opyt)
127 128
1. Die allgemeinste Definition von „Erfahrung"
128
2. Die Untergliederung des Erfahrungsbegriffs
130
3. Statistik des Gebrauchs des Begriffs „Erfahrung" (opyt) . . . .
132
B. Die Art der Erfahrung
134
1. Direkte und indirekte oder unmittelbare und mittelbare Erfahrung
134
2. Alltags- oder Lebenserfahrung und wissenschaftliche Erfahrung
135
C. Das Ziel der Erfahrung
137
1. Äußere Erfahrung
137
2. Innere Erfahrung
139
2.1 D e r Inhalt der inneren Erfahrung 2.2 Die Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung
140 142
9
2.21 Die Erkenntnislehre Solov'evs bis 1876: Metaphysische Erkenntnis durch innere Erfahrung 2.21.1 Die Unterscheidung „javlenie" - „projavlenie" . . 2.21.2 Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis 2.22 Die Erkenntnislehre Solov'evs seit 1877: Phänomenale Erkenntnis durch innere Erfahrung 2.22.1 Die Mittel der Erkenntnis 2.22.2 Das Subjekt der Erkenntnis
D . Mystische Erfahrung
147 148 149
153
1. Mystische Erfahrung als Grenzbegriff zwischen Phänomenalität und Metaphysik
153
2. Der Inhalt der mystischen Erfahrung
154
3. Die Erkenntnisfunktion der mystischen Erfahrung
155
4. Mystische Erfahrung, Offenbarung und Glaube
157
5. Das Verhältnis der mystischen Erfahrung zur inneren Erfahrung
159
6. Mystische Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis
160
E. Die besondere Bedeutung der religiösen Erfahrung
162
1. Die Vielfalt der religiösen Erfahrung
163
2. Persönliche religiöse Erfahrung
165
3. Wahre religiöse Erfahrung als Gotteserfahrung
167
3.1 Die historische Entwicklung zur christlichen Gotteserfahrung 3.2 Die Entwicklung zur Offenbarung Gottes in Christus 3.3 Christus als Höhepunkt und Synthese aller Offenbarung und Erfahrung Gottes
168 172 173
4. Gegen die pantheistische Interpretation der Gotteserfahrung
175
5. Gotteserfahrung als Erfahrung seiner Wirkungen
177
5.1 Die Unterscheidung von Wesen, Personen und Wirkungen Gottes 5.2 Das Eine, das Alles und das wahrhaft Seiende als die Wesenheit Gottes 5.3 Die Erfahrung des seienden All-Einen in seinen Wirkungen . . . 5.31 Die all-eine Wesenheit oder Substanz als Abstraktion der Erfahrung 5.32 Die Wirkungen Gottes. Seine Gnade als das Gute und die Liebe
10
142 143 145
178 182 186 186 189
6. Die mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes
196
7. Religiöse Erfahrung, Offenbarung und Glaube
199
8. Entwicklung und Vollendung der religiösen Erfahrung in der kirchlichen Erfahrung
204
9. Zusammenfassung: Religiöse Erfahrung - Grund und Ziel der Erkenntnis
208
F. Synonyme zum Begriff „Erfahrung"
210
1. Erleben
211
2. Wahrnehmung
212
3. Empfindung
213
4. Gefühl
214
G. Zusammenfassung: Die Bedeutung der Erfahrung in der Erkenntnislehre Solov'evs
217
II. Denken, Erkenntnis und Wissen
221
1. Allgemeine Definitionen
221
2. Der grundsätzliche Unterschied im Erkenntnisziel
223
2.1 Außeres und inneres Wissen in der Erkenntnislehre bis 1876 . . 2.2 Phänomenales und mystisches Wissen in der Erkenntnislehre seit 1877 2.3 Mechanisches und organisches Denken
3. Drei Arten des Wissens 3.1 Empirisches, rationales und mystisches Wissen 3.2 Ganzheitliches Wissen 3.3 Materiales, formales und intentionales Wissen 3.4 Die Intention, die Wahrheit zu erkennen
III. Glaube
224 225 225
227 227 228 230 231
235
1. Allgemeine Definitionen
235
2. Die Anerkennung der Existenz eines Erkenntnisobjekts . . . .
236
3. Der Glaube als selbständige Urtatsache im Bewußtsein
237
4. Die Eigenständigkeit des Glaubensbegriffs Solov'evs
239
5. Das Verhältnis von Erfahrung, Denken und Glaube zueinander
241
6. Der religiöse Glaube
243
IV. Intuition
245
1. Unmittelbares geistiges Wahrnehmen und Erkennen
245
2. Intellektuelle Anschauung
247 11
2.1 Das Objekt der intellektuellen Anschauung: Die Ideen als metaphysische Wesen 2.2 Die „Einbildung" der Ideen im Bewußtsein 2.3 Die Grenzen der Ideenlehre bei Solov'ev
3. Die Grundlage der Intuition ¡Inspiration
251
4. Intuition als Glaubenserkenntnis
252
V. Wahrheit 1. Wahrheit-das Objekt des ganzheitlichen Wissens 1.1 Relative und absolute Wahrheit 1.2 Das seiende All-Eine
2. Gott - die Wahrheit des Glaubens 2.1 Die Wahrheit der Theosophie 2.2 Die Wahrheit des L e b e n s - d a s Gottmenschentum 2.3 Die kirchliche Wahrheit
VI. Liebe
253 254 254 255
256 256 257 258
259
1. Erkenntnis der Wahrheit allein in der Liebe
259
2. Die Vorbereitung der mystischen Erfahrung der Liebe Gottes
260
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
L i e b e - d a s persönliche Motiv der Theosophie Solov'evs Liebe als Grundlage des sittlichen Handelns Bereiche der Liebe als Stufen der Erkenntnis Gottes Der Sinn der geschlechtlichen Liebe im Liebespathos Die „dreieinige Liebe" als Vorbedingung der Erkenntnis Gottes
3. Erkenntnis der Wahrheit in der mystischen Erfahrung der Vereinigung mit Gott 3.1 Wahrheit ist Liebe 3.2 Liebe und Gnade
4. Die Vollendung der mystischen Erfahrung im Leben des Menschen 4.1 Die Organisation der „dreieinigen Liebe" in allen Bereichen des Lebens 4.11 Liebe zwischen Mann und Frau 4.12 Liebe in Kirche und Gesellschaft 4.2 Das Ziel der Liebe
5. Liebe und mystische Erfahrung VII. Metaphysik und Mystik A. Metaphysik - Spekulation jenseits der Grenzen der natürlichen Erkenntnis 1. Metaphysik als theoretisches Wissen der Philosophie 12
248 250 250
260 260 262 263 264
265 265 267
268 268 268 271 272
273 274 274 274
2. Der Gegenstand der Metaphysik
275
3. Ganzheitliche Metaphysik
277
4. Metaphysik und mystische Erfahrung
280
B. Mystik - die unmittelbare Gemeinschaft mit dem zu Erkennenden
281
1. Erfahrungsmystik und Erkenntnismystik
281
2. Mystizismus als Grundlage aller Erkenntnis
282
3. Die Einheit und die Grenze der Philosophie Solov'evs in der Mystik
283
VIII. Zusammenfassung: Unmittelbares Erkennen der Wahrheit . . . .
284
Vierter Teil: Erfahrung in der Entwicklung des Denkens
Solov'evs
I. Mystische Erfahrung und ganzheitliches Wissen in der Entwicklung des philosophischen Denkens Solov'evs
287
1. Die vernünftige Darlegung der christlichen Wahrheit als selbstgestellte Lebensaufgabe Solov'evs
287
2. Selbsterfahrung als Grundlage der mystischen Erfahrung . . .
288
3. Metaphysik - Wissenschaft von der mystischen Erfahrung der All-Einheit 3.1 Der neue Ansatz bei der Gesamtheit der Erkenntnisvermögen 3.2 Die Synthese von Empirie und Metaphysik
290 292
4. Die neuerliche Rechtfertigung der mystischen Erfahrung im philosophischen Vorhaben 4.1 Die Intention als mystische Erkenntnisart 4.2 Die Kontinuität der Erkenntnislehre Solov'evs
293 293 295
5. Sittliche Erfahrung und mystische Erfahrung
297
6. Die Offenheit der Philosophie Solov'evs für ihre Erfüllung im christlichen Glauben
299
II. Religiöse Erfahrung und christlicher Glaube in der Entwicklung des theologischen Denkens Solov'evs 1. Persönliche religiöse Erfahrung im Horizont des christlichen Glaubens 1.1 Der Ansatz der religiösen Erfahrung im persönlichen Christentum 1.2 Die negative Lebenserfahrung und der christliche Glaube . . . .
290
302 302 302 304 13
1.3 Die positive Gotteserfahrung und das christliche Leben 2. Die Kirche als Ort der Gotteserfahrung 2.1 Die Kirche - Kriterium für wahre religiöse Erfahrung und Erkenntnis 2.2 Wahre Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis in den Formen der ökumenischen Kirche 2.3 Der Weg der religiösen Erfahrung des einzelnen in der ökumenischen Kirche bis zu ihrer Vollendung 3. Die eschatologische religiöse Erfahrung in der Welt und in der Kirche 3.1 Der Aufruf zur Entscheidung für Christus 3.2 Der Übergang Solov'evs zur Entscheidungseschatologie 3.3 Eschatologische religiöse Erfahrung-Erfahrung des Bösen . . . 3.4 Die Kriterien der wahren positiven religiösen Erfahrung 4. Christus - Grund und Ziel der religiösen Erfahrung und der gesamten Theosophie Solov'evs 4.1 Christus - Inhalt der christlichen Lehre und der Philosophie der All-Einheit Solov'evs 4.2 Christus-die Vollendung der religiösen Erfahrung 4.3 Die Einheit der Menschen mit Christus im lebendigen Gottmenschentum 4.4 Die Wirkung der kirchlichen Christologie auf Solov'evs gesamtes Denken
305 307 307 310 313 316 316 319 321 323 325 326 329 331 332
Schluß 1. Zusammenfassung: Mystische und religiöse Erfahrung im theosophischen Denken Solov'evs
334
2. D i e Originalität des Denkens Solov'evs über mystische und religiöse Erfahrung
338
3. Die bleibende Bedeutung Solov'evs für das Denken über mystische und religiöse Erfahrung
340
Literaturverzeichnis 1. Verzeichnis der zitierten Werke Solov'evs in der Reihenfolge ihrer Abfassung 1.1 Zitierte Schriften Solov'evs 1.2 Zitierte Artikel Solov'evs aus dem Enzyklopädischen Wörterbuch Brokgauz-Efron 1.3 Zitierte Gedichte Solov'evs
14
345 345 346 349 350
2. Ausgewählte Literatur über Solov'ev
350
3. Quellen zum Denken Solov'evs
358
4. Literatur zum philosophischen und theologischen Denken über Erfahrung 5. Literatur zur Philosophie-und Theologiegeschichte 6. Nachschlagewerke und Hilfsmittel Register 1. 2. 3. 4.
Namenregister Sachregister Russische Begriffe Griechische Begriffe
Abkürzungsverzeichnis
1. Abkürzungen
der Titel der zitierten Schriften Solov'evs
Die hier aufgeführten Titel der zitierten Schriften Solov'evs sind in der Reihenfolge ihrer Abfassung im Literaturverzeichnis angegeben (s.u. S. 346—349). Nach der hier angegebenen Jahreszahl kann der entsprechende Titel leicht im Literaturverzeichnis gefunden werden. Dort sind jedem Titel seine deutsche Ubersetzung und sein Fundort in der russischen Gesamtausgabe, der Ausgabe der Briefe oder der französischen Schriften Solov'evs beziehungsweise in der deutschen Gesamtausgabe der Werke Solov'evs beigefügt. CB CC CVS DO¿ DVM DVR EChV FNCZ FTJu IBT ICAK IDF IR IS KON KP KZF L LS MPDJa MPN MZRU NVR NZ OD OND OSF PB
16
Ctenija o Bogocelovecestve (1877-1881) Correspondance de Cracovie (1888) O cerkovnom voprose po povodu starokatolikov (1883) Duchovnye osnovy zizni (1882-1884) O dejstvitel'nosti vnesnego mira i osnovanii metafiziceskogo poznanija (Otvet K. D. Kavelinu) (1875) O duchovnoj vlasti ν Rossii ( 18 81 ) Evrejstvo i christianskij vopros (1884) Filosofskie nacala cel'nogo znanija (1877) O filosofskich trudach P. D. Jurkevica (1874) Istorija i buduscnost' teokratii (1885-1887) Ideja celovecestva u Avgusta Konta (1898) Istoriceskie delà filosofii (1880) L'Idée russe (1888) Ideja sverchceloveka (1899) Kritika otvlecennych nacal (1877-1880) Krasota ν prirode (1889) Krizis zapadnoj filosofii (Protiv pozitivistov) (1874) Lermontov (1899) La Sophia (1876) Mifologiceskij process ν drevnem jazycestve (1873) Metafizika i polozitel'naja nauka (1875) Magomet, ego zizn' i religioznoe ucenie (1896) Nacional'nyj vopros ν Rossii, vypusk pervyj (1883-1888), vypusk vtoroj (1888-1891) Neobchodimye zamecanija na „Neskol'ko slov" Β. N . Cicerina (1897) Opravdanie dobra. Nravstvennaja filosofija (1894-1896) Otvet N . Ja. Danilevskomu (1885) Opyt sinteticeskoj filosofii (1877) Ponjatie o Boge (V zascitu filosofii Spinozy) (1897)
PIF PPS REU RKB RRNO SL SRMG SVECh TCh TF TP TPP TR TRPD TS USM VP VR VSChP ZB ZDP ZTJu
2. Weitere B-Ε CSCO CSS DG DGBiogr. 3G DS DThC FS GB GCS HphG HWPh IKathZ KO KuD M Masch
N a putì k istinnoj filosofii (1883) Po povodu poslednich sobytij (1900) La Russie et l'Église Universelle (1889) Recenzija na knigu E. P. Blavackoj: „The key to T h e o s o p h y " (1890) O raskole ν russkom narode i obscestve ( 1 8 8 2 - 1 8 8 3 ) Smyslljubvi ( 1 8 9 2 - 1 8 9 4 ) Soglasenie s Rimon i moskovskie gazety (1883) Saint Vladimir et l'État Chrétien (1888) Tri charakteristiki. M . M . Troickij. - Ν . Ja. G r o t . - P. D . Jurkevic (1900) Teoreticeskaja filosofija ( 1 8 9 7 - 1 8 9 9 ) Tajna progressa (1897) Tvorenija Platona. Predislovie. 2 i z n ' i proizvedenija Platona (1899) Tri razgovora o vojne, progresse i konce vsemirnoj istorii, so vkljuceniem kratkoj povesti o b antichriste ( 1 8 9 9 - 1 9 0 0 ) Tri reci ν pamjat' Dostoevskogo ( 1 8 8 1 - 1 8 8 3 ) Tri sily (1877) O b upadke srednevekovogo mirosozercanija (1891) Voskresnye pis'ma ( 1 8 9 7 - 1 8 9 8 ) Vizantizm i Rossija (1896) Velikij spor i christianskaja politika (1883) Z a m e t k a o E . P. Blavackoj (1892) Ziznennaja drama Platona (1898) N a zare tumannoj j u n o s t i . . . Rasskaz (1892)
Abkürzungen F. A. B r o k g a u z - I. A. E f r o n : Énciklopediceskij slovar'. SPb 1890ff. Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium. Louvain. Canadian Slavic Studies. Montréal. Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew (s.u. S. 346). Ergänzungsband der Deutschen Gesamtausgabe : Biographie (s.u. S. 346). „Drei Gespräche" (s. u. S. 348, Tri razgovora). Dictionnaire de spiritualité, d'ascèse et de mystique. Paris. Dictionnaire de théologie catholique. Paris. Französische Schriften Solov'evs ( s.u. S. 345). „Der Gottesbegriff" ( s.u. S. 348, Ponjatie o Boge). Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten (drei) Jahrhunderte. Leipzig. Handbuch philosophischer Grundbegriffe ( s.u. S. 368). Historisches Wörterbuch der Philosophie ( s.u. S. 368). Internationale Katholische Zeitschrift. Köln. Kirche im Osten. Göttingen. Kerygma und Dogma. Göttingen. Moskva Maschinenschrift 17
NICP NZSTR OC OCA OCP OstKSt Ρ PG PM PS RAM RG RGG3 RHPhR SC SOB SPb SVThQ SZ ThLZ TKDA TRE VE VF VFP VR VRSChD VS WA WPKG ZMNP ZMP ZRGG 3. Zu den
Nouvelles de l'Institut Catholique de Paris. Paris. Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Berlin. Orientalia Christiana. Roma. Orientalia Christiana Analecta. Roma. Orientalia Christiana Periodica. Roma. Ostkirchliche Studien. Würzburg. Pis'ma = Briefe Solov'evs ( s.u. S. 345). Migne, Patrologiae cursus completus. Series graeca. Paris 1857ff. Pravoslavnaja mysl'. Pariz. Pravoslavnyj sobesednik. Kazan'. Revue d'ascétique et de mystique. Toulouse. Russische Gesamtausgabe der Werke Solov'evs, Nachdruck der 2. Auflage (s.u. S. 345). Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 3 1957ff. Revue d'histoire et de philosophie religieuses. Paris. Sources Chrétiennes. Paris. „Sonntags- und Osterbriefe" ( s. u. S. 348, Voskresnye pis'ma). Sankt Peterburg Saint Vladimir's Theological Quarterly. Crestwood, N.Y. Sovremennye zapiski. Pariz. Theologische Literaturzeitung. Leipzig. Trudy Kievskoj Duchovnoj Akademii. Kiev. Theologische Realenzyklopädie. Berlin, New York 1977ff. Vestnik Evropy. SPb. Voprosy filosofii. M. Voprosy filosofii i psichologii. M. Vera i razum. Char'kov. Vestnik Russkogo Studenceskogo Christianskogo Dvizenija. Pariz. Vladimir Solov'ev D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883ff. Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft. Göttingen. Zurnal Ministerstva Narodnogo Prosvescenija. SPb. Zurnal Moskovskoj Patriarchìi. M. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. Marburg. Anmerkungen
Aus den Werken Solov'evs wird nach dem Nachdruck der zweiten Auflage der russischen Gesamtausgabe der Werke Solov'evs ( = R G , s.u. S. 345) nach folgendem Muster zitiert: Abgekürzter russischer Titel des zitierten Werks, N u m m e r des Bandes der R G (römische Ziffern), Seitenzahl (arabische Ziffern). Aus den Briefen Solov'evs wird nach der russischen Gesamtausgabe seiner Briefe im N a c h druck ( = P, s.u. S. 345) nach folgendem Muster zitiert: Angabe des Adressaten und der Briefnummer, N u m m e r des Bandes der Briefausgabe (P und römische Ziffern), Seitenzahl (arabische Ziffern). Aus den in der R G nicht enthaltenen Schriften Solov'evs wird nach der neuen Ausgabe seiner französischen Schriften ( = FS) nach folgendem Muster zitiert: Abgekürzter französischer Titel des Werks, FS, Seitenzahl.
18
Die Übersetzung der zitierten Stellen in der deutschen Gesamtausgabe (= D G ) - nur der geringere Teil der Schriften Solov'evs ist in der „Gesamtausgabe" übersetzt - wird nur bei Solov'evs Artikeln im Enzyklopädischen Wörterbuch Brokgauz-Efron (= B-Ε, s.u. S. 368) sowie bei seinen Gedichten und bei seinen französischen Schriften - soweit sie übersetzt sind zur Information der des Russischen und Französischen unkundigen Leser in Klammern nach folgendem Muster angegeben: D G , Nummer des Bandes der D G (römische Ziffern), Seitenzahl (arabische Ziffern). Sekundärliteratur wird nach dem Verfassernamen, einem Kurztitel, dem Fundort in Sammelbänden oder Zeitschriften und der Seitenzahl zitiert. Die vollständigen bibliographischen Angaben können dem Literaturverzeichnis ( s.u. S. 350—368) entnommen werden. Weitere Abkürzungen bei den bibliographischen Angaben sind oben unter 2. erklärt.
19
Einleitung
1. Das Thema W i r leben noch immer in einer von der Aufklärung geprägten Kultur, die Glauben und Wissen voneinander trennt. Diese traditionelle methodische Spaltung des Erkenntnisvermögens des Menschen zeigt sich in der Philosophie als Trennung der unmittelbaren - sinnlichen, gefühlsmäßigen oder intuitiven - Wahrnehmung vom logischen diskursiven D e n k e n , als Trennung der Philosophie in verschiedene F o r m e n des Intuitivismus einerseits, des Empirismus und Rationalismus andererseits. Sie setzt sich in der Kirche fort als Trennung zwischen lebendiger F r ö m m i g k e i t und akademischer T h e o l o gie, zwischen christlichem Leben und theologischer Wissenschaft. Solov'evs ganzes D e n k e n , seine Philosophie und T h e o l o g i e ist ein Versuch, diese Spaltung des Erkenntnisvermögens des Menschen in unmittelbare Wahrnehmung und abstraktes D e n k e n von Seiten des philosophischen und theologischen D e n k e n s aus zu überwinden. Solov'ev tut dies in bewußtem Gegensatz zu jeder abstrakten, v o m Leben losgelösten Philosophie und T h e o l o g i e . Als „östlicher", russischer o r t h o d o x e r D e n k e r strebt er nach einer Synthese von lebendigem Glauben und rationalem Wissen in einer ausdrücklichen G e g e n bewegung gegen die gesamte „westliche", abendländische Philosophie und T h e o l o g i e 1 . F ü r Solov'ev gehören das glaubensmäßige, intuitive Element der Erkenntnis sowie ihr sinnliches und ihr logisches Element immer zusammen. N i c h t in der Getrenntheit, sondern nur in der Verbindung dieser Vermögen erkennt der Mensch die Wirklichkeit und Wahrheit der Welt und G o t t e s 2 . F ü r Solov'ev gibt es daher nicht einmal methodisch die Alternativen entweder Glaube an G o t t oder Gotteserfahrung oder rationale G o t t e s e r k e n n t n i s : Glaube, Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis gehören bei ihm immer zusammen. Dies ist die Grundeinstellung Solov'evs gegen die gesamte abendländische D e n k k u l t u r , die er im N a m e n der ganzheitlichen östlichen D e n k w e i s e und der orthodoxen T h e o l o g i e mit den frühen russischen Slavophilen vor ihm, besonders Kireevskij und C h o m j a k o v , teilte. Was Solov'ev über die G e n a n n ten hinaushebt und ihn zum größten russischen Philosophen und Laientheologen 3 bis heute macht, ist die Tatsache, daß er die M e t h o d e des ganzheitli1 2 3
Vgl. K Z F 1,119 f. A.a.O. S. 101. Vgl. P. Miljukov, Ocerki, S. 195; N. Grot, Recenzija na „VSiOD", S. 160.
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chen Wissens aus Glaube, Erfahrung und rationalem Denken in ein Philosophie und Theologie umfassendes System brachte 4 . Solov'evs Bedeutung beschränkt sich aber nicht auf dieses historische Verdienst. Rund hundert Jahre, nachdem Solov'ev ein System des „ganzheitlichen Wissens" schuf, leben auch wir noch in der von ihm beklagten Lage der Bewußtseinsspaltung in unmittelbaren Glauben und mittelbares rationales Wissen, die sich im Christentum als Trennung von Glaubensleben und theoretischer Theologie auswirkt. Erst in den letzten Jahren ist in Deutschland eine breite fundamentaltheologische Diskussion aufgekommen, wie man die Theologie als theoretische Glaubenslehre von Gott und ihre wissenschaftlichen Erkenntnismethoden mit dem praktischen Glaubensleben der Christen und dessen Art von unmittelbarer Erkenntnis verbinden könne. Es ist eine Diskussion um „Theologie und Erfahrung" 5 . Der Begriff „Erfahrung" wird dabei zum Bindeglied zwischen Glaube und Wissen, denn er ist der erkenntnistheoretische Schlüsselbegriff aller empirisch orientierten Wissenschaft und gleichzeitig der Ausdruck des „Lebensgefühls" der Christen unserer Zeit, sich den christlichen Glauben durch eigene „Lebenserfahrung" und „Sinnerfahrung" anzueignen. Im evangelischen Bereich bietet die Diskussion um „Theologie und Erfahrung" ein eher verwirrendes Bild der Vielfalt der Meinungen von der Einordnung der Theologie in die säkularen Erfahrungswissenschaften und dem Bestreben nach „empirisch-funktionaler Theoriebildung durch die Theologie" 6 bis zur „Glaubenserfahrung" 7 oder „Lebenserfahrung" 8 als dem persönlichen Ereignis und der Folge des Glaubens an Gott, der immer Gottes Gabe vor aller Erfahrung ist 9 . Im allgemeinen überwiegt in der evangelischen Diskussion die Betonung der Vorgabe des Glaubens vor jeder Art religiöser Erfahrung. Im katholischen Bereich zentriert sich die Diskussion auf eine eigenständige theologische Begriffsklärung 1 0 , die nicht einfach den Erfahrungsbegriff der empirischen Wissenschaften übernimmt, sondern ihn erweitert und die Rede von „tragender Erfahrung" 1 1 , „Sinnnerfahrung" und der spezifischen religösen Erfahrung als gesamtpersonaler, den Menschen in seiner Totalität erfassender Erfah-
4
Vgl. N. O. Losskij (Lossky), History of Russian Philosophy, S. 133.
Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von W. H . Ritter, der die evangelische und katholische theologische Diskussion der letzten Jahre nachskizziert: W.H. Ritter, Theologie und Erfahrung, S. 1 6 1 - 1 7 5 . 5
E. Herms, Theologie - eine Erfahrungswissenschaft, S. 62 ff. W. von Loewenich, Luthers theologia crucis, S. 123; H.-M. Glaube bringt, S. 5 7 5 - 5 7 8 . 6 7
Barth,
Erfahrung, die der
G. Ebeling, Erfahrungsdefizit in der Theologie, S. 14. Zu diesem reformatorischen experientia-Begriff und der evangelischen Diskussion um Erfahrung und Theologie s.u. S. 1 2 3 - 1 2 6 . 8
9
1 0 Vgl. H. Vorgrimler, Was ist religiöse Erfahrung?, S. 6 2 9 - 6 3 2 ; R. Brague, christliche Erfahrung?, S. 4 8 1 - 4 9 6 . 11 D. Mieth, Was ist Erfahrung?, S. 163 ff.
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Was heißt
rung der absoluten göttlichen Person 1 2 ermöglicht. Karl Rahner hat diese Diskussion bestimmt, indem er die „transzendentale Erfahrung" der Offenheit des Menschen für Gottes Gnade und Geist mitten im Alltag erläutert hat 1 3 . - In dieser ganzen theologischen Diskussion geht es darum, ob und wie die gesamtmenschliche Erfahrung, die offen ist für die Transzendenz und die Glaubenserfahrung werden kann, die Spaltung des menschlichen Bewußtseins in blinden Glauben und rationales Denken und die Trennung von christlichem Leben und Theologie überwinden kann. In diesem in der Gegenwart anhaltenden theologischen Gespräch gewinnt Solov'evs Versuch, die Trennung von Glauben und Wissen durch eine Synthese von Glaubenserkenntnis, sinnlicher und logischer Erkenntnis in einem System des ganzheitlichen Wissens zu überwinden, eine neue Bedeutung. Sie geht über seine philosophie- und theologiegeschichtliche Stellung in Rußland als Systematiker des ganzheitlichen Wissens hinaus - eine Stellung, die Gegenstand einer eingehenden und umfangreichen Solov'ev-Forschung gewesen ist. Wir sehen die Bedeutung der Erkenntnislehre Solov'evs sowohl speziell im gegenwärtigen Gespräch über Theologie und Erfahrung als auch grundsätzlich in unserer durch die Trennung von Glaube und Wissen geprägten und von der empirischen Wissenschaft noch immer beherrschten Welt darin, daß sie der mystischen und religiösen Erfahrung des Menschen die Funktion des Bindeglieds zwischen dem Glauben an Gott und dem Wissen von der Wirklichkeit Gottes und der Welt gibt: Die Erfahrung des Menschen wird zu dem einen Ausgangspunkt aller Erkenntnis, der Erkenntnis der äußeren Welt ebenso wie der inneren Selbsterkenntnis des Menschen und der Erkenntnis der metaphysischen Wirklichkeit Gottes. Die Erfahrung ist der zentrale und alle Erkenntnis- und Lebensbereiche einigende Ansatz der Erkenntnislehre Solov'evs. Auf diese Bedeutung Solov'evs sind bisher weder die russischen noch die nichtrussischen Interpreten Solov'evs eingegangen. Vermutlich liegt das daran, daß der Begriff „Erfahrung" erst im 20. Jahrhundert zu einem wirklichen Schlüsselbegriff der philosophischen Erkenntnislehre wurde 1 4 . Bei Solov'ev steht der Begriff „Erfahrung" (opyt) trotz der zentralen Rolle des vielfältigen Geschehens der Erfahrung für seine Erkenntnislehre nicht so stark im Vordergrund, daß man ihn als „Erfahrungsphilosophen" oder als „Erfahrungstheologen" charakterisiert hätte. Vielmehr hat man in Solov'ev überwiegend den „Philosophen der All-Einheit" gesehen 15 , weil er die von ihm gelehrte 12 R. Guardini, Das Phaenomen der religiösen Erfahrung, S.45; J.B. Lötz, Zur philosophischen Erklärung der religiösen Erfahrung, S. 2 7 2 - 2 7 4 ; ders., La filosofia dell'esperienza religiosa, S. 35. 13 Κ. Rahner, Gotteserfahrung heute, S. 161-176; ders., Transzendenzerfahrung, bes. S.217f.; ders., Erfahrung des Heiligen Geistes, bes. S.236. Vgl. J.B. Lötz, Transzendentale Erfahrung, S. 1 5 - 2 6 und 71-74. 14 A. Léonard, Art. „Expérience spirituelle", DS IV, Sp. 2004f. 1 5 Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 5. Man hat in Solov'evs
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metaphysische Einheit von Gott und der gesamten Schöpfung als „AllEinheit" (vseedinstvo) bezeichnete und sie zum Grundgedanken und Hauptbegriff seiner philosophischen Metaphysik machte. Dies trifft für Solov'evs Metaphysik zu. Seine Erkenntnislehre wurde dagegen früh nach seinem Tode als elitärer Mystizismus eines für mystische, visionäre Erfahrungen begabten prophetischen Einzelgängers fehlinterpretiert 16 und seitdem zu wenig beachtet. Der ganzheitliche Charakter der Erfahrung bei Solov'ev wurde kaum erkannt, genauso wenig die integrierende Bedeutung der mystischen Erfahrung im Denken Solov'evs für die Einheit der Erkenntnis in allen Bereichen. Eine neue Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs durch eine Analyse der Rolle der Erfahrung in seinem Denken halten wir für angezeigt, weil sich die Solov'ev-Forschung im ganzen wenig mit seiner Erkenntnislehre befaßt hat, sondern sich auf seine Geschichtsphilosophie, Methaphysik, Ekklesiologie und Sophiologie konzentrierte. Diese Konzentration ist verständlich, weil Solov'evs Denken auf diesen Gebieten originell, ja teilweise provokativ war. Daß aber auch Solov'evs Erkenntnislehre nicht einfach ein östlicher Mystizismus ist, sondern auf einer originellen Synthese von Empirismus, Rationalismus und mystischer Theologie beruht, ist weitgehend übersehen worden. Die Rolle der Erfahrung im Denken Solov'evs und speziell in seiner Erkenntnislehre ist daher bisher nicht untersucht worden. Uns scheint eine solche Untersuchung für eine sachgemäße Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs unabdingbar zu sein. Sie ist deshalb Gegenstand dieser Arbeit. Wir werden versuchen, die aufgezeigte Lücke in der Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs mit einigen Beobachtungen zu füllen, die sich aus der Analyse der vielfältigen philosophischen und theologischen Schriften Solov'evs ergeben. Angesichts der Fülle der allgemeinen Beiträge zur Solov'ev-Forschung, die auch in vielen westlichen Sprachen zugänglich sind 1 7 , konnte es nicht unsere Aufgabe sein, noch eine weitere allgemeine Interpretation des Lebens und Werks Solov'evs hinzuzufügen oder noch ein weiteres Mal auf die philosophischen Zusammenhänge zwischen Solov'ev und dem deutschen Idealismus 1 8 , auf seine Quellen überhaupt und auf seine Auswirkungen auf die russische Philosophie, Theologie und Dichtung hinzuweisen. Auch auf Metaphysik der All-Einheit nicht nur die Prämisse seiner Erkenntnistheorie gesehen, sondern bisweilen sogar behauptet, seine Erkenntnistheorie sei nichts anderes als seine Metaphysik und gehe in ihr auf (vgl. z . B . S. Kirk, Die All-Einheit als Grundprinzip der Religionsphilosophie, S.80f.). Die vorliegende Studie will gerade auf die Eigenständigkeit der Erkenntnistheorie Solov'evs im Verhältnis zu seiner Metaphysik hinweisen. 16 A. Vvedenskij, O misticizme, S. 2 2 - 2 4 . 3 0 - 3 3 . 1 7 Vgl. die umfassenden Solov'ev-Bibliographien bei L. Wenzler, Die Freiheit und das Böse, S. 3 9 3 - 4 5 6 , und bei J. Sutton, Vladimir Solovyov: His Restatements of a Traditional C o s m o l o gy, Bibliographie N r . 44-294, sowie die Titel in unserem Literaturverzeichnis, S. 350—358. 1 8 Vgl. z . B . W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 37 ff.; L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 93 ff.
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die wichtige Frage der Sophiologie Solov'evs und ihres Verhältnisses zur kirchlichen Trinitätslehre konnten wir nicht eingehen. Dies alles ist wiederholt von berufener Seite geschehen. Unser Vorhaben, die Rolle der Erfahrung im gesamten Denken Solov'evs zu untersuchen, erforderte die genaue Analyse des russischen Textes und den Vergleich und die Zusammenschau eines Großteils des umfangreichen Gesamtwerks Solov'evs. Die Arbeit wurde dabei auf folgende Punkte konzentriert: 1. die Analyse der Verwendung des Begriffs „Erfahrung" und der damit zusammenhängenden Grundbegriffe der Erkenntnislehre bei Solov'ev; 2. die systematische Interpretation der Bedeutung der mystischen und religiösen Erfahrung für die Erkenntnis der Wahrheit und für die Erkenntnis Gottes bei Solov'ev; 3. die Untersuchung der chronologischen Entwicklung des Denkens Solov'evs über die Erfahrung in den verschiedenen Perioden seines Schaffens auf ihre Einheitlichkeit. Da zumeist bei der Interpretation der Schriften Solov'evs von einer Dreiteilung seines Werkes in unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Perioden seines Denkens ausgegangen wird 1 9 , mußte die Frage nach der Kontinuität der Erkenntnislehre Solov'evs sorgfältig behandelt werden. Folgende Fragen haben die Behandlung des Themas geleitet und sollen durch diese Arbeit beantwortet werden: 1. Wie verwendet Solov'ev den Begriff „Erfahrung"? Welche Unterscheidungen nimmt er vor? 2. Welche Erkenntnisvermögen des Menschen entsprechen in ihrer Erkenntnisfunktion der Erfahrung? 3. Wie verhält sich die Erfahrung zu Glaube und Denken? 4. Welche Bedeutung hat die Erfahrung bei der Erkenntnis der Wahrheit und bei der Gotteserkenntnis? 5. In welche philosophische und theologische Tradition stellt sich Solov'ev, wenn er von mystischer und religiöser Erfahrung als Erkenntnisweisen spricht? Welche Einflüsse auf Solov'ev kommen hier zur Geltung? 6. Ist Solov'evs Denken über mystische und religiöse Erfahrung im Laufe seines Lebens einheitlich oder durch verschiedene Neuansätze disparat? 7. Welche Bedeutung haben die mystische und die religiöse Erfahrung für das Denken Solov'evs insgesamt?
2. Die
Methode
Die Methode unserer Bearbeitung des Themas wurde von der Eigenart des Denkens Solov'evs über mystische und religiöse Erfahrung mitbestimmt. Dessen Quelle ist Solov'evs persönliche mystische Erfahrung. Mehrfach in seinem Leben hatte Solov'ev mystische Erlebnisse der unmittelbaren Einheit mit dem transzendenten Göttlichen, die er selbst als direkte innere Schau der 19
S. u . S . 74 f.
25
himmlischen Weisheit Gottes beschrieben hat 20 . Die sich durch sein ganzes Leben ziehende mystische und religiöse Erfahrung verleiht seinem Denken über Erfahrung, seiner Erkenntnislehre, ja seinem gesamten Denken eine grundlegende Einheit 21 , nähmlich die Gewißheit über die Einheit aller Dinge in Gott. Vor der Behandlung der theoretischen Schriften Solov'evs ist deshalb der Blick auf seine persönliche mystische Erfahrung nötig. Die Eigenart des Denkens Solov'evs, die von seiner mystischen Erfahrung der Einheit aller Dinge in Gott geprägt ist, ist vor allem das untrennbare Ineinander von philosophischer und theologischer Denkweise. Angelegt ist dieses Ineinander in seiner mystischen Erfahrung. Gegeben ist die Einheit von Philosophie und Theologie bei Solov'ev zunächst durch seine Bildung in beiden Wissenschaften, durch sein persönliches Studium. Sie ist auch gegeben durch seine selbstgestellte Lebensaufgabe und durch sein Vorhaben, den christlichen Glauben vernünftig darzustellen, um so die Menschen von seiner Wahrheit zu überzeugen22. Dieser Aufgabe ist Solov'ev ein Leben lang treu geblieben 23 . Die Einheit von Philosophie und Theologie bei Solov'ev ist inhaltlich durch seinen Grundgedanken des Gottmenschentums (bogocelovecestvo) gegeben: in ihm faßt Solov'ev das christologische Dogma von Chalcedon 24 und den philosophischen Gedanken der coincidentia oppositorum, der All-Einheit von Gott und Mensch 25 , in einem allgemeinen Begriff zusammen, den er im theologischen und philosophischen Sinn verwendet. Philosophie und Theologie bilden bei Solov'ev auch durch die Rolle der Erfahrung in seinem Denken eine Einheit. Es wird sich zeigen, daß „Erfahrung" bei Solov'ev eine philosophische und theologische Kategorie zugleich ist und Glaube und rationales Denken verbindet. Die Einheit von Philosophie und Theologie ist auch in der Darstellungsweise Solov'evs gegeben. Zwar lassen sich seine Arbeiten in Schriften überwiegend philosophischen und Schriften überwiegend theologischen Inhalts unterscheiden. Aber seine philosophische Argumentation vermischt er doch immer wieder mit theologischer und umgekehrt, besonders in seinem Spätwerk 26 . Das ist nur folgerichtig, da nach Solov'evs Erkenntnislehre erst durch die von der Theologie gelehrten Voraussetzungen - nämlich durch das Aufgeben des Egoismus und durch den Glauben an die vom Erkennenden unabhängige Wahrheit - die philosophische Erkenntnis der Wahrheit möglich ist. - Die methodische S. u. S. 32.41.58f. So auch W Szylkarski, Solowjews Weg zur Una Sancta, S. 155. 2 2 Vgl. Solov'evs Briefe Nr. 15 und 18 an E. Romanova, Ρ III, 82 und 88. 2 3 Solov'ev spricht vom „vernünftigen Glauben" (razumnaja vera) als der Antwort des Menschen auf die Offenbarung Gottes - eine Antwort, die Solov'ev selbst in seiner philosophischen Begründung der theologischen Wahrheit gibt (vgl. z.B. TS I, 239; T R X , 190). 2 4 Vgl. IBTIV, 287f. 293. 2 5 Vgl. K O N II, 287. 323. 2 6 Ein charakteristisches Beispiel dafür sind die biblischen Zitate in Solov'evs „Theoretischer Philosophie" mitten in seiner Argumentation über die Aufgabe der Philosophie. Vgl. T F IX, 162. 20 21
26
Eigenart der Erkenntnislehre Solov'evs besteht insgesamt darin, daß sie eine philosophische und theologische Lehre zugleich ist 27 . Deshalb wird noch vor dem eigentlichen Gegenstand unserer Arbeit das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Solov'ev untersucht. Die von uns gestellten thematischen Fragen sind alle Fragen zum Selbstverständnis des Denkens Solov'evs. Unsere Arbeitsmethode ist daher weitgehend die werkimmanente Interpretation. Sie ist der Versuch, Solov'ev von seinen eigenen Voraussetzungen aus und von seinen eigenen Aussagen her philosophisch und theologisch zu verstehen. Dabei ist es für den evangelischen Theologen und Nichtrussen besonders wichtig, Solov'evs orthodoxe und russische Herkunft und Prägung immer im Auge zu behalten und sich den Blick nicht durch die Suche nach Parallelen zu abendländischen Denkmustern zu verstellen. Eine werkimmanente Interpretation Solov'evs bedeutet zunächst die genaue Berücksichtigung der Texte in philologischer Hinsicht: die Analyse der Sprache Solov'evs, der russischen Begriffe und ihrer möglichen fremdsprachigen Entsprechungen. Für den Begriff „Erfahrung" wurde eine wortstatistische Untersuchung durchgeführt. Die Entwicklung des Gebrauchs der grundlegenden Begriffe der Erkenntnislehre wurde in den verschiedenen Schriften Solov'evs verfolgt. Dabei wurden nicht nur die bekannten größeren philosophischen und theologischen Werke berücksichtigt, sondern auch Aufsätze: sie enthalten oft das Spezifische der entsprechenden Denkperiode Solov'evs im Gegensatz zu seinen großen Schriften, in denen er eine Summe aller seiner erkenntnistheoretischen Gedanken geben will. Die Auswahl der berücksichtigten Schriften hat sich im übrigen danach gerichtet, inwieweit sie etwas zu unserem Thema beitragen. Wir waren dabei um Vollständigkeit bemüht. Die werkimmanente Interpretation Solov'evs bedeutet weiterhin die Berücksichtigung der Eigenentwicklung seines Denkens. Im Verlauf unserer Untersuchung überzeugten wir uns von der grundlegenden Einheit der Erkenntnislehre Solov'evs. Sie wird durch die systematische Darstellung und Interpretation der Grundbegriffe seiner Erkenntnislehre im Hauptteil berücksichtigt. Dabei gilt: jede systematische Darstellung des Denkens Solov'evs ist eo ipso Interpretation, denn die Zusammenfassung seiner zahlreichen Werke, seiner verschiedenen Darstellungsweisen und seiner in den verschiedenen Lebensperioden unterschiedlichen Terminologien kann nur interpretierend geschehen. Die Grenze zwischen Darstellung und Interpretation ist hier fließend. Der systematischen Interpretation der Rolle der Erfahrung im Denken Solov'evs folgt die chronologische Darstellung und Interpretation der Entwicklung dieses Denkens, die unsere systematische Interpretation rechtfertigen soll und die sie durch neue, vor allem theologische Aspekte vertieft und verdeutlicht. 27
So auch J. Palan, Theory, S. 12.
27
Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Solov'evs wurde in der Darstellung auf zwei Weisen berücksichtigt. Die systematische Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs berücksichtigt die Einheit von Philosophie und Theologie. Die chronologische Darstellung berücksichtigt ihre Verschiedenheit. Hier folgen wir der Einteilung des Werks Solov'evs in Schriften überwiegend philosophischen oder überwiegend theologischen Inhalts, die sich aus der jeweiligen Darstellungsweise Solov'evs selbst ergibt. Die Trennung des philosophischen vom theologischen Denken Solov'evs ist daher methodisch möglich 2 8 und wird hier um der größeren Klarheit der Darstellung willen vollzogen, wenn sie auch sachlich dem ganzheitlichen Denken Solov'evs nicht voll gerecht wird. Insgesamt gesehen ist unsere Untersuchung keine philosophische Arbeit, sondern fundamentaltheologisch orientiert. Das Schwergewicht der Untersuchung liegt auf der theologischen Seite des Denkens Solov'evs. Die Berücksichtigung der Biographie Solov'evs gehört zur Methode dieser Arbeit. Denn sein Leben ist von großer Bedeutung für die Einheit und Art seiner Lehre von der mystischen und religiösen Erfahrung 2 9 . Außerdem enthalten seine Gedichte und Briefe viel Autobiographisches und eigene Interpretationen seiner theoretischen Werke 3 0 . - Der Nachweis literarischer Einflüsse auf Solov'ev und der Nachweis seiner unmittelbaren Quellen konnte dagegen nicht Aufgabe und Methode dieser Arbeit sein. Abgesehen davon, daß Solov'ev nur in ganz seltenen Fällen seine Quellen angibt - seine theologischen Quellen so gut wie n i e - , verändert er darüber hinaus das, was er übernimmt, um es in sein System des ganzheitlichen Wissens zu integrieren. Bei seiner weiten Belesenheit ist so die Vielzahl seiner Quellen kaum auszumachen. Die Haupteinflüsse anderer Philosophen auf Solov'ev sind indes weitgehend erforscht. Was das Denken Solov'evs über die mystische Erfahrung angeht, so wäre ein direkter literarischer Einfluß der Kirchenväter schon deshalb nicht leicht nachzuweisen, weil Solov'evs eigene mystische Erfahrung und die der hesychastischen griechischen Väter grundsätzlich aus der gleichen Lebenshaltung und dem gleichen Glauben heraus entstanden sind und daher zu gleichem Denken über sie führen konnten, ohne daß literarische Abhängigkeiten bestehen 31 . Auf die Parallelen im Denken So-
Vgl. L. Lopatin, Solov'ev i E. Trubeckoj, S. 361. L. Lopatin beanstandet mit Recht am Werk des einflußreichsten Interpreten Solov'evs, Fürst E. Trubeckoj, er habe Solov'evs Biographie nicht berücksichtigt, die doch ?ufs engste mit seinem Denken zusammenhängt. Vgl. L. Lopatin, a.a.O. S. 344. 3 0 Vgl. die Auswahl der Gedichte und Briefe bei L.Müller und I.Wille, Hrsg., Solowjews Leben in Briefen und Gedichten (= D G Biogr.). 3 1 Dieses Argument hat G.Florovskij zwar nicht für Solov'ev, aber für Vertreter der russischen Spiritualität wie Serafim von Sarov verwendet, um der Suche nach deren altkirchlichen literarischen Vorbildern und Vorlagen die Grenze ihrer Bedeutung zuzuweisen (vgl. G. Florovskij, Puti, S. 392). Wir benutzen dieses Argument auch für Solov'ev, weil er die Texte der Kirchenväter zwar gut kannte, sie aber nie zitierte (außer mehrmals in REU). 28 29
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lov'evs und der griechischen Kirchenväter über die Gotteserfahrung weisen wir dagegen des öfteren hin. Sie beruhen auf Solov'evs breiter Kenntnis der Kirchenväter. - Schließlich kann diese Arbeit die Interpretationsgeschichte des Denkens Solov'evs nicht darstellen und sich mit ihr auseinandersetzen. Dies würde den Rahmen unseres Themas sprengen. Außerdem gibt es zum Thema „Erfahrung bei Solov'ev" in dieser Hinsicht kaum Material. Wir setzen uns mit anderen Interpretationen der Erkenntnislehre Solov'evs sowie der Einflüsse auf seine Lehre daher nicht zusammenhängend auseinander, sondern jeweils an den Stellen unserer Interpretation, die das sachlich nahelegen. 3. Das Ziel Das begrenzte Ziel dieser Arbeit ist es, eine Lücke in der Solov'ev-Forschung zu füllen: die Klärung der Rolle der Erfahrung im Denken Solov'evs. Darüber hinaus steht unsere Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs gegen die von den meisten Interpreten angenommene Trennung des gesamten Denkens Solov'evs in mehrere unterschiedliche Perioden. Wir wollen zu einer einheitlichen Gesamtschau der Erkenntnislehre Solov'evs in allen seinen Lebens- und Schaffensperioden beitragen - einer Sicht, die bisher umstritten ist 3 2 . Unser Ziel war es, Zerstreutes und Ungeordnetes zur Erkenntnislehre im Werk Solov'evs zu vergleichen und zu systematisieren. Diese Arbeit soll Belege für die Einheit der Erkenntnislehre Solov'evs geben. Wir vertreten die These, daß die mystische Erfahrung die Grundlage der Einheit der philosophischen Erkenntnislehre Solov'evs von 1877 an ist, und daß mystische und religiöse Erfahrung zusammen die Grundlage der Einheit der gesamten Erkenntnislehre Solov'evs bilden. Es war auch unser Ziel, Solov'ev in seiner Erkenntnislehre als christlichen und orthodoxen Denker zu erweisen. Für Teile seiner spekulativen Metaphysik, seiner Schöpfungslehre und seiner Sophiologie bestreitet man nicht ohne Grund Solov'evs Rechtgläubigkeit im konfessionellen wie im allgemein christlichen Sinn. Für seine Erkenntnislehre gilt nach unserer Sicht das Gegenteil. Solov'ev will mit seiner philosophischen Erklärung der Aufgabe der mystischen Erfahrung für die Erkenntnis der Wahrheit eine christliche Metaphysik begründen. Seine theologische Erklärung der Wege der religiösen Erfahrung ist nach unserer Sicht nicht gegen die Orthodoxie gerichtet, sondern selbst orthodox und vom patristischen Denken beeinflußt: es geht
3 2 Eine einheitliche Sicht der Erkenntnislehre Solov'evs hat L.Müller gegeben (L.Müller, Das religionsphilosophische System Vladimir Solovjevs). Die meisten russischen Interpreten Solov'evs finden dagegen in Übernahme der Sicht E.Trubeckojs (vgl. E. Trubeckoj, Mirosozercanie VI. S.Solov'eva, Bd. I, S. 258ff., Bd. II, S. 231 ff.), „selbst in den grundlegendsten gnoseologischen Theorien Solov'evs keine Einheit" (so V.Zen'kovskij, Istorija russkoj filosofii, Bd. II, S. 63).
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Solov'ev um christliche Gotteserfahrung. Dies belegen wir für Solov'evs Denken über die Aufgabe, die Voraussetzungen und die Methoden der religiösen Erfahrung 3 3 sowie für sein Denken über die Theologie als mystische Theologie und Erfahrungstheologie 3 4 . Außerdem wird darauf hingewiesen, daß Solov'evs Sinngebung der religiösen Erfahrung durch das Gottmenschentum Christi, die ganz zentral für sein Denken ist, eine Reflexion orthodoxer Theologie ist 35 . Eine ganz andere Frage ist die nach dem Inhalt der persönlichen mystischen Erfahrungen Solov'evs. Ob seine Sophia-Visionen orthodox im kirchlichen Sinn sind, muß man bezweifeln. Dieser Frage gehen wir aber nicht weiter nach, da sie mit Solov'evs Denken über die erkenntnistheoretische Funktion der mystischen Erfahrung, das uns beschäftigt, nur indirekt zusammenhängt. Der in der orthodoxen Theologie des 20.Jahrhunderts als Neopatristiker einflußreiche G. Florovskij hat Solov'evs eigene mystische Erfahrung mit beachtenswerten Gründen als „nicht-kirchliche Erfahrung... einer spekulativen Theosophie" bezeichnet 3 6 . Daraus aber zu schließen, wie Florovskij es tut, daß Solov'ev in seinem ganzen Denken „mit dem Neuplatonismus und mit der neuen deutschen Mystik 3 7 mehr und enger verbunden ist als mit der Erfahrung der Großkirche und mit der Mystik der einen katholischen Kirche" 3 8 , heißt, den Inhalt der persönlichen Erfahrung Solov'evs und ihren Einfluß auf sein erkenntnistheoretisches Denken überzubewerten. Dieser Ansicht Florovskijs und mit ihm vieler orthodoxer Theologen der Gegenwart gegenüber heben wir die orthodoxen Elemente der theologischen Erkenntnislehre Solov'evs hervor.
3 3 Eine heterodoxe Sicht des Weges der religiösen Erfahrung kann man dagegen in Teilen der Gedanken Solov'evs zur geschlechtlichen Liebe finden. S. u. S. 268—271. 3 4 Vgl. F. Heiler, Die Ostkirchen, S. 114. 3 5 S.u. S. 331 f. 3 6 G. Florovskij, Puti, S. 316. 3 7 Florovskij nennt als deren Solov'ev beeinflussende Vertreter J. Böhme, A . Schopenhauer und E. von Hartmann. 38 G.Florovskij, e bd.
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ERSTER TEIL
Leben und Werk Solov'evs
1. Solov'evs geistige, seelische und religiöse Entwicklung Der folgende Uberblick über Solov'evs geistige und seelische Entwicklung ist kein repräsentativer Lebenslauf, sondern soll nur eine erste Einführung in Solov'evs vielschichtige Persönlichkeit unter dem Blickwinkel unseres Themas geben. Bei jeder Analyse des Denkens Solov'evs zu einem bestimmten Thema ist sein Werk mit seinem Leben zusammenzusehen. Denn Solov'evs Leben hatte tiefe Auswirkungen auf sein Denken, und seine Philosophie und Weltanschauung lebte Solov'ev in einzigartiger Weise in seinem eigenen Leben 1 . Wie Piaton, bei dem Solov'ev den Zusammenhang zwischen Leben und Philosophie beschrieb 2 , hatte auch Solov'ev sein eigenes „Lebensdrama", dessen Stationen sein Denken mehrmals in neue Richtungen lenkte 3 . E i n e B i o g r a p h i e , die L e b e n u n d Werk S o l o v ' e v s z u s a m m e n betrachtet, hatte es lange nach S o l o v ' e v s T o d nicht g e g e b e n 4 . D i e i n z w i s c h e n v o r l i e g e n d e n S o l o v ' e v B i o g r a p h i e n S . M . S o l o v ' e v s 5 , des N e f f e n u n s e r e s P h i l o s o p h e n , K . M o c u l ' s k i j s 6 , D . S t r é m o o u k h o f f s 7 u n d L . M ü l l e r s 8 tun dies n u n sehr detailliert. A u f sie sei z u r g e n a u e r e n I n f o r m a t i o n ü b e r S o l o v ' e v s L e b e n u n d Werk v e r w i e s e n .
Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Weg zur Una Sancta, S. 180. Vgl. ¿ D P IX, 194 ff. 3 Vgl. L. Müller, Anmerkungen zu S O B , D G VIII, 397. 4 Das einflußreiche Werk E. Trubeckojs über Solov'evs Weltanschauung (E. Trubeckoj, Mirosozercanie VI. S.Solov'eva, Bd.e I u. II, 1913), stützte sich nur auf seine theoretischen Schriften. Vgl. Anm.29 (zu S.28). 5 S. M.Solov'ev, Zizn' i tvorceskaja èvoljucija Vladimira Solov'eva, vollendet 1923, aber erst 1977 veröffentlicht. 6 K.Mocul'skij, Vladimir Solov'ev. Zizn' i ucenie, 1936. 2 1951. 7 D. Strémooukhoff, Vladimir Soloviev et son oeuvre messianique, 1935. 1975. Wir benutzten und zitieren die englische Ubersetzung von E. Meyendorff, Vladimir Soloviev and His Messianic Work, 1980. 8 Vgl. Anm. 30 (zu S. 28). Besonders L. Müllers Aufsatz „Solov'evs Leben und Werk" = D G Biogr., S. 18-35, bietet einen guten ersten Überblick. 1
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1.1 Einflüsse in Kindheit, Jugend und Studium Vladimir Sergeevic Solov'ev 9 wurde am 16. Januar 1853 1 0 in Moskau geboren. Die Familie, in die hinein er als viertes von zwölf Kindern geboren wurde, war eine Altmoskauer Familie, gebildet und mit christlicher orthodoxer Tradition. Sein Großvater, Michail Vasil'evic, war Priester und Religionslehrer. Sein priesterlicher Dienst wurde zum Vorbild für Solov'evs eigene Arbeit 1 1 . Solov'evs Vater, Sergej Michajlovic (1820-1879), war ein berühmter Historiker, Professor für russische Geschichte an der Moskauer Universität und Autor der 29bändigen „Geschichte Rußlands". Seine historische Weltsicht, sein Interesse am Entwicklungsprozeß der Menschheit und seine grundsätzliche Uberzeugung, daß die weltgeschichtliche Entwicklung an ihr Ende gekommen ist, hat Solov'ev von seinem Vater übernommen 1 2 . Dem ihm heilig erscheinenden Großvater und dem patriarchalischen, aber in seinen Ansichten liberalen Vater blieb Solov'ev in seinem Denken immer verpflichtet. Dafür ist die Widmung seines Spätwerks „Rechtfertigung des Guten" (1897) an beide ein Zeugnis 1 3 . Vor allem durch seine Mutter Poliksena Vladimirovna wuchs Solov'ev in einer Atmosphäre orthodoxer Frömmigkeit auf. Sie war übrigens eine entfernte Verwandte des ukrainischen Wanderphilosophen Grigorij Savvic Skovoroda ( 1 7 2 2 - 1 7 9 4 ) , mit dem Solov'ev gemeinsame asketische Züge hat 1 4 . Im Alter von neun Jahren durchlebt Solov'ev zum erstenmal eine unglückliche Liebesgeschichte. Das unerreichte Ziel seiner Liebe ist ein gleichaltriges Mädchen, das ihn verschmäht. Das Bemerkenswerte an dieser Geschichte, über die Solov'ev 36 Jahre später in seinem wichtigsten autobiographischen Gedicht, den „Drei Begegnungen" 1 5 , berichtet, ist die Verbindung dieser unglücklichen Liebe zu einem Mädchen mit einer übernatürlichen Schau des Ewig-Weiblichen, der himmlischen Frau Sophia 1 6 . Diese Verbindung nicht erfüllter Liebesbeziehungen zu Frauen mit mystischen Visionen sollte sich bei Solov'ev mehrmals im Leben wiederholen. Solov'evs Gymnasialzeit fällt in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der Liberalisierung und des Umbruchs in Rußland. Der Positivismus 9 In dieser Arbeit wird für sämtliche russischen Wörter und Namen die im deutschen Sprachraum gültige bibliothekarische Transliteration verwendet. Die Aussprache des Namens Solov'evs wird in der populären Transskription dem deutschsprachigen Leser deutlicher: Wladimir Ssergéjewitsch Ssolowjów. 1 0 Die Lebensdaten Solov'evs sind nach dem damals in Rußland geltenden Julianischen Kalender (dem „Alten Stil") angegeben. Das sind im 19. Jahrhundert zwölf Tage, im 20. Jahrhundert dreizehn Tage nach unserem Gregorianischen Kalender. 11 K. Mocul'skij, Zizn', S. 12. 1 2 A.a.O., S. 13. 1 3 OD VIII, S.V. 1 4 Vgl. V. Èrn, Gregorij Sawic Skovoroda. Zizn' i ucenie, S. 341. 1 5 „Tri svidanija" (1898), RG XII, 8 0 - 8 6 ( = DG Biogr. Nr. 100, S. 2 6 7 - 2 7 5 ) . 1 6 Vgl. F. von Lilienfeld, Sophia - die Weisheit Gottes, passim.
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und Materialismus der 60er Jahre, besonders Pisarevs und des populären Ludwig Büchner, hinterließen ihre Spuren bei Solov'ev 1 7 . Wie viele seiner Altersgenossen durchlief Solov'ev auf dem Gymnasium „alle Stadien der Verneinung und des Skeptizismus", wie Solov'ev es selbst beschrieb 1 8 , eine Phase des Atheismus und groben Materialismus Büchners, dann des Positivismus Comtes. Solov'ev hat später diese Zeit seiner Jugend „Epoche der Ablösung zweier Katechismen" genannt: Der „vorsintflutliche Katechismus" des orthodoxen Metropoliten Filaret, der Solov'ev in Schule und Haus gelehrt worden war, „wurde durch die ebenso verpflichtende Autorität Ludwig Büchners ersetzt" 1 9 . Erst während des dreijährigen Studiums an der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Moskau von 1869 bis 1872 ist Solov'ev zunehmend über die naturwissenschaftliche Erkenntnis desillusioniert. Sie befriedigt seine Suche nach letzten Antworten nicht mehr. Deswegen wendet sich Solov'ev der Philosophie zu, zunächst weitgehend im Selbststudium. Von 1872 bis 1873 studiert er dann offiziell an der historischphilosophischen Fakultät der Universität Moskau und schließt sein Studium als „Kandidat der philosophischen Wissenschaften" ab. In diesen Jahren zwischen 1871 und 1873 ereignet sich der einzige echte Bruch im Denken Solov'evs 2 0 : der Bruch vom jugendlichen Materialismus und Positivismus zu dessen völliger Überwindung in einer religiösen Philosophie. Seine öffentliche Tätigkeit als Dozent und bereits seine erste philosophische Veröffentlichung 2 1 beginnt Solov'ev nach eigener Aussage innerlich gefestigt und offenkundig „mit metaphysischen Ansichten und sogar mystischen Uberzeugungen" 2 2 . Wie war dieser völlige Umbruch möglich? Zunächst war das Studium Piatons und des Piatonismus der Ausgangspunkt der Rückkehr Solov'evs zum Theismus und zur religiösen Philosophie 2 3 . Z u m Christentum zurück führt Solov'evs Weg ausgerechnet über Spinoza, nach eigenem Zeugnis seine „erste Liebe im Bereich der Philosophie" 2 4 , weiter dann vor allem über den Idealismus J a c o b i s 2 5 und Schellings 2 6 , und schließlich über die von Solov'ev so Vgl. L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 47. Pis'mo k N. Ja. Grotu (1890), RG VI, 274. 1 9 A.a.O. S. 270. 2 0 So auch L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 47. 2 1 „Mifologiceskij process ν drevnem jazycestve" (1873), RG 1,1-26. 2 2 Pis'mo k N. Ja. Grotu, RG VI, 274. 2 3 Vgl. D. von Usnadse, Weltanschauung, 18. 2 4 PB IX, 3. 2 5 Einfluß auf Solov'ev hatte Jacobi sicher über den Philosophen der Moskauer Geistlichen Akademie, V.D. Kudrjavcev-Platonov, bei dem er während seines Studienjahres an der Geistlichen Akademie hörte. Vgl. B.Scbultze, Fundamentaltheologie, S. 7 4 - 7 8 ; vgl. Th.Spácil, Doctrina theologiae Orientis separati, Bd. I, S. 170 ff. 2 6 Daß Schelling der „Inspirator der frühen Philosophie Solov'evs" ist (so L. Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, 354), kann nicht bestritten werden, obwohl Solov'ev ihn kaum je erwähnt (außer KZF I, S. 105, Anm. 78 und S. 116). Einen entscheidenden Einfluß besonders des späten Schelling auf Solov'ev sehen L. Lopatin (Filosofskoe mirosozercanie, S. 59), A. Koschewnikoff (Geschichtsphilosophie, S.305) und L.Müller (Solovjev und der Protestantismus, S.93ff.). 17
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genannte „neue M e t a p h y s i k " Schopenhauers und Eduard von H a r t m a n n s 2 7 . D i e Spuren Spinozas und Jacobis lassen sich zum Beispiel in Solov'evs früher Erkenntnistheorie noch deutlich spüren: In seinen ersten Schriften ist Solov'evs Erkenntnistheorie eine Synthese der Anschauung Spinozas von der Einheit aller Erkenntnisgegenstände in G o t t und Jacobis Lehre vom „inneren Sinn" oder dem „Vernunftgefühl" als unmittelbarer Erkenntnisart des Menschen, die auch G o t t erkennt 2 8 . Solov'ev ist nun überzeugt, daß er jenseits der kindlichen Katechismus-Vorstellung von G o t t und auch jenseits eines „abstrakten Vernunftbegriffs" von G o t t , die er beide hinter sich gelassen hat, den wirklichen und lebendigen G o t t des Christentums erkennen wird, „der nicht ferne von einem jeglichen unter uns ist; denn in ihm leben, weben und sind w i r " 2 9 (Apg. 17, 27f.). Wohl vor allem durch den Einfluß Schellings k o m m t Solov'ev 1872 für sich selbst zu der U b e r z e u g u n g , daß „alle Fragen, die die Vernunft stellte, aber nicht beantworten konnte 3 0 , für sich eine Antwort in den tiefen Geheimnissen der christlichen Lehre finden, und daß der Mensch an Christus nicht mehr allein deswegen glaubt, weil in Ihm alle Bedürfnisse des Herzens ihre Befriedigung finden, sondern auch deswegen, weil durch Ihn alle Aufgaben des Intellekts und alle Forderungen des Wissens erfüllt werden. Der Glaube aus dem H ö r e n wird v o m Glauben der Vernunft abgelöst w e r d e n . " 3 1
Die Wende im Leben Solov'evs vom Materialismus zum lebendigen und zugleich vernünftigen Glauben an Gott in Christus war die Folge seiner Beschäftigung mit der Philosophie Piatons, Spinozas, des transzendentalen Idealismus und Schopenhauers. Er hatte praktische Konsequenzen in Solov'evs Leben. Die für sein inneres Leben tiefste Spur hinterließ ein dem denkerischen Umbruch folgendes Schlüsselerlebnis des 19jährigen Solov'ev im Mai 1872, über das er 20 Jahre später in Form einer autobiographischen Erzählung berichtet hat 3 2 . Solov'ev war in jenem Jahr in seine 16jährige Cousine Ekaterina (Katja) Romanova ernsthaft verliebt, allerdings mit „wenig echtem Gefühl", sondern eher mit einer „erhabenen, philosophischen und didaktischen Liebe", die sich in seinen zahlreichen Briefen an Katja äußert 33 . Diese Liebe führte zu keiner dauerhaften Beziehung, obwohl Katja noch drei Jahre danach an die Möglichkeit einer Ehe mit Solov'ev glaubte. Der Grund war Solov'evs Erlebnis auf der Fahrt nach Char'kov zu einem E.Trubeckoj spricht gar von Schelling als „Solov'evs Nemesis", da er sich vom Einfluß des „Schellingschen Gnostizismus" nie habe abgrenzen können (£. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 59). So weit reicht aber Schellings Einfluß nicht. 2 7 Uber Schopenhauer und E. von Hartmann und sein Verhältnis zu ihnen urteilt Solov'ev ausführlich in seinen frühen philosophischen Hauptwerken „Krise der westlichen Philosophie" und „Kritik der abstrakten Prinzipien". In beiden Werken legt er seine Stellung zur gesamten abendländischen Philosophie dar. 2 8 Vgl. B. Cicerin, Misticizm, S. 137f. 2 9 Brief an Ekaterina Romanova Nr. 11 (1872), Ρ III, 75. 3 0 Gemeint sind Solov'evs eigene kritische Fragen, die ihm die „Katechismuswahrheiten" zerstörten. 3 1 Ρ III, 75. 3 2 „In der Morgenröte einer nebelhaften Jugend" (1892), ZTJu XII, 289-302, hier 289. 3 3 So K. Mocul'skij, 2izn', S. 27; vgl. ZTJu XII, 289; Ρ III, 57-106.
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Treffen mit Katja. Während der Eisenbahnfahrt entbrannte in ihm körperliche Leidenschaft für eine ihm unbekannte, junge, verheiratete Frau. Deren Gesicht verwandelte sich, während er erst in Gefühle der Scham und darauf in eine kurze O h n m a c h t fiel, in ein in rosa Licht gehülltes Antlitz einer überirdisch schönen Frau. Solov'ev beschreibt sein inneres Erlebnis in seiner Erzählung s o : „ I n mir g e s c h a h e t w a s W u n d e r b a r e s . S o z u s a g e n mein g a n z e s Wesen mit allen G e d a n k e n , G e f ü h l e n (cuvstva) u n d B e s t r e b u n g e n s c h m o l z in ein u n e n d l i c h e s , s ü ß e s , helles und l e i d e n s c h a f t s l o s e s G e f ü h l ( o s c u s c e n i e ) , u n d in d i e s e m G e f ü h l spiegelte sich, w i e in einem reinen Spiegel, u n b e w e g t ein einziges w u n d e r b a r e s Bild, u n d ich fühlte ( c u v s t v o v a l ) u n d w u ß t e , daß in d i e s e m einen alles w a r . Ich liebte mit einer neuen, a l l u m f a s s e n d e n u n d unendlichen L i e b e u n d e r f u h r (oscutil) in ihr z u m ersten Mal die F ü l l e u n d den Sinn des L e b e n s . " 3 4
D u r c h diese überraschende, aber wahrhaft mystische Erfahrung der AllEinheit 3 5 , durch diese neue Erfahrung einer sich selbst vergessenden und leidenschaftslosen Liebe gerade nach Augenblicken körperlicher Leidenschaft, die ihn gegen seinen Willen ergriffen hatte, wurde Solov'ev nach seiner eigenen Aussage klar, „daß G o t t im Menschen ist, daß es das G u t e und wahrhafte Freude im Leben g i b t " 3 6 . Diesen unauslöschbaren „göttlichen F u n k e n " (bozestvennaja iskra) sah Solov'ev auch in K a t j a 3 7 , aber ihre Liebe zu ihm konnte und wollte er nicht erwidern. Er brach die Beziehung zu ihr 1873 schließlich ganz ab 3 8 . In seinen Briefen an sie erweist er sich als tiefgläubiger Christ mit festen theologischen U b e r z e u g u n g e n 3 9 und ringt sich schließlich gegen die Aussicht auf Ehe und Familienleben zu dem Entschluß durch, sein Leben ganz der A u f g a b e zu weihen, für das Christentum eine neue, vernünftige D e n k f o r m zu erarbeiten, die zur allgemeinen U b e r z e u g u n g werden kann 4 0 . In solcher F o r m wird das Christentum d a n n davon ist Solov'ev in diesen frühen Jahren überzeugt - die ganze Welt verändern und das G u t e triumphieren lassen 4 1 . Solov'ev nimmt sich also allen Ernstes vor, mit seinem D e n k e n die Welt zu verändern, denn er sieht
ZTJu XII, 299. Als mystische Erfahrung bezeichnet wegen dieser seiner eigenen Beschreibung Solov'evs Erlebnis auch D. Strémooukhoff (Messianic Work, S. 30). Die Erfahrung, daß alles eins ist, hat Solov'ev in seinen theoretischen Schriften in seiner All-Einheitslehre ausgedrückt, besonders in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" (vgl. K O N II, 284. 287) und in den „Vorlesungen über das Gottmenschentum" (vgl. C B III, 144). 3 6 ZTJu XII, 300. 3 7 Brief Nr. 7 an E. Romanova (1872), Ρ III, 68. 3 8 Vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 28. Mocul'skij schließt mit Recht aus Solov'evs Briefen, daß er Katja nie wirklich geliebt habe, aber auch nicht gewagt habe, ihr das offen zu sagen. 3 9 Vgl. S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S. 95. 4 0 Briefe Nr. 15 und 18 an E. Romanova, Ρ III, 82 und 88 f. 4 1 A.a.O. S.88f. 34
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optimistisch die Zeit reif für den „bewußten Glauben, der auf die Entwicklung der Vernunft gegründet ist" 4 2 . Die Konsequenz seines Bruchs mit dem Naturalismus und Materialismus, die Folge seiner mystischen Erfahrung, seines lebendigen Glaubens an Gott und seiner Absicht, „an der theologischen Glaubenslehre zu arbeiten" 4 3 ist sein Studium an der Moskauer Geistlichen Akademie im DreifaltigkeitsSergij-Kloster in Sergiev Posad 4 4 im Studienjahr 1873/1874. Solov'ev lebte dort als Gasthörer ein Jahr zusammen mit den zukünftigen Priestern und Mönchen und studierte Theologie und Philosophie, besonders die Kirchenväter. Man kann den Einfluß, den das gemeinsame geistliche Leben in einem solchen orthodoxen Seminar und einer solchen Akademie auf das weitere Denken eines dort Studierenden ausübt, schwerlich überschätzen. Auf Solov'evs weiteres Denken hatte dieses Studienjahr entscheidenden Einfluß. Es war das erste Mal - und erregte in den Kreisen Moskaus, in denen Solov'ev bis dahin verkehrte, entsprechendes Aufsehen-, daß ein Universitätskandidat das gesellschaftlich nicht geachtete Theologiestudium aufnahm 4 5 . Solov'ev setzte sich über diese Vorurteile hinweg, um durch sein Theologiestudium in der Lage zu sein, seine selbstgestellte Lebensaufgabe zu erfüllen-die vernünftige Darlegung des christlichen Glaubens. Kein Zweifel: seinem Theologiestudium und besonders seiner Beschäftigung mit den griechischen Kirchenvätern verdankt Solov'ev, daß sein Leben lang sein Denken von den Grundmotiven der orthodoxen Theologie bestimmt wurde - besonders von dem Gedanken der Vergöttlichung des Menschen und der Welt als Folge der Menschwerdung Gottes in Christus 4 6 . Nachhaltige Spuren hat im Werk Solov'evs sein Studium Orígenes' hinterlassen, so daß W. Szylkarski Solov'ev gar als „russischen Orígenes" bezeichnen k o n n t e 4 7 . Weiter ist durch eigene Äußerungen Solov'evs bekannt, daß er besonders die Schriften von Gregor von Nyssa, Athanasius dem Großen, Pseudo-Dionysius Areopagita, Maximus Confessor und Duns Scotus in jenem Jahr studiert und seitdem stets hochgeschätzt h a t 4 8 . F ü r Solov'evs Anthropologie und seine Lehre vom G o t t menschentum sind diese Kirchenväter die entscheidenden Quellen und Richtungsweiser gewesen.
Brief Nr. 11 an E. Romanova, Ρ III, 75. Brief Nr. 18 an E. Romanova, Ρ III, 89. 4 4 Sergiev Posad ist das heutige Zagorsk, nördlich von Moskau gelegen. In Rußland gab und gibt es keine theologischen Fakultäten an den Universitäten. Die Moskauer Geistliche Akademie war für Solov'ev mit ihrer ausgezeichneten Bibliothek der ideale Studienplatz für das Selbststudium. Zum Mönchtum, das er im dortigen Kloster aus eigener Anschauung kennenlernte, fühlte er sich aber nie berufen, denn „die Zeit ist gekommen, nicht aus der Welt zu fliehen, sondern in sie zu gehen, um sie zu verwandeln" (P III, 89). 4 5 Vgl. S. M.Solov'ev, Zizn', S. 8 7 - 9 2 , hier S. 89. 4 6 Vgl. L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 533. 540. 47 W. Szylkarski, Das philosophische Werk, S. 3; ders., Solowjews Philosophie der AllEinheit, S. 40. 4 8 Vgl. ders., Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 40. 42
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Auch die philosophischen Einflüsse auf Solov'ev während seines Jahres an der Moskauer Geistlichen Akademie können kaum überschätzt werden. Solov'ev hatte in seinem ganzen Leben nur einen philosophischen Lehrer, Pamfil Danilovic Jurkevic (1827-1874), Professor an der Moskauer Universität, bei dem Solov'ev bis 1873 studiert hatte und der ihm den eigenen Weg zum Katheder der philosophischen Fakultät innerlich nahebrachte. Es wird weiter unten gezeigt 4 9 , wie Jurkevic mit seiner patristisch inspirierten Lehre vom Herzen als dem zentralen Erkenntnisorgan des Menschen den philosophischen Haupteinfluß auf Solov'ev ausübte 5 0 und ihm quasi ein Programm zu seiner eigenen philosophischen Entwicklung bot. In den Grundüberzeugungen seiner Erkenntnislehre ist Solov'ev von Jurkevic abhängig 5 1 , nämlich in der Harmonie von Glauben und Wissen und der Verbindung von Erkenntnis und Moral. Befruchtend und wegweisend war für Solov'ev aber auch der Philosophieprofessor der Geistlichen Akademie, V . D . Kudrjavcev-Platonov. Er vertrat eine Synthese aus dem Piatonismus einer metaphysischen Ideenwelt, aus cartesianischem Rationalismus, metaphysischem Monismus und einer an Jacobi und Schelling geschulten Lehre unmittelbarer Erkenntnis durch den Intellekt des Menschen 5 2 . Nach Kudrjavcev-Platonov nimmt der Intellekt (um, νους) des Menschen Gott unmittelbar wahr (neposredstvennoe vosprijatie Boga) S 3 . Dies hat er auch als mystische Erfahrung (misticeskij opyt) des Intellekts bezeichnet 5 4 . Diese Anschauungen und diese Begrifflichkeit hat der junge Solov'ev, wie wir sehen werden, übernommen 5 5 . Wohl auch unter Kudrjavcev-Platonovs Einfluß hat er von Philon und Plotin soviel für seine Spekulation über die Dreifaltigkeitslehre übernommen 5 6 , daß man Solov'ev als „Nachfolger der alexandrinischen Schule" bezeichnet hat 5 7 . Gleichzeitig hat sich Solov'ev aber selbständig mit Jacobi und Schelling auseinandergesetzt. Fest steht auch, daß Solov'ev sich in der Bibliothek der Geistlichen Akademie eingehend mit Jakob Böhmes Schriften beschäftigt hat 5 8 . Solov'evs Lehre von der himmlischen Sophia als der „Materie" 5 9 oder dem „Körper" Gottes 6 0 , der ewigen Weltseele 61 oder der All-Einheit des Universums in G o t t 6 2 - diese Lehre von der Sophia als dem göttlichen Urgrund der Welt, die Solov'ev in verschiedenen Variationen 63 seit 1875
49 50 51 52 53 54 55
S.21.
S. u.S. 107-109. So auch: È. Radlov, Nekrolog, S. 34; V. Velicko, ¿izn', S. 21. So auch: K. Mocul'skij, Zizn', S. 114f.;/. Palan, Theory, S. 289f. Vgl. V. Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 7 9 - 8 8 . V.D. Kudrjavcev-Platonov, Socinenija, Bd. 1/3, S. 325. Ders., Socinenija, Bd. 1/2, S. 88. Vgl. E. Radlov, Teorija, S. 164; B. Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 74; V! Velicko, Zizn',
5 7 L. Lopatin, Vgl. CB III, 80 f. Solov'ev i Trubeckoj, S. 363. Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 40. 5 9 CB III, 115.180. 6 0 CB III, 115. 127.141. 6 1 CB III, 127. « CB III, 115; REU, FS, 249 ( = DG, III, 339). 6 3 Wir gehen in unserer Arbeit nur auf Solov'evs Sophiavisionen, nicht auf seine Sophiologie ein. Wir merken hier nur an, daß Solov'ev zunächst die himmlische Weisheit mit der ewigen Seele der Welt in ihrem Idealzustand identifizierte (CB III, 115), dann aber Sophia und Weltseele als durch den Fall der letzteren getrennt betrachtete und es als das Ziel der Geschichte bezeichnete, daß die Weltseele durch die in Christus, Maria und der Kirche inkarnierte göttliche Weisheit (REU, FS, 265 = DG III, 366) mit eben dieser Weisheit wieder eins wird (REU, FS, 266 = DG III, 368). Die Sophia ist dann am Ziel der Geschichte die mit Gott vereinte Menschheit und Natur, eben wieder die Weltseele (ICAK IX, 188). Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Philosophie 56
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bis zu seinem Tod vertreten hat, ist eindeutig von B ö h m e abhängig 6 4 . Auch F r a n z von Baaders „Erotische Philosophie" hat Solov'ev gelesen. Seine Sophiologie hatte er aber bereits durch B ö h m e inspiriert formuliert, als er die Ähnlichkeit seines eigenen sophianischen Denkens mit dem Baaders entdeckte 6 5 . S o h a t t e S o l o v ' e v alle r i c h t u n g s w e i s e n d e n A n s t ö ß e f ü r sein D e n k e n v o r u n d w ä h r e n d s e i n e r Z e i t an d e r M o s k a u e r G e i s t l i c h e n A k a d e m i e e m p f a n g e n - d e n g r o ß e n Teil d a v o n d u r c h sein e i g e n e s S t u d i u m . A m E n d e s e i n e r S t u d i e n ist e r s o w o h l c h r i s t l i c h e r P h i l o s o p h als a u c h o r t h o d o x e r
Laientheologe66.
Dieses Nebeneinander und Miteinander von kritischer Philosophie metaphysische
Denkvoraussetzungen
und bewußt
auf d e m
ohne
christlichen
G l a u b e n b e r u h e n d e r T h e o l o g i e bleibt c h a r a k t e r i s t i s c h f ü r S o l o v ' e v s D e n k e n bis z u s e i n e m T o d 6 7 . B e s o n d e r s die b i b l i s c h e O f f e n b a r u n g , die K i r c h e u n d ihre S a k r a m e n t e h a t e r als G o t t e s G n a d e n g a b e n in s e i n e r Argumentation
stets
vorausgesetzt68,
auch
wenn
theologischen
er g l e i c h z e i t i g
philo-
s o p h i s c h die R e c h t e des S k e p t i z i s m u s v e r t e i d i g t 6 9 . S o bleibt S o l o v ' e v a u c h als k r i t i s c h e r P h i l o s o p h stets T h e o l o g e 7 0 .
der All-Einheit, S. 80; ders., Solowjews Weg zur Una Sancta, S. 156f.; E. Skobcova, Mirosozercanie, S. 1 9 - 2 2 . Solov'evs Sophialehre hat biblische Züge (Spr. 8, 22 f.), geht aber in ihrer Spekulation über die Weltseele weit darüber hinaus. Die Russische Orthodoxe Kirche hat Solov'evs Lehre nie verurteilt, wohl aber die Sophiologie Sergej Bulgakovs, der in dieser Hinsicht Solov'evs Schüler war (vgl. B. Schnitze, 75 anni, S. 168). In der Tat ist es fragwürdig, ob man Solov'evs Sophialehre noch in allem als christlich bezeichnen kann. Zwar will er mit seiner Sophiologie die Extreme des metaphysischen Dualismus wie des Pantheismus vermeiden (vgl. P. Miljukov, Ocerki, S. 196). Aber die Anerkennung des göttlichen Urgrundes der ganzen Welt in der Mitte zwischen Dualismus und Pantheismus verlangt noch nicht dessen Hypostasierung in der himmlischen Sophia (vgl. S.Frank, Duchovnoe nasledie, S.3f.). Im Gegenteil muß man vor dieser Hypostasierung warnen. Ihre Konsequenzen für die Trinitäts- und Schöpfungslehre ließ Solov'ev nämlich wohl deswegen offen, weil sie mit den biblischen Aussagen kaum vereinbar sind. Sein Schweigen an dieser Stelle ist für den Theologen beredt und Ausdruck ungelöster, wenn nicht unlösbarer Schwierigkeiten. S.u. Anm. 418 (zu S. 185). 6 4 Vgl. L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 60. 6 5 Vgl. E.Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S.611; L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 59. 6 6 Vgl. P. Miljukov, Ocerki, S. 195: Solov'evs Laientheologie trägt in ihrer Verbindung mit seiner Philosophie den spezifischen Zug, alles am christlichen Glauben Unverständliche zu erklären. 6 7 L.Müller spricht von den „zwei Sphären im Personsein und Bewußtsein" Solov'evs (L. Müller, Anmerkungen zu 3G, D G VIII, 539 f.). 6 8 Vgl./. Rupp, Message, S. 324. 6 9 Vgl. S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S. 96. 7 0 Das führte dazu, daß noch heute in der veröffentlichten sowjetischen Meinung Solov'ev als „philosophierendem Theologen" vorgeworfen wird, er habe versucht, „die Philosophie wieder in die Lage der mittelalterlichen Dienerin der Religion zurückzuversetzen" (L.Kogan, V.S. Solov'ev, S.384). Tatsächlich hat Solov'ev der Theologie eine höhere Stellung im Denken eingeräumt als der Philosophie (s. u. S. 84). 38
1.2 Solov'ev
als Theosoph.
Seine mystische
Erfahrung
Seine selbstgewählte L e b e n s a u f g a b e , den christlichen G l a u b e n in einer n e u e n , v e r n ü n f t i g e n F o r m d a r z u s t e l l e n u n d so die M e n s c h e n v o n der W a h r heit des C h r i s t e n t u m s zu ü b e r z e u g e n , w o l l t e Solov'ev von A n f a n g an - schon vor seinen t h e o l o g i s c h e n Studien in der Geistlichen A k a d e m i e - im A n s c h l u ß an die neueste E n t w i c k l u n g der w e s t l i c h e n P h i l o s o p h i e d u r c h philosophische A r b e i t v e r w i r k l i c h e n 7 1 . U m sie d u r c h z u f ü h r e n , strebte Solov'ev das p h i l o sophische L e h r a m t an der U n i v e r s i t ä t an. Die d a z u n o t w e n d i g e M a g i s t e r d i s sertation (sie entspricht der d e u t s c h e n D o k t o r a r b e i t ) u n d deren öffentliche Verteidigung in der M o s k a u e r U n i v e r s i t ä t gelangen d e m 2 1 j ä h r i g e n K a n d i daten bis E n d e 1874 g l ä n z e n d . Seine Dissertation mit d e m Titel „Die Krise der w e s t l i c h e n P h i l o s o p h i e (Gegen die P o s i t i v i s t e n ) " 7 2 w a r eine A b r e c h n u n g mit d e m gesamten R a t i o n a l i s m u s u n d P o s i t i v i s m u s u n d gab als Ziel aller z u k ü n f t i g e n p h i l o s o p h i s c h e n A r b e i t i m A n s c h l u ß an S c h o p e n h a u e r u n d E. v. H a r t m a n n , aber über sie h i n a u s g e h e n d , die universale S y n t h e s e v o n positiver W i s s e n s c h a f t , rationaler P h i l o s o p h i e u n d l e b e n d i g e r R e l i g i o n an. Seine eigene p h i l o s o p h i s c h e Position hatte Solov'ev d a m i t angezeigt, aber noch nicht a u s g e f ü h r t . Sofort nach seinem M a g i s t e r e x a m e n w u r d e S o l o v ' e v z u m P h i l o s o p h i e d o z e n t e n an der M o s k a u e r U n i v e r s i t ä t g e w ä h l t . Er ersetzte d i r e k t seinen k u r z z u v o r verstorbenen L e h r e r P. D. J u r k e v i c . D o c h seine erste L e h r t ä t i g k e i t w a r n u r k u r z . Auf seinen A n t r a g hin w i r d er v o m S o m m e r 1875 bis z u m S o m m e r 1876 für einen F o r s c h u n g s a u f e n t h a l t i m A u s l a n d b e u r l a u b t u n d arbeitet in der B i b l i o t h e k des Britischen M u s e u m s in L o n d o n . Er liest dort t h e o s o p h i s c h e L i t e r a t u r in d e m Bestreben, das G a n z e der W i r k l i c h k e i t einheitlich zu verstehen, das M e t a p h y s i s c h e i m Sichtbaren u n d das Geistige i m M a t e r i e l l e n zu f i n d e n . Er vertieft sich w i e d e r in B ö h m e s W e r k e u n d besonders in kabbalistische Schriften 7 3 . D e n n in der Kabbala w i r d die M a t e r i e , d e m D e n k e n Solov'evs entsprechend, als Schleier der w a h r e n W i r k l i c h k e i t , als letzte V e r k ö r p e r u n g des w a h r e n Seins gesehen. Solov'ev liest auch spiritistische L i t e r a t u r u n d trifft sich in L o n d o n r e g e l m ä ßig zu Séancen, denn er w i l l das Geistige i m M a t e r i e l l e n nicht n u r e r k e n n e n , sondern auch selbst erfahren, das Göttliche sichtbar w a h r n e h m e n 7 4 . Von der Vgl. Brief Nr. 18 an E. Romanova, P i l l , 89. Dies ist Solov'evs zweite Veröffentlichung. Wir geben in diesem Lebenslauf nur wenige Titel seiner Werke an. Im Literaturverzeichnis findet sich eine chronologisch geordnete Liste der von uns benutzten Werke Solov'evs. 7 3 Besonders erwähnt Solov'ev seine Lektüre von Christian Knorr von Rosenroths „Kabbala denudata" (Frankfurt/Main 1 6 7 7 - 1 6 8 4 ) , einem Kompendium der Kabbala für diejenigen, die des Hebräischen nicht kundig sind. Solov'ev selbst lernte erst später Hebräisch. Vgl. D.Strémootikhoff, Messianic Work, S. 4 9 - 5 3 und S. 49, Anm. 14. 7 4 Vgl. D. Strémooukhoff, Messianic Work, S. 48; Κ. Mocul'skij, Zizn', S. 26. Solov'evs Nähe zum Spirtitismus zeigt sich in jenen Jahren auch in seinen theoretischen Schriften in Bemerkungen wie der, daß die sichtbare Wirklichkeit nur eine Maske der echten Wirklichkeit sei, ein „Schleier der Isis" (vgl. M P N I , 199). Solov'ev beschäftigte sich besonders mit den Schriften 71
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Scharlatanerie der spiritistischen Zirkel, in die er geriet, wendet sich Solov'ev aber schnell wieder ab. Was ihm sein Leben lang zur erfahrbaren Verbindung von Diesseits und Jenseits wurde, fand er bei Böhme, in gnostischer und theosophischer Literatur, in der kabbalistischen Vorstellung der Emanation göttlicher Sphären aus dem verborgenen Gott und schließlich im Alten und Neuen Testament: die göttliche Weisheit, die Σοφία του Θεού, die malkut sephirot oder schechinah 75 , die Weisheit Salomos. Solov'ev versteht die göttliche Sophia mit Böhme als eine weibliche Personifikation des göttlichen Urgrundes der Welt und der göttlichen Gegenwart in der Welt in einer Gestalt von überirdischer Schönheit 76 . Ihr möchte er nun auch selbst begegnen, in ihr die Einheit von Geist und Materie, Göttlichem und Irdischem erfahren und unmittelbar erkennen. Die mystische Erfahrung der Sophia folgt. Solov'ev hat sie noch im gleichen Jahr 1875 in London und noch einmal 1876 in Ägypten. Er berichtete darüber 23 Jahre später in selbstironischen Versen in seinem Gedicht „Drei Begegnungen" 77 , das er als eine „kleine Autobiographie" über „das Wichtigste dessen, was mit mir im Leben geschehen ist", bezeichnete 78 . Dem Selbstzeugnis in diesem Gedicht zufolge sieht er dieselbe überirdisch schöne Frauengestalt, die ihm das erste Mal als Neunjährigem während der Feier der Göttlichen Liturgie in einer Kirche auf mystische Weise erschienen war 79 , nun im Lesesaal des Britischen Museums wieder. Er hatte die Begegnung mit der „Blüte der Gottheit" heiß erfleht und nun ihr Antlitz gesehen. Ihrem Ruf „Auf nach Ägypten!" gehorchend hatte er dann bald darauf in der thebaischen Wüste im Morgenrot seine entscheidende mystische Vision der göttlichen Sophia: „Ich sah das All, und alles war nur Eines, War meiner ew'gen Freundin holdes Bild, Und in dem Glänze dieses Himmelsscheines War alles um mich her und war mein Herz erfüllt." 80 Elena Petrovna Blavackajas (Helen Blavatsky), die 1875 in N e w York eine „Theosophische Gesellschaft" zur Ergründung spiritistischer und okkulter Phänomene gründete. Ihr Hauptwerk, „Isis entschleiert" (s. Literaturverzeichnis), erschien erst 1877. Solov'ev hat es später zusammen mit ihren weiteren Schriften als Ausdruck eines aggressiven Neo-Buddhismus bezeichnet. Vgl. RKB VI, 287-292, bes. S. 292, und ZB VI, 394-398. 75 Vgl. D.Strémooukhoff, Messianic Work, S. 49-53. Die Weisheit ist im Buch der Sprüche (Spr 8,22-9,1) personifiziert und spielt als präexistente himmlische Gestalt eine Rolle bei der Schöpfung der Welt und bei der Gotteserkenntnis der Menschen (ebenso: Jes. Sir. 24; Weish. Sal. 7,22-8,1). - In der christlichen Kabbala wurde die zweite der zehn Emanationen Gottes (sephirot) als Weisheit (chochmah) mit Christus identifiziert, die zehnte und letzte Emanation (malkut oder schechinah) mit der personifizierten Weisheit Salomos, der himmlischen Sophia. 76 Vgl. L. Müller, Solov'evs Leben und Werk, D G Biogr., S. 22; s.o. Anm. 63. 77 „Tri svidanija", RG XII, 80-86 (= D G Biogr., S. 267-275). 78 A.a.O. S. 86. 79 S.o.S. 32. 80 Wiedergabe in der deutschen Ubersetzung von L. Müller, a.a.O. S.273. - Im russischen Original kommt das Gleichgewicht der Vision, die gleichzeitig mystische Vision der All-Einheit
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Was Solov'ev hier beschreibt, ist die mystische Erfahrung der göttlichen All-Einheit alles Seienden. Er hatte sie im Bild seiner himmlischen „ewigen Freundin" wahrgenommen. Aus seiner Studienreise war für Solov'ev eine wahrhaft „theosophische Reise" 8 1 geworden: durch eigene mystische Erfahrung hatte er ein unmittelbares und ganzheitliches Wissen von der Wahrheit der einen geistig-materiellen, gottmenschlichen Wirklichkeit. Er fühlte sich durch seine mystischen Begegnungen mit der göttlichen Sophia in seiner Lebensaufgabe bestätigt und berufen 8 2 , eine „freie Theosophie" zu entwikkeln, das heißt ein „ganzheitliches Wissen" (cel'noe znanie) aus Philosophie und Theologie auf mystischer Grundlage, eine theoretische Formulierung seines unmittelbaren Wissens von der All-Einheit der Schöpfung in Gott 8 3 . Gleichzeitig sieht es Solov'ev nun als seine Aufgabe an mitzuhelfen, daß diese All-Einheit in der Menschheit praktisch verwirklicht wird, daß die Sophia durch die freie Mitwirkung des Menschen sich in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens der Menschen als die Einheit von Göttlichem und Menschlichem inkarniert. Dies ist die Aufgabe der „freien Theokratie", an der alle Menschen teilhaben und auf die Solov'ev durch seine Überlegungen bis hin zu politischen und kirchenpolitischen Empfehlungen immer wieder hingewiesen hat 8 4 . Zunächst wendet sich Solov'ev der Entwicklung seiner freien Theosophie zu. N a c h seiner Rückkehr nach Rußland 1876 arbeitet er an den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens". 1877 wechselt er an die Petersburger Universität über. Hier promoviert er im April 1880 zum D o k tor der Philosophie (was der Habilitation im deutschen Universitätssystem
und die Vision weiblicher Schönheit ist, noch etwas deutlicher zum Ausdruck. Die zweite und vierte Zeile dieser Strophe seines Gedichts, die der Vision der weiblichen Schönheit gewidmet sind, hat Solov'ev wie manche andere Züge seiner „Drei Begegnungen" in bemerkenswerter Nähe zu Puskins Liebesgedicht „K!;:f!:"" („Ja pomnju cudnoe mgnoven'e") geschrieben. Vgl. A.S. Pu s k in, Socinenija, Bd. I, S. 214. Puskin formulierte: „Peredo mnoj javilas' ty ... Kak genij cistoj krasoty" („Vor mir erschienst du . . . Als Genius reiner Schönheit"). Solov'evs Zeilen lauten ganz ähnlich: „Odin Iis' obraz zenskoj krasoty ... Peredo mnoj, vo mne - odna Iis' ty" („Ein Bild nur weiblicher Schönheit ... Vor mir, in mir - allein nur du"). Der erotische Charakter der Sophiavisionen, schon durch den Anlaß der Vision des neunjährigen Solov'ev gegeben und später immer stärker werdend, wird in diesem Vergleich der Gedichte Solov'evs und Puskins noch klarer. 81 Vgl. D.Strémooukhoff, Messianic Work, S. 47; S. M. Solov'ev, Zizn', S. 150. 82 Vgl. L. Müller, Solov'evs Leben und Werk, D G Biogr., S. 23. 83 Vgl. F N C Z I, 307; Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 244 (= D G VI, 344f.). - Unserer Erklärung des Denkens Solov'evs über die mystische und religiöse Erfahrung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Grundideen seiner Metaphysik, besonders aber seine Erkenntnislehre ohne Bezug auf seine Sophiologie darzustellen und zu erklären sind (so auch: V.Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 25). Wenn wir auf Solov'evs Sophiologie bei der Untersuchung seiner Erkenntnislehre nicht weiter eingehen, ist diese Beschränkung sachlich begründet: Solov'evs Erkenntnislehre erklärt sich nicht aus seiner Lehre über die Sophia, sondern aus seiner Analyse der Möglichkeiten menschlicher Erfahrung und Erkenntnis überhaupt. 84 Vgl. K O N II, 166. 354.
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entspricht) mit der Arbeit „Kritik der abstrakten Prinzipien", die weite Teile der unvollendet gebliebenen „Philosophischen Prinzipien" enthält. Wir werden auf die Erkenntnislehre in diesen Werken später eingehen. Das Zentrum des Denkens Solov'evs ist hier das Prinzip der All-Einheit in Gott, das die Prinzipen des Wahren, Guten und Schönen - Metaphysik, Ethik und Ästhetik - in einer synthetischen Einheit zusammenfaßt. Die christliche Idee des Gottmenschentums (bogocelovecestvo), der inneren Einheit von Gott und Mensch in Christus, die sich in jedem Menschen und in der gesamten Menschheit verwirklichen soll, entfaltet Solov'ev gleichzeitig in seinen vielbesuchten öffentlichen Vorlesungen in Petersburg, die unter dem Titel „Vorlesungen über das Gottmenschentum" (1877-1881) veröffentlicht wurden. Hier deutet sich Solov'evs Wende zur ausschließlichen Beschäftigung mit der Errichtung der „freien Theokratie" in späteren Jahren bereits an. Denn in diesen Vorlesungen vertritt er die Auffassung, die Kirche sei die Inkarnation der Sophia und müsse zusammen mit dem aktiven menschlichen Prinzip im christlichen Staat die Vergöttlichung der gesamten Menschheit bewirken, das heißt ihre Einheit mit Gott in einem universalen, gottmenschlichen Organismus - die vollendete freie Theokratie 8 5 . Seine Begegnung mit der Sophia hatte für Solov'ev noch eine andere, persönliche Inkarnation seiner „ewigen Freundin" zur Folge. Auch hier wieder können wir das nahe Beieinander von mystischer Erfahrung und irdischer Liebe zu einer Frau bei Solov'ev beobachten. Gleich nach seiner Rückkehr aus Ägypten nach Moskau und erfüllt von dem Wunsch, die Verkörperung der himmlischen Sophia in allen Lebensbereichen zu fördern, trifft er die mit einem bekannten russischen Diplomaten verheiratete Nichte des Dichters Aleksej K.Tolstoj, Sof'ja Petrovna Chitrovo, und verliebt sich auf der Stelle in sie. Er liebt sie mit einer idealen, sehr poetischen Liebe, die ihn zu vielen Gedichten anregt, und diese Liebe bleibt seine einzige lebenslange Liebe zu einer Frau 8 6 . Solov'ev erblickte in Sof'ja Petrovna das inkarnierte Bild seiner himmlischen Freundin 8 7 und verehrte sie abgöttisch, so daß er auf dem Höhepunkt seiner Liebe zu ihr seine Haltung selbstironisch als „Ikonenverehrung" (ikonopocitanie) bezeichnete 88 . Er sah aber nach einiger Zeit ein, daß seine Liebe keine echte Erwiderung bei Sof'ja Petrovna fand. So blieb diese Beziehung eine einseitige, bald von Melancholie erfüllte Traumliebe Solov'evs zu einer Frau, die keineswegs eine strahlende Inkarnation der ewigen Weiblichkeit war oder auch nur sein wollte 8 9 . Seine anfangs entzückte Verehrung und brennende Leidenschaft gegenüber Sof'ja Petrovna wan-
C B III, 171 f.; vgl. D.Strémooukhoff, Messianic Work, S. 72. Zur Beziehung Solov'evs zu S.P. Chitrovo vgl. S.M. Solov'ev, Zizn', S. 203-213 und K. Mocul'skij, Zizn', S. 107f. 197. 87 K. Mocul'skij, t\zn', S. 197. 8 8 Brief an S. A. Tolstaja Nr. 7, Ρ II, 205; vgl. S. M. Solov'ev, 2izn', S. 207. 89 S. M. Solov'ev, tiza', S. 206. 85
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d e l t e s i c h i n b e s t ä n d i g e s M i t l e i d m i t i h r u n d in w i e d e r h o l t e V e r s u c h e , i n i h r das g u t e P r i n z i p , die „ s c h l a f e n d e S o p h i a " z u w e c k e n 9 0 . - So f r u c h t b a r diese L i e b e S o l o v ' e v s a u f p o e t i s c h e m G e b i e t w a r , e i n e s h a t sie d e u t l i c h g e m a c h t : S o l o v ' e v s e l b s t w a r n i c h t in d e r L a g e , in s e i n e m p e r s ö n l i c h e n L e b e n d i e I n k a r n a t i o n der Sophia d u r c h die liebende Einheit v o n M a n n u n d
Frau
h e r b e i z u f ü h r e n - e t w a s , w a s e r s p ä t e r als d e n „ S i n n d e r L i e b e " b e z e i c h n e t hat. I h m w u r d e dies aber erst n a c h einer w e i t e r e n u n g l ü c k l i c h e n Liebesgeschichte b e w u ß t .
1.3 Freie Tbeokratie.
Solov'ev
und der
Katholizismus
Solov'evs Streben nach der u n b e d i n g t e n Einheit von T h e o r i e u n d Paxis bei seinen B e m ü h u n g e n u m die Verwirklichung der gottmenschlichen Einheit in allen Bereichen des Lebens u m f a ß t e auch das öffentliche u n d politische Leben. Das f ü h r t e recht bald z u m o f f e n e n Konflikt Solov'evs mit den staatlichen Institutionen des zaristischen R u ß l a n d . N a c h d e m tödlichen A t t e n t a t auf Zar Alexander II. am l . M ä r z 1881 f o r d e r t e Solov'ev in einer seiner Vorlesungen die Begnadigung der Z a r e n m ö r d e r aus einer grundsätzlichen A b l e h n u n g der Todesstrafe heraus: Die freie T h e o k r a t i e ist nicht mit G e w a l t vereinbar u n d k a n n d u r c h Gewalt auch nicht erreicht w e r d e n . D e n neuen Zaren Alexander III. f o r d e r t e er in einem Brief auf, die „göttliche B e d e u t u n g der Z a r e n m a c h t " f ü r die freie T h e o k r a t i e d u r c h einen G n a d e n a k t zu zeigen 9 1 . Vergebens: Solov'ev erreichte w e d e r beim Zaren noch sonst in der Ö f f e n t l i c h k e i t etwas im Sinne seiner theokratischen Ideale. D i e negativen Folgen seines politischen A u f t r e tens f ü r sich t r u g er b e w u n d e r n s w e r t k o m p r o m i ß l o s bis zu seinem Tod. N a c h einer zeitweiligen, e r z w u n g e n e n U n t e r b r e c h u n g seiner öffentlichen Vorlesungstätigkeit reichte er selbst den Abschied aus d e m staatlichen D i e n s t ein u n d blieb f o r t a n o h n e festes E i n k o m m e n . T r o t z vielfacher Z e n s u r seiner späteren Werke u n d m e h r f a c h e m P u b l i k a t i o n s v e r b o t schrieb er v e r m e h r t über politische u n d kirchliche T h e m e n . Solov'ev hatte eingesehen, daß philosophische G e d a n k e n allein die Welt nicht verändern. In fast allen seinen Schriften der 80er J a h r e w a n d t e er sich d a r u m der Frage der praktischen Verwirklichung der T h e o k r a t i e d u r c h Kirche u n d Staat zu. Was die B e d e u t u n g R u ß l a n d s f ü r die E r r i c h t u n g der universalen T h e o k r a t i e angeht, so sieht Solov'ev von vornherein mit Kritikern wie Samarin u n d A k s a k o v gegen die alten u n d n e u e n Slavophilen die Wirklichkeit der Russischen O r t h o d o x e n Kirche u n d des russischen Staates kritisch 9 2 : der Staat ist m o r s c h , die Kirche v o m Staat gefesselt. Die „ O r t h o d o x i e " (pravoslavie), die die Slavophilen vertreten, ist f ü r Solov'ev nicht die rechte Lehre u n d Gestalt der o r t h o d o x e n Kirche, s o n d e r n vielmehr ein nationalistischer G l a u b e an das russische Volk u n d an oberflächliche religiöse F o r m e n u n d G e f ü h l e , der sich selbst die Gestalt der O r t h o d o x i e gibt. Solov'ev n e n n t diese vermeintliche O r t h o d o x i e der Slavophilen, die eigentlich N a t i o n a l i s m u s ist, verächtlich „ O r t h o d o x i s m u s " (pravoslavnican'e) 9 3 . In der E r k e n n t n i s t h e o r i e u n d in der allgemeinen Sicht der A u f g a b e der Philosophie s t i m m t Solov'ev z w a r mit den f r ü h e n
90 A.a.O. S. 209. « Vgl. È. Radlov, Nekrolog, S. 39.
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Slavophilen Kireevskij und C h o m j a k o v weitgehend ü b e r e i n 9 4 . Auch teilt er ihre Liebe zur russischen K i r c h e und ihre kirchliche religiöse E r f a h r u n g 9 5 . A b e r andererseits schätzt er die westliche K u l t u r und Philosophie, die Selbständigkeit der Vernunft und das „aktive P r i n z i p " des Westens, die H o c h s c h ä t z u n g der praktischen Tätigkeit in Kirche und Politik. In dieser Hinsicht ist er der „vollständige A n t i p o d e der S l a v o p h i l e n " 9 6 . So steht Solov'ev wie Caadaev in seiner Kritik der Zustände in Rußland in der Mitte zwischen Westlern und Slavophilen 9 7 und findet weder bei den einen noch bei den anderen Unterstützung. Zunächst sieht er noch im Zaren den idealen christlichen M o n a r c h e n und in der russischen K i r c h e das ideale übernationale „Dritte R o m " und erstrebt in den 80er J a h r e n eine Allianz von russischem Zar und römischem Papst für eine universale geistlich-weltliche Monarchie, die die freie T h e o k r a t i e herbeiführen s o l l 9 8 . A b 1891 jedoch gibt er jede A r t von russischem Messianismus und jede H o f f n u n g auf die Vereinigung der Menschheit auf politischem Wege auf. Einen wirklichen Fortschritt auf dem Wege der Vereinigung der M e n s c h heit sieht er nur n o c h in „rein kultureller R i c h t u n g " im Westen E u r o p a s 9 9 . F ü r Rußland fordert er religiöse und politische Toleranz und Redefreiheit als Bedingungen des Fortschritts zur Einheit der M e n s c h h e i t 1 0 0 . Schließlich gibt Solov'ev Mitte der 90er J a h r e die Idee einer irdischen T h e o k r a t i e in staatlichen F o r m e n als Ziel christlicher Politik völlig a u f 1 0 1 . Was Solov'ev bleibt, ist die Suche nach der Einheit der Menschheit in der Einheit der universalen Kirche. Aus der Kritik an der Russischen O r t h o d o x e n Kirche und ihrer Abhängigkeit v o m Staat, der nicht nach christlichen Grundsätzen handelt, erwächst Solov'evs zweite, rein kirchliche Vorstellung von der Verwirklichung der freien T h e o k r a t i e . E s ist der Weg über die äußerlich verwirklichte Einheit der universalen Kirche. Solov'ev sucht und findet ihn im römischen Papsttum. In ihm ist die äußere Einheit der K i r c h e und ihre innere Unabhängigkeit v o m Staat für den Westteil der K i r c h e schon verwirklicht. D i e kraftvolle Gestalt Papst L e o X I I I . ist Solov'ev ein lebendiger Beweis dafür. I m Apostolischen Stuhl R o m s sieht Solov'ev das centrum unitatis der O s t - und Westkirche gemeinsam, die universale zentrale Autorität der gesamten K i r c h e in den Fragen des weltlichen Lebens. A u c h in seinem Verhältnis zum Papsttum macht Solov'ev eine wechselvolle E n t w i c k l u n g durch. In den 80er Jahren repräsentiert das Papsttum für ihn die Idee der freien T h e o k r a t i e : D i e Kirche ist die Seele, die den K ö r p e r des Staates
9 4 Vgl. È.Radlov, Teorija, S. 160. Solov'ev geht es wie Kireevskij und Chomjakov um die Übereinstimmung von Glaube und Wissen und um den Glauben als selbständiges Erkenntnismittel. Die Vernunft ist für Solov'ev im Gegensatz zu den Slavophilen aber ebenfalls ein selbständiges Erkenntnismittel. 9 5 Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 41. 9 6 Vgl. L. Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S. 363. 9 7 Vgl. F.Muckermann, Solowjew und das Abendland, S. 8; F.Rouleau, Introduction, FS, S.IX. 9 8 VSChP IV, 16-20, bes. S. 18; Brief Nr. 14 an I.S. Aksakov, ΡIV, 27. 9 9 Art. „Vsemirnaja monarchija", B - Ε , RG XII, 564 ( = DG VI, 54). 1 0 0 Vgl. den Brief an K.P. Pobedonoscev (1892), RG XII, 287f. ( = DG Biogr., S. 150f.) und den Brief an Zar Nikolaus II. (1896 oder 1897), RG XI, 452-456. 1 0 1 Vgl. Brief Nr. 13 an E.Tavernier (1896), PIV, 199. In der „Rechtfertigung des Guten" (1894-1896) ist die staatliche Gewalt gebrauchende Theokratie für Solov'ev nur noch eine vergangene historische Zwischenstufe auf dem Weg zur Einheit der Menschheit durch gewaltlosen Gebrauch der Gerechtigkeit (OD VIII, 256 und 337).
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gewaltlos, nur durch geistige Autorität, führt und leitet 1 0 2 . D e n Papismus, die kirchliche Herrschaft mittels weltlicher Gewalt, hält er in dieser Phase seines D e n kens nur für eine historische Perversion des Papsttums und für eine im ^ . J a h r h u n dert überwundene I r r l e h r e 1 0 3 . D i e Schlüsselgewalt Petri sieht Solov'ev darin, die ganze Menschheit zur Verwirklichung des Reiches G o t t e s auf Erden zu führen. A u f diese Rolle im weltlichen Bereich hat Solov'ev viele J a h r e die Autorität des Papstes beschränkt wissen wollen. In dogmatischen Fragen hielt er noch in seiner „ G e s c h i c h te und Zukunft d e r T h e o k r a t i e " ( 1 8 8 5 - 1 8 8 7 ) nur die Entscheidungen der kirchlichen Hierarchie als ganzer und der ökumenischen Konzilien für u n a n f e c h t b a r 1 0 4 . Erst in seiner französischen Schrift „Rußland und die universale K i r c h e " (1889), die in Rußland erst 1911 in russischer U b e r s e t z u n g veröffentlicht werden k o n n t e , erkennt er den Papst in R o m auch als oberste Autorität in Glaubensfragen an. D a s Papsttum nennt er nun das „unfehlbare O r g a n der religiösen W a h r h e i t " 1 0 5 . E r begründet und belegt dies kirchengeschichtlich mit der Rolle des Papstes L e o des G r o ß e n auf dem Konzil von Chalcedon, der als „inspirierter Interpret Petri" den Mitgliedern des Konzils die christologische Wahrheit einfach g e b o t 1 0 6 . In der Einleitung zu der genannten Schrift formuliert Solov'ev sogar ein persönliches Bekenntnis zur dogmatischen Unfehlbarkeit des Papsttums: „Ich erkenne in Sachen der Religion . . . den Apostel Petrus, der in seinen Nachfolgern fortlebt, . . . als höchsten Richter a n " 1 0 7 . Katholische Interpreten Solov'evs haben diese Stellen im Werk Solov'evs gerne als Beweise für die vollständige und endgültige Konversion Solov'evs zum römischen Katholizismus vorgelegt. A b e r nur wenn man die Schrift „Rußland und die Universale K i r c h e " von der weiteren geistigen Entwicklung Solov'evs isoliert, kann man sie als „die den Gesamtbau abschließende katholische K u p p e l " des D e n k e n s Solov'evs b e z e i c h n e n 1 0 8 oder gar als „den ehernen Felsen im Schrifttum Solovjeffs, an dem alle Verdächtigungen und Zweifel an der Aufrichtigkeit und Vollständigkeit seiner H i n wendung zum Katholizismus z e r s c h e l l e n " 1 0 9 . Von einer Konversion Solov'evs z u m Katholizismus kann man angesichts seiner weiteren inneren E n t w i c k l u n g nicht sprechen. Vielmehr ist seine zeitweilige A n e r kennung der Unfehlbarkeit des Papstes am Ende der 80er J a h r e , von der er bald wieder a b r ü c k t e 1 1 0 , eine Folge seines übertriebenen Vertrauens in das G e w i c h t der kirchlichen und staatlichen Institutionen, die die T h e o k r a t i e verwirklichen sollen. In dieser Hinsicht war Solov'ev bis zum Beginn der 90er J a h r e ein typischer Mensch des 19. Jahrhunderts - ein fortschrittsgläubiger O p t i m i s t 1 1 1 . A b 1891 wurde er dagegen zusehends skeptischer, schließlich z u m Geschichtspessimisten und zum prophetischen Verkünder des apokalyptischen Endes der Geschichte und der Wiederkunft Christi. J e d e n Gedanken an die Verwirklichung der Theokratie auf Erden auch durch die Kirche gab er auf. D a s lag zum einen an seiner Enttäuschung über das Scheitern sämtlicher k o n k r e t e r Pläne, die er zur Vereinigung der Kirchen um den Papst und zu einer Allianz des Zaren mit dem Papst zur politischen Verwirklichung d e r T h e o k r a t i e immer wieder gehegt hatte. Weder Papst L e o X I I I . noch Zar Alexander I I I . , weder die Jesuiten noch die o r t h o d o x e Hierarchie Rußlands zeigten auch nur verbale
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1 0 3 A.a.O. S. 88. 92f. 1 0 4 IBTIV, 280. VSChP IV, 88. REU, FS, 235 ( = DG III, 319). " 6 REU, FS, 236. 238f. ( = DG III, 320.323 f.). 1 0 8 W. Szylkarski, Das philosophische Werk, S. 3. REU, FS, 150 ( = DG III, 187). F. Gößmann, Der Kirchenbegriff, S. 11. 1 1 0 Vgl. Brief Nr. 13 an E.Tavernier, ΡIV, 199. Vgl. S.Frank, Duchovnoe nasledie, S. 8.
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B e r e i t s c h a f t z u r V e r e i n i g u n g v o n r ö m i s c h - k a t h o l i s c h e r u n d o r t h o d o x e r K i r c h e . Ihnen erschienen S o l o v ' e v s P l ä n e u t o p i s c h . Z u m anderen ließ, w i e S o l o v ' e v sich s e l b s t a u s d r ü c k t , seine „ w a c h s e n d e L e b e n s e r f a h r u n g " ihn „ i m m e r m e h r an der N ü t z l i c h keit u n d A u s f ü h r b a r k e i t seiner äußeren A b s i c h t e n z w e i f e l n " , die die kollektive g o t t m e n s c h l i c h e Einheit, d a s R e i c h G o t t e s auf E r d e n , h e r b e i f ü h r e n s o l l t e n 1 1 2 . Seine L e b e n s e r f a h r u n g zeigte ihm z u n e h m e n d , daß auch g o t t g e w o l l t e I n s t i t u t i o n e n , w i e in seinen A u g e n d a s P a p s t t u m u n d d a s Z a r e n t u m , die irrationale M a c h t des B ö s e n ü b e r d e n M e n s c h e n nicht b e s i e g e n k ö n n e n , ja, d a ß s o g a r deren h ö c h s t e Vertreter w i e alle M e n s c h e n v o m B ö s e n ergriffen w e r d e n k ö n n e n .
Solov'ev machte auch mit dem Bösen persönliche übernatürliche Erfahrungen. Er hatte Visionen von Dämonen, die ihn bedrängten und zum Bösen verführen wollten 1 1 3 . Dem Geheimnis des Bösen im einzelnen Menschen und in der Geschichte, in Staat und Kirche, gilt daher sein Denken in den letzten Jahren seines Lebens. Für seine Haltung gegenüber dem Katholizismus bedeutete diese grundlegende Änderung seines Denkens, daß er zwar das Papsttum in Rom nach wie vor als „legitimes und traditionelles Zentrum der Einheit der christlichen Welt" betrachtete, aber als ein Zentrum ohne äußere Macht und auch in Glaubensfragen sich nur in freier Ubereinstimmung mit allen wahren Christen äußernd. Die wahrhaft gläubigen Christen der ganzen Erde werden sich nach Solov'ev nur „nach dem Maß des Gewissens" um den äußerlich machtlosen Stuhl Petri sammeln, und es wird „eine kleine, mehr oder weniger verfolgte Minderheit" sein 1 1 4 . In seinen „Drei Gesprächen" (1899) hat Solov'ev in der „Kurzen Erzählung vom Antichrist" sein neues und endgültiges Ideal des Papsttums plastisch beschrieben. Der Papst ist hier kurz vor dem Ende der Weltgeschichte der Hirte der kleinen zerstreuten Herde der Christen in einer Welt, die vom Bösen beherrscht wird. Das Christentum, dessen sichtbares Entscheidungszentrum der Papst auch in dieser letzten Sicht Solov'evs bleibt, ist nun am Ende der Zeiten wahrhaft ökumenisch: es verbindet die Freiheit des Protestantismus mit der Autorität des Katholizismus und der Tradition der Orthodoxie 1 1 5 .
1.4 Solov'evs Beziehungen zu Frauen. Der Sinn der Liebe In die Zeit des Zusammenbruchs seiner theokratischen Pläne und seiner schärferen Sicht für die Wirklichkeit und Macht des Bösen in der Welt fällt eine letzte große unglückliche Liebe Solov'evs zu einer Frau, die nicht nur mit seiner mystischen Erfahrung der Sophia zusammenhing, sondern auch Vorwort Solov'evs zu seiner Übersetzung der Werke Piatons (1899), TPP XII, 360. Vgl. sein Gedicht „Das Ewig-Weibliche" (1898), R G XII, 71-73 ( = D G Biogr., S. 261-263). 1 1 4 S.o. Anm. 110. 1 1 5 Vgl. VSChP IV, 112; T R X , 206-218. 112 113
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bedeutende Konsequenzen für seine philosophische Erkenntnislehre der letzten Jahre hatte. Solov'ev verliebt sich nach anfänglichem, der neuen Liebe nicht glaubendem Zögern um so leidenschaftlicher in die verheiratete Sof'ja Michajlovna Martynova mitten im Kreise ihrer Moskauer Familie, in der er gelegentlich verkehrte. Diese Affäre, die Solov'ev selbst später eine „Zigeunerromanze" genannt hat, erreichte ihren Höhepunkt im Sommer 1892 1 1 6 . Im Unterschied zu Solov'evs Liebe zu Sof'ja Petrovna Chitrovo ist seine Liebe zu Sof'ja Michajlovna geprägt von sinnlicher Leidenschaft, wie sie Solov'ev in diesem Maß nie zuvor in sich aufkommen ließ. Es ist nach seinem eigenen Zeugnis eine „schicksalhafte, grenzenlose Liebe", die ihn zu jeder Erniedrigung bereit macht, seine Seele mit sinnlicher Begier martert und ihn fast um den Verstand bringt 1 1 7 . Auf dem Höhepunkt dieser völlig unerwiderten Leidenschaft Solov'evs bekommt aber auch diese Liebe einen mystischen Zug: Solov'ev sieht, daß von Sof'ja Michajlovnas ganzem Körper ein rosafarbenes Glänzen ausgeht, er sieht sie von einer Aureole in Regenbogenfarben umgeben - den Merkmalen der göttlichen Sophia, wie er selbst dazu anmerkt 1 1 8 - und hält nun auch diese irdische Sof'ja für eine Verkörperung der himmlischen Sophia 1 1 9 . Er will mit der menschlichen Sof'ja in Liebe eins sein, um sich so mit der göttlichen Sophia zu vereinigen. Uber die Vergötterung, mit der Solov'ev Sof'ja Michajlovna begegnet, macht sie sich aber nur lustig. Sie behandelt ihren Liebhaber mit kalter Koketterie 1 2 0 . Solov'ev kann sich aus dieser unglücklichen Leidenschaft zu einer Frau, die seine Liebe nie erwidert, nur mit seiner Poesie retten. Er hatte nicht genügend Kraft, seine in der Vision verklärte Liebe im Leben durchzuhalten und in einer keuschen lebenslangen Liebe zu der geliebten Frau zu verwirklichen - eben das zu tun, was er wenig später als den „Sinn der Liebe" bezeichnet hat. Solov'ev blieb nicht die Macht der liebenden Tat, sondern nur die Magie seiner Verse, in denen er die spröde Wirklichkeit verklärte. In mehreren seiner schönsten Gedichte gab er dem Geschehen nachträglich einen Sinn, indem er die Liebesleidenschaft und die ganze äußere Beziehung des Mannes zur Frau nur als verzerrten Abglanz und Hinweis auf die ewige Einheit von Mann und 1 1 6 Zum Folgenden vgl. S.M. Solov'ev, Zizn', S. 3 0 7 - 3 1 3 ; K. Mocul'skij, Zizn', S. 197-203. Bemerkenswert ist, daß sich Solov'ev zum wiederholten Mal in eine verheiratete Frau verliebt. Die Tatsache, daß Solov'ev um seiner philosophischen und theologischen Lebensaufgabe willen ein Leben lang zölibatär zu leben sich fest entschlossen hatte (vgl. Brief Nr. 15 an E. Romanova, Ρ III, 82 = DG Biogr., S. 47), mag dazu beigetragen haben, daß er unbewußt die nicht in einer Ehe erfüllbare Liebe suchte. Sein Unglück war es, daß sich dennoch unkeusche Gedanken und Leidenschaften seiner Liebe beimischten. 1 1 7 Vgl. K. Mocul'skij, 2 i z n \ S. 197. 199f. 1 1 8 Brief Nr. 1 an S.M. Martynova, ΡIV, 150; vgl. S.M. Solov'ev, Zizn', S. 310. 1 1 9 Der russische Vorname Sóf'ja (Sophia), den die beiden Geliebten Solov'evs, S. P. Chitrovo und S.M. Martynova, trugen, hat die Bedeutung „Weisheit" vom griechischen Wort „Σοφία", unterscheidet sich aber in Schreibweise und Betonung von der Bezeichnung der himmlischen Sophia (russisch: Sofija). 1 2 0 Vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 200f.
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Frau in wahrer Herzensliebe darstellt 1 2 1 . Durch diesen Glauben an die wahre Liebe rettet sich Solov'ev aus dieser seiner letzten unglücklichen irdischen Liebe zu einer Frau - nicht aber, ohne Sof'ja Martynova seinen Stolz und seine Verachtung über ihr Verhalten in Versen mitzuteilen. In einem Akrostichon bezeichnet er seine vermeintliche Sophia als „gewesene Madonna", die in seinen Augen nur noch als „Matrone" zurückbleibt 1 2 2 . Wir haben Solov'evs Liebesbeziehungen zu verschiedenen Frauen in unserem Uberblick über seine Lebensentwicklung nicht deswegen dargestellt, damit hinter dem „Denker" Solov'ev der „Mensch" aus Fleisch und Blut mit den allzu menschlichen Schwächen erkennbar wird. Hier besteht vielmehr ein Zusammenhang seines Lebens mit seiner Erkenntnislehre, auf dessen theoretische Seite wir später eingehen. Außerdem spielen diese Episoden im Leben Solov'evs eine wichtige Rolle in seiner Beurteilung als orthodoxer Denker. In Kreisen orthodoxer Theologen herrscht das Urteil vor, Solov'ev sei zwar ein interessanter Philosoph, aber nicht orthodox. Zur Begründung verweist man dann auf seine zweifelhaften mystischen Erfahrungen - zweifelhaft nicht nur deswegen, weil sie unkirchlich und unliturgisch waren 1 2 3 , sondern vor allem, weil sie einem zweifelhaften erotischen Erleben entsprungen sind 1 2 4 . Solov'evs Lebensführung in seinen Beziehungen zu Frauen, so sagen viele orthodoxe Theologen, sei das Heterodoxe an ihm. In der Tat müssen wir Leben und Denken Solov'evs gerade an diesem Punkt zusammensehen und daher sein Denken über den „Sinn der Liebe" kritisch beurteilen. Wir werden aber zeigen, daß trotz einiger heterodoxer Gedanken Solov'evs zum Sinn der Geschlechtsliebe seine auf der mystischen Erfahrung beruhende Erkenntnislehre insgesamt dem Geist der Orthodoxie entspricht 1 2 5 . Solov'evs an manchen Stellen heterodoxe, ja unbiblische „erotische Philosophie" kann und muß man von seiner allgemeinen mystischen Erkenntnislehre unterscheiden. Es wäre auch ungerecht, Solov'ev die heterodoxen Folgen seiner Wirkung auf andere anzulasten. In den Kreisen der russischen Symbolisten um Aleksandr Blok berief man sich auf Solov'evs erotische Lyrik und Teile seiner Theosophie, als die eigenen mystischen, aber nicht religiösen, sondern rein ästhetischen Erfahrungen mit der ewigen Weiblichkeit in einen fast sektiererhaften künstlerischen Kult der „Schönen D a m e " abglitten. Diesen symbolistischen Kult als „Solov'evtum" (Solov'evstvo) zu bezeichnen und die Entwicklung bei Blok als „Enthüllung der krankhaft-erotischen Wurzel" der religiösen Erfahrung bei Solov'ev zu beurteilen und ihn damit als
1 2 1 Vgl. Solov'evs Gedichte „Milyj drug, il' ty ne vidis'" (Nr. 18, RG XII, 16 = DG Biogr., Nr. 47, S. 230 f.) und „My soslis' s toboj nedarom" (Nr. 25, RG XII, 18 f. = DG Biogr., Nr. 44, S. 229). 1 2 2 Beilage zu Brief Nr. 1 an S.M. Martynova, Ρ IV, 152 ( = DG Biogr., S. 153 f.). 1 2 3 Vgl. z.B. G.Florovskij, Puti, S.316. 1 2 4 A.a.O., S. 466 f. - Dieser Meinung begegneten wir auch unter den Theologen der amerikanischen Orthodoxie am St. Vladimir's Orthodox Theological Seminary in New York. 1 2 5 S.u. S. 2 5 9 - 2 7 3 .
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h e t e r o d o x z u verurteilen, w i e dies G . F l o r o v s k i j getan h a t 1 2 6 , wird w e d e r d e m L e b e n S o l o v ' e v s n o c h s e i n e m D e n k e n gerecht. D e n n seine L i e b e s b e z i e h u n g e n z u F r a u e n sind i n s g e s a m t gesehen nur E p i s o d e n seines L e b e n s , das m e h r v o n tiefer o r t h o d o x e r R e l i g i o s i t ä t u n d Spiritualität g e p r ä g t i s t 1 2 7 als v o n m o m e n t a n e n L e i d e n s c h a f t e n . D e n L e b e n s z u s a m m e n h a n g zwischen der Liebe Solov'evs zu verschiedenen Frauen und seiner m y s t i s c h e n E r f a h r u n g der S o p h i a m ü s s e n wir d e n n o c h festhalten. S c h o n seiner ersten V i s i o n der S o p h i a als n e u n j ä h r i g e m K n a b e n ging eine e n t t ä u s c h t e L i e b e z u einem M ä d c h e n v o r a u s 1 2 8 . Sein späteres L e b e n bestätigt, d a ß einigen der m y s t i s c h e n V i s i o n e n der göttlichen S o p h i a bei ihm erotische V e r w i r r u n g e n v o r a u s g i n g e n o d e r enttäuschte, u n e r w i d e r t e L i e b e ihre F o l g e w a r 1 2 9 . S o steht in m a n c h e r H i n s i c h t S o l o v ' e v s S o p h i a - E r f a h r u n g v o r d e m H i n t e r g r u n d negativer L e b e n s e r f a h r u n g . A n dererseits sind seine B e g e g n u n g e n mit der h i m m l i s c h e n S o p h i a in d e n m y s t i s c h e n E r l e b n i s s e n i m J a h r 1875 die F r u c h t seines intensiven S t u d i u m s s o p h i a n i s c h e r L i t e r a tur.
Was seine persönliche mystische und religiöse Erfahrung abgesehen von seinen Sophia-Visionen angeht, so ist sie viel umfassender und reicht von der kirchlichen religiösen Erfahrung in seiner Kindheit bis zu den apokalyptischen Ahnungen kurz vor seinem Tode. Die Erfahrung der göttlichen Sophia ist also nur ein Teilaspekt, wenn auch der originellste, der persönlichen religiösen Erfahrung Solov'evs. Sein Denken über die mystische und religiöse Erfahrung als Grundlage aller wahren Erkenntnis, das uns im folgenden beschäftigen wird, ist von der besonderen Form seiner eigenen Erfahrung nur indirekt geprägt: es geht um die Begründung mystischer und religiöser Erfahrung überhaupt und um die Grundlagen einer allgemeinen Erkenntnislehre. Hier spielen die Denktraditionen, die Solov'ev aufnimmt, eine viel größere Rolle in der Ausformung seines Denkens als seine persönliche Erfahrung. Die unmittelbare Folge seiner letzten großen Liebesbegegnung mit einer Frau ist Solov'evs theoretische Durchdringung der Frage des Verhältnisses der geschlechtlichen Liebe zur Erkenntnis der göttlichen Wahrheit. Solov'ev schrieb fünf Aufsätze zum „Sinn der Liebe" (1892-1894) und eine Studie über das Lebensdrama Piatons (1898) mit der gleichen Fragestellung. Beide Werke mag man als Solov'evs Erklärung und Rechtfertigung seiner eigenen unglücklichen Liebe zu Frauen betrachten 1 3 0 . Jedenfalls fließt hier eine Erklärung seiner Liebe ein, die er S.M. Martynova gegeben hat. Danach sieht Solov'ev seine Liebe als das aktive männliche Prinzip des Geistes und Willens, das das passive weibliche Prinzip der Materie befruchtet 1 3 1 . Im „Sinn der Liebe" sieht Solov'ev das männliche und weibliche Individuum in Vgl. G. Florovskij, Putì, S. 467. 469. Vgl. Solov'evs ganz im Geist orthodoxer Spiritualität geschriebene „Geistliche Grundlagen des Lebens" (1882-1884), D O Z III, 299-416. 1 2 8 Vgl. Solov'evs Gedicht „Tri svidanija", R G XII, 80f. ( = D G Biogr., S. 268). 1 2 9 Vgl. K. Mocul'skij, 1 3 ° A.a.O. S. 203; S. M. Solov'ev, ¿izn', S. 203. Èizn', S. 313 f. 1 3 1 Vgl. S. M. Solov'ev, ¿ i z n ' , S. 311. 126
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dieser U n a u s g e g l i c h e n h e i t als unvollendete, o f f e n e H ä l f t e n an, die aufeinander angewiesen sind. E r s t in ihrer a n d r o g y n e n Einheit bilden sie eine vollk o m m e n e u n d unsterbliche Persönlichkeit, erwerben sie das ewige L e b e n . D i e keusche, kinderlose eheliche L i e b e zwischen M a n n u n d F r a u f ü h r t nach S o l o v ' e v z u diesem Ziel des ewigen L e b e n s . Die positive Bedeutung dieser Sicht der Liebe für die Erkenntnislehre Solov'evs sowie ihre Gefahren betrachten wir später 1 3 2 . Hier genügt es festzustellen, daß Solov'ev mit seiner metaphysischen Spekulation vom androgynen ganzen Menschen, der sich erst nach der Schöpfung durch den Fall in Mann und Frau trennte und sich zum Androgyn wiedervereinigen muß, selbst nicht zufrieden war und bald seine Zweifel an ihr hatte 1 3 3 . Die erstaunliche Nähe dieser metaphysischen Vorstellung zu Baaders „Erotischer Philosophie" macht sie nicht christlicher. In ihrer Konsequenz beinhaltet sie den unchristlichen Gedanken, daß nur die Vereinigung von Mann und Frau zur Vergöttlichung des Menschen und zum ewigen Leben führt. Außerdem läßt sich Solov'evs Vorstellung nicht mit der christlichen Auffassung von Ehe und Familie vereinbaren: Keusche, „platonische" Liebe in der Ehe zu fordern, ist nicht nur eine sehr unrealistische Utopie, sondern läuft Gebot und Verheißung Gottes über die Ehe zuwider 1 3 4 . Dennoch hat Solov'ev den Ansatz, den er im „Sinn der Liebe" entfaltet, nie aufgegeben, daß die seelische Liebe zwischen Mann und Frau durch die sie begleitende Uberwindung des Egoismus der beiden Partner zur Erfahrung und Erkenntnis der göttlichen Wahrheit führt und schließlich zur mystischen Vereinigung mit Gott. Diese Erkenntnis hing mit seiner Lebenserfahrung zusammen: An ihr hielt er bis zu seinem Lebensende fest 1 3 5 .
1.5 Solov'ev
als Bekenner
des ökumenischen
Christentums
D i e w a c h s e n d e negative L e b e n s e r f a h r u n g , sein A u f g e b e n aller theokratischen Pläne, seine geschärfte Sicht f ü r die M a c h t des B ö s e n in der Welt, sein z u n e h m e n d e r G e s c h i c h t s p e s s i m i s m u s - das alles bestärkte den enttäuschten S o l o v ' e v in den 90er J a h r e n , zur strikt p h i l o s o p h i s c h e n A r b e i t seiner frühen J a h r e z u r ü c k z u k e h r e n . E i n i g e s in seinen m e t a p h y s i s c h e n A n s c h a u u n g e n hatte sich in den f ü n f z e h n J a h r e n seit seiner „ K r i t i k der abstrakten Prinzip i e n " geändert, das p h i l o s o p h i s c h e D e n k e n in E u r o p a w a r in R i c h t u n g auf den P h ä n o m e n a l i s m u s vorangeschritten, u n d so reifte in S o l o v ' e v der Plan, ein u m f a s s e n d e s p h i l o s o p h i s c h e s S y s t e m aus G n o s e o l o g i e , M e t a p h y s i k , E t h i k und Ä s t h e t i k auf der G r u n d l a g e der All-Einheit und des G o t t m e n s c h e n t u m s z u schreiben. Seine A b s i c h t hinter d i e s e m V o r h a b e n war anders akzentuiert als in den 70er J a h r e n . D a m a l s wollte er durch V e r n u n f t g r ü n d e
S.u. S . 2 5 9 - 2 7 3 . 133 Belege dafür bei S. M. Solov'ev, Zizn', S. 314. 1 3 4 Vgl. die ausführliche Kritik E.Trubeckojs an Solov'evs Lehre in: E. Trubeckoj, zercanie, Bd. I, S. 611-630, bes. S. 613. 618. 1 3 5 Ebenso: È.Radlov, Rezension zu E.Trubeckoj, S. 183. 132
50
Miroso-
von der Wahrheit des Christentums überzeugen und das Christentum gewissermaßen auf eine höhere Stufe der Reflexion heben. Jetzt ist seine A b s i c h t durch seine neue pessimistische Weltsicht bestimmt - bescheidener und theologisch gesehen klarer formuliert: Er will seine Philosophie als praeparatio Evangelii verstanden wissen. Seine Aufgabe sieht er in einer „allgemeinen Neuformulierung der christlichen Philosophie, ohne die das Evangelium nicht wirksam gepredigt werden k a n n " 1 3 6 . Jeder soll sich in Freiheit für oder gegen die Wahrheit des christlichen Evangeliums entscheiden können und nicht durch mangelhafte Klarheit ihrer Darstellung an dieser Entscheidung gehindert werden. Aber in seiner neuen Weltsicht ist er sich bewußt, daß der böse Wille des Menschen sich auch gegen alle klaren Vernunftgründe für das Böse und gegen die Wahrheit entscheiden kann. Er sieht jetzt, wie es im Neuen Testament vorausgesagt ist, daß diejenigen, die die Wahrheit annehmen, nur eine kleine, verfolgte Minderheit der Menschheit sein werden. Doch er ist auch überzeugt, daß diese christliche Minderheit im endzeitlichen Kampf von Gott zum Sieg über den Antichrist und den Satan geführt wird 1 3 7 . Diese Gewißheit hat Solov'ev vor der Abfassung seiner philosophischen Spätwerke in seinem Gedicht „Immanu-El"' ausgedrückt: „Ja, G o t t m i t uns - n i c h t d o r t , im blauen H i m m e l s z e l t . . . N e i n : hier u n d j e t z t - im eitlen W e l t g e t r i e b e . . . B e s i t z e n w i r das freudige G e h e i m n i s : M a c h t l o s das B ö s e ; w i r sind e w i g ; m i t uns G o t t ! " 1 3 8
Auf dem Hintergrund dieser Glaubensgewißheit, die stärker ist als sein wachsender Geschichtspessimismus, schreibt Solov'ev seine Moralphilosophie „Die Rechtfertigung des Guten" ( 1 8 9 4 - 1 8 9 7 ) und als Einleitung zu seiner geplanten Metaphysik drei erkenntnistheoretische Aufsätze unter dem Titel „Theoretische Philosophie" (1897-1899). Mehr hat Solov'ev von seinem philosophischen Vorhaben nicht verwirklichen können. Sein früher Tod hat ihn daran gehindert. Auf den erkenntnistheoretischen Inhalt dieser Werke gehen wir im Verlauf der Arbeit immer wieder ein. Charakteristisch an ihnen ist gegenüber Solov'evs frühen philosophischen Schriften die Verlagerung des Zentrums und Stützpunkts der Gewißheit der Erkenntnis vom erkennenden Subjekt auf die zu erkennende göttliche Wahrheit selbst. Ihre unmittelbare Erkenntnis im Glauben ist das Ziel, zu dem Solov'ev den Leser auch in diesen theoretischen philosophischen Schriften führen will. Gegen Ende seines Lebens gewinnt für Solov'ev die Frage der Einheit der Christenheit, die er in der „Erzählung vom Antichrist" prophetisch beschrieben hatte, eine ganz persönliche Dimension. Theologisch hatte er die 1 3 6 Brief Nr. 13 an E.Tavernier, Ρ I V , 198: instauration générale de la philosophie chrétienne, sans quoi la prédication de l'Évangile ne peut pas être effectuée". 1 3 7 A.a.O. S. 199. 1 3 8 Gedicht Nr. 49, R G XII, 33 f., Ausschnitte aus Strophe vier und fünf in eigener Übersetzung. Vgl. die Übertragung ins Deutsche von L. Müller, Gedicht Nr. 38, D G Biogr., S. 225 f.
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Frage der Einheit der Kirche in einer Synthese des katholischen, orthodoxen und protestantischen Prinzips gelöst. Im römischen Papst als dem Nachfolger Petri sah er das „legitime Zentrum" der auf freier Ubereinstimmung beruhenden Einheit der universalen Kirche, den die Christen aller Konfessionen um der Einheit der Christen willen als Bruder und obersten Hirten ehren sollen139. Aber diese Sicht Solov'evs trägt das Zeichen der durch die endzeitliche Verfolgung geförderten freien Einheit des kleinen Rests der Herde der Christen - eine Sicht, die die Fragen der Gegenwart nicht löste. Wie konnte Solov'ev als einzelner Christ die Trennung der Kirchen, zumindest die Trennung zwischen seiner Russischen Orthodoxen Kirche und der römischen Kirche, praktisch überwinden? Spirituell und gedanklich war das für den Privatchristen Solov'ev möglich. Seine Religiosität war wahrhaft ökumenisch: frei und nur dem Gewissen verpflichtet wie die eines Evangelischen, und dennoch inhaltlich an die Tradition der orthodoxen Spiritualität und formal an die katholische Autorität des Papstes gebunden 140 . Auch Solov'evs Glaubensbewußtsein war ökumenisch weit 141 : Er war an seinem Lebensende ein Bekenner des ökumenischen Christentums, der in sich lebendig den Glauben der getrennten Kirchen 142 vereinigen konnte 143 . Solov'ev war in seinem Denken, Fühlen und Reden, in seinem ganzen Leben wie in seinen letzten Werken zugleich Katholik, Orthodoxer und Protestant 144 . Am Ende seines Lebens sagte Solov'ev von sich selbst, er sei „eher Protestant als Katholik" 145 wegen dieser persönlichen ökumenischen Haltung. Wir müssen das nicht nur auf seine Spiritualität beziehen, die er in den „Drei Gesprächen" vertritt und deren Pfeiler der Glaube an Gott ohne Furcht wegen der Sündenschuld im Vertrauen auf Gottes Vergebung sowie das tägliche Beten und Bibellesen sind 146 . Dies gilt vielmehr auch für die Gestalt der einen Kirche, die Solov'ev vor Augen schwebt - sie kennt ebenfalls als ihr Wesensgesetz nur die Liebe zu Gott und den Glauben an sein 139
S.o. S. 4 4 - 4 6 . Vgl. Brief Nr. 13 an E.Tavernier, ΡIV, 199; vgl. T R X , 218: Im apokalyptischen Geschehen schildert Solov'ev die Vereinigung der getrennten Kirchen. Der Vertreter der Orthodoxen, der Staretz Johannes, vollzieht die Vereinigung mit den Worten: „Geben wir um der Einheit in Christus willen unserem geliebten Bruder Petrus die Ehre. Er soll zum Schluß die Schafe Christi weiden." Der Vertreter der Evangelischen, der Tübinger Professor Pauli, sagt, zum Papst gewandt: „Tu es Petrus! Jetzt ist es ja gründlich erwiesen und außer jeden Zweifel gesetzt." Die einzige Begründung, die Solov'ev an dieser Stelle angibt, ist die Erfüllung des Gebets Christi für seine Jünger, „daß sie alle eins seien" (Joh 17,21). Von irgendwelchen Rechten des Petrusamts ist in der ganzen Erzählung und in den „Drei Gesprächen" insgesamt nirgends die Rede. 140 Vgl. B. Schnitze, 75 anni, S. 177. 141 Vgl. L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 9. 91 f. 142 Solov'ev bezeichnete den Protestantismus, dem er lange Zeit die Zeichen des Kirchentums absprach (vgl. VSChP IV, 112), zuletzt in den „Drei Gesprächen" als „evangelische Kirche" (evangeliceskaja cerkov'). Vgl. TR X, 206. 143 Vgl. S. Trubeckoj, Smert', S. 350. 144 Vgl. S. Bulgakov, Ocerki ucenija o Cerkvi 3: Cerkov' i „inoslavie", S. 5 f. 145 Vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 254. i « TR X, 123-125.
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E r b a r m e n 1 4 7 . Solov'evs religiöses Denken und Fühlen galt gegen Ende seines Lebens der Einheit der ökumenischen Kirche in einem solchen Maß, daß von seinem spezifischen russischen orthodoxen H e r k o m m e n wenig Besonderes erhalten blieb. D e n n o c h wäre es falsch zu sagen, Solov'ev habe „der ö k u m e nischen Kirche bis z u m Verlust der eigenen russischen Seele g e d i e n t " 1 4 8 . Vielmehr blieb Solov'ev bis zu seinem Tod ein Glied der Russischen O r t h o doxen Kirche. Aber diese private wahrhaft ökumenische Haltung empfand Solov'ev nicht als ausreichend, um als einzelner Christ die Trennung der Ostkirche von der Westkirche zu überwinden. Er tat daher am 18.2. 1896 einen später von den dabei anwesenden unierten Katholiken öffentlich bezeugten Schritt, den er in den Jahren seiner theokratischen Hoffnungen auf die Rolle von Zar und Papst bei der Kirchenvereinigung noch als schädliche Einzelaktion verurteilt hatte, nun aber unter den eschatologischen Vorzeichen der Einheit der kleinen Zahl wahrer Christen für richtig hielt. Dem Zeugenbericht zufolge erkannte er öffentlich vor dem mit Rom unierten griechischkatholischen Priester Nikolaj A.Tolstoj in Moskau den Papst als sein kirchliches Oberhaupt an, las das Glaubensbekenntnis des Tridentinischen Konzils und kommunizierte zum Zeichen seiner Vereinigung mit der römisch-katholischen Kirche bei diesem unierten Priester 149 . Solov'ev wollte mit diesem Schritt nicht seine Konfession wechseln und zum Katholizismus konvertieren. Vielmehr wollte er seinen ökumenischen Glauben und seine ökumenische Religiosität auch in der einen Kirche vollziehen und sowohl der römisch-katholischen als auch der orthodoxen Kirche angehören. Nach römischem wie nach orthodoxem Kirchenrecht ist eine solche Doppelmitgliedschaft in beiden Kirchen gar nicht möglich. Und doch gelang Solov'ev diese Quadratur des kirchenrechtlichen Kreises wahrscheinlich dadurch, daß er bei seinem Akt der Vereinigung mit der katholischen Kirche weder seiner orthodoxen Kirche noch ihrer Lehre abschwor. Eine zuverlässige Aussage über diesen Vorgang liegt nicht vor. Es ist aber mehr als wahrscheinlich, daß er nicht die Tridentinischen Renuntiationsformeln gegen die Orthodoxie sprach, sondern eher sein eigenes Glaubensbekenntnis, das er schon in „Rußland und die universale Kirche" formuliert hatte 150 . Er kommunizierte auch kein weiteres Mal bei einem katholischen Priester 151 . Überhaupt wurde sein „Akt der Vereinigung mit der römischen Kirche" erst nach seinem Tode publik. Wir würden heute sagen, Solov'ev habe einmal die Interkommunion praktiziert und damit die Einheit der Kirchen im persönlichen Vollzug vorweggenommen, die kirchenrechtlich und kirchenpolitisch unmöglich war. Er hat aber in seiner verbleibenden Lebenszeit gespürt, daß seine Interkommunion unter den gegebenen kirchlichen Bedingungen zu einer Entfremdung von beiden Kirchen, der orthodoxen wie der katholischen, führen mußte. Auf seinem Sterbebett auf dem Landsitz Uskoe des befreundeten Fürsten Sergej Trubeckoj nahe Moskau hat Solov'ev ein letztes Mal kommuniziert - bei dem dortigen orthodoxen Dorfpriester
Vgl. R E U , FS, 203 ( = D G III, 269). So Vj. Ivanov, O znacenii VI. Solov'eva, S. 44. 149 Vgl. den schriftlichen Zeugenbericht des Priesters N . A . Tolstoj in: K.Mocul'skij, S.217, sowie Mocul'skijs Kommentar dazu: a.a.O., S. 216. 218f. 1 5 0 R E U , FS, 150 ( = D G III, 187); vgl .K.Mocul'skij, 2 i z n \ S.218. 147 148
151
Zizn',
Vgl. S. M. Solov'ev, Èizn', S. 347.
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Beljaev. Bei ihm beichtete er auch zuvor und bekannte und bereute, daß er die letzten drei Jahre seines Lebens weder gebeichtet noch kommuniziert habe, da er sich mit seinem Beichtvater über eine dogmatische Streitfrage nicht einigen konnte und dieser ihn deswegen zur Eucharistie nicht zugelassen hatte 1 5 2 . Es ist anzunehmen, daß es sich hierbei genau um die Frage der Interkommunion und die gleichzeitige Zugehörigkeit zur orthodoxen und zur katholischen Kirche handelte 1 5 3 . So starb Solov'ev versehen mit den Sakramenten der orthodoxen Kirche, in äußerem Frieden mit seiner Mutterkirche 1 5 4 . Letztlich aber w a r S o l o v ' e v durch sein persönliches ö k u m e n i s c h e s Bewußtsein, das seiner Zeit allzu weit vorauseilte, von beiden Kirchen· in ihrer realen und offiziellen G e s t a l t , d e m römischen P a p s t t u m u n d der russischen o r t h o d o x e n Staatskirche, gleich weit äußerlich entfernt und innerlich entfremdet. D i e s ist die Tragik der Religiosität und des D e n k e n s S o l o v ' e v s in seinen letzten L e b e n s j a h r e n : Sie waren w a h r h a f t ö k u m e n i s c h , aber gerade deshalb f a n d e n sie in ihrer Zeit ihren Platz nicht in den offiziellen Kirchen. Sein religiöses D e n k e n , F ü h l e n und B e k e n n e n waren nach S o l o v ' e v s eigenen Worten „gleich weit entfernt von der lateinischen Beschränktheit wie v o n der byzantinischen, a u g s b u r g i s c h e n oder genferischen B e s c h r ä n k t h e i t " . Sein Bekenntnis w a r in der Tat, wie er schrieb, „weiter u n d inhaltsreicher" als alle E i n z e l k o n f e s s i o n e n . E s w a r das Bekenntnis zur „ R e l i g i o n des Heiligen Geistes"155. Der in der Solov'ev-Interpretation lange ausgetragene Streit, ob er nun orthodox oder katholisch gestorben sei, erübrigt sich von dieser Warte aus gesehen. Römischkatholische Interpreten behaupten bis heute geschlossen, Solov'ev sei katholisch gestorben 1 5 6 . Das hat dann seine Richtigkeit, wenn man den weiten, von Solov'ev selbst gewählten, aber nicht dem kanonischen Recht entsprechenden Maßstab anlegt, es reiche, Rom als legitimes Zentrum der Kirche anzuerkennen, um katholisch zu sein 1 5 7 . Dieses Bekenntnis hat Solov'ev in der Tat auch in seiner Todesbeichte vor dem orthodoxen Priester nicht zurückgenommen 1 5 8 . Andererseits haben Orthodoxe im1 5 2 Vgl. den Bericht des Priesters Beljaev darüber: „ O b ispovedanii V.S. Solov'eva", Ρ I V , 215-217, hierS. 216. 1 5 3 Vgl. D. Strémooukhoff, Messianic Work, S. 334, Anm. 78. 1 5 4 A . a . O . S. 334. 1 5 5 Brief N r . 1 an V. V. Rozanov, Ρ III, 43 f. 1 5 6 So z . B . : M.d'Herbigny, U n N e w m a n russe, S.316; F.Gößmann, Der Kirchenbegriff, S. 8; J. Mastyl'ak, Fuitne Vladimirus Soloviev Catholicus?, S . 4 1 ; F. Muckermann, Wladimir Solowiew, S. 195; B. Schultze, Cattolicesimo, S. 660. 1 5 7 So Β. Schultze, 75 anni, S. 177. 1 5 8 Vgl. M.d'Herbigny, U n N e w m a n russe, S.316. Das oft von Katholiken gebrauchte Argument, Solov'ev sei auch dem Kirchenrecht gemäß katholisch gestorben, weil er nur von der gegebenen Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, im Notfall die Sterbesakramente von einem gültig geweihten nichtrömischen Priester zu empfangen (vgl. F. Muckermann, Wladimir Solowiew, S. 195), ist nicht stichhaltig. Solov'ev hätte in den zwölf Tagen, die er nach seiner Kommunion beim orthodoxen Dorfpriester Beljaev noch lebte, ohne weiteres einen katholischen Priester aus Moskau zu sich kommen lassen können. Offensichtlich wollte Solov'ev trotz seines Bekenntnisses zu R o m im Schoß der Russischen Orthodoxen Kirche sterben.
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m e r mit R e c h t g e f o l g e r t , S o l o v ' e v sei o r t h o d o x g e s t o r b e n , nicht nur, weil ihm nach seinem Willen die S t e r b e s a k r a m e n t e v o n einem o r t h o d o x e n Priester g e s p e n d e t w o r den s e i e n 1 5 9 , s o n d e r n weil er i m m e r ein G l i e d der o r t h o d o x e n K i r c h e g e b l i e b e n sei, auch in s e i n e m B e k e n n t n i s z u r zentralen F u n k t i o n des Stuhles Petri u n d z u r „ R e l i g i o n des H e i l i g e n G e i s t e s " 1 6 0 . N i c h t o h n e G r u n d h a b e n auch evangelische I n t e r p r e t e n feststellen k ö n n e n , S o l o v ' e v sei a m E n d e seines L e b e n s in s e i n e m B e k e n n t n i s z u r freien „ R e l i g i o n des H e i l i g e n G e i s t e s " , z u einer K i r c h e , die nur v o m G l a u b e n u n d von der L i e b e , nicht aber v o m K i r c h e n r e c h t o d e r gar v o n der G e w a l t gelenkt w i r d , evangelisch g e w e s e n 1 6 1 .
In den Versuchen, Solov'ev für verschiedene Konfessionen zu reklamieren, zeigt sich die fortdauernde Größe Solov'evs, dessen Denken, Fühlen und Handeln deren Grenzen immer wieder sprengte. Seine Philosophie, seine theologischen Arbeiten, seine Dichtung, sein gesamtes Werk und Leben waren in seinen letzten Lebensjahren zum Dienst im Weinberg Gottes geworden, zum Dienst für die Einheit der Kirche Christi jenseits der konfessionellen Grenzen und zum Dienst an der universalen lebendigen Einheit von Gott und Menschheit. In diesem Dienst hat Solov'ev seine physischen Kräfte frühzeitig überfordert. Er starb im Alter von nur 47 Jahren am 31. Juli 1900 in dem Bewußsein, sich in diesem Dienst verzehrt zu haben. Im Ringen mit dem so frühen und doch von ihm erwarteten Tod sagte Solov'ev auf seinem Sterbelager: „Ich muß wohl zuviel auf einmal gearbeitet haben. Schwer ist die Arbeit im Dienst des Herrn" 1 6 2 .
2. Die persönliche religiöse Erfahrung und Berufung Solov'evs Der Uberblick über Leben und Werk Solov'evs hat gezeigt, wie vielfältig und wie bedeutsam für Solov'evs Denken und Handeln seine eigene mystische und religiöse Erfahrung war. Allein dies rechtfertigt schon die Vermutung, daß die mystische und religiöse Erfahrung als Erkenntnisart im Denken Solov'evs eine zentrale Bedeutung hat. Dieser Vermutung gehen wir in den weiteren Teilen dieser Arbeit nach. Als Ausgangspunkt dafür ist ein Vorwissen darüber hilfreich, wie Solov'evs persönliches Selbstverständnis und Handeln inhaltlich von seiner mystischen und religiösen Erfahrung beeinflußt und geprägt wurde. U m dieses Verhältnis der persönlichen religiösen und mystischen Erfahrung Solov'evs zum Verständnis seiner eigenen Lebensaufgabe und seinem entsprechenden Denken und Handeln zu erfassen, fragen wir zunächst nach dem Charakter dieser Erfahrung insgesamt, S.o. Anm. 152. So S. Frank, Duchovnoe nasledie, S. 6 ; D . Strémooukhoff, Messianic Work, S. 334. 161 Ζ. Β. L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 91 f. 162 Yg] 5 Trubeckoj, Smert', S. 352; K. Mocul'skij, íizn', S. 268; L. Müller, Solov'evs Leben und Werk, D G Biogr., S. 35. 159
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ziehen eine vorläufige Konsequenz für die Verbindung dieser Erfahrung mit der Erkenntnislehre Solov'evs und fragen dann nach dem davon beeinflußten Selbstverständnis und der Wirklichkeit der religiösen Berufung Solov'evs.
2.1 Der mystische Charakter der religiösen Erfahrung
Solov'evs
Die Art und der Charakter der religiösen Erfahrung Solov'evs ist ganz eindeutig von seiner Erfahrung übernatürlicher Phänomene, von seiner m y stischen Erfahrung beherrscht. Dennoch darf man den Einfluß des Teils seiner religiösen Erfahrung auf sein Denken nicht unterschätzen, den er in den Formen traditioneller christlicher Frömmigkeit hatte. Solov'ev war schon als Kind in den Formen der orthodoxen Frömmigkeit zu Hause und blieb es bis zu seinem Tod. Nur sprach und schrieb er darüber so gut wie nie — es war ihm eine Selbstverständlichkeit. Der mit Solov'ev befreundete Fürst Sergej Trubeckoj berichtete von Solov'evs Liebe zu den orthodoxen Kirchen, Ikonen, Gebeten, der Göttlichen Liturgie und den anderen Gottesdiensten 1 6 3 . Solov'ev stellt selbst einen Zusammenhang her zwischen den SophiaKirchen beziehungsweise den Ikonen mit Darstellungen der himmlischen Sophia in Rußland und seinem Denken über die Sophia als die Erscheinung der Gottheit in der Welt und über ihre Inkarnation in der Kirche 1 6 4 . In all den genannten Formen orthodoxer Frömmigkeit weiß sich Solov'ev „der religiösen Seele des russischen Volkes" verbunden und lebt aus ihrer Tiefe 1 6 5 . Aber er beteiligte sich persönlich ungern an den kollektiven Formen der orthodoxen kirchlichen Frömmigkeit. Er war wie in allen Lebensbereichen so auch hier ein Einzelgänger. Man berichtet, Solov'ev sei lieber in unscheinbare Dorfkirchen und Liturgien mit wenig Gläubigen gegangen als in die Kathedralen an den Festtagsgottesdiensten 166 . Tatsächlich hat Solov'ev erst mit 35Jahren, und das noch mehr zufällig auf einer Reise in Baden-Baden, erstmals in voller Länge an der orthodoxen Osternachtfeier teilgenommen 1 6 7 . Solov'ev hielt sich gern an die kirchliche Form der Gebete, mit besonderer Vorliebe an den Psalter, aber er betete alle seine Gebete am liebsten für sich allein. Man kann hier mit Recht von einem evangelischen Zug seiner religiösen Erfahrung sprechen: es war die Erfahrung der persönlichen Beziehung zu Christus, die Erfahrung der Glaubensgewißheit, des Vertrauens und der furchtlosen Liebe zu Gott, die er im persönlichen Gebet fand; und es war eine auf die regelmäßige und intensive Lektüre der Heiligen Schrift gegründete Erfahrung 1 6 8 . Die Folge davon war einerseits eine gewisse Gleichgültigkeit Solov'evs gegenüber den Institutionen der verfaßten Kirche
163 166 168
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S. Trubeckoj, Smert', S. 351. V. Velicko, Zizn', S. 170. Vgl. S. Trubeckoj, Smert', S. 350.
164 167
1 6 5 Ebd. REU, FS, 266 (= D G III, 368). Solov'evs Brief Nr. 58 an seine Mutter, Ρ II, 59.
seit seiner J u g e n d 1 6 9 , andererseits ein im Laufe seines Lebens i m m e r stärkeres Interesse für seine eigene mystische Erfahrung. O h n e daß wir von der Wirklichkeit seiner mystischen Erfahrungen ausgehen, werden wir in Solov'evs D e n k e n nicht eindringen und es nicht verstehen k ö n n e n 1 7 0 . N a c h allem, was man aus Solov'evs eigenen Werken und den Beobachtungen derer, die ihn kannten, weiß, steht fest: Solov'ev war nicht nur ein „ M y s t i z i s t " , ein mystischer Philosoph, der an die allgemeine M ö g lichkeit mystischer Erfahrung glaubt, sondern zuerst „ M y s t i k e r " , jemand, der selbst mystische Erfahrungen hat, der selbst das Ubersinnliche und Übernatürliche unmittelbar w a h r n i m m t 1 7 1 . Aus den Beispielen im U b e r blick über Solov'evs Leben geht klar hervor, daß Solov'ev authentische mystische Erfahrung h a t t e 1 7 2 . F ü r alle Arten der religiösen wie der nichtreligiösen Erfahrung des Ü b e r natürlichen galt für Solov'ev, wie er sich selbst ausdrückte, die Regel, sich nie auf andere Autoritäten als letzte Instanz in der Beurteilung dieser Erfahrungen zu berufen, sondern sich nur auf die eigene Erfahrung zu s t ü t z e n 1 7 3 . Solov'ev k o n n t e dieser eigenen Regel um so eher folgen, als er offensichtlich eine schon in der Kindheit sich zeigende Veranlagung zur Wahrnehmung des Übernatürlichen hatte. An seine häufigen „seltsamen T r ä u m e " , an „mystische T r ä u m e " und „nächtliche V i s i o n e n " konnte Solov'ev sich aus seiner Kindheit am lebendigsten erinnern 1 7 4 . Sein Prinzip, alle übernatürlichen Erfahrungen selbst zu machen, wandte Solov'ev in seiner Studentenzeit, in seiner Zeit in L o n d o n und später noch gelegentlich auch auf spiritistische und okkulte P h ä n o m e n e an. O b Spiritismus und O k k u l t i s m u s Wahrheit oder Lüge sind, versuchte Solov'ev durch eigene Erfahrung auf Séancen und mit eigenen Ü b u n g e n und Versuchen zu ergründen 1 7 5 . Auf diesem G e b i e t der nichtreligiösen Erfahrung des Übernatürlichen verhielt sich Solov'ev bisweilen geradezu wie ein Naturforscher, der seine Erfahrung durch systematische Versuchsanordnung im Experiment sammelt. E r machte diese Experimente, die übrigens im Rußland des 19. Jahrhunderts eine Modeerscheinung waren, als Student auch gerade in seiner naturalistischen Phase, noch bevor er zur Religion und zum Christentum zurückgefunden hatte. Religiös k o n n t e Solov'evs mystische Erfahrung erst nach dieser tiefsten gedanklichen Wende in seinem L e b e n werden. Fortan suchte Solov'ev das Übernatürliche als das Göttliche. Auch der religiösen mystischen Erfahrung 169 Vgl. L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 17. Ebenso: ΛΓ. Mocul'skij, Zizn', S. 9. 1 7 1 Vgl. V.Èrn, Gnoseologia, S. 133; K. Mocul'skij, Zizn', S. 10; A. Vvedenskij, O misticizme, S. 10. 1 7 2 Ebenso:]. Rupp, Message, S. 340ff. 1 7 3 Vgl. Solov'evs Brief Nr. 27 an Ν. N. Strachov, Ρ I, 33 f. 1 7 4 Vgl. Solov'evs Gedicht „Blizko, daleko, ne zdes' i ne tarn", Nr. 10, RG XII, 92; vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 15. 1 7 5 A.a.O. S. 26; s.o. Anm. 173. 170
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t r a u t e S o l o v ' e v n i c h t als f r e m d e r A u t o r i t ä t , s o n d e r n aus e i g e n e r E r f a h r u n g . E r w a r in d i e s e r H i n s i c h t w i e d e r A p o s t e l T h o m a s v e r a n l a g t , d e r die W u n d m a l e des A u f e r s t a n d e n e n s e h e n m u ß t e , e h e e r g l a u b t e . I m A p o s t e l T h o m a s e r k e n n t S o l o v ' e v sich selbst, u n d e r r e c h t f e r t i g t d e n „ r e c h t s c h a f f e n e n
Un-
g l a u b e n " dieses A p o s t e l s u n d aller M e n s c h e n , die f r e m d e r A u t o r i t ä t n i c h t g l a u b e n k ö n n e n 1 7 6 . N i c h t d a ß S o l o v ' e v d e n r e l i g i ö s e n G l a u b e n an d a s G ö t t l i c h e a u f die E r f a h r u n g des M e n s c h e n gründen Stütze
will ( o s n o v a n i e ) , a b e r als
( o p o r a ) f ü r seinen G l a u b e n ist i h m die E r f a h r u n g des G ö t t l i c h e n
u n v e r z i c h t b a r 1 7 7 , u n d e r billigt diese H a l t u n g j e d e m a n d e r e n M e n s c h e n z u . I n d i e s e r M e n t a l i t ä t w i r k t S o l o v ' e v w i e ein Z e i t g e n o s s e des 2 0 . J a h r h u n d e r t s . Solov'ev suchte bewußt und unbewußt, planvoll und voller unbestimmter Sehnsucht die übernatürliche Erfahrung des G ö t t l i c h e n . Erfahren hat er es des öfteren durch Begegnungen mit Frauen. Verständlich, daß Solov'ev deswegen die religiöse mystische Erfahrung des G ö t t l i c h e n i m m e r wieder durch Frauen s u c h t e 1 7 8 . Schon seine erste mystische Erfahrung der Sophia war mit seiner ersten unglücklichen L i e b e v e r b u n d e n 1 7 9 . D i e zweite mystische Vision der Sophia war dagegen die Folge seiner geistigen Beschäftigung mit der Sophiologie und seines Gebetes an die Sophia, sie möge sich ihm offenbaren. D i e überwältigende dritte Vision der Sophia als göttlicher All-Einheit des Seienden schildert Solov'ev schließlich als L o h n seines gläubigen, die kritische Vernunft ausschaltenden Gehorsams gegenüber der S o p h i a 1 8 0 . D i e E r f a h rung des Bildes der ewigen weiblichen Schönheit war sicher die H a u p t f o r m seiner mystischen Erfahrung. A b e r eine andere A r t religiöser mystischer Erfahrung überwog, je m e h r seine Gesundheit gegen E n d e seines Lebens a b n a h m : die Visionen von D ä m o n e n , die Erfahrung des übernatürlichen B ö s e n , das ihn b e d r o h t 1 8 1 .
2 . 2 Die Interpretation Solov'evs
in seinem
der persönlichen
Erfahrung
Denken
Seine mystischen Erfahrungen sowohl des Göttlichen als auch des D ä m o n i s c h e n hat Solov'ev selbst erklärt. Sie sind Ausgangspunkt seines D e n k e n s über das G ö t t l i c h e und das D ä m o n i s c h e , das G u t e und das B ö s e . D i e Visionen der Sophia als seine bedeutsamsten Erfahrungen kann man als den K e i m bezeichnen, aus dem sich die gesamte Weltanschauung Solov'evs entwickelt, die Weltanschauung der A l l - E i n h e i t aller D i n g e in G o t t 1 8 2 . E r selbst hat seine mehrfache Erfahrung der überirdischen weiblichen Schönheit als Erfahrung der All-Einheit b e z e i c h n e t 1 8 3 . Seine Weltan1 7 7 A.a.O. S. 40. 1 7 8 Vgl. V. Velicko, 2izn', S. 203. 12. VP X, 3 7 - 40. Vgl. Solov'evs Gedicht „Tri svidanija", Nr. 124, RG XII, 80f. ( = DG Biogr., Nr. 100, S. 268); vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 16. 1 8 0 Vgl. „Tri svidanija", RG XII, 82 ( = DG Biogr., S.270Í.); vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 6 7 - 7 1 . 1 8 1 Vgl. Solov'evs Gedicht „Das Ewig-Weibliche", Nr. 113, RG XII, 71-73 ( = DG Biogr. Nr. 93, S. 261-263); vgl. V. Velicko, 2izn', S. 169. 1 8 2 Ebenso: W.Szylkarski, Das philosophische Werk, S. 6. 183 Vgl. Solov'evs Erzählung über seine mystische Erfahrung als Neunzehnjähriger, ZTJu XII, 299: „Ich wußte, daß in diesem einen alles war" (s.o. S.33). Vgl. ebenso seine Interpreta176
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schauung war kein rein philosophisches Denken, sondern auch eine religiöse Überzeugung, weil seine dahinterstehende mystische Erfahrung der All-Einheit keine philosophische, sondern eine religiöse Erfahrung war 1 8 4 . Denn Solov'ev erfuhr die Wesenheit und Einheit aller Dinge nicht als philosophisches Prinzip, sondern als personalen Weltgrund im personalen Bild der ewigen weiblichen Schönheit 1 8 5 . Dieses Bild wiederum erfuhr er als die ewige Allweisheit Gottes 1 8 6 im Rahmen der Vorstellungen der russischen orthodoxen Frömmigkeit von der göttlichen Sophia 1 8 7 . Ohne Zweifel deutete Solov'ev seine Sophia-Visionen als Schau der höchsten und göttlichen Wirklichkeit. Deswegen fassen wir seine Berichte darüber als realistischen Symbolismus auf 1 8 8 . Solov'evs ganzes Schaffen erklärt sich von seinen Sophia-Visionen aus als Wirken aufgrund himmlischer Berufung durch die Sophia 1 8 9 . Die mystische und religiöse Erfahrung Solov'evs läßt sich in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit nicht auf einen Nenner bringen. In mehreren Gedichten hat Solov'ev seine mystische Erfahrung auf eine Weise interpretiert, die man nur pantheistisch nennen kann 1 9 0 . Hier zeigt sich: Solov'ev ist selbst durch die religiöse Erfahrung des Pantheismus hindurchgegangen 191 , die er einmal als legitimes und notwendiges Durchgangsstadium der Gotteserfahrung und als Lieblingsreligion der Metaphysiker und Dichter bezeichnet hat 1 9 2 . So wenig die gesamte mystische Erfahrung Solov'evs inhaltlich christlich ist, so wenig war sie in ihrer Art und Weise immer die mystische Erfahrung eines Christen, der mit „reinem Herzen" Gott schaut 193 . Solov'ev war in dieser Hinsicht kein Heiliger nach orthodoxem Verständnis. Seine persönliche Natur war tief erotisch. Die Frauen, in die er sich verliebte, waren für ihn alle erotisch anziehend 194 . Er machte einen Teil seiner mystischen Erfahrungen in einem Zustand erotischer Begeisterung, und gerade seine Erfahrung der All-Einheit kam auch auf diese Weise zustande 195 . Andererseits hat Solov'evs mystische Erfahrung christliche Grundelemente. Sie ist geprägt von einem unerschütterlichen Glauben an das Gute, einem geradezu kindlichen sorglosen Vertrauen auf Gott und einer unendlichen Liebe zu ihm und allen Menschen, die gewiß unter der Verheißung der Seligpreisungen stehen. Deswegen kannte Solov'ev keine Gottesfurcht, deswegen hatte er utopische theokratische Pläne 1 9 6 und erkannte erst spät die Realität und die Macht des Bösen in der Welt. Schließlich hatte Solov'evs Sophia-Erfahrung Züge der russischen orthodo-
tion der dritten Sophiavision, „Tri svidanija", RG XII, 84 ( = DG Biogr., S.273): „Ich sah das All, und alles war nur eines." - Zu Solov'evs mystischer Erfahrung der All-Einheit insgesamt vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 71 und E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 611. 1 8 4 V g l . / R u p p , Message, S. 341. 1 8 5 Vgl. K. Mocul'skij, Zizn', S. 72. 1 8 6 Vgl. W. Szylkarski, Solovjev und die Una Sancta der Zukunft, S. 179. 1 8 7 R E U , FS, 266 ( = DG III, 368); vgl. E. Trubeckoj, Solov'ev i ego delo, S. 85; vgl. F. von Lilienfeld, Sophia - die Weisheit Gottes, passim. íes Vgl. Vj. Ivanov, O znacenii VI. Solov'eva, S. 43. 1 8 9 V g l . / Rupp, Message, S. 342. 1 9 0 Vgl. die Gedichte „Zemlja vladycica!", Nr. 33, RG XII, 22 ( = DG Biogr., Nr. 22, S. 213) und „Lis' zabudes'sja dnem", Nr. 119, RG XII, 77 ( = DG Biogr., Nr. 102, S. 276). 1 9 1 So auch: L. Müller, Anmerkungen zu GB, DG VIII, 591. 1 9 2 PB IX, 16. 1 9 3 Vgl. Mt 5,8. 1 9 4 Vgl. K. El'cova, Sny nezdesnie, S. 2 5 2 - 2 5 5 . 1 9 5 So auch: E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 611. 1 9 6 Vgl. E. Trubeckoj, Solov'ev i ego delo, S. 86f.; ders., Mirosozercanie, Bd. II, S. 378. E. Trubeckoj vergleicht Solov'evs theokratische Ideen mit den Hütten, die Petrus auf dem Berg Tabor bauen wollte, nachdem er den verklärten Christus gesehen hatte.
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xen F r ö m m i g k e i t 1 9 7 . Solov'ev ging in seiner Erfahrung des Göttlichen im Menschen, in seiner Schau der vom göttlichen Licht verklärten Menschen, in den Spuren der russischen orthodoxen Mystiker wie Sergij von Radonez und Serafim von S a r o v 1 9 8 . So ist eine der Erklärungen für die Wichtigkeit der mystischen Erfahrung bei Solov'ev ihre Wichtigkeit in der Frömmigkeit der russischen Orthodoxie.
Das Verhältnis der vielfältigen und unterschiedlichen Erfahrung Solov'evs zu seinem Denken darüber und zu seiner Erkenntnislehre überhaupt können wir erst nach deren Untersuchung bestimmen. Zwei vorläufige Vermutungen sind aber hier schon angebracht: einerseits die Vermutung, daß Solov'evs religiöse mystische Erfahrung von seinen christlichen und orthodoxen Anschauungen genährt wurde 1 9 9 ; andererseits die Vermutung, daß die mystischen Erfahrungen Solov'evs die Grundlage seines gesamten philosophischen und theologischen Denkens sind, das heißt nicht nur seiner Erkenntnislehre, sondern auch seiner Metaphysik und Geschichtsauffassung 2 0 0 . Dies wird in den zwei wichtigsten Änderungen des Denkens Solov'evs deutlich. Die synthetische Erkenntnislehre und Metaphysik Solov'evs in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" und in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" folgt seinen Sophia-Visionen in London und Ägypten und seiner Erfahrung der All-Einheit in diesen Visionen 2 0 1 . Die pessimistische Sicht der Weltgeschichte in den „Drei Gesprächen" folgt Solov'evs Visionen von Dämonen und seiner persönlichen Erfahrung, daß das Böse in der Welt mächtig ist und zunimmt 2 0 2 . An diesen beiden Punkten wird besonders deutlich, was man allgemein vermuten kann: daß sich Solov'evs mystische und religiöse Erfahrung in seinem Denken widerspiegelt.
2.3 Lebensaufgabe
und Berufung
Solov'evs
2.31 Der Denker und Dichter Solov'evs eigene Sicht seiner Lebensaufgabe und seiner Berufung bestätigt diese Vermutungen. Wenn wir auf alles blicken, was Solov'ev schriftlich der Nachwelt hinterlassen hat, sehen wir ihn als universalen Denker und Dichter 2 0 3 . Und so hat er sich auch selbst gesehen. Von seinen ersten Schriften an wollte Solov'ev sich als ein Denker erweisen, der „die universale Synthese der positiven Wissenschaft, der Philosophie und der Religion" zum höchsten Ziel hat und ständig daran arbeitet 2 0 4 . Solov'ev wollte selbst Natur- und 197 199 201 202 203 204
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1 9 8 Vgl. Vs. Ivanov, Filosofia, S. 8. S. o. Anm. 187. 2 0 0 So auch: V Èrti, Gnoseologija, S. 134. Vgl.J.Rupp, Message, S.3 24 . S.o.S. 40 f. S.o. S. 45f.; vgl. IS IX, 273; vgl. L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 520. Ebenso: W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 4. K Z F I , 151.
Geschichtswissenschaftler, Philosoph und Theologe sein. E r verstand sich nicht als ein reiner Theoretiker, sondern als L e b e n s p h i l o s o p h 2 0 5 , der spekulatives und empirisches Wissen miteinander verbindet 2 0 6 und damit auch seine eigene Lebenserfahrung in allen Bereichen, auch seine mystische und religiöse Erfahrung, in sein Denken integriert. E r sah sich dabei als orthodoxer Theologe und war sich sicher, daß seine theologischen U b e r z e u g u n g e n und Schriften in voller Übereinstimmung mit der Lehre der O r t h o d o x i e stehen, wie sie im Wort Gottes, den Definitionen der sieben ökumenischen Konzilien und den Zeugnissen der Kirchenväter gegründet ist 2 0 7 . - In seinen späteren Jahren betrachtet sich Solov'ev auch als Dichter. Zunächst sah er es nur als seine A u f g a b e an, die schöpferische dichterische Intuition anderer zu interpretieren. Immer klarer - bestätigt durch die H o c h s c h ä t z u n g seiner Gedichte in der Öffentlichkeit - hatte er aber gegen E n d e seines Lebens selbst das Bedürfnis und den Anspruch, in seinen Gedichten seine eigene Intuition, nämlich seine mystische und religiöse Erfahrung, in ästhetischer F o r m zu vermitteln 2 0 8 . So findet er schließlich zur dichterischen Schilderung und D e u t u n g seiner Sophia-Visionen in seinem Gedicht „Drei B e g e g n u n g e n " 2 0 9 . Solov'ev hat sich einmal als „Laienschriftsteller" bezeichnet und spielte damit auf eine seiner anonymen Publikationen a n 2 1 0 . Dies ist keine selbstironische Bezeichnung, sondern entspricht ganz seinem Selbstverständnis. Er war nie examinierter Theologe und nach seinem Abschied von der Universität Privatphilosoph. Seine Werke bezeichnete er selbst als „ T h e o s o p h i e " , als Synthese aus Theologie und Philosophie, und es mischte sich unter seine theoretischen theosophischen Abhandlungen immer mehr Dichtung in erzählender und lyrischer F o r m . - So erscheint Solov'ev in seinem Selbstzeugnis als Denker und Dichter in einem, der die Wahrheit von der All-Einheit der Welt in G o t t , die er mystisch erfahren hat, durch theosophisches D e n k e n und dichterisches Schaffen vermitteln will. Seine Zeitgenossen und die N a c h w e l t haben in Solov'ev ganz überwiegend nur den Philosophen und den Dichter, nicht aber den Laientheologen gesehen, der er war. So haben ihn seine philosophischen B e w u n d e r e r den „ersten und tonangebenden russischen P h i l o s o p h e n " g e n a n n t 2 1 1 , und noch einer seiner Kritiker bezeichnete ihn als „den originellsten Philosophen ganz E u r o p a s im letzten Viertel des ^ . J a h r h u n d e r t s " 2 1 2 . S o schätzten viele russische Dichter Solov'ev als Lyriker. M a n rechnete ihn bald nach seinem T o d wegen seiner G e d i c h t e zu den russischen Symbolisten und bezeichnete ihn wegen der Echtheit seiner Visionen als „realistischen S y m b o l i -
2 0 6 K Z F 1,27. F N C Z 1,291. Brief N r . 5 an die R e d a k t i o n der Zeitschrift „ N o v o e V r e m j a " , Ρ III, 178. 2 0 8 Vgl. S o l o v ' e v s G e d i c h t „ A . A . F e t u " N r . 104, R G X I I , 66 ( = D G B i o g r . , N r . 86, S. 2 5 6 f . ) ; vgl. auch L. Müller, A n m e r k u n g e n z u den G e d i c h t e n , D G B i o g r . , 3 4 5 f . 205
207
209 210 211 212
„Tri s v i d a n i j a " , N r . 124, R G X I I , 8 0 - 8 6 ( = D G B i o g r . , N r . 100, S. 2 6 7 - 2 7 5 ) . R E U , F S , 182 ( = D G III, 2 3 5 ) : „écrivain l a i q u e " . Vgl. z . B . N. Grot, R e c e n z i j a na „ V S : O D " , S. 160. L. Lopatin, F i l o s o f s k o e m i r o s o z e r c a n i e , S. 45.
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sten" 2 1 3 . Daß man in Solov'ev kaum den Theologen sah und sieht, liegt wohl daran, daß orthodoxe Theologen im Gegensatz zu Solov'evs eigenem Dafürhalten vor allem seine Sophia-Lehre nicht für orthodox hielten 2 1 4 .
2.32 Der Prophet Übereinstimmend haben Solov'evs Zeitgenossen, die ihm persönlich begegnet waren und seine Werke kannten, in ihm einen prophetischen Zug beobachtet. Sergej Bulgakov berichtet, viele hätten Solov'ev teils zum Spaß, teils ernsthaft einen Propheten genannt, und zwar sowohl wegen seines Äußeren, das die innere Glut des Propheten verriet, als auch wegen seiner prophetischen Lehre 2 1 5 . Gerade in seinen Gedichten und Erzählungen ist Solov'ev der Prophet der Göttlichkeit im Menschen, der Prophet der zukünftigen Verwirklichung der Einheit von Gott und Mensch im Reich Gottes. Deswegen wurde Solov'ev der prophetische Dichter oder der „DichterProphet" (prorok-poèt) genannt 216 - eine Bezeichnung, die Solov'ev in dieser Verbindung von Dichtertum und Prophetentum bewußt neben den größten russischen Dichter, neben Aleksandr Puskin stellt, der die wahre Aufgabe des Dichters das prophetische Verkünden des göttlichen Wortes, das er vernimmt, genannt hatte 2 1 7 . In der Tat hat Solov'ev selbst sein Denken und Dichten als prophetische Aufgabe verstanden. Seine Art zu dichten hat er in dem Gedicht „Im Lande eisiger Schneestürme" charakterisiert, das er an den Anfang aller von ihm selbst besorgten Ausgaben seiner Gedichte stellte 218 . In ihm sieht der Dichter Solov'ev sich als Prophet Gottes, der in einer Gott feindlichen Welt auf Gott wartet und ihn ohne Furcht schließlich in der Stille erkennt. Seine Dichtung will der prophetische Ausdruck der Erfahrung der göttlichen Welt sein: So drückt es Solov'ev am Ende seines Gedichts „Drei Begegnungen" aus, in dem er seine Sophia-Visionen schildert 219 . Diese Visionen sind für Solov'ev eine wiederholte himmlische Berufung zum Propheten Gottes, zum Propheten der gottmenschlichen All-Einheit, die er erfahren hatte 2 2 0 . Nicht nur sein Dichten ist von daher ein bewußt prophetisches Handeln. Solov'ev sieht vielmehr sein ganzes Denken, alle seine philosophischen und theologiVj.Ivanov, O znacenii VI. Solov'eva, S. 43; V. Velicko, Zizn', S. 118. S . o . S. 48f. und Anm. 124. 215 S. Bulgakov, C t o daet, S. 262. 2 1 6 Vgl. V. Velicko, 2izn', S. 67f.; Vj. Ivanov, O russkoj idee, S. 321 ff. 2 1 7 Vgl. die beiden Gedichte Puskins „Prorok" („Der Prophet") und „Poét" („Der Dichter") in: Λ. S. Puskin, Socinenija, Bd. I, S. 229f. 241. 2 1 8 „V strane moroznych v'jug" (1882), Gedicht N r . 1, R G X I I , 7 ( = D G Biogr., N r . 11, S. 204f.); vgl. L. Müller, Anmerkungen zu den Gedichten, D G Biogr., S. 326. 2 1 9 „Tri svidanija", vorletzte und letzte Strophe, N r . 124, R G X I I , 85f. ( = D G Biogr., Nr. 100, S. 274 f.). 2 2 0 S.o. S. 59 und Anm. 189. 213
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sehen Schriften als prophetischen Dienst an der von Gott entfremdeten Menschheit. Durch diese denkerische und schriftstellerische Arbeit nimmt Solov'ev aus seiner Sicht ein drittes grundlegendes, von Gott gegebenes Amt wahr neben dem Priesteramt, das im Papst seinen höchsten Ausdruck findet, und neben dem Königtum, das im russischen Zaren seinen machtvollsten und nach Solov'ev vollkommensten Ausdruck findet: eben das Prophetenamt, das sowohl der verfaßten Kirche wie dem Staat „das vollkommene Ideal der vergotteten Menschheit als oberstes Ziel ihres gemeinsamen Handelns vorhält" 2 2 1 . Solov'ev stellt sich selbst sein Ideal eines Propheten vor Augen: Der Prophet ist der Gipfel des freien Gewissens der Menschheit 2 2 2 ; deshalb muß er eine vom Priestertum und vom Königtum und von allen anderen menschlichen Kräften völlig unabhängige Stellung haben 2 2 3 . Hier wird deutlich, daß Solov'ev diesem selbstgestellten Ideal entsprechend weder Theologe an einer Geistlichen Akademie sein konnte, die der kirchlichen Hierarchie untergeben ist, noch Professor für Philosophie an einer staatlichen philosophischen Fakultät und damit Staatsdiener. Weiterhin gehört zu Solov'evs Ideal vom Propheten, daß er von der Einheit der Menschen in Gott nicht nur redet, sondern sie in „prophetischen Akten" ansatzweise verwirklicht 2 2 4 . So wird Solov'evs „Akt der Vereinigung" mit der römisch-katholischen Kirche durch seine Kommunion bei einem unierten Priester 2 2 5 und so werden seine vielfältigen praktischen Bemühungen um eine Verständigung und Vereinigung der russischen Orthodoxie mit dem römischen Papst verständlich. Solov'ev sah sich als Prophet der Vereinigung von Gott und Menschheit, im besonderen aber als Prophet der Einheit der universalen Kirche. Deswegen bezeichnete er sich als Prophet, der im Namen von hundert Millionen russischer Christen das Amen zur Vereinigung der Ostkirche mit Rom in Wort und Tat spricht 2 2 6 . Auch seiner Vorstellung, daß ein wahrer Prophet die Zukunft nicht durch abstrakte Spekulation, durch konkrete Vorhersage irdischer Zustände oder durch magische Macht vorwegnimmt, sondern durch seine persönliche Vereinigung mit dem lebendigen Gott durch Seele und H e r z 2 2 7 — auch diesem seinem prophetischen Ideal wurde Solov'ev gerecht, indem er sich in seinem Denken und Handeln auf seine „Berufungsvisionen" der Sophia berief und die Vereinigung mit Gott als Ziel jedes Menschen verkündete. Solov'ev war nie, auch nicht in seiner „Kurzen Erzählung vom Antichrist", ein Hellseher und hat nie auf übernatürliche Weise Einzelheiten der irdischen Zukunft vorausgesagt 2 2 8 . Er war vielmehr der Künder der 2 2 2 OD VIII, 509. 2 " A.a.O. S. 508. REU, FS, 291 ( = DG III, 409). 2 2 5 S.o.S.53f. REU, FS, 272 ( = DG III, 377f.). 2 2 6 REU, FS, 148-151, hier S. 150 ( = DG III, 184-188, hier S. 188). 2 2 7 REU, FS, 272f. ( = DG III, 378-380). 2 2 8 Das gilt auch für Solov'evs Schilderung der Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts in der „Kurzen Erzählung vom Antichrist", die er in seinem Vorwort zu den „Drei Gesprächen" für „nicht unbedingt gewiß" und nur in ihren wesentlichen Zügen für bedenkenswert hält (vgl. TR X, 89f.). Ebenso: S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S. 110. 221
224
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göttlichen Wahrheit, Güte und Schönheit, die auch die Zukunft aller Menschen sein sollen, und der wahre Prophet des sich nahenden Reiches Gottes 229 . Man mag Solov'ev deswegen einen Utopisten nennen. Das haben viele zu seinen Lebzeiten getan. Solov'ev kannte diese Vorwürfe und nahm sie an 230 . Er sah sich selbst positiv als einen konkreten Utopisten, der erfahren hat, was er für die Menschheit als Zukunft vor Augen hat. Seine Prophetie richtete er gerade an die sogenannten Realisten und Pragmatiker in Kirche und Staat: „Man kann kühn sagen, daß Utopien und Utopisten immer die Menschheit gelenkt haben, die sogenannten Pragmatiker aber immer nur ihre unbewußten Werkzeuge gewesen sind" 231 . So mag man angesichts so verschiedener Verhaltensweisen und Hoffnungen wie Solov'evs praktischen Bemühungen um die Vereinigung der Kirchen oder wie seinen Plänen für eine vollkommene Synthese von Naturwissenschaften, Philosophie und Religion, und angesichts seiner Begegnungen mit der ewigen Schönheit der himmlischen Sophia ebenso wie mit irdischen weiblichen Schönheiten Solov'ev einen „edlen Schwärmer" nennen 232 - Solov'ev selbst sah all dies als einen prophetischen, wahrhaft zukunftsweisenden Dienst, den er Rußland und der ganzen Menschheit leistet.
2.33 Der Asket und Narr um Christi willen N u r wenige außer Solov'ev selbst haben seinen Versuch einer Synthese aus empirischem Wissen, Philosophie, Theologie und inspiriertem künstlerischem Schaffen als einen prophetischen Dienst verstanden 2 3 3 . Als prophetischer Dienst wurden viel eher seine für ein breites Publikum geschriebenen „Drei Gespräche" bewertet wegen seiner darin enthaltenen erzählenden Schilderung des Endes der Geschichte. Vor allem Solov'evs Lebensführung hielten mehr Beobachter für prophetisch als seine theoretischen Schriften. Sein Leben wirkte auf viele, die Solov'ev persönlich kennengelernt hatten, als der ernsthafte Versuch und der unbedingte Wille, in sich die Qualitäten eines christlichen Asketen zu entwickeln 2 3 4 . In der Tat treffen wir in Solov'evs Lebensführung auf seine stille Berufung. Sie ist verglichen mit seiner prophetischen Berufung durch die Sophia-Visionen weniger offensichtlich, aber genauso einflußreich für sein Leben und Werk gewesen. Es ist eine Berufung, die Solov'ev schon vor seinem prophetischen Selbstverständnis von Anfang seiner philosophischen und theologischen Studien an bewußt ist und die später einen Teil seines prophetischen Dienstes bildet: die Berufung zum Asketen und zum kompromißlosen Kämpfer für die Einheit von Gott und Menschheit. 229
Vgl. G.Racinskij, Vzgljad, S. 137; vgl N. Zernov, Three Russian Prophets, S. 151.
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REU, FS, 150 ( = D G III, 187). K O N II, 119, Anm. 74.
231
232
So W. Szylkarski, Das philosophische Werk, S. 13.
233
Zu ihnen gehört S. Bulgakov. Vgl. S. Bulgakov, Cto daet, S. 262.
234
So z.B. È.Radlov, Nekrolog, S. 44.
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Bereits als 20jähriger trennt sich Solov'ev von seiner mit ihm so gut wie verlobten Freundin und Cousine Katja, weil ihm bewußt ist, daß seine Lebensaufgabe, die Synthese von Naturwissenschaft, Philosophie und Religion, nicht ohne einen „Lebenskampf" (ziznennaja bor'ba) zu bewältigen ist 2 3 5 . Diesem Lebenskampf will Solov'ev alle seine geistigen und physischen Kräfte widmen, und das schließt für ihn eine Ehe aus und verweist „persönliche und familiäre Beziehungen immer auf einen zweitrangigen Platz" in seinem Leben 2 3 6 . Zugunsten seiner denkerischen Arbeit wollte sich Solov'ev auf dem Gebiet der persönlichen Beziehungen asketisch beschränken. Soviel wir über seine Freundschaften zu Frauen wissen, ist der Versuch der Askese auf diesem Gebiet mißlungen. Selbst wenn seine Beziehungen zu Frauen immer ideeller Natur geblieben sein sollten 237 - seine innere Natur, seine brennende Leidenschaft, konnte Solov'ev gegenüber mehreren Frauen in seinem Leben nicht bezwingen 238 . Er band sich innerlich in einer Weise an Frauen, die nicht frei von Egoismus war. Gerade auf dem Gebiet, auf dem er als 20jähriger zuerst den asketischen Kampf begonnen hatte, blieb es also bei einem lebenslangen, für ihn oft quälenden Kampf. In vielen anderen Bereichen des Lebens entwickelte Solov'ev dagegen ein wirklich dem Ideal der christlichen Askese entsprechendes Verhalten. Seine harte Arbeit bis zum physischen Zusammenbruch, seine weithin bekannte Freigebigkeit, Güte und bewußte Armut, seine beständige Wanderschaft ohne eigenes Zuhause 239 , seine Sorglosigkeit um die eigene Existenz 2 4 0 - all das sind Züge eines „kenotischen Lebens" 2 4 1 in der Nachfolge Christi, das vom Geist der Bergpredigt geprägt ist. Besonders charakteristisch sind für Solov'ev zwei Akte geistiger Askese gewesen. Erstens verzichtete er auf jede Art von politischem, kulturellem oder kirchlichem Nationalismus und distanzierte sich von den Slavophilen seiner Zeit genauso wie von den Vertretern des Staates und der Staatskirche in Rußland 242 . Zweitens übte er in den letzten Jahren seines Lebens eine bewußte Selbstenthaltsamkeit im Bereich der intellektuellen Spekulation und der philosophischen Systembildung 243 , Brief Nr. 15 an E. Romanova, Ρ III, 82. Ebd. 2 3 7 So F. Muckermann, Wladimir Solowiew, S. 99. 238 V Velicko, Zizn', S. 200. 2 3 9 E. Trubeckoj bezeichnete Solov'ev deshalb als „Typ des Pilgers" („tip strannika"), der sich nirgends auf Erden länger aufhält, weil er das himmlische Jerusalem sucht (vgl. E. Trubeckoj, Licnost' V.S. Solov'eva, S. 73). Diese Art ständigen Pilgertums war eine typische Erscheinung der orthodoxen Frömmigkeit in Rußland, auch im 19. Jahrhundert (vgl. die „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers", hrsg. von E.Jungclaussen, Teil I, 3. Erzählung, S. 86f.). 2 4 0 Vgl. V Velicko, Zizn', S. 150. 165. 2 4 1 So N. Gorodetzky, The Humiliated Christ, S. 129. 242 Vgl. S. Frank, Duchovnoe nasledie, S. 7 f. 2 4 3 Dies wird deutlich in Solov'evs „Theoretischer Philosophie" in der Absage an spekulative rationalistische Metaphysik (s.u. S . 2 9 3 - 2 9 5 ) und in seinen „Drei Gesprächen" in der Entlarvung des Bösen, das im intellektuellen und kulturellen Fortschritt verborgen mächtig ist (s. u. S. 320). 235 236
65
die seiner eigenen Neigung und seiner selbstgestellten Lebensaufgabe widersprach und die man zu Recht als asketischen Verzicht auf intellektuelle Inspiration, Leistung und Glanz bezeichnen kann 2 4 4 . Die intellektuelle Selbstbeschränkung Solov'evs auf eine phänomenologische Sicht der menschlichen Erkenntnis in seiner „Theoretischen Philosophie" und auf eine verständliche, erzählende Darstellung des Guten und Bösen in seinen „Drei Gesprächen" mit dem Ziel, eine Entscheidung vieler für das Gute herbeizuführen, halten wir für Solov'evs abschließende und größte Berufung als Denker. Durch seine „intellektuelle Askese" ist es Solov'ev in seinen letzten Schriften 2 4 5 möglich gewesen, seine mystische und religiöse Erfahrung des Göttlichen und Dämonischen, des Guten und Bösen, allgemeinverständlich weiten Kreisen der russischen gebildeten Bevölkerung zu vermitteln. Er wurde damit trotz seiner zurückgezogenen Lebensweise 2 4 6 so etwas wie ein „Weiser auf der Straße" (vgl. Spr. 1,20), der die Wahrheit der göttlichen Weisheit, die sich ihm offenbart hatte, öffentlich der Menge verkündigte 2 4 7 . In seiner „Kurzen Erzählung vom Antichrist" haben manche sogar das Werk eines „Narren in Christus" (jurodivyj) gesehen, der der russischen orthodoxen Tradition gemäß dadurch, daß er den Narren spielt, schonungslos die eschatologische Wahrheit sagt 2 4 8 . In der Tat finden sich im gesamten Leben Solov'evs, und nicht nur in seiner „Erzählung vom Antichrist", Elemente und Charakteristika eines typischen Narren um Christi willen, wie sie in der russischen Hagiographie festgehalten sind: seine Berufung, seine fortwährende Wanderschaft, seine Askese, seine eschatologische Prophetie und U n terscheidung der Geister und seine Unabhängigkeit, die ihm politische und gesellschaftliche Kritik erlaubt 2 4 9 . Was die Narren um Christi willen in der Orthodoxie zu Heiligen machte, war letztlich ihre Leidenschaftslosigkeit (απάθεια), die Kindlichkeit ihres Gemüts und die Reinheit ihres Herzens 2 5 0 . Genau hier aber bleiben Fragen an Solov'evs Berufung zum PropheVgl. Vj. Ivanov, O znacenii VI. Solov'eva, S. 42. Besonders in den „Sonntags- und Osterbriefen" und in den „Drei Gesprächen". 2 4 6 Solov'ev kam so gut wie nie mit dem einfachen Volk in Kontakt, sondern blieb immer in der Gesellschaft des russischen Großbürgertums und Adels. Die einzige Ausnahme bildet Solov'evs Aufenthalt als zahlender Gast im Hause einer Bauernfamilie im Dorf Morscicha im Sommer 1892, in dem er Quartier bezog, um seiner Geliebten Sof'ja Michajlovna Martynova nahe zu sein. Wegen des Lärms in jenem Bauernhause konnte er aber nicht arbeiten und zog sich rasch wieder von dieser „Annäherung an das Volk" zurück. Vgl. den Brief Solov'evs an Fürst D . N . Certelev (1892), Ρ I V , 163f.; vgl. auch K. Mocul'skij, Zizn', S. 197-199. 2 4 7 Man hat Solov'ev wegen seiner letzten Schriften die Wiederholung des klassischen Bildes des Philosophen, das Sokrates darstellt, genannt (Vs. Ivanov, Filosofija, S. 11), oder man hat auch seine späten Schriften und sein Leben mit der volkstümlichen Gestalt, der Lehre und dem Wanderleben des ukrainischen Philosophen Skovoroda verglichen, mit dem Solov'ev über seine Mutter verwandt war (vgl. V. Velicko, Zizn', S. 23). S. o. S. 32 und Anm. 14. 2 4 8 So z.B. Vj.Ivanov, O russkoj idee, S. 322. 2 4 9 Vgl. J.Saward, Perfect Fools, S . 2 1 - 3 0 ; vgl. P.Hauptmann, Die „Narren um Christi willen", S. 2 7 - 4 9 . 250 J.Saward, a.a.O. S. 30. 244
245
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ten, Asketen und Narren in Christus offen. Solov'ev hat die göttliche Herrlichkeit geschaut und Gott erfahren, aber ein Heiliger, der nach Solov'evs eigener Anschauung die vollkommene moralische Vereinigung mit Gott in seinem Leben bezeugt 2 5 1 , war Solov'ev nicht. Er strebte nach dem Ideal der christlichen Askese, und sein Leben war, wie er es sich vorgenommen hatte, in dieser Hinsicht ein beständiger Kampf. O b er in diesem Kampf sein eigenes asketisches Ideal erreichte 2 5 2 oder nicht, ob er, wie wir annehmen, als Sieger in seinem Lebenskampf und als wirklicher Asket starb 2 5 3 oder nicht, ist nicht wichtig für unsere Interpretation seines Denkens. Entscheidend dafür ist vielmehr die sichere Tatsache, daß Solov'evs Selbstverständnis und seine Berufung als Denker und Dichter, als Philosoph, Theologe, Prophet, Asket und Narr um Christi willen von seiner mystischen und religiösen Erfahrung der gottmenschlichen All-Einheit abhängig und von ihr geprägt ist. Wenn es wahr ist, daß die Größe Solov'evs in seiner Persönlichkeit liegt 2 5 4 , so ist es um so wichtiger für uns, bei der Untersuchung seines Denkens über mystische und religiöse Erfahrung seine persönliche Erfahrung im Auge zu behalten und bei der Beurteilung zu berücksichtigen.
3. Die theosophische Sprache Solov'evs 3.1 Sprache der Erfahrung in allgemeinen
Begriffen
Wenn wir die mystische und religiöse Erfahrung im Denken Solov'evs untersuchen, müssen wir auch auf die Eigenart der sprachlichen Formulierung seines Denkens achten. Denn seine Sprache ist nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in seinen philosophischen und theologischen Schriften von seiner eigenen mystischen Erfahrung beeinflußt. Diese Erfahrung bezeichnet Solov'ev in seinen frühen philosophischen Schriften als „innere oder mystische Wahrnehmung" (vnutrennoe ili misticeskoe vosprijatie) 2 5 5 , „unmittelbare Empfindung" (neposredstvennoe oscuscenie) 2 5 6 und „unterschiedsloses Gefühl" (bezrazlicnoe cuvstvo) 2 5 7 - eine Erfahrung, die bei allen Menschen gleich ist, die sich aber, weil sie alle Definitionen, Beziehungen, Vorstellungen und Bilder hinter sich läßt, eigentlich nicht in Worte fassen läßt 2 5 8 . Dennoch will Solov'ev nicht wie Goethe im Gefühl " i R E U , FS, 272 ( = DG III, 3 78).
25* £. Radlov, Nekrolog, S. 44.
So auch S. Trubeckoj, Smert', S. 352. S.Trubeckoj nennt Solov'evs Lüben das Leben eines Asketen und Glaubenskämpfers (zizn' podviznika), das seinen Glauben und sein Denken rechtfertigt. 2 5 4 Vgl. A.Koschewnikoff, Geschichtsphilosophie, S. 306. Selbst in der offiziellen sowjetischen Philosophiegeschichte wird Solov'evs Persönlichkeit positiv als human, mutig und frei gewürdigt, während sein Werk als idealistisch abgelehnt wird (vgl. L.Kogan, V.S. Solov'ev, S. 378. 380. 392). 2 5 5 K O N II, S.X. 13 . 30 8 . 2 5 6 F N C Z I , 335. 347; K O N II, 301. 2 5 7 F N C Z I, 310. 347f.; K O N II, 3 08 . 2 5 8 F N C Z 1,347; K O N II, 308. 253
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alles sehen, die sprachlichen Ausdrücke für diese Erfahrung aber nur als Schall und Rauch gelten lassen 2 5 9 . Vielmehr will er durch seine Sprache - in seinen Gedichten in Zeichen, Symbolen und Bildern, in seinen theoretischen Schriften meist durch abstrakte Begriffe - seine mystische Erfahrung der AllEinheit so ausdrücken und vermitteln, daß sie von anderen auch erlebt werden kann 2 6 0 . Seine Sprache entspringt aus seiner unmittelbaren mystischen Erfahrung und wird in seinen philosophischen und theologischen Schriften von der Vernunft geformt: sie ist daher zugleich experimentell und rational 2 6 1 . Sie kann in der letzten Tiefe ihrer erfahrungsmäßigen, über alle Sprachen hinausgehenden Bedeutung nur von jemandem verstanden werden, der wie Solov'ev selbst offen ist für neue sprachliche Begriffe und die innere sprachlose Erfahrung der Einheit mit Gott. Aber auch die Untersuchung der rationalen Form der wissenschaftlichen Sprache Solov'evs auf ihre philosophischen, theologischen und persönlichen erfahrungsmäßigen Wurzeln bringt uns dem Verständnis der Solov'evschen Erfahrung der AllEinheit in Gott näher, die sich jenseits aller Sprachmöglichkeiten ereignet. Solov'evs experimentell-rationale Sprache ist eine theosophische Sprache, daß heißt, sie bildet eine Synthese aus übernommenem philosophischem und theologischem Sprachgebrauch und aus Solov'evs eigener, von seiner mystischen Erfahrung geprägter Sprache. Dies ist Solov'evs grundlegende sprachliche Eigenart. Sie erschließt sich nur im russischen Original. Denn erst in den russischen Begriffen kann man Übernommenes und Eigenständiges in Solov'evs Sprache unterscheiden. Dies soll an einigen Beispielen deutlich werden. A u s der r u s s i s c h e n P h i l o s o p h i e , g e n a u e r v o n d e n f r ü h e n S l a v o p h i l e n , hat S o l o v ' e v die U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n „ r a s s u d o k " (Verstand), der auf äußerliche E r k e n n t n i s b e s c h r ä n k t ist, u n d „ r a z u m " ( V e r n u n f t ) , der die t r a n s z e n d e n t e Wahrheit e r k e n n t , ü b e r n o m m e n . S o l o v ' e v hat diese U n t e r s c h e i d u n g aber k o n s e q u e n t e r als f r ü h e r e r u s s i s c h e P h i l o s o p h e n a n g e w a n d t u n d sie auf die A b l e i t u n g e n der W o r t s t ä m m e „ r a s s u d o k " u n d „ r a z u m " a u s g e d e h n t . S o spricht er negativ v o n „ r a s s u d o c n o e m y s l e n i e " ( V e r s t a n d e s d e n k e n ) 2 6 2 u n d v o n „ r a s s u z d e n i e " ( S c h l u ß f o l g e r u n g ) 2 6 3 als d e m rein l o g i s c h e n D e n k e n des D e n k e n s H e g e l s , d a s z u keiner w a h r e n E r k e n n t n i s f ü h r t . Positiv v e r b i n d e t S o l o v ' e v d a g e g e n „ r a z u m " in erstaunlichen s p r a c h l i c h e n W e n d u n gen mit der G o t t e s e r k e n n t n i s i m G l a u b e n u n d in der m y s t i s c h e n E r f a h r u n g der A l l Einheit. E r v e r b i n d e t den G l a u b e n u n d die V e r n u n f t als z w e i sich e r g ä n z e n d e Mittel w a h r e r E r k e n n t n i s G o t t e s , w e n n er v o m „ v e r n ü n f t i g e n G l a u b e n " s p r i c h t ( r a z u m n o u v e r o v a t ' 2 6 4 , r a z u m n a j a v e r a 2 6 5 ) . D i e G o t t e s e r k e n n t n i s d e r K i r c h e nennt S o l o v ' e v „ r a z u m e n i e " ( V e r s t e h e n ) 2 6 6 . D i e s ist die K o n s e q u e n z seines B e g r i f f s v o n „ r a z u m " ( V e r n u n f t ) o d e r „ r a z u m n o s t ' " ( V e r n ü n f t i g k e i t ) : D a m i t b e z e i c h n e t S o l o v ' e v die reale
259 260
261 262 265
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F N C Z I, 348; K O N II, 308; s.u. S.215. So auch: V. Truhlar, Le Langage, S. 42f. V. Truhlar, a.a.O., S. 42, nennt Solov'evs Sprache „un langage expérimental-rationnel". 2 6 3 A.a.O. S. 128 . 2 6 4 TS 1,239. KZFI.102. 2 6 6 I B T I V , 324. T R X , 190.
Wechselbeziehung von Erkennendem und Erkanntem in der Einheit des Seins, so daß die Vernünftigkeit der Erkenntnis in ihrer Wechselbeziehung mit allem Erkanntem in der All-Einheit besteht 2 6 7 . So verbindet Solov'ev die Vernunft als die sprachliche Form der Wahrheit mit dem Glauben an die Wahrheit und mit ihrer unmittelbaren Erfahrung durch die Vorstellung der All-Einheit 2 6 8 . Er hat damit den bisherigen Gebrauch von „razum" in der russischen Philosophie entscheidend erweitert 2 6 9 . Einen nicht geringen Teil seines Wortschatzes hat Solov'ev aus der russischen orthodoxen Theologie ü b e r n o m m e n . Er hat aber charakteristische Änderungen vorgenommen, auf die wir später eingehen, w o es nötig erscheint. Aus ihnen werden Solov'evs eigene theologische Urteile deutlich. So ist zum Beispiel die kleine Ä n d e rung nicht unbedeutend, daß Solov'ev im Gegensatz zur offiziellen orthodoxen Theologie die „kirchliche Tradition" (cerkovnoe predanie) mit kleinen Anfangsbuchstaben schreibt, während er gleichzeitig wie in der Schultheologie die „Heilige Schrift" (Svjascennoe Pisanie) groß schreibt 2 7 0 . Damit drückt Solov'ev seine höhere Wertung des Wortes Gottes als Quelle der Gotteserkenntnis im Vergleich zur kirchlichen Tradition aus. G a n z zentral ist bei Solov'ev seine eigenständige A b ä n d e r u n g und Erweiterung des Begriffs „Bogocelovek" (Gottmensch) f ü r das Wesen der Person Christi, den er von den griechischen Vätern ü b e r n i m m t , z u m abstrakten Begriff „Bogocelovecestvo" (Gottmenschentum), mit dem Solov'ev die Wechselwirkung und fortschreitende innere Vereinigung Gottes mit der gesamten Menschheit ausdrückt 2 7 1 . H i e r wird ein theologischer Begriff, der die Einheit der göttlichen und menschlichen N a t u r in Christus bezeichnet, von Solov'ev in seine Theologie der AllEinheit integriert. Dabei zeigt sich eine weitere sprachliche Eigenart Solov'evs. Er bevorzugt es in seinen theoretischen Schriften, seine lebendige mystische Erfahrung der All-Einheit um der gedanklichen Klarheit willen in abstrakten, allgemeinen Begriffen auszudrükken 2 7 2 . Diese Begriffe sind manchmal von ihm selbst gebildet wie der Begriff „ G o t t menschentum". Sie sind weder rein philosophisch noch theologisch zu verstehen, sondern theosophisch. So spricht Solov'ev relativ selten in der traditionellen Sprache der O r t h o d o x i e von der Vergöttlichung des Menschen, häufiger dagegen vom „ G o t t menschentum". Er redet nie philosophisch vom Pantheismus und selten theologisch von der ά π ο κ α τ ά σ τ α σ ι ς π ά ν τ ω ν als Ziel der Geschichte, oft dagegen von der „AllEinheit" (vseedinstvo), der Verbindung und Einheit aller Dinge in Gott. G o t t selbst nennt Solov'ev gerne „das All-Eine" (vseedinoe) 2 7 3 und meint damit die lebendige Wirklichkeit hinter der verallgemeinerten Wahrheit der All-Einheit. Man darf sich durch die Abstraktheit der Begriffe bei Solov'ev also nicht täuschen lassen: dahinter stehen keine abstrakten, sondern lebendige Prinzipien.
267
K O N II, 277.299. A . a . O . S. 283. 269 Wir gehen hier n u r auf den sprachlichen Aspekt ein. D a s inhaltliche Verhältnis der Begrifflichkeit Solov'evs zu der der Slavophilen wird auf S. 239 f. erörtert. 270 T R X, 192. 271 S.u. S . 3 2 7 - 3 2 9 . 272 S.u. S. 128; vgl. L. Müller, A n m e r k u n g e n zu 3G, D G VIII, 535. 273 K O N II, S. IX. 283. 288. 268
69
3.2 Begriffspaare zur Unterscheidung von lebendiger Wirklichkeit und Abstraktion Das Begriffspaar „vseedinoe" - „vseedinstvo" (All-Eines - All-Einheit) ist nur eines von vielen bei Solov'ev. In seinen theosophischen Schriften entwikkelt Solov'ev eine Vorliebe für gleichartige und ähnliche Begriffspaare. Die Bedeutungsunterschiede zwischen den sich jeweils entsprechenden beiden Begriffen können in der deutschen Ubersetzung nicht immer wiedergegeben werden 2 7 4 . Wir nennen einige Beispiele, die für unser Thema bedeutsam sind und bei denen wir den Bedeutungsunterschied in der Ubersetzung festhalten wollen. Im allgemeinen ist der eine Begriff eines Begriffspaares bei Solov'ev derjenige, der die lebendige und transzendente Wirklichkeit beschreibt, während der andere Begriff ein Abstraktum ist, das die transzendente Wirklichkeit verallgemeinert oder das nur eine irdische, rationale Teilwirklichkeit ausdrückt. An den Wendungen, mit denen Solov'ev die Wirklichkeit Gottes umschreibt, wird dies deutlich. Als lebendige Wirklichkeit ist Gott das Absolute (absoljutnoe) 2 7 5 , das Seiende (suscee) 2 7 6 und das All-Eine (vseedinoe) 2 7 7 also das, was absolut existiert und darin alles andere, was ist, umfaßt. Als lebendige Wirklichkeit ist Gott der transzendente Ursprung der All-Einheit. Die Absolutheit (absoljutnost') 2 7 8 , das Wesen (suscestvo) 2 7 9 und die AllEinheit (vseedinstvo) 2 8 0 sind dagegen allgemeine Definitionen der Wirklichkeit Gottes, der abstrakte Ausdruck seiner Idee oder seiner wesentlichen Bestimmung und der Ausdruck der Verwirklichung dieser Wesenseigenschaften Gottes im Bereich der natürlichen Welt. Deswegen bezeichnet Solov'ev mit „All-Einheit" auch den Sinn und das Ziel des kosmischen und historischen, geistigen und moralischen Entwicklungsprozesses der ganzen Schöpfung 2 8 1 . - Der Bedeutungsunterschied zwischen den paarweisen Begriffen „dejstvitel'nost'" (Wirklichkeit) und „real'nost'" (Realität) liegt zunächst ebenfalls in ihrem Bezug auf die transzendente Wirklichkeit (dejstvitel'nost') beziehungsweise auf die natürliche Welt (real'nost'). „Dejstvitel'nost"' gebraucht Solov'ev, wenn es um das in der inneren Erfahrung unmittelbar erkannte Wirkliche geht, um das unabhängig vom Erkennenden Seiende, das sich selbst offenbart und hervorbringt; „real'nost'" dagegen ge-
2 7 4 In der „Deutschen Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew" ist den im folgenden aufgeführten Begriffspaaren allerdings auch nicht genügend Aufmerksamkeit bei der Übersetzung gewidmet worden. Die Unterschiede zwischen „dejstvitel'nost'" und „real'nost"', „projavlenie" und „javlenie", „duchovnyj" und „umstvennyj", um nur einige zu nennen, kommen in den deutschen Übersetzungen nicht zur Geltung. 275
F N C Z I, 3 4 6 ; K O N II, 3 09 . 3 1 7.
276
F N C Z I, 333f. 356; K O N II, 3 0 5 - 3 0 7 .
277
K O N II, S. I X . 2 83 . 28 8 . K O N II, S. I X ; C B III, 6 0 - 6 2 .
278
K O N II, 316.
279 280
K O N II, 2 8 3 f . 287. 2 8 9 ; Art. „Vseedinstvo", B - Ε , R G X , 231 ( = D G VI, 51).
281
K O N II, S. VIII. X I ; C B III, 144.
70
braucht er, wenn es um die äußere Welt geht, die durch die Sinne und den Verstand in der äußeren Erfahrung erkannt wird 2 8 2 . Später spricht Solov'ev allerdings auch von der übernatürlichen „göttlichen Realität" (real'nost' Bozija) 2 8 3 . Hier betont der Begriff „real'nost"' dann den objektiven Charakter der Erkenntnis dieses übernatürlichen Seins im Gegensatz zum subjektiven Erkennen einer „dejstvitePnost'" 2 8 4 . - Ein weiteres Begriffspaar entspricht dem Unterschied zwischen transzendenter „dejstvitePnost'" und immanenter natürlicher „real'nost"': „projavlenie" (Durch-Scheinen, Bekundung) und „javlenie" (Erscheinung, Phänomen) 2 8 5 . Solov'ev gebraucht „projavlenie", um das Hervortreten und die Selbstbekundung oder Offenbarung des wirklich und unabhängig vom Erkennenden natürlichen oder übernatürlichen Seienden in den Erscheinungen der äußeren und inneren Sinne zu bezeichnen, eine Bekundung, die durch die innere, unmittelbare Erfahrung erkannt wird 2 8 6 . Mit „javlenie" bezeichnet Solov'ev die Erscheinung, die durch die äußeren Sinne und durch äußere Erfahrung erkannt wird und die nur ein isoliertes, empirisch gegebenes Objekt zu erkennen gibt, das nicht selbständig existiert, sondern nur in seiner Beziehung zum Erkennenden 2 8 7 . „Javlenie" und „projavlenie" sind aber für Solov'ev nicht entgegengesetzt, sondern korrelativ: In den irdischen Phänomenen bekundet und enthüllt sich die transzendente Wirklichkeit 2 8 8 . - Dem Unterschied in der Erkenntnis^« zwischen „projavlenie" und „javlenie" entspricht der Unterschied im Erkenntnisgegenständ, den Solov'ev in dem Begriffspaar „istina" und „pravda" ausdrückt (beides kann hier nur mit „Wahrheit" übersetzt werden). „Istina" gebraucht Solov'ev, wenn es um die ganze, alles natürliche und übernatürliche Sein umfassende Wahrheit geht, die unbedingt gültig ist 2 8 9 . „Pravda" nennt Solov'ev die Teilwahrheit, die auf einzelne Phänomene oder die natürliche Realität beschränkt ist und nur relative Gültigkeit besitzt 2 9 0 . Im gesellschaftlichen Bereich ist „pravda" nach allgemeinem russischen Sprachgebrauch auch bei Solov'ev die Gerechtigkeit 2 9 1 . - Auch das Erkenntnis résultat drückt Solov'ev mit einem Begriffspaar aus: „vedenie" (Kunde, Wissen) und „znanie" (Wissen, Kenntnis). „Vedenie" nennt Solov'ev nur das unmittelbare Wissen der göttlichen Wahrheit durch die mystische Begegnung mit ihr 2 9 2 . Häufiger spricht Solov'ev von „znanie". Damit meint er meist das Teilwissen von empirischer Wissenschaft und abstrakter Philosophie 2 9 3 , aber auch das
282 285 286 287 288 289 290 291 292
2 8 3 CB III, 11 f. 2 8 4 K O N II, 290. KZF 1,72; F N C Z 1,405; K O N II, 290. S.u. S. 1 4 3 - 1 4 5 ; vgl. R. Meier, Abstrakte Prinzipien, S. 2 6 - 2 8 . KZF I, 70; DVM I, 224; F N C Z I, 357. KZF I, 67. 71 ; DVM I, 219; F N C Z I, 299. 313. 318; K O N II, 287. DVM I, 219; Art. „Metafizika", B - Ε , RG X, 241 ( = DG VI, 339). F N C Z I, 304f.; K O N II, 5. 208. 296; CB III, 11 f. 107; T F IX, 157. K O N II, 7; VSChP IV, 111. K O N II, 127. 136. 149; CB III, 8; OD VIII, 140. 2 9 3 F N C Z I, 259f.; K O N II, 331. 346. CB III, 78; D 0 2 III, 383.
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mystische Wissen, das er sonst „vedenie" nennt 294 . Die Synthese aus unmittelbarem, mystischem Wissen und empirischem, philosophischem und theologischem Wissen, die Solov'ev mit seiner Theosophie anstrebt und die alles Teilwissen umfaßt, nennt Solov'ev „cel'noe znanie" (ganzheitliches Wissen) 295 . Drei weitere Begriffspaare bei Solov'ev haben ihre Entsprechungen in der deutschen Sprache, aber auch sie werden in ihrer Bedeutung von Solov'ev nach der hinter ihnen stehenden transzendenten Wirklichkeit oder natürlichen Teilwirklichkeit unterschieden. - Den Unterschied zwischen „duchovnyj" (geistlich) und „umstvennyj" (geistig), der sich auf die entweder durch den Geist (duch) oder durch den Intellekt (um) 296 bestimmte Erkenntnisund Lebensart des Menschen bezieht, nimmt Solov'ev auf und erweitert ihn: Weil der Geist für Solov'ev ein allgemeines menschliches Vermögen ist, das weiter und höher als der Intellekt reicht, nämlich bis ins Unbewußte, Uberbewußte und Göttliche hinein, mit dem es direkt verbunden ist 2 9 7 , spricht Solov'ev nicht nur im spezifisch religiösen Sinn von „geistlicher Wiedergeburt" (duchovnoe vozrozdenie) 298 und von „geistlichem Leben" (duchovnaja zizn') 2 9 9 , sondern nennt auch ganz allgemein den gesamten nichtmateriellen Bereich des menschlichen Lebens eine „geistliche Neigung" (duchovnoe tjagotenie) 300 , die sowohl den Intellekt, als auch die Erkenntnis durch äußere und innere Sinne, die Wissenschaften, die Künste, die Sittlichkeit und die Religion umfaßt. Mit „umstvennyj" bezeichnet Solov'ev dagegen nur einen Teilbereich des nichtmateriellen Lebens, der auf die bewußte, verstandesmäßige Erkenntnis begrenzt ist 301 . - Oft unterscheidet Solov'ev, wenn er von den Prinzipien der Erkenntnis und des Lebens spricht, zwischen „nacalo" (Ursprung, lebendiges Prinzip) 302 und „princip" (rationales Prinzip). Mit „princip" bezeichnet Solov'ev immer durch Abstraktion entstandene rationale Denkprinzipien oder Normen, wie etwa die Prinzipien der Moralphilosophie Kants 303 . „Nacalo" ist dagegen bei Solov'ev meist 304 eine lebendige und wirkende Größe, ein „bewegendes Prinzip" (dvizuscee nacalo) des menschlichen Lebens 305 . Es umfaßt einzelne, im Alltag erfahrbare Lebensprinzipien (opytnye nacala) wie die Sympathie 306 ebenso wie das religiöse und mystische Erkenntnis- und Lebensprinzip der Liebe 307 und schließlich das Urprinzip, den absoluten Urgrund oder Allgrund (absoljutnoe pervo-
294
F N C Z 1 , 3 0 5 f . ; K O N II, 331. 346.
295
F N C Z 1 , 2 8 6 f . 3 0 7 ; K O N II, 346.
„ D u c h " entspricht dem griechischen „πνεύμα" und dem lateinischen „spiritus"; „um" entspricht dem griechischen „νους" und dem lateinischen „intellectus". 2 9 7 F T J u 1 , 1 9 6 ; K O N II, 338. 2 9 8 C B III, 81 f. 2 9 9 DO¿ III, 2 9 9 - 3 0 4 . 3 0 0 C B III, 4. 3 0 1 C B III, 208. 296
302
„Nacalo" entspricht dem griechischen „αρχή" ; vgl. R E U , FS, 2 5 6 ( = D G III, 352).
303
K O N II, S. VII. 9 f. 66. Im anderen Fall ist „nacalo" durch Attribute wie „abstrakt" oder „negativ" gekennzeich-
304
net. 305
72
K O N II, 3.
306
K O N II, 66.
307
K O N II, S. VIII.
nacalo, vsenacalo) des Seins - G o t t 3 0 8 . - Ebenfalls den abstrakten, rationalen Bereich und den lebendigen, konkreten Bereich des Lebens unterscheidet Solov'ev in der Ethik mit dem Begriffspaar „moral'" (Moral) und „nravstvennost'" (Sittlichkeit). „Moral"' bezeichnet die auf rationalen Prinzipien und notwendigen Gesetzen beruhende Ethik, „nravstvennost"' dagegen die der körperlich-geistlichen Ganzheit des Menschen entsprechende, vom Gefühl der Liebe ausgehende Ethik 3 0 9 . In den Begriffspaaren „dejstvitel'nost' - real'nost'", „nacalo - princip" und „nravstvennost' - moral'" kommt noch eine weitere Besonderheit der Sprache Solov'evs zum Ausdruck. Er benutzt mit Vorliebe russische Wörter (dejstvitel'nost', nacalo, nravstvennost' und andere), um die lebendige, ganzheitliche, das heißt nicht nur die natürliche, sondern auch die übernatürliche Wirklichkeit umfassende Wahrheit auszudrücken, während er mit Fremdwörtern (real'nost', princip, moral' und anderen) abstrakte, meist auf den rational erkennbaren Bereich der Wirklichkeit beschränkte Teilwahrheiten ausdrückt. Verbunden damit ist ein wörtliches Verständnis der russischen Begriffe in ihrer elementaren Bedeutung. Solov'ev nutzt den Literalsinn vieler russischer Wörter, um sein Denken zu verdeutlichen. So ist „nacalo" bei ihm im wörtlichen Sinn „Ursprung" und nicht nur „Prinzip", „projavlenie" ist „Durch-Scheinen" der Wirklichkeit und nicht nur Erscheinung. Selbst seine Weltanschauung bezeichnet er vorzugsweise mit der ganz wörtlichen Ubersetzung dieses deutschen Begriffs als „mirovozzrenie" und nur selten wie im Russischen üblich als „mirosozercanie", um so den mystischen Charakter seiner Theosophie zu betonen, die auf dem unmittelbaren mystischen Anschauen (vozzrenie) der göttlichen Grundlage und Einheit der Welt beruht 3 1 0 . Nur dem Leser des russischen Originals der Schriften Solov'evs wird sich schließlich der ganze Reichtum und die Größe seiner Darstellungskunst mitteilen, die unter den russischen Philosophen und Theologen einmalig ist 3 1 1 . Die besondere Kunst der Darstellung seiner Gedanken besteht weniger in seiner literarischen Fertigkeit als vielmehr in den genannten Eigenarten seiner theosophischen Sprache. Sie drückt seine eigene mystische Erfahrung in allgemeinen, abstrakten Begriffen aus; sie verbindet die herkömmliche philosophische und theologische Sprache in einer eigenständigen Synthese und Weiterentwicklung; sie verdeutlicht durch Begriffspaare, Ausnutzung des Literalsinns und eigene Wortschöpfungen seine Lehre vom ganzheitlichen Wissen. Diese Originalität und Meisterschaft der sprachlichen Darstellung erleichtert dem aufmerksamen Leser ganz entscheidend das Verständnis des Denkens Solov'evs. K Z F 1 , 1 5 0 ; C B III, 32; D O l III, 355. K O N II, 66. 188; O D VIII, 175. 3 , 0 So auch: W.Szylkarski, Solowjews Weg zur Una Sancta, S. 155, Anm. 1. - „Mirosozercanie" bedeutet wörtlich „Weltbetrachtung", „mirovozzrenie" wörtlich „Weltanschauung". 3 1 1 Vgl. N. Grot, Recenzija na „VS: O D " , S. 159. 308 3€9
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4. Die Frage der Periodisiemng
des Werkes
Solov'evs
Solov'evs Leben und Werk bestehen aus einer nicht leicht überschaubaren Vielfalt von Begabungen, Interessen und Gedanken und aus einer großen Verschiedenheit seiner Aktivitäten als Denker, Dichter und als in der Gesellschaft engagierter Mensch. Er selbst hat sein Denken und Schaffen als eine kontinuierliche Entwicklung ohne Brüche aufgefaßt 312 . Sowohl wegen dieser Selbsteinschätzung als auch wegen der Fülle der abgebrochenen und später wieder an anderer Stelle aufgenommenen Gedanken und Themen ist eine Periodisierung seines Werkes nach den jeweils vorherrschenden Themen und nach den markanten Einschnitten oder Brüchen seines Denkens immer etwas künstlich und schematisch 313 .
4.1 Verschiedene Einteilungsmöglichkeiten
des Gesamtwerks
Solov'evs
Am häufigsten hat man Solov'evs Werk in drei beziehungsweise vier Perioden eingeteilt. D.Strémooukhoff hat Solov'evs erste Schaffensperiode bis 1881, in derer sich mit Grundfragen der Philosophie und Theologie beschäftigte, die „theosophische Periode" genannt, seine zweite, in der er sich mit kirchlichen und gesellschaftlichen Fragen befaßte, die „theokratische Periode" (1881-1890) und die dritte, in derer sich mit Fragen der Ethik und Ästhetik auseinandersetzte, die „theurgische Periode" (1890-1900) 314 . Strémooukhoff hat damit die drei Arten der Verwirklichung und „Organisation" des ganzheitlichen Lebens in der gottmenschlichen All-Einheit, die Solov'ev freie Theosophie in den Wissenschaften, freie Theokratie in der Gesellschaft und freie Theurgie im persönlichen Leben und in den Künsten genannt hatte 315 , schematisch drei verschiedenen Perioden des Lebens Solov'evs zugeordnet. Dies entspricht allenfalls dem Hauptthema des Denkens Solov'evs in der jeweiligen Periode. In der dritten und letzten Periode wird aber seine Beschäftigung mit der Apokalyptik immer mehr zum Hauptthema. Strémooukhoff nennt sie daher auch Periode der „Theurgie und Apokalyptik" 316 . Andere Biographen Solov'evs sprechen stattdessen von einer eigenen, vierten Periode in den letzten Lebensjahren Solov'evs, der „apokalyptischen Periode" (1897-1900) 317 . Wieder andere Interpreten verwenden andere Bezeichnungen für die drei Perioden des Schaffens Solov'evs nach anderen 3,2 Vgl. E.Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. II, S. 198. Die einzige bedeutsame Ä n d e r u n g einer grundlegenden philosophischen Meinung sieht Solov'ev bei sich selbst in der Wandlung seines D e n k e n s über die menschliche Seele: Er hielt sie zunächst f ü r eine ewige, selbständige metaphysische Substanz, später f ü r einen Teil des all-einen Seienden u n d für das empirische, logische und philosophische Subjekt des Menschen. Auf diesen Wandel seiner A n s c h a u u n g verweist Solov'ev selbst (vgl. T F IX, 107f. 161-164). Wir gehen später darauf ein (s.u. S. 1 4 9 - 1 5 2 ) . 313 Vgl. F. Rouleau, I n t r o d u c t i o n , FS, S. VIII. 314 Vgl. D. Strémooukhoff, Messianic Work, S. 7 - 1 0 . Diese Einteilung ü b e r n i m m t F. Rouleau (Introduction, FS, S. IX). Allerdings setzt er den Ubergang zur zweiten Periode erst 1883 an. 315 K O N II, 3 5 0 - 3 5 5 . 316 D. Strémooukhoff, Messianic W o r k , S. 9. 317 W.Szylkarski, Das philosophische Werk, S. 7 - 1 4 ; F.Rouleau, I n t r o d u c t i o n , FS, S . I X f . ; vgl. auch die sinngemäße Einteilung bei L.Müller, Art. „Solowjew", R G G 3 . A u f l . , B d . V I , Sp. 134.
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inhaltlichen Kriterien. A . K o s c h e w n i k o f f nennt nach geschichtsphilosophischen K r i terien die erste Periode bis 1881 Solov'evs „slavophile Periode" wegen seiner philosophischen und gesellschaftspolitischen N ä h e zu den frühen Slavophilen, seine zweite Periode die „katholische Periode" und die dritte Periode die „pessimistische Periode" des Standpunkts der „Drei G e s p r ä c h e " 3 1 8 . H . D a h m teilt nach erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten Solov'evs Schaffen in eine „theosophische Periode" (bis 1881), eine „theokratische Periode" (bis 1891) und eine dritte Periode von 1892 bis 1900, die er Periode des „ D u r c h b r u c h s zur P h ä n o m e n o l o g i e " n e n n t 3 1 9 . N a c h D a h m s Sicht sind Solov'evs „Sinn der L i e b e " und seine „Theoretische P h i l o s o p h i e " die bestimmenden Schriften dieser Periode, die man nicht ohne G r u n d als Vorgriffe auf die Phänomenologie Husserls und Schelers interpretieren k a n n 3 2 0 . A n den genannten Beispielen wird deutlich, daß die Periodisierung des Werkes Solov'evs vom philosophischen oder theologischen Standpunkt des Interpreten entscheidend mitbestimmt und dadurch in ihrem Wert auch relativiert wird. A m wenigsten von einer nachträglichen Wertung bestimmt zu sein scheint die formale Einteilung des Schaffens Solov'evs in philosophische und theologische A r beit. G . S a c k e teilt sein Schaffen nach diesem formalen Kriterium in eine „abstraktphilosophische Periode" ( 1 8 7 4 - 1 8 7 7 ) , die die frühen philosophischen Werke einschließlich der „Kritik der abstrakten Prinzipien" umfaßt, eine „kirchlich-theologische P e r i o d e " ( 1 8 7 7 - 1 8 9 6 ) , die seine theologischen Schriften von den „Vorlesungen über das G o t t m e n s c h e n t u m " bis zu seinen Lexikonartikeln über theologische T h e men im „ B r o k g a u z - E f r o n " umfaßt, und eine „biblisch-theologische Periode" ( 1 8 9 6 - 1 9 0 0 ) . Danach war Solov'ev in der ersten Periode vorwiegend reiner Philosoph, in ci^r zweiten vorwiegend ein kirchlicher T h e o l o g e , der bemüht war, den Glauben der Väter zu rechtfertigen, und in der dritten Periode vorwiegend ein einfacher gläubiger Christ, der die Wahrheit der Heiligen Schrift direkt verkündigt, ohne eigene metaphysische Vorstellungen d a z u z u f ü g e n 3 2 1 . N o c h pauschaler nennt F. G ö ß m a n n die J a h r e bis 1881 Solov'evs Periode der „ L e h r e r j a h r e " , in denen er ganz Philosoph war, und die J a h r e ab 1881 bis zu seinem Tod die Periode der „Wanderjahr e " , in denen sich Solov'ev immer mehr zum T h e o l o g e n entwickelt h a b e 3 2 2 . N e b e n der Tatsache, daß bei diesen Einteilungen die wichtigen späten philosophischen Werke unberücksichtigt bleiben, ist in ihnen auch eine H ö h e r w e r t u n g der rein traditionellen theologischen Inhalte des D e n k e n s Solov'evs gegenüber seinen originellen theosophischen Synthesen enthalten, die Solov'evs eigener Einschätzung seines D e n k e n s , das immer eine Synthese von T h e o l o g i e und Philosophie sein sollte, widerspricht. Diese einseitige positive Wertung allein der traditionellen theologischen Inhalte in Solov'evs D e n k e n wird vollends in der Periodisierung seines Werkes durch E . T r u b e c k o j d e u t l i c h 3 2 3 . E . T r u b e c k o j nennt unter diesem Gesichtspunkt die erste Periode einfach „vorbereitende Periode" ( 1 8 7 3 - 1 8 8 2 ) , o b w o h l Solov'ev in dieser Zeit die Hauptgedanken seiner T h e o s o p h i e des G o t t m e n s c h e n t u m s entfaltet
A. Koschewnikoff, Geschichtsphilosophie, S.309. 311. 320-322. H.Dahm, Grundzüge, S. 16-19. 320 s e t z e n u n s später mit dieser Interpretation auseinander. S. u. S. 99 f.292 und Anm. 30 sowie S. 297. 3 2 1 G. Sacke, Geschichtsphilosophie, S. 2 7 - 2 9 und S. 32. 322 F. Gößmann, Der Kirchenbegriff, S. 7. 3 2 3 Zum folgenden vgl. E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 87. 318 3,9
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hat, die er nie mehr aufgab 324 . Die zweite Periode des Werkes Solov'evs nennt E.Trubeckoj im negativen Sinn seine „utopische Periode" (1882-1894) und schließt darin nicht nur seine theokratischen Vorstellungen ein, sondern auch seine Gedanken zum „Sinn der Liebe". Erst Solov'evs dritte Periode nennt E.Trubeckoj seine „positive oder abschließende Periode" (1894-1900) - obwohl sie ja durch seinen Tod unabgeschlossen geblieben ist-, weil er hier allen „zeitlichen Ballast abgeworfen" habe und das Irdische nicht mehr idealisiere 325 , sondern schließlich das Böse erkenne und den „Abgrund zwischen den beiden Welten fühle" und ernstnehme 326 . Hier haben eindeutig E.Trubeckojs absolut dualistische Weltanschauung 327 , sein „Glaube, der allein in der transzendenten Welt einen Halt findet" 3 2 8 und sein „katastrophisches Weltgefühl", wie er seine pessimistische Geschichtsschau nennt 3 2 9 , seine Periodisierung bestimmt. Sie kann Solov'evs synthetischem Denken nicht gerecht werden, hat aber dennoch die weitere Interpretation des Denkens Solov'evs und seine Periodisierung entscheidend beeinflußt. Mehrere Interpreten haben wie E.Trubeckoj die große Wende im Denken Solov'evs in seiner Hinkehr zur futurischen biblischen Eschatologie gesehen und sein Werk nur in zwei Epochen nach diesem Kriterium eingeteilt. V. E m lokalisiert den entscheidenden Umschwung im Werk Solov'evs nach seiner „Rechtfertigung des Guten" im Jahr 1897 und nennt ihn einen Umschwung „weg vom Schematismus seiner Philosopheme" und seiner Vorstellung einer planmäßig fortschreitenden Weltentwicklung 330 . E. Skobcova unterscheidet entsprechend Solov'evs „Hauptwerk" bis zur „Rechtfertigung des Guten" und sein „apokalyptisches Werk" danach. Den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Perioden sieht sie darin, daß Solov'ev in seiner apokalyptischen Periode „alle seine Erwartungen und Hoffnungen auf den Moment überträgt, da Christus jenseits der Grenze der irdischen Zeit wiederkommt" 3 3 1 . A.Vedernikov zieht die Grenze der beiden Perioden des Schaffens Solov'evs an der gleichen Stelle. Den Unterschied zwischen beiden Perioden sieht er darin, daß Solov'ev in der ersten Periode eine eigene philosophische Metaphysik als Voraussetzung der Erklärung der geschichtlichen Erscheinungen gehabt habe, seit der „Theoretischen Philosophie" dagegen die irdischen Erscheinungen weltimmanent interpretiere und sie dann in den Rahmen des christlichen Glaubens und der christlichen Apokalyptik stelle 332 . Gegen alle diese Versuche, eine spezielle „apokalyptische Periode" in Solov'evs Denken in seinen letzten Lebensjahren seit 1894 oder 1897 abzugrenzen, sprechen die Fakten der gleichzeitigen Entwicklung verschiedener Ideen in seinem Denken. Daß er „alle Dinge sub specie antichristi venturi" sieht, schreibt Solov'ev schon 1888 333 ,
324
So auch: L, Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S. 365. E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 88. 326 A.a.O., Bd. II, S. 201. 327 Vgl. L. Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S. 401. 328 E.Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. II, S.413. Es handelt sich um E.Trubeckojs eigene Aussage über seinen Glauben. 329 A.a.O., Bd. II, S. 402. 330 V. Em, Gnoseologija, S. 201. 331 E. Skobcova, Mirosozercanie, S. 46. 48. 332 A. Vedernikov, Recenzija na „L.Müller, System", S. 74-76. 333 Brief Nr. 1 an E. Tavernier, Ρ I V , 184. 325
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u n d so k ö n n t e m a n bereits hier v o n einer W e n d e z u r A p o k a l y p t i k s p r e c h e n 3 3 4 . W e n n m a n alle Belege bei Solov'ev sorgfältig analysiert, k a n n m a n mit L . M ü l l e r aber n u r v o n einem ganz allmählichen U b e r g a n g v o n einer evolutionären Eschatologie zu einer Eschatologie der E n t s c h e i d u n g zwischen G u t u n d Böse s p r e c h e n 3 3 5 . U n d auch dies ist keine totale W e n d e , s o n d e r n n u r eine entscheidende A k z e n t v e r s c h i e b u n g . D e n n einerseits hat Solov'ev eine christliche Eschatologie mit der Vorstellung des E n d e s der materiellen Welt u n d der A u f r i c h t u n g einer neuen, immateriellen Welt seit seinen ersten p h i l o s o p h i s c h e n Veröffentlichungen vertreten 3 3 6 . N u r stand die Eschatologie bis in die 90er J a h r e bei Solov'ev völlig im H i n t e r g r u n d . Andererseits hat Solov'ev in seinen „ D r e i G e s p r ä c h e n " u n d d e n anderen Schriften seit 1897 kein völlig neues philosophisches o d e r theosophisches System errichtet, s o n d e r n seine t h e o k r a tischen Vorstellungen a u f g e g e b e n 3 3 7 . Eine Periodisierung des Werkes Solov'evs nach einem H a u p t t h e m a läßt sich f ü r das letzte L e b e n s j a h r z e h n t k a u m u n d eine Periodisier u n g nach einer deutlichen W e n d e seines D e n k e n s in einem b e s t i m m t e n Z e i t r a u m innerhalb dieses J a h r z e h n t s läßt sich ü b e r h a u p t nicht d u r c h f ü h r e n 3 3 8 . In diesen J a h r e n f i n d e n sich in Solov'evs Werk s o w o h l die apokalyptische Sicht des E n d e s der Geschichte als auch seine t h e o s o p h i s c h e n S t a n d p u n k t e aus seinen f r ü h e n Schriften. So ist die Einteilung seines Werkes in E p o c h e n ü b e r h a u p t f r a g w ü r d i g 3 3 9 . D i e G r u n d l a g e seines D e n k e n s , seine E r k e n n t n i s l e h r e u n d M e t a p h y s i k , ändert sich, wie w i r zeigen w e r d e n 3 4 0 , v o n 1877 an nicht m e h r in ihren G r u n d z ü g e n , s o n d e r n n u r in ihrer Begrifflichkeit. D e s w e g e n k a n n Solov'ev n o c h in seinen Lexikonartikeln in d e n 90er J a h r e n auf seine „Kritik der abstrakten Prinzipien" z u Fragen der E r k e n n t n i s l e h re u n d M e t a p h y s i k verweisen 3 4 1 . Eine wesentliche Veränderung in seiner E r k e n n t n i s lehre stellen w i r n u r zwischen 1876 u n d 1877 fest 3 4 2 . D e r einzige wirkliche B r u c h in der W e l t a n s c h a u u n g Solov'evs ist abgesehen von seiner Kindheit seine A b k e h r v o n seinem jugendlichen naturwissenschaftlichen Positivismus der 60er u n d f r ü h e n 70er J a h r e 3 4 3 , die er aber s c h o n v o r d e m Verfassen seiner ersten Schrift vollzogen hatte. N a c h dieser geistigen W e n d e ist Solov'evs philosophische u n d theologische Weltans c h a u u n g in ihren G r u n d z ü g e n in allen seinen Schaffensperioden gleich geblieben 3 4 4 .
334
Vgl. A. Maceina, Bosheit, S. 15. 335 Vgl. L.Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 449. 520; ders., Solov'evs Leben und Werk, DG Biogr., S. 32 f. ; vgl. die Zusammenstellung der Äußerungen Solov'evs über den Antichrist bei L. Müller: Wladimir Solowjew. Übermensch und Antichrist, passim. 336 Vg] L.Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S.354f. Lopatin verweist dazu auf Solov'evs Verteidigung der Thesen seiner Magisterdissertation, der „Krise der westlichen Philosophie" (vgl. KZF 1,169 f.). 337 vgl. E.Radlov, Recenzija na „E.Trubeckoj, Mirosozercanie", S. 183f. 338 So auch: L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 540. 339 Vgl. R. Meier, Abstrakte Prinzipien, S. 123. 340 S. u. S. 147-152. 341 Z. B. Art. „Istina", B - Ε , RG XII, 592 (= DG VI, 183). 342 S.u. S. 142-152. 343 Ebenso: L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 47. 344 Ebenso: W.Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 407.
77
4.2 Die Perioden des Denkens Solov'evs
über die Vereinigung der Kirchen
Eine Einteilung des Denkens und Schaffens Solov'evs in Perioden legt sich nur in einem Themenbereich nahe: in seiner Stellung zur orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirche und ihrer Vereinigung. Hier ist die Unterscheidung von drei inhaltlich verschiedenen Perioden sachlich gerechtfertigt. W. Szylkarski charakterisiert Solov'evs Denken über die Vereinigung der Kirchen von 1874 bis 1881 als „russischen Messianismus". In der Tat sieht Solov'ev hier die russische Orthodoxie als wahre Kirche an, der sich alle anderen anschließen sollen. Seine innerliche Wende zur katholischen Kirche vollzieht sich nach Szylkarski 188234S. In der mittleren Periode (1882-1889) vertritt Solov'ev eindeutig die Sache der Vereinigung der Kirchen um den Stuhl Petri und der universalen Theokratie durch Papst und Zar 346 . In seiner skeptischen Periode ab 1897 sieht Solov'ev schließlich die Vereinigung der orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirche als endzeitliches Ergebnis der Verfolgung der Christen. Anders teilt L. Müller das Denken Solov'evs zur konfessionellen Frage ein. Müller nennt die erste Periode bis 1881 die anti-römische Periode Solov'evs, weil sie von scharfer Kritik an der Art der päpstlichen Herrschaft geprägt ist 347 . Die mittlere Periode teilt Müller in eine universalkirchliche Periode (1883), in der Solov'ev auch das orthodoxe und das protestantische Prinzip neben dem katholischen Prinzip der Autorität gelten läßt 348 , und in eine anti-orthodoxe Periode (1884-1888), in der sich Solov'evs Polemik gegen die Orthodoxie steigert, während jede Kritik am Papsttum unterbleibt 349 . Die letzte Periode (1889-1900) nennt Müller zusammenfassend „Periode des Bekenntnisses zur ,Religion des Heiligen Geistes'", in der Solov'ev gegen die Beschränktheit aller drei Konfessionen ihre Vereinigung in einer Synthese ihrer jeweiligen Prinzipien erstrebt, wobei Rom im Denken Solov'evs das äußere Zentrum der kirchlichen Einheit bleibt 350 . Die Einteilung Müllers ist insgesamt genauer als die Szylkarskis, aber beide entsprechen der Entwicklung des Denkens Solov'evs in der Frage der Einheit der Kirchen. Wir ziehen es vor, die Perioden positiv zu benennen, da es Solov'ev in der Kirchenfrage nie um Polemik ging, sondern immer um den Weg zur Einheit der Kirchen. Man spricht also besser von einer orthodoxen Periode (bis 1881), einer ersten universalkirchlichen Periode (1882-1883), einer römischen Periode (1884-1888) und einer zweiten universalkirchlichen Periode (1889-1900). In allen diesen Perioden zeigt sich nämlich trotz der Unterschiedlichkeit der praktischen Vorstellungen Solov'evs vom Weg zur kirchlichen Einheit, daß er stets für eine wahrhafte Ökumene eingetreten ist. Auch in diesem Themenbereich stellen wir schließlich eine grundlegende Kontinuität der Ansichten Solov'evs fest.
345
Vgl. W. Szylkarski, Solowjews Weg zur Una Sancta, S. 182 f. Vgl. W. Szylkarski, Schlußwort zu „Rußland und die Universale Kirche", D G III, 423. 347 Vgl. L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 18 f. 348 A.a.O. S. 4 0 - 4 5 . 349 A.a.O. S. 49-59. 350 A.a.O. S. 59-61. Fragwürdig ist die Benennung der gesamten dritten Periode nach einer einmaligen Bemerkung Solov'evs in einem Brief an V.Rozanov (P III, 44): Die von ihm bekannte Religion jenseits der konfessionellen Begrenzungen nennt Solov'ev hier „Religion des Heiligen Geistes". 346
78
4.3 Die Kontinuität
der Erkenntnislehre
Solov'evs
D i e M e h r z a h l derer, die die E r k e n n t n i s l e h r e Solov'evs dargestellt u n d interpretiert haben, vertritt die A u f f a s s u n g , daß gerade seine E r k e n n t n i s l e h r e in sich einheitlich ist u n d die K o n t i n u i t ä t des D e n k e n s Solov'evs in den G r u n d f r a g e n des E r k e n n e n s u n d Seins aufzeigt. So b e h a u p t e t V . Z e n ' k o v s k i j die K o n t i n u i t ä t der e r k e n n t n i s t h e o r e t i schen u n d m e t a p h y s i s c h e n G r u n d i d e e n Solov'evs ab 1877 3 5 1 . Sie h a b e n sich nach Z e n ' k o v s k i j n u r evolutionär entwickelt, nicht aber grundlegend v e r w a n d e l t 3 5 2 . L . M ü l l e r vertritt die These, daß Solov'evs religionsphilosophische B e g r ü n d u n g seiner t h e o s o p h i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g von den Veränderungen seines D e n k e n s in den verschiedenen Perioden „fast nicht b e t r o f f e n ist" u n d spricht daher v o m einheitlichen „religionsphilosophischen System" Solov'evs 3 5 3 . D . v o n U s n a d s e 3 5 4 u n d B.Schultz e 3 5 5 halten die E r k e n n t n i s t h e o r i e Solov'evs f ü r die „wesentliche K o n s t a n t e seiner W e l t a n s c h a u u n g " . V. E r n v e r m u t e t , d a ß Solov'ev auch in seiner „Theoretischen P h i l o s o p h i e " (1897-1899), die unvollendet blieb, zu den gleichen gnoseologischen Resultaten k o m m e n wollte wie in seinen f r ü h e r e n Schriften 3 5 6 . Diese T h e s e blieb u m s t r i t t e n . Viele hielten wie E . T r u b e c k o j die „Theoretische P h i l o s o p h i e " f ü r einen völligen N e u a n s a t z in Solov'evs E r k e n n t n i s l e h r e . A . Vedernikov hat R e c h t , w e n n er f o r d e r t , daß m a n die historische E n t w i c k l u n g des D e n k e n s Solov'evs auch in d e r E r k e n n t n i s l e h r e stets b e d e n k e n m u ß u n d die K o n t i n u i t ä t seiner e r k e n n t n i s t h e o r e t i schen Vorstellungen nicht voraussetzen darf, s o n d e r n im einzelnen aufweisen m ü ß te 3 5 7 . G e n a u dies wollen w i r in unserer U n t e r s u c h u n g t u n . W i r w e r d e n der Frage nach eventuellen N e u a n s ä t z e n in Solov'evs E r k e n n t n i s l e h r e an verschiedenen Stellen n a c h g e h e n 3 5 8 . W i r v e r m u t e n , daß Solov'evs E r k e n n t n i s l e h r e in allen seinen D e n k p e rioden einheitlich ist u n d damit eine K o n s t a n t e seines gesamten D e n k e n s darstellt. D i e folgende U n t e r s u c h u n g hat z u m Ziel, die Einheitlichkeit der E r k e n n t n i s l e h r e Solov'evs d u r c h die b e s o n d e r e B e a c h t u n g der Rolle der E r f a h r u n g im D e n k e n Solov'evs im einzelnen zu bestätigen 3 5 9 .
351
V. Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 17. " A.a.O., Bd. II, S. 20. 353 L. Müller, System, S. 5. 354 D. von Usnadse, Weltanschauung, S . U . 355 B. Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 17. 356 V. Em, Gnoseologia, S. 204. 357 Vedernikov vermißt dieses Verfahren bei L.Müller. Vgl. A. Vedernikov, „L.Müller, System", S. 74f. 358 S.u. S. 142-152 und S. 288-299. 359 S.o. S.29f. 3
Recenzija na
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ZWEITER TEIL
Philosophische und theologische Wurzeln des Denkens Solov'evs über die Erfahrung
I. Stellung und Aufgabe der Philosophie und Theologie im System des ganzheitlichen Wissens 1. Schulphilosophie
und
Lebensphilosophie
Erfahrung im allgemeinen und mystische und religiöse Erfahrung im besonderen sind für Solov'ev Gegenstände der philosophischen Untersuchung, ihrer kritischen Bestimmung und Bewertung. Es mag verwundern, daß auch die religiöse Erfahrung vom philosophischen Denken untersucht werden soll. Scheint dies doch zumindest nach Meinung der Theologen Sache der Theologie zu sein1. Bei näherem Verständnis dessen, was Solov'ev Philosophie nennt, wird dagegen deutlich, daß die mystische und religiöse Erfahrung nicht nur ein Gegenstand des Philosophierens ist, sondern sogar dessen Hauptaufgabe und Ziel. Solov'ev kontrastiert eine richtige und eine falsche Art zu philosophieren. Der ihrem eigentlichen Gegenstand, nämlich der Wahrheit, allein angemessenen Lebensphilosophie (filosofija zizni) 2 stellt er die zum Scheitern verurteilte Schulphilosophie (filosofija skoly oder skol'naja filosofija) 3 gegenüber. Die Schulphilosophie ist nur Theorie 4 , sie abstrahiert von dem, was im praktischen Leben geschieht und gedacht wird 5 . Eine solche abstrakte, rein theoretische Philosophie sieht Solov'ev am Ende ihrer Entwicklung 6 , weil sie entscheidende Lebensinhalte, wie die Inhalte der religiö-
1 So kritisiert B.Schultze, die von Solov'ev vorgelegte Synthese von mystischer Erfahrung (als dem Inhalt des christlichen Glaubens) und Vernunft sei Sache der Theologie und nicht der Philosophie (Β. Schultze, Fundamentaltheologie, S. 56). Schultze hat hier Solov'evs Verbindung von Philosophie und Theologie zur Theosophie nicht berücksichtigt. 2 F N C Z 1,291. 3 Ebd. und a.a.O. S. 303. Den negativen Ausdruck „Schulphilosophie" wählt Solov'ev wohl absichtlich in Anlehnung an die zu seinen Lebzeiten viel verwendeten Ausdrücke „Schultheologie" (IS IX, 273; vgl. 7. VP X, 2 3 - 2 5 ) oder „theologische Schule" (IR, FS, 91 = D G III, 55; R E U , FS, 160 = D G III, 201), die die an den Geistlichen Seminaren und Akademien der Russischen O r t h o d o x e n Kirche getriebene Theologie bezeichnen. 4 5 6 FNCZ1,291. K Z F I , 119. KZFI,27.
80
sen E r f a h r u n g u n d d a m i t die Frage nach der letzten Wahrheit, gar nicht b e h a n d e l n kann. D i e L e b e n s p h i l o s o p h i e dagegen u m f a ß t alle Bereiche des D e n k e n s u n d H a n d e l n s , also auch Religion, M o r a l u n d K u n s t 7 . Diese allumfassende L e b e n s p h i l o s o p h i e ist z u m einen d o c h auch theoretische Philosophie, u n d das heißt zuerst G n o s e o l o g i e , eine kritische T h e o r i e d e r Möglichkeit u n d Wirklichkeit menschlicher E r k e n n t n i s . U n d sofern diese E r k e n n t n i s auf letzte Wahrheit aus ist, ist die theoretische L e b e n s p h i l o s o p h i e auch M e t a p h y s i k . Solov'ev definiert P h i l o s o p h i e als „Vorhaben u n d Beschluß, die Wahrheit selbst zu e r k e n n e n " (zamysel i resenie p o z n a t ' samu istinu) 8 . In dieses Vorhaben fließt das gesamte kritische Potential der theoretischen Philosophie ein, o h n e das die Wahrheit nicht z u e r k e n n e n wäre. D i e L e b e n s p h i l o s o p h i e ü b e r n i m m t , was an der Schulphilosophie legitim w a r : die Kritik des menschlichen E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s . Andererseits ist die L e b e n s p h i l o s o p h i e eben m e h r als rationales u n d theoretisches D e n k e n . Sie ist die B e w e g u n g der menschlichen Liebe z u r Wahrheit, eine B e w e g u n g , die neben d e r theoretischen V e r n u n f t auch d e n Willen, den G l a u b e n u n d das G e f ü h l des M e n s c h e n b e a n s p r u c h t . Solov'ev weist auf die E t y m o l o gie des griechischen W o r t e s φ ι λ ο σ ο φ ί α hin. Philosophie b e d e u t e t w ö r t l i c h ü b e r s e t z t „Liebe z u r Weisheit" ( l j u b o m u d r i e , to est' l j u b o v ' k m u d r o s t i ) 9 . D a s ist die alle menschlichen Vermögen u n f a s s e n d e liebende B e w e g u n g z u r Wahrheit. Sie n e n n t er auch vollständige, ganzheitliche Philosophie (celaja filosofija) 1 0 . Solov'ev stellt sich damit b e w u ß t in die N a c h f o l g e Spinozas, f ü r den P h i l o s o p h i e der a m o r dei intellectualis des M e n s c h e n w a r 1 1 . D a s Ziel dieser ganzheitlichen P h i l o s o p h i e Solov'evs ist d u r c h ihre F r o n t s t e l l u n g gegen abstrakte, nur theoretische Philosophie schon gegeben. Sie will die lebendige Wahrheit e r k e n n e n , d a ß heißt eine u n a b h ä n g i g v o n der materiellen Welt u n d v o m M e n s c h e n u n d seiner E r k e n n t n i s f ä h i g k e i t existierende, absolut gültige W a h r h e i t , die die ganze Fülle ihrer lebendigen Wirklichkeit o f f e n b a r t 1 2 . Eine t r e f f e n d e Bezeichn u n g f ü r Solov'evs ganzheitliche Philosophie ist d a h e r „ M y s t i z i s m u s " o d e r „mystische P h i l o s o p h i e " (misticizm) 1 3 . M y s t i z i s m u s ist die Reflexion ü b e r die M y s t i k , die den M e n s c h e n in eine unmittelbare, direkte geistige u n d gefühlsmäßige B e z i e h u n g z u r t r a n s z e n d e n t e n Welt u n d deren U r p r i n z i p , zu G o t t , b r i n g t 1 4 . Dies ist f ü r Solov'ev nicht n u r das Ziel d e r Religion, s o n d e r n auch das letzte Ziel d e r Philosophie. N a t ü r l i c h soll die Philosophie alle möglichen E r k e n n t n i s b e r e i c h e u n t e r s u c h e n . Sie wird materialistisch u n d empiristisch sein, solange sie die P h ä n o m e n e d e r materiellen N a t u r u n t e r s u c h t . Sie w i r d rationalistisch u n d idealistisch sein, solange sie die M ö g lichkeiten der menschlichen V e r n u n f t u n d des menschlichen Geistes u n t e r s u c h t 1 5 .
7
8 9 10 F N C Z 1,291. T F I X , 154und 161. FNCZI,291f. FNCZI,346. 12 Vgl. Art. „Ljubov'", B - Ε , RG X, 237 (= D G VI, 310). F N C Z I, 303. 13 So bezeichnet Solov'ev seine eigene Philosophie in F N C Z I, 303 und im Artikel „Misticizm", B - Ε , RG X, 244 (= DG VI, 345). Seit Cicerin 1880 von Solov'evs Mystizismus gesprochen hatte (vgl. B. Cicerin, Misticizm ν nauke, S. 141 ff.), haben die meisten der russischen Kritiker Solov'evs ihn als „Mystizist" bezeichnet und in seinem Mystizismus die Konstante seiner Philosophie gesehen. Zumindest V.Ern (Gnoseologija, S. 133) und E.Radlov (Misticizm, S. 294) isolieren aber die mystische Erkenntnis bei Solov'ev zu sehr von der empirischen und rationalen Erkenntnis und messen den letzteren Erkenntnisarten bei Solov'ev keine Bedeutung mehr zu. Damit werden sie Solov'evs Denken nicht gerecht. Vgl. den Gebrauch des Begriffs „Mystizismus" bei Solov'ev, s. u. S. 282 f. 14 15 F N C Z I, 263 und S. 263, Anm. 6. IDF II, S. 411 f. 11
81
Aber das alles sind nur vorläufige Aspekte der Philosophie. Ihre wesentliche Bedeutung erhält sie als mystische Philosophie, als Untersuchung der Verbindung von Gott und Mensch. Empirismus und Rationalismus sind in dieser Hinsicht nur notwendige Vorstufen der mystischen Philosophie, deren kritische Ergebnisse aufgenommen und zugleich relativiert werden 16 . Die Lebensphilosophie, die Solov'ev sein Leben lang betreibt, ist durch ihr letztes Ziel Religionsphilosophie (filosofija religii), ein System religiösen Denkens und religiöser Wahrheiten, Reflexion über religiösen Glauben und religiöse Erfahrung 17 . Solov'ev hat nie einen Hehl daraus gemacht und schon zu Beginn seiner Vorlesungen an der Petersburger Universität im Jahr 1880 darauf hingewiesen, daß seine Philosophie christliche mystische Philosophie ist, die die innere Vereinigung von Gott und Mensch, die innere Geburt Gottes im Menschen zum Ziel hat 18 . Was Solov'ev mit seinem philosophischen Schaffen immer erreichen wollte, ist eine „instauration générale de la philosophie chrétienne, sans quoi la prédication de l'Évangile ne peut pas être effectuée". In diesem Satz Solov'evs ist die praktische Bedeutung der mystischen Philosophie im Sinne der frühen Kirchenväter enthalten, die unter Philosophie das vollkommene Leben der Asketen und ihre mystische Vereinigung mit Gott als Modell verwirklichter Philosophie verstanden19. - Solov'ev versteht also seine Philosophie als Rechtfertigung des christlichen Glaubens vor dem zeitgenössischen Denken, als erkenntnistheoretisch verantwortete Reflexion über den christlichen Glauben und als Aufruf zur Verwirklichung der Ideale seiner Philosophie in der ökumenischen Kirche und in der Welt.
2. Schultheologie
und
Lebenstheologie
Mit diesem Verständnis der Aufgabe der Philosophie ist Solov'ev dem allgemeinen Verständnis von dem, was Theologie ist, ganz nahe. Philosophie als Reflexion über mystischen und religiösen Glauben setzt diesen Glauben offensichtlich als unmittelbar gegeben voraus, wenn sie ihn dann auch erkenntnistheoretisch rechtfertigt. Nichts anderes tut die christliche Theologie als methodisch verantwortete Reflexion über den christlichen Glauben. Nur ist der Theologie nicht nur ein individueller Glaube als Vorgabe gegeben, sondern der geschichtlich gewordene Glaube der Kirche, und Quellen und Methoden der Theologie sind mit denen der Philosophie nicht gleich. Aber als Wissenschaft aus dem Glauben zum Glauben ist für Solov'ev die Theologie mit seiner mystischen oder Religionsphilosophie identisch. Für Solov'ev gibt es nur einen wahren Glauben an Gott und alles Seiende und nur eine entsprechende wahre Erkenntnis: die unmittelbare, lebendige, den ganzen Menschen umfassende Erkenntnis. Wird diese Erkenntnis erreicht, sind Philosophie und Theologie an diesem Punkt identisch. Auch in der Theologie stellt Solov'ev eine FNCZ 1,293-303. C B III, 35f. - Vgl. È. Radlov, Nekrolog, S . 3 6 : Solov'evs gesamte Philosophie ist Religionsphilosophie. 1 8 I D F II, 410. Dieses Ziel der mystischen Philosophie ist für Solov'ev identisch mit dem Wesensprinzip des Christentums, dem Gottmenschentum. 16 17
1 9 Brief N r . 13 an E.Tavernier, Ρ IV, 198. Vgl. G.Bardy, „Philosophie" et „philosophe" dans le vocabulaire chrétien des premiers siècles, R A M 25 (1949), S. 9 7 - 1 0 8 .
82
richtige und eine falsche, unangemessene Art gegenüber, die dem wahren Glauben entsprechende wahre Erkenntnis zu erreichen. Die falsche Art, Theologie zu treiben, nennt Solov'ev „Schultheologie" (skol'noe bogoslovie) oder „theologische Schule" (école théologique) 2 0 . E r meint damit besonders die offizielle Theologie der Russischen Orthodoxen Kirche, wie sie an deren Geistlichen Seminaren und Akademien betrieben wurde. Falsch ist diese Art von Theologie deshalb, weil sie sich von der Entwicklung des Lebens entfernt und entfremdet hat, sowohl vom zeitgenössischen Denken und den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft, als auch vom religiösen Gefühl und der praktizierten Frömmigkeit 2 1 . Deswegen ist die Schultheologie versteinert, nichts weiter als ein Leichnam innerhalb der Kirche 2 2 . Sie ist nur Ausdruck einer Pseudo-Orthodoxie, in Wirklichkeit besteht sie nur aus Negationen, aus Polemik gegen die Glaubenstraditionen der anderen Kirchen. Mit dem Glauben der universalen Kirche hat sie für Solov'ev nichts gemein 2 3 . Daher hält er sie auch für niemanden für verpflichtend, auch nicht für die Glieder der Russischen Orthodoxen Kirche selbst 2 4 . Jede vom Leben isolierte theologische Schule gebiert ganz allgemein gesehen, also nicht nur in der Orthodoxie, nach Solov'ev eine „traditionelle Theologie" (tradicionnaja teologija), deren Frucht ein „abstrakter Dogmatismus" ist, der sich zur religiösen Erfahrung und zum vernünftigen Denken als lebendigen Wissensquellen negativ verhält und nur auf der Tradition der historischen Offenbarung und der Dogmen beruht. 2 5 Die angemessene Art, Theologie zu treiben, nennt Solov'ev lebendige, selbständige und freie Theologie. Sie ist Wissen von G o t t und von allen Dingen in G o t t (znanie vsego ν B o g e ) 2 6 . Sie ist das Wissen von dem G o t t der Christen, der sich mit der Menschheit in unlöslicher Einheit verbunden hat. Lebendige christliche Theologie ist Wissenschaft vom Gottmenschen Jesus Christus und vom Gottmenschentum als der untrennbaren Einheit von G o t t , Menschheit und Schöpfung. Von ihrem Gegenstand her kann sie also gar nicht von der Philosophie und den Natur- und Humanwissenschaften getrennt werden, wenn sie ihm angemessen sein will 2 7 . Die Quellen der lebendigen, freien Theologie liegen im einzelnen Menschen und in der Kirche. Die individuellen Quellen der Theologie sind der religiöse Glaube und die religiöse Erfahrung des einzelnen. Sie sind geprägt von den kirchlichen Quellen der lebendigen Theologie: der Heiligen Schrift, den Dogmen und der kirchlichen Tradition. Dazu kommt immer die diese Gegebenheiten reflektierende Vernunft. Für Solov'ev ist die Heilige Schrift die erste und wichtigste Quelle der Theologie, danach die universalkirchlichen Dogmen der Alten Kirche 2 8 . Die Theologie hat durch diese kirchlichen Quellen Methoden, die die Philosophie nicht kennt. Das wichtigste spezifische Merkmal der lebendigen, freien Theologie ist ihre Okumenizität. Die lebendige Theologie muß ein lebendiger Teil der Kirche sein, und zwar der ökumenischen,
20 22
S . o . A n m . 3. I R , F S , 91 ( = D G I I I , 55); IS I X , 273.
23
7. V P X , 2 3 - 2 5 . R E U , F S , 160 ( = D G I I I , 201).
2 5 K O N I I , 350. C C , F S , 119 ( = D G I I I , 141). 2 7 R E U , F S , 291 ( = D G I I I , 410). 7. V P X , 2 5 ; K O N I I , 345. 2 8 T F I X , 90; 17. V P X , 5 4 ; T R X , 192: Solov'ev schreibt im Russischen „Heilige Schrift" (Svjascennoe Pisanie) mit großen Anfangsbuchstaben und kennzeichnet sie dadurch im Rang als göttlich im Unterschied zur kirchlichen Tradition, die er im Russischen meist klein schreibt (cerkovnoe predarne) und der er irdischen Charakter zuschreibt. Die Heilige Schrift ist bei Solov'ev die vorrangige Quelle der Theologie. 24 26
83
einen Kirche 2 9 . Elementar für die lebendige Theologie ist, daß sie aus der unmittelbaren Glaubens- und Erfahrungsbeziehung des einzelnen zu Gott hervorgeht und zu ihr hinführt. Sie muß „mystische Theologie" (misticeskoe bogoslovie) sein 3 0 . Schließlich muß die lebendige und freie Theologie als rationale Wissenschaft den Forderungen der philosophischen Vernunft genügen.
3. Das Verhältnis von Theologie
und
Philosophie
Aus der Charakterisierung der wahren und lebendigen Philosophie und Theologie bei Solov'ev kann man eine Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten zwischen beiden entnehmen. Gegenstand, Grundlage und Ziel der wahren, lebendigen Philosophie und Theologie sind jeweils dieselben. Der Gegenstand beider ist die eine Wahrheit, die Einheit des Seins von Gott, Mensch und Schöpfung, philosophisch ausgedrückt im Prinzip der seienden All-Einheit, theologisch ausgedrückt im Dogma vom Gottmenschentum Christi und in der Idee des Gottmenschentums aller Menschen. Die erkenntnistheoretische Grundlage beider ist die individuelle, unmittelbare mystische und religiöse Erfahrung der inneren Einheit von Gott und Mensch, bei der der unmittelbare Glaube an die Existenz der beiden sich Vereinenden, Gott und Mensch, vorausgesetzt und mitgegeben ist. Im Unterschied zur Philosophie ist die erkenntnistheoretische Grundlage der Theologie aber darüber hinaus breiter: sie beruht nicht nur auf dem individuellen Glauben an die Einheit des Menschen mit Gott und der entsprechenden mystischen Erfahrung, sondern auch auf dem kirchlichen Glauben an die historische Offenbarung Gottes und auf den Zeugnissen von dieser Offenbarung und auf der kirchlichen religiösen Erfahrung in der Uberlieferung der Kirche. Das Ziel der wahren und lebendigen Philosophie und Theologie ist schließlich jeweils die verwirklichte, vollkommene Vereinigung mit Gott, das ewige Leben 3 1 . Uber diese grundlegende Identität hinaus stehen Theologie und Philosophie bei Solov'ev in einem Verhältnis des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Die Philosophie empfängt ihren Inhalt von der Theologie als religiöses Wissen 3 2 , denn nur die Theologie weiß im religiösen und kirchlichen Glauben an die Selbstoffenbarung Gottes, daß die unmittelbare mystische Erfahrung der Einheit von allem die Erfahrung der Einheit des Menschen und der Schöpfung mit Gott ist. Die Philosophie überführt diese religiöse Wahrheit in die Form freien und vernünftigen Denkens 3 3 . Sie überprüft sie mit ihren phänomenalen und rationalen Methoden und rechtfertigt sie als mystische Philosophie 3 4 . Nimmt die Theologie diese Ergebnisse in sich auf, ist sie wiederum in ihrer Erkenntnistheorie und Metaphysik philosophischer Natur. Dies können wir in den theologisch geprägten Schriften Solov'evs immer wieder verfolgen: Seine Theologie ist philosophischen Charakters, so wie in seinen philosophischen Schriften die Philosophie oft den Charakter mystischer Theologie hat.
29 31 34
84
IR, FS, 91 ( = DG III, 55). FNCZ 1,310. FNCZ 1,293-303.
30 32
Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 244 ( = DG VI, 345). 3 3 A.a.O. S. 350. KON II, 345 .
4. Solov'evs Theosophie Solov'evs Denken ist ein ganzheitliches Wissen, dem er die Bezeichnung Theosophie (teosofija) gegeben hat, um schon in der Benennung die Einheit von Theologie und Philosophie in seinem Denken auszudrücken. Theosophie ist aber mehr: die Synthese von Theologie, Philosophie und empirischen Wissenschaften oder die Synthese aller Erkenntnisquellen des Menschen, des mystischen Erkennens als der unmittelbaren Beziehung zu Gott in Glaube und Erfahrung, des rationalen Denkens und der natürlichen Erfahrung 3 5 . Durch das Element des unmittelbaren Erkennens, durch die Mysik, ist die Theosophie eine Synthese der mystischen Philosophie in erkenntnistheoretischen und metaphysischen Begriffen und der mystischen Theologie in religiösen Begriffen, die der traditionellen christlichen Dogmatik und Frömmigkeit entnommen sind 36 . Die Besonderheiten der lebendigen Philosophie und Theologie bleiben in dieser Synthese voll erhalten. Das ist das Spezifische an der Theosophie Solov'evs, seinem ganzheitlichen Denken: Seine Theosophie versucht, das kritische Potential der theoretischen Philosophie und die kirchliche Gebundenheit der Theologie zu bewahren. Die Theosophie Solov'evs ist eine Synthese eines im christlichen Glauben erkannten religiösen Wissens und einer kritischen philosophischen Erkenntnistheorie. Die kritische Analyse des Erkenntnisvermögens des Menschen hat die logische und methodische Priorität innerhalb der Theosophie. Die Theosophie ist eine persönliche Sache der Vernunft des einzelnen 37 , dessen Denken autonom (samozakonno) und gewissenhaft (dobrosovestno) alles hinterfragt 38 . Sie ist schlußfolgernde, reflektierende Erkenntnis (rassuditel'noe i reflektirujuscee poznanie) 3 9 . Die Theosophie ist aber auch die Lehre von der unbedingten Wahrheit. Sie ist philosophische Metaphysik. Sie empfängt ihren Inhalt von der Theologie und reflektiert ihn mit ihren eigenen philosophischen Methoden. In der Theosophie sind die Inhalte der christlichen Dogmen mit der Denk- und Ausdrucksweise der Philosophie durch die Erkenntnistheorie verbunden, die bei der mystischen beziehungsweise bei der religiösen Erfahrung ansetzt und damit philosophische und theologische Metaphysik rechtfertigt. Genauso verhält es sich auf dem Gebiet der Ethik. Solov'evs Theosophie ist nämlich auch Moralphilosophie (nravstvennaja filosofija) 4 0 . Als solche hat Solov'evs Moralphilosophie keinen Anspruch auf metaphysische Erkenntnis 4 1 , sondern argumentiert ganz auf dem Boden der menschlichen Erfahrung 4 2 . Dabei spielt aber die phänomenale Seite der religiösen Erfahrung eine entscheidende Rolle. So werden Inhalte der theologischen Ethik gerechtfertigt. Auch hier gilt: Die mystische und die religiöse Erfahrung sind Grund und Ziel der Theosophie Solov'evs. 35 36 40
A.a.O. S. 267. 307; K O N II, 350. Vgl. D. von Usnadse, Weltanschauung, S. 57. 3 8 T F I X , 97 - 99 . 39 K Z F I , 2 8 . S.o.Anm.30. "KZFI.28. 4 1 A.a.O. S. 33. 4 2 A.a.O. S. 32. O D VIII, 26.
85
Zusammenfassend kann man sagen: Solov'evs Theosophie will die volle Synthese von lebendiger Philosophie und Theologie sein. Sie ist deshalb letztlich, wenn sie zu vollkommener Erkenntnis Gottes und zur Vereinigung des Menschen mit ihm führen soll, nur in Christus und in der Kirche möglich. Das macht Solov'ev besonders in seinen späteren Schriften deutlich. Wegen der Eigenständigkeit der kritischen Erkenntnislehre Solov'evs und seiner darauf aufbauenden philosophisch formulierten Metaphysik dagegen von seiner Theosophie als von einer modernen „Gnosis" zu sprechen 4 3 , ist wegen dieser kirchlichen Gebundenheit unangemessen. „Gnosis" als ein nur auf eigene unmittelbare religiöse Erfahrung gegründetes Wissen außerhalb der Kirche bezeichnet Solov'ev selbst als „häretische Theosophie" 4 4 . Solov'evs Theosophie will dagegen „rechtgläubig" (pravovernyj) sein. Sie beruht auf der mystischen Erfahrung als einer im kirchlichen Glauben religiös interpretierten Erfahrung. Das Ziel der Theosophie Solov'evs ist die mystische Erfahrung der vollkommenen Einheit von Gott und Mensch. Auf dem Weg dorthin ist die Theosophie kritische Uberprüfung der mystischen und religiösen Erfahrung sowie ihre Rechtfertigung und Begründung 4 5 . 5. Theosophie und
Erkenntnistheorie
Wir stellten bereits fest, daß Solov'ev in seiner Theosophie das kritische Potential der Erkenntnistheorie aufnimmt. Es geht um die gesicherte Erkenntnis der Wahrheit, die alle Kritik besteht. Dabei nimmt Solov'ev nicht nur die Ergebnisse der verschiedenen Erkenntnistheorien auf, sondern kritisiert sie und entwickelt sie weiter. Philosophische Erkenntnistheorie ist für Solov'ev zuerst und zuletzt philosophische Analyse der Erfahrung im allgemeinen und der religiösen Erfahrung im besonderen. Diese Analyse ist die Analyse eines Feldes von Begriffen, die das bezeichnen, was in jeder möglichen Erfahrung geschieht. Begriffe sind nach Solov'ev nichts anderes als Medien, Zeichen oder Muster der Erfahrung (sredstva, znacki, schemy opyta), die durch die Reflexion des Erfahrenden hervorgebracht werden 4 6 . Sie sind Bewußtseinstatsachen 4 7 oder genauer: Bewußtseinsakte 4 8 , das heißt Bildungen der Vernunft dessen, der etwas erfahren hat. Die meisten Begriffe verallgemeinern bestimmte Erfahrungsinhalte. Aber auch das Geschehen der Erfahrung selbst faßt das philosophische Bewußtsein in Begriffe. O b diese Begriffe dem wirklichen Geschehen entsprechen, das untersucht eben die philosophische Erkenntnistheorie. Solov'ev hat am Beispiel der unreflektierten und unsystematischen Begrifflichkeit Comtes klargemacht, daß die Philosophie ohne Begriffsanalyse 43 44 46
86
So B.Schultze, Fundamentaltheologie, S. 57. Art. „Misticizm", B - Ε , RG X, 245 ( = DG VI, 347). 47TFIX,134. F N C Z 1,316. 318.
48
4 5 T F I X , 89. 9 3 - 9 5 . 1 0 6 . K O N II, 301; vgl. a.a.O. S. 293.
keinen kritischen C h a r a k t e r haben kann 4 9 . Deswegen hat er selbst besondere Sorgfalt auf die A u s w a h l und die V e r w e n d u n g seiner erkenntnistheoretischen Begriffe gelegt. Deshalb ist es auch f ü r uns bei der Darstellung u n d Beurteilung seiner Theorie der mystischen u n d religiösen E r f a h r u n g die H a u p t a u f g a b e , seine erkenntnistheoretische Begrifflichkeit zu untersuchen. Sie n i m m t A r g u m e n t a t i o n e n s o w o h l aus der Philosophie- als auch aus der Theologiegeschichte auf u n d erweist sich so als wirklich theosophische E r kenntnislehre. Es wird später noch im einzelnen zu belegen sein, daß gerade die E r k e n n t n i s t h e o r i e u n d ihre Terminologie die Konstante der T h e o s o p h i e und Weltanschauung Solov'evs in allen seinen Schaffensperioden gewesen ist 5 0 . U n s e r e Analyse des Begriffs „ E r f a h r u n g " bei Solov'ev u n d des damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Begriffsfeldes wird zeigen, daß wir eine stets k o n s t a n te Terminologie interpretieren k ö n n e n . U n s e r methodisches Vorgehen entspricht d e m Befund bei Solov'ev. Vor der Analyse der erkenntnistheoretischen Begriffe Solov'evs untersuchen wir sein Verhältnis zu der von ihm rezipierten philosophischen u n d theologischen Begriffsgeschichte. D a b e i soll geklärt w e r d e n , von welchen A n s c h a u u n g e n sich Solov'ev abgrenzt u n d welchen er folgt.
II. „Erfahrung" in der Philosophie- und Theologiegeschichte. Die Übernahme durch Solov'ev und die Wirkung auf seine Erkenntnislehre A . „ E r f a h r u n g " in der von Solov'ev rezipierten Philosophiegeschichte 1. „Erfahrung"
und „Erlebnis" in der
Alltagssprache
Solov'ev gebraucht den Begriff „ E r f a h r u n g " (opyt) in einer breiten Palette von Bedeutungen, die alle Bereiche menschlichen Erlebens u n d menschlichen Wissens umfassen. Das liegt z u m einen an der U n k l a r h e i t u n d Weite des Begriffs „ E r f a h r u n g " schon in der Alltagssprache, z u m anderen an dessen vielfältigen und wechselnden G e b r a u c h in der Geschichte der Philosophie.
49 Solov'ev wirft C o m t e vor, die grundlegenden Thesen seiner Philosophie hätten „infolge des Fehlens einer jeden Analyse der Begriffe . . . dogmatischen, nicht aber kritischen C h a r a k t e r " . Vgl. Art. „ K o n t " (Auguste C o m t e ) , B - Ε , R G X, 3 8 0 - 4 0 9 , hier 405 ( = D G VI, 2 5 1 - 2 9 3 , hier 289). 50 Diese Auffassung vertreten auch V.Ern (Gnoseologija, S.204), L.Lopatin (Filosofskoe mirosozercanie, S.47), E.Radlov (Recenzija na „E.Trubeckoj, Mirosozercanie", S. 183),
V. Zen'kovskij (Istorija, Bd. II, S. 17-19), D.von Usnadse (Weltanschauung, S. 11), L.Müller (System, S. 6), B. Schultze (Fundamentaltheologie, S. 17) sowie W. Szylkarski sophie der All-Einheit, S. 407). Vgl. die Zusammenfassung, S. 3 3 4 - 3 3 8 .
(Solowjews Philo-
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„Erfahrung" ist ein zentraler Begriff in der Erkenntnislehre vieler Philosophen seit Aristoteles gewesen. Dennoch blieb er bis heute einer der dunkelsten, unaufgeklärtesten 1 und rätselhaftesten 2 Begriffe der Philosophie. Solov'ev selbst setzt sich in seinen frühen Hauptschriften 3 ausführlich mit den Philosophen auseinander, auf deren Denken seine eigene Terminologie kritisch aufbaut. Wir werden die Verwendung des Erfahrungsbegriffs bei Solov'ev klarer verstehen, wenn wir uns einige wichtige Punkte aus der Begriffsgeschichte vergegenwärtigen, soweit sie für Solov'evs Denken Bedeutung haben. Sowohl in der deutschen als auch in der russischen Alltagssprache lassen sich zwei 4 im Ansatz unterschiedliche Grundbedeutungen von Erfahrung (opyt) feststellen. Einerseits meint Erfahrung die Gesamtheit der erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen 5 , sein praktisches Geübt- und Vertrautsein mit etwas. Wir sprechen vom „Schatz" einer solchen Erfahrung, die wir uns selber aneignen, und meinen, sie sei nicht vermittelbar („Jeder muß seine eigenen Erfahrungen machen"). Aussagbar aber ist sie durchaus, und wir tendieren dazu, sie zu verallgemeinern („Die Erfahrung l e h r t . . . " ) . Andererseits meint Erfahrung ein ganz persönliches Widerfahrnis, eine unmittelbare Wahrnehmung der Sinne, des Verstandes oder des Gemüts, die auf einer einzelnen Begegnung mit dem eben jetzt Erfahrenen beruht. Wir machen „neue", „erstaunliche", „ungewohnte", „überraschende" und „einmalige" Erfahrungen. Diese persönliche Erfahrung bleibt oft sprachlos in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Sie ist im Gegensatz zum ersten Sprachgebrauch diejenige Erfahrung, die sich gerade der Verallgemeinerung widersetzt 6 , ja, die bisweilen gar nicht in Begriffe gefaßt und mitgeteilt werden kann 7 . Hier liegt der innere Grund für die nur scheinbar paradoxe Dunkelheit des philosophischen Erfahrungsbegriffs. Die beiden aufgezeigten Grundbedeutungen erfaßt die russische Alltagssprache mit den verschiedenen Verben „erfahren" (ispytyvat') und „erleben" (perezivat'), die dann auch substantiviert gebraucht werden: „Erfahren" oder „Erfahrung" (ispytanie) 8 und „Erleben" oder „Erlebnis" (perezivaVgl. F. Kambartei, Erfahrung und Struktur, S. 329. Vgl. K. Lehmann, Art. „Erfahrung", Sacramentum Mundi Bd. 1, Sp. 1117. 3 „Die Krise der westlichen Philosophie" (1874), „Philosophische Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877) und „Kritik der abstrakten Prinzipien" (1877-1880). 4 Die dritte Grundbedeutung des russischen Begriffs „opyt", nämlich „Versuch" mit den Bedeutungsnuancen „Experiment" und „Probe", kann hier vernachlässigt werden. Sie spielt bei Solov'ev in seiner Erkenntnislehre keine Rolle. 5 D. Usakov, Tolkovyj slovar' russkogo jazyka, Bd. 2, Sp. 841 : „Opyt - sovokupnost' prakticeski usvoennich znanij, umen'ja, navykov". Vgl. ebenso VI.Dal', Tolkovyj slovar' zivogo velikoruskogo jazyka, Bd. 2, Sp. 711. 6 A. S. Kessler, A. Schöpf, Chr. Wild, Art. „Erfahrung", HphG, Bd. 2, S. 374. 7 K. Cramer, Art. „Erleben, Erlebnis", HWPh, Bd. 2, Sp. 706. 8 „Ispytanie" kann mit „Erfahren", „Erproben" und „Erleben" übersetzt werden und trägt 1
2
88
nie) 9 . D e r Begriff „ E r f a h r u n g " ( o p y t ) 1 0 umfaßt beides: E r bezeichnet bedachtes Erleben. „ E r f a h r u n g " ( o p y t ) meint also ein Erleben, mit dem derjenige, der es erlebt hat, bereits auf die eine oder andere Weise umgegangen ist, sei es kognitiv, sei es kontemplativ o d e r aktiv.
2. Zwei Entwicklungslinien der philosophischen Erkenntnistheorie D i e grundsätzliche D o p p e l b e d e u t u n g des Erfahrungsbegriffs spiegelt sich in zwei unterschiedlichen Entwicklungslinien in der philosophischen E r kenntnistheorie wider. D i e erste führt von Aristoteles über Kant und H e g e l bis zu den heutigen kritischen Rationalisten und bezeichnet die allgemeine E r f a h r u n g als Synthese v o n W a h r n e h m u n g und logischer Überlegung. D i e zweite führt von Piaton über die englischen Empiristen bis zu den heutigen Wissenschaftspositivisten und bezeichnet die unmittelbare E r f a h r u n g als reine W a h r n e h m u n g des Erfahrenen.
2.1 Erfahrung als Synthese von Wahrnehmung und Überlegung Aristoteles bezeichnet Erfahrung (εμπειρία) als den Zustand erworbener Erkenntnisse und Fähigkeiten, den der Mensch durch Erinnerung erreicht: „Erst viele Erinnerungen . . . ein und derselben Sache ergeben die Fähigkeit einer εμπειρία." 1 1 Viele konkrete Situationen werden verallgemeinert zur εμπειρία, die eine elementare Behauptung darüber ist, daß (οτι) etwas sich stets so oder so verhält. Erst die tiefergehende επιστήμη formuliert generelle Sätze und damit die Einsicht darin, warum (διότι) etwas so oder so ist 12 . Kambartel hat aufgezeigt, daß das griechische Substantiv έμπειρία auf das Adjektiv εμπειρος („erfahren") zurückgeht 1 3 . Damit ist schon sprachlich „Erfahrung" als Produkt und Zustand festgelegt, als kognitive Fertigkeit. Kant geht einen Schritt weiter in der Verallgemeinerung des Erfahrungsbegriffs, indem er zwischen Wahrnehmungsurteilen, die auf bisher beobachtete Fälle beschränkt sind, und Erfahrungsurteilen unterscheidet, die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit auch über die beobachteten Fälle hinaus besitzen. Erfahrungsurteile nennt Kant auch Sätze der „empirischen Erkenntnis" 1 4 . Sie gehen in ihrer Gültigkeit über die aristotelische έμπειρία weit hinaus, sie stellen eine gemeinsame Leistung von darüber hinaus die Bedeutungsnuance „Empfindung". Vgl. E.Daum, W.Schenk, Wörterbuch Russisch-Deutsch, S. 259. 9 „Pere-zivanie" ist die wörtliche Entsprechung von „Er-leben". 10 „Opyt" und „ispytanie" haben die gleiche Wortwurzel ,,-pyt"; vgl. das Verb „pytat"' (versuchen, fragen). 11 Aristoteles, Metaphysica, 980b, 28ff., ed. W.Jaeger, S. 1. 12 F.Kambartel, Art. „Erfahrung", HWPh, Bd.2, Sp.610. 13 A.a.O. Sp.611. 14 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B2. BIO. B207. 89
Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft d a r 1 5 . Dieser Entschränkung des Erfahrungsbegriffs begegnet bei K a n t eine entscheidende E i n s c h r ä n k u n g : die mögliche Erfahrung wird auf die apriorischen Anschauungsformen R a u m und Zeit begrenzt. Dies merkt Solov'ev selbst kritisch a n 1 6 . D a m i t ist die philosophische Erfahrung a limine auf die Naturwissenschaft beschränkt, was dem tatsächlichen U m f a n g menschlicher E r f a h rung nicht entspricht. Aus diesem G r u n d e lehnt Solov'ev den Kantischen E r f a h rungsbegriff ab. E r hält ihn in seiner Begrenzung auf R a u m und Zeit für grundsätzlich falsch 1 7 . Auch für H e g e l ist Wahrnehmung allgemein noch keine Erfahrung. Hegel geht in dem, was er als Erfahrung bestimmt, im G r a d der Allgemeinheit n o c h über K a n t hinaus. Erfahrung ist für H e g e l gerade das Begreifen des Allgemeinen im E i n z e l n e n 1 8 . D i e D i f f e r e n z zwischen der Allgemeinheit des Begriffs und der Besonderheit des Gegenstandes der Wahrnehmung wird in der Erfahrung zugunsten des Begriffs aufgehoben. „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue, wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt w i r d . " 1 9 B e i H e g e l wird der Begriff z u m eigentlichen Inhalt der philosophischen Erfahrung, der das K o n k r e t e in seiner vereinigenden Kraft aufhebt. Seine Beschreibung dieser Aufhebung in den Begriff nennt Hegel dann auch „Wissenschaft der Erfahrung des B e w u ß t s e i n s " 2 0 . - Solov'ev beschreibt das Resultat des Hegeischen Erfahrungsbegriffs so: „Alles hat sein Sein nur im Begriff oder alles ist Sein des B e g r i f f s " 2 1 . W i r werden später noch genauer sehen, daß Solov'ev die gesamte Philosophie Hegels ablehnt, weil in ihr die empirische Basis aufgehoben wird. H i e r genügt es festzustellen, daß für Solov'ev die Hegeische Erfahrung des „Begriffs als wahrhaftes S e i n " 2 2 gerade keine wahrhafte Erfahrung ist, da sie das Wahre als das Seiende (und nicht bloß Gedachte) nicht erreicht 2 3 . D a ß W a h r n e h m u n g allein nur ein E l e m e n t der Erfahrung ist und Erfahrung v o m logischen D e n k e n gar nicht zu trennen ist, behauptet auch der gegenwärtige kritische Rationalismus etwa Karl Poppers, der gegen einen Wahrnehmungspositivismus gerichtet ist, wie ihn schon Solov'ev vorfand und kritisierte 2 4 . N a c h Popper gibt es keine „reine E r f a h r u n g " im Sinne der Möglichkeit empirischer Basissätze. D e n n schon die in diesen Basissätzen genannten D a t e n sind Ergebnisse methodischer Orientierung und B e o b a c h t u n g , die den Experimenten und E r h e b u n g e n der Wissenschaften i m m e r schon zugrunde liegen 2 5 . So wird bis heute der Begriff „ E r f a h r u n g " in der Philosophie so verwendet, daß er einen K o m p l e x aus Wahrnehmung und methodischem D e n k e n bezeichnet, der demjenigen, der die Erfahrung macht, eine gewisse Erkenntnis ermöglicht, die mitteilbar ist.
A. S. Kessler, A. Schöpf, Chr. Wild, Art. „Erfahrung", HphG, Bd. 2, S. 378. K Z F I , 52. 1 7 PB IX, 13. 18 A. S. Kessler u.a., Art. „Erfahrung", HphG, Bd. 2, S. 379. 19 G.W. Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Einleitung, S. 73; vgl. a.a.O. S. 189 f. 2 0 A.a.O.S.61. 2 1 KZF 1, 57. 2 2 A.a.O. S. 112. 2 3 A.a.O. S. 115-117. 2 4 A.a.O. S. 6 6 - 6 8 ; K O N II, 243f. 25 K.R. Popper, Kübelmodell und Scheinwerfermodell, in: Objektive Erkenntnis, S. 371. Vgl. auch H.Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 26 f. 15
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2.2 Erfahrung
als unmittelbare
Wahrnehmung
Auf der anderen Seite steht ein zweiter Erfahrungsbegriff, den vor allem der Empirismus vertritt: Erfahrung ist die Wahrnehmung, in die die Strukturen des menschlichen Denkens noch nicht eingehen. Schon Piaton gebraucht εμπειρία im Sinne eines wissenlosen Umgangs mit der Anschaulichkeit der Dinge 26 . Erfahrung ist hier an Anschaulichkeit und Geschichtlichkeit gebunden. Die englischen Empiristen nehmen diesen Erfahrungsbegriff auf. „Erfahrung" (experience) steht bei Bacon nicht für einen erworbenen Zustand menschlicher Fähigkeiten, sondern für den Prozeß des Gewinnens der Erkenntnis in der Wahrnehmung. „Experience" und „experientia" werden dabei vom Verb „experiri" (erforschen, erkunden) abgeleitet, beschreiben also im Gegensatz zur Aristotelischen εμπειρία eine Tätigkeit und keinen Zustand 27 . - Locke setzt „experience" (Erfahrung) mit „perception" (Wahrnehmung) gleich und behauptet, daß alles Material der Vernunft und des Wissens aus der Erfahrung oder der Wahrnehmung kommt 2 8 . Ebenso verfährt Hume, der „experience" mit „perception" und „perception", sofern sie sinnliche Wahrnehmung ist, wiederum mit „sensation" (Empfindung) gleichsetzt 29 . Diese These des englischen Empirismus eignet sich Solov'ev schon in seiner Magisterdissertation „Die Krise der westlichen Philosophie" an 30 und behält sie in allen seinen Denkphasen bei. Als russische Äquivalente gebraucht er für „Wahrnehmung" (perception) „vosprijatie" und für „Empfindung" (sensation) „oscuscenie" oder „cuvstvo" 31 . Daß Erfahrung das Kriterium der Wahrheit sei32, kann Solov'ev zusammen mit den Empiristen gegen den Hegeischen Idealismus oder „Panlogismus", wie Solov'ev ihn nennt 33 , behaupten. Es wird später noch deutlich werden, daß Solov'ev das wahre Wissen immer bei der Erfahrung als Wahrnehmung anfangen läßt. Nur wendet er sich leidenschaftlich gegen die im Lauf der Philosophiegeschichte spätere positivistische Einschränkung des Erfahrungsbegriffs allein auf die sinnliche Wahrnehmung, wie sie im 19. Jahrhundert Mill vornimmt. Denn dann wäre das Absolute oder Gott nicht mehr zu erfahren und folglich nicht mehr zu erkennen 34 .
3. Die Unterscheidung und innerer
zwischen Erfahrung
äußerer
Solov'ev eignet sich in seiner Erkenntnistheorie den Erfahrungsbegriff des Empirismus an. Die persönliche, unmittelbare Erfahrung, von der er bei allem Wissen 26
F. P. Hager, Art. „Empeiria", H W P h , Bd. 2, Sp. 453f. F.Kambartel, Art. „Erfahrung", H W P h , Bd. 2, Sp. 611. 28 J.Locke, On Human Understanding, II, 1, § § 2 - 4 (= Works, 1823, Bd. I, S. 82-84) und II, 9, § 1 ff. (= Works, Bd. I, S. 129 ff.). 29 D. Hume, A Treatise O n Human Nature, 1,1,1 (= Works, 1878, Bd. I, S. 311 f.). Vgl. VI. S. Solov'ev, Art. „Vosprijatie", B - Ε , RG XII, 561 ( = D G VI, 47). 30 KZF I, 67. 70. 31 Zu „vosprijatie" vgl. Art. „Vosprijatie", B - Ε , RG XII, 561 ( = D G VI, 47) sowie K O N II, S. X und 98. Zu „oscuscenie" vgl. F N C Z I, 335; K O N II, 238. 291; O D VIII, 191. 32 A.S. Kessler u.a., Art. „Erfahrung", H p h G , Bd. 2, S. 375. 33 3 KZF I, 133; TF IX, 126. " KZF I, 67. 70. 134. 27
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immer ausgeht, beschränkt er aber nicht auf die sinnliche Wahrnehmung wie die Positivisten. Für Solov'ev wird in seiner Argumentation gegen sie eine weitere Unterscheidung im philosophischen Erfahrungsbegriff wichtig: die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Erfahrung. Die Rede von der inneren Erfahrung gibt gerade der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, den Bereich möglicher Erfahrung bis auf „Wesensgehalte der Welt" auszudehnen 35 . Der Begriff der inneren Erfahrung ist die logische Voraussetzung der Identitätsphilosophie Schellings und später der Entwicklung der Phänomenologie durch Husserl und Scheler. Solov'ev übernimmt diese Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung, um die religiöse Erfahrung philosophisch zu rechtfertigen. Er ist sich aber über die Relativität des Unterschiedes zwischen äußerer und innerer Erfahrung im klaren: Da alle Erfahrung nur ein innerer Zustand des menschlichen Bewußtseins ist, ist alle Erfahrung letztlich auch innere Erfahrung 36 .
3.1 Intuition
und intellektuelle
Anschauung
In der Philosophiegeschichte geht der Rede von der äußeren und inneren Erfahrung die ihr entsprechende Unterscheidung von cognitio abstractiva und intuitiva oder Abstraktion und Intuition bei Duns Scotus und Wilhelm von Ockham voraus 37 . Cognitio intuitiva ist nicht nur die sinnliche Grundlage der abstrakten Erkenntnis, sondern ein eigenständiger Akt des menschlichen Bewußtseins (intentio prima) 38 , nämlich eine unmittelbare Schau (intuitio, von intueri - schauen, betrachten) - eine Schau eines Existierenden, die einen Erkenntnisgegenstand vor allem Denken als seiend erkennt 39 . - Solov'ev sieht in Duns Scotus und Ockham die Vorläufer des englischen Empirismus, insofern auch bei ihnen alle Erkenntnis von der Erfahrung (hier als intuitiver Erkenntnis), ausgeht, und würdigt ihre empirische Erkenntnistheorie positiv 40 . Man kann sagen, daß er sich selbst in diese empirische Denktradition stellt und wie Ockham die unmittelbaren Bewußtseinszustände zusammen mit dem Glauben für die beiden Erkenntnisquellen hält 41 . Der Begriff „Intuition", den Solov'ev bis ins Mittelalter zurückverfolgt, beschreibt eine besondere Art innerer Erfahrung des Menschen: eine unmittelbare, nicht auf die äußeren Sinne oder auf diskursive Überlegung angewiesene innere Schau des Menschen, das, was wir eine Einsicht nennen. Und weil diese geistige Schau unmittelbar ist, ist sie auch selbstevident. Intuition ist Evidenz. Daß gerade Descartes, den Solov'ev den „Prototyp des Rationalismus" nennt 42 , sein philosophisches Grundprinzip, sein „cogito ergo sum", „une connaissance intuitive" nennt 43 , bestätigt nur den weiten Umfang des Begriffs „Intuition". Intuition ist hier die „Reflexion des M. Scheler, Abhandlungen und Aufsätze, 1915, Bd. 2, S. 227. KON II, 290; Art. „Opyt", B-Ε, RG X, 251 (= DG VI, 398). 37 L. Oeing-Hanhoff, Art. „Erkenntnis, abstraktive/intuitive", HWPh, Bd. 2, Sp.681 f. 38 H. Krings, H. M. Baumgartner, Art. „Erkennen, Erkenntnis", HWPh, Bd. 2, Sp. 651. 39 L. Oeing-Hanhoff, a.a.O. Sp. 682. 40 Art. „Okkam", B-Ε, RG XII, 611 (= DG VI, 395) und Art. „Duns Skot", B-Ε, RG X, 330 (= DG VI, 147). 4 1 Art. „Okkam", a.a.O. S.611;TFIX, 106.133. 42 KZF 1, 3 3 43 TFIX, 108, Anm. 5. 35
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Denkens über sich selbst" 4 4 , die zu der inneren, unbezweifelbaren Gewißheit kommt, daß das Denken das Sein voraussetzt. Es ist die Gewißheit der eigenen Existenz, die aus der inneren Selbstwahrnehmung herkommt. - Solov'ev hat zwar die Descartessche Konsequenz der inneren Erfahrung, sein „ergo sum", nur zu Beginn seiner philosophischen Entwicklung geteilt 45 , aber dessen Ansatz bei der inneren Selbstwahrnehmung folgte er. Deswegen betont Solov'ev gerade den intuitiven Charakter des cartesischen Satzes 4 6 . Spinoza spricht ebenfalls von intuitiver Erkenntnis (scientia intuitiva), aber in einem anderen Erkenntnisbereich 4 7 . Intuitive Erkenntnis ist bei ihm höher und tiefer als Empfindung und Vernunft und erkennt die eine unendliche und unteilbare Substanz, die Spinoza Gott oder Natur nennt. Diese Idee existiert als „instrumentum innatum" im Menschen 4 8 , und daher kann sie vor allem Denken und vor aller äußeren Erfahrung im unmittelbaren geistigen Schauen, in der Intuition, erkannt werden. Solov'ev ist nach seinen eigenen Aussagen von Begriff und Funktion der scientia intuitiva Spinozas beeinflußt worden. Er bezeichnet Spinoza als seine „erste Liebe in der Philosophie" 4 9 und widmete ihm noch an seinem Lebensende seinen Aufsatz „Der Gottesbegriff. Zur Verteidigung der Philosophie Spinozas". Dem Spinozismus als metaphysischem System ist er allerdings nur in einer Übergangsperiode seiner Jugend 5 0 verpflichtet gewesen, nämlich in seiner Schulzeit, bevor er zu einer positiven christlichen Philosophie fand. Aber noch 1897 verteidigt er die intuitive Erkenntnis der ewigen Substanz bei Spinoza als Ausdruck der „religiösen Erfahrung des Pantheismus" und des „pantheistischen Gefühls der Gemeinschaft mit der all-einen Substanz (panteisticeskoe cuvstvo obscenija c vseedinoj substanciej) 51 , durch das gerade Metaphysiker und Dichter, die nicht ausschließlich verstandesmäßig denken, auch heute noch hindurchgehen 5 2 . Zu diesen zählt sich Solov'ev sicher selbst. Er übernimmt von Spinoza nicht dessen Substanzdenken, das für ihn durch Kants Kritik überwunden ist 53 , wohl aber dessen Lehre, daß die „unausdenkbare und unaussprechliche Absolutheit der Gottheit" (nedomyslimaja i neizrecennaja absoljutnost' bozestva) 5 4 weder durch das Empfinden der Sinne noch durch die Ideen der Vernunft erkannt wird, sondern durch ein besonderes Erkenntnisvermögen, das Spinoza intuitive Erkenntnis nennt oder auch geistige Liebe zu Gott (amor dei intellectualis) 5 5 . Darin drückt sich für Solov'ev eine allgemeingültige religiöse Erfahrung aus, die er in seine eigene Philosophie einbindet 5 6 . Solov'ev stellte sich in seiner Philosophie in die Tradition der „nicht ausschließlich verstandesmäßigen Denker", wie er sich ausdrückt 5 7 . Damit wendet er sich besonG. Knauss, Art. „Erfahrung, innere", HWPh, Bd. 2, Sp. 619. KZFI, 71. 128. In seiner „Theoretischen Philosophie" distanziert sich Solov'ev betont von seiner frühen Beurteilung Descartes' und nennt dessen „cogito ergo sum" eine petitio principii, die dem kritischen Denken nicht standhalte (TF IX, 124). 4 6 TF IX, 109. 4 7 Vgl. Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 289 f. 48 H.Krings, H. M. Baumgartner, Art. „Erkennen, Erkenntnis", HWPh, Bd. 2, Sp. 653. 4 9 PB IX, 3. 5 0 PB IX, 29. « P B IX, 16. 5 2 Ebd. 5 3 PB IX, 24. S 4 PB IX, 23. 55 Β. Russell, A History of Western Philosophy, S. 575. 5 6 Mit Spinoza formuliert Solov'ev, Philosophieren bedeute eigentlich, Gott zu lieben. Denn die wahre Erkenntnis Gottes ist die Liebe zu ihm. Vgl. Art. „Ljubov"', B - Ε , RG X, 237 (= DG VI, 310). 5 7 PB IX, 16: „mysliteli iskljucitel'no rassudocnogo charaktera". 44
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ders gegen K a n t und Hegel. K a n t hat zwar von der „inneren E r f a h r u n g " gesprochen, aber sein Erfahrungsbegriff ist dabei ganz auf die Anschauungsformen des Verstandes, auf R a u m und Zeit, b e g r e n z t 5 8 : D i e Anschauungsform der inneren E r f a h r u n g ist für K a n t i m m e r die Z e i t 5 9 , und dadurch ist sie an die äußere, sinnliche Erfahrung in R a u m und Zeit gebunden. Eine menschliche Erfahrung, die diese irdischen E r k e n n t nisbedingungen durchbricht, kann es nach K a n t nicht geben. E i n e verstandesmäßige Intuition, wie sie Descartes und Spinoza lehrten, lehnt K a n t ausdrücklich ab. N a c h K a n t ist unser menschlicher Verstand immer ein diskursiver, der von den analytischen Begriffen a priori zu den synthetischen Anschauungen a posteriori voranschreitet, und nie ein intuitiver, der umgekehrt von der synthetischen Anschauung eines G a n z e n oder Allgemeinen z u m analytischen Begriff eines Besonderen g e h t 6 0 . Intuition ist nach K a n t vielleicht für ein göttliches Wesen möglich, aber nicht für einen M e n s c h e n . - H i e r erweist sich für Solov'ev die Erkenntnislehre Kants als unzureichend. Sie drängt den M e n s c h e n einerseits in die R o l l e eines Gesetzgebers der Erkenntnis und macht ihn andererseits dann z u m Gefangenen der von ihm selbst aufgestellten Erkenntnisbedingungen 6 1 . D a s liegt nach Solov'ev daran, daß K a n t grundsätzlich Erkenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori, E r k e n n t n i s f o r m und Erkenntnisinhalt trennt, was einer Abstraktion des Subjekts v o m O b j e k t oder der Erkenntnis v o m wirklichen Sein g l e i c h k o m m t 6 2 . B e i Hegel sieht Solov'ev das E x t r e m des rein verstandesmäßigen D e n k e n s erreicht und damit die v o l l k o m m e n e U n m ö g l i c h k e i t , intuitiv zu denken oder anzuschauen, geschweige denn religiöse Erfahrung in die Philosophie zu integrieren. D e n n für Hegel hat alles sein Sein nur im Begriff der Vernunft, und alles Sein ist nur die dialektische E n t w i c k l u n g des B e g r i f f s 6 3 . - In der Tat hat in einem System, in dem der Vernunftbegriff z u m Inbegriff des wahren Seins w i r d 6 4 , ein Erkenntnisvermögen, das weder Vernunft n o c h äußere, sinnliche Erfahrung ist, keinen Platz. I m bewußten Gegensatz zu Kants L e h r e von der U n m ö g l i c h k e i t einer Intuition des Verstandes entwickelte der frühe Schelling ein K o n z e p t der Intuition. E r nennt die Intuition mit einem selbst geprägten S y n o n y m „intellektuelle A n s c h a u u n g " 6 5 und versteht darunter die Fähigkeit des Geistes, das Überzeitliche unmittelbar zu schauen. D a b e i knüpft Schelling an seinen Lehrer Franz von Baader an, der die Eigenständigkeit der inneren Erfahrung behauptet hatte und sie als die Möglichkeit erklärt hatte, das „wirkende p r i n c i p i u m " , das heißt G o t t , „mit dem Geist wahrzunehm e n " 6 6 . Intellektuelle Anschauung bei Schelling ist „ein geheimes, wunderbares Vermögen, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der F o r m der Unwandelbarkeit das Ewige in uns a n z u s c h a u e n " 6 7 . Diese „geheime" Intuition ist bei Schelling eine unbewußte Anschauung in dem Sinn, daß sie vor und über dem K O N II, 90; PB IX, 13. G.Knauss, Art. „Erfahrung, innere", HWPh, Bd. 2, Sp. 619. 60 I.Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 349f. ( = Werke, hrsg. von W. Weischedel, Bd.V, S. 525). 6 1 T F I X , 163. 6 2 K Z F I , 60. 63 KZFI,57. 6 4 KZF 1,112. 65 V Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 62 und S. 62, Anm. 92. 66 F.X. von Baader, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 14 (zitiert in: G.Knauss, Art. „Erfahrung, innere", HWPh, Bd. 2, Sp. 620). 67 F. W. J. Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, 8 = Werke, Originalausgabe, Bd. 1/1,1856, S. 318f. ( = Werke, hrsg. M.Schröter, Bd. I, 1927, S. 242). 58 59
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analytisch-begrifflichen Verstandesbewußtsein steht. In dieser „wunderbaren Anschauung" nimmt sich das Subjekt (der Geist) unmittelbar wahr als identisch mit dem Objekt (der Natur) in der ursprünglichen, identischen Einheit allen Seins, in dem einen Weltgrund oder Absoluten 68 . Intuition muß bei Schelling eine unbewußte Wahrnehmung dieser Identität sein, weil für ihn das Verstandesbewußtsein schon eine Abstraktion und ein Resultat der Spaltung von Subjekt und Objekt in die gegensätzlichen Daseinsformen Geist und Natur ist. Intuition oder intellektuelle Anschauung beim frühen Schelling ist also eine unmittelbare Selbstwahrnehmung und in dieser Selbstwahrnehmung auch eine Wahrnehmung des Absoluten als der Einheit allen Seins. Solov'ev übernimmt in seiner unvollendeten Frühschrift „Philosophische Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" und in den darauf folgenden, den Text der „Philosophischen Prinzipien" oft wörtlich aufnehmenden „Vorlesungen über das Gottmenschentum" die Terminologie, aber nicht die dahinterstehenden ontologischen Voraussetzungen des frühen Schelling. Solov'ev nennt als ursprüngliche Form des wahren Wissens und unmittelbaren Erkennens die intellektuelle Anschauung (umstvennoe sozercanie) und fügt in seinem Text in Klammern die deutschen Worte „intellektuelle Anschauung, Intuition" ohne Quellenangabe hinzu 69 . Er zitiert hier ganz offensichtlich den frühen Schelling 70 . Dennoch hat bei ihm die Intuition oder intellektuelle Anschauung eine andere Funktion. Sie erkennt, wie wir noch genauer sehen werden 71 , die ganzheitlichen Ideen der Einzelerscheinungen und deren Zusammenhang 72 . Nirgends bei Solov'ev führt die Intuition zu einer Identität von Erkenntnissubjekt und -objekt; sie erkennt stattdessen die Einheit von Subjekt und Objekt in ihrer Verschiedenheit: Intuition ist bei Solov'ev das unmittelbare, wahrnehmende Erkennen einer bestimmten Gegebenheit durch ein davon verschiedenes Subjekt in deren gemeinsamer, tieferer Wirklichkeit, die die Einheit beider ist und die Subjekt und Objekt in ihrer Verschiedenheit verbindet und vereint. Solov'ev polemisiert schon in seiner Magisterdissertation „Die Krise der westlichen Philosophie" direkt gegen die Identitätsphilosophie des frühen Schelling, indem er aufzeigt, daß das Absolute nicht zugleich Subjekt und Objekt sein kann, wenn es wirklich existieren soll 73 . Anläßlich der Verteidigung seiner Doktordissertation „Kritik der abstrakten Prinzipien" macht er klar, daß er nur eine Verwandtschaft seiner Gedanken mit der Spätphilosophie Schellings, der von Schelling selbst so genannten „positiven Philosophie" anerkenne, jede Nähe zum „spekulativen Pantheismus des ersten Schellingschen Systems (Identitätsphilosophie)" 74 aber ablehne. In der Philosophie des späten Schelling, in seiner „Philosophie der Mythologie und Offenbarung", finden wir an zentraler Stelle den Begriff Erfahrung als desjenigen Erkenntnisvermögens, das die Existenz alles in und außer uns Seienden überhaupt erkennt. Das Wesen eines Dinges, sein „Was", erkennt die Vernunft. Seine Existenz,
68 A. Margoshes, Art. „Schelling, F.J.W.", Encyclopedia of Philosophy, Bd. 7, S. 3 0 5 - 3 0 9 . Vgl. auch Ν. Petruzzellis, Art. „Schelling", Enciclopedia Filosofica, Bd. VII, Sp. 4 0 6 - 4 0 9 . 6 9 F N C Z I, 316; C B III, 65. 7 0 So auch: V. Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 60 und S. 62. 7 1 S.u. S.247—251. 7 2 F N C Z 1,316. 318. 320. 340; C B III, 65ff. 7 3 KZF I, 56. 7 4 Brief Nr. 3 an A. A. Kireev (1881), Ρ II, 100.
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„daß dieses ist, das heißt daß es existiert, kann nur die Erfahrung lehren" 7 5 . In Auseinandersetzung mit der Glaubensphilosophie Jacobis, die die Erkenntnis der Existenz eines Gegenstandes dem Glauben zuschreibt, präzisiert Schelling: „Will man nun jede Unterwerfung unter eine Autorität Glauben nennen, so ist es ein richtiges Wort: durch den Glauben (nämlich auf bloße Autorität unserer Sinne, nicht durch Vernunft) wissen wir, daß Dinge außer uns sind." 7 6 Schelling ist hier also Empirist, indem er behauptet, der Wirklichkeit können wir nicht durch die Vernunft, sondern nur empirisch gewiß werden. Er unterscheidet dabei nicht äußere und innere Erfahrung der einen Wirklichkeit. Nun ist aber auch Gott diese Wirklichkeit, und insofern ist auch Gott nur etwas „erfahrungsmäßig Erkennbares". „Der Empirismus schließt daher keineswegs alle Erkenntnis des Ubersinnlichen aus." 7 7 - Ludolf Müller hat diese Position des späten Schelling „metaphysischen Empirismus" genannt und meint, diese Lehre entspreche ganz der Lehre Solov'evs, die dieser von Schelling übernommen habe 7 8 . Wir können dagegen bei Solov'ev einen solchen „metaphysischen Empirismus" nicht finden, wobei w i r wie Solov'ev unter Empirismus die philosophische Richtung verstehen, die behauptet, daß alle mögliche Erkenntnis auf Erfahrung gegründet ist. Zwar werden wir sehen, daß Gott für Solov'ev unter allen Umständen etwas ist, das „in der Erfahrung gegeben ist" (dannoe ν opyte) 7 9 , aber damit ist für Solov'ev noch nicht Gottes Existenz erkannt, sein „Daß", sondern allein sein „Wie". Daß etwas außerhalb von uns existiert, können wir nach Solov'ev weder durch Erfahrung noch durch Vernunft wissen; und er bezieht dies auf die Wirklichkeit Gottes und die der gesamten äußeren Welt 8 0 . Denn „was nicht in uns ist, . . . befindet sich jenseits der Grenzen unserer Erfahrung, und folglich unseres wirklichen Wissens, und kann so nur durch den Akt des Geistes behauptet werden, der die Grenzen unserer Wirklichkeit überschreitet und Glaube genannt wird" 8 1 . Der Glaube, von dem Solov'ev (mit Sicherheit seit 1877) spricht, ist nicht der Schellingsche Glaube an die Autorität der Sinne. Er ist gerade nicht an die Erfahrung gebunden. Solov'ev findet im späten Schelling einen Erfahrungsmetaphysiker, der seinem eigenen Denken gerade darin nahesteht, daß Gott als Datum der menschlichen Erfahrung gedacht wird. Er grenzt sich aber auch vom späten Schelling durch die Rolle ab, die er dem Glauben im Prozeß der Erkenntnis zuerkennt. Er faßt, wie wir noch sehen werden 8 2 , den Glaubensbegriff biblischer und ist darin, wenn man so will, der biblischere der beiden Philosophen. Aus einigen Elementen und Begriffen der von Schelling selbst so genannten „positiven Philosophie" 8 3 formt er seine von ihm im Anklang an Schelling als „positive christliche Philosophie" 8 4 bezeichnete Theosophie. 75 F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, 1. Buch, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, 4. Vorlesung = Werke, Originalausgabe, Bd. II/3, 1858, S. 58 (= Werke, hrsg. M.Schröter, 6. Erg.bd., S. 58). 7 6 A.a.O., 8. Vorlesung = Werke, Originalausgabe, Bd. II/3, 1858, S. 171 f. (= Werke, hrsg. M. Schröter, 6. Erg.bd., S. 171 f.). 7 7 A.a.O., 6. Vorlesung = Werke, Originalausgabe, Bd.II/3, 1858, S. 113 (= Werke, hrsg. M.Schröter, 6. Erg.bd., S. 113). 7 9 PB IX, 15. 78 L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 9 9 - 1 Ol. 8 0 CB III, 32 f. 8 1 A.a.O.S.33 . 8 2 S.u. S. 2 3 9 f . 2 4 3 - 2 4 5 . 83 F.W.]. Schelling, Philosophie der Offenbarung, l.Buch = Werke, Originalausgabe, Bd. II/3, S. 10 unÛ 2. Buch, Werke, Originalausgabe, Bd. II/4, S. 321. 8 4 PB IX, 27. Vgl. die Bezeichnung seiner Philosophie in Brief Nr. 13 an E.Tavernier, Ρ IV, 198: „instauration générale de la philosophie chrétienne".
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3.2 Innere Erfahrung und Metaphysik Solov'ev selbst weist auf die Prägung des doppelten Begriffs der äußeren und inneren Erfahrung bei Locke und den englischen Empiristen hin. Außere Erfahrung machen wir nach Locke durch sinnliche Empfindungen (sensation), innere Erfahrung durch psychische Beobachtungen (reflection) 8 5 . Zusammen erschließen sie den gesamten Bereich der Erkenntnis. Diese Begründung der allgemeinen Erkenntnistheorie der empirischen Philosophie durch Locke ist auch für Solov'ev grundlegend. Gegen Kant vertritt er die Auffassung, daß nicht die innere Erfahrung von der äußeren abhänge 8 6 , sondern die äußere nur die sinnliche Variante der einen unbedingten inneren Erfahrung ist. Letztlich ist der Unterschied zwischen äußerer und innerer Erfahrung nach Solov'ev nicht aufrechtzuerhalten. Beide sind innere Bewußtseinszustände der Wahrnehmung 8 7 . Aber nur die äußere Erfahrung, die an die natürlichen Sinne gebunden ist, ist von Raum und Zeit abhängig. Gegen den im 19. Jahrhundert von Mill auf die Spitze getriebenen Positivismus, nach dem alles in der Erfahrung Gegebene nur die Bewußtseinszustände desjenigen sind, der sinnlich oder innerlich etwas erfährt 8 8 , wendet sich Solov'ev kategorisch im Namen der Wirklichkeit des Erfahrenen. Für ihn ist die innere Erfahrung sogar die Erkenntnisquelle nicht nur der sinnlichen Realität, sondern auch der metaphysischen Wahrheit und Wirklichkeit. Hier kann Solov'ev an Schopenhauer und Eduard von Hartmann anknüpfen, und er tut dies mit ausführlichen Darlegungen ihrer Ansätze einer „Metaphysik der Erfahrung" 8 9 . Sowohl Schopenhauer als auch Hartmann und mit ihnen Solov'ev beziehen sich wiederum auf die vor ihnen durch Fichte und Schelling gegen die Empiristen und Rationalisten begründete Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt. Fichte und Schelling gründeten ihre Annahme auf die innere Erfahrung, die bei Fichte Erfahrung des Ich bleibt und das Erkenntnisobjekt aus dem Ich hervorgehen läßt, bei Schelling hingegen religiöse Erfahrung des Weltgrundes ist und Subjekt und Objekt identifiziert 9 0 . Schopenhauer vermeidet die Isolierung der inneren Erfahrung in Fichtes subjektivem Idealismus wie auch die vorschnelle Identifizierung von innerer und äußerer Erfahrung in der Identitätsphilosophie Schellings. Für die metaphysische Erkenntnis der Wahrheit sind für Schopenhauer beide Erkenntnisquellen in ihrer Verbindung wichtig: „Die Erkenntnisquelle der Metaphysik (ist) nicht die äußere Erfahrung allein, sondern eben sowohl die innere; ja ihr Eigentümlichstes, wodurch ihr der entscheidende Schritt, der die große Frage allein lösen kann, möglich wird, besteht... darin, daß sie, an der rechten Stelle, die äußere Erfahrung mit der inneren in Verbindung setzt und diese zum Schlüssel jener macht." 9 1 Diese Verbindungsstelle der 8 5 KZF I, 45: Solov'ev überträgt Lockes „reflection" ins Russische mit dem Ausdruck „psichiceskoe nabljudenie" (psychische Beobachtung). 86 G. Knauss, Art. „Erfahrung, innere", HWPh, Bd. 2, Sp. 619. - S. o. S. 94. 8 7 So schon in KZF I, 45; später in: F N C Z I, 299f. 312; K O N II, 240; T F IX, 113. 8 8 KZF I, 67. 134f. Diese Ansicht hatte auch schon Locke vertreten. 8 9 Zu Solov'evs Charakteristik der Metaphysik Schopenhauers vgl.: KZF I, 74ff., bes. 90. 144; F N C Z 1,265; CB III, 46. Zu seiner Charakteristik der Metaphysik E. von Hartmanns vgl.: KZF 1 , 9 5 - 9 9 . 1 0 9 f . 141 ff.; F N C Z 1,265; ¿ B III, 46. 90 H.Krings, H. M. Baumgartner, Art. „Erkennen, Erkenntnis", HWPh, Bd. 2, Sp. 655. 91 A.Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band = Sämtliche Werke, hrsg. A. Hübscher, Bd. 3, S. 201.
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äußeren und inneren Erfahrung ist für Schopenhauer die Einheit von Wille und Vorstellung im Menschen. Der Mensch erkennt sich in seinem Willen als individuelle Erscheinung des einen Weltwillens, als Erscheinung dessen, was hinter dem Vorhang der von den äußeren Sinnen und dem abstrakt begrifflichen Denken des Menschen gebildeten Vorstellungen wirklich existiert. Dieses wirklich Seiende ist für Schopenhauer das Metaphysische, was jenseits der Grenzen des natürlichen Erkennens liegt, und er gibt ihm die Bezeichnung „Weltwille". Der Weltwille ist die eine metaphysische Wesenheit, die sich dem Menschen unmittelbar in seiner inneren Erfahrung bekundet und die ihm dabei als Macht bekannt wird 92 , nämlich als seine eigene selbständige Tätigkeit, als sein eigener Wille. Nach solcher Erkenntnis durch die innere Erfahrung wird diese metaphysische Wesenheit dem Menschen durch die Erfahrung der äußeren Sinne und durch das abstrakte Denken als Vorstellung bekannt. - Solov'ev sieht in dieser „Vereinigung der äußeren und inneren Erkenntnis" 9 3 durch die Ubereinstimmung der äußeren mit der zugrundeliegenden inneren Erfahrung des Willens eine „vollständige Wende im Verlauf der gesamten westlichen Philosophie" 94 , eine Wende, die erstmals die von der lebendigen Wirklichkeit abstrahierte Spaltung in Erkenntnissubjekt und -objekt überwindet. Solov'ev kritisiert allerdings die Art der Wende: Sie gehe bei Schopenhauer zu Lasten der Vorstellung, die bei ihm keinen eigenen Wert habe, sondern nur eine Erscheinung des Weltwillens ohne Vorstellung sei 95 . In der Tat enthält die Vorstellung des Menschen nach Schopenhauer keinen echten Inhalt, dem wirkliches Sein zukommt. Die Welt der Vorstellungen, gebunden an die Anschauungsformen Raum und Zeit, ist nichts weiter als Schein, Schleier oder das, was in den indischen Veden Maya heißt. Eduard von Hartmann, der „Nachfolger der Ideen Schopenhauers" 96 , nennt die metaphysische Wesenheit, die der Mensch durch äußere und innere Erfahrung erkennt, das „Unbewußte" 9 7 und bezeichnet damit das allumfassende eine metaphysische Wesen, das alles Seiende ist 98 . Für die Tätigkeit und Wirkung dieses allumfassenden metaphysischen Unbewußten in der vorfindlichen Welt liefert Hartmann, wie Solov'ev sich ausdrückt, „Beweise" aus dem Bereich unserer inneren Erfahrung. Solche Beweise sind für Hartmann etwa die Gefühle der Liebe und der Schönheit, die Vorahnung oder Phänomene der Mystik. Sie sind für ihn nichtsinnliche, aber erfahrbare Wirkungen eines geistigen Prinzips jenseits des individuellen Bewußtseins 99 . Wir werden bei Solov'ev eine parallele Argumentation finden. Vor allem übernimmt er von Hartmann den Ansatz dieser Art „teleologischer Gottesbeweise" von der inneren Erfahrung zu Gott. Er ist sich aber bewußt, daß es sich um keine Beweise der Existenz eines metaphysischen Wesens handeln kann. Dennoch benutzt er wie Hartmann die Phänomene innerer Erfahrung als Argumente für die wirkliche Beziehung von Erkennendem und metaphysisch Seiendem. Beide, Schopenhauer und Hartmann, kritisiert Solov'ev dafür, daß sie keine ausgeglichene Synthese von innerer und äußerer Erfahrung erreicht haben 100 , sondern mehr oder weniger einseitig die innere Erfahrung zum Ausgangspunkt ihrer metaphysischen Spekulationen machten. In dieser Kritik ist auch schon die Aufgabe für 92
93 94 K Z F I , 87f. KZF 1,90. KZF 1,94. Ebd. FNCZ1,265. 97 E. von Hartmann, Philosophie des Unbewußten, 1. Teil: Phänomenologie des Unbewußten, 11. Aufl. 1904, S. 2 f. 98 99 100 KZF 1,99. KZF 1,96 f. KZF 1,144. 95
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Solov'ev selbst beschlossen: eine ausgeglichene Synthese der Erkenntnisquellen der äußeren und inneren Erfahrung als Grundlage einer philosophischen Rechtfertigung einer einheitlichen Metaphysik herzustellen. Solov'ev stellt sich dieser Aufgabe und packt sie in i m m e r neuen Versuchen von 1874 („Krise der westlichen P h i l o s o p h i e " ) bis 1899 („Theoretische P h i l o s o p h i e " ) an. E r knüpft stets kritisch und eigenständig an alle bisher genannten Philosophen an. Von der „Krise der westlichen P h i l o s o p h i e " bis zu seinem letzten W e r k nennt er keine weiteren nichtrussischen Philosophen nach Schopenhauer und E . v o n H a r t m a n n , denen er für sein eigenes D e n k e n positive Anregungen v e r d a n k t 1 0 1 .
3.3 Innere Wahrnehmung und Intention Eine Gedankenentwicklung, die bei der inneren Erfahrung ihren Ausgang n i m m t und zur deutschen P h ä n o m e n o l o g i e des 2 0 . Jahrhunderts führt, hat erstaunliche Parallelen im Werk Solov'evs. I m J a h r 1874, als Solov'ev seine „Krise der westlichen Philosophie" veröffentlichte, erschien gleichzeitig in Deutschland F r a n z Brentanos „Psychologie vom empirischen Standpunkt aus". In ihr unterscheidet B r e n t a n o physische (äußere) und psychische (innere) Phänomene. D i e ersteren werden mit der äußeren Wahrnehmung der Sinne erfahren, die letzteren mit der inneren Wahrnehmung, die ein unsinnliches Erkenntnisvermögen i s t 1 0 2 . Zu den psychischen P h ä n o menen - und das ist das neue Resultat der deskriptiven Psychologie Brentanos gehören alle inneren Erlebnisse oder A k t e des M e n s c h e n : seine Vorstellungen, seine emotionalen Empfindungen, besonders Liebe und H a ß , und seine rationalen Urteile. Sie alle sind Ergebnisse der inneren Wahrnehmung des Menschen und als solche unmittelbar und e v i d e n t 1 0 3 . Sie beziehen sich jeweils auf etwas, intendieren etwas, was in ihnen erscheint. D i e innere Wahrnehmung nennt B r e n t a n o daher ein „intentionales E r l e b n i s " 1 0 4 und meint damit die Beziehung des Bewußtseins auf etwas. O b dasjenige, auf das die Intention zielt, selbst existiert, ist dabei genauso ungewiß wie die Existenz desjenigen, der die innere Wahrnehmung hat. Entscheidend ist nur der A k t der Intention, der beabsichtigten Beziehung auf etwas. Untrüglich evident ist allein die innere Wahrnehmung selbst: ihr k o m m t Existenz zu; und nur abgeleitet dann auch dem Träger der psychischen A k t e als der Konstante der wechselnden inneren Wahrnehmungen. Während die innere Wahrnehmung für B r e n t a n o also selbstevident ist, ist die äußere Wahrnehmung der Sinne für ihn erkenntnistheoretisch immer blind: Ihr fehlt das vorstellende, emotionale und urteilende Vermögen der inneren Wahrnehmung. Wilhelm Wundt und später E d m u n d Husserl haben äußere (mittelbare) und innere (unmittelbare) Erfahrung beziehungsweise Wahrnehmung nicht so getrennt. Sie gehen davon aus, daß die menschliche Erfahrung an sich einheitlich ist. Husserl, der Begründer der Phänomenologie der A k t e des Bewußtseins, legt in seinen „Logischen ιοί N ¡ e t z s c h e s Philosophie hat Solov'ev scharf abgelehnt. Vgl. „Die Idee des Übermenschen" (1899), R G I X , 2 6 5 - 2 7 4 . 102 F.Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt aus, hrsg. O.Kraus, l . B d . , S.118ff., 128. 1 0 3 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, S. 1 - 4 8 , hier S. 11. 1 0 4 A.a.O. S. 4.
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U n t e r s u c h u n g e n " im J a h r 1900 dar, daß äußere und innere Erfahrung „von ganz gleichem erkenntnistheoretischen C h a r a k t e r " 1 0 5 sind. Beides sind intentionale psychische A k t e des Bewußtseins. Beide zielen auf einen „ G e g e n s t a n d " , ohne daß dieser selbst im Bewußtsein gegeben ist. D e r Gegenstand der Erfahrung ist in jedem Fall der evidenten Intention gegenüber transzendent. N u n gibt es allerdings - und darin stimmen B r e n t a n o und Husserl wieder überein Erkenntnis der Wahrheit eines Gegenstandes, nämlich dann, wenn die Intention ihr Ziel findet, was für den wahrnehmenden Menschen ein „Erfüllungserlebnis" bedeutet. Wahrheit, so sagt B r e n t a n o , ist nur auf empirischem Wege zu erfassen als „Erlebnis der E v i d e n z " , als unmittelbar einsichtiges Urteil. O d e r auf den Gegenstand der Intention b e z o g e n : ein Erkenntnisgegenstand erscheint dann als wahr, wenn er als derjenige erlebt wird, der die Intention wahr m a c h t 1 0 6 . - W i r werden bei Solov'ev ähnliche G e d a n k e n finden, vor allem die Ablehnung der völligen Teilung der E r f a h rung in äußere und innere Erfahrung und das unmittelbare Erfassen der Wahrheit. W i r finden bei ihm auch der Philosophie Brentanos und Husserls entsprechende begriffliche Unterscheidungen, z u m Beispiel: physische und psychische P h ä n o m e n e (fiziceskie i psichiceskie javlenija) 1 0 7 , innere beziehungsweise unmittelbare W a h r n e h mung ( v n u t r e n n o e 1 0 8 , n e p o s r e d s t v e n n o e 1 0 9 vosprijatie), Intention ( z a m y s e l ) 1 1 0 , W a h r n e h m u n g der Wahrheit (vosprijatie i s t i n y ) 1 1 1 . Solov'ev verbindet unlöslich die innere Wahrnehmung mit der Erkenntnis der Wahrheit. W i e w e i t seine Philosophie eine Parallele zu den Ansichten Brentanos oder eine Vorwegnahme der deutschen P h ä n o m e n o l o g i e i s t 1 1 2 , wird nach der Einzeluntersuchung der Schriften Solov'evs zu fragen sein.
4. Ganzheitliche Erfahrung und Erlebnis Erst nach einer allmählichen E n t w i c k l u n g wird die Differenzierung in äußere (sinnliche) und innere (nichtsinnliche) Erfahrung wieder in eine höhere Einheit aufgehoben, die beide Arten der Erfahrung umfaßt. Sie drückt sich in der R e d e von der inneren Erfahrung, die die äußere umfaßt, oder in der R e d e von der ganzheitlichen Erfahrung als Erlebnis aus. „ E r l e b n i s " wurde erst im 19. J a h r h u n d e r t im deutschen Sprachraum zu einem philosophischen Terminus. D e r Begriff hatte eine pietistische und eine romantisch-pantheistische (Novalis, F. Schlegel) Vorgeschichte und bezeichnete neben Ausdrücken wie „ A h n d u n g " , „innere S t i m m u n g " , „Innigkeit" und „ H i n e i n l e b e n " eine unbegriffliche, unmittelbare Erfahrung, in der die Spaltung
105 E.Husserl, Logische Untersuchungen, Bd.2/2, Beilage: Äußere und innere Wahrnehmung, 2. bis 4. Aufl., S. 222-244, hier S. 231. 106 Vgl. W.Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, S. 4 9 - 9 5 , hier S. 6 6 - 6 8 . 1 0 8 K O N II, 98. ιόν O D VIII, 211. 1 0 9 CB III, 12. Art. „Intuicija", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 182). 1 1 0 T F I X , 147. 1 1 1 IBTIV,253. 1 1 2 Unseres Wissens ist auf die parallele Entwicklung der Gedanken Brentanos und Solov'evs bisher nicht hingewiesen worden. Helmut Dahm hat die These vertreten, Solov'ev antizipiere die Aktphänomenologie Max Schelers. Vgl. H.Dahm, Vladimir Soloviev und Max Scheler; ders., Grundzüge russischen Denkens, S. 16-46.
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in eine Welt des Subjekts und eine Welt der O b j e k t e überwunden i s t 1 1 3 . Als philosophischer Begriff ist „Erlebnis" der umfassendste Ausdruck für „alles, was man selbst erlebt (empfunden, geschaut, gedacht, gewollt, getan oder gelassen) h a t " 1 1 4 , also für sinnliche wie für geistige und emotionale Erfahrung. Das Erlebnis ist keiner Mitteilung und Vermittlung in Begriffen fähig. In der P h ä n o m e n o l o g i e Husserls bezeichnet „intentionales E r l e b n i s " dann alle sinnlichen und nichtsinnlichen B e wußtseinsakte, die sich auf einen Bewußtseinsgegenstand beziehen, egal, o b dieser real existiert oder n i c h t 1 1 5 . Es geht der P h ä n o m e n o l o g i e nunmehr um eine objektive Erkenntnistheorie, wenn sie von „ E r l e b n i s " spricht. Es geht also u m Erlebnisse, die intersubjektiv zu vermitteln sind. U m die Jahrhundertwende, also zur Zeit des Todes Solov'evs, wird „ E r l e b e n " z u m philosophischen Modebegriff, besonders der L e b e n s philosophie Bergsons und Simmeis. D i e Phänomenologie Schelers schließlich gelangt z u m „Erleben von Wesensgehalten der W e l t " 1 1 6 , wobei die äußere, sinnliche E r f a h rung nicht abgetrennt, sondern eingeklammert und auf die geistige Erfahrung „reduziert" i s t 1 1 7 . E i n e m solchen Erleben k o m m t ebenso unmittelbare Evidenz zu wie der von anderen so genannten inneren Erfahrung oder Wahrnehmung. Solov'ev hat „ E r l e b e n " in seiner philosophischen Sprache zu keinem fest umrissenen Begriff gemacht. „ E r l e b e n " (perezivat') begegnet uns bei Solov'ev nur sehr s p o r a d i s c h 1 1 8 . Das in der deutschsprachigen Philosophie damit G e m e i n t e , nämlich alle subjektiven Bewußtseinsakte von der sinnlichen Wahrnehmung bis z u m intentionalen D e n k e n in ihrer Einheit als G r u n d und Maßstab jeder T h e o r i e des Erkennens der Wahrheit - dieses mit dem W o r t „ E r l e b e n " G e m e i n t e finden wir durchgängig in den Werken Solov'evs. D i e Einheit von innerer und äußerer Erfahrung, die sich für Solov'ev gerade in der religiösen Erfahrung manifestiert 1 1 9 , ist für ihn die von ihm selbst gezogene Q u i n t e s s e n z der gesamten Entwicklung der philosophischen E r kenntnistheorie und die Bedingung aller wirklichen E r k e n n t n i s 1 2 0 . N u r eine in diesem Sinne ganzheitliche Erfahrung kann nach Solov'ev zur Erkenntnis der W a h r heit f ü h r e n 1 2 1 ; nur eine solche ganzheitliche Erfahrung ist evident und leuchtet unmittelbar ein.
K. Cramer, Art. „Erleben, inneres", HWPh, Bd. 2, Sp. 704. Art. „Erleben" in: W. T. Krug, Enzyklopädisches Lexikon in bezug auf die neueste Literatur und Geschichte der Philosophie, Bd. I (zitiert bei K. Cramer, a.a.O., Sp. 705). 1 1 5 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, S. 63. 116 M.Scheler, Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 2, 1915, S. 227. 1 1 7 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, S. 101. In der „phänomenologischen Reduktion" wird bei Scheler nicht nur wie bei Husserl jedes Urteil über die Existenz des Bewußtseinsgegenstandes ausgeklammert, sondern auch alle Empfindungs- und Willenselemente des Bewußtseins. So ergeben sich als Gegenstände des Bewußtseins „phänomenologische" oder „reine" Tatsachen, die man in ihrem „Wesen schauen" kann. 1 1 8 Z.B. K O N II, 268. 1 1 9 S.u. S.208. 1 2 0 Vgl. K Z F I , 73.128; KON II, 326. 1 2 1 Vgl. K O N II, 288. 294; TF IX, 153, Anm. 20 und S. 157. 165f. 113
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Β. Mystische Erfahrung in der von Solov'ev rezipierten patristischen Theologie 1. Mystische Erfahrung und Theologie Erfahrung als besonderes sinnliches Erkenntnisvermögen neben dem rein verstandesmäßigen Denken wurde erst durch die englischen Empiristen und durch Kant in der Philosophie als eigenständige Erkenntnisquelle des Menschen geschätzt. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „Erfahrung" durch Schelling, Schopenhauer und andere auch auf übersinnliches Erkennen angewandt und so erst zu einem Schlüsselbegriff der philosophischen Erkenntnislehre und Metaphysik. Entsprechend wurde in der abendländischen Theologie, aber auch in der von Solov'ev so genannten „Schultheologie" der orthodoxen Kirche, religiöse Erfahrung durch die Jahrhunderte der Neuzeit hindurch mehr oder weniger der Praxis der Frömmigkeit überlassen und erst im 19. Jahrhundert, besonders in der evangelischen Theologie, zu einem zentralen Theologumenon der Erkenntnislehre. Anders verhält es sich in der Theologie der griechischen Kirchenväter und ihrer direkten Nachfolger in der orthodoxen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zwar werden die Worte „Erfahrung" (πείρα) und „Wahrnehmung" (αισθησις) für das Geschehen der allgemeinen religiösen Erfahrung und der mystischen Erfahrung Gottes und seiner Gnade im besonderen selten in theoretischen Traktaten über Gotteserkenntnis gebraucht. Sie treten stattdessen häufig in Texten über das geistliche Leben auf, etwa in den Geistlichen Homilien des Pseudo-Makarius und der von seinen Homilien geprägten asketischen Theologen, wie Diadochus von Photike 1 2 2 . Zeugen dafür sind ebenfalls die Schriften der Philokalia, der von Nikodemus Hagiorites im 18. Jahrhundert herausgegebenen Chrestomathie der Schriften griechischsprachiger Mystiker von Antonius über Pseudo-Makarius, Diadochus von Photike, Isaak von Ninive und Symeon dem Neuen Theologen bis zu Nikephoros und Gregorios Palamas, den athonitischen Mönchen des 14. Jahrhunderts. So faßt der Athosmönch Nikephoros die Lehre aller Väter vor ihm von der mystischen Gotteserkenntnis im Gebet mit den Worten πείρα und αϊσθησις als der wahren γνώσις (Erkenntnis) Gottes zusammen 1 2 3 . - Solov'ev hat alle diese der mystischen Erfahrung Gottes im Gebet gewidmeten Texte der Philokalia mit Sicherheit gut gekannt, nicht nur durch sein Studium an der Moskauer Geistlichen Akademie, sondern auch, weil die Philokalia in ihrer kirchenslawischen (und ab 1877 auch in russischer) Ubersetzung in Rußland als Dobrotoljubie verbreitet und auch von Laien geschätzt war 1 2 4 . 122 123 124
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Vgl. Th. Spidlik, La spiritualité, S. 24 f. Nikephoros, Λόγος περί νήψεως και φυλακής καρδίας, Φι,λοκαλία Bd. 4, S. 18. Vgl. F. Heiler, Die Ostkirchen, S. 291 f.
Aber von diesem speziellen Schrifttum mystisch-mönchischer Frömmigkeit abgesehen finden sich bei fast allen griechischen Kirchenvätern auch Schriften dogmatischen Inhalts, die sich mit der mystischen Erkenntnis Gottes beschäftigen und damit auch mit der mystischen Erfahrung. Es geht um die unmittelbare Erkenntnis Gottes durch den einzelnen auf der Grundlage der Erfahrung - also genau um das, worum es Solov'ev geht, wenn er von mystischer Erfahrung redet. N u r sprechen die Kirchenväter seltener von „Erfahrung" (πείρα) Gottes. Sie gebrauchen häufiger die Begriffe „Schau Gottes" (θεωρία), „Vergöttlichung" (θέωσις) und sogar den Begriff „Theologie" (θεολογία), um die mystische Erfahrung Gottes und die mystische Vereinigung des Menschen mit ihm auszudrücken. Ein grundlegender Unterschied besteht im Verhältnis von dogmatischer Theologie und mystischer Erfahrung in der Theologie der griechischen Kirchenväter einerseits und in der abendländischen Theologie andererseits. In der Vätertheologie sind Theologie und mystische Erfahrung untrennbar verbunden; im Abendland dagegen wurden spätestens seit der Scholastik Theologie und Frömmigkeit erkenntnistheoretisch und methodisch getrennt. Solov'evs Betonung der mystischen Erfahrung in seiner theosophischen Erkenntnistheorie erklärt sich theologisch nur aus der engen Verbindung von Theologie und persönlicher Erfahrung in der ostkirchlichen patristischen Theologie, die er übernommen hat. Nach Vladimir Lossky, einem Vertreter des patristischen Renouveau in der orthodoxen Theologie des 20. Jahrhunderts, „hat die östliche Tradition niemals deutlich zwischen Mystik und Theologie unterschieden, zwischen persönlicher Erfahrung der göttlichen Geheimnisse und dem von der Kirche bestätigten Dogma". Denn „die mystische Erfahrung ist die persönliche Übernahme und Wertschätzung des Inhalts des gemeinsamen Glaubens, die Theologie ist der Ausdruck dessen, was von jedem einzelnen erfahren werden kann, zum Nutzen aller... So gibt es also keine christliche Mystik ohne Theologie, aber vor allem gibt es keine Theologie ohne Mystik... Die Mystik wird also hier (sc. in der Ostkirche) als Vollendung und Gipfel aller Theologie, als Theologie par excellence, betrachtet." 125 - Solov'evs Ansicht über die Rolle der freien, lebendigen Theologie deckt sich völlig mit dem eben Gesagten. Er belegt seinen Standpunkt, daß theologische Lehre und persönliche mystische Erfahrung in der wahren Theologie immer zusammengehören, mit dem Hinweis auf die frühen Kirchenväter von Justin dem Märtyrer bis zu Clemens von Alexandrien und Orígenes, die jeweils nur das, was sie persönlich von Christus und dem Heiligen Geist als Einzeltatsache (castnyj fakt) erfahren hatten, in die vernünftige Form einer allgemeinen Idee (vseobscaja ideja) oder theologischen Lehre brachten 126 . Als Vertreter mystischer Theologie haben die griechischen Kirchenväter Solov'ev geprägt und beeinflußt. E r nennt selbst namentlich einige von ihnen als entscheidende rechtgläubige Vertreter der christlichen mystischen Theologie: Orígenes, Pseudo-Makarius den Ägypter, Pseudo-Dionysius Areopagita, Maximus Confessor, Isaak von Ninive, Gregorios Palamas und die 125 126
Vgl. V. Lossky, Théologie mystique, S. 6 f. ÒB III, 81 f.
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Schriftsteller der Philokalia 127 . Wir brauchen dieser Namensliste nur die kappadozischen Väter, besonders Gregor von Nyssa, sowie Evagrius Ponticus und Symeon den Neuen Theologen hinzuzufügen, die Solov'ev alle an anderer Stelle in seinen Schriften erwähnt und ebenso gekannt hat wie die Vorgenannten, um alle bedeutenden Vertreter der kirchenväterlichen Theologie der mystischen Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis beisammen zu haben, aus deren Schriften ein systematisches Bild von der mystischen Gotteserfahrung entsteht. Kein Zweifel: Solov'ev hat die Theologie dieser Kirchenväter studiert und sich angeeignet. Er steht damit wie Kireevskij, Chomjakov, Feofan Zatvornik und andere russische orthodoxe Theologen des 19. Jahrhunderts besonders aus dem Mönchtum gegen die russische Schultheologie, die die mystische Theologie der griechischen Väter schon lange nicht mehr lehrte. Die „Pseudomorphose des religiösen Bewußtseins und des orthodoxen Denkens", wie G.Florovskij 60Jahre später das Wesen der russischen Schultheologie (skol'noe bogoslovie, theologia scholastica) in ihrem Aufgeben der patristischen mystischen Erkenntnistheorie zugunsten rein spekulativer, abstrakt dogmatischer Gotteserkenntnis nannte 128 , - diese Pseudomorphose der orthodoxen Erkenntnislehre lehnte Solov'ev schon im 19. Jahrhundert entschieden ab, und zwar eben auf der Grundlage der Lehre der griechischen Kirchenväter. Daß er die genannten Kirchenväter in seinen Schriften nur ganz selten erwähnt und sie nie zitiert - noch weniger als die Philosophen, deren Einsichten er übernimmt oder ablehnt - , spricht nicht gegen Solov'evs inhaltliche Nähe zur patristischen mystischen Theologie. Es spricht nicht einmal gegen den literarischen Einfluß der genannten Kirchenväter auf Solov'ev. Zu erklären ist die Tatsache, daß Solov'ev seine theologischen Quellen nie angibt, auf doppelte Weise. Erstens wendet sich Solov'ev nicht an Theologen und Priester, sondern an alle frei denkenden Menschen, und er will dabei freie Theosophie treiben und nicht Theologie. Er will eine Synthese aller wahren Theologie erreichen, daß heißt eine Synthese, die nicht konfessionell an die Theologie der orthodoxen theologischen Schulen oder der katholischen Kirche oder an protestantische Theologie gebunden ist. Schon deswegen verbietet sich für ihn das Zitieren der Autorität bestimmter Theologen. Zweitens ist Solov'ev der Überzeugung, daß seine persönliche mystische Erfahrung und die mystische Erfahrung, von der er in seinen Schriften allgemein redet, die gleiche ist wie die mystische Gotteserfahrung der Kirchenväter. Und da die mystische Erfahrung die gleiche ist, sind literarische Belege und Verweise für Solov'ev überflüssig. Dieses methodische Phänomen findet sich schon bei Serafim von Sarov (1759-1833), der die Theologie 1 2 7 Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 244f. ( = DG VI, 345f.). Vgl. meine Untersuchung über die Bezüge Solov'evs zu den Kirchenvätern in diesem Punkt: M. George, Das Erbe der mystischen Theologie, passim. 1 2 8 G. Florovskij, Puti, S. 56.
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der Väter wohl kannte, aber nicht erwähnte, wenn er vom „Erwerben des Heiligen Geistes" sprach 1 2 9 . Literarische Abhängigkeiten Solov'evs von den Kirchenvätern im einzelnen nachweisen zu wollen, ginge also am Zweck und Wesen seiner Schriften vorbei. Es wäre fruchtlos, da Solov'ev nur parallel zu den Kirchenvätern argumentiert, das heißt wie sie, aber von seiner eigenen Erfahrung aus und mit den philosophischen Begriffen seiner Zeit. Den „vergessenen Weg der Erfahrungserkenntnis Gottes" (opytnoe bogopoznanie) 1 3 0 wollte Solov'ev wie Feofan Zatvornik (1815-1894) und Ioann von Kronstadt (1829-1908) nicht auf historischem Weg erneuern, sondern durch eine Rückkehr zum Geist und zur mystischen Erfahrung der Väter selbst. Dies drückt Solov'ev in einer zeitgemäßen sprachlichen Form aus, die nicht die der patristischen Theologie ist und in der Erkenntnistheorie überwiegend philosophisch geprägt ist. Solov'ev spricht von allgemeiner religiöser Erfahrung als sinnlicher und übersinnlicher, religiös interpretierter Erfahrung; er spricht von der Gotteserfahrung als Erfahrung seiner Wirkungen oder als Erfahrung des Heiligen Geistes; und er spricht von der mystischen Erfahrung als der unmittelbaren Erfahrung der Einheit mit Gott. Alle diese Arten der religiösen Erfahrung finden wir auch bei den Kirchenvätern. Allgemeine religiöse Erfahrung als unmittelbares Gefühl, das den Menschen bewegt, ist bei den Vätern ein Zeichen geistlicher Gesundheit im Gegensatz zur Gefühllosigkeit des H e r zens (σκληροκαρδία). Diese allgemeine religiöse Erfahrung reicht aber bei den Vätern wie bei Solov'ev nicht aus, um echte religiöse Erfahrung von dämonischer Erfahrung zu unterscheiden 1 3 1 . Die mittelbare Erfahrung G o t tes in den Wirkungen des Heiligen Geistes ist durch Paulus' Beschreibung der Charismen (1 Kor 12,28-14,19) für alle Kirchenväter ein festes Theologurnenon, das sich vielgestaltig von W u n d e m in der Vollmacht des Heiligen Geistes bis zum Martyrium erstreckt 1 3 2 . Die mystische Erfahrung schließlich finden wir bei den von Solov'ev erwähnten Kirchenvätern in vielfältigen Formen und verschiedenartigen Beschreibungen. Sie ist immer die unmittelbare Wahrnehmung des Unendlichen im Endlichen 1 3 3 , sei es als inneres Gefühl der unmittelbaren Gegenwart Gottes im Menschen 1 3 4 , sei es als „inneres Uberwältigtwerden durch eine schlechterdings übertatsächliche Macht" 1 3 5 , als übersinnliche Ekstase des Menschen. In jedem Fall ist die
129 Vgl. a.a.O. S. 392: Florovskij begnügt sich deswegen bei Serafim von Sarov mit der Feststellung, seine E r f a h r u n g sei die gleiche wie die Symeons des N e u e n Theologen, o b w o h l sich eine literarische Beziehung zwischen Serafim und Symeon nicht herstellen läßt. 130 Eine Formulierung Ioanns von Kronstadt, ohne nähere Angabe zitiert bei G. Florovskij, Putì, S.401. 131 Vgl. Th. Sßidltk, La spiritualité, S. 76; T R Χ, 198. 211. 132 Vgl. Th. Spidlík, a.a.O. S. 7 7 - 8 1 . 133 H. Pinard, Art. „expérience religieuse", D T h C , Bd. V, Sp. 1817. 134 A. Léonard, Art. „expérience spirituelle", DS. Bd. IV, Sp. 2005. 2009. 135 K. Beyschlag, Was heißt mystische Erfahrung?, S. 113.
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m y s t i s c h e E r f a h r u n g bei d e n K i r c h e n v ä t e r n - u n d e b e n s o bei S o l o v ' e v - eine E r f a h r u n g , die ü b e r die v o n K a n t g e s e t z t e n G r e n z e n d e r E r f a h r u n g , ü b e r u n s e r m e n s c h l i c h e s E r k e n n t n i s v e r m ö g e n u n d u n s e r e m e n s c h l i c h e N a t u r in R a u m u n d Z e i t , h i n a u s g e h t 1 3 6 . A l s G o t t e s e r f a h r u n g ist sie n u r i m G l a u b e n möglich137. W i r w e r d e n u n s i m f o l g e n d e n a u f die m y s t i s c h e E r f a h r u n g d e r E i n h e i t m i t G o t t u n d i h r e V o r s t u f e n b e s c h r ä n k e n u n d einige P a r a l l e l e n z w i s c h e n d e r T h e o l o g i e der K i r c h e n v ä t e r u n d Solov'evs eigenen Aussagen aufzeigen. Z u v o r weisen w i r auf z w e i G r u n d r i c h t u n g e n der Spiritualität der griechischen K i r c h e n v ä t e r h i n , die w i r bei S o l o v ' e v w i e d e r f i n d e n .
2. Zwei A rten der
Spiritualität
D i e mystische Vereinigung mit G o t t wird in der T h e o l o g i e der griechischen K i r chenväter auf zwei Arten angestrebt: durch eine Spiritualität des Intellekts (νους) und durch eine Spiritualität des H e r z e n s ( κ α ρ δ ί α ) 1 3 8 . Sie schließen einander nicht aus, sondern verhalten sich so zueinander, daß die Spiritualität des H e r z e n s die des Intellekts vollendet und schließlich zur mystischen Einigung von G o t t und M e n s c h führt.
2 . 1 Die Spiritualität
des
Intellekts
D i e Spiritualität des Intellekts bei den Kirchenvätern basiert auf der Schau oder Kontemplation (θεωρία) der göttlichen Ideen durch den Intellekt (νοϋς) des M e n schen bei Piaton und den N e u p l a t o n i k e r n . D a s O b j e k t dieser geistigen Anschauung bei den griechischen Kirchenvätern ist aber ein anderes als bei den heidnischen P h i l o s o p h e n : die Eigenschaften und Wirkungen G o t t e s . Solche intellektuelle A n schauung G o t t e s äußert sich in der Kontemplation der Trinität in immer neuen intellektuellen K o n z e p t e n und n o c h charakteristischer in einer L i c h t m y s t i k , in Visionen des göttlichen L i c h t s 1 3 9 . Vertreter dieser intellektuellen Spiritualität sind b e s o n ders die frühen alexandrinischen Kirchenväter Clemens von Alexandrien und O r í g e nes, teilweise P s e u d o - D i o n y s i u s Areopagita und sein Ausleger Maximus C o n f e s s o r . G r e g o r von N y s s a hat in seinem „Leben des M o s e s " die M y s t i k der Erleuchtung, des unmittelbaren Wissens in der intellektuellen Anschauung, nur als Vorstufe der Vereinigung mit G o t t im D u n k e l des Nichtwissens des ν ο ϋ ς b e z e i c h n e t 1 4 0 . D e m entspricht die Unterscheidung zwischen apophatischer (negativer) und kataphatischer (positiver) T h e o l o g i e , die schon auf Basilius den G r o ß e n zurückgehende, von Pseud o - D i o n y s i u s und später von Palamas ausgeführte Unterscheidung zwischen dem Vgl. V. Lossky, Théologie mystique, S. 228. Vgl. A. Léonard, Art. „expérience spirituelle", DS, Bd. IV, Sp. 2010. 1 3 8 Zum folgenden insgesamt vgl. Th. Spidlík, La spiritualité, S. 2 3 - 2 5 . 1 3 9 Vgl. Th.Spidlík, a.a .O., S.23f.; L.Reypens, Art. „Dieu (connaissance mystique)", DS, Bd. III, Sp. 885. 888f. 140 Gregor von Nyssa, De vita Moysis, PG 44, 376C-377A. 136 137
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unerkennbaren Wesen Gottes und seinen durch den νους erkannten Wirkungen (Energien) und Eigenschaften 141 . Die Spiritualität des Intellekts bildet also zumindest seit dem 4. Jahrhundert bei den Vätern nur eine Vorstufe der eigentlichen mystischen Erfahrung Gottes selbst, eine Vorstufe, die auf der Trennung von Gott und Welt beruht. Damit können wir bei Solov'ev die Rolle vergleichen, die bei ihm die intellektuelle Anschauung (umstvennoe sozercanie) im Bewußtsein spielt. Sie ist bei Solov'ev unmittelbares, mystisches Wissen von Gott, aber ins Bewußtsein des Intellekts (um) erhoben und damit schon keine unmittelbare „überbewußte" Einheit des Menschen mit Gott mehr. Gegenüber der ganzheitlichen mystischen Erfahrung, die alle Erkenntnisvermögen des Menschen umfaßt, bleibt die intellektuelle Anschauung ein rein intellektuelles Vermögen. Wenn wir Solov'evs Nähe zu den Kirchenvätern zu Recht annehmen, ist auch klar, warum er den Begriff der intellektuellen Anschauung, von Schelling übernommen, in den Frühschriften häufig gebraucht, später aber überhaupt nicht mehr: Er gehört der Vorstufe der intellektuellen mystischen Philosophie an, vergleichbar der intellektuellen Spiritualität der Alexandriner.
2.2. Die Spiritualität
des
Herzens
Die Spiritualität des Herzens der Kirchenväter schließt die Gefühle und den Willen neben dem Denken des Menschen ein. Sie findet sich ausgeprägt im 4. und S.Jahrhundert bei Pseudo-Makarius und Diadochus von Photike mit ihrer Betonung der Erfahrung (πείρα) und Wahrnehmung (αΐσθησις) Gottes im Herzen des Menschen. Sie wurde schon von Evagrius Ponticus im 4. Jahrhundert der Vorbereitung der höchsten Stufe der Mystik, der Vereinigung mit Gott, zugeordnet. Sie entspricht der kataphatischen oder positiven Theologie der Kirchenväter über die positiven Eigenschaften Gottes und beruht auf der mystischen Erfahrung Gottes als des Urgrunds alles Geschaffenen 142 . Wenn wir die Rolle des Herzens in der Spiritualität der Kirchenväter und bei Solov'ev vergleichen, fallen die inhaltlichen Parallelen trotz der formalen Unterschiede auf. Die patristische Rede vom Herzen als Ort der mystischen Erfahrung ist formal auf die Bibel bezogen, oft mit direkten Zitaten. Solov'ev dagegen zitiert äußerst selten Bibelstellen, um seine Rede von der mystischen Erfahrung biblisch zu belegen. Aber die biblische Gesamtsicht vom Herzen als dem „Träger aller körperlichen Kräfte und dem Zentrum des seelischen und geistigen Lebens des Menschen" übernimmt Solov'ev. Sein Lehrer P. D. Jurkevic, der früher an der Kiewer Geistlichen Akademie Philosophie unterrichtet hatte 143 , vermittelte ihm von den Kirchenvätern inspirierte Gedanken über „das Herz und seine Bedeutung für das geistige Leben der Menschen" 144 . Inhaltlich ergeben sich Parallelen zwischen den griechischen Kirchenvätern und Solov'ev in ihrer Beurteilung des Herzens als Ort der mystischen Erfahrung und 141
Vgl. S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 150; s.u. S. 1 7 4 . 1 7 8 - 1 8 0 . Vgl. Th.Spidlik, La spiritualité, S . 2 4 f . 323; s.u. S. 174. 143 F T J u I , 173. 144 So lautet der Titel des ersten H a u p t w e r k s Jurkevic', über das Solov'ev in seinem Aufsatz „Uber die philosophischen Arbeiten P. D . Jurkevic'" z u s t i m m e n d referiert. 142
107
Erkenntnis Gottes. Das Herz ist für die Väter der Ort der Liebe zu Gott im doppelten Sinn: Ort des menschlichen ερως, der unersättlichen Begierde, vollkommen zu werden und eins mit Gott zu sein 145 ; und Ort der sich schenkenden göttlichen άγάπη, die als Geschenk der Gnade Gottes im Herzen des Menschen wohnt und bewirkt, daß der Mensch Gott erfährt und erkennt - denn Gott selbst ist ja die άγάπη und wird nur durch diejenigen erkannt, die mit ihm in dieser Liebe verbunden sind und so ihm gleich sind (vgl. 1 Joh 4,7-18) 1 4 6 . Entsprechend ist für Solov'ev das Herz der Ort der Liebe (ljubov') des Menschen zu Gott und zu den anderen Menschen. Er sieht die Liebe im Herzen sowohl als psychisches Gefühl des Menschen (cuvstvo ljubvi), dem ερως vergleichbar, als auch als Gabe Gottes und Gegenwart Gottes im Menschen selbst (bozestvennoe nacalo ν celoveke), der άγάπη vergleichbar. Auch für Solov'ev gilt: N u r in der Liebe kann der Mensch Gott erkennen, der selbst die Liebe ist 147 . - Weiter ist das Herz bei den Vätern ganz allgemein der Ort der Gefühle im Zusammenhang mit der Gotteserkenntnis: der Furcht und der Freude, der Leichtigkeit und des Trosts 148 . Entsprechend ist für Solov'ev das Herz der Sitz der psychischen Gefühle des Menschen, die er im Zusammenhang mit der mystischen Erfahrung gegenüber Gott empfindet. Solov'ev spricht vom „Herzensgefühl" (serdecnoe cuvstvo) als der geheimen Tiefe des Menschen, in der Gott herrscht 149 . Dieses Herzensgefühl äußert sich im Bewußtsein des Menschen in den drei Stufen des religiösen Gefühls (religioznoe cuvstvo): der Furcht, der Andacht und der Liebe gegenüber Gott in ihren konkreten Variationen 150 . Das Herzensgefühl ist für Solov'ev das aufrichtige, gläubige Gefühl gegenüber Gott im Gegensatz zum allgemeinen religiösen Gefühl, das nicht unbedingt Gott selbst gelten muß, sondern auch pseudoreligiös oder dämonisch sein kann 1 5 1 . - Für die Väter ist das Herz aber auch der Ort des Denkens. Es wird mit dem νοϋς in dessen Erkenntnisfunktion weitgehend gleichgesetzt und ist der O r t der intuitiven Erkenntnis Gottes. Das von Gott gereinigte Herz (Ps 51, 12) wird von den Vätern das διανοητικόν, die Denk- und Verstandeskraft des Menschen, genannt, die Gott erkennt 1 5 2 . Die intellektuelle Spiritualität ist so in die Herzensspiritualität einbezogen. Solov'ev sieht entsprechend mit seinem Lehrer Jurkevic im Herzen, und nicht im Kopf, den Ort des Vernunftwissens (znanie razuma), soweit dieses sich nicht auf das „abstrakte Wissen" äußerer Objekte in Raum und Zeit beschränkt. In der Tiefe des Menschen, im Herzen, erfaßt die Vernunft ihr letztes Objekt, die Wirklichkeit und Wahrheit selbst. Nur hier wird sie auch zur bewegenden Kraft des geistlichen Lebens des Menschen 153 . - Das Herz ist schließlich für die Väter der Ort der Erfahrung der Gegenwart und der Früchte des Heiligen Geistes, von der Wiedergeburt im Heiligen Geist in der Taufe über die verschiedenen Charismen bis zur Kraft zum Martyrium, das seit Irenäus als Zeugnis vollendeter Liebe zu Gott und deswegen der Gegenwart des Heiligen Geistes selbst
145 Vgl. z.B. Basilius d. Gr., Gr. Regel II, 1, PG 31, 909C. Basilius spricht von der „Begierde der Seele" (πόθος ψυχής). 146 Ders., In Psalmos 29, 3, P G 29,309C. Zum Herzen als dem Ort der Liebe zu Gott bei den Vätern vgl. Th. Spidlik, La spiritualité, S. 286-292. 321. 147 FTJu 1,185; K O N II, 160; O O Ì III, 366. 148 Vgl. Th. Spidlik, La spiritualité, S. 24. 76f. 149 151 D 0 2 III, 318. "o DOZIII,337f.;IBTIV,327. TRX,219. 152 Z.B. Gregor von Nazianz, Oratio 40, 39, P G 36, 416AB; vgl. Th.Spidlik, La spiritualité, S. 186; s.u. S. 274f. 153 FTJu I, 181.
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im Märtyrer galt 1 5 4 . Auch in diesem Punkt finden sich parallele Gedanken bei Solov'ev. E r spricht von den ersten Christen und den frühen Kirchenvätern als Beispielen, an denen sich zeigt, daß Christen den Heiligen Geist in ihren Herzen „in dem lebendigen, von ihnen unmittelbar wahrnehmbaren Prinzip ihrer geistlichen Wiedergeburt" erkennen 1 5 5 . Auch das Martyrium als Zeichen der Gegenwart des Heiligen Geistes im Herzen der Menschen führt Solov'ev an, und zwar in der Gestalt seiner Vision der letzten Christen in seiner „Erzählung vom Antichrist". Hier sind es der italienische Papst Petrus II. und der russische Starez Ioann, die als Einfältige oder Kinder im Herzen (mladency po serdcu) gegenüber dem Bösen standhaft bleiben, das Martyrium erleiden und danach auferstehen und so die Gegenwart und Kraft Gottes in ihnen „gründlich erweisen" 1 5 6 . Solov'ev entfaltet selbst inhaltlich gewissermaßen eine „Theosophie des Herzens" im Geist der Kirchenväter, wenn auch der Begriff „ H e r z " im Vergleich zu den von uns eingehender analysierten Hauptbegriffen seiner Erkenntnislehre von ihm seltener gebraucht wird. Die philosophische Bewertung des Herzens als des Organs des unmittelbaren Wissens und der inneren Erfahrung des Menschen übernahm er ebenso von J u r k e v i c 1 5 7 wie dessen Urteil, daß das Herz als O r t des Glaubens mit dem Kopf als O r t des diskursiven Vernunftwissens in harmonischer Beziehung stehe 1 5 8 . Aus den Schriften Solov'evs insgesamt kann man folgern, daß er im Herzen wie die biblischen Autoren und die Kirchenväter das Zentrum aller Erkenntnisfähigkeiten des Menschen und den Träger aller seiner physischen, psychischen und geistigen Kräfte sieht 1 5 9 . Das Herz ist für ihn der O r t des Fühlens oder der unmittelbaren Erfahrung 1 6 0 ; es ist für ihn der O r t des Denkens oder des unmittelbaren Wissens 1 6 1 ; und es ist für ihn der O r t des Wollens und des Glaubens, an dem sich menschliches Streben nach G o t t und göttliche Gnade treffen und vereinen 1 6 2 . Das H e r z ist die eine anthropologische Grundlage aller unmittelbaren Erfahrung und Erkenntnis der Wahrheit und Wirklichkeit - eine Grundlage, die den Irrtum des Positivismus ausschließt, der keine übernatürliche Erfahrung anerkennt, und ebenso den Irrtum des Mystizismus, der überhaupt keine vernünftige Erkenntnis zuläßt 1 6 3 .
3. Drei Stufen der mystischen Erfahrung und Erkenntnis Gottes Die Kirchenväter sehen die mystische Erfahrung und Erkenntnis Gottes als einen lebenslangen Prozeß an, der den ganzen Menschen erfaßt und auf die Vereinigung mit Gott ausrichtet. E r verlangt ein asketisches, in der Regel sogar ein mönchisches Leben. Auch Solov'ev bettet seine mystische Erkenntnislehre in einen lebenslangen 154 Irenaus von Lyon, Adv. haereses V, 9, 2, P G 7, 1 1 4 4 C - 1 1 4 5 A ; v g l . ] . K i r c h m e y e r , Art. „Extase", DS, Bd. IV, Sp. 2 0 8 8 ; vgl. Th.Spidlik, L a spiritualité, S. 77, 79ff. 156 T R X , C B III, 81 f. 197.213f.217f. F T J u 1 , 1 7 8 f . ; vgl. P.D. Jurkevic, Serdce, S. 83f. und S. 8 8 - 9 0 . 158 P.D. Jurkevic, Serdce, S. 118. 1 5 9 Ebenso urteilen: E. Trubeckoj, Solov'ev i ego delo, S. 8 4 ; S . J a r m u s , P . D . Jurkevyc ta jogo filosofs'ka spadscyne, S. 96. 101. 155
157
160
D O ¿ III, 318; O D V i l i , 50. 95.
161
V P Χ , 20.
162
TS I, 2 3 9 ; D O Ì III, 325.
163
F T J u I, 183.
109
Prozeß der Verwirklichung der Einheit von Gott und Mensch ein. Es ist ein „gottmenschlicher (bogoceloveceskij) und gottmaterieller (bogomaterial'nyj) Prozeß" der Vervollkommnung des einzelnen Menschen, seiner Vergeistigung und Vergöttlichung 164 , der bei Solov'ev im Zusammenhang mit dem gesamten historischen und kosmogonischen Prozeß der Welt steht, mit dem Ziel der völligen Einheit von Gott und Schöpfung 165 . Die Phasen des gottmenschlichen Prozesses der Vereinigung des einzelnen mit Gott bei Solov'ev entsprechen im Gesamtablauf und in vielen Einzelheiten der bei den griechischen Kirchenvätern üblichen Einteilung der geistlichen Bewegung des Menschen zu Gott in drei Stufen. Repräsentativ für die byzantinische Spiritualität des Hesychasmus, die unter anderem über die Starzen des russischen Optyna-Klosters auf Solov'ev wirkte, wurde die Einteilung des geistlichen Lebens in drei Stufen bei Evagrius Ponticus (346-399) und Gregor von Nyssa (ca. 335-394), auf die wir uns hier beschränken 166 . Evagrius benennt die drei Stufen des geistlichen Lebens mit in der byzantinischen Spiritualität klassisch gewordenen Ausdrücken: πρακτική μέθοδος (Handeln nach den Geboten Gottes), φυσική θεωρία (Betrachtung des Geschaffenen) und θεολογική γνώσις (Gotteserkenntnis) 167 . Gregor von Nyssa vergleicht den Weg des Menschen zur mystischen Einheit mit Gott mit dem Aufstieg Moses auf den Berg Sinai. Die drei Stufen dieses Aufstiegs nennt er analog zum Erleben Moses und gewissermaßen nach dem abnehmenden Grad der Bedeutung des diskursiven Denkens: φως (die Bewegung des Menschen aus dem Dunkel der Sünde zum Licht Gottes), νεφέλη (das Betrachten der Welt des Unsichtbaren oder Eigentlichen in einer Wolke, die alle äußeren Phänomene überschattet) und γνόφος (unmittelbare Gotteserkentnis im göttlichen Dunkel des Nichtswissens) 168 . Beide, Gregor und der von ihm beeinflußte Evagrius, meinen die gleichen Stufen der geistlichen Entwicklung des Menschen. Die erste Stufe der Praxis meint das Leben der Christen in der Erfüllung der Gebote, der Gerechtigkeit, der Entfernung (άναχώρησις) und Enthaltung vom Bösen, kurz: es geht um den Weg der Reinigung des Menschen von allen weltlichen Leidenschaften mit dem Ziel der Leidenschaftslosigkeit (άπάθεια) 1 6 9 . Die zweite Stufe meint die intuitive Betrachtung sowohl der sichtbaren geschaffenen Dinge (θεωρία των αισθητών) als auch der unsichtbaren, nur vom Verstand (νους) wahrzunehmenden geschaffenen Wirklichkeit, die zur Erleuchtung des menschlichen Geistes durch die
164
CB III, 37; O D VIII, 198.211. CB III, 144. 149; LS, FS, 63. 70; IR, FS, 86 ( = D G III, 39); R E U , FS, 259f. ( = D G III, 357); O D VIII, 200. 166 Zu den drei Stufen des geistlichen Lebens bei Evagrius und Gregor insgesamt vgl.: K. Beyschlag, Was ist mystische Erfahrung?, S. 120-124; L. Bouyer, La spiritualité du N o u v e a u Testament et des Pères, S. 4 2 2 - 4 4 2 und S. 4 5 6 - 4 7 2 ; Th.Spidlík, La spiritualité, S. 3 1 9 - 3 2 9 ; S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 1 7 4 - 2 1 2 . 167 Évagre le Pontique, Traité pratique 1.3., SC 171, S. 498. 500; vgl. die Einleitung zum „Logos praktikos" von A. Guillaumont, SC 170, S. 38 ff.; vgl. I.Hausherr, Le traité de l'Oraison d'Évagre le Pontique, R A M LXV (1934), S. 131; vgl. L. Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S. 461 f. 168 Gregor von Nyssa, In Cant. Cant, homilía XI, PG 44, 1000 C D ; ders., D e vita Moysis, PG 44, 3 7 6 C - 3 7 7 A ; vgl. L.Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S. 4 3 4 - 4 3 8 ; G.Moloney, The Breath of the Mystic, S. 7 4 - 8 1 ; S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 181 ff. 169 Évagre le Pontique, Traité pratique, Prol. 8, SC 171, S. 492; Gregor von Nyssa, In Cant. Cant, homilía XI, PG 44, 1000 C D ; vgl. S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 197. 165
110
übernatürliche Wirklichkeit führt 1 7 0 . Diese zweite Stufe geht in die dritte über, bei Gregor von der Wolke ins mystische Dunkel der begriffslosen unmittelbaren Gotteserkenntnis, bei Evagrius von der θεωρία δευτέρα των αισθητών in die θεωρία πρώτη τών νοητών oder πνευματικών, von der Betrachtung des Geschaffenen in die Betrachtung der ungeschaffenen, geistlichen und göttlichen Wirklichkeit 171 . Die dritte Stufe der eigentlichen θεογνωσία (Gotteserkenntnis) bei Gregor oder der θεολογία (Theologie) bei Evagrius ist der Gipfel aller sinnlichen und übersinnlichen Wahrnehmung und aller natürlichen und übernatürlichen Erkenntnis des Menschen 172 . Sie ist die Vereinigung des Menschen mit Gott selbst in der Tiefe des Menschen durch die Liebe. Gregor nennt sie deswegen Ekstase im wörtlichen Sinn: ein Herausgehen des Menschen aus seiner eigenen Natur 1 7 3 . Bei Solov'ev finden wir diese drei Stufen des geistlichen Lebens des Menschen wieder, wenn auch nicht in einem ausgeprägten dreistufigen Schema, so doch in einer stufenweisen Entwicklung der mystischen Erfahrung bis zu ihrem Ziel, der Einheit des Menschen mit Gott. In seiner Schrift „Die geistlichen Grundlagen des Lebens" geht er auf die elementaren religiösen Handlungen des Menschen ein, die ihn auf die mystische Erfahrung vorbereiten. Wir sehen sie als eine notwendige Vorstufe bei Solov'ev für das Erlangen des ganzheitlichen Wissens. Dieses ganzheitliche Wissen aus sinnlicher, innerer und mystischer Erfahrung, aus Denken und Glauben wiederum ist nur eine Ubergangsstufe zur Stufe des unmittelbaren mystischen Wissens. Das letzte Ziel ist die völlige innere Vereinigung von Gott und Mensch in der Erfahrung der Gegenwart Gottes und im verwirklichten Gottmenschentum. Diese endgültige Stufe der mystischen Erfahrung beschreibt Solov'ev in seinen „Vorlesungen über das Gottmenschentum" und späteren Schriften. Hier sei auf einige ins Detail gehende Parallelen zwischen den drei Stufen des geistlichen Lebens in der byzantinischhesychastischen Tradition und Solov'evs Vorstellungen hingewiesen.
3.1 Die Selbstverleugnung
des Menschen
Die erste Phase der Reinigung des Menschen ist für Solov'ev die Grundlage des geistlichen Lebens. Drei elementare religiöse Handlungen nennt Solov'ev hier: das Gebet als die freiwillige Unterordnung des Menschen unter Gottes Willen im Glauben 174 ; das Almosen und das Opfer als die Solidarität und Gerechtigkeit der Menschen untereinander 175 ; schließlich das Fasten und die Enthaltsamkeit als Herrschaft des guten Willens des Menschen und der Gnade Gottes über die egoistische und sinnliche Natur des Menschen zu ihrer Reinigung und Rettung 176 . In allen drei Handlungen drückt sich eine Grundhaltung des Menschen gegenüber Gott aus, die
170 Gregor von Nyssa, De vita Moysis, PG 44, 376C-377A; vgl. L.Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S. 428. 171 L.Bouyer, a.a.O. S.428. 461. 464ff. 172 Gregor von Nyssa, In Cant. Cant, homilía XI, PG 44, 1000 C D ; Evagre le Ponttque, Traité pratique 1, SC 171, S. 498. 173 Gregor von Nyssa, De virginitate, X, Opera hrsg. v. W. Jaeger, Bd. VIII, 290, 4;vgl. L. Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S. 435; vgl. Th. Spidlík, La spiritualité, S. 329. 174 175 D 0 2 III, 301. 3 1 7 - 3 1 9. A.a.O. S. 301. 341 f. 176 A.a.O. S. 301. 345. 347. 349.
Ill
der von Solov'ev hochgeschätzte Maximus Confessor die Ekstase der Liebe 177 oder meist das freiwillige Verlassen (εκχώρησις γνωμική) des eigenen Willens 178 nennt. Es geht um die passive Liebe des Menschen zu Gott, durch die er sich selbst vergißt 179 und durch die er bis zum Martyrium leidet, durch die er aber auch erst Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit üben kann. Solov'ev hat diese Liebe wiederholt als Selbstverleugnung im Sinne des Maximus definiert 180 und sie die Grundlage aller Handlungen des geistlichen Lebens vom Gebet bis zum Martyrium genannt. Er unterscheidet drei Stufen der sich selbst verleugnenden Liebe des Menschen zu Gott, nämlich Furcht, Andacht und zuletzt reine Liebe als die freie Verbindung des menschlichen mit dem göttlichen Willen 181 . Die freie Selbstverleugnung (samootricanie, samootverzenie) des menschlichen Willens im Denken und Handeln ist nach Solov'ev der einzige Weg zur Erlösung des Menschen vom Egoismus und zu seinem ewigen Heil (spasenie), und so auch zur wahren höheren Selbstbehauptung in der Einheit mit Gott 1 8 2 . Sie hat ihren Grund und ihr Vorbild in der Selbsterniedrigung oder Demut Christi (ταπείνωσις, smirenie) und in seiner Selbstentäußerung oder Selbstvernichtung bis zum Tod (κένωσις, Solov'ev übersetzt: unictozenie), die seine gottmenschliche Uberwindungstat (podvig) für die Menschen ist 183 . Demut ist nicht nur das Charakteristikum der ersten Stufe auf dem Weg zur mystischen Erfahrung bei Solov'ev. Man kann sagen, daß seine gesamte Theosophie und sein persönliches Leben durch die Kenosis und Tapeinosis nach dem Vorbild Christi geprägt sind 184 . Diese unerläßliche Stufe des geistlichen Lebens ist das Kennzeichen der orthodoxen Spiritualität überhaupt 1 8 5 . Sie bezieht sich auch - und das ist für unser Thema besonders wichtig - auf das Denken. Evagrius spricht von der Selbstentäußerung des Denkens als einer Reinigung des Intellekts (νους) des Menschen von allen Gedanken bis zu seiner völligen Nacktheit, weil die Konzepte des diskursiven Denkens noch der Welt der Vielheit angehören und damit noch der Welt der Dinge verbunden bleiben 186 . Die anfängliche Stufe der Reinigung des Menschen verlangt in der hesychastischen Tradition nach Evagrius und Gregor von Nyssa nicht nur die Entäußerung der sinnlichen Leidenschaften, sondern auch das völlige Abrükken von verstandesmäßigen Überlegungen und von der „Idolatrie der Begriffe" 187 . Solov'ev stellt sich mit seiner Lehre vom mystischen Wissen ganz in diese Tradition einer kenotischen Gnoseologie. Die Erkenntnis der Wahrheit und Gottes, so sagt er, ist „gegründet auf die Demut und Selbstentsagung unseres Verstandes" (smirenie i samootrecenie nasego urna)18®. Das Gegenteil davon, die „Sünde des Verstandes" (grech uma), ist sein Stolz (gordost'), sein Eigendünkel und seine Selbsterhöhung, die zu dem rationalistischen Irrtum führt, der Mensch könne mit seinem Denkvermögen Gott selbst erreichen. Christus hat diese Versuchung des Verstandes, seine zweite Versuchung durch den Teufel nach dem Bericht des Evangeliums (Mt 4, 5 - 7 ) , So-
177
,,ώς έραστός εκστασις" : Maximus Confessor, Ambigua, P G 91,1073 C. 179 A.a.O., 1076 Β. Ders., De caritate, I, 10, PG 90, 964 A. 180 181 F N C Z I , 349; K O N II, 310; CB III, 9. D O t III, 336-338. 182 183 CB III, 13.172; vgl. F N C Z 1,349; K O N II, 310. CB III, 167; IBTIV, 619. 184 So auch: Ν. Gorodetzky, The Humiliated Christ, S. 128f. 136f. 185 A.a.O. S. 127; vgl. Κ. Beyschlag, Was heißt mystische Erfahrung?, S. 126. 186 Evagrius Ponticus, Capita Practica ad Anatolium LXXI, PG 40, 1244 AB; vgl.].Kirchmeyer, Art. „Extase", DS, Bd. IV, Sp. 2100. 187 188 Gregor von Nyssa, De vita Moysis, PG 44, 3 77. D O Z III, 330. 178
112
lov'ev zufolge durch seine intellektuelle Demut bestanden 189 . Diese Gabe Christi für die Menschen ist nun auch Aufgabe für jeden, der Gott erfahren und erkennen will. Solov'ev nennt diese Reinigung des Denkens „intellektuelles Fasten (post umstvennyj) - ein Sichenthalten von einseitiger Tätigkeit des Verstandes, vom unfruchtbaren und endlosen Spiel der Begriffe und Vorstellungen" 190 . Solov'evs Polemik gegen die „abstrakten Prinzipien" in der Philosophie rührt nicht nur von seiner synthetischen Denkweise her, sondern auch von dieser antiintellektuellen patristischen Tradition der Spiritualität des Herzens her. Zu bemerken ist dabei aber auch, daß Solov'ev wie die griechischen Väter nicht die Erkenntnis überhaupt ablehnt, sondern nur dem begrifflichen Denken die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes nicht zubilligt. - Zur Demut des Denkens als Voraussetzung der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit gehört schließlich bei Solov'ev wie bei den Vätern auch der Akt der Selbstentsagung des einzelnen, der sich freiwillig der unabhängig von seinem Denken bestehenden ökumenischen Wahrheit der Kirche (vselenskaja istina) hingibt 191 . In der mystischen Vereinigung mit Gott werden zwar alle theologischen Konzepte und auch alle Dogmen der Kirche im Sinne der apophatischen Theologie als ungenügend und der göttlichen Wirklichkeit unangemessen aufgegeben. Aber auf den beiden Vorstufen des geistlichen Lebens, der Reinigung und der Betrachtung oder Erleuchtung, ist es nach Solov'ev zunächst der persönliche intellektuelle Stolz, den der einzelne als Versuchung überwinden muß.
3.2 Betrachtung
und unmittelbares
Wissen in der
Liebe
Die von den Vätern θεωρία genannte zweite Stufe auf dem Weg zur mystischen Vereinigung mit Gott läßt sich mit Solov'evs Lehre von der intellektuellen Anschauung und der Intuition vergleichen. Sie ist bei ihm eine Wirkung der Inspiration des Menschen durch Gott, ganz wie die Erleuchtung des menschlichen Geistes bei den Vätern. In seinen dem religiösen und geistlichen Leben gewidmeten Schriften macht Solov'ev deutlich, daß auch die Stufe des unmittelbaren, intuitiven Wissens geistlich durch die Liebe geprägt ist. War es aber in der ersten Phase des geistlichen Lebens die passive, sich selbst vergessende Liebe des Menschen zu Gott, so redet Solov'ev hier von der aktiven Liebe Gottes selbst, deren Gnadengeschenk die Inspiration des Menschen zum unmittelbaren mystischen Betrachten der Wirklichkeit und zum unmittelbaren Gefühl der Liebe des Menschen zu Gott ist. Die mystische Erkenntnis Gottes ist bei Solov'ev wie bei den Kirchenvätern ein Kreislauf der gottmenschlichen Liebe. Die Liebe ist für die Väter nicht nur die Reinigung bewirkende Vorbedingung für die Erkenntnis Gottes, sondern als das Geschenk der Gnade Gottes im Herzen des Menschen der Begleiter der Betrachtung. Ephraem der Syrer bezeichnet die Liebe und die Betrachtung deswegen als „untrennbare Flügel" 1 9 2 . Erst die Liebe Gottes im Herzen des Menschen bewirkt nach den Vätern, daß der Mensch Gott unmittelbar fühlt, erfährt und erkennt. Der Gedanken1 9 0 D O ¿ III, 348. CB III, 169.175; D O Z III, 32 7. 32 8 - 3 30. VSChP IV, 100. Von hier aus wird klar, warum Solov'ev dem Protestantismus bescheinigt, er sei der zweiten Versuchung des Teufels, der Selbstbehauptung des menschlichen Verstandes, erlegen (vgl. CB III, 175). 192 Ephraem Syrus, Hymnen De fide 20,12, hrsg. ν. E. Beck, CSCO 155, S. 59f. 189 191
113
gang Solov'evs ist der gleiche. G o t t ist Liebe. Liebe ist sein eigentlicher Inhalt, sein W e s e n 1 9 3 . Christus ist die unendliche persönliche Kraft der L i e b e G o t t e s , die das Wesen des M e n s c h e n durchdringt 1 9 4 . Wenn der einzelne M e n s c h in sich L i e b e zu G o t t als G e f ü h l (cuvstvo) empfindet, kann sie keine Pflicht sein, weil man Gefühle nicht fordern kann. Sie ist vielmehr ein W e r k der Gnade G o t t e s (delo blagodati) 1 9 5 , nämlich - sofern der M e n s c h dieser Liebe zustimmt - die innere A n n a h m e Christi und die geistliche Wiedergeburt des Menschen, der „fühlbare Q u e l l des ewigen L e b e n s " 1 9 6 . D i e göttliche L i e b e im Menschen bewirkt, daß der M e n s c h das, was er in W o r t e n und Bildern „ o b j e k t i v " von G o t t erkannt hat, n u n m e h r unmittelbar als Ereignis (sobytie) in seinem inneren L e b e n e r l e b t 1 9 7 . So wird der natürliche M e n s c h zum geistlichen Menschen (duchovnyj celovek) wiedergeboren, und darin besteht der Sinn des Lebens nach Solov'ev: in der freien Zustimmung des M e n s c h e n und in seiner inneren Vereinigung mit dem göttlichen Prinzip der L i e b e in i h m 1 9 8 .
3.3 Die mystische Vereinigung mit Gott Bei Solov'ev wie bei den genannten Vätern ist der Übergang von der Betrachtung zur eigentlichen mystischen Erfahrung der Vereinigung mit G o t t fließend. E s ist das unablässige G e b e t , das die hesychastischen M ö n c h e üben, in dem sie von der stillen Betrachtung der unsichtbaren D i n g e zur spürbar erlebten Vereinigung mit G o t t vordringen. G r e g o r spricht davon, daß G o t t in der Stille ( η σ υ χ ί α ) der Betrachtung zum Menschen k o m m t 1 9 9 , o h n e sich im D u n k e l zu zeigen, aber doch so, daß er dem H e r z e n oder der Seele des Menschen „ein gewisses Gefühl seiner G e g e n w a r t " ( α ι σ θ η σ ι ς τ ι ς τ η ς π α ρ ο υ σ ί α ς ) gibt, ohne klare Erkenntnis ( κ α τ α ν ό η σ ι ς ) 2 0 0 . Diese innerste Erfahrung der G e g e n w a r t G o t t e s im Menschen ist eine dunkle und stille Erfahrung G o t t e s , der in seinem Wesen unerkennbar ist und bleibt, aber dennoch spürbar ist - eine wahrhaft mystische E r f a h r u n g 2 0 1 . Wieder ist die L i e b e G o t t e s ( ά γ ά π η ) die Grundlage des mystischen Geschehens der Vereinigung. G r e g o r von N y s s a gebraucht in seiner Auslegung des Hohenlieds das alte Bild des Liebespfeils, der in das H e r z des M e n s c h e n eindringt. D e r B o g e n s c h ü t z e ist G o t t , die L i e b e ; der Pfeil ist Christus. D i e s e r Liebespfeil durchdringt das menschliche H e r z , und damit vereinigen sich G o t t Vater und Sohn im Heiligen Geist mit dem M e n s c h e n 2 0 2 . Solov'ev drückt sich in seinen Schriften, wenn er über die mystische Erfahrung der G e g e n w a r t G o t t e s spricht, zwar nicht so bildreich aus. Inhaltlich aber entsprechen seine Beschreibungen und Deutungen der mystischen Vereinigung von G o t t und M e n s c h ganz denen der H e s y c h a s t e n . Auch für Solov'ev ist die mystische Erfahrung
193 195 197
1 9 4 D O ¿ III, 365. CB III, 58; D O É III, 366. 1 9 6 CB III, 173. A.a.O. S. 341. Anlage zu den „Geistlichen Grundlagen des Lebens": Rede vom 13. März 1881, RG III,
419. D O È III, 365-372. Gregor von Nyssa, In Psalmorum inscriptiones VII, PG 44,456 C. 2 0 0 Ders., In Cant. Cant, homilía XI, PG 44,1001 Β. 2 0 1 Vgl. L.Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S. 437; L.Reypens, (connaissance mystique)", DS, Bd. III, Sp. 886. 202 Gregor von Nyssa, In Cant. Cant, homilía IV, PG 44, 852 Α - D . 198 199
114
Art. „Dieu
der Gegenwart Gottes eine spürbare übersinnliche Wahrnehmung der Einheit mit Gott. Auch für ihn ist die Vereinigung von Gott und Mensch die gegenseitige Bewegung der Liebe von Gott und Mensch. Liebe (ljubov') definiert er ganz allgemein als „Drang (vlecenie) eines beseelten Wesens zu einem anderen, um sich mit ihm zu vereinigen" 203 . In ihrem Ergebnis ist Liebe die „innere Einheit", „Untrennbarkeit und Wesenseinheit zweier Leben" 204 . Die Liebe von Mann und Frau zueinander ist für Solov'ev wie in der Bibel und bei den Vätern ein Abbild der liebenden Vereinigung von Gott und Mensch. Die innere Einheit oder Wesenseinheit von Gott und Mensch nennt Solov'ev das Gottmenschentum (bogocelovecestvo). Sie ist von Christus verwirklicht, der seine menschliche Natur durch Leiden, Tod und Auferstehung und seinen menschlichen Willen durch die bestandenen Versuchungen vergöttlichte und so der wahre Gottmensch und Anfang der neuen Menschheit ist 205 . Der Mensch kann nach Solov'ev auf dieser gelegten Grundlage seine eigene Gottmenschheit, seine Vergöttlichung (obozestvlenie) oder Vergottung (obozenie) und seine Wesenseinheit mit Gott ebenfalls erreichen, wenn er sie erreichen will 206 . Er braucht dazu nur das Gnadengeschenk der Liebe Gottes anzunehmen. Die freie Vergottung des Menschen ist wiederum nur in der Kirche, dem lebendigen Gottmenschentum auf Erden, in der Gnade der Sakramente möglich 207 . - Auch in diesem letzten Punkt der mystischen Erfahrung entspricht das Denken Solov'evs dem der griechischen Väter. Die Vergottung oder Vergöttlichung (θέωσις, θεοποίησις) wurde seit Clemens von Alexandrien, also seit dem Ende des 2. Jahrhunderts, als die eigentliche Folge und Antwort auf die Menschwerdung Christi bezeichnet, als das Ziel des Erlösungswerks Christi und des Lebens jedes Menschen 208 . Schon Athanasius hat gegen das Mißverständliche des aus der griechischen Philosophie übernommenen Begriffs die volle Transzendenz Gottes in diesem Geschehen gewahrt. Der Mensch, so sagte Athanasius, wird nicht „wahrer Gott", sondern „Gott aus Gnaden" nach dem Willen des wahren Gottes, der das „göttliche Geschlecht" des Menschen (Apg 17, 28) wiederherstellt, indem er den Menschen mit sich vereint 209 . Die Vergottung des Menschen wird erst nach der Auferstehung der Toten im ewigen Leben vollendet. Aber auf Erden schon soll und kann sich die gottmenschliche Vereinigung immer mehr verwirklichen 210 . Das haben gerade diejenigen griechischen Väter betont, die sich dem immerwährenden Gebet in ihren Schriften widmeten. Sie nennen die Vergottung das Ergebnis des Weges der mystischen Erfahrung auf seiner letzten Stufe: Jenseits der Betrachtung Gottes und allen Wissens über Gott besteht die wahre mystische Gotteserfahrung und -erkenntnis darin, daß der Mensch „Gott aus Gnade" wird 2 1 1 . Die Vergottung ist auch in diesem Leben, am Ende des mystischen Weges, ein Akt der absoluten Gnade und
203
Art. „Ljubov"', B - Ε , RG X, 236 (= D G VI, 307). CB III, 58. 110; DOÌ III, 309. 205 CB III, 170; D 0 2 III, 373; O D VIII, 224. 206 ¿ D P IX, 233; 17. VP X, 57: Solov'ev erwähnt, daß er die Vorstellung der Vergöttlichung des Menschen von den „östlichen Kirchenvätern" übernommen habe und nennt namentlich Makarius von Ägypten, Athanasius d. Gr. und Gregor von Nazianz (ZDP IX, 233, Anm. 7). 207 R R N O III, 267; D O Z III, 401. 208 Clemens von Alexandrien, Protreptikos I, 8, 4, SC 2, S. 63. 209 Athanasius d. Gr., Contra Arianos oratio III, 19, PG 26, 361 C - 3 6 4 A . 210 Yg] y Lossky, Théologie mystique, S. 193 ff. 211 Evagrius Ponticus, Centuria V, 81, Werke hrsg. v. W. Frankenberg, S. 355. 204
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Liebe Gottes, der menschlicherseits allerdings die Verleugnung und das Aufgeben des eigenen Willens voraussetzt 212 . Die Tradition der griechischen Väter, von der Vergottung des Menschen zu sprechen, war nach ihrem Höhepunkt im Palamismus weitgehend in Vergessenheit geraten und im 19. Jahrhundert nur bei denjenigen orthodoxen Theologen lebendig, die ganz im Geist der Väter dachten 213 . Daß Solov'ev dennoch in seiner Zeit die mystische Vereinigung von Gott und Mensch mit diesem Begriff beschreibt und mit dem dadurch inspirierten eigenen Begriff des Gottmenschentums, verweist einmal mehr auf sein Studium und seine Aufnahme der Theologie der griechischen Väter.
4. „Rechtgläubige
Mystik" bei den Vätern und bei
Solov'ev
Wir haben festgestellt, daß Solov'ev in seinen theologischen Schriften durch die mystische Theologie der griechischen Kirchenväter inspiriert argumentiert. Das zeigt sich wie in einem Brennpunkt gebündelt an den Kriterien, die er für die Unterscheidung zwischen rechtgläubiger (das heißt bei Solov'ev: wahrhaft christlicher) und häretischer Mystik nennt. Sie sind mit denen der Väter identisch. Als erstes Kriterium nennt Solov'ev die drei Stufen der Mystik, deren Entsprechungen zwischen den Vätern und Solov'ev wir dargelegt haben: Christliche Mystik m u ß sowohl Reinigungsmystik (mistika ocistitel'naja), als auch Erleuchtungsmystik (mistika prosvetitel'naja ili ozaritel'naja) und Vereinigungsmystik im eigentlich Sinn (mistika soedinitel'naja) sein, um rechtgläubig zu sein 2 1 4 . Die mystische Vereinigung m u ß moralische Vorbedingungen haben und Folge eines beständigen Prozesses der Vorbereitung des Menschen darauf sein. Solov'ev nennt an diesem Punkt auch die lateinischen Bezeichnungen der drei Stufen der Mystik aus Thomas von Aquins Summa theologica (via purgativa, via illuminativa und via unitiva) 2 1 5 , um die Allgemeingültigkeit dieses Kriteriums im gesamten Christentum zu unterstreichen. - Das zweite Kriterium wirklich christlicher Mystik ist das ständige Voranschreiten durch je verschiedene mystische Erfahrung und Erkenntnis Gottes hindurch zu dem G o t t hin, der immer noch größer ist. Solov'ev nennt dieses Kriterium den ständigen Prozeß des Gottmenschentums, der für den einzelnen in diesem Leben kein Ende hat, der alle Bereiche des Lebens umfaßt und der mit dem historischen Prozeß des wachsenden G o t t menschentums in der gesamten Menschheit zusammenhängt 2 1 6 . Gregor von Nyssa hatte dieses Kriterium in Auslegung des Pauluswortes in Phil 3, 13 212 Maximus Confessor, Quaestiones ad Thalassium 22, PG 90,324 A; ders., De caritate II, 6, P G 90, 985 AB. 213 Vgl. Tb. Spidlik, La spiritualité, S. 48-50; G. Florovskij, Putì, S. 400. 214 Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 245 ( = D G VI, 347). 215 Thomas von Aquin, Summa theologica IIa Ilae, q. XXIV, a. IX, Ed. altera Romana, Bd. 3, S. 194 f. 216 K O N II, 323; REU, FS, 190 ( = D G III, 248).
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Epektase (έπέκτασις) genannt: das immerwährende Sichausstrecken nach Gott, der nie „Besitz" des Menschen werden kann, und die immerwährende Vervollkommnung des Menschen durch ständiges Wachsen im Guten und ständige Selbsttranszendierung 2 1 7 . - Ein drittes, negativ bestimmtes Kriterium mystischer Erfahrung finden wir überall in Solov'evs Schriften: Das subjektive Erleben des einzelnen ist keine unbedingt notwendige Voraussetzung für vollkommene Erkenntnis Gottes und nicht ihr eigentlicher Inhalt. Es muß nicht alles erlebt werden, um es zu glauben. Mystische Erfahrung darf nicht, wie Solov'ev sagt, „abstrahiert" werden vom Denken und Glauben; sonst wird Mystik z u m häretischen Mystizismus 2 1 8 . In diesem Kriterium bestand die Reaktion der orthodoxen griechischen Väter gegen die These der Messalianer, daß nur die subjektive Erfahrung der göttlichen Gnade ein Beweis des Gnadenstandes des Menschen sei. Die rechtgläubigen Väter hielten dagegen, daß die Gegenwart der Gnade, in der Taufe dem Menschen unmerklich gegeben, vom Menschen nicht unmittelbar wahrgenommen werden müsse und meist auch nicht wahrgenommen werde, und daß das mystische Erleben nicht mit dem Grad der Vergottung identifiziert werden könne 2 1 9 . - Das vierte Kriterium der rechtgläubigen mystischen Erfahrung ist die positive Wendung des dritten. Nach Solov'ev m u ß die innere mystische Beziehung des Menschen zu G o t t mit dem äußeren Bekenntnis des Glaubens, mit dem Leben in der Kirche in ihren Sakramenten und in den äußeren Formen der Frömmigkeit sowie mit der brüderlichen Liebe verbunden sein 2 2 0 . In der Spiritualität der Väter hat Basilius der G r o ß e in seinen „Großen Mönchsregeln" dieses Kriterium der Kirchlichkeit des mystischen Weges zusammenfassend ausgedrückt 2 2 1 . Die Gültigkeit der Regeln des Basilius im ostkirchlichen M ö n c h t u m hat sich ungebrochen bis heute erhalten. Für die russischen orthodoxen Laien im 19. Jahrhundert hatte besonders C h o m j a k o v die Kirchlichkeit (cerkovnost') aller rechtgläubigen Frömmigkeit, auch des mystischen Gebets und der mystischen Gotteserfahrung, wieder wirksam ins Bewußtsein gehoben 2 2 2 . Solov'ev konnte hier also auch an die spezifische russische orthodoxe Ekklesiologie Chomjakovs anknüpfen. - Als fünftes, umfassendstes und elementarstes Kriterium der Rechtgläubigkeit mystischer Gotteserfahrung und -erkenntnis nennt Solov'ev die Liebe. O h n e Liebe zu G o t t und den Menschen kann der Mensch
217 Gregor von Nyssa, In Cant. Cant, homilía VI, PG 44, 888 A; vgl. ders., De vita Moysis, PG 44, 301 C. Vgl. ebenso: L.Bouyer, La spiritualité du N.T. et des Pères, S.437-440; G. Maloney, The Breath of the Mystic, S. 78-80; S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 213. 229f. 218 FTJu 1,183; F N C Z I, 303; Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 245 ( = D G VI, 347). 2,9 Diadoque de Photicé, Cent chapitres gnostiques 77, SC 5ter, S. 135; vgl. Th.Spidlík, La spiritualité, S. 75 f. 220 K O N II, 9, Anm. 3; R R N O III, 267; T F I X , 90; Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 245 (= D G VI, 347). 221 Basilius d. Gr., Gr. Regel VII, 1 - 3 , P G 31, 9 2 8 C - 9 3 3 C . 222 A. S. Chomjakov, Cerkov' odna, Polnoe sobranie socinenij, Bd. II, S. 9. 21 ff.
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Gott, der selbst die Liebe ist, nicht erkennen und erfahren 2 2 3 . Auch hier nimmt Solov'ev Einsichten Chomjakovs und Samarins auf sowie die Lehre der Kirchenväter, daß die Liebe die Vorbedingung der mystischen Vereinigung mit Gott ist 2 2 4 . Es erweist sich, daß Solov'ev ganz in der Tradition der mystischen Theologie der griechischen Väter steht, wenn er von mystischer Erfahrung und Erkenntnis Gottes spricht. Als Ergebnis dieses vergleichenden Überblicks halten wir fest: Solov'evs mystische Erkenntnislehre ist in der Väterlehre verwurzelt und in den genannten Punkten rechtgläubig nach den Kriterien der Kirchenväter selbst.
C. Solov'evs Beurteilung der religiösen Erfahrung im Protestantismus Von seiner Erziehung und von seiner Uberzeugung her ist Solov'ev immer orthodoxer Christ gewesen. Aber er wollte auch der gemeinsamen christlichen Lehre in Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus in seinem Denken gerecht werden. Das gilt auch für sein Denken über die Rolle der religiösen Erfahrung in der Erkenntnis Gottes. Dabei hat er aber die protestantische Theologie nie als Quelle für sein eigenes Denken benutzt. Solov'ev gibt überhaupt keine detaillierte Kenntnis der reformatorischen Theologie zu erkennen. Wieweit er sie sich durch Quellenstudium angeeignet haben könnte, ist nicht bekannt 225 . Außer einigen deutschen Mystikern erwähnt Solov'ev keine Namen und keine Gedanken einzelner evangelischer Theologen. Es ist aufgrund seines Studiums in Moskau verständlich, daß er zwar ein intimer Kenner der deutschen Philosophie seit Kant wurde, die ausführlich an der philosophischen Fakultät der Universität gelehrt wurde, daß sich aber theologisch seine Bildung auf die orthodoxe und die scholastische katholische Theologie konzentrierte, deren Kenntnisse er in der Geistlichen Akademie erwerben konnte. Daß Solov'ev sich durch Selbststudium später nicht eingehend mit evangelischer Theologie befaßt hat, liegt an seinem generell negativen Urteil über den Protestantismus, das er erst gegen Ende seines Lebens revidierte. Den Protestantismus erkannte Solov'ev lange Zeit nicht als Kirche an 2 2 6 . Infolgedessen war auch die protestantische Theologie für Solov'ev lange Zeit kein Bestandteil der Lehre der ökumenischen Kirche, sondern private Meinung oder gar sektiererhaft und häretisch. Dies änderte sich aber zunehmend, bis Solov'ev schließlich auch von der „evangelischen Kirche" (evangeliceskaja cerkov') sprach 227 und den Protestantismus auch innerhalb der einen Kirche als positives Prinzip würdigte 228 . Die Betonung der persönlichen religiösen Erfahrung im Protestantismus hat Solov'ev schon früh positiv beurteilt, aber auch vor negativen Konsequenzen gewarnt. Welche Aspekte der religiösen Erfahrung in der evangelischen Theologie Solov'ev im Blick hatte, zeigen wir im folgenden. 223 IBTIV, 253. Vgl. Evagrius Ponticus, Brief 56, Werke hrsg. v. W. Frankenberg, S. 605; vgl. Th.Spidlik, La spiritualité, S. 490. 2 2 5 Auch L. Müller merkt in seiner Studie „Solovjev und der Protestantismus" dazu nichts an (vgl. a.a.O. S. 9 - 2 7 ) . 2 2 6 R R N O I I I , 2 5 2 ; V S C h P I V , 113,Anm.25. 227 T R X , 2 0 6 . 2 2 8 A.a.O. S.212. 224
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1. Das positive Anliegen der persönlichen im Protestantismus
Erfahrung
D i e positive Bedeutung und Rechtfertigung des reformatorischen Christentums hat Solov'ev im „notwendigen und gerechten Protest des Individuums" (protest licnosti) gegen eine gewaltsame, kollektive U n t e r o r d n u n g unter G o t t g e s e h e n 2 2 9 . D a h e r nennt er die evangelische Christenheit mit positivem Beiklang i m m e r „Protestantismus". Das Verdienst und der Sinn der R e f o r m a t i o n ist nach Solov'ev die Befreiung der menschlichen Persönlichkeit (licnost'), des einzelnen M e n s c h e n , „damit er sich bewußt und frei z u m göttlichen Ursprung wenden kann und mit ihm eine vollkommen bewußte und freie Bindung eingehen k a n n " 2 3 0 . D a s „protestantische Prinzip des persönlichen Gewissens und der Freiheit" (protestantskij princip licnoj sovesti i svobody) ist für Solov'ev ein positives christliches Lebensprinzip (nacalo christianskoj zizni). E r hält es für gleichberechtigt mit dem o r t h o d o x e n Prinzip der Tradition (predanie) und dem katholischen Prinzip der Autorität (avtoritet) 2 3 1 . Diese positive Einschätzung der persönlichen Freiheit und U b e r z e u g u n g des einzelnen in Glaubensdingen durch Solov'ev als „protestantisches Prinzip" oder „prophetisches P r i n z i p " 2 3 2 , die wir in unserem Jahrhundert in der evangelischen T h e o l o gie bei Paul Tillich w i e d e r f i n d e n 2 3 3 , bezieht sich auf die Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung des einzelnen bis hin zur mystischen Erfahrung. D i e R e f o r m a t i o n Luthers beurteilt Solov'ev vom protestantischen Prinzip her positiv. D a b e i denkt er nicht nur an den Ausdruck der Gewissensfreiheit durch Luther etwa auf dem W o r m ser R e i c h s t a g 2 3 4 . Vielmehr meint er auch die persönliche Uberzeugung von der Glaubenswahrheit, die Luther einerseits höher als alle kirchliche Glaubenslehre stellte und die er andererseits gegen das Schwärmertum der inneren Erfahrung und Eingebung unmittelbar an die Heilige Schrift band mit G e d a n k e n , die Calvin auf die F o r m e l von der Autopistie der Heiligen Schrift durch das testimonium Spiritus Sancti internum b r a c h t e 2 3 5 . Das „protestantische P r i n z i p " , von dem Solov'ev positiv spricht, ist also eine persönliche Glaubensüberzeugung, die sich nicht auf fremdes Zeugnis verläßt, sondern an die persönliche Auslegung der Schrift im unmittelbaren Zeugnis des Heiligen Geistes gebunden ist. Deswegen bezeichnet Solov'ev das protestantische Prinzip auch genauer als „persönliche U b e r z e u g u n g von der Wahrheit und freie Erforschung der S c h r i f t " 2 3 6 . Auch das lutherische Verständnis des christlichen Glaubens als persönliches Vertrauen des einzelnen auf G o t t (Fiduzialglaube) ist im positiven Verständnis des „protestantischen Prinzips" bei Solov'ev enthalten. W i r finden es als Solov'evs eigene Anschauung bei ihm w i e d e r 2 3 7 . Schließlich beinhaltet das protestantische Prinzip der persönlichen U b e r z e u g u n g als dem obersten Erkenntnisgebot für Solov'ev positiv auch den methodischen Zweifel an fremden Überzeugungen und Glaubensaussagen - einen „rechtschaffenen U n g l a u b e n " (dobrosovestnoe neverie), wie er sich ausdrückt, der sich nicht auf
2 3 0 Ebd. 2 3 1 VSChP IV, 1 12. 2 3 2 O D VIII, 509. ¿ Β III, 18. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, S. 264; Bd. III, S. 207 u. ö. 2 3 4 Vgl. Luthers Rede auf dem Reichstag in Worms 1521, in : R. Stupperich, Die Reformation in Deutschland, S. 50. 179. 235 M.Luther, In Gal. III, 1 (1535), WA B d . X L , S.323; E.Schott, Art. „Testimonium Spiritus Sancti internum", R G G 3. Aufl., Bd. VI, Sp. 702f. 2 3 6 T R X , 212. 2 3 7 S. u. S. 201 und ebd. Anm. 534. 229 233
119
fremdes Zeugnis verläßt - und das Beharren auf der unmittelbaren persönlichen Evidenz durch eigene Erfahrung. Solov'ev macht dies am Verhalten des Apostels Thomas dem Auferstandenen gegenüber deutlich 2 3 8 . Thomas' zeitweiliger Unglaube ist aufgrund seines „psychologischen Temperaments" gerechtfertigt. Wir fügen hinzu: Thomas hat sozusagen einen protestantischen Charakter, und zwar einen unserer Zeit sehr gemäßen. Er muß sich von der Wahrheit „jetzt und hier in der Wirklichkeit überzeugen, ihre reale Kraft erfahren (ispytat' ee real'nuju silu), die Wahrheit durch die Tatsache überprüfen" 2 3 9 . Hat ein Mensch wie Thomas aber erst einmal etwas von Gott als Tatsache seiner unmittelbaren sinnlichen oder mystischen Erfahrung wahrgenommen, so glaubt er rückhaltlos daran und auch an das, was man nicht sehen kann: „Die sinnliche Tatsache (cuvstvennyj fakt) war nicht die Grundlage, sondern nur der Stützpunkt (tocka opory) für seinen (sc. Thomas') G l a u b e n . " 2 4 0 Die religiöse Erfahrung ist also nach Solov'ev für den nicht blindgläubigen, sondern aus Gewissensgründen zweifelnden Menschen eine legitime Stütze des Glaubens an den lebendigen Gott. Sie ersetzt den Glauben nicht, noch ist sie seine Quelle. Das ist der auferstandene Christus selbst. Aber sie ist ein Mittel, das die Inhalte des kirchlichen christlichen Glaubens dem einzelnen vermittelt und lebendig macht und so den einzelnen überzeugt. Das kann, wie Solov'ev betont, nur in der Erfahrung des Heiligen Geistes geschehen, die die Erfahrung der „geistlichen Wiedergeburt" (duchovnoe vozrozdenie) des Menschen ist 2 4 1 . In dieser Anerkennung der zeitlichen Priorität und psychologischen Notwendigkeit der religiösen Erfahrung für den lebendigen Glauben des einzelnen ist die Hochschätzung Solov'evs für das Anliegen des Pietismus, der Romantik und der Erweckungsbewegung im protestantischen Deutschland enthalten. Solov'evs erkenntnistheoretischer Ansatz bei der persönlichen religiösen Erfahrung entspricht in vieler Hinsicht auch positiv der „Methode der Erfahrung" in Schleiermachers D o g matik, der theologischen Zusammenfassung der genannten Strömungen evangelischer Frömmigkeit. Diese induktive Möglichkeit des Protestantismus, Theologie zu treiben, war zwar mehr über Philosophen wie Jacobi und Schelling in Rußland bekannt geworden, aber auch Schleiermacher selbst wurde gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von russischen Intellektuellen viel gelesen, und Solov'ev selbst hatte wohl ebenfalls Kenntnis der Ansichten Schleiermachers 2 4 2 . Die „Methode der Erfahrung" F. Schleiermachers entspricht nicht nur psychologisch der patristischen Spiritualität des Herzens, von der oben die Rede war. U n d so ist es nicht verwunderlich, daß wir bei Solov'ev vom religiösen Gefühl in einer Weise hören, die Glaube und Gefühl mitunter fast identifiziert und uns an Schleiermacher erinnert. Das religiöse Gefühl bei Schleiermacher hat - wie bei Solov'ev - nicht nur eine psychologische Funktion, sondern bezieht sich auf die „Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins" im „unmittelbaren Selbstbewußtsein" des Menschen, also auf die irdische und göttliche Wirklichkeit zusammen ; es ist damit zwar wie der persönliZum Vorhergehenden und Folgenden vgl. 12. VP X , 3 7 - 4 0 . A . a . O . S. 39f. 2 4 0 A . a . O . S. 40. 2 4 1 ¿ B III, 81. 242 D.Tschizewskij, Russische Geistesgeschichte, S.267f., A n m . 47; vgl. Solov'evs Erwähnung Schleiermachers im Brief N r . 3 an A. A. Kireev, Ρ II, 100, und im „Lebensdrama Piatons" ( ¿ D P I X , 223), hier allerdings im Zusammenhang der Interpretation Piatons durch Schleiermacher. 238
239
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che Glaube subjektiv, aber es ist zugleich die Überwindung der Grenzen von Subjekt und Objekt 2 4 3 . Eine inhaltliche Nähe ergibt sich für uns sogar zwischen Solov'ev und der Erfahrungstheologie der Erlanger Schule von A . G . C h r . von Harleß, J . C h r . K. von Hofmann und E H . R . Frank, obwohl Solov'ev wohl weder Harleß' „Theologische Encyklopädie" (1837), die Programmschrift der Erlanger Theologie, noch Franks „System der christlichen Gewißheit" (1870) gelesen haben wird. Denn bei den Erlanger Theologen sind wie bei Solov'ev die „Tatsachen der Erfahrung" der methodische Ausgangspunkt der Theologie 244 . Die „Tatsachen der religiösen Erfahrung" werden als „objektive Realitäten", auf die sich das Bewußtsein bezieht, gesehen (Frank), als Heilswirklichkeit 24S . Der Erfahrungsbegriff der Erlanger Schule ist eindeutiger als der Schleiermachers antisubjektivistisch. Religiöse Erfahrung versteht sie wie Solov'ev nicht als Quelle des Glaubens, sondern als Ort der persönlichen Vergewisserung. Ubereinstimmend charakterisieren die Erlanger und Solov'ev auch die religiöse Grunderfahrung: Alle Tatsachen der religiösen Erfahrung sind „Tatsachen des vom Heiligen Geist gewirkten... geistlichen Bewußtseins" 246 , und dieses „geistliche Bewußtsein" beruht auf der Grunderfahrung der „geistlichen Wiedergeburt" (Hofmann), lokalisiert im Erlebnis der „Bekehrung" (Frank) 247 . Auch Solov'ev spricht öfter von der „geistlichen Wiedergeburt des Menschen" im Sinne von J o h 3 , 5 - 8 als der Grunderfahrung des geistlichen Lebens und dem erfahrungsmäßigen „fühlbaren" Beginn des wahren, neuen christlichen Lebens 248 . Allerdings betont Solov'ev ganz anders als die Erlanger den darauf folgenden lebenslangen Prozeß der inneren mystischen Vereinigung mit Christus. Schließlich findet auch die unbedingte kirchliche Einbindung der religiösen Erfahrung durch die Erlanger 249 bei Solov'ev seine Parallele 250 .
2. Die negative Konzentration auf das unmittelbare
Erlebnis
So steht Solov'ev mehr oder weniger unbewußt gerade der lutherischen Erfahrungstheologie in seiner Zeit von seinem Ansatz her nicht fern. Wenn Solov'ev dennoch das protestantische Persönlichkeits- und Erfahrungsprinzip kritisiert, hat das hauptsächlich zwei Gründe: die individualistische Uberzogenheit dieses Prinzips und die mangelnde Ganzheitlichkeit von Erfahrung und Wissen in ihm. Dem Protestantismus völlig fremd ist nach Solov'ev die Demut und Selbstentsagung auf dem Gebiet des Erkennens und Erfahrens als Voraussetzung der Erkenntnis der Wahrheit und der Erfahrung Gottes, wie sie Solov'ev selbst aus der Spiritualität der Väter übernommen hat. Deswegen hält es Solov'ev aus der individualistisch stolzen Natur des Protestantismus heraus für folgerichtig, daß er in den Rationalismus übergeht 251 . 243 F.Schleiermacher, Der christliche Glaube, B d . I , §3, 1 und 2, hrsg. v. M.Redeker, S. 1 4 - 1 7 ; s.u. S . 2 1 5 - 2 1 7 . 2 4 4 Zum Folgenden vgl.: P.Altham, Art. „Erfahrungstheologie", R G G 3. Aufl., Bd. II, Sp. 552f.; M.Hein, Lutherisches Bekenntnis und Erlanger Theologie im 19. Jahrhundert, S. 5 1 - 5 3 . 63. 8 2 - 8 8 . 245 M.Hein, 2 4 6 Ebd. a.a.O. S. 8 4 - 8 6 . 247 P. Althaus, Art. „Erfahrungstheologie", R G G 3. Aufl., Bd. II, Sp. 553. 2 4 8 C B III, 81. 173 . 2 4 9 M.Hein, Lutherisches Bekenntnis, S. 8 6 - 8 8 . 2 S 0 S.u. S.244f. 2 5 1 C B III, 175.
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Mangelnde Ganzheitlichkeit der religiösen Erfahrung ist es für Solov'ev, wenn man wie Schleiermacher das Gefühl überbetont und den Glauben auf dem Gefühl beruhen läßt 252 . Einseitig ist es auch, alle geistliche Erfahrung auf das punktuelle Erlebnis der Wiedergeburt in der Bekehrung zu konzentrieren, wie das die Erlanger Hofmann und Frank taten. Außerdem lehnt Solov'ev die Methode des Frankschen Systems ab, die Inhalte der Dogmatik aus der Erfahrung des wiedergeborenen Christen abzuleiten. Er betont stattdessen die Notwendigkeit der Offenbarung und der kirchlichen Dogmen 2 5 3 , die allein den objektiven Charakter des Erfahrenen garantieren. Eine Engführung der religiösen Erfahrung muß es aus der Sicht des ganzheitlichen Erfahrungsbegriffs Solov'evs auch sein, wenn Wilhelm Herrmann - etwa zeitgleich mit Solov'ev ab 1880, aber sicher ohne seine Kenntnis - das „religiöse" oder „innere Erlebnis", das er zum zentralen Begriff seiner Theologie machte, von aller sinnlichen Erfahrung gereinigt wissen will, um so die Autonomie der Religion zu begründen 254 . Solov'ev stellt die religiöse Erfahrung, sogar die mystische Erfahrung, dagegen immer in den Zusammenhang aller Erfahrung und erliegt nicht der Illusion, die unmittelbare Erfahrung allein, sei sie auch völlig verinnerlicht und vergeistigt, könne die Grenzen unseres subjektiven Bewußtseins überwinden. Dazu ist nach Solov'ev, der die Kritik des Positivismus an aller vorschnellen Transzendierung der Grenzen des Bewußtseins in sein Denken aufgenommen hat, der Glaube des Menschen nötig, der allein die Existenz der Wirklichkeit außerhalb des Subjekts erfaßt. Allerdings kann sich der Glaube mit der mystischen Erfahrung nach Solov'ev zu einem Akt unmittelbaren Erlebens verbinden 255 .
3. Mystik im
Protestantismus
Nicht verwunderlich ist es, daß Solov'ev die spezielle mystische Erfahrung in allen christlichen und nichtchristlichen Traditionen schätzte und sich von ihr anregen ließ. So lassen sich auch direkte Einflüsse evangelischer deutscher Mystiker auf Solov'ev nachweisen. Sicher ist Mystik nur ein Randphänomen im Christentum als Offenbarungsreligion und speziell im Protestantismus als der bewußten Rückkehr zur Quelle der Heiligen Schrift 256 . Aber gerade auf der mystischen Erfahrung der Einheit mit Gott im Glauben beruht die theosophische Erkenntnislehre Solov'evs, die universalen Anspruch auf Gültigkeit erhebt. Solov'ev weiß sich in den Grundlagen der mystischen Erkenntnis einig mit „alexandrinischen Piatonikern und jüdischen Kabbalisten, mit Kirchenvätern und unabhängigen Denkern . . . Nikolaus von Kues und Jakob Böhme, Dionysius Areopagita und Spinoza, Maximus Confessor und Schelling" 2 5 7 . Dieses Universum von Mystikern ist die bevorzugte geistige Welt Solov'evs. Sie umfaßt im deutschen Protestantismus naturgemäß nur Randerscheinungen: Böhme, Tersteegen, Jung-Stilling haben Solov'ev beeinflußt 258 . Böhme ist aber wegen seines Einflusses auf Solov'evs Sophia-Lehre wichtiger, Jung-Stilling wegen seines Vgl. Brief Nr. 3 an A . A . Kireev.PII, 100; s.u. S.201 undAnm.533. S. u. S. 2 0 3 - 2 0 8 ; vgl. PB IX, 16. 26; IBT IV, 333; 17. VP X , 54. 2 5 4 Vgl. G.Koch, Art. „Herrmann, J.W.", RGG 3. Aufl., Bd.III, S p . 2 7 5 - 2 7 7 ; J.Zengel, Erfahrung" und „Erlebnis", S. 6. 19. 149. 2 5 5 S.u. S. 238f. 2 5 6 Vgl. P. Berger, Der Zwang zur Häresie, S. 5 7 - 5 9 . 2 5 7 PB IX, 23. 2 5 8 Vgl. E. Benz, Die russische Kirche, S. 121. 129. 252
253
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Einflusses auf Solov'evs Vorstellungen vom Antichrist. F ü r unser Thema der mystischen Erkenntnislehre ist eher der Einfluß der „Erotischen Philosophie" des Katholiken F r a n z von Baader auf Solov'evs Spätwerk zu berücksichtigen. Solov'evs Denken über die Rolle der Liebe, auch der geschlechtlichen Liebe, in der Gotteserkenntnis, ist durch Baader mitgeprägt 2 S 9 . Die unmittelbare Erfahrung Gottes durch die mystische Vereinigung des Menschen mit ihm ist nach Solov'ev der eigentliche Gegenstand einer „Erfahrungstheologie". U m sie kreist sein Denken. Die Anregungen dazu kann er nicht von der Erfahrungstheologie Schleiermachers oder der Erlanger Theologen erhalten haben, denn dort spielt die mystische Erfahrung keine Rolle. Im Protestantismus sind es daher die Außenseiter, die Solov'ev beeinflußten.
4. Der Zugang zum Denken Solov'evs evangelische Theologen heute
für
Für deutsche evangelische Theologen ist der Zugang zur „Erfahrungstheosophie" Solov'evs in unserer Zeit durch das Gewicht der Tradition der dialektischen Theologie Karl Barths und seiner Nachfolger erschwert. Barth hat sich frühzeitig von den Auffassungen seines Lehrers Wilhelm Herrmann über das religiöse Erlebnis distanziert und bald jegliche religiöse Erfahrung als menschliche Auflehnung gegen den Willen Gottes, als „Gesetz" und „Sünde" anhaltend und gründlich perhorresziert 260 . Dies zeigte seine Wirkung in einer theologischen Sprachlosigkeit oder feindlichen Skepsis gegenüber religiöser Erfahrung in der evangelischen Theologie bis in unsere Tage. Einige evangelische Interpreten Solov'evs wie Fritz Lieb und Georg Sacke haben versucht, den späten Solov'ev der „Drei Gespräche" im Sinne der dialektischen Theologie zu verstehen 261 : Hier sei die Alternative von Glaube oder Erfahrung und Vernunft zugunsten des nackten Glaubens entschieden. Wir werden sehen, daß von einer solchen Alternative, die eine Kategorie der dialektischen Theologie ist, bei Solov'ev auch in den „Drei Gesprächen" nicht die Rede sein kann. Denn auch hier betreibt Solov'ev wie in allen seinen Schriften vom Standpunkt der dialektischen Theologie aus gesehen „natürliche Theologie". Glaube und Erfahrung sind bei ihm nie zu trennen. L.Müller hat gezeigt, daß weder auf den späten noch auf den frühen Solov'ev die Alternativen der dialektischen Theologie anwendbar sind 2 6 2 . Die Entwicklung der unabhängigen Religionswissenschaft im 20.Jahrhundert hat aber allmählich ein immer stärkeres Gegengewicht zum dominanten Einfluß der dialektischen Theologie innerhalb der evangelischen Theologie geschaffen. Nicht nur haben die Religionsphänomenologen vielVgl. D. Strémooukhoff, Messianic Work, S. 307. So schon in der 2. Auflage seines „Römerbriefs". Vgl./. Zengel, „Erfahrung" und „Erlebnis", S. 150-155. 261 F. Lieb, Rußland unterwegs, S. 131-134; G.Sacke, Geschichtsphilosophie, S. 32ff. 262 L. Müller, Die Kritik des Protestantismus, S. 46; ders., System, S. 22. 259
260
123
fach Solov'evs Argumentation bestätigt, daß die mystische Erfahrung des Übernatürlichen eine besondere, ursprüngliche Art menschlicher Erfahrung ist, die auch phänomenal von der alltäglichen Erfahrung der natürlichen Realität abgegrenzt ist 2 6 3 . Auch Luthers Frömmigkeit und Theologie wurde von Religionswissenschaftlern positiv in die Kategorie der religiösen Erfahrung eingeordnet. So schilderte William James Luthers Fiduzialglauben als den Ausdruck des Primats der persönlichen religiösen Erfahrung bei ihm 2 6 4 . Rudolf Otto wies auf die Vorliebe Luthers für die Erfahrung Gottes als mysterium tremendum einerseits und mysterium fascinans oder mirum andererseits hin und interpretierte Luthers Glaubensbegriff als durchdrungen von der Kraft der mystischen Einung des Menschen mit Gott 2 6 5 . Der spezielle Einfluß der Religionswissenschaft und der allgemeine der Humanwissenschaften auf die evangelische Theologie haben bewirkt, daß heute wieder Erfahrungstheologie als eine Möglichkeit evangelischer Theologie getrieben wird. Teilweise muß man sogar schon befürchten, daß mit der durch die dialektische Theologie bedingten Verspätung der Aufnahme empirischer Methoden und Erkenntnisse in die evangelische Theologie angesichts des Nachholbedarfs das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Wir meinen das „sola fide", das mit dem abgestandenen Wasser einer von allem übrigen Wissen isolierten Offenbarungstheologie nun achtlos fortgegossen werden könnte. So wurde Theologie in den letzten Jahren evangelischerseits als „nachdenkende Beschreibung bestimmter Erfahrungen" bestimmt (Solle) 2 6 6 oder einfach als „Erfahrungswissenschaft" neben anderen empirischen Wissenschaften (Herms) 2 6 7 . Ihr wurde die Aufgabe „empirisch-funktionaler Theoriebildung" und der Entkräftung der Religionskritik durch eine Strukturanalyse der religiösen Erfahrung übertragen 2 6 8 . Zwischen den Extremen dialektischer und empirisch-funktionaler Methoden in der evangelischen Theologie einen reformatorischen Zugang zur „Erfahrungstheosophie" Solov'evs zu finden, halten wir dennoch für möglich, wenn wir das protestantische Prinzip, von dem wir sprachen, nämlich die persönliche Glaubensüberzeugung, inhaltlich durch das biblische Glaubensverständnis qualifizieren: Glaube, auch der persönliche Glaube, ist als menschliche Antwort auf Gottes Offenbarung selbst Gottes Gnadengabe (Rom 12,3; 1 Kor 12, 9.11). Auf diesem Glauben beruht alle Erkenntnis und alle Erfahrung Gottes, auch wenn die Erfahrung zeitlich und phänomenal dem Glauben vorausgeht. „Reformatorische experientia" geschieht, wie G.Ebeling sagt, auf dem Boden des Glaubens 2 6 9 . Wir sind mit dieser Hal263 Yg] ρ Berger, Der Zwang zur Häresie, S. 59. 264 W. James, Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, hrsg. ν. E. Herms, S. 361 f. 265 R. Otto, Das Heilige, S. 118. 125. 128-130. 266 D. Solle, Stellvertretung, S. 9. 267 E. Herms, Theologie - eine Erfahrungswissenschaft, S. 80 ff. 2 6 8 A.a.O. S. 62ff.; G. Theissen, Argumente für einen kritischen Glauben, S. 69ff. 2 6 9 G. Ebeling, Die Klage über das Erfahrungsdefizit, Wort und Glaube, Bd. 3, S. 10-14. Vgl.
124
tung übrigens schon bei Solov'ev selbst angekommen. Denn er macht mit theologischen und philosophischen Argumenten deutlich, daß nur der Glaube die Erfahrung auf eine objektive Grundlage stellen kann, weil der Mensch nur im Glauben die Existenz des Erfahrenen erkennen kann. Ein zweites Kriterium evangelischen Erfahrungsverständnisses, das sich aus dem ersten ergibt und den Zugang zu Solov'ev erleichtert, nennt Paul Tillich: Erfahrung ist nie Quelle der Theologie, sondern das Medium, durch das der einzelne Theologe die objektiven Quellen der Theologie umwandelt und sich so persönlich aneignet 270 . Die Quellen der systematischen Theologie sind die Schrift, die Dogmen, die Kirchen- und Religionsgeschichte und der persönliche Glaube 2 7 1 . Die dahinterstehende Norm ist das geschichtliche, einmalige und inhaltlich unüberbietbare Ereignis, das Jesus Christus heißt. Er selbst ist die Norm aller religiösen Erfahrung. Das Medium der Erfahrung soll nach Tillich den Theologen davor bewahren, die Quellen der Theologie bloß ungeschichtlich zu wiederholen. Andererseits, da die persönliche religiöse Erfahrung nur eine theologische Methode ist und selbst keine neuen Inhalte über die objektiven Quellen der Theologie hinaus vermittelt, kann sie den Theologen davor bewahren, selbst neue theologische Inhalte zu schaffen 2 7 2 . Die Methode der „Korrelation zwischen dem Zustand des religiösen Ergriffenseins des Menschen und dem, was ihn ergreift", der „Korrelation zwischen Gott und Mensch im religiösen Erlebnis" 2 7 3 , die Tillich in seiner systematischen Theologie anwendet, scheint uns eine kongeniale Anwendung der „Erfahrungstheosophie" Solov'evs auf dem Boden evangelischer Theologie zu sein. Jedenfalls entspricht Tillichs Sicht der religiösen und mystischen Erfahrung als methodischem Mittel, mit dem sich der Mensch die Inhalte des kirchlichen Glaubens persönlich aneignet, der Sicht Solov'evs in seinen theologischen Schriften 2 7 4 . Solov'ev wollte in seiner Theosophie rechtgläubig im ökumenischen christlichen Sinn sein. Es war deswegen wichtig, sich auf Solov'evs Verhältnis zu einigen Zügen evangelischen theologischen Denkens zur religiösen Erfahrung zu besinnen. Denn Solov'evs Haltung zum protestantischen Denken über religiöse Erfahrung sagt etwas über sein eigenes Verständnis von „ökumenischer Rechtgläubigkeit" religiöser Erfahrung aus. In der folgenden Untersuchung der Ansichten Solov'evs über die mystische und religiöse Erfahrung soll gezeigt werden, daß seine Gedanken dazu auch aus der Sicht evangelischer Theologie „rechtgläubig" sind. Besonderes Augenmerk ist deswegen auf die Rolle zu legen, die Solov'ev dem Glauben in der Gotteserkenntnis gibt 2 7 5 . die Zusammenfassung der Diskussion über das Verhältnis von Glaube und Erfahrung in der evangelischen Theologie der letzten Jahre bei: W.H. Ritter, Theologie und Erfahrung, S. 1 6 4 - 1 6 8 . 270 271 274
Systematische Theologie, Bd. I, S. 5 7 f . 272 A.a.O. S.57f. A . a . O . S. 49 - 51. 275 S.u.S. 200-204. 235-245. S . u . S. 2 4 4 f .
P. Tillich,
273
A . a . O . S. 74 f.
125
Wir haben gezeigt, in welchen philosophischen und theologischen Denkströmungen Solov'ev steht und an welche Gedanken er ausdrücklich anknüpft. Wir mußten uns auf einige Stationen des Weges der abendländischen Philosophie, der mystischen Theologie der griechischen Kirchenväter und der evangelischen Theologie beschränken, die den Denkhorizont Solov'evs kaum andeuten, für unser eigenes Verständnis Solov'evs aber hilfreich sind 276 . Nunmehr kann mit größerem historischen und systematischen Verständnis die Rolle aufgezeigt werden, die die Erfahrung im allgemeinen und die mystische und religiöse Erfahrung im besonderen in der Erkenntnislehre Solov'evs spielen.
276 Einen umfassenden Überblick über die mannigfachen philosophischen, theosophischen, mystischen und dichterischen Vorstellungen, die Solov'ev beeinflußten, geben in ihren Solov'ev-Biographien S.M. Solov'ev, K. Mocul'skij und D.Strémooukhoff. Solov'evs Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie haben katholische Theologen untersucht (z.B. M.d'Herbigny, F. Muckermann), sich aber weitgehend auf die Frage nach Solov'evs persönlichem Glaubensbekenntnis und seiner Konversion zum Katholizismus beschränkt. Eine Konfrontation der „Fundamentakheologie Solov'evs" mit der katholischen findet man bei B.Schultze. Wir haben auf eine Darstellung der Einflüsse katholischer Theologie auf Solov'ev verzichtet, weil sie als Quelle für seine Erkenntnislehre und sein Denken zu unserem Thema kaum in Frage kommt. Zu untersuchen wäre allerdings der Einfluß der frühen franziskanischen Mystik einschließlich Bonaventuras, die Solov'ev hochschätzte, auf sein Denken. Dies ist unseres Wissens bisher nicht geschehen.
126
DRITTER TEIL
Erfahrung als Grundlage der Erkenntnislehre Solov'evs. Uberblick über die Grundbegriffe seiner Erkenntnislehre
Solov'ev errichtet seine Erkenntnislehre mit Hilfe einer stets konstant bleibenden Terminologie 1 . Deswegen können wir diese Terminologie in der Zusammenschau seines gesamten Werkes erheben und darstellen. Es werden dabei Bedeutungsnuancen und Bedeutungsveränderungen bei verschiedenen Begriffen deutlich werden, die für die Interpretation der Erkenntnislehre Solov'evs entscheidend sind. Nicht allein die vielfältige Verwendung des Begriffs „Erfahrung" bei Solov'ev wird untersucht, sondern ein ganzes Begriffsfeld. Das ist aus drei Gründen unerläßlich. Erstens muß der Zusammenhang zu den anderen beiden Erkenntnisarten hergestellt werden, die Solov'ev nennt: Denken und Glauben (siehe Kap. II und III). Zweitens wird durch Begriffe, die Solov'ev parallel zu „religiöser" und „mystischer Erfahrung" gebraucht, noch klarer, welche Rolle diese Erfahrung in der Erkenntnislehre Solov'evs hat (siehe Kap. IV). Drittens muß das letzte Ziel aller dieser Erkenntnisvermögen erläutert werden, damit deutlicher wird, was mit „religiöser Erfahrung" gemeint ist (siehe Kap. V bis VII).
I. Erfahrung „Erfahrung" ist, wenn wir einmal vom Sprachgebrauch des Empirismus absehen, in den Geisteswissenschaften ein Wort des 20. Jahrhunderts 2 . Es bezeichnet die für unsere Zeit typische, früher so nicht übliche Mentalität, alles Wissen auf eigene Erfahrung oder zumindest auf verläßliche, überprüfbare Erfahrung anderer zu gründen. Solov'ev hat den Erfahrungsbegriff bewußt in seine gesamte Theosophie eingeführt und damit die philosophische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, etwa die Phänomenologie 1 2
S.o. S. 87; s.u. S. 3 3 4 - 3 3 8 . So auch : Tb. Spidlik, L a spiritualité, S. 74.
127
Husserls und Schelers 3 , vorweggenommen. Da in seinem eigenen Leben die religiöse Erfahrung eine so wichtige, ja entscheidende Rolle spielte, nimmt dies nicht weiter wunder. Erstaunlich ist aber die Konsequenz, mit der Solov'ev „Erfahrung" zum zentralen Begriff auch der Lehre von metaphysischer und religiöser Erkenntnis macht. Er nimmt damit die „Erfahrungsmentalität" unseres Jahrhunderts auch im religiösen Bereich vorweg. In Solov'evs theosophischer Erkenntnislehre können wir ein Spiegelbild seiner eigenen Erfahrungen sehen. Irrig wäre es allerdings, in seinen theoretischen Schriften eine entsprechend lebendige Sprache, eben eine „Erfahrungssprache" zu vermuten. Nur in den Gedichten Solov'evs finden sich anschauliche, unreflektierte Wendungen 4 . Sonst aber liebt es Solov'ev, seine lebendige Erfahrung in genau definierte, abstrakte Begriffe zu kleiden 5 . So wird zum Beispiel das Ziel der religiösen Erfahrung nur selten Gott genannt, sondern meist mit abstrakten Begriffen wie „das Seiende als solches" 6 , „die absolute Einheit" 7 oder „das unbedingte Urprinzip" 8 umschrieben, und das wie gesagt, obwohl Solov'ev persönlich ein sehr lebendiges Verhältnis zu dem in solche Begriffe gekleideten Gott hatte. Die Klarheit des sprachlichen Ausdrucks war aber für Solov'ev vorrangig vor seiner Lebendigkeit. Er nahm auch Begriffe aus der Alltagssprache auf und gab ihnen eine genau umschriebene Bedeutung. So gebraucht er zur Verdeutlichung dessen, was er mit „Erfahrung" (opyt) umschreibt, entsprechende synonyme Ausdrücke, die im Alltag benutzt werden 9 . Zusammen ergeben der allgemeine Erfahrungsbegriff, seine vielfältigen qualifizierenden Bestimmungen und seine sprachlichen Konkretisierungen in synonymen Ausdrücken die begriffliche Grundlage der Erkenntnislehre Solov'evs.
A. Der Anwendungsbereich des Begriffs „Erfahrung" (opyt) 1. Die allgemeinste
Definition
von
„Erfahrung"
„Erfahrung" bezeichnet Solov'ev als „das, was vom Subjekt erfahren wird" 1 0 , oder als „das, was von uns beobachtet wurde" 1 1 . Betont ist der Ausgangspunkt der Bestimmung im beobachtenden Subjekt. Ohne ein bewußtes Subjekt ist Erfahrung nicht denkbar. Daher definiert Solov'ev ErfahVgl. H. Duhm, Grundzüge russischen Denkens, S. 33. Vgl. die in der Literaturliste aufgeführten Gedichte Solov'evs. 5 So auch L.Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, S. 535; s.o. S. 69. 6 F N C Z I, 356: „suscee kak takoe". 7 F N C Z I, 349; K O N II, 310: „absoljutnoe edinstvo". 8 DOZ III, 355: „bezuslovnoe pervonacalo". 9 S.o. S. 88f.; s.u. S.210—217. 1 0 F N C Z I, 312: o p y t - „to, cto ispytyvaetsja sub"ektom". 1 1 KON II, 265: opyt - „to, cto nami nabljudalos'". 3 4
128
rung als „Bewußtseinszustände, die von einem Subjekt erfahren werden oder erfahren worden sind" 1 2 . Es ist zunächst bei dieser allgemeinen Definition nichts über die Beziehung solcher Erfahrung zur Wirklichkeit ausgesagt. Auch Träume und Phantasien sind erfahrene Bewußtseinszustände. Mitenthalten ist aber bereits die Unterscheidung von Erlebnis und Erfahrung. Definiert werden zugleich die gegenwärtige Erfahrung (das Erlebnis) und die vergangene Erfahrung, die im Bewußtsein aufbewahrt wird. Damit knüpft Solov'ev an den alltäglichen Sprachgebrauch an 1 3 . Er nennt Erfahrung auch schlicht „menschliche Erfahrung" (celoveceskij opyt) 1 4 oder „die allen Menschen eigentümliche Erfahrung" (obsceceloveceskij opyt) 1 5 . Weil sie allen Menschen zugänglich ist, ist sie auch glaubwürdig 1 6 . Auch das klingt in diesen Bezeichnungen an. Der Ansatz der Definition von Erfahrung in den subjektiven Bewußtseinszuständen des Menschen verbindet, wie wir sahen, Solov'ev mit dem Positivismus J. S. Mills. „Die Erfahrung ist die primäre Quelle (pervicnyj istocnik) unserer Erkenntnisse und gibt das Material für jede andere . . . Erkenntnis" 1 7 . Mit Kant 1 8 kann Solov'ev feststellen, daß „Erkenntnis nur im Bereich der Erfahrung möglich ist" 1 9 . Solov'ev, den manche irreführend als Platoniker bezeichnet haben 2 0 , folgt darin ganz Kant gegen die platonische Ideenlehre, daß für ihn Erkenntnis nie durch Vernunft allein möglich ist, sondern nur durch Vernunft, die durch Erfahrung angeregt und gespeist wird 2 1 : Die Erfahrung ist die Quelle aller Erkenntnis. Die Grenzen der Erfahrung sind für Solov'ev auch die Grenzen der Erkenntnis 2 2 . Jenseits des Bereichs aller möglichen Erfahrung gibt es keine Erkenntnis. Oder umgekehrt formuliert: Die Wirklichkeit (dejstvitel'nost'), das heißt wirklich Existierendes und nicht bloß Eingebildetes oder Erdachtes, wird nur durch wirkliche, echte Erfahrung erkannt 2 3 . Wahres Wissen muß Erfahrungswissen sein, nicht nur Gedankenkonstruktion 2 4 . Es gilt aber auch: Erfahrung allein gibt uns nur ein brutum factum, nicht aber die Erkenntnis der Wirklichkeit und der Wahrheit 25 . Solov'ev setzt hier voraus, daß man sehr wohl zwischen phantastischen Bewußtseinszuständen und solchen, die der Wirklichkeit und Wahr1 2 A r t . „Opyt", B - Ε , R G X, 251 (= D G VI, 397): opyt - „sostojanija soznanija, ispytyvaemye ili ispytannye sub"ektom". 14 K Z F 1 , 8 1 ; F N C Z 1 , 3 6 8 ; C B III, 109. 1 3 S.o. S. 87f. 1 5 C B III, 67. 1 6 Ebd. 1 7 Art. „Opyt", B - Ε , R G X , 251 (= D G VI, 397). 18 I.Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 29: Sinnlichkeit und Verstand sind die beiden „Stämme der menschlichen Erkenntnis". Weder ohne die sinnliche Erfahrung, die die Gegenstände gibt, noch ohne den Verstand, der die Gegenstände denkt, ist die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich. Denn: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." (I.Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 75). 1 9 FTJu 1 , 1 9 2 : Das Zitat ist bei Solov'ev Kant zugeschrieben. 2 0 So z.B. V.Èrn, Gnoseologija, S. 133. 146. 188; E.Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S . 2 5 8 ; D.von Usnadse, Weltanschauung, S. 18. 2 1 FTJu 1, 192. 2 2 C B III, 33 f. 2 3 K Z F I, 81; C B III, 120. 2 4 K O N II, 195. 2 5 K O N II, 263.
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heit entsprechen, unterscheiden könne. In seiner allgemeinen Definition der Erfahrung ist also schon die Behauptung implizit enthalten, daß wirkliche Erfahrung die Erfahrung von etwas ist, das wirklich existiert, durch jemanden, der ebenfalls existiert. Jeder wirklichen Erfahrung entspricht ein wirklich Erfahrender und ein wirklicher Gegenstand. Solov'ev geht von der stillen Voraussetzung aus, daß wirkliche Erfahrung eine Beziehung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt darstellt26. Durch das einschränkende Adjektiv „wirklich" (dejstvitel'nyj) 27 macht Solov'ev bewußt, daß es auch trügerische und lügnerische, der Wirklichkeit und Wahrheit nicht entsprechende Erfahrungen gibt, die ebenso wie die wirklichen Erfahrungen Bewußtseinszustände sind, die ein Subjekt erfährt. So definiert Solov'ev den weitestmöglichen Erfahrungsbegriff. Darin unterscheidet er sich ausdrücklich vom Kantschen Erfahrungsbegriff, den er in der Begrenztheit seines Anwendungsbereichs für falsch hält 28 . Kant hatte alle mögliche Erfahrung auf die Erscheinungen in Raum und Zeit begrenzt 29 . Nach Solov'ev dagegen umfaßt die Erfahrung des Menschen alle seine Bewußtseinszustände und damit alle möglichen Erscheinungen.
2. Die Untergliederung
des
Erfahrungsbegriffs
Solov'ev teilt in seinem Artikel „Erfahrung" (opyt) für das Enzyklopädische Wörterbuch „Brokgauz-Efron" 30 Erfahrung unter drei Aspekten in jeweils unterschiedliche Erfahrungsmethoden auf. Er unterscheidet dort erstens nach dem Erfahrungssubjekt direkte und indirekte Erfahrung, zweitens nach dem Erfahrungsobjekt innere und äußere Erfahrung, und drittens teilt er nach dem Maß der sich beteiligenden Reflexion die verallgemeinerte Erfahrung in Alltagserfahrung und wissenschaftliche Erfahrung. Die Grenzen zwischen diesen Erfahrungsmethoden sind fließend. Vom Standpunkt des Empirismus aus, den Solov'ev der philosophischen Allgemeingültigkeit halber in seinem Lexikonartikel darlegt und im empirischen Anwendungsbereich teilt, sind die Unterschiede zwischen allen genannten Arten der Erfahrung nur relativ und quantitativ31. Dies gilt für den ganzen Bereich der „Erfahrung im philosophischen Sinn", wie Solov'ev sich ausdrückt32. Er meint damit den Bereich, den die empirisch-kritische Erkenntnistheorie umfaßt. 2 6 Als grundlegende Definition von „Erfahrung" finden wir Solov'evs Gedankengang bei Zen'kovskij wieder (V. Zen'kovskij, Die Philosophie der religiösen Erfahrung, S. 3 6 - 3 9 , hier S. 36). Für Zen'kovskij ist jede echte Erfahrung, auch die religiöse Erfahrung, als Wechselwirkung von Subjekt und Objekt etwas „Transsubjektives". Findet sich hier eine späte Wirkung Solov'evs bei Zen'kovskij? 2 7 CB III, 120. 2 8 PB IX, 13. 2 9 I.Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 169. 3 0 Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 f. ( = DG VI, 397-399). 3 1 K O N II, 263. 3 2 Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 ( = DG VI, 397).
130
Nun ist aber der Anwendungsbereich des Begriffs „Erfahrung" bei Solov'ev entscheidend größer. Er umfaßt nicht nur alle Bewußtseinszustände des Menschen, sondern auch die positive Beziehung des Bewußtseins zu etwas anderem, zu dem, was außerhalb des menschlichen Bewußtseins liegt, zum Erfahrungsgegenstand. Die erkenntnistheoretische Frage nach der Wirklichkeit der Erkenntnis ist für Solov'ev im Erfahrungsbegriff mit enthalten und kann positiv beantwortet werden. Damit geht Solov'ev über den Erfahrungsbegriff „im philosophischen Sinn" hinaus und erfaßt ihn theosophisch im Rahmen einer ganzheitlich-mystischen Erkenntnislehre. Im zitierten Artikel stellt Solov'ev der philosophischen Erfahrung die religiöse Erfahrung an die Seite als eine Erfahrung, die sich durch ihren Inhalt und ihre Bedeutung von der philosophischen Erfahrung unterscheidet33. Die Art der Verbindung beider wird von Solov'ev hier nicht erläutert. Gerade sie ist aber bedeutsam für Solov'evs Theosophie und wird an anderer Stelle von ihm geklärt. Wir betrachten den Erfahrungsbegriff Solov'evs in seinem theosophischen Gesamtwerk einschließlich der religiösen Erfahrung und gliedern ihn daher naturgemäß anders, als Solov'ev den philosophischen Erfahrungsbegriff in seinem erwähnten Lexikonartikel gliederte und als viele seiner philosophischen Interpreten es so wiederholten34. Wir sehen den Erfahrungsbegriff bei Solov'ev in drei beziehungsweise vier Gruppen gegliedert. Die Art des Erfahrens des Menschen ist das Gliederungsprinzip der ersten Gruppe: Erfahrung ist unmittelbar oder mittelbar beziehungsweise direkt oder indirekt, sie ist alltäglich oder wissenschaftlich. - Das Ziel der Erfahrung ist das Gliederungsprinzip der zweiten und wichtigsten Gruppe: Erfahrung ist äußere oder innere oder mystische Erfahrung 35 und erreicht die physische oder die geistige oder die metaphysische, transzendente Welt. In jedem Fall geht die Erfahrung über die Grenze der eigenen Bewußtseinszustände hinaus. - Die dritte Gruppe gliedert sich nach der besonderen Bedeutung der Religion für die Erfahrung: die verschiedenen Arten religiöser Erfahrung werden gekennzeichnet und eingeordnet. - Eine vierte Gruppe bilden Begriffe, die parallel zum Begriff „opyt" von Solov'ev verwendet werden und zusätzliches Material für unsere Untersuchung liefern. A.a.O. S. 252 ( = D G VI, 399). L. Lopatin läßt nur den Unterschied zwischen äußerer und innerer Erfahrung bei Solov'ev gelten und schreibt der inneren Erfahrung auch ontologische Erkenntnisfähigkeit zu (L. Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S. 504), wie es nur der frühe Solov'ev getan hat (s.u. S. 142f.). E.Trubeckoj weist alle metaphysische Erkenntnis bei Solov'ev der religiösen Erfahrung zu und löst sie damit aus dem philosophischen Bereich und stellt sie in den Bereich der Offenbarung Gottes (E. Trubeckoj, Solov'ev i Lopatin, S. 535). Ebenso verfahren L. Müller (System, S. 18 f.) und andere im Anschluß an E.Trubeckoj. Keiner dieser Interpreten sieht die mystische Erfahrung bei Solov'ev als eigene Art der Erfahrung auf der Grenze zwischen Philosophie und Religion. 3 5 Vgl. F N C Z I, 312 f. 321: Hier nennt Solov'ev die äußere, die innere und die mystische Erfahrung die drei Formen (vidy), die alle Erfahrung umfassen. 33
34
131
3. Statistik des Gebrauchs des Begriffs „Erfahrung" (opyt) Eine Statistik des Gebrauchs des Begriffs „opyt" in Solov'evs Werken erhellt, wie sich Solov'ev dem traditionellen philosophischen Wortgebrauch anschließt und ihn zugleich eigenständig erweitert. Wir untersuchten die Häufigkeit des Vorkommens von fünf verschiedenen Verwendungen des Begriffs „opyt" in den philosophischen und theologischen Werken Solov'evs 3 6 . Bei insgesamt 180 untersuchten Verwendungen von „opyt" ergab sich Folgendes. 1. „ O p y t " ohne qualifizierendes Adjektiv und im allgemeinen Sinn wird 49mal gebraucht. 2. „Vnesnij opyt" (äußere Erfahrung) wird 57mal gebraucht. 3. „Vnutrennij opyt" (innere Erfahrung) wird 44mal gebraucht. 4. „Misticeskij opyt" (mystische Erfahrung) wird siebenmal gebraucht. 5. „Religioznyj opyt" (religiöse Erfahrung) wird 23mal gebraucht. Beim Gebrauch des Wortes „opyt" ohne qualifizierendes Attribut fällt auf, daß Solov'ev damit durchgehend die Erfahrung bezeichnet, die die empirische Wirklichkeit zeigt 3 7 und die dem Erfahrungsbegriff des Empirismus entspricht 3 8 . Das Adjektiv „opytnyj" (erfahrungsmäßig) verwendet Solov'ev, der russischen Schriftsprache entsprechend, auch synonym mit „èmpiriceskij" (empirisch) 3 9 . „ O p y t " ohne weitere Qualifikation setzt Solov'ev ausdrücklich mit der Kantschen Beschränkung des Erfahrungsbegriffs durch die Kategorien Raum und Zeit gleich 4 0 . - Der Begriff „äußere Erfahrung" wird von Solov'ev am häufigsten verwendet. Er bezeichnet die Erfahrung durch die äußeren Sinnesorgane des Menschen und schließt auch alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung ein. Die Häufigkeit der Verwendung bei Solov'ev weist auf den Einfluß der englischen Empiristen seit Locke und Hume als Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie Solov'evs hin. - Dasselbe gilt weitgehend für die etwas seltener von Solov'ev gebrauchte Wendung „innere Erfahrung" 4 1 . Solov'ev schließt sich den Empiristen in seinen Schriften seit 1877 auch darin an, daß er äußere und innere Erfahrung als Varianten des einen allgemeinen Begriffs „Erfahrung" beschreibt, der äußere und innere zur empirischen Wirklichkeit gehörende Empfindungen und Beobachtungen umfaßt 4 2 . Wesentlich weniger häufig gebraucht Solov'ev den Ausdruck „religiöse Erfahrung", noch seltener in direkter Verbindung mit Gott als Objekt der 3 6 Vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Werke Solov'evs mit Ausnahme der Gedichte und Briefe. 3 7 K O N II, 8 7 - 8 9 . 38 FNCZ1,294. 3 9 „Opytnyj": D.N. Usakov, B. M. Volin, Tolkovyj slovar' russkogo jazyka, Bd. II, Sp. 842; K O N II, 89. 4 0 K O N II, 90 f. 4 1 Solov'ev zitiert selbst den Gebrauch des Begriffs „innere Erfahrung" bei Locke (KZF I, 45). 4 2 S.o.S. 97.
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religiösen Erfahrung. A m seltensten verwendet er den Ausdruck „mystische Erfahrung". Religiöse und mystische Erfahrung verbinden nach Solov'ev den Menschen mit der metaphysischen, transzendenten Wirklichkeit. Für diese besondere Art der Erfahrung, die das Mittel der Erkenntnis des übernatürlichen Seins und der Gotteserkenntnis ist, verwendet Solov'ev bis 1876 den Ausdruck „innere Erfahrung", in ausdrücklicher Anlehnung an Schopenhauer und H a r t m a n n 4 3 . Erstmals in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877) und danach konstant in seinen weiteren Schriften verwendet Solov'ev für die in die metaphysische Welt reichende Erfahrung den Ausdruck „mystische Erfahrung". Seit 1885 („Geschichte und Z u k u n f t der Theokratie") nennt Solov'ev meist die Transzendenzerfahrung „religiöse Erfahrung", auch wenn er das besondere mystische Erleben meint. Insgesamt gesehen ist der Gebrauch der Begriffe „mystische" und „religiöse Erfahrung" (30mal) gegenüber den stets zur empirischen Wirklichkeit gehörenden Begriffen „Erfahrung" und „äußere Erfahrung" (106mal) und dem seit 1877 bei Solov'ev ebenfalls zur empirischen Wirklichkeit gehörenden Begriff „innere Erfahrung" (44mal) gering. N u r in einem Sechstel der Fälle (30mal von 180mal) meint Solov'ev, wenn er von „Erfahrung" spricht, die den Empirismus und Kritizismus überwindende mystische oder religiöse Erfahrung. Dies weist aber nicht auf deren geringe Bedeutung hin. Im Gegenteil, die mystische Erfahrung wird bei Solov'ev z u m eigentlichen Mittel der Erkenntnis der Wahrheit. Die statistische Tatsache belegt aber deutlich, daß es sich bei „mystischer" und „religiöser Erfahrung" um in der Philosophie neue und ungebräuchliche Begriffe handelt, die Solov'ev im Gegensatz zur Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung kaum in philosophischen Werken bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts gefunden haben wird. Erst der psychologischen Realismus Wilhelm Wundts 4 4 und besonders das religionspsychologisch und -philosophisch bahnbrechende Werk William James', „The Varieties of Religious Experience" 4 5 , haben „mystische" und „religiöse Erfahrung" zu gebräuchlichen Begriffen gemacht. Bei Solov'evs russischen philosophischen Lehrern und Zeitgenossen ist die Verwendung des Begriffs „mystische Erfahrung" erst nach seinem eigenen Gebrauch zu finden 4 6 . Sie ist also kein slavophiles Erbe Solov'evs. O b es sich um eine eigene Begriffsbildung Solov'evs handelt, können wir nicht entscheiden. Jedenfalls ist sein Sprachgebrauch in der zeitgenössischen Philosophie ungewöhnlich und verlangt schon deshalb trotz seines seltenen Auftretens auch in seinem eigenen Werk unsere Aufmerksamkeit.
43
S.o.S. 9 7 - 9 9 . W. Wundt, Grundriß der Psychologie (1896). 45 W. James, The Varieties of Religious Experience (1902). 46 So bei Solov'evs Lehrer V.D, Kudrjavcev-Platonov (Religija, in: Socinenija, Bd. II/1, S. 88ff). 44
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Β. Die Art der Erfahrung 1. Direkte und indirekte oder unmittelbare und mittelbare Erfahrung Ob ein Subjekt etwas selbst persönlich erlebt, empfindet, beobachtet, schaut oder vorstellt oder ob es die Erfahrungen anderer übernimmt, ist der entscheidende Unterschied in der Art des Erfahrens. Direkte Erfahrung (prjamoj opyt) nennt Solov'ev alle Bewußtseinszustände, die „vom Subjekt selbst erlebt werden oder erlebt wurden" (sostojanija, perezivaemye i perezitye samim dannym sub"ektom) 47 . Direkte Erfahrung ist Erlebnis (perezivanie). Solov'ev nennt sie auch persönliche Erfahrung (licnyj opyt) 48 oder unmittelbare Erfahrung (neposredstvennyj opyt) 49 . Indirekte Erfahrung (kosvennyj opyt) nennt er dagegen das „glaubwürdige Zeugnis über fremde Erfahrungen" (dostovernoe svidetel'stvo o cuzich opytach) 50 . Das meiste empirische Wissen (etwa das Wissen eines Europäers, der Europa nie verlassen hat, über Amerika) beruht auf solchem Zeugnis. Auch religiöses Wissen beruht in der Regel auf dem Zeugnis anderer über deren direkte religiöse Erfahrung 51 . Mit dem Zunehmen des Wissens auf allen Gebieten wächst für den einzelnen das Wissen, das er aus indirekter Erfahrung erwirbt, im Verhältnis zu seinem Wissen aus direkter Erfahrung. Die indirekte Erfahrung nennt Solov'ev auch mittelbare oder allgemeine Erfahrung (obscij opyt) 52 . Direkte Erfahrung ist für Solov'ev die unmittelbare Wahrnehmung eines Erkenntnisobjekts ohne Beimischung vernünftigen, schlußfolgernden Denkens (rassudocnoe myslenie) 53 . Als unmittelbare sinnliche Erfahrung (neposredstvennyj cuvstvennyj opyt) ist sie für den abstrakten Realismus das einzige Kriterium der Wahrheit und die einzig wahre Erkenntnis 54 . Ein solcher Realismus ist insofern abstrakt, als er nur die Erfahrung im Einzelfall hier und jetzt gelten läßt, losgelöst von allen weiteren Erfahrungen. Der Empirismus nennt zwar auch nur die unmittelbare sinnliche Erfahrung „wirkliche Erfahrung" (dejstvitel'nyj opyt) und erkennt nur sie als alleinigen Grund wahrer Erkenntnis an 55 , aber er verallgemeinert die Tatsachen unmit-
47 49
4 8 IS I X , 273. Art. „ O p y t " , B - Ε , R G X , 251 ( = D G VI, 397). 5 0 Art. „ O p y t " , B - Ε , R G X , 251 ( = D G VI, 397). MPN1,200 .
5 1 Solov'ev benutzt hier für alle indirekte Erfahrung den in der christlich theologischen Erkenntnistheorie grundlegenden Zeugnisbegriff. Zeugnis von Christus und seiner Auferstehung gaben die Apostel allen anderen Menschen durch die Predigt des Evangeliums (vgl. M t 2 4 , 1 4 ; J o h 1,7; A p g 4 , 3 3 ; 1 K o r 15,15). Die Apostel gaben Zeugnis von der ihnen widerfahrenen Offenbarung Gottes und damit von ihrer eigenen direkten religiösen Erfahrung. Das religiöse Wissen derer, die das Zeugnis der Apostel annehmen, beruht also nach Solov'ev auf indirekter religiöser Erfahrung durch glaubwürdiges Zeugnis. Im Zeugnisbegriff ist nach theologischem Verständnis der Offenbarungsbegriff mit enthalten. 52
134
IS I X , 2 73 .
53
M P N 1,200.
54
K O N II, 196.
55
K O N II, 258.
telbarer Erfahrung zu allgemeinen Fakten oder empirischen Gesetzen 56 . Die Formulierung unbedingt gültiger, unveränderlicher Gesetze der Erscheinungen geht über den Empirismus hinaus. Der Verstand (um) folgert hier mit einer der unmittelbaren Erfahrung gegenüber transzendentalen Fähigkeit die absolute Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen einzelnen Erscheinungen und richtet Kausal- und Naturgesetze auf 57 . Wenn in solchem Zusammenhang von Erfahrung die Rede ist, ist mittelbare Erfahrung gemeint - die Erfahrung im Kantischen Sinn, die schon ein Produkt unserer von der Erfahrung unabhängigen Vernunft ist 58 . Der Erfahrungsbegriff des Kantischen Rationalismus meint also immer indirekte Erfahrung. Die direkte Erfahrung ist für ihn bloß subjektiver Anschein. - Das, was Solov'ev „wissenschaftliche Erfahrung" (naucnyj opyt) nennt, ist immer indirekte Erfahrung, aber nicht im eben genannten Kantischen Verständnis, sondern im empiristischen Sinn der verallgemeinerten direkten Erfahrung 59 . Der Unterschied zwischen unmittelbarer und wissenschaftlicher Erfahrung bleibt für den Empirismus wie für Solov'ev ein relativer und bloß quantitativer. 2. Alltags- oder Lebenserfahrung und wissenschaftliche Erfahrung „Die mehr oder minder umfassende Verallgemeinerung erlebter Ereignisse durch mehr oder minder deutlich arbeitende Reflexion" nennt Solov'ev „Alltags- oder Lebenserfahrung" (zitejskij ili ziznennyj opyt) 60 . Innerhalb der Alltagserfahrung unterscheidet er die mit undeutlicher Reflexion verbundene wenig umfassende Verallgemeinerung (zitejskij opyt) 61 von den durch langfristiges Denken stark verallgemeinerten Erlebnissen (vsednevnyj opyt) 62 . Lebenserfahrung (ziznennyj opyt) ist Erfahrung des Lebens selbst (opyt zizni) in seinem nicht mechanischen, sondern schöpferischen Charakter 63 , in allen seinen Erscheinungen, die die Naturwissenschaft nicht erklärt. Zur Lebenserfahrung zählt auch die religiöse Erfahrung. Solov'ev unterteilt sie in direkte persönliche Lebenserfahrung (licnyj opyt) und indirekte historische Lebenserfahrung (istoriceskij opyt) 64 . Die historische Erfahrung ist allgemein und repräsentativ (vseobscij opyt) 65 , kollektiv und erblich (sobiratel'nyj, nasledstvennyj opyt) 66 . Sie gipfelt in Erfahrungsgesetzen, die aus der Menschheitsgeschichte gewonnen werden (opytnyj zakon) 67 . Auch die religiöse Erfahrung ist als indirekte, übernommene Erfahrung historische Er5 7 K O N II, 25 7. 5 8 FTJu 1,193. K O N II, 254. 6 ° Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 ( = DG VI, 398). K O N II, 263. 6 1 D O 1 III, 3 07. 6 2 K O N II, 26. 6 3 C E III, 24. 6 4 O D VIII, 211 ; Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 ( = DG VI, 398). 6 5 CB III, 134; OD VIII, 211; TR X, 145. 6 6 O D VIII, 230. 6 7 Solov'ev nennt z. B. das historische Erfahrungsgesetz, daß die Kraft der Sympathie umgekehrt proportional zu ihrem Umfang wächst ( K O N II, 36 f.). 56
59
135
fahrung 6 8 . Die direkte, persönliche Lebenserfahrung ist immer die eigene Erfahrung des einzelnen und für ihn wirkliche Erfahrung (sobstvennyj, dejstvitel'nyj opyt) 6 9 . Die Funktionen der Lebenserfahrung sind vielfältig wie das Leben selbst. Zwei sind in ihrer Beziehung zur religiösen Erfahrung wichtig. Erstens kann die Lebenserfahrung zur Uberführung der Falschheit oder Richtigkeit einer bloßen Behauptung führen und damit zur Erkenntnis und Annahme der Wahrheit 7 0 . Zweitens kann und wird Lebenserfahrung die persönliche Erfahrung des Menschen mit dem Bösen in sich, dem Egoismus, sein und zur Unterscheidung von vermeintlichem und echtem Guten führen 7 1 . Kritisch unterscheidende Lebenserfahrung ist Erfahrung mit dem Bösen, aber auch mit dem Quell des Guten und kann so zur Gotteserkenntnis führen 7 2 . Das gilt auch für die allgemeine historische Erfahrung. Auch sie kann Erfahrung des Bösen sein, das kritisch betrachtet, überführt und entlarvt w i r d und dem echten Guten gegenübergestellt w i r d 7 3 . In jedem Fall gehört deutliche Reflexion zur Lebenserfahrung dazu, wenn sie zur Unterscheidung von Gut und Böse führen soll. Wissenschaftliche Erfahrung (naucnyj o p y t ) ist ebenfalls keine „reine Erfahrung", sondern das Ergebnis eines wechselseitigen Prozesses von äußerer, sinnlicher Erfahrung und Denken des Verstandes (um). Sie setzt das Experiment (opyt = èksperiment) 7 4 als Erfahrung unter künstlichen, kontrollierten Bedingungen voraus 7 5 und kann als der Prozeß der Erforschung der Natur bezeichnet werden 7 6 , als Erfahrung, die sich ansammelt (nakopljajuscijsja o p y t ) 7 7 und so einen Erfahrungsschatz ergibt. Die systematische Bearbeitung der wissenschaftlichen Erfahrung durch methodische Reflexion ist die Erfahrungswissenschaft (opytnaja nauka) 7 8 . In der Regel haben deren Ergebnisse keine unbedingte, allgemeingültige Bedeutung wie etwa die logischen Gesetze 7 9 , aber sie enthalten doch spekulative Elemente und intellektuelle Konstruktionen 8 0 . Der Inhalt der wissenschaftlichen Erfahrung ist die gesamte kosmische Ordnung. Dabei setzt auch Solov'ev voraus, daß die Natur ein gesetzmäßiger Mechanismus ist 8 1 . Die scheinbare Durchbrechung seiner kausalen Zusammenhänge, etwa im Wunder, bestätigen nach Solov'ev nur seine sonstige Regelmäßigkeit und seine tieferen, der wissenschaftlichen
6 9 CB III, 172.176 bzw. 16. VP X, 51. TFIX, 14. CB III, 172; 16. VP X, 51. 7 1 15. VP Χ, 47; L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 520. 7 2 Vgl. A. Beljaev, Proischozdenie i suscnost' nravstvennogo soznanija, S. 15. 7 3 Vgl. Solov'evs Erzählung vom Antichrist und das in den „Drei Gesprächen" zur Erfahrung des Bösen Gesagte : TR X, 183 und 193 ff. 7 4 Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 (= DG VI, 398f.). 7 5 KZF 1,164. 7 6 K O N II, 242; CB III, 122f. 7 7 OD VIII, 230. 7 8 F N C Z 1 , 2 9 0 ; CB III, 24 . 79 FNCZ1,298. 8 0 K O N II, 255; Art. „Metafizika", B - Ε , RG X, 240f. (= DG VI, 338. 340). 8 1 CB III, 91. 68
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Erfahrung nicht mehr zugänglichen, aber ebenfalls gesetzmäßigen metaphysischen Grundlagen 82 . Solov'ev lehnt daher die wissenschaftliche Erfahrung nicht als eine der religiösen Erfahrung entgegengesetzte Erfahrung ab, sondern sieht sie als Kraft menschlicher Erkenntnis, die für das ganzheitliche Wissen des Menschen eingesetzt werden soll und muß, nämlich als Mittel zur Erreichung des höchsten Ziels aller Erkenntnis, das die Theologie als Gott bestimmt 83 .
C. Das Ziel der Erfahrung Nach ihrem Gegenstands- und Zielbereich gliedert Solov'ev die menschliche Erfahrung in äußere und sinnliche Erfahrung, die sich auf die materiellen Erscheinungen der äußeren Welt bezieht, und in innere oder psychische Erfahrung, die sich auf die geistigen Erscheinungen im Inneren des Menschen bezieht. Diese Gliederung übernimmt Solov'ev vom Empirismus Lokkes 84 . Uber diese philosophisch geläufige Einteilung hinaus nennt Solov'ev als dritten Gegenstands- und Zielbereich der Erfahrung die mystischen Erscheinungen des Absoluten. Auf sie bezieht sich die mystische Erfahrung 85 . Wir untersuchen im folgenden die Eigenarten der äußeren, inneren und mystischen Erfahrung bei Solov'ev und ihr Verhältnis zueinander in ihren unterschiedlichen Erkenntnisfunktionen.
1. Außere
Erfahrung
Außere Erfahrung (vnesnij opyt) definiert Solov'ev als die Erfahrung, die wir mit unmittelbarer Hilfe unserer Sinnesorgane machen 86 , mit Hilfe des „gewöhnlichen Bewußtseins" 87 , das in den Empfindungen der äußeren Sinne Zeichen eines äußeren, vom Empfindenden unterschiedenen Seins erblickt 88 . Die äußere Erfahrung ist Sinneserfahrung (cuvstvennyj opyt) 89 . An manchen Stellen nennt Solov'ev sie „reale Erfahrung" (real'nyj opyt) 9 0 , weil sie die mit den Sinnesorganen erfahrenen Erscheinungen mit Hilfe der apriorischen Formen des Verstandes als äußere Objekte erkennt 91 und die äußere Realität der sinnlich erfahrenen Objekte aufweist 92 . Die so erfahrene äußere Realität kann sich aber nach Solov'ev auch als nichts weiter als unsere trügerische Vorstellung erweisen 93 , wenn wir sie mit Hilfe der inneren und mystischen Erfahrung und des logischen Denkens überprüfen. Dennoch, für 82 83 86 88 91
R R N O III, 273; vgl. L. Müller, System, S. 1 9 - 2 4 . 8 4 K Z F I . 45 . F N C Z 1,287. Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 ( = DG VI, 398). 8 9 K O N II, 236. 334. 345. K O N II, 344. 9 2 K O N II, 220. K Z F I , 71.
F N C Z 1 , 3 2 1 und 3 1 2 - 3 1 4 . F N C Z 1,293. *> K O N II, 232f. 287. "KZFI.72.
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87
137
sich g e n o m m e n ist die äußere E r f a h r u n g die E r f a h r u n g im Sinne des E m p i r i s m u s , die S o l o v ' e v i m m e r einfach als „ E r f a h r u n g " o h n e qualifizierendes A t t r i b u t bezeichnet und die f ü r ihn die G r u n d l a g e aller E r k e n n t n i s ist. D a h e r nennt S o l o v ' e v die äußere E r f a h r u n g auch die „ E r f a h r u n g im eigentlichen S i n n " (expérience p r o p r e ) 9 4 . Erkenntnis kommt für Solov'ev nie ohne äußere Erfahrung zustande. Unbestritten scheint äußere Erfahrung zunächst die Beobachtung der äußeren Welt zu sein 9 5 , ihr Erkenntnisbereich die Materie 96 . Für den Sensualismus gibt die sinnliche Erfahrung den grundlegenen Inhalt unseres Wissens und enthält die ganze erkennbare Wirklichkeit in sich. Die sinnliche Erfahrung wird hier zum Maßstab aller Erkenntnis der Wahrheit 97 . Außerhalb ihrer kann für den Sensualismus nichts erkannt werden. Diese Verabsolutierung der äußeren Erfahrung ist im Empirismus teilweise überwunden. Er bleibt nicht bei Einzelbeobachtungen der äußeren Erfahrung stehen wie der Sensualismus, sondern verallgemeinert die Ergebnisse einzelner unmittelbarer äußerer Erfahrungen mittels des Verstandes zu empirischen Gesetzen 9 8 . Hier ist in der Erkenntnis der äußeren Welt ein gewisses spekulatives Element enthalten, wenn es auch den Bereich der äußeren Erfahrung nicht zu allgemeingültigen, logisch notwendigen Gesetzen hin transzendiert, sondern die äußere Erfahrung nur sammelt und ordnet und nur Abwandlungenn äußerer Erscheinungen erkennt 99 . Da die Wahrheit aber allgemein und notwendig sein muß, ist der Empirismus für Solov'ev eine ungenügende erkenntnistheoretische Position. Denn der Empirismus sondert die äußere Erfahrung künstlich von der inneren Erfahrung und dem vernünftigen Denken des Menschen ab, unterwirft die Vernunft ganz der äußeren Erfahrung 1 0 0 und erhebt damit die äußere Erfahrung zu einem abstrakten, für ihn allein gültigen Erkenntnisprinzip 1 0 1 . Mit dieser Kritik lehnt Solov'ev aber die äußere Erfahrung nicht völlig ab. Sie bleibt für ihn die materielle Grundlage aller Erkenntnis der Wahrheit. Als kritischer Realist fragt Solov'ev mit dem Positivismus, ob die äußere Erfahrung denn überhaupt die Wirklichkeit der äußeren Welt erkennen kann. Bei dieser Frage unterscheidet Solov'ev zwischen der äußeren Realität (real'nost'), die durch die äußere Erfahrung erkannt wird, aber kritisch-realistisch betrachtet nichts weiter als eine Erscheinung (javlenie) im wahrnehmenden Bewußtsein des Menschen ist 1 0 2 , und der eigentlichen Wirklichkeit (dejstvitel'nost') des wahrhaft Existierenden 103 . Realität ist die faktische, sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit. Für den kritischen Realismus, den Solov'ev vertritt, ist die äußere Realität aber nur eine Erscheinung in unserem durch äußere Erfahrung empfindenden Bewußtsein. Die äußere Erfahrung selbst ist deswegen für Solov'ev nicht Anzeiger der Wirklichkeit der äußeren Welt wie für den Sensualismus und den Empirismus, sondern im Gegenteil Hervorbringer der Dinge (proizvoditel' vescej) beziehungsweise ihrer Erscheinungen im Bewußtsein 1 0 4 . Das, was die in der äußeren Erfahrung gegebenen Dinge wirklich sind, die Wirklichkeit als das wahrhaft Seiende (dejstvitel'no, istinno suscee) 1 0 5 , kann nach Solov'ev in
94 96 100 102 104
138
95 FNCZ I, 259. LS, FS, 39. 42; vgl. KON II, 265 („opyt ν tesnom smysle"). 97 KON II, 241. 98 KON II, 255. 99 FNCZ 1,294. FNCZ 1,294 . 361. 101 FNCZ 1,294; KON II, 268 f. KZF1,33. 103 KZF I, 72; FNCZ 1,405; KON II, 252. 300. KZF I, 72; KON II, 220 . 23 3 . 23 8. KON II, 236. ">5 KZF I, 72; FNCZ 1,307; KON II, 307.
der äußeren E r f a h r u n g allein nicht e r k a n n t w e r d e n . D e n n die d u r c h äußere E r f a h r u n g e r k a n n t e , sinnlich w a h r g e n o m m e n e Realität liegt als äußerlicher, materieller u n d trügerischer Schleier vor der eigentlichen Wirklichkeit, die n u r der inneren E r f a h r u n g zugänglich ist 1 0 6 . U n d so teilt die äußere E r f a h r u n g , w e n n sie v o n der inneren E r f a h r u n g isoliert ist, letztlich n u r Schein, aber keine w a h r h a f t i g e E r k e n n t n i s mit107. Wir sagten, Solov'ev sei kritischer Realist. E r selbst bezeichnet seine Position als „ p h ä n o m e n a l e n R e a l i s m u s " 1 0 8 . Er folgt d e m Positivismus in seiner Kritik am Sensualismus u n d E m p i r i s m u s d u r c h den A n s a t z der E r k e n n t n i s im menschlichen B e w u ß t sein u n d seinen d u r c h E r f a h r u n g g e w o n n e n e n E r s c h e i n u n g e n . Mit Mill bezeichnet er alle E r s c h e i n u n g e n als b l o ß e Z u s t ä n d e sinnlicher W a h r n e h m u n g 1 0 9 . A b e r deswegen ist Solov'ev noch kein Positivist im Sinne Mills, d e n n er hält daran fest, daß die Wahrheit als allgemein u n d n o t w e n d i g zu e r k e n n e n sein m u ß . E r ist andererseits kein Rationalist. D e n n der Rationalismus findet z w a r absolut n o t w e n d i g e u n d allgemeine Wahrheiten d u r c h die systematisch-logische Spekulation geistiger P r i n z i p i e n 1 1 0 , stellt diese aber mit d e r Welt der E r s c h e i n u n g e n des Bewußtseins, die d u r c h E r f a h r u n g g e w o n n e n w e r d e n , in keine organische V e r b i n d u n g . Solch einen D u a l i s m u s von E r s c h e i n u n g e n u n d Sein an sich, der f ü r Solov'ev das Resultat s o w o h l des Positivism u s als auch des Rationalismus ist, vermeidet er d u r c h seine Lehre v o m ganzheitlichen Wissen (cel'noe znanie) 1 1 1 .
Im Rahmen des ganzheitlichen Wissens behält die äußere Erfahrung bei Solov'ev eine wichtige, unentbehrliche Funktion. Sie ist in ihrer Erkenntnisfunktion weder verabsolutiert wie im Sensualismus oder Empirismus noch relativiert wie im Positivismus oder gänzlich mißachtet wie im Rationalismus. Die äußere Erfahrung ist in ihrer Vielfalt für Solov'ev die zeitliche Voraussetzung für alles logische Denken 1 1 2 , und beide zusammen können erst Wahrheit und Wirklichkeit erkennnen. Ohne äußere Erfahrung kommt keine Erkenntnis der Wirklichkeit zustande. Sie bleibt immer die materielle Grundlage der Erkenntnis.
2. Innere
Erfahrung
Das Maß der Beteiligung der äußeren Sinne an der Erfahrung ist für Solov'ev das einzige unterscheidende Merkmal zwischen äußerer und innerer Erfahrung. Innere Erfahrung ist diejenige, an der die Sinnesorgane nicht in bestimmender Weise teilnehmen 113 . Diese Definition Solov'evs macht durch sich selbst deutlich, daß eine völlige Abgrenzung zwischen äußerer und innerer Erfahrung unmöglich ist. Wir sahen schon, daß Solov'ev die Erkenntnistheorie des Positivismus insoweit übernahm, daß er alle Erfahrung ohne Ausnahme zunächst als innere Bewußtseinszustände des Erfahrenden 106 110 113
107 108 KZF 1, 72. KON II, 232. KON II, 236. 111 K O N II, 276. KZF 1,68; FNCZI,286f. Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 (= DG VI, 398).
109
KZF1,66f. "2KONII,344.
139
definiert. Alles Erfahren ist in dieser Betrachtungsweise nur die Empfindung des erfahrenden Subjekts 1 1 4 und die Erfahrungsgegenstände sind nur Phänomene des inneren, psychischen Zustands des Erfahrenden 1 1 5 . Von dieser Sichtweise her ist der Ausdruck „äußere Erfahrung" eine contradictio in adiecto 1 1 6 . Alle Erfahrung ist so gesehen innere Erfahrung, nämlich Tatsache des eigenen inneren Bewußtseins 1 1 7 ; allerdings eine innere Erfahrung, die wiederum untrennbar mit der „äußeren Erfahrung" verbunden ist, da wir die Empfindungen unserer äußeren Sinne aus unseren inneren Bewußtseinszuständen gar nicht ausschließen können 1 1 8 . Äußere Erfahrung ist also innere Erfahrung im weiten Sinn, während innere Erfahrung im engen Sinn das ist, was wir unter möglichst weitgehendem Ausschluß der sinnlichen Empfindungen erfahren 1 1 9 . Steht hinter der äußeren Erfahrung immer die erkenntnistheoretische Frage nach der Existenz des Erfahrenen außerhalb von uns, so ist innere Erfahrung zunächst nur das „reine Bewußsein", soweit das eben ohne entscheidende Mitwirkung der äußeren Sinne möglich ist. Descartes und der gesamte neuzeitliche Rationalismus sind in ihrer Erkenntnistheorie von diesem „reinen Bewußtsein" ausgegangen 1 2 0 . Solov'ev nennt die innere Erfahrung wegen ihres weitgehenden Ausschlusses des Mediums der äußeren Sinne auch unmittelbare Erfahrung (expérience immédiate) 1 2 1 . Die umfassende Bezeichnung für die innere Erfahrung ist bei Solov'ev „psychische Erfahrung (psichiceskij opyt 1 2 2 oder dusevnyj opyt 1 2 3 ). Denn alle inneren Bewußtseinszustände sind psychische Zustände.
2.1 Der Inhalt der inneren
Erfahrung
Die psychischen Zustände teilt Solov'ev in drei Gruppen ein und gibt damit die drei möglichen Bereiche innerer Erfahrung an. Er unterscheidet einen gefühlsmäßigen seelischen Bereich, einen Bereich der willensmäßigen Entscheidungen und einen Bereich des verstandesmäßigen Denkens. Die Bezeichnungen Solov'evs für diese drei Bereiche variieren leicht. Er nennt sie die drei Bereiche des Gefühls (cuvstvo), des Willens (volja) und der Vorstellung (predstavlenie) 1 2 4 oder die Bereiche der seelischen Erregungen (dusevnye volnenija), Willensentscheidungen (resenija voli) und des Nachdenkens (razmyslenie) 1 2 5 oder die Bereiche der Phantasien und Gefühle (fantazii, sentiments), der Wünsche (zelanija, désirs) und der Gedanken (mysli, pensées) 1 2 6 .
114 115 116 118 122 124 125 126
140
KZF I, 187-189; K O N II, 266, Anm. 96 und S. 268. 285. 290; CB III, 33. FNCZ1,299 f. 1 1 7 LS, FS, 39. FNCZ I, 312; Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 (= DG VI, 398). 119 K O N II, 240. 120 TFIX, 113. 1 2 1 LS, FS, 42. TFIX, 122. 123 IS IX, 269. K O N II, 218 ; OD VIII, 122. FNCZ 1,256; CB III, 104. Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 (= DG VI, 398). LS, FS, 39; F N C Z 1,256; K O N II, 240.
Der Inhalt des ersten, gefühlsmäßigen Bereichs der inneren Erfahrung umfaßt nicht nur seelische Grundgefühle wie Freude und Trauer, Mut und Angst, sondern auch außerordentliche psychische Phänomene, zu denen Solov'ev bedeutsame Träume, Vorahnungen und Zustände des Hellsehens zählt - seelische Zustände, die die Kategorien Raum und Zeit sprengen und in den Bereich des religiösen Bewußtseins und der religiösen Erfahrung überleiten 1 2 7 . An anderer Stelle bezeichnet sie Solov'ev auch als mystische Erfahrungen. Die Grenze zwischen innerer und mystischer Erfahrung ist also ebenfalls fließend. Zum Inhalt des Gefühlsbereichs der inneren Erfahrung gehören außerdem alle sittlichen Gefühle. Die drei sittlichen Grundgefühle (osnovnye nravstvennye cuvstva) Scham, Mitleid und Ehrfurcht bilden nach Solov'ev die Grundlage der gesamten Moral 1 2 8 . Die Erkenntnis sittlicher Normen nimmt nach Solov'ev ihren Ausgang in diesem Gefühlsbereich der inneren Erfahrung. - Der Inhalt des zweiten Bereichs sind Erfahrungen des „sittlichen Genusses" oder der sittlichen Genugtuung, die sich unmittelbar auf den Willen des Menschen beziehen 1 2 9 . Der Wille unterscheidet sich vom Gefühl wie vom Nachdenken dadurch, daß er zu eigenständigen Akten der Entscheidung kommt 1 3 0 - Entscheidungen, die, verbunden mit, aber doch unabhängig von Fühlen und Nachdenken 1 3 1 , aus verschiedenen praktischen Bestrebungen auswählen 1 3 2 und so zu „Erfahrungen sittlichen Genusses" führen. Den konkreten Inhalt dieses Willensbereichs bilden einerseits die Betrebungen und Genüsse der Selbstbehauptung und des Egoismus (wie Stolz, Geltungssucht, Machtliebe), andererseits die allein wirklich sittlichen Bestrebungen und Genüsse der Selbsthingabe und des Altruismus (wie Demut, Bescheidenheit, selbstlose Hilfe für andere). - Der Bereich des Nachdenkens oder der Vorstellungen gehört deswegen als ein dritter Bereich zur inneren Erfahrung, weil die Vorstellung für Solov'ev zunächst nichts weiter als die gedankliche Verarbeitung von unmittelbaren Daten und Fakten der äußeren und inneren Erfahrung ist. Die Vorstellung erreicht je nach Art der Erfahrung verschiedene Grade der Objektivation und Abstraktion der Fakten der Erfahrung 1 3 3 . Jedenfalls bleibt alles Denken ein Vernunftschluß aus ursprünglicher Erfahrung (vyvod iz fakta) 1 3 4 . Aufgrund der inneren Erfahrung kommt das Denken zu den Grunderkenntnissen der Philosophie und Moral, zu den Vorstellungen darüber, was das Wahre und das Gute ist 1 3 5 . Der Inhalt der inneren Erfahrung umfaßt demnach das gesamte Fühlen, Wollen und Denken des Menschen. W i r halten fest, daß Solov'ev auch Vorstellen und Denken des Menschen mit der inneren Erfahrung verbindet. Eine völlige Trennung v o n Erfahrung und abstraktem Denken gibt es bei Solov'ev nicht. Dies w i r d auch klar, w e n n w i r nach dem Organ oder dem O r t der inneren Erfahrung im Menschen fragen. Die äußere Erfahrung hat ihren eindeutigen O r t in den Sinnesorganen des Menschen. Die innere Erfahrung hat ihren O r t sowohl in der Seele (dusa) als auch im Verstand (um) des Menschen. Sie ist nicht an einen bestimmten inneren O r t gebunden, sondern erfaßt das gesamte innere Erfahrungs- und Erkenntnispotential des Menschen. Solov'ev schließt sich seinem Lehrer Jurkevic an und sieht das Herz,
127 130 134
FTJu 1, 183. CB III, 133. OD VIII, 70.
K O N II, 19; OD VIII, 122. 1 3 2 K O N II, 76. KZF 1, 74. "s FNCZ I, 363; O D VIII, 2 2 f . ; T F IX, 147.
128
129
131
133
K O N II, 19f. CB III, 105.
141
den Mittelpunkt aller seelischen und Mittelpunkt der vielfältigen inneren empfindet der einzelne auch selbst, nichts von Seele und Verstand, wohl
2.2 Die Erkenntnisfunktion
geistigen Kräfte des Menschen, auch als Erfahrungen des Menschen an 136 . Dies denn die innere Erfahrung spürt zwar aber etwas vom Herzen 1 3 7 .
der inneren
Erfahrung
2.21 Die Erkenntnislehre Solov'evs bis 1876: Metaphysische Erkenntnis durch innere Erfahrung Die eigentliche Wirklichkeit, das wahrhaft Seiende, so behauptet Solov'ev in seinen Frühschriften bis 1876, ist nur der inneren Erfahrung zugänglich und wird nur durch sie erkennbar 138 . Daß die eigentliche Wirklichkeit für die äußere Erfahrung verborgen bleibt, leuchtet ein, wenn das Material der äußeren Erfahrung nichts weiter ist als Erscheinungen des sinnlich wahrnehmenden Bewußtseins. Wieso aber können wir durch innere Erfahrung die hinter den Erscheinungen liegende Wirklichkeit erkennen, wenn doch das Material der inneren Erfahrung ebenfalls nur Erscheinungen sind, freilich innere, psychische Erscheinungen? Die Unterscheidung von Erscheinung (javlenie) und dem dahinter liegenden Erscheinenden (javljajusceesja) allein löst die Frage nicht, denn es geht ja um die Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit des hinter den Erscheinungen liegenden Erscheinenden, dem wirklich Seienden, und nicht um die bloße Behauptung seiner Existenz 139 . Als Lösung der Frage nennt Solov'ev eine nicht weiter begründete Voraussetzung für die Erkenntnis des wahrhaft Seienden. Innerhalb der Erscheinungen, die der Mensch in seinem sinnlich und nichtsinnlich wahrnehmenden Bewußtsein vorfindet, muß ein entscheidender Unterschied zwischen zwei Aspekten jeder Erscheinung gemacht werden: Die Erscheinung eines Erkenntnisobjekts ist zugleich Phänomen (javlenie) eines in seiner Existenz nicht erkennbaren äußeren Objekts und Bekundung (projavlenie) eines selbständig Seienden (samobytno suscee) oder wirklich Seienden (dejstvitel'no suscee), das hinter dieser Bekundung und durch sie erkannt wird. In unserer äußeren Erfahrung erkennen wir nur die Phänomene äußerer Objekte, die nur Phänomene unseres Bewußtseins sind. In unserer inneren Erfahrung dagegen erkennen wir die Bekundung des wirklich Seienden unmittelbar 140 . Dennoch ist auch diese Erkenntnis, die wir inhaltlich als metaphysische Erkenntnis bezeichnen können, formal gesehen nichts anderes als Erkenntnis, die auf der Wahrnehmung von Erscheinungen des Bewußtseins beruht. Solov'ev hat damit eine Möglichkeit gefunden, einerseits mit den Positivisten in der Erkenntnislehre bei den Erfahrungen des Menschen als Erscheinungen seines 136 139
142
FTJu 1 , 1 7 3 . 1 7 8 f . KZF 1,70.
137 140
D O ¿ III, 325; vgl. TR X, 197. KZF 1,70 f.
138
K Z F I , 72.128.
Bewußtseins anzusetzen und andererseits doch zu metaphysischen Ergebnissen der Erfahrung zu kommen.
2.21.1
Die Unterscheidung
„javlenie " - „projavlenie "
M a c h e n w i r uns z u r V e r d e u t l i c h u n g der P o s i t i o n S o l o v ' e v s z w i s c h e n Positivismus u n d m e t a p h y s i s c h e m Idealismus den w i c h t i g e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n P h ä n o m e n (javlenie) u n d B e k u n d u n g (projavlenie) innerhalb dessen, was S o l o v ' e v allgemein E r s c h e i n u n g (javlenie) n e n n t , klar. S o l o v ' e v steht in seinem G e b r a u c h des W o r t e s „ P h ä n o m e n " (javlenie) stets auf d e m B o d e n des Positivismus. M i t Mill definiert er „javlenie" als Z u s t a n d unseres B e w u ß t s e i n s , genauer u n s e r e r sinnlichen W a h r n e h m u n g 1 4 1 . D a b e i ist ein äußeres P h ä n o m e n für S o l o v ' e v keine u n m i t t e l b a r e , s o n d e r n eine s e k u n d ä r e E r s c h e i n u n g ( v t o r i c n o e j a v l e n i e ) 1 4 2 , deren n o t w e n d i g e E x i s t e n z b e dingung, d a m i t sie ü b e r h a u p t für uns z u m P h ä n o m e n w i r d , die b e g r e n z t e n E i g e n schaften u n s e r e r ä u ß e r e n Sinne u n d die a p r i o r i s c h e n V e r s t a n d e s k a t e g o r i e n u n d logischen B e z i e h u n g e n sind, w i e K a n t gezeigt h a t 1 4 3 . M i t dieser D e f i n i t i o n w i r d „ P h ä n o m e n " z u m S y n o n y m für das, was e r k e n n b a r ist: „ P h ä n o m e n " b e d e u t e t das Sein eines G e g e n s t a n d e s für einen a n d e r e n 1 4 4 , seine B e z i e h u n g z u m a n d e r e n Sein, in d e r es e r k a n n t w e r d e n k a n n 1 4 5 . D a s P h ä n o m e n eines z u e r k e n n e n d e n G e g e n s t a n d e s ist im G r u n d e das gleiche w i e die Vorstellung v o n e i n e m E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d 1 4 6 . - A u f der anderen Seite k a n n eine E r s c h e i n u n g des m e n s c h l i c h e n B e w u ß t s e i n s die B e k u n d u n g (projavlenie) des w i r k l i c h Seienden sein, e r k a n n t d u r c h die innere E r f a h r u n g im F ü h l e n , W o l l e n u n d D e n k e n des M e n s c h e n . W ö r t l i c h heißt „ p r o j a v l e n i e "
„Durch-
s c h e i n e n " 1 4 7 . M a n k a n n diese Variation des Begriffs „ E r s c h e i n u n g " a b e r im D e u t -
141
K Z F 1, 67.
142
K Z F 1,71.
145
LS, FS, 7.33.
146
D V M 1,219.
143
K Z F 1,131.
144
K Z F 1,71.
1 4 7 D e r Unterschied zwischen „javlenie" und „projavlenie" wird in der Deutschen Gesamtausgabe der Werke Solov'evs nicht deutlich. Meist wird beides einheitlich mit „Erscheinung" übersetzt; einmal wird „projavlenie" genauer mit „In-Erscheinung-Treten" übersetzt ( K O N II, 13 = D G I, 33, Ubersetzung von H.Jaspers). Der Unterschied zwischen „javlenie" und „projavlenie" ist allerdings auch nur in Solov'evs Schriften bis 1876 erkenntnistheoretisch so bedeutsam, daß er sprachlich in der Übersetzung Ausdruck finden sollte. Gerade diese Schriften fanden aber keine Aufnahme in der Deutschen Gesamtausgabe. - Auf den Unterschied zwischen „javlenie" und „projavlenie" in den Frühschriften Solov'evs hat R. Meier in seiner Dissertation hingewiesen. E r schlägt die wörtliche Übersetzung „Durch-Scheinen" vor (R. Meier, Abstrakte Prinzipien, S. 4). Meiers These, die Unterscheidung zwischen „javlenie" und „projavlenie" ermögliche Solov'ev erst die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Erfahrung und damit zwischen äußerer Erkenntnis und innerer, wirklicher Erkenntnis der Wahrheit (R. Meier, Abstrakte Prinzipien, S. 28), können wir aber nicht zustimmen. Dem widerspricht die Tatsache, daß diese Unterscheidung innerhalb dessen, was Erscheinung genannt wird, später für Solov'ev zweitrangig wird und nicht mehr konsequent weiter durchgeführt wird. Vgl. dazu z. B. F N C Z I, 313, wo von „mystischen Phänomenen" (misticeskie javlenija) die Rede ist anstatt der zu erwartenden „mystischen Bekundungen" (projavlenija). Vgl. ebenso den Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 241 ( = D G V I , 339), in dem Solov'ev dem Phänomen (javlenie) die Eigenschaft zuschreibt, sein Wesen enthüllen zu können (obnaruzivat'), was bei konsequenter Anwendung des Unterschiedes zwischen „javlenie" und „projavlenie" gerade die Eigenschaft des „projavlenie" wäre. Meiers These wird auch nicht der Tatsache gerecht, daß Solov'ev seine Erkenntnis-
143
sehen auch mit „Transparenz", „Hervortreten" oder eben mit „Bekundung" und „Verkündigung" übersetzen. Dem entspricht Solov'evs eigene Übersetzung von „projavlenie" in seiner französischen Schrift „La Sophia" mit „apparition" und „manifestation" 1 4 8 . Das „projavlenie" vermindert oder erschöpft nicht das sich darin bekundende wahrhaft Seiende, sondern entwickelt und bestätigt es in unserer Welt der Erscheinungen 1 4 9 . So ist der gesamte sich entwickelnde materielle Kosmos eine Bekundung des dahinter wirkenden metaphysischen Wesens (projavlenie metafiziceskoj susenosti) 1 5 0 . So sind zum Beispiel auch die vielfältigen heidnischen Götter nur die sich historisch entwickelnden Bekundungen des einen Gottes 1 5 1 . Der Begriff „projavlenie" als Hervortreten des Metaphysischen in die Welt der Erscheinungen und als dessen Bekundung in dieser Welt ist bei Solov'ev also dem theologischen Begriff „otkrovenie" (Offenbarung) im christlichen Verständnis der Offenbarung Gottes als seiner Selbstbekundung und seines Hervortretens als Logos in diese Welt ganz nahe. Wie das „projavlenie" des metaphysischen wahrhaft Seienden durch die innere Erfahrung des Menschen erkannt wird, so auch die Offenbarung Gottes durch die religiöse Erfahrung. In der Tat bezeichnet Solov'ev die Bekundung (projavlenie) des wirklich Seienden als dessen Offenbarung oder Enthüllung (obnaruzenie), als Ausdruck, Wort oder Logos dessen, der sich bekundet 1 5 2 . Es stellt sich heraus: Innerweltliches Phänomen (javlenie) und Bekundung oder Offenbarung metaphysischer Wirklichkeit (projavlenie) sind nur zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Erscheinung, die wir durch die äußere Erfahrung als äußeres Phänomen, durch die innere Erfahrung aber als Bekundung des wirklich Seienden erkennen. Wir können also von einer doppelten Seinsweise der Erscheinungen sprechen. Sie sind zugleich innerweltliche Phänomene und metaphysische Bekundungen. Die Phänomenalität der Welt (fenomenal'nost') widerspricht nicht ihrer selbständigen und wirklichen Existenz (samobytnost') 1 5 3 , sondern die Wirklichkeit der Welt verhält sich zu ihrer Phänomenalität wie das zugrundeliegende Subjekt (ΰποκείμενον) zu seinem Prädikat 1 5 4 . D u r c h die innere E r f a h r u n g erkennt der M e n s c h in den P h ä n o m e n e n seines Bewußtseins die B e k u n d u n g des wirklich Seienden. Dies ist die E r kenntnisfunktion der inneren E r f a h r u n g in den Frühschriften Solov'evs bis theorie immer in der Erfahrung des Menschen ihre phänomenale Grundlage haben läßt. Es scheint sich bei Solov'ev umgekehrt zu verhalten: Die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Erfahrung, die in den Frühschriften Solov'evs bis 1876 die einzige erkenntnistheoretisch bedeutsame Unterscheidung innerhalb des Erfahrungsbegriffs ist, bedingt die weitere U n t e r scheidung zwischen „javlenie" und „projavlenie". Sobald noch die Unterscheidung einer besonderen mystischen Erfahrung ab 1877 in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" bei Solov'ev dazukommt, wird die Unterscheidung innerhalb des Begriffs „Erscheinung" erkenntnistheroretisch zweitrangig und wird von Solov'ev auch nur noch an manchen Stellen durchgeführt. E r spricht stattdessen meist nur noch vom Phänomen (javlenie), dessen Wesen (susenost') durch die mystische Erfahrung unmittelbar erkannt wird. 148
LS, FS, 7 . 2 3 . 33.
LS, FS, 23. Vgl. K Z F I, 5 6 : Die Idee der Erscheinung als der Selbstbekundung des sich so entwickelnden Absoluten findet Solov'ev beim späten Schelling und nimmt sie von ihm auf. 150 DVM 1,225. 1S1 M P D J a I , 6 . 1 5 2 F N C Z 1, 3 5 7. 153 DVM 1,219. 154 F N C 2 1 , 361. Vgl. K Z F I, 5 6 : Auch Schelling sieht das Erscheinende als das zugrundeliegende Subjekt (ύποκείμενον) der Phänomene, und zwar als Subjekt auch der Entwicklung der phänomenalen Welt. 149
144
1876. Das durch die innere Erfahrung als Bekundung der Wirklichkeit Erkannte nennt Solov'ev in dieser Zeit auch die Vielzahl metaphysischer, außerweltlicher Wesen (Ideen) 1 5 5 , das Absolute oder das metaphysische Wesen (metafiziceskaja suscnost' und metafiziceskoe suscestvo) der Dinge oder schließlich auch zusammenfassend das Urprinzip allen Seins (pervonacalo) 1 5 6 . Den Inhalt der Erkenntnis durch innere Erfahrung hat Solov'ev in seinen Frühschriften damit auf die gesamte metaphysische Welt ausgeweitet, auf einen Kosmos metaphysischer Ideen und Wesen und letztlich auf Gott selbst. Die Bekundungen der metaphysischen Welt treten aus dem Urprinzip, aus Gott, hervor - aus dem Prinzip, das die Unterscheidung „javlenie" - „projavlenie" und „äußere" - „innere Erfahrung" und damit Solov'evs erkenntnistheoretische Mittelstellung zwischen Positivismus und metaphysischem Idealismus überhaupt erst ermöglicht hat. Der Ansatz der Erkenntnistheorie Solov'evs in seinen Frühschriften scheint uns daher nur formal bei der Erfahrung des Menschen und ihrer Unterscheidung in äußere und innere Erfahrung zu liegen. Er ermöglicht Solov'ev wohl die doppelte Sicht der Bewußtseinserscheinungen als innerweltliche Phänomene und metaphysische Bekundungen und damit formal sein Verbleiben auf der positivistischen Position, daß alle Erscheinungen Bewußtseinszustände des Menschen sind. Aber inhaltlich muß Solov'ev doch eine metaphysische Theorie dessen, was sich als innere Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein bekundet, voraussetzen und entfalten. Sie steht jedenfalls hinter all den Aussagen über das, was sich in den „projavlenija" der inneren Erfahrung bekundet. Die einzige Möglichkeit, in seiner Erkenntnistheorie eine dogmatische Metaphysik nicht vorauszusetzen, besteht für Solov'ev darin, innerhalb des Bereichs der inneren Erfahrung, des Fühlens, Wollens und Denkens des Menschen, einen Punkt aufzuzeigen, an dem die Erkenntnis eines Phänomens als metaphysisches Wesen unmittelbar und über alle Zweifel erhaben evident ist.
2.21.2
Selbsterfahrung
und
Selbsterkenntnis
Eben dies tut Solov'ev in seiner kurzen Schrift „Uber die Wirklichkeit der äußeren Welt und die Begründung der metaphysischen Erkenntnis" (1875), in der er die Thesen seiner Magisterdissertation „Die Krise der westlichen Philosophie" gegen die Kritik der russischen Positivisten seiner Zeit verteidigt. Der Punkt der inneren Erfahrung, an dem zugleich phänomenale und metaphysische Erkenntnis unmittelbar evident sind, ist für Solov'ev das Ich. Im Akt der Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis erkenne ich nicht nur
155
LS, FS, 42.
is« DVM I, 225.
145
meine äußere, relative und p h ä n o m e n a l e Seite, s o n d e r n auch meine innere, selbständige u n d wesentliche Seite, mein eigenes wirkliches Sein. Ich erkenne unmittelbar mein Wesen (suscestvo) als erstes Faktum der Selbsterkenntnis (samopoznanie), weil ich selbst nicht nur ein Zustand meines Bewußtseins bin, nicht nur ein Objekt meiner äußeren und inneren Erfahrung, nicht nur Phänomen, sondern weil ich mich zugleich im Moment des Erfahrens als Subjekt meiner Erfahrungen erlebe und erkenne, weil ich ein Se/^sibewußtsein (samosoznanie) habe. Meiner Existenz als selbständiges Wesen mit einer eigenen inneren Wirklichkeit bin ich mir dadurch gewiß, daß ich ohne sie gar keine Erfahrungen und kein Bewußtsein haben würde. In meinem Ich ist die Einheit von Subjekt und Objekt unmittelbar gegeben, weil ich zugleich Subjekt und Objekt meines Bewußtseins bin. So erkenne ich mich zugleich als Phänomen (javlenie) und als metaphysisches Wesen (suscestvo) 1 5 7 . Ich gelange durch die innere Erfahrung des eigenen Ich zugleich zur äußeren, objekthaften Erkenntnis meiner selbst (predmetnoe poznanie) 1 5 8 und zur inneren, wesenhaften Erkenntnis meiner selbst (suscestvennoe poznanie) 1 5 9 . In dieser Argumentation Solov'evs ist unschwer das Erbe Descartes' zu erkennen, dessen „cogito, ergo sum" Solov'ev auf der positivistischen Grundlage der inneren Erfahrung der Bewußtseinszustände mit einer eigenen Begrifflichkeit erneuert. Das Resultat Solov'evs entspricht inhaltlich durchaus dem, was er selbst als dogmatischen Rationalismus zu bezeichnen pflegte: eine aus dem Begriff des Denkens und der Vernunft des Erkennenden entwickelte philosophische Metaphysik, in der das Denken des Menschen die Wirklichkeit der Dinge selbst erreicht 160 . Formal und erkenntnistheoretisch besteht allerdings zwischen dem dogmatischen Rationalismus etwa Descartes' und Solov'evs Argumentation ein großer Unterschied. Der dogmatische Rationalismus besteht für Solov'ev in der Gleichsetzung von vernünftigem Denken und wirklichem Sein 1 6 1 . Er selbst dagegen geht von der Gleichsetzung von Subjekt und Objekt der inneren Erfahrung in der Selbsterfahrung des Menschen aus. Dies ist keine Schlußfolgerung, sondern ein unmittelbares Erleben und deswegen auch eine unmittelbar evidente Erkenntnis. Aber diese Erkenntnis ist ebenfalls metaphysisch, und sie begnügt sich nicht mit der Feststellung der Wirklichkeit des eigenen Ich als eines selbständigen Wesens. Solov'ev wendet die innere Erfahrung des Menschen auf die Gegebenheiten der äußeren Welt an. In Analogie zur eigenen Selbsterkenntnis ist der Mensch nach Solov'ev überzeugt, daß auch die anderen Menschen die gleiche innere Wirklichkeit haben wie er selbst, also auch selbst eigenständige metaphysische Wesen sind und nicht nur Phänomene des Bewußtseins des Erkennenden. Solch eine analoge Erkenntnis über das Wesen anderer erstreckt sich nach Solov'ev dann auf alle beständigen und voneinander unabhängigen Bekundungen (projavlenija) der Wirklichkeit, also nicht nur auf andere Menschen, sondern auf alle beständigen und selbständigen Erscheinungen materieller und immaterieller Art, die im Bewußtsein des Menschen anzutreffen sind. Denn die logische Analogie fordert die Gleichartigkeit der sich bekundenden metaphysischen Wesen 162 . Durch logische Verknüpfung und Korrelation (sootnosenie) der Gegebenheiten der äußeren und inneren Erfah-
1 5 8 D V M 1 , 2 2 0. 159 D V M 1,221 f. DVM1,222. K O N II, 279. Vgl. K Z F I, 132f.: Als dogmatischen Rationalismus bezeichnet Solov'ev die philosophischen Systeme Descartes', Spinozas, Leibniz' und Wolffs. 1 6 1 K Z F 1,133. i « D V M 1,223 f. 160
146
r u n g gelangt S o l o v ' e v schließlich v o n d e r u n m i t t e l b a r e n G e w i ß h e i t d e r eigenen E x i s t e n z ü b e r die E r k e n n t n i s des selbständigen W e s e n s a n d e r e r M e n s c h e n u n d E r k e n n t n i s o b j e k t e bis z u r E r k e n n t n i s des einen m e t a p h y s i s c h e n W e s e n s u n d a b s o l u t e n U r p r i n z i p s des K o s m o s , z u r G o t t e s e r k e n n t n i s 1 6 3 .
Der archimedische Punkt der Erkenntnislehre Solov'evs ist bis hierher und noch im Jahr 1876 in seiner französischen Schrift „La Sophia" 1 6 4 die innere Erfahrung des Ich, durch die der Mensch sich zugleich als Phänomen seines Bewußtseins und als metaphysisches, wirklich und selbständig existierendes Wesen erkennt. Die unmittelbare Erkenntnis des eigenen selbständigen Seins und Wesens des Ich oder der Substantialität des I c h 1 6 5 in der inneren Erfahrung des Menschen ist die Grundlage aller metaphysischen Erkenntnis. Die metaphysische Erkenntnis beginnt immer bei der inneren Erfahrung des Menschen. Die Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung reicht in die eigentliche und metaphysische Wirklichkeit bis zur Gotteserkenntnis.
2.22 Die Erkenntnislehre Solov'evs seit 1877: Phänomenale Erkenntnis durch innere Erfahrung Die entscheidende Rolle für die metaphysische Wesenserkenntnis spielt die innere Erfahrung seit 1877 nie mehr in den Schriften Solov'evs, weder in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877) und den weiteren Werken der mittleren Schaffensperiode Solov'evs noch in seinen späten Werken, zumal in der die Erkenntnistheorie wieder aufnehmenden „Theoretischen Philosophie" (1897-1899). In den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" und in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" bezieht sich die innere Erfahrung nur noch auf Fakten unseres subjektiven inneren Bewußtseins, ohne daraus unmittelbares Wissen über die Substantialität oder das selbständige und wahrhafte Sein des Menschen zu erlangen 1 6 6 . Die Erscheinungen unseres subjektiven Bewußtseins sind nun für Solov'ev nichts weiter als Phänomene unserer eigenen subjektiven psychischen Natur 1 6 7 , es sind unsere Vorstellungen 1 6 8 , unsere Phantasien, Wünsche und Gedanken 1 6 9 . Die innere Erfahrung reduziert sich, verglichen mit den Frühschriften Solov'evs, auf die psychischen Zustände Fühlen, Wollen und Denken und die durch sie gewonnene Erkenntnis auf die Feststellung, daß das Ich alle diese inneren Erfahrungen sammelt und verarbeitet. In der „Theoretischen Philosophie" wird die innere Erfahrung von Solov'ev als 163
D V M
J ; 226.
LS, FS, 42.
K O N II, 13. 210; T F I X , 113. 155. 163: Solov'ev definiert „Substanz" als das „selbständig Existierende", das „im eigentlichen Sinn und wahrhaft Existierende" oder als „wahrhaftes, metaphysisches Subjekt". 1 6 6 F N C Z I , 3 1 2 f . ; K O N I I , 290. 167 F N C Z 1 , 3 1 2 . 1 6 8 K O N II, 218. 1 6 9 K O N II, 240. 165
147
reines Bewußtsein (cistoe soznanie) und als Selbstgewißheit des persönlichen Bewußtseins bezeichnet 170 . Die innere Erfahrung führt hier nur zum Wissen um das Vorhandensein des eigenen Bewußtseins als empirisches und logisches Subjekt aller inneren Erfahrung und ihrer Erscheinungen. An anderer Stelle seines Spätwerks nennt Solov'ev als Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung die Möglichkeit, durch sie die Selbsttätigkeit des Ich zu erkennen, das heißt die Fähigkeit des Menschen, nach eigenen inneren Antrieben selbständig zu fühlen, zu wollen, zu denken und zu handeln 171 . Das ist ein faktisches Ergebnis der „psychischen Erfahrung" (dusevnyj opyt) 1 7 2 , das aber keinerlei metaphysische Fragen beantwortet. Die metaphysischen Fragen nach dem eigenen wirklichen Sein, dem Sein aller Dinge und dem letzten Prinzip des Kosmos werden seit 1877 von Solov'ev durch „mystische Erfahrung" (misticeskij opyt) beantwortet, durch die wir mystische Erscheinungen und das wirklich und wahrhaft Seiende erkennen 173 . Er nennt sie auch „wahrhafte Erfahrung" (istinnyj opyt), durch die wir das letzte Prinzip der Welt, die seiende All-Einheit, erkennen 174 , und schließlich „religiöse Erfahrung" (religioznyj opyt), durch die wir dieses letzte Prinzip als Gott erkennen 175 . Die wahrhaften, mystischen oder religiösen Erfahrungen sind Erfahrungen besonderer Art, die von äußerer und innerer Erfahrung deutlich unterschieden sind und eng mit dem Glauben verbunden sind, ohne den auch sie nicht zu metaphysischer Erkenntnis führen. Daß Solov'ev seit 1877 die mit dem Glauben verbundene mystische und religiöse Erfahrung der metaphysischen Erkenntnis zuordnet und nicht mehr wie vorher die innere Erfahrung, hängt mit dem Wandel seiner Erkenntnislehre zwischen 1876 und 1877 in zwei anderen Punkten zusammen, auf die wir eingehen müssen, um die reduzierte Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung bei Solov'ev seit 1877 zu verstehen.
2.22.1 Die Mittel der
Erkenntnis
Der eine Punkt der Wandlung des Denkens Solov'evs betrifft die Mittel der menschlichen Erkenntnis. In seinen Schriften bis 1876 nannte Solov'ev drei: die äußere Erfahrung, durch die wir die äußere Realität des Seins erkennen (eine rein phänomenale Erkenntnis); die innere Erfahrung, durch die wir die wesenhafte Wirklichkeit des eigenen subjektiven Seins erkennen (eine metaphysische Erkenntnis); und das logisch-schlußfolgernde Denken (rassuzdenie oder logiceskoe poznanie), durch das wir die Gesetze des Seins erkennen (eine rein logische Erkenntnis) 1 7 6 . Aus dem Zusammenwirken aller drei ergab sich die metaphysische Erkenntnis der all-einen Wirklichkeit und ihres Urprinzips, das ist Gott. - In seinen Schriften seit 1877 geht
170 174
148
T F I X , 113. KON II, 288.
171 175
1 7 2 Ebd. IS IX, 269. CB III, 35; TF IX, 90.
173 176
FNCZI, 313f. 321. KZF1,128.
Solov'ev von einer anderen Dreiteilung der Mittel menschlicher Erkenntnis aus. Er bezeichnet Erfahrung, Denken und Glaube als die drei Hauptmittel der Erkenntnis. In den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" nennt Solov'ev als Erkenntnismittel zunächst: die Erfahrung (äußere, innere und mystische Erfahrung), die das Material aller Erkenntnis durch Phänomene gibt; das abstrakte Denken (otvlecennoe myslenie), das die Form aller Erkenntnis durch Begriffe gibt; und die intellektuelle Anschauung oder Intuition (umstvennoe sozercanie, intuicija), durch die wir die metaphysischen Ideen als universale Wahrheiten und das wirklich Seiende unmittelbar erkennen 1 7 7 . Später nennt Solov'ev diese drei Erkenntnismittel meist Erfahrung (opyt), Denken (myslenie) und Glaube (vera) 1 7 8 . Der Glaube ist die unmittelbare Uberzeugung von der Existenz des Wahren und Wirklichen unabhängig von Erfahrung und logischem Denken und damit die letzte Grundlage metaphysischer Erkenntnis 1 7 9 . Nur durch den Glauben (beziehungsweise durch die ihm entsprechende intellektuelle Anschauung) kann der Mensch um die Existenz seiner selbst als selbständig seiendes Wesen und um die Existenz aller anderen Erkenntnisobjekte, des ganzen Kosmos und Gottes als seines Urprinzips wissen. Weder Erfahrung noch logisches Denken können den Menschen die metaphysische Wirklichkeit erkennen lassen, auch nicht die mystische Erfahrung für sich genommen. D e r aufgezeigte Wandel in der B e n e n n u n g und Beschreibung der E r k e n n t nismittel ist die einzige entscheidende Ä n d e r u n g in Solov'evs E r k e n n t n i s theorie. Z w a r bleibt er seinem A n s a t z treu, daß keine Erkenntnis o h n e E r f a h r u n g möglich ist, und läßt weiterhin alle menschliche Erkenntnis bei der E r f a h r u n g beginnen, die ihr das Material jeglicher Erkenntnis liefert. Z u r Erkenntnis
der Wahrheit,
zur metaphysischen
Erkenntnis
kommt
der
M e n s c h aber durch keinerlei E r f a h r u n g m e h r allein, auch nicht durch die mystische oder durch die religiöse E r f a h r u n g allein, sondern nur durch das Z u s a m m e n w i r k e n von E r f a h r u n g , D e n k e n und Glauben. D e r entscheidende Wandel betrifft also die Erkenntnisfunktion der E r f a h r u n g . Sie führte in den Frühschriften Solov'evs als innere E r f a h r u n g des eigenen Bewußtseins unmittelbar z u r metaphysischen
Erkenntnis.
Seit 1 8 7 7 ist
metaphysische
Selbsterkenntnis des M e n s c h e n und jede weitere metaphysische Erkenntnis an den Glauben als eigenständiges Erkenntnismittel gebunden.
2 . 2 2 . 2 Das Subjekt
der
Erkenntnis
Der andere Punkt der Erkenntnislehre Solov'evs, der sich zwischen 1876 und 1877 wandelt, ist die Interpretation der Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis des Menschen. In seinen Frühschriften beschrieb Solov'ev die Tatsache, daß sich der Mensch durch seine innere Erfahrung als Subjekt seiner Erfahrungen und seines Bewußtseins F N C Z 1 , 3 1 6 f. K O N II, 3 2 5 f . ; C B III, 4 9 ; T F I X , 106. 164f. In der „Theoretischen Philosophie" nennt Solov'ev den Akt des Willens, sich einem Erkenntnisgegenstand ganz hinzugeben, meist nicht „Glaube", sondern „Vorhaben" oder „Intention" (zamysel) ( T F I X , 147 u. ö.). 1 7 9 K O N II, 3 2 8 ; T F I X , 106. 177
178
149
erlebt, als die unmittelbare Gewißheit des Menschen über sein eigenes selbständiges Sein und Wesen. Er interpretierte dies als die Einheit und Identität von Subjekt und Objekt in der Selbsterkenntnis und als metaphysische, wesenhafte Erkenntnis der eigenen Existenz durch die innere Erfahrung 1 8 0 . Das Subjekt der inneren Erfahrung war für Solov'ev in seiner Frühperiode ein metaphysisches Subjekt, eine Substanz. In seinen Schriften seit 1877 macht Solov'ev zunächst einige Jahre zur Selbsterkenntnis des Menschen gar keine Aussagen. Sein Schweigen läßt wohl auf seine anhaltende Unsicherheit in diesem Punkt schließen, aber auch darauf, daß für ihn das Ich nun nicht mehr „Ausgangspunkt und Mittelpunkt der wahren, metaphysischen Erkenntnis ist", wie er später selbst formulierte 1 8 1 . Stattdessen konzentriert er sich in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" und in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" auf die Erkenntnisart des erkennenden Subjekts. N a c h Solov'evs Aussagen in diesen Jahren hat der Mensch nicht mehr entweder phänomenales Wissen durch äußere Erfahrung und Denken oder metaphysisches Wissen durch innere Erfahrung und Denken, sondern immer zugleich phänomenales Objektwissen und metaphysisches Wesenswissen durch das Zusammenwirken aller Arten von Erfahrung mit dem Denken und dem Glauben 1 8 2 . Was das für die Erkenntnis des eigenen Ich bedeutet, führt Solov'ev zunächst nicht aus. Aus dem, was er über die Rolle des Glaubens in der Erkenntnis sagt 1 8 3 , läßt sich aber schließen, daß die metaphysische Erkenntnis der eigenen wirklichen Existenz des Menschen nur aufgrund des Glaubens erreicht wird, unter Mitwirkung von Erfahrung und Denken. Was es bedeutet, daß der Mensch sich nicht nur als phänomenales Objekt, sondern auch als Subjekt seines Bewußtseins erfährt und erkennt 1 8 4 , entfaltet Solov'ev erst in der „Theoretischen Philosophie". Hier unterscheidet er drei Existenzweisen des Subjekts, die den drei Erkenntnisarten des Subjekts entsprechen. Das Subjekt ist erstens ein „empirisches Subjekt" (empiriceskij sub"ekt; Subjekt im konkreten Sinn): es erfährt sich selbst als das konkrete Ich, als die gegebene lebendige denkende und handelnde Individualität, und erkennt sich dabei nur als phänomenales Objekt des eigenen Bewußtseins 1 8 5 . Zweitens ist das Subjekt ein logisches Subjekt oder ein reines Subjekt des Denkens (logiceskij sub"ekt, cistyj sub"ekt myslenija; Subjekt im abstrakten Sinn): es erfährt sich selbst als die beständige Form des logischen Denkens, als dessen im eigenen Bewußtsein faktisch gegebenes Subjekt 1 8 6 , und erkennt sich dabei ebenfalls nur als vorhandene „phänomenologische Tatsac h e " 1 8 7 des eigenen Bewußtseins. Drittens ist das Subjekt ein philosophisches Subjekt (filosoficeskij sub"ekt ; überpersönliches Subjekt im eigentlichen Sinn) : es erfährt sich selbst zwar nicht unmittelbar als wirklich seiend oder als metaphysische Substanz, aber doch als die beständige Intention (zamysel), die metaphysische Wahrheit und Wirklichkeit (auch über sich selbst) zu erkennen, und erkennt sich dabei als dasjenige Subjekt, das seinen Schwerpunkt auf die gesuchte metaphysische Wahrheit verlagert und sich ihr im Glauben hingibt, um sich mit ihr zu vereinigen und so selbst wirklich seiendes Subjekt zu sein 1 8 8 .
leo DVM I, 220-222.
181
TF IX, 157.
F N C Z I , 3 1 6 - 3 1 8 . 3 2 3 - 3 2 6 ; K O N II, 3 2 5 - 3 3 1 . 1 8 3 K O N II, 325f. 333. S.u. S.241 f. Der Glaube erkennt die eigentliche und unbedingte Existenz des Erkenntnisgegenstandes. N u r durch ihn ist metaphysische Erkenntnis möglich. 182
PIF III, 294. is? T F I X , 115. 184
150
185 188
TF IX, 114.117. TF IX, 155-157. 165.
186
TF IX, 114.117.165.
W i r haben bei der U n t e r s u c h u n g der Erkenntnisfunktion der inneren E r f a h r u n g im G e s a m t w e r k Solov'evs eine Wandlung seiner Erkenntnislehre seit 1 8 7 7 in drei Punkten e r h o b e n : 1. Metaphysische Erkenntnis wird nicht m e h r der inneren E r f a h r u n g , sondern der mystischen und religiösen E r f a h rung zugeordnet. 2. D i e drei Erkenntnismittel des M e n s c h e n sind nicht m e h r äußere E r f a h r u n g , innere E r f a h r u n g und logisches D e n k e n , sondern alle äußere, innere und mystische Erfahrung, das logische D e n k e n und der Glaube o d e r die Intention, die Wahrheit zu erkennen. 3. D e r M e n s c h erkennt sich nicht m e h r durch unmittelbare Selbsterkenntnis als metaphysisches Wesen, sondern durch die Erkenntnis der metaphysischen Wahrheit im Glauben erkennt er sich als Teil dieser Wahrheit, als wirklich existierendes Subjekt. Diese dreifache Wandlung der Erkenntnislehre zwischen 1876 und 1877 ist die positive Frucht der Auseinandersetzung Solov'evs mit dem russischen Positivisten K. Kavelin 1 8 9 . Kavelin hatte an Solov'evs Magisterdissertation „Die Krise der westlichen Philosophie" kritisiert, daß Solov'ev der inneren Erfahrung die Erkenntnis metaphysischer Wirklichkeit zuschreibt. Für Kavelin gibt es erkenntnistheoretisch gesehen keinen Unterschied zwischen äußerer und innerer Erfahrung, zwischen physischen und psychischen Phänomenen. Der Mensch beobachtet nach Kavelin seine psychischen Zustände genauso als Objekte der inneren Erfahrung wie die physischen Phänomene als Objekte der äußeren Erfahrung. Bei der inneren Erfahrung ist also nach Kavelin genausowenig wie bei der äußeren Erfahrung eine Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt möglich. Durch innere Erfahrung ist kein unmittelbares metaphysisches Selbstbewußtsein und keinerlei metaphysische Erkenntnis möglich. Aber alles Denken, sowohl über Erscheinungen der äußeren Welt als auch über psychische Phänomene, beruht auf Erfahrung und ist deren Produkt 1 9 0 . Solov'ev antwortet zunächst Kavelin mit einer Wiederholung und Verdeutlichung seines Standpunktes aus der „Krise der westlichen Philosophie". Er weist auf die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis durch innere Erfahrung in der unmittelbaren Selbsterkenntnis hin 1 9 1 . Doch schon in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877) und darauf in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" (1877-1880) revidiert er diesen Standpunkt. Wir haben gesehen, welche Ergebnisse diese Revision hat. Ein Vergleich mit Kavelins Argumenten gegen Solov'ev von 1875 zeigt, daß Solov'ev dessen Kritik nun doch in drei Punkten positiv aufgenommen hat. Wie Kavelin läßt Solov'ev von nun an alle Erkenntnis bei der Erfahrung und den Phänomenen des menschlichen Bewußtseins beginnen, die der Erkenntnis das Material liefern. Wie Kavelin sieht Solov'ev keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen äußerer und innerer Erfahrung: Beide ergeben sich nur aus Bewußtseinszuständen des Menschen und beantworten nicht die Frage nach der Existenz des Erfahrenen. Wie für Kavelin ist nun auch für Solov'ev metaphysische Erkenntnis aufgrund von Erfahrung und Denken allein unmöglich. Solov'ev stellt sich nun unter 189 Auf den Einfluß Kavelins im Jahre 1875 auf Solov'evs Sicht der Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung und der Selbsterkenntnis des Menschen sowie auf eine gewisse Modifikation der Erkenntnistheorie Solov'evs in dessen Folge hat J. Palan im einzelnen hingewiesen (/. Palan, Theory, S. 220-249). 1 9 0 Vgl. Κ. Kavelin, Apriornaja filosofija, S. 31-33. >91 DVM 1,221 ff.
151
dem Einfluß der Kritik Kavelins in den genannten Punkten auf den Boden des Positivismus, aber doch nur, um ihn auf diese Weise besser überwinden zu können. Ziel seiner Gnoseologie ist und bleibt die philosophische Rechtfertigung der E r kenntnis der Wahrheit, das heißt der metaphysischen Erkenntnis. Solov'ev erreicht dieses Ziel durch das „ganzheitliche Wissen", das durch das Zusammenwirken von mystischer Erfahrung, Denken und Glauben zur Erkenntnis der Wahrheit k o m m t .
Uber die Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung im Denken Solov'evs ab 1877 können wir zusammenfassend Folgendes sagen. Durch die innere Erfahrung kommt der Mensch nicht über die Grenzen seines eigenen Bewußtseins hinaus 1 9 2 . Innere Erfahrung ist das Vermögen des Menschen, das ihm die Vielfältigkeit der Wirklichkeit nur als die Vielheit der Phänomene seines eigenen Bewußtseins darbietet, nicht aber als wirkliche All-Einheit des Seins 1 9 3 . In der inneren Erfahrung erkennt der Mensch zwar seine Selbsttätigkeit 1 9 4 , er erkennt sich als Subjekt seines Bewußtseins, seines Denkens und Handelns, aber auch darin bleibt der Mensch nur Objekt der Eigenbeobachtung; auch er selbst ist sich nur Zustand seines Bewußtseins. Es kommt zu keiner unmittelbaren Einheit von Subjekt und Objekt der inneren Erfahrung. Die erkenntnistheoretische Frage nach der Erkenntnis der Wirklichkeit und Wahrheit kann durch die innere Erfahrung nicht beantwortet werden. Die innere Erfahrung hat nur eine relative, phänomenale Bedeutung und keine absolute, ontologische oder metaphysische Bedeutung für die Erkenntnis der Wahrheit 1 9 5 .
CB III, 35. K O N II, 278; vgl. D. v. Usnadse, Weltanschauung, S. 55. 1 9 4 IS IX, 269. 1 9 5 In seiner Beschränkung der Erkenntnisfunktion der inneren Erfahrung auf phänomenale Erkenntnis stellt sich Solov'ev gegen die Slavophile erkenntnistheoretische Tradition Chomjakovs und Kireevskijs. Beide gingen von der Einheit des menschlichen Erkenntnisvermögens im Glauben und in der inneren Erfahrung aus und machten keinen Unterschied in der Erkenntnisfunktion zwischen Glaube und innerer Erfahrung. Auf der anderen Seite steht Solov'ev mit seiner Anschauung über die innere Erfahrung gegen diejenigen zeitgenössischen russischen Rationalisten, die Leibniz in der Anerkennung der Substantialität des Menschen durch innere Erfahrung und rationales Denken folgen und die Solov'ev deswegen wie Leibniz „dogmatische Rationalisten" nannte. Dazu gehört vor allem der persönliche Freund Solov'evs, L. Lopatin, der in der inneren Erfahrung des Menschen „überphänomenale, ontologische Elemente" sieht, die bewirken, daß der Mensch seinen Geist als wirkliche, metaphysische Substanz und sich selbst als geistiges, substantielles und metaphysisches Wesen erkennt (L. Lopatin, Solov'ev i Trubeckoj, S. 504. 522-524). 192
193
152
D. Mystische Erfahrung 1. Mystische Erfahrung Phänomenalität
als Grenzhegriff zwischen und Metaphysik
Der Begriff „mystische Erfahrung" (misticeskij opyt) begegnet uns nicht häufig in den Schriften Solov'evs. Wenn man aber den Gebrauch der dazu parallelen Begriffe „mystische Wahrnehmung 1 9 6 , „Intuition" und „Inspirat i o n " 1 9 7 und schließlich „mystisches Wissen" 1 9 8 mit berücksichtigt, so wird auch numerisch klar, daß „mystische Erfahrung" der zentrale Begriff der Erkenntnislehre Solov'evs ist. Erstmals gebraucht Solov'ev diesen Begriff nach den Veränderungen in seiner Erkenntnislehre in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877). Dort stellt Solov'ev die mystische Erfahrung als dritte, eigenständige Art der Erfahrung zwischen die äußere und die innere Erfahrung 1 9 9 . Er ordnet sie einerseits dem ersten Erkenntnismittel der phänomenalen Erfahrung zu, die das Material aller Erkenntnis liefert; andererseits sondert er sie davon ab und ordnet sie der Erkenntnis der metaphysischen Wahrheit durch das dritte Erkenntnismittel, durch Glaube oder Intuition, zu. Denn das Material der mystischen Erfahrung sind die mystischen Phänomene, die außergewöhnlich sind und ins Ubernatürliche übergehen. Als Grenzbegriff ist mystische Erfahrung bei Solov'ev natürlich wahrnehmende und zugleich „übernatürliche Erfahrung", das heißt in die Transzendenz reichende Erfahrung. Sie ist phänomenale Erfahrung in einer metaphysischen, ontologischen Dimension. Das wird durch die Bedeutung deutlich, die Solov'ev der Mystik beimißt. Mystik ist für ihn die unmittelbare Beziehung des menschlichen Geistes und Gefühls zur transzendenten Welt und zu Gott 2 0 0 . Sie umfaßt alle Erscheinungen in dieser Welt, die den Menschen unabhängig von Raum und Zeit mit dem Ubernatürlichen verbinden 2 0 1 . So tritt mystische Erfahrung in der Gesamtheit der menschlichen Sinne auf: durch die äußeren Sinnesorgane und durch die psychischen Zustände des Fühlens, Wollens und Denkens. Mystische Erfahrung ist zugleich äußere, sinnliche Erfahrung und innere, psychische Erfahrung. Sie ist von äußerer und innerer Erfahrung nicht zu trennen. Ja, sie ist die Gesamtheit aller äußeren und inneren Erfahrung und eben dadurch über die gewöhnliche Erfahrung hinaus eine Erfahrung auch außergewöhnlicher Phänomene, die den Menschen mit der übernatürlichen Welt K O N II, S. X und S. 13; O D VIII, 191 ; s. u. S. 212f. Zum Begriff „Intuition" vgl.: F N C Z I, 316; Art. „Intuicija", B - Ε , R G X I I , 592 ( = D G VI, 182). Zum Begriff „Inspiration" vgl.: F N C Z I, 3 2 1 ; T F I X , 157. Zu beiden Begriffen s.u. S. 2 4 5 - 2 4 7 . 251 f. 196 197
198 199 200 201
F N C Z 1 , 2 6 4 . 3 0 5 f . ; K O N II, 331. 3 4 6 ; s.u. S. 227. F N C Z I , 3 1 3 f . 321. F N C Z I, 263 und Anm. 6; Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 244 ( = D G VI, 344f.). Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 243 ( = D G VI, 343).
153
und mit der eigentlichen Wirklichkeit verbinden. Sie ist per definitionem auch „metaphysische E r f a h r u n g " 2 0 2 , oder genauer: sie führt zur mystischen Erkenntnis des wahrhaft Seienden und daher zu metaphysischem Wissen. Wenn diese Erkenntnis religiös als Erkenntnis Gottes interpretiert wird, ist mystische Erfahrung auch religiöse Erfahrung.
2. Der Inhalt der mystischen
Erfahrung
Der Inhalt der mystischen Erfahrung sind die außerordentlichen psychischen Phänomene, die die Anschauungsformen Raum und Zeit transzendieren, die aber erst durch den Glauben zur wirklichen Verbindung mit der übernatürlichen Wahrheit führen. Solov'ev zählt zur mystischen Erfahrung einerseits Träume, Vorahnungen, Hellsehen, Ahnungen und Orakel 2 0 3 und andererseits „mediumistische" und spiritistische Phänomene (javlenija) 204 sowie Phänomene der Magie und Nekromantie 205 . Er nennt die erste Gruppe von mystischen Erfahrungen genauer Erfahrungen der prophetischen Mystik, die zweite Gruppe von mystischen Erfahrungen definiert er genauer als Erfahrungen der tätigen oder operativen Mystik 2 0 6 oder einfach als spiritistische Erfahrungen 207 . Dies alles sind Erscheinungen, die Solov'ev der „realen oder Erfahrungsmystik" (real'naja ili opytnaja mistika) zuordnet 208 . Daneben gibt es noch eine dritte Art von mystischer Erfahrung, die Solov'ev der „religiös-philosophischen Mystik", das heißt dem Glauben und der Intuition, zuordnet: Der Inhalt dieser Erfahrung sind keine einzelnen Phänomene (javlenija) des menschlichen Bewußtseins - auch keine übernatürlichen-, sondern es ist die Bekundung (projavlenie) der unmittelbaren Verbindung und Gemeinschaft (obscenie) zwischen dem Subjekt und dem absoluten Objekt der mystischen Erfahrung und mystischen Erkenntnis selbst, die Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott 2 0 9 . Dieser absolute Inhalt der mystischen Erfahrung transzendiert alle Möglichkeiten der Erfahrung und des Denkens des Menschen. Deswegen meidet Solov'ev zur Beschreibung der unmittelbaren Verbindung von Gott und Mensch meist das Wort „Erfahrung" und nennt sie „mystische Erkenntnis" (misticeskoe poznanie) 210 oder Glaube oder Intuition. Es handelt sich aber dennoch bei der mystischen Gemeinschaft von Gott und Mensch um ein konkretes Erleben des Menschen und insofern ist sie doch mystische Erfahrung. Aus der bloßen Aufzählung der möglichen Inhalte mystischer Erfahrung wird schon deutlich, daß Erfahrungen der realen Mystik grundsätzlich ambi2 0 2 Den Ausdruck „metaphysische Erfahrung" vermeidet Solov'ev als eine contradictio in adjecto, da die Erfahrung kein Erkenntnisorgan des Menschen ist, das die metaphysische Wirklichkeit als solche erkennen könnte. Denn Erfahrung liefert als erstes Erkenntnismittel dem Menschen nur das Material der Erkenntnis, kommt aber damit über die Grenzen des eigenen Bewußtseins des Menschen nicht hinaus. 2 0 3 F T J u I, 183; Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 243 ( = D G VI, 344). 2 ° 4 R R N O III, 278.280. 2 0 5 Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 243 ( = D G VI, 344). 2 0 6 Ebd. 2 0 7 Brief N r . 27 an N . N . Strachov, Ρ I, 33. 2 0 8 Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 243 ( = D G VI, 343). 2 0 9 A . a . O . S. 244 ( = D G VI, 344f.). 2 1 0 Ebd.
154
valent sind. Mystische Erfahrungen gelten manchmal nur vermeintlich übernatürlichen, in Wirklichkeit aber ganz natürlichen Phänomenen. Dann handelt es sich nur scheinbar um mystische Erfahrung 2 1 1 . Die wirklich Raum und Zeit sprengenden übernatürlichen Phänomene der realen mystischen Erfahrung wiederum können sowohl göttlich als auch dämonisch sein 2 1 2 . Es kommt ganz auf ihre Verbindung mit der übernatürlichen Wahrheit an. Damit mystische Phänomene wirklich Bekundungen des geistlichen und göttlichen Lebens in uns und für uns sind, müssen sie mit dem Urquell dieses Lebens, dem göttlichen Wesen, unmittelbar verbunden sein und in dieser Verbindung im Glauben erkannt werden 2 1 3 . Es kommt also ganz wesentlich auf die Interpretation der Phänomene der realen Mystik an. Die Ambivalenz des Inhalts der mystischen Erfahrung ist auch der Grund dafür, daß für Solov'ev zunächst nur die eigene, persönliche mystische Erfahrung glaubwürdig sein und eine erkenntnistheoretische Bedeutung haben kann 2 1 4 . Die mystische Erfahrung anderer Menschen ist nur dann als wirkliche Erfahrung des Absoluten glaubwürdig, wenn sie Erfahrung der religiösen und philosophischen Mystik ist, also mit dem mystischen Wissen verbunden ist und durch solches Wissen interpretiert wird.
3. Die Erkenntnisfunktion
der mystischen
Erfahrung
Der Inhalt der mystischen Erfahrung als der echten Erfahrung religiöser und philosophischer Mystik ist religiös gesprochen die unmittelbare Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch oder philosophisch gewendet die unmittelbare Verbindung des Menschen mit dem absoluten, letztmöglichen Objekt der Erkenntnis. Die Erkenntnisfunktion der mystischen Erfahrung ist es also, das Material dafür zu liefern, daß der Mensch das absolute Erkenntnisobjekt als die Wirklichkeit, die Wahrheit und die Wesenheit alles Seienden erkennt. Durch mystische Erfahrung k o m m t der Mensch als erstes zur Erkenntnis der Wirklichkeit alles Erfahrenen. N u r in der Erfahrung der religiösen und philosophischen Mystik, also verbunden mit dem Glauben beziehungsweise der Intuition, erkennt der Mensch die mystischen Phänomene als Wirklichkeit (dejstvitel'nost') und als Bekundungen (projavlenija) des wirklich und ewig seienden göttlichen Prinzips. Die Wirklichkeit mystischer Phänomene ist nicht anders zu begründen als nur durch die wahre mystische Erfahrung selbst 2 1 5 . Denn die mystische Erfahrung ist die unmittelbarste und engste Verbindung (svjaz') mit der Wirklichkeit des absoluten U r p r i n z i p s 2 1 6 . Sie ist das einzige ganz direkte Mittel der Kommunikation mit der absoluten göttlichen Wirklichkeit durch die in ihr erfahrene Gemeinschaft von 2,1 212 213 215
Brief Nr. 27 an Ν. N. Strachov, Ρ I, 33. Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 244 ( = DG VI, 344). 2 1 4 Brief Nr. 27 an Ν. N. Strachov, Ρ I, 33 f. R R N O III, 280. 2 1 6 F N C Z 1,265. F N C Z 1,314.
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Mensch und Gott als Erkenntnissubjekt und -objekt. Mystische Erfahrung ist Erfahrung der Wirklichkeit schlechthin. Darum können nach solcher mystischen Erfahrung auch andere Gegenstände menschlicher Erfahrung als wirklich erkannt werden. Aufgrund der mystischen Erfahrung der absoluten Wirklichkeit kann Solov'ev nun die Wirklichkeit sogar zur Grundlage aller menschlichen Erkenntnis erklären. Er kann wie ein Empirist formulieren, daß sich unsere Denkformen nach der Wirklichkeit richten und nicht umgekehrt die Phänomene nach unseren Anschauungsformen, weil diese Wirklichkeit sich in der mystischen Erfahrung als Wirklichkeit bekundet hat und nicht mehr bloßes Phänomen der äußeren und inneren Erfahrung des Menschen ist 2 1 7 . Durch mystische Erfahrung kommt der Mensch zweitens zur Erkenntnis der Wahrheit des Erfahrenen. Die Wahrheit (istina) hat Solov'ev als das seiende All-Eine (suscee vseedinoe) definiert 218 . Er meint damit das göttliche Urprinzip, das die Wirklichkeit schlechthin ist (das Seiende), alles, was existiert, in sich umfaßt und die Einheit von allem ist (das All-Eine). Das seiende All-Eine ist der Gegenstand der echten Erfahrung religiöser und philosophischer Mystik. In ihr erkennt der Mensch seine unmittelbare Verbindung mit dem seienden All-Einen oder, was das gleiche ist, seine innere Verbindung mit allem anderen Seienden 219 . Denn diese mystische Erfahrung ist die Erfahrung der unmittelbaren Gemeinschaft zwischen menschlichem Erkenntnissubjekt und göttlichem Erkenntnisobjekt. So ist mystische Erfahrung die wahre Erfahrung, die zur Erkenntnis der Wahrheit als der seienden All-Einheit führt 2 2 0 . Drittens führt die mystische Erfahrung zur Erkenntnis der Wesenheit alles Erfahrenen. Die Wesenheit (suscnost') eines Erkenntnisgegenstandes nennt Solov'ev im Gegensatz zu dessen Erscheinung dasjenige, was durch das erfahrene Phänomen (javlenie) hindurch sich bekundet (projavljaetsja) 221 , und dasjenige, was dem Phänomen als selbständig Seiendes (suscee) zugrunde liegt 222 , was sein wirklicher Inhalt ist 2 2 3 . Solov'ev nennt die Wesenheit des Erfahrenen auch seine Idee (ideja) 224 . Wenn der Mensch in der mystischen Erfahrung Gott als Wirklichkeit erkennt und sich selbst in Verbindung mit dieser Wirklichkeit, so erkennt er damit auch Gottes Wesenheit als wirklich und ewig Seiender (suscij) 225 und seine eigene Wesenheit als ebenso ewig Seiender 226 . - Wesenserkenntnis ist also Erkenntnis des eigentlichen Inhalts dessen, was zunächst als wirklich und wahr erfahren wird. Dennoch ist sie eine unmittelbare und intuitive, keine diskursive oder rationale Erkenntnis, eine Intuition aufgrund der unmittelbaren mystischen Erfahrung. Wesenserkenntnis ist der kognitive Aspekt der mystischen Erfahrung.
2 1 8 K O N II, 297. 2 1 9 K O N II, 298. KONII,327f. 2 2 1 Art. „Metafizika", B - Ε , RG X, 241 ( = DG VI, 339). K O N II, 288. 2 2 2 CB 111, 51. 2 2 3 C B III, 35 . 2 2 4 F N C Z 1 , 3 5 6 ; ÒB III, 56. 2 « ¿ B III, 80: Solov'ev leitet hier das Wort „Wesenheit" (suscnost') vom Gottesnamen „Jahwe", das heißt „der Seiende" (suscij), her. Beide Wörter haben im Russischen den gleichen Wortstamm. 2 2 6 C B III, 126. 217
220
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4. Mystische Erfahrung, Offenbarung
und Glaube
Alle drei genannten Erkenntnisfunktionen der wahren mystischen Erfahrung beruhen auf der metaphysischen Dimension der mystischen Erfahrung, darauf, daß durch die mystischen Erscheinungen hindurch die göttliche Wirklichkeit sich selbst bekundet oder offenbart und mit dem Menschen in unmittelbare Verbindung tritt. Deswegen nennt Solov'ev die mystische Erfahrung auch Inspiration (vdochnovenie) 227 , das heißt Eingebung oder Einwirkung (vozdejstvie) des Inhalts der mystischen Erfahrung auf den Menschen. Die philosophische Bezeichnung „Inspiration" entspricht der religiösen Bezeichnung „Offenbarung" (otkrovenie). Damit beschreibt Solov'ev das Geschehen der mystischen Erfahrung von einer anderen Perspektive aus, nämlich nicht vom erfahrenden Menschen aus, sondern vom sich zu erfahren gebenden metaphysischen Prinzip aus - eine Perspektive, die der Philosoph als reiner Denker nicht haben kann, da er ganz auf dem Boden menschlichen Erfahrens, Denkens und Glaubens steht, auf dem Boden der drei Mittel menschlicher Erkenntnis; eine Perspektive, die aber demjenigen möglich ist, der die wahre mystische Erfahrung gemacht hat, daß das absolute Prinzip selbst sich ihm durch Phänomene seines Bewußtseins hindurch bekundet hat; und eine Perspektive auch für denjenigen, der sich von der wahren mystischen Erfahrung anderer durch deren philosophische oder religiöse Interpretation dieser Erfahrung als der Inspiration oder Offenbarung des übernatürlichen wahrhaft Seienden überzeugen läßt. Solche Interpretation der mystischen Erfahrung Gottes geschieht im theosophischen System Solov'evs ebenso wie in der Lehre der Kirche. Bei Solov'ev ist nicht weniger deutlich als in der kirchlichen Lehre, daß schon die eigene unmittelbare mystische Erfahrung des einzelnen nur im Glauben erkannt werden kann als die Inspiration, Bekundung oder Offenbarung der absoluten, transzendenten Wirklichkeit selbst. Um so mehr ist der Inhalt der mystischen Erfahrung anderer Menschen als Offenbarung der göttlichen Wahrheit nur durch den Glauben zu erkennen. Hier wird nochmals klar: „Mystische Erfahrung" ist ein Grenzbegriff, ein Geschehen, das einerseits der menschlichen Erfahrung angehört, dessen wahrer Inhalt andererseits aber nur durch das selbständige menschliche Erkenntnismittel des Glaubens oder der Intuition erkannt werden kann. Von hier aus können wir zwei grundlegende Einwände entkräften, die Solov'ev von christlichen Philosophen und Theologen immer wieder gemacht worden s i n d 2 2 8 : 1. Der Begriff „mystische Erfahrung" sei zu verschwommen, um in der Mystik zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können. 2. Der Begriff „mystische Erfahrung" als zentraler Begriff der theosophischen Erkenntnislehre Solov'evs mache F N C Z 1,321. Diese Einwände faßt als russischer christlicher Philosoph V. Zen'kovskij prägnant zusammen. Vgl. V. Zen'kovskij, Ideja vseedinstva, S. 51. 227
228
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den Begriff der Offenbarung sinnlos und überflüssig. - Hätte Solov'ev innerhalb des Begriffs „mystische Erfahrung" nicht aufgrund seiner differenzierten Betrachtung der verschiedenen Richtungen der Mystik sehr genau zwischen vermeintlicher und echter, dämonischer und göttlicher mystischer Erfahrung unterschieden, wäre der erste Vorwurf berechtigt. Denn Solov'ev benutzt selbst als Argument für die Wirklichkeit der mystischen Erfahrung die religionsgeschichtliche Tatsache, daß es mystische Erfahrung in der gesamten Geschichte der Menschheit, in allen Jahrhunderten und bei allen Völkern - wenn auch nicht bei jedem einzelnen Menschen - gegeben habe 229 . Sie ist in der Tat vieldeutig und keineswegs immer eine unmittelbare Verbindung zum Göttlichen oder gar zum dreieinen Gott des Christentums. Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge in der mystischen Erfahrung kann daher nicht durch die mystischen Erscheinungen in der Erfahrung selbst erfolgen, sondern obliegt ihrer Interpretation: rein philosophisch gesprochen durch die intuitive Erkenntnis der Wahrheit, theosophisch und religiös gesprochen durch den Glauben, der die Wahrheit des Erfahrenen erkennt. Intuition (umstvennoe sozercanie, intuicija) und philosophischer Glaube (vera) bedeuten für Solov'ev das unmittelbare Anerkennen und Erkennen eines Erkenntnisgegenstandes in seinem Wesen als wirklich existierend und als wahr 230 , und zwar als eine unmittelbare Uberzeugung, die unabhängig von allen Arten der Erfahrung und unabhängig vom logischen Denken ist 2 3 1 . Der religiöse Glaube ist über den philosophischen Glauben hinaus für Solov'ev eine Gabe Gottes 2 3 2 , durch die wir seine Existenz erkennen 233 und mystische Erscheinungen als seine Offenbarung (otkrovenie) begreifen 234 . - Mystische Erfahrung und Glaube gehören bei Solov'ev also unbedingt zusammen. Und dadurch sind die Einwände gegen den Begriff „mystische Erfahrung" bei Solov'ev entkräftet: Der Glaube unterscheidet zwischen wahrer und falscher oder lügenhafter mystischer Erfahrung. Der religiöse Glaube erkennt auch das in der mystischen Erfahrung Gegebene als Offenbarung Gottes. Der Begriff und das Geschehen der Offenbarung werden also durch den zentralen Ort der mystischen Erfahrung in der Erkenntnislehre Solov'evs, mit der bei Solov'ev ja alle wahre Erkenntnis beginnt, keineswegs sinnlos oder überflüssig. Im Gegenteil, mystische Erfahrung und Offenbarung sind in der Theosophie Solov'evs Korrelate, nämlich ein Geschehen, das unter zwei Gesichtspunkten als menschliche Erfahrung und als göttliche Offenbarung gesehen wird 235 . Solov'ev enthebt die mystische Erfahrung nicht nur dem Bereich der religiösen Zweideutigkeit durch ihre Interpretation im philosophischen und religiösen Glauben. E r macht durch den Begriff des christlichen Glaubens 229 F N C Z I, 314. Vgl. dazu die Interpretationen von E. Tumarkin, S. 45 und D. von Usnadse, Weltanschauung, S. 21.
Ssolowjew als Philosoph,
2 3 0 Zur Intuition vgl. F N C Z 1,316; C E III, 65. Zum Glauben vgl. K O N II, 333; Art. „Vera", B - Ε , RG XII, 553 ( = DG VI, 58). 2 3 1 K O N II, 328; CB III, 33. 2 3 2 D O Ë III, 315. 2 3 3 CB III, 35 . 2 3 4 PIF III, 297. 2 3 5 Daß zur mystischen Erfahrung bei Solov'ev auch die konkrete Einwirkung (vozdejstvie) des göttlichen Prinzips in seiner Offenbarung gehört, bezeichnet E.Trubeckoj als die „Anfangsgründe seiner (sc. Solov'evs) richtigen Lehre über die Offenbarung". E. Trubeckoj, der sonst Solov'ev im Namen eines betonten christlichen Dualismus oft kritisiert, sieht im Begriff der mystischen Erfahrung in dieser Hinsicht keine Unklarheit vom Standpunkt der christlichen Offenbarung aus. Vgl. E. Trubeckoj, Solov'ev i Lopatin, S. 535.
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auch klar, was die spezifisch christliche und „rechtgläubige" mystische Erfahrung gegenüber der unchristlichen und häretischen mystischen Erfahrung ist. Den christlichen Glauben definiert Solov'ev im Gegenüber zum philosophischen Glauben nicht nur als Erkenntnis der Wahrheit und nicht nur als Anerkennen des christlichen Gottes in seinen historischen Offenbarungen 2 3 6 , sondern auch als sittliche Tat und Verpflichtung 2 3 7 . Mystische Erfahrung wird im Licht solchen christlichen Glaubens erst dann zur christlichen und rechtgläubigen mystischen Erfahrung, wenn bestimmte Kriterien der Rechtgläubigkeit (pravoverie) erfüllt sind. D a z u gehören das sittliche Leben des Erfahrenden, ein langer Prozeß der Reinigung und Erleuchtung vor der unmittelbaren mystischen Gemeinschaft von G o t t und Mensch und auch die Beibehaltung äußerer Formen der Gottesverehrung und Frömmigkeit 2 3 8 . Solche rechtgläubige mystische Erfahrung ist nicht isoliert für den einzelnen möglich, sondern nur in der Gemeinschaft derer, die den christlichen Glauben teilen. So ist die Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden und Liebenden 2 3 9 letztlich bei Solov'ev das Kriterium für christliche mystische Erfahrung: Sie interpretiert, entwickelt und verwirklicht objektiv das vom einzelnen in der mystischen Erfahrung Erfahrene 2 4 0 . Sie verifiziert durch den Konsensus der Erfahrenden die Wirklichkeit der vielen mystischen Erfahrungen der einzelnen Christen. So ist „mystische Erfahrung" bei Solov'ev der zentrale Begriff seiner Erkenntnislehre für ein Geschehen, das gleichzeitig sowohl ganz allgemein jegliche wahre Erkenntnis aller möglichen Erkenntnisobjekte als auch speziell die Erkenntnis der Inhalte der religiösen, besonders der christlichen, Offenbarung erfahrungsmäßig begründet.
5. Das Verhältnis der mystischen zur inneren Erfahrung
Erfahrung
Solov'ev definiert den Begriff „ E r f a h r u n g " im positivistischen Sinn als Zustand des subjektiven Bewußtseins des Erfahrenden und erst in zweiter Linie als E r f a h r u n g von etwas gesondert Existierendem. D i e s schließt von vornherein eine auch nur f o r m a l e Isolierung bestimmter Erfahrungsgebiete nach deren Inhalt aus. Wenn Solov'ev dennoch die mystische E r f a h r u n g von aller anderen äußeren und inneren E r f a h r u n g konsequent abhebt, dann deswegen, weil in ihr das unmittelbare Erfahren eines Erkenntnisgegenstandes als Bewußtseinszustand des Erfahrenden und der G l a u b e als das Erkennen der wirklichen und selbständigen Existenz dieses Erkenntnisgegen236
P B I X , 14.
237
D O Z III, 315. 325.
A r t . „ M i s t i k a " , B - Ε , R G X , 245 ( = D G V I , 3 4 6 f . ) . D i e v o n S o l o v ' e v genannten Kriterien sind die in der O r t h o d o x i e allgemein anerkannten Kriterien m y s t i s c h e r E r f a h r u n g , wie sie als E r g e b n i s des H e s y c h a s m u s s t r e i t s im 14. J a h r h u n d e r t festgelegt w u r d e n und in den g e s a m m e l t e n Schriften der Philokalia in den Worten der Väter enthalten sind. 2 3 9 D V R III, 228. 2 4 0 O D V I I I , 471. 238
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standes in einem Akt untrennbar verbunden sind. Der Begriff „mystische Erfahrung" ist vom positivistischen Standpunkt aus, den Solov'ev teilt, eigentlich eine contradictio in adiecto: wenn sie Erfahrung ist, kann sie nicht mystisch sein; wenn sie mystisch ist, kann sie keine Erfahrung sein. Denn das Mystische bedeutet die Beziehung eines weltimmanenten Subjekts zu einem transzendenten Objekt. Mystik geht per definitionem über die Grenzen des subjektiven Bewußtseins hinaus in den objektiven Bereich metaphysischer, ontologischer Erkenntnis. Solov'ev gebraucht den Begriff „mystische Erfahrung" dennoch und beschränkt sich nicht auf Glaube oder Intuition als das einzige Vermögen metaphysischer Erkenntnis im Menschen, weil die Mystik und die Offenbarungsreligionen in ihren historischen Tatsachen deutlich machen, daß alle menschlichen Erkenntnismittel, also auch Erfahrung und logisches Denken, an der metaphysischen Erkenntnis beteiligt sind. So kommt Solov'ev, wenn er von mystischer und das heißt metaphysischer Erfahrung spricht, in die Lage, den positivistischen Erfahrungsbegriff, den er um der kritischen Zeitgemäßheit seiner Philosophie willen nicht aufgibt, an dieser Stelle durchbrechen zu müssen. Das ist aber wohl von Solov'ev genau so beabsichtigt. Denn Solov'ev kann durch konsequente Anwendung des empirischen Denkens an der Stelle der Erscheinungen der wahren mystischen Erfahrung das Ungenügende und die Grenzen des positivistischen Erfahrungsbegriffs und der ganzen positivistischen Denkweise aufdecken. So ist mystische Erfahrung bei Solov'ev eine Erfahrung, die äußere und innere Erfahrung umfaßt und gleichzeitig über deren Grenzen hinausgeht, indem sie zu metaphysischer Erkenntnis im unmittelbaren Erfahren der göttlichen Wirklichkeit führt. Sie ist Erfahrung auch im empirisch-phänomenalen Sinn, aber Erfahrung mit metaphysischer Tiefendimension. Die Schwierigkeit, die Solov'ev hat, Erfahrung und metaphysische Erkenntnis des Menschen miteinander zu vereinbaren, liegt im Grunde darin beschlossen, daß er nicht von der Einheit des menschlichen Erkenntnisvermögens ausgeht wie die Slavophilen Chomjakov und Kireevskij. Für sie sind Erfahrung, rationales Denken und Glauben in einem Erkenntnisakt vereint 241 . Sie gehen von der Ganzheit und Einheit des menschlichen Geistes aus. Für Solov'ev dagegen sind Erfahrung, Denken und Glaube drei verschiedene Mittel und Vermögen menschlicher Erkenntnis. Sie wirken zwar zusammen, aber ihre Einheit haben sie nicht im menschlichen Geist oder im erkennenden Ich, wie bei Chomjakov und Kireevskij und wie bei allen von der cartesischen Erkenntnislehre abhängigen Philosophen, sondern in der Ganzheit und Einheit des Erfahrenen und Erkannten, nämlich in der Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt in der durch mystische Erfahrung erkannten seienden All-Einheit. Nicht die Einheit des menschlichen Erkennens stiftet bei Solov'ev die Einheit von Glaube und mystischer Erfahrung, sondern die Einheit der darin erkannten Wirklichkeit.
6. Mystische Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis Dadurch, daß bei Solov'ev die mystische Erfahrung im Glauben zur metaphysischen Erkenntnis des wirklich Seienden führt, ermöglicht sie überhaupt erst jede gegenständliche Erkenntnis aufgrund äußerer und inne-
241
160
A.S. Chomjakov,
2. Brief an Samarin, Polnoe sobranie socinenij, Bd. I, S. 327.
rer Erfahrung als wahre Erkenntnis wirklicher Sachverhalte und nicht nur mehr oder weniger subjektiver Erscheinungen. Somit hat die mystische Erfahrung grundsätzlich bei Solov'ev eine doppelte Bedeutung. Erstens ist sie das Hauptmittel aller menschlichen Erkenntnis 242 und Grundlage aller, auch der alltäglichen und wissenschaftlichen menschlichen Erkenntnis243. Zweitens ist sie die Grundlage der Metaphysik244 : sie weist auf die Offenheit des Menschen für das absolute metaphysische Prinzip und für seine Beziehung zur transzendenten Welt hin. - Die mystische Erfahrung ist keine Erkenntnisgrundlage im Sinne eines logischen Schlusses kritisch-rationaler Philosophie, wie etwa die Denkkategorien Kants. Denn der Glaube an die Wirklichkeit ist als überrationales Element immer schon in der mystischen Erfahrung enthalten. Sie ist aber auch keine Erkenntnisgrundlage für eine dogmatisch-rationale Philosophie, wie etwa Descartes' und Spinozas Substanz des Menschen, die Leibnizschen Monaden oder auch das Denken des Denkens Hegels 245 . Denn in diesen Fällen wird vorschnell das Denken des Menschen mit dem wirklichen, vom Bewußtsein des Menschen unabhängigen Sein identifiziert. Die mystische Erfahrung ist vielmehr eine philosophische Erkenntnisgrundlage als „phänomenologische Tatsache" oder als „Tatsache des Bewußtseins" 246 , die über ihren immanenten empirischen und rationalen Stellenwert hinaus die vom Phänomenalismus der Positivisten dogmatisch gesetzten Grenzen des menschlichen Bewußtseins transzendiert 247 . Wir haben in der mystischen Erfahrung nach Solov'ev die historische Grundlage aller mystischen Philosophie und aller mystischen Theologie vor uns 248 . So nimmt es kein Wunder, daß Solov'ev selbst seine freie Theosophie auf dieser Erkenntnisgrundlage errichtet. Er stützt sich dabei in seinen theoretischen Schriften nicht so sehr auf seine eigene mystische Erfahrung als vielmehr auf die historischen Quellen philosophischer mystischer Erfahrung der antiken Philosophie (Solov'ev nennt Piaton, Philon und Plotin) und ebenso auf die historischen Quellen der mystischen Erfahrung in der Christenheit. Das sind für Solov'ev nicht nur die biblischen Schriften der OffenSo interpretiert auch D. von Usnadse (Weltanschauung, S. 21). Ebenso:/. Palan, Theory, S. 29. 2 4 4 Vgl. K Z F I, 141 f. 2 4 5 Hegel ist für Solov'ev mit seinem Absolutheitsanspruch für das Denken der Vernunft der größte Antipode. Solov'ev nennt Hegel einen „absoluten Rationalisten" (KZF I, 133), der für die Philosophie das darstelle, was Ludwig X I V . für den Staat bedeutete (vgl. F N C Z 1,278). 2 4 6 K O N II, 301 ; T F IX, 116. 133. 137. 2 4 7 Daß Solov'ev bisweilen das Wort „phänomenologisch" (fenomenologiceskij) im Sinne von „phänomenal" oder „bewußtseinsimmanent" benutzt, besagt noch nichts über sein Verhältnis zur Aktphänomenologie Husserls und Schelers. Solov'evs Theosophie ist immer Metaphysik, Lehre v o m wirklich Seienden, und nicht wie die Phänomenologie Husserls und Schelers allein „Wesensschau" am Bewußtseinsphänomen. Solov'evs Wortgebrauch weist nur auf den Ausgangspunkt seiner Erkenntnislehre bei den Phänomenen des Bewußtseins hin. 2 4 8 A r t . „Mistika", B - Ε , R G X, 244 (= D G VI, 345). 242 243
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barung, sondern auch Werke christlicher Mystiker. Er nennt aus dem patristischen Bereich Orígenes, Makarius den Ägypter, Isaak den Syrer, Dionysius Areopagita, Maximus Confessor, Palamas und die Autoren der Philokalia 249 . Man muß hier noch Athanasius den Großen und Gregor von Nyssa hinzufügen, deren Werke ebenfalls Solov'evs Quellen für seine Theosophie wurden 250 . Solov'ev nennt auch evangelische und katholische mystische Theologen der Neuzeit, deren Schriften sein theosophisches Denken angeregt haben: Paracelsus, Böhme, Baader, Swedenborg. Seine Aufzählung der Mystiker, die sein Denken über mystische Erfahrung beeinflußten, ist in ihrem Zahlenverhältnis von mystischen Philosophen und Theologen interessant. Auch wenn man einige von ihnen als Theologen und Philosophen bezeichnen kann, fällt das Uberwiegen der christlich-theologischen Mystik auf. Das weist auf die Tatsache hin, daß metaphysische Erkenntnis durch mystische Erfahrung immer die Frage nach der Beziehung von Philosophie und Religion in der Erkenntnislehre aufwirft. Denn wahre mystische Erfahrung als Erfahrung der letzten Wirklichkeit oder des Urprinzips alles Seienden ist die Erfahrung dessen, den die Religion Gott nennt und damit religiöse Erfahrung. Es bleibt zu untersuchen, was Solov'ev unter religiöser Erfahrung versteht und wie er sie in sein theosophisches System einordnet.
E. Die besondere Bedeutung der religiösen Erfahrung In der mystischen Erfahrung wird die gesamte Wirklichkeit, die natürliche wie die übernatürliche, erfahren. Auch Gott ist ein mögliches und tatsächliches Ziel mystischer Erfahrung. Solov'ev hält es daher für falsch, von religiöser Erfahrung (religioznyj opyt) als einem eigenen Genus der Erfahrung zu sprechen. Wenn man alle Erfahrung als Bewußtseinszustand des Erfahrenden definiert, so besteht kein formaler Unterschied zwischen religiöser Erfahrung und innerer Erfahrung 251 : Religiöse Bewußtseinszustände sind Zustände der inneren Erfahrung. Wenn man wahre mystische Erfahrung als Erfahrung der metaphysischen Wahrheit der seienden All-Einheit und der Gemeinschaft von Mensch und Gott definiert, so besteht kein inhaltlicher Unterschied zwischen religiöser Erfahrung und mystischer Erfahrung. Der Inhalt eines mystischen Erlebnisses eines christlichen Asketen ist der gleiche wie der Inhalt einer unmittelbaren mystischen Intuition eines Philosophen. Den Inhalt der mystischen Erfahrung hatte Solov'ev als das seiende All-Eine definiert. Dies ist kein abstraktes Denkprinzip, sondern ein Erfahrungsprinzip und sogar ein religiöses Prinzip. Es setzt die Erfahrung der All-Einheit 249 Vgl. die Liste der von Solov'ev genannten Vertreter mystischer Philosophie und Theologie, a.a.O. S. 244 f. ( = DG VI, 345 f.). 250 251
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Ebenso W. Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 40. Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 251 f. ( = DG VI, 399).
und den religiösen Glauben an das all-eine Wesen voraus 252 . So ist das seiende All-Eine der eine Inhalt der mystischen und religiösen Erfahrung. 1. Die Vielfalt der religiösen
Erfahrung
Ein Unterschied zwischen religiöser und mystischer Erfahrung kann nur gradweise nach dem Umfang und der Vielfalt der Phänomene gemacht werden, die die konkreten Gegenstände der religiösen beziehungsweise der mystischen Erfahrung bilden. Der Umfang und die Vielfalt religiöser Phänomene sind noch größer als die Vielfalt der mystischen Phänomene. Religiöse Erfahrung ist erstens Erfahrung von Objekten der physischen Welt, die religiös gedeutet werden 253 . Sie ist also äußere, sinnliche Welterfahrung in der ganzen Vielfalt der irdischen Phänomene 254 . Sie ist zweitens die Erfahrung von inneren, psychischen Zuständen des religiösen Menschen, die er religiös deutet. Dazu gehören die Gefühle der Angst (strach), der Ehrfurcht (blagogovenie) und der Liebe (ljubov') 255 . Dazu gehört auch das innere Phänomen des Gewissens 256 . Religiöse Erfahrung ist also innere Erfahrung der eigenen psychischen Zustände in ihrer ganzen lebendigen Vielfalt. Wahre religiöse Erfahrung ist drittens unmittelbare Erfahrung der transsubjektiven, transzendenten Wirklichkeit, des Urprinzips alles Seienden oder der seienden All-Einheit in ihrer religiösen Deutung als Erfahrung des Göttlichen. Die Vielfalt der religiösen Deutungen des Gegenstandes dieser Erfahrung vom Nirvana des Buddhismus bis zum dreieinigen Gott des Christentums darf nicht verbergen, daß es sich stets um die gleiche unmittelbare Erfahrung der Gottheit selbst handelt 257 . Wahre religiöse Erfahrung ist also wahre mystische Erfahrung in der Vielfalt ihrer Deutungen. Die Vielfalt der religiösen Phänomene ist ebenso unbegrenzt wie ihre Deutungsmöglichkeiten. Damit physische, psychische und mystische PhäC B III, 154. Dies macht Solov'ev an vielen Beispielen aus den Religionen des alten und neuzeitlichen Heidentums deutlich. Das Grundelement der alten heidnischen Religion ist ihre beständige Beziehung auf Naturerscheinungen, das Eingehen der Gottheit in einzelne Tatsachen der materiellen und organischen Natur, in Gegenstände und Naturvorgänge ( M P D J a I, 2. 1 8 - 2 4 ) . Aber auch in neuheidnischen russischen Sekten findet Solov'ev krasse Beispiele religiöser Verehrung gegenüber materiellen Objekten als Fetische (22. VP X , 7 6 - 8 0 ) oder gar als Götter selbst (etwa in der russischen Sekte der Lochanbeter, vgl. T R X , 84). 252
253
2 5 4 Solov'ev nennt diese vielfältige irdische Erfahrung sehr plastisch „die hiesige Erfahrung unter dem M o n d " (zdesnyj podlunnyj opyt, P B I X , 12).
D 0 2 III, 337f. Solov'ev bezeichnet das Gewissen (sovest') als innere Form des absoluten Guten (d.h. Gottes) ( O D VIII, 22) und als verfeinerte F o r m des menschlichen Grundgefühls der Scham ( O D VIII, 63). Je nach der Art der Deutung erhält das Gewissen bei Solov'ev mehr oder weniger religiösen Charakter. Damit das Gewissen Teil der religiösen Erfahrung ist, muß es in einen religiösen Deutungsrahmen gestellt werden wie alle physischen und psychischen Phänomene. 255
256
257
P B I X , 16.
163
n o m e n e aber überhaupt als religiöse
P h ä n o m e n e erkannt werden können,
müssen sie v o n vornherein in einen religiösen Interpretationsrahmen gestellt werden. O h n e religiösen Glauben gibt es auch keine religiösen P h ä n o m e n e . Sinnliche, seelische und übernatürliche religiöse P h ä n o m e n e k ö n n e n genauso wie die mystischen P h ä n o m e n e auch nur scheinbar religiös, in W i r k l i c h keit aber dämonische P h ä n o m e n e s e i n 2 5 8 . D i e religiöse E r f a h r u n g kann sich statt als Gotteserfahrung auch als Satanserfahrung e r w e i s e n 2 5 9 , w e n n der sie begleitende religiöse Glaube nur ein Pseudoglaube ist, der nicht G o t t , s o n dern nur den eigenen „religiösen G e f ü h l e n " g i l t 2 6 0 . D e r wahrhafte religiöse Glaube dagegen ist das G o t t e s g e s c h e n k seiner Gnade im Menschen, die dem M e n s c h e n die Fähigkeit gewährt, v o n der E x i s t e n z G o t t e s überzeugt zu s e i n 2 6 1 . O h n e solchen wahrhaften religiösen Glauben bleiben nur zweideutige P h ä n o m e n e , die sich als d ä m o n i s c h erweisen können. So sind der Umfang, die Vielfalt und die Zweideutigkeit der religiösen Erfahrung noch größer als die der mystischen Erfahrung. Insofern besteht zwar kein qualitativer Unterschied zwischen religiöser und mystischer Erfahrung, aber doch ein quantitativer 2 6 2 . Die vielgestaltige religiöse Erfahrung ist noch mehr als die mystische Erfahrung des Menschen der Versuchung ausgesetzt, nicht Erfahrung des Göttlichen, sondern nur des Menschlichen oder gar des Dämonischen zu sein. Denn es geht zwar im religiösen Glauben um das Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht 2 6 3 , und um die klare Anerkennung des unsichtbaren Gottes als der einzigen Wahrheit und Wirklichkeit 264 . Aber die religiöse Erfahrung betrifft nicht nur eine metaphysische, unsichtbare Wirklichkeit, sondern auch ganz alltägliche sinnliche und psychische Phänomene, in denen sich diese unsichtbare Wirklichkeit manifestiert. Man kann
2 5 8 So schreibt Solov'ev zum Beispiel einem Athospilger namens Varsonofij, den er dem ägyptischen Mönch des 6. Jahrhunderts, Barsanuphius, nachempfunden hat, eine von ihm selbst erfundene Geschichte zu, in der die übertriebene Gewissenhaftigkeit (nepremenno razvitaja sovestlivost') in Form der Verzweiflung (otcajanie) als Waffe des Teufels entlarvt wird (TR X, 123 f. und S. 126-128). Vgl. dazu L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 484 f. - Als anderes Beispiel pseudoreligiöser, in Wirklichkeit dämonischer Phänomene nennt Solov'ev „alte Glaubenssymbole, alte Gesänge und Gebete, Ikonen und Gottesdienstordnungen", kurz: gerade die bewährten und geschätzten traditionellen Formen der Orthodoxie, die zum Verführungsmittel des Antichrist werden, um diejenigen, die mehr an diesen Formen und Formeln als an deren Inhalt hängen, vom wahren christlichen Glauben abzubringen (TR X, 211). - Solov'ev macht mit diesen Beispielen deutlich, daß ohne wahrhaftige religiöse Interpretation religiöse Phänomene pseudoreligiös sein und anderen Zielen als der wahren Religion dienen können. 259 TR χ ) 200f. : Der Antichrist in Solov'evs Erzählung hat ein Berufungserlebnis, das den biblischen Berufungsgeschichten der Propheten und dem Bericht von der Taufe Christi in vielen Zügen gleicht; dennoch ist das Erlebnis des Antichrist nicht Vision und Audition Gottes, sondern Satanserfahrung. 2 6 0 RRNO III, 279. 2 6 1 D 0 2 III, 315. 325. 2 6 2 Dagegen V.Zen'kovskij (Ideja vseedinstva, S.51): Zen'kovskij sieht überhaupt keinen Unterschied zwischen mystischer und religiöser Erfahrung bei Solov'ev und meint, beide Begriffe seien in ihrer Zweideutigkeit der christlichen Religion unangemessen. 2 6 3 KON II, 329, in deutlicher Anlehnung an Hebr 11,1. 2 6 4 T F I X , 106.
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religiöse Erfahrung nicht auf die unmittelbare Erfahrung der Gottheit oder des Wesens der Welt selbst in einem mystischen Erlebnis beschränken, das die Grenzen der natürlichen Erfahrungs- und Aussagefähigkeit des Menschen überschreitet und damit auch deren Zweideutigkeit 2 6 5 . Religiöse Erfahrung ist alles das, was der Mensch erfährt und religiös deutet. Der Unterschied zwischen wahrhaftiger religiöser Erfahrung und pseudoreligiöser Erfahrung liegt also nicht etwa darin, daß jene übersinnliche und übernatürliche, diese aber sinnliche oder psychische Erfahrung ist. Religiöse Erfahrung erweist sich allein im wahren religiösen Glauben als wahrhaft religiös 2 6 6 , das heißt als Erfahrung, die den Menschen wirklich mit G o t t in Beziehung s e t z t 2 6 7 und nicht mit anderen übernatürlichen Mächten oder mit seinen eigenen Gefühlen.
Was religiöse Erfahrung von mystischer Erfahrung und von aller anderen äußeren und inneren Erfahrung unterscheidet, ist also nur ihre Deutung. Religiöse Deutung aber hat ihren Einfluß auch auf die Bedeutung der Phänomene der Erfahrung. Es geht in der Religion nicht nur um die Erkenntnis der Wahrheit gewisser Erscheinungen einer Erfahrung, sondern um den Sinn und das Ziel des eigenen Lebens des Erfahrenden. Diese doppelte Perspektive der religiösen Deutung und Bedeutung ist es, was die religiöse Erfahrung von anderer Erfahrung unterscheidet 2 6 8 .
2. Persönliche religiöse
Erfahrung
Als den Inhalt aller religiösen Erfahrung definiert Solov'ev diejenigen Erscheinungen, „die wir zum Wirken der Gottheit auf uns in Beziehung setzen" 2 6 9 . In dieser grundlegenden Definition der religiösen Erfahrung ist wiederum die Deutung der Erfahrung von der Warte des religiösen Glaubens aus mitgegeben. N u r im Glauben an eine göttliche Wirklichkeit können wir eine Erfahrung, die wir machen, als religiös bezeichnen, das heißt mit unserer Religion verbinden. Denn „wahrhafte Religion" (istinnaja religija) ist bei Solov'ev selbst vom Glauben an die Gottheit her definiert als „lebendige Beziehung" des Menschen zu G o t t 2 7 0 und als „innere Vereinigung" 2 7 1 oder „innere Einheit des Menschen mit G o t t " 2 7 2 . N u r durch diesen Glauben an die wirkliche Verbindung von Mensch und Gott ist die Rede von religiöser Erfahrung sinnvoll.
2 6 5 L. Müller scheint dies zu versuchen, wenn er religiöse Erfahrung bei Solov'ev der Welterfahrung gegenüberstellt und das Besondere der religiösen Erfahrung bei Solov'ev darin sieht, daß sie zur Erkenntnis des Wesens ihrer Objekte kommt ( L . Müller, System, S. 18). Dies ist aber bei Solov'ev ganz dem Akt des Glaubens oder der Intuition vorbehalten. 2 6 6 PB IX, 13 f. 2 6 7 MPDJal, 10. 2 6 8 Art. „Opyt", B - Ε , RG X, 252 ( = DG VI, 399): „in ihrer Bedeutung für das Leben unterscheiden sich erfahrene religiöse Zustände von allen übrigen Gegebenheiten... der inneren Erfahrung". 2 6 9 PB IX, 14. 2 7 0 PB IX, 18. 2 7 1 F N C Z I, 31 1. 2 7 2 MPDJa 1,10.
165
Es versteht sich von selbst, daß von dieser Voraussetzung aus Solov'ev den Akzent ganz auf die persönliche, unmittelbare religiöse Erfahrung des einzelnen legt. Denn nur in ihr bilden die erfahrenen Phänomene und der sie interpretierende Glaube die unmittelbare Einheit, ohne die religiöse Erfahrung nicht denkbar ist. Zwar überträgt Solov'ev die allgemeine Unterscheidung von direkter und indirekter Erfahrung auf die religiöse Erfahrung und redet von persönlicher und allmenschlicher religiöser Erfahrung (licnyj i vseceloveceskij religioznyj opyt) 2 7 3 . Aber als historische religiöse Erfahrung der Menschheit (istoriceskij religioznyj opyt) bezeichnet er nicht, wie man parallel zur historischen Erfahrung in Wissenschaft und Gesellschaft erwarten sollte, die summarische religiöse Lebenserfahrung einzelner Menschen, Gruppen, Völker oder der ganzen Menschheit, sondern die einzelnen religiösen „Ereignisse" (sobytija) aus dem Leben einzelner religiöser Menschen, die uns als bedeutsam überliefert sind 2 7 4 . So gehört auch die historische religiöse Erfahrung, die uns in der religiösen Uberlieferung von Offenbarungsschriften und Lebenszeugnissen erhalten ist, eigentlich in den Bereich der persönlichen religiösen Erfahrung. Religiöse Erfahrung ist bei Solov'ev auch als mehr oder weniger reflektierte Lebenserfahrung immer zuerst persönliche Erfahrung215. Dies ist im Wesen der Religion begründet. Als die Erfahrung der inneren Einheit des einzelnen Menschen mit G o t t sperrt sich die religiöse Erfahrung mehr als jede andere menschliche Erfahrung gegen ihre Verallgemeinerung. Als positive Kraft, die das praktische Leben des Menschen lenken kann und s o l l 2 7 6 , sperren sich Religion und religiöse Erfahrung gegen ihre Theoretisierung. G o t t ist nur dann wirklich G o t t , wenn er als lebendiger G o t t v o m Menschen erfahren wird. Für Solov'ev ist sogar ein ferner, unerfahrbarer G o t t , der sich den Augen der Menschen niemals zeigt, sondern „incognito im Jenseits lebt", niemand anders als „der G o t t dieser Welt", der Teufel 2 7 7 . Deswegen polemisiert Solov'ev gegen Menschen, die von G o t t reden und religiöse Theorien aufstellen, ohne zu ihm in einer persönlichen Beziehung zu stehen und ohne von ihm „in einer persönlichen A u d i e n z " beauftragt worden zu sein 2 7 8 . O h n e persönliche Gotteserfahrung ist Religion für Solov'ev bloße Theorie, die unglaubwürdig und kraftlos bleibt 2 7 9 . N u n muß diese persönliche Gotteserfahrung des einzelnen nicht immer eine „persönliche A u d i e n z " des Menschen bei G o t t sein und den Charakter einer Berufungsvision oder -audition tragen. Aber in Visionen und Auditionen tritt G o t t dem Menschen am unmittelbarsten gegenüber. Deswegen haben sie einen ganz besonderen 273 x p
IX>
90 .
274 p B
I X > 14
.
275
Art
„Opyt", B - Ε , RG X, 251 ( = D G VI, 398f.).
2 7 7 TR X, 189, in Anlehnung an 2 Kor 4,4. F N C Z I , 404 . 278 TR x > 175. Den Ausdruck „persönliche Audienz" (licnaja audiencija) gebraucht Solov'ev in einem Vergleich mit der Audienz beim Zaren, die einen Gesandten der russischen Regierung bevollmächtigt. 2 7 9 So auch L. Müller, Anmerkungen zu 3G, D G VIII, 526. Solov'evs Stellungnahme gegen eine nur theoretische Religion ohne beglaubigende Gotteserfahrung richtet sich gegen die Gottesvorstellung L.Tolstojs. Bei Tolstoj bleibt Gott der ferne, unerfahrbare Herr, während er bei Solov'ev im Gottmenschen Christus und im Heiligen Geist unmittelbar erfahrbar ist. 276
166
Stellenwert bei Solov'ev. Sie sind der bedeutendste Teil der historischen religiösen E r f a h r u n g . Solov'ev nennt an erster Stelle die G o t t e s e r f a h r u n g , die C h r i s t u s selbst in seinem irdischen L e b e n gemacht hat. E r nennt die Visionen und Auditionen eines Paulus, eines H l . F r a n z i s k u s und eines H l . S e r g i u s 2 8 0 . E r nennt aber auch die B e r u fungsgeschichte M o h a m m e d s 2 8 1 . Wir wissen auch u m die B e d e u t u n g der visionären religiösen E r f a h r u n g in Solov'evs eigenem L e b e n . In all diesen inhaltlich sehr verschiedenen Fällen - und wir können Solov'ev selbst mit einschließen - w u r d e aus der unmittelbaren persönlichen religiösen Erfahrung einzelner eine allgemeinmenschliche historische religiöse E r f a h r u n g in Gestalt von O f f e n b a r u n g s s c h r i f t e n oder allgemeinen religiösen und religionsphilosophischen Lehren, weil G o t t das L e b e n und die Lehre dieser Menschen durch eine „persönliche A u d i e n z " beglaubigt hat. Wer die religiösen Lehren anderer annimmt, soll dies nach Solov'ev nur tun, wenn sie direkt von G o t t beglaubigt s i n d 2 8 2 . D e r einzelne soll auch versuchen, die indirekte religiöse E r f a h r u n g durch unmittelbare, persönliche religiöse E r f a h r u n g zu ergänzen. D e n n persönliche E r f a h r u n g stützt den religiösen G l a u b e n 2 8 3 und macht ihn zur lebendigen, gestaltenden K r a f t des L e b e n s 2 8 4 .
Gerät Solov'ev aber bei der Bedeutung, die er der unmittelbaren Erfahrung für alle Religion beimißt, nicht in die Gefahr eines religiösen Subjektivismus, der eher sektiererhaft als christlich wäre? Wieweit er dieser Fragwürdigkeit entgeht, können wir erst beurteilen, wenn wir geklärt haben, was nach Solov'ev der Inhalt der wahren religiösen Erfahrung ist. Die Tatsache, daß Solov'ev von seinen ersten bis zu seinen letzten Schriften die Zweideutigkeit religiöser Erfahrung betont 2 8 5 , spricht für sein Problembewußtsein in diesem Punkt. Die wahre religiöse Erfahrung selbst muß subjektiv sein, ihre Interpretation aber allgemein und durch das religiöse Denken überprüfbar. Denn gerade für die religiöse Erfahrung zwischen den Polen Gottes- oder Satanserfahrung gilt das Sprichwort, mit dem Solov'ev die religiöse Scharlatanerie des Antichrist entlarvt: Es ist nicht alles Gold, was glänzt 2 8 6 .
3. Wahre religiöse Erfahrung als
Gotteserfahrung
In allen Religionen ist der eigentliche Gegenstand der wahren religiösen Erfahrung die Gottheit (bozestvo) selbst. Zwar werden in der religiösen Erfahrung auch vielfältige Erscheinungen und gefühlsmäßige Bewußt280
P B I X , 14.
281
MÈRLI VII, 223-225.
N a t ü r l i c h m ü s s e n auch noch andere B e d i n g u n g e n erfüllt w e r d e n , damit eine religiöse L e h r e g l a u b w ü r d i g ist. D i e wichtigste B e d i n g u n g : Religiöse L e h r e darf der L e h r e der ö k u m e n i schen K i r c h e nicht w i d e r s p r e c h e n . S . u . S. 307—310. 282
2 8 4 D 0 2 III, 3 2 5 ; I B T I V , 324. 1 2. V P X , 40. Vgl. M P D J a I, 1 1 - 2 3 : H i e r in seiner ersten Schrift zählt S o l o v ' e v heidnische F o r m e n irrtümlicher religiöser E r f a h r u n g im Verlauf der R e l i g i o n s g e s c h i c h t e auf. - Vgl. T R X , 1 9 7 - 2 2 0 : In seiner letzten großen Schrift schildert S o l o v ' e v die p s e u d o r e l i g i ö s e E r f a h r u n g v o n fingierten W u n d e r n bis zu vermeintlichen G o t t e s u r t e i l e n als H a u p t v e r f ü h r u n g s m i t t e l des Antichrist. 283
285
286
T R X , 220.
167
seinszustände erfahren, die nicht direkt auf Gott hinweisen. Aber „das höchste Objekt des religiösen Gefühls" (cuvstvo) ist die Gottheit selbst, die sich in den verschiedenen Erfahrungen bekundet 2 8 7 . Im Unterschied zu Theorien über die Religionen definieren die Religionen selbst ihre Gottheit als „etwas unbedingt in der Erfahrung Gegebenes" (nepremenno dannoe ν opyte) 2 8 8 . Wenn die Gottheit wirklich existiert, dann muß auch der außerhalb der Gottheit lebende Mensch sie empfinden 2 8 9 . Von beiden Grundsätzen gehen nach Solov'ev alle Religionen aus. In ganz besonderem Maße gilt dies für das Christentum. Hier gibt es die überlieferte vielfältige Gotteserfahrung von „anerkannten Experten" der religiösen Erfahrung, die belegt, daß Gott selbst Gegenstand der religiösen Erfahrung ist 2 9 0 . Solov'ev erinnert an den Apostel Johannes, der ihm als Verfasser aller johanneischen Schriften des Neuen Testaments und damit als großer Mystiker und Seher gilt, und an die christlichen Mystiker durch die Jahrhunderte hindurch. Es gibt auch die persönliche Gotteserfahrung vieler nicht als „Experten" anerkannter Christen. Hierzu zählt Solov'ev seine eigene mystische Erfahrung 2 9 1 . Das besondere Merkmal christlicher Gotteserfahrung ist Christus selbst, der inkarnierte Gottessohn. Weil er als Mensch erschienen ist, bezieht sich der christliche Gottesbegriff „auf einen Gegenstand, der in der Erfahrung gegeben ist - sogar für die äußeren Sinne" 2 9 2 . Im irdischen Jesus wurde Gott „gehört", „gesehen" und „betastet" ( l j o h 1,1-3). - So ist Gott im Christentum der Gegenstand der religiösen Erfahrung in allen ihren Formen: in äußerer, innerer und mystischer Erfahrung.
3.1 Die historische Entwicklung Gotteserfahrung
zur christlichen
D i e G o t t h e i t als G e g e n s t a n d aller w a h r e n religiösen E r f a h r u n g w u r d e i m L a u f e des langen P r o z e s s e s der R e l i g i o n s g e s c h i c h t e in sehr v e r s c h i e d e n e n F o r m e n u n d unter m a n n i g f a c h e n N a m e n u n d B e g r i f f e n erfahren. S o l o v ' e v v e r s u c h t m e h r f a c h , eine g e s e t z m ä ß i g e o d e r f o l g e r i c h t i g e E n t w i c k l u n g der vielfältigen G o t t e s e r f a h r u n g a u f z u z e i g e n 2 9 3 . W i r k ö n n e n seine religionsgeschichtlichen G e d a n k e n in z w e i E n t w i c k lungslinien z u s a m m e n f a s s e n . E r s t e n s zeigt S o l o v ' e v einen h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g s p r o z e ß der e l e m e n t a r e n religiösen G e f ü h l e des M e n s c h e n g e g e n ü b e r der G o t t h e i t als e i n e m h ö h e r e n Wesen in drei historisch a u f e i n a n d e r f o l g e n d e n S t u f e n . G o t t , der i m m e r eine ü b e r d e m M e n schen s t e h e n d e allmächtige K r a f t ist, w i r d z u B e g i n n der religiösen E n t w i c k l u n g der M e n s c h h e i t als äußere, v e r z e h r e n d e K r a f t des F e u e r s e r f a h r e n . D e r M e n s c h s e l b s t 2 8 8 Ebd. 2 8 9 D O È III, 336. PB IX, 15. PB IX, 12: Solov'ev meint mit den „Experten" Heilige und große Mystiker der Kirche, deren Zeugnisse als Teil der kirchlichen Tradition allgemein anerkannt sind. 2 9 1 Ebd. 2 9 2 Ebd. 2 9 3 M P D J a I, 1 - 2 6 ; C B III, 3 9 - 4 1 . 149-155; D O Z III, 336-338; PB IX, 15-17. 287 290
168
sieht sich außerhalb der alles vernichtenden G o t t h e i t , ihr als Sklave untergeben. Ein solcher G o t t erzeugt das religiöse G e f ü h l der Furcht (cuvstvo stracha); und dieses religiöse Gefühl wiederum läßt den Menschen G o t t als unbekannte Kraft oder gar als M o l o c h erfahren, dem er sich opfern m u ß 2 9 4 . Auf einer zweiten Stufe wird die allmächtige G o t t h e i t , etwa beim „Betrachten des gestirnten H i m m e l s über u n s " , als strahlendes Licht der Welt und der Vernunft, als erleuchtende Idee erfahren. D e r Mensch gibt sich solcher G o t t h e i t in Kontemplation und Askese hin. Ein solcher G o t t erzeugt das religiöse Gefühl des Erstaunens und der Ehrfurcht (udivlenie, blagogovenie). D i e Ehrfurcht wiederum läßt den Menschen nach einer lebendigen Vereinigung seines Geistes mit dieser lichten G o t t h e i t s t r e b e n 2 9 5 . A u f der dritten und höchsten Stufe erfährt der M e n s c h G o t t als den Geist der G ü t e und L i e b e 2 9 6 . E r selbst sieht sich als G o t t e s freies Gegenüber und strebt danach, seinen Willen mit dem Willen G o t t e s im G e b e t zu vereinigen. Ein solcher G o t t , der Liebe ist, erzeugt im Menschen selbst das religiöse G e f ü h l der Liebe (cuvstvo ljubvi). D i e Liebe wiederum läßt den Menschen nicht bei der Vereinigung seines ganzen Seins mit G o t t stehenbleiben, sondern läßt ihn in eine liebende „religiöse Verbindung mit den M e n s c h e n " t r e t e n 2 9 7 . - Man kann unschwer drei Typen der Religion hinter den drei von Solov'ev genannten religiösen Grundgefühlen erkennen. D e m elementaren G e f ü h l der Furcht vor G o t t entsprechen die heidnische und die alttestamentliche Opferreligion. D e m Gefühl der E h r f u r c h t gegenüber G o t t entsprechen die kontemplativen Religionen des O s t e n s und auch die Vernunftreligion neuzeitlicher Philosophen. D e m Gefühl der Liebe zu G o t t entspricht in Vollendung nur Christus s e l b s t 2 9 8 und als höchste Stufe aller Religionen allein das C h r i s t e n t u m 2 9 9 . In der zweiten Entwicklungslinie der bereits fortgeschrittenen mystischen E r f a h rungen unterscheidet Solov'ev wiederum drei Stadien. D i e erste mystische Erfahrung ist die innere Erfahrung des absoluten Gelöstseins oder Abgeschiedenseins (opyt otresennosti) von allen irdischen Begrenzungen. A u f dieser religiösen Erfahrung beruht die Idee der G o t t h e i t als des Absoluten (absoljutnoe), als des Gelöstseins von allen Definitionen. Dies ist als N i r w a n a der ganze religiöse Inhalt des B u d d h i s m u s 3 0 0 . A b e r auch viele mystische und dualistische religiöse Strömungen beruhen auf dieser Erfahrung. - Eine zweite mystische Erfahrung ist die Erfahrung der „Identität von Subjekt und O b j e k t " der religiösen Erfahrung (tozdestvo s u b " e k t a i o b " e k t a ) 3 0 1 , das heißt der unterschiedslosen Vereinigung aller Kräfte des M e n s c h e n , seines leiblichen und seelischen Wesens mit der G o t t h e i t , so daß der Ausübende und der göttliche Gegenstand der Religion in eins zusammenfallen. A u f dieser religiösen Erfahrung der Identität mit G o t t beruht die Idee der G o t t h e i t als der all-einen Substanz eines jeden Seins (vseedinaja substancija). Dies ist als All-Seele (vse-dusa) der Grundinhalt des Brahmanismus. D i e „innere Wahrnehmung oder Empfindung der Identität mit der 294
D O Z III, 336f.
2
« A.a.O. S. 337.
Vgl. die Charakterisierung des Heiligen Geistes im Neuen Testament als Güte (z. B. Rom 2,4) und als Liebe (z. B. Rom 5,5). 297 2 « I D F II, 410. ΌΟΪ III, 338. « s CB III, 167; O D VIII, 224. 3 0 0 PB IX, 15 f. 3 0 1 PB IX, 16. Die Wendung stammt vom frühen Schelling und ist Ausdruck seiner Identitätslehre, nach der Geist (Subjekt) und Natur (Objekt) aus demselben Weltgrund hervorgehen und ursprünglich identisch sind (F. W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), §22, Werke, Originalausgabe, Bd. 1/4 (1859), S. 105ff. = Werke, hrsg. v. M.Schröter, 3. Bd., S. Iff.). 296
169
all-einen S u b s t a n z d e r W e l t " ( v n u t r e n n o e vosprijatie ili oscuscenie) ist a b e r a u c h g a n z allgemein die religiöse E r f a h r u n g des P a n t h e i s m u s , d u r c h die eine Vielzahl v o n M e n s c h e n in d e r G e s c h i c h t e h i n d u r c h g e g a n g e n ist u n d n o c h h i n d u r c h g e h t 3 0 2 . So w u r d e d e r P a n t h e i s m u s im F e r n e n O s t e n Volksreligion, in E u r o p a „die Lieblingsreligion der M e t a p h y s i k e r u n d D i c h t e r " 3 0 3 . F ü r alle P a n t h e i s t e n ist die I d e n t i t ä t m i t d e r all-einen S u b s t a n z d e r Welt eine „ G e g e b e n h e i t d e r E r f a h r u n g " ( d a n n o e o p y t a ) . - D i e dritte, h ö c h s t e u n d e n d g ü l t i g e m y s t i s c h e E r f a h r u n g hat z w e i Seiten: Sie ist einerseits „die E m p f i n d u n g des g ö t t l i c h e n U r s p r u n g s des Seins" (oscuscenie b o z e s t v e n n o g o nacala bytija), das h e i ß t , sie ist E r f a h r u n g des A b s o l u t e n u n d des U r g r u n d e s 3 0 4 ; andererseits ist sie die m y s t i s c h e E r f a h r u n g d e r i n n e r e n V e r e i n i g u n g des M e n s c h e n m i t d e m A b s o l u t e n o d e r des A b s o l u t e n m i t d e m M e n s c h e n , die E r f a h r u n g der „ i n n e r e n G e b u r t d e r G o t t h e i t im M e n s c h e n " 3 0 5 . M i t a n d e r e n W o r t e n , diese e n d g ü l t i ge religiöse E r f a h r u n g ist die d o p p e l t e E r f a h r u n g G o t t e s als des a b s o l u t T r a n s z e n d e n ten u n d als des m i t d e m M e n s c h e n v e r e i n t e n G o t t m e n s c h e n ( B o g o c e l o v e k ) 3 0 6 . Sich selbst e r f ä h r t d e r M e n s c h in dieser E r f a h r u n g ebenfalls d o p p e l t : s o w o h l als N i c h t s g e g e n ü b e r G o t t ( n i c t o z e s t v o ) als a u c h selbst als G o t t h e i t ( b o z e s t v o ) 3 0 7 o d e r göttlich ( b o z e s t v e n n y j ) o d e r g e n a u e r als Teilhaber an d e r G o t t h e i t ( p r i c a s t n y j B o z e s t v u ) 3 0 8
302
PB IX, 16. Ebd. Solov'ev nennt hier als Beispiele Spinoza und Goethe. Spinoza sprach von dem Urgrund alles Seienden als „substantia sive natura sive deus" (Β. de Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, 1. Teil, Def. 3, Opera/Werke, lateinisch und deutsch, Bd. 2, S. 86 f.). Von Spinoza hat Solov'ev den Begriff „Substanz" zur Bezeichnung des all-einen Seienden übernommen. 304 D 0 2 III, 418. 305 IDF II, 410. Die innere Vereinigung des Menschen mit dem Absoluten ist das philosophische und theologische Grundprinzip der geschichtlichen Entwicklung bei Solov'ev. Diese Vereinigung ist das Ziel des christlichen Glaubens und der christlichen Gotteserfahrung sowie der Praxis der christlichen Frömmigkeit, nicht nur der kontemplativen, sondern auch der aktiven, der Welt zugewandten Frömmigkeit. Diese Vereinigung ist aber auch das Ziel aller philosophischen Erkenntnis. Die Vereinigung des Menschen mit dem Absoluten geschieht also nach Solov'ev in allen Bereichen des Lebens, sie ist das Gottmenschentum, das Geist, Seele und Leib des Menschen umfaßt. (Vgl. die Interpretation S.Trubeckojs, die zum gleichen Ergebnis kommt: S. Trubeckoj, Vorwort, S. 618). 306 IBTIV, 288. 307 ÇB III, 121. 308 CB III, 19; vgl. a.a.O. S. 10. Zu beachten ist die unterschiedliche Schreibweise: bozestvo (kleingeschrieben) bezeichnet die allgemeine Gottheit, die vielen Wesen zukommen kann; Bozestvo (großgeschrieben) bezeichnet die Gottheit des absoluten Ursprungs alles Seienden, das heißt Gottes selbst. Daß Vergöttlichung oder Vergottung des Menschen (obozestvlenie oder obozenie/θέωσις) das Ziel der Erlösung des Menschen durch Christus und das Ziel seiner mystischen Erfahrung und Vereinigung mit Gott ist, ist eine in der Ostkirche seit Clemens von Alexandrien und Orígenes übliche Ausdrucksweise der dogmatischen und mystischen Theologie (vgl. F.Heiler, Die Ostkirchen, S. 120ff. 277ff.). Auch die Erklärung der Vergöttlichung als Teilhabe (pricastie/μέθεξις) an der göttlichen Erleuchtung und Unsterblichkeit, nicht aber an Gottes Wesen, ist traditionelle orthodoxe Ausdrucksweise. Sie findet sich in der für die Ostkirche als N o r m wirkenden Dogmatik des Johannes von Damaskus (Joannis Damascenus, De fide orthodoxa, II, 30, PG 94, 976 AB), ebenso in dessen 1. Homilie (homilía I, 19, P G 96, 573 C), aber auch bei Clemens von Alexandrien (Stromat. VI, 134, 2, GCS 15, S.500, 4 f.) und anderen Kirchenvätern. Solov'ev benutzt hier also eine traditionelle orthodoxe theologische Ausdrucksweise. An anderer Stelle macht er deutlich, daß für ihn die Vergöttlichung des Menschen allein 303
170
des transzendenten Gottes. Diese doppelte mystische Erfahrung Gottes ist die höchste Stufe der mystischen Erfahrung überhaupt, ebenso wie die Erfahrung der Liebe zu Gott die höchste Stufe des religiösen Gefühls überhaupt ist. U n d wie die Erfahrung der Liebe zu Gott nur im Christentum ihre Vollendung findet, so findet auch die Erfahrung des Gottmenschentums (bogocelovecestvo) als der Einheit des absolut seienden Gottes mit dem Menschen als dem „werdenden Absoluten" 3 0 9 ihre Vollendung nur in Christus selbst als dem inkarnierten Gottmenschen (voploscennyj Bogocelovek) und im Christentum als der Religion des Gottmenschentums 3 1 0 .
Die beiden Entwicklungslinien der vielfältigen religiösen Gefühle und mystischen Erfahrungen der Menschheit mit der Gottheit laufen jeweils auf das gleiche Ziel hinaus: auf Christus als den Gottmenschen, der mit Gott in vollendeter Liebe vollendet eins ist 311 , und auf das Christentum als der vollendeten Religion der Liebe zu Gott und der innigsten Vereinigung mit dem absolut transzendenten Gott. Für die gesamte Entwicklung gilt: Die Gottheit erzeugt (porozdaet) die religiösen Gefühle und die mystischen Erfahrungen im Menschen 3 1 2 , die dann das Material für die entsprechende Gottesvorstellung und -erkenntnis sind. Religiöse Erfahrung definiert sich von vornherein als Einwirkung der Gottheit auf den Menschen313; sonst wäre sie keine religiöse Erfahrung. Deswegen entspricht bei Solov'ev der religiösen Erfahrung als Erfahrung des Menschen immer die Offenbarung (otkrovenie) als das Handeln Gottes, das bestimmte religiöse Erfahrungen ermöglicht 314 . Wegen dieser Entsprechung von religiöser Erfahrung und Offenbarung kann eine den Entwicklungslinien der Gotteserfahrung entsprechende Entwicklung der Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit aufgezeigt werden: „Religiöse Entwicklung, als objektiver Vorgang, ist notwendig Offenbarung." 315
Gottes Handeln in Christus ist, das vom Menschen umsonst empfangen wird und von seinen Taten nicht abhängt: Der Mensch wird in der Kirche vergöttlicht durch die Gnade der Sakramente, an denen er teilhat (RRNO III, 267). Im Russischen ist schon sprachlich die Verbindung der Vergöttlichung als Teilhabe an Gottes Eigenschaften (pricastie) mit dem Eucharistieempfang („pricastie" ist auch die Bezeichnung für das Kommunizieren) gegeben - übrigens im Gegensatz zum griechischen Sprachgebrauch, der zwischen Vergöttlichung als μέθεξίς und Eucharistie als μετάληψις (Teilnahme) unterscheidet. - Dieser von der Vätertradition geprägte theologische Sprachgebrauch Solov'evs ist frei von den pantheistischen und synergistischen Tendenzen, die man Solov'ev vorgeworfen hat (gegen Κ. V. Truhlar, Der Vergöttlichungsprozeß, S. 44). - Zum Vergöttlichungsprozeß der Menschen in Christus im Denken Solov'evs s. u. S. 331 f. 309 K O N II, 323; CB III, 10; I C A K I X , 189. 310 IDF II, 408; REU, FS, 132 (= DG III, 158). Ebenso meint auch S.Trubeckoj, daß das Christentum für Solov'ev die „Religion des Gottmenschentums" sei (S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo.S. 104). 311 ΌΟΪ III, 365; O D VIII, 218. 224. 312 D O Z III, 337. Damit wendet sich Solov'ev gegen die Thesen Feuerbachs, die in Rußland durch Positivisten wie N. Cernysevskij und K. Kavelin Verbreitung fanden. 313 PB IX, 14. 314 p I F m > 297 ; p ß IX, 16. ™ CB III, 40.
171
3.2 Die Entwicklung
zur Offenbarung
Gottes in Christus
Den Prozeß der Offenbarung teilt Solov'ev wieder in drei Stufen 316 . Auf der ersten Stufe der Offenbarung bleibt die Gottheit hinter der Welt der Naturerscheinungen verborgen. Direktes Objekt der Gotteserfahrung sind nur natürliche Gegenstände, Wesen und Kräfte, kurz: die Natur. Diese erste Stufe nennt Solov'ev deshalb Stufe der „natürlichen Offenbarung" (estestvennoe otkrovenie). Sie findet sich in den Naturreligionen und polytheistischen Religionen 317 . Zunächst hält der Mensch die Natur selbst für göttlich. Dann aber zeigt die Lebenserfahrung dem Menschen, daß die Natur selbst keinen Inhalt hat, sondern nur Grundlage des natürlichen Egoismus und des Bösen und des Leidens im Leben ist. Damit erkennt der Mensch sich selbst und das Göttliche als der Natur überlegen 318 . Dem entspricht die zweite Stufe der Offenbarung. Die Gottheit offenbart sich hier in ihrem Gegensatz zur Natur, nämlich als deren Verneinung, als negative Freiheit von allem natürlichen Sein, das heißt als Nichts (nieto). Diese Stufe nennt Solov'ev deshalb die Stufe der „negativen Offenbarung" (otricatel'noe otkrovenie). Sie findet sich in reinster Form im Buddhismus 319 . Das Nichtsein (nebytie) ist gerade das Charakteristikum alles Wesentlichen (suscestvujuscee) auf dieser Stufe der Offenbarung. Der Inhalt der negativen Offenbarung lautet: Gott ist das Nichts. Die Religion der negativen Offenbarung ist religiöser Nihilismus. Dem entspricht nach Solov'ev der philosophische Nihilismus Schopenhauers und E.von Hartmanns. Beide Formen des Nihilismus beweisen für Solov'ev, daß der Mensch durch die Ablehnung der Natur hindurch muß, um „zur Wahrnehmung der übernatürlichen unbedingten Wirklichkeit" (vosprijatie sverchprirodnoj bezuslovnoj dejstvitel'nosti) zu gelangen 320 . Diese eigentliche Gotteserfahrung vollzieht sich auf der dritten Stufe der Offenbarung. Die Gottheit offenbart sich hier fortschreitend in ihrem eigentlichen Inhalt, „in dem, was sie in sich und für sich ist". Diese dritte Stufe nennt Solov'ev daher die Stufe der „positiven Offenbarung" (polozitel'noe otkrovenie) 321 . Hier wird die Natur wieder für die Gotteserfahrung zurückgewonnen, denn durch die positive Offenbarung der Gottheit wird sie nicht mehr außerhalb der Gottheit als Böses betrachtet, sondern mit der Gottheit positiv verbunden. Der Inhalt der positiven Offenbarung lautet nach Solov'ev: Gott ist für uns alles322. Deswegen kann durch die positive Offenbarung die Natur aus ihrem göttlichen Ursprung heraus (iz bozestvennogo nacala) betrachtet werden und erfahren werden. Und die Gottheit selbst kann ebenso in natürlichen wie in übernatürlichen Erscheinungen erfahren werden. Die natürliche Welt wird zum Material nicht nur der menschlichen Erfahrung Gottes, sondern auch seiner vollen Realisierung (realizaeija) für den Menschen 323 . Die Stufe der positiven Offenbarung hat in sich wiederum verschiedene Phasen. Dazu gehören alle monotheistischen Religionen, in einer weiter entwickelten Phase besonders die Offenbarung des persönlichen Gottes (otkrovenie lienogo Boga) im Alten Testament bei Moses, David, Salomo und den Propheten 324 . Ihre letzte und endgültige Phase hat die positive Offenbarung in Christus erreicht als dem geistlichen Menschen oder Gottmenschen, der das materiell-natürliche Element dem göttlichen frei unterordnet 325 . Und diese endgültige
316 318 321 324
172
Vgl. zum folgenden Abschnitt CB III, 4 0 - 4 7 . 319 A.a.O. S. 4 1 - 4 4 . A.a.O. S. 40. 322 A.a.O. S. 40f., hier S. 41. A.a.O. S. 47. 325 A.a.O. S.79f. 161. A.a.O. S. 166.
317 320 323
CB III, 40. A.a.O. S. 45 f., hier S. 46. Ebd.
P h a s e der p o s i t i v e n O f f e n b a r u n g setzt sich f o r t i m C h r i s t e n t u m als R e l i g i o n d e s G o t t m e n s c h e n t u m s , die den D u a l i s m u s z w i s c h e n d e m t r a n s z e n d e n t e n G o t t u n d der natürlichen Welt ü b e r w i n d e t 3 2 6 u n d d u r c h die K i r c h e die g e s a m t e M e n s c h h e i t frei vergöttlichen s o l l 3 2 7 .
3.3 Christus als Höhepunkt und Erfahrung Gottes
und Synthese aller
Offenbarung
Christus selbst und das Christentum insgesamt sind der E n d p u n k t und H ö h e p u n k t der historischen Entwicklungslinien der vielfältigen Gotteserfahrung der Menschheit in elementaren religiösen Gefühlen wie in mystischen Erlebnissen; sie sind ebenso End- und H ö h e p u n k t der historischen Entwicklung der mannigfachen und teilweise gegensätzlichen O f f e n b a r u n gen Gottes. Die positive O f f e n b a r u n g Gottes im Christentum erweist sich als U b e r w i n d u n g der geschichtlich gesehen notwendigen, aber doch die Gottheit in ihrem Wesen entstellenden natürlichen und negativen O f f e n b a rung. D i e Liebe zu G o t t erweist sich im Christentum als U b e r w i n d u n g blinder Furcht vor einem grausamen, menschenfeindlichen G o t t und als Ü b e r w i n d u n g kalter Ehrfurcht vor einem unwirklichen und menschenfernen Gott. D i e doppelte mystische Erfahrung der Absolutheit Gottes und der inneren Vereinigung des ganzen Menschen mit G o t t erweist sich im Christentum als Ü b e r w i n d u n g der einseitigen mystischen Erfahrungen des absoluten Losgelöstseins von der natürlichen Welt und der Identität von G o t t heit, natürlicher Welt und Mensch. Als vollendete Religion hebt das Christentum aber die übrigen religiösen Gefühle und mystischen Erfahrungen im U m g a n g der Menschheit mit der Gottheit nur so auf, daß sie deren positive Elemente erhält. Darin ist das Christentum die Synthese aller Religionen^26. 3 2 ' A.a.O. S. 180. A.a.O. S. 178f. Die „außerordentliche Gabe der historischen Synthese" (V.Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 24), die Solov'ev zweifellos eigen ist und die für ihn charakteristisch ist, entwickelt er teilweise in der Form der Hegeischen Dialektik von These, Antithese und Synthese (besonders in seinen Frühschriften „Der mythologische Prozeß im alten Heidentum" und „Die Krise der westlichen Philosophie"). In seiner Darstellung der historischen Entwicklung der religiösen Erfahrung und der Geschichte des sich entwickelnden Gottmenschentums der gesamten Menschheit folgt Solov'ev allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch und formal Hegel nicht (gegen L. Lopatin, Filosofskoe mirosozercanie, S. 59). Solov'ev entwickelt in Anlehnung an Comte ein eigenes Entwicklungsschema. Comte hatte für die geistige Entwicklung der Menschheit ein Drei-Stadien-Gesetz erhoben, nach dem sich die Menschheit von einem anfänglichen religiösen Stadium über ein metaphysisch-idealistisches Zwischenstadium zum positivistischwissenschaftlichen Endstadium hinbewegt (vgl. Art. „Kont", B - Ε , R G X , 380-409, hier 387-391 = D G VI, 251-293, hier 262-268 sowie K Z F , Anhang, I, 152-170). Solov'ev findet folgende Formel für die Entwicklung einer jeden Idee in der Geistesgeschichte der Menschheit. In der ersten Phase ist eine Idee der Ausdruck der unmittelbaren Gewißheit des Menschen durch Eingebung. Die verschiedenen Erkenntnisse bilden eine naive, nur äußere Einheit durch Vermischung. Diese Phase bei Solov'ev entspricht dem religiös-theologischen Anfangsstadium bei Comte. In der zweiten Phase ist eine Idee Gegenstand des abstrakten Denkens des Menschen 326
328
173
So ist auch im Christentum die Furcht Gottes der Beginn aller Erkenntnis Gottes (Sprl,7). Die beiden mystischen Erfahrungen der Bestimmungslosigkeit Gottes im absoluten Losgelöstsein des Menschen von der natürlichen Welt und der All-Einheit von Gott und natürlicher Welt gibt es nicht nur weiterhin im Christentum. Sie werden sogar von den christlichen „Experten der mystischen Erfahrung" weiter entwickelt 329 und bei der Definition des christlichen Gottesbegriffs durch zwei theologische Denkrichtungen berücksichtigt, die auf diesen beiden mystischen Erfahrungen beruhen und seit Dionysius Areopagita in der Ostkirche, seit dem Hochmittelalter auch im christlichen Abendland allgemein angewandt werden. Die apophatische Theologie umschreibt Gottes Wesen, indem sie alle positiven Definitionen ablehnt und herausstellt, was Gott nicht ist oder was er unendlich überragt und transzendiert. Sie entspricht der mystischen Gotteserfahrung des absoluten Losgelöstseins von der irdischen Welt und ihren Bestimmungen. Die kataphatische Theologie sammelt die positiven Aussagen über Gott als Ursache alles Seins und schreibt ihm alle positiven Eigenschaften der irdischen Welt in höchstem Grad oder in absoluter Potenz zu. Sie entspricht der mystischen Erfahrung Gottes als der all-einen Substanz der Welt 3 3 0 . durch den Verstand. Die verschiedenen Erkenntnisse sondern sich in verschiedenen Wissenschaften voneinander ab. Es ist eine Phase der Spaltung der Erkenntnis. Diese Phase entspricht dem metaphysisch-idealistischen Stadium bei Comte. In der dritten und letzten Phase ist eine Idee nicht nur Gegenstand der Intuition und der Abstraktion, sondern stellt auch die Aufgabe ihrer realen Verwirklichung oder Verkörperung. Die verschiedenen verwirklichten Ideen bilden am Ende eine wahre Synthese in freier und organischer Einheit. Das entsprechende Wissen ist das ganzheitliche Wissen (vgl. Art. „Kont", B - Ε , R G X, 400 = D G VI, 281 sowie F N C Z I, 254). Die Endphase bei Solov'ev entspricht kaum noch dem dritten Stadium Comtes: Die Ergebnisse des ersten und zweiten Stadiums sind bei Solov'ev mit hineingenommen in die volle Synthese des dritten Stadiums. Das ist formal eine Synthese im Sinne Hegels (vgl. Art. „Kont", B - Ε , RG X, 400 = D G VI, 282). Dennoch unterscheidet sich Solov'evs Drei-Stadien-Gesetz von Hegels logischer Formel jedes historischen Prozesses dadurch, daß die zweite Phase bei Solov'ev keine wirkliche Antithese zur ersten Phase ist, sondern - wie bei Comte - eine (wenn auch einseitige) Weiterentwicklung eines davor vernachlässigten Aspekts der Erkenntnis. Inhaltlich unterscheidet sich Solov'evs Schema der geschichtlichen Entwicklung sowohl von Hegel als auch von Comte scharf durch die Rolle der mystischen und religiösen Erkenntnis, die in allen Stadien der geschichtlichen Entwicklung die Grundlage aller Erkenntnis ist und dies auch in der Synthese des ganzheitlichen Wissens bleibt. 3 2 9 PB IX, 17. Solov'ev nennt hier namentlich Dionysius Areopagita, Maximus Confessor und die Schriften der Philokalia. 3 3 0 PB IX, 17. Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia3, P G 3 , 1032D-1033 D; ders., De divinis nominibus 1,1, PG 3, 5 8 6 B - 5 8 8 B . Die klassischen drei Wege der Gotteserkenntnis, die viae causalitatis, negationis und eminentiae, die sich über Gregor von Nyssa bis auf Albinos zurückführen lassen, hat Pseudo-Dionysius Areopagita mit seiner Unterscheidung zwischen apophatischer (negativer) und kataphatischer (positiver) Theologie verbunden und entwickelt. - Daß die mystische Erfahrung der All-Einheit von Gott und Welt der kataphatischen Theologie entspricht, ist eine Zuordnung Solov'evs, die bei Dionysius Areopagita so nicht nachweisbar ist. Des Areopagiten Sicht der Schöpfung als organischem Ganzen, das vom einen Wesen Gottes hervorgeht und zu ihm zurückkehrt, legt aber diesen Schluß Solov'evs nahe. Auf diese Weise ordnet Solov'ev der traditionellen orthodoxen kataphatischen Theologie ein gewisses pantheistisches Element bei.
174
So faßt das Christentum in der Sicht Solov'evs die gesamte Gotteserfahrung der Menschheit zusammen. Für Solov'ev ist wie für jede christliche Theologie Christus der Höhepunkt aller Theophanien und damit aller direkten oder indirekten Offenbarung G o t t e s 3 3 1 . Christus ist auch der Höhepunkt aller Gotteserfahrung in doppelter Hinsicht. Christus lebte selbst als Gottmensch das Gottmenschentum vor als lebendige und liebende Einheit des gesamten natürlichen Menschen mit dem persönlichen Vatergott. Dies ist seine eigene vollendete Gotteserfahrung 3 3 2 . Christus ist aber auch als wahrer Gottmensch der höchste Gegenstand der Gotteserfahrung aller Menschen, weil in ihm der transzendente G o t t in vollkommener Weise in der historischen Erfahrung des Menschen erschienen ist 3 3 3 . In Christus summiert sich so in doppelter Weise, religionspsychologisch und theologisch gesehen, die Gotteserfahrung der Menscheit 3 3 4 .
4. Gegen die panth eistisch e Interpretation der Gotteserfahrung Wenn wir diese zentrale Rolle der Person Christi in der Gotteserfahrung bei Solov'ev beachten, ist der Verdacht leicht zu entkräften, die religiöse Erfahrung bei Solov'ev sei eine im Grunde pantheistische Erfahrung und sein religionsphilosophisches System habe pantheistische Tendenzen 3 3 5 . Zwar sieht Solov'ev ein Element der Gotteserfahrung des Pantheismus in der vollkommenen christlichen Gotteserfahrung übernommen, nämlich die Erfahrung der All-Einheit von G o t t und natürlicher Welt. Die Erkenntnis der All-Einheit des Seins lautet als christliche Wahrheit für Solov'ev aber: „ G o t t ist alles" 3 3 6 und nicht: „Alles ist G o t t " . Im Satz „ G o t t ist alles" drückt Solov'ev die absolute Einheit von G o t t und Welt aus. „Alles ist G o t t " wäre dagegen die Aussage eines naturalistischen Pantheismus 3 3 7 . Eine solche Aussage könnte im Sinne Solov'evs nur das Resultat des Weltprozesses und der Erlösung der Welt durch G o t t sein, nicht aber deren Ausgangspunkt. Solov'ev wendet sich schon in seiner Magisterdissertation gegen den abendländischen Pantheismus von Spinoza bis H e g e l 3 3 8 . An dieser Kritik am Pantheismus hält er stets fest, auch wenn er dem philosophischen Pantheismus Spinozas mit mehr Sympathie gegenübersteht als dem Positivismus Mills 3 3 9 . 3 3 2 Vgl. C B III, 166-168. C B III, 162f.; D 0 2 III, 368. O D VIII, 216.224. 3 3 4 So interpretiert ebenfalls B.Schultze (Fundamentaltheologie, 73). 3 3 5 Dies ist die These von E. Trubeckoj (Solov'ev i ego delo, S. 88; ders., Solov'ev i Lopatin, S. 545). 3 3 6 C B III, 47; R E U , FS, 252 ( = D G III, 344). 331 333
337
Vgl. F. Gößmann, Der Kirchenbegriff, S. 16.
K Z F I , 5 7 - 6 2 , ebenso S. 112-120. Spinoza war nach Solov'evs eigener Aussage seine „erste Liebe in der Philosophie". Er hat ihm noch 1897 seinen Aufsatz „Der Gottesbegriff" mit dem Untertitel „Zur Verteidigung der 338
339
175
Der zwingendste Grund, aus dem Solov'ev gegen jeden Pantheismus Stellung nehmen muß, ist die christliche Ausformung seiner philosophischen Lehre von der All-Einheit des Seienden. Das Gottmenschentum ist für Solov'ev das Wesen des Christentums (suscnost' christianstva) 340 , aber auch seiner eigenen Philosophie 341 . Das Gottmenschentum als Vereinigung von transzendentem Gott und natürlichem Menschen und die Inkarnation des Logos als des Gottmenschen Jesus Christus sind aber logisch mit jeglicher Art von Pantheismus unvereinbar, wie auch Solov'ev selbst feststellt 342 . Deswegen kritisiert Solov'ev nicht nur den theoretischen Pantheismus der abendländischen Philosophie, sondern vor allem auch den praktischen Pantheismus, der für ihn das Resultat einseitiger Kontemplation eines großen Teils des byzantinischen Mönchtums ist. Ein asketisches Mönchtum, das aus der pseudochristlichen Welt in die christliche Wüste (pustynja) und abgelegene Klöster floh, war im nachkonstantinischen Byzanz gang und gäbe. Immer dann, wenn ein derartiger Asketismus die Kontemplation (sozercanie), daß heißt die Versenkung des Menschen in Gott bei völliger Abgeschiedenheit von jeglichem Gefühl der Seele und jeglicher Bewegung des Geistes 3 4 3 , „als höchstes und unbedingtes Ziel des Lebens" aufweist, drückt er damit für Solov'ev nicht mehr eine christliche, sondern eine alte heidnisch-orientalische Haltung aus, die dem indischen Pantheismus (vsebozie) gleicht 344 . Denn in dieser Kontemplation löst sich der menschliche Wille auf und der Betrachtende versenkt sich bis zu einem Punkt in den Gegenstand seiner Kontemplation, wo zwischen Betrachtendem und Betrachtetem kein Unterschied mehr besteht. „Praktischer Pantheismus" oder „praktischer Monophysitismus" 345 ist solche Kontemplation bei theoretischer Rechtgläubigkeit eines christlichen Asketen für Solov'ev aber erst dann, wenn sie durch keinerlei praktische Tätigkeit begleitet wird, die die christliche Erfahrung des liebenden Gottes im Gottmenschen Christus als Nächstenliebe und praktisches Gottmenschentum verwirklicht. Damit erweist sich das Christentum in Solov'evs Denken tatsächlich als die vollkommene Religion, in der vollkommene Gotteserfahrung Möglichkeit und Wirklichkeit ist. Denn das Christentum gründet auf die vollkommene
Philosophie Spinozas" gewidmet ( P B I X , 1.3). D e n Pantheismus Spinozas kritisiert er aber auch in dieser späten Schrift deutlich ( P B I X , 8. 16f.). 3 4 0 I C A K I X , 189. 3 4 1 K O N II, 323 ; C B I I I , 26. 3 4 2 C B I I I , 164; D O Z I I I , 367. 3 4 3 Diese Definition Solov'evs von „Kontemplation" ( V S C h P I V , 46) betrifft eine einseitige und negative Erscheinung, die im diametralen Gegensatz zu Solov'evs Charakterisierung der wahren Gotteserfahrung im Christentum steht, an der der ganze Mensch mit Geist, Seele und Leib teilhat ( s . o . S. 169), die also gerade nicht unter Ausschluß von Fühlen und D e n k e n , sondern mit seinen äußeren Sinnen und inneren Gefühlen und Gedanken geschieht. Das Gottmenschentum Christi bewahrt die christliche mystische Erfahrung vor der Einseitigkeit der hier beschriebenen Kontemplation. 344
176
V S C h P I V , 46.
345
A . a . O . S. 47.
Offenbarung Gottes im Gottmenschen Christus in den Grenzen der wirklichen, natürlichen und historischen Erfahrung der Menschheit 346 und verwirklicht sich im praktischen Gottmenschentum.
5. Gotteserfahrung
als Erfahrung seiner
Wirkungen
Was ist an der Gottheit im allgemeinen, und was ist am christlichen Gott im besonderen erfahrbar und erkennbar? Für Gott als Objekt der Erfahrung gilt bei Solov'ev grundsätzlich das gleiche wie für alle Gegenstände unserer Erfahrung: „Wir erfahren mit den Sinnen (cuvstvenno) 347 nur die in Erscheinung getretenen oder offenbarten Einwirkungen der Wesen" auf uns (javljaemye vozdejstvija suscestv). Diese „dienen für uns als Zeichen und Ausdrucksformen des eigentlichen Seins und der inneren Natur" der hinter den Erscheinungen befindlichen wirklichen Wesen 348 . Das gilt auch für Gott als Erfahrungsobjekt. Erfahrbar und erkennbar sind nur seine Erscheinungen oder Einwirkungen (vozdejstvija): „Natürlich ist es unmöglich, das eigentliche Wesen Gottes (samoe suscestvo Bozie) zu sehen, zu hören, zu betasten." 3 4 9 Auch die inneren Erfahrungen und sogar die mystischen Erfahrungen des Menschen können das Wesen Gottes, seine „unausdenkbare und unaussagbare Absolutheit" (nedomyslimaja i neizrecennaja absoljutnost') 3 5 0 , nicht erfassen. Das Wesen Gottes ist für Solov'ev weder irgendeiner Art von menschlicher Erkenntnis noch irgendeiner Art von menschlicher Erfahrung zugänglich. Hier nimmt Solov'ev wieder die Tradition der apophatischen Theologie des Dionysius Areopagita und des Maximus Confessor auf 351 . Die Kernaussage der apophatischen Theologie lautet bei ihnen: Das Wesen Gottes (ουσία), der die Ursache aller Dinge ist, kann weder durch affirmative noch durch negative Prädikate bestimmt werden 352 . Schon die drei Kappadozier Gregor von Nazianz, Basilius der Große und Gregor von Nyssa hatten von der Unendlichkeit und Unbestimmbarkeit des Wesens Gottes gesprochen. Bei Gregor von Nyssa erreicht auch der Höhepunkt aller mystischen Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis, die ekstatische Schau Gottes, nicht das Wesen Gottes. Die ekstatische Schau Gottes ist nur ein Schauen des göttliSo auch A. Vedermkov, Recenzija na „L.Müller, System", S. 73. Dazu gehören vor allem die äußeren Sinnesorgane, aber auch die psychischen Gefühle und Zustände. 3 4 8 PB IX, 13. Damit ist nicht gesagt, daß die Einwirkungen oder Entscheidungen der Wesen nur subjektiver Schein seien. Im Gegenteil, Erscheinungen der Wesen sind wirklich seiende Bekundungen (projavlenija) der hinter ihnen wirkenden metaphysischen Wesenheit (metafiziceskaja suscnost') (DVM I, 225). S.o. S. 143f. 3 4 9 PB IX, 12. 3 5 0 PB IX, 23. 3 5 1 Solov'ev erwähnt ihre Bedeutung für seinen Gottesbegriff namentlich: PB IX, 17. 3 5 2 Vgl. B. Altaner, Patrologie, S. 503. 346
347
177
chen Lichts im D u n k e l , ein Sehen durch N i c h t s e h e n 3 5 3 , eine E r f a h r u n g u n d E r k e n n t n i s der U n e r k e n n b a r k e i t G o t t e s in seinem Wesen. D i e s e Interpretation der tiefsten m y s t i s c h e n G o t t e s e r f a h r u n g w u r d e m a ß g e b e n d f ü r die T h e o l o g i e der Kirchenväter u n d der gesamten O s t k i r c h e . D i e kataphatische T h e o l o g i e , die positive A u s s a g e n über G o t t e s E i g e n s c h a f t e n macht, bezieht sich seit D i o n y s i u s A r e o p a g i t a in der o r t h o d o x e n T h e o l o g i e nicht auf das a b s o l u t e Wesen, sondern auf die O f f e n b a r u n g G o t t e s . D i e positiven A u s s a gen über G o t t und die positiven G o t t e s e r f a h r u n g e n sind in einem d o p p e l t e n Sinn relativ, das heißt E r k e n n t n i s s e und E r f a h r u n g e n , die der M e n s c h mit seinen D e n k - und E r f a h r u n g s k a t e g o r i e n macht, die aber die wirkliche B e z i e h u n g G o t t e s z u den M e n s c h e n ebenfalls betreffen. D a S o l o v ' e v auf diese patristischen T h e o l o g u m e n a gerade in seinem A u f s a t z über den G o t t e s b e griff hinweist, ist es eindeutig, daß er deren U n t e r s c h e i d u n g e n f ü r seine Theosophie übernimmt.
5.1 Die Unterscheidung
von Wesen, Personen
und Wirkungen
Gottes
Wenn Solov'ev formuliert, daß der Mensch zwar nicht Gottes Wesen, aber seine Einwirkungen (vozdejstvija) erfahren kann, nimmt er eine weitere patristische, in der Orthodoxie anerkannte Unterscheidung im Gottesbegriff auf: die Unterscheidung von Wesen (ουσία) und Energien (ένέργειαι) Gottes durch Gregorios Palamas. Palamas nahm die apophatische Theologie ernst und ging von der absoluten Transzendenz, Unerkennbarkeit und Unerfahrbarkeit des Wesens Gottes aus. Andererseits war er überzeugt, daß der Mensch in der mystischen Gotteserfahrung in direkter Beziehung zu Gott stehe. Der Inhalt der Gottesschau, das göttliche Licht oder das erfahrene Dunkel, ist für ihn eine positive, wahrhafte Gotteserfahrung 3 5 4 , und solche Erfahrung ist der einzige Weg zur wahren Gotteserkenntnis 3 5 5 . Denn solche Erfahrung ist wirkliche Erfahrung Gottes und führt wie die Taufe zur wirklichen Vergöttlichung des Menschen 3 5 6 . Das Dilemma, in dem sich Palamas zwischen apophatischer Theologie und nichtgeschöpflicher, übernatürlicher mystischer Erfahrung Gottes befand, löste er, indem er von der Erfahrung der ένέργειαι Gottes sprach. Die Energien Gottes (έν-εργεια; dem entspricht genau das russische voz-dejstvie) definiert Palamas als Gottes freie Handlungen der Kondeszendenz seiner Allmacht, als Akte seiner Gnade 3 5 7 . In diesen Akten offenbart Gott sich selbst. Jede solche ungeschaffene Energie ist Gott selbst 3 5 8 . Dennoch sind sie nicht sein Wesen, sondern das, 353 Gregor von Nyssa, D e vita Moysis, P G 44, 3 7 6 D - 3 7 7 A . Dies ist dennoch auch für Gregor eine positive Gotteserfahrung, auch wenn sie nur negativ definiert werden kann. Es ist sogar die affirmativste Gotteserfahrung überhaupt, die Erfahrung der unmittelbaren Gegenwart Gottes. 354 Grégoire Palamas, Défense des saints hésychastes, hrsg. ν. ]. Meyendorff, Triades II, 3, 26. 3 5 5 A.a.O., Triades III, 1,32. 3 5 6 A . a . O . , Triades II, 3, 52. 68; Triades III, 1, 25. 3 5 7 A . a . O . , Triades 1 , 3 . 1 0 . 358 Gregorios Palamas, Brief an Damian, Coisl. 98, fol. 202 (zitiert in: J. Meyendorff, A Study
178
was G o t t von sich offenbart. D i e Gegenwart G o t t e s in seinen Energien, die der M e n s c h in der mystischen Gotteserfahrung spürt, ist die Gegenwart seines Seins, seiner Existenz, aber nicht die seines unerkennbaren und nicht mitteilbaren W e s e n s 3 5 9 . D i e Energien sind auch unterschieden von den Personen G o t t e s , dem Sohn und dem Heiligen Geist, die das eine Wesen des Vaters teilen. D i e Energien sind die Existenz G o t t e s ad e x t r a 3 6 0 . Sie sind auch nicht Eigenschaften G o t t e s , die ihm notwendig z u k o m m e n m ü ß t e n , sondern als seine freien A k t e sind sie der Ausdruck des souveränen göttlichen W i l l e n s 3 6 1 . So rechtfertigt Palamas theologisch durch die dreifache reale Unterscheidung innerhalb G o t t e s in Wesen, Hypostasen und E n e r gien G o t t e s die mystische Erfahrung als Erfahrung der wirklichen Gegenwart G o t t e s , o b w o h l dessen Wesen nicht mitteilbar ist und bleibt. D i e Alternative apophatische oder kataphatische T h e o l o g i e wird von Palamas damit in den Bereich des natürlichen D e n k e n s , dem sie entstammt, zurückverwiesen: D u r c h geschöpfliches Sein wird G o t t selbst nicht erfahren und durch der natürlichen Welt entlehnte Attribute wird G o t t selbst nicht erkannt. Diese Wahrheiten der theologischen Erkenntnislehre bleiben von der Lehre der Energien G o t t e s unberührt. Bei Solov'ev finden wir nicht nur die an Palamas erinnernde Formulierung von der Erfahrung G o t t e s durch seine uns offenbarten Energien oder Wirkungen (vozdejstvija), sondern auch die palamitische Unterscheidung von Wesen, Personen und W i r kungen G o t t e s . Diese Unterscheidung hat bei Solov'ev die gleiche F u n k t i o n wie bei Palamas: Sie soll die wirkliche Erfahrung der Gegenwart G o t t e s selbst im Menschen denkerisch sichern bei gleichzeitiger Bewahrung der absoluten Transzendenz G o t t e s . Solov'ev unterscheidet in seiner französischen Schrift „La Russie et l'Église U n i v e r selle" ( 1 8 8 9 ) in G o t t erstens seine „absolute O b j e k t i v i t ä t " , die er auch „Substanz" (substance) oder „Wesen" (essence) nennt; zweitens seine „absolute Subjektivität", das heißt seine innere Existenz in ihrer Ganzheit in drei Hypostasen oder Personen; und drittens seine „freie Relativität" (relativité), das heißt seine eigene Beziehung zu dem, was nicht er selbst ist: dies umfaßt die gesamte Schöpfung G o t t e s und seine I n k a r n a t i o n 3 6 2 . Alle drei Seinsweisen G o t t e s sind für Solov'ev Ausdruck seiner of Gregory Palamas, S. 212); ders., Brief an Gabras, Coisl. 99, fol. 84 (zitiert in: J. Meyendorff, a.a.O. S. 214). 3 5 9 Vgl./. Meyendorff, A Study of Gregory Palamas, S. 213. 360 Yg] j Meyendorff, a.a.O. S.219. Es geht Palamas bei den Energien um die wirkliche, sowohl Gott als auch den Menschen in ihrem jeweiligen lebendigen Sein betreffende Gegenwart Gottes im Menschen. Zur Erklärung dieser Tatsache in der Sprache der Existenzphilosophie nimmt Meyendorff in seiner Palamas-Interpretation Wendungen H. U . von Balthasars auf: Ein Wesen bleibt eine Abstraktion, wenn es sich nicht wirklich und existentiell in einer Handlung offenbart (vgl.]. Meyendorff, a.a.O. S.212). Eine solche existentielle Offenbarung Gottes nennt Meyendorff Palamas' Energien : „Die Gegenwart Gottes in uns ist eine persönliche Existenz und schließt jede Definition des göttlichen Wesens im Kontext einer Wesensphilosophie aus." (Vgl. ]. Meyendorff, a.a.O. S. 210.) - Auch Solov'ev geht es um die wirkliche und existentielle Gegenwart Gottes im Menschen und deren Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit und nicht um metaphysische Spekulation. Daher legt er das Schwergewicht auf die mystische Erfahrung, die ihm eine Rückkehr zu den patristischen Quellen der orthodoxen Theologie nahelegt. Solov'evs Anliegen und sein denkerischer Grundansatz beim Vermögen des Menschen, Gott selbst zu erfahren, stehen in enger Parallele zur mystischen Theologie des Areopagiten und des Palamas. 361 Gregorios Palamas, Gegen Gregoras II, Coisl. 100, fol. 259 (zitiert in: ]. a.a.O. S. 225). 3 6 2 R E U , FS, 252 ( = D G III, 345 f.).
Meyendorff,
179
v o l l k o m m e n e n A u t o n o m i e und Autokratie. In jeder Seinsweise - auch in seiner „freien Relativität" - ist G o t t absolut unbestimmt von dem, was außer ihm i s t 3 6 3 . M i t anderen W o r t e n , nicht unsere Wahrnehmungs- und Erkenntniskategorien bestimmen G o t t , sondern in seiner O f f e n b a r u n g bestimmt er sich selbst dem M e n s c h e n gegenüber. Ebenfalls drei Seinsweisen in G o t t unterscheidet Solov'ev in den „Geistlichen Grundlagen des L e b e n s " ( 1 8 8 2 - 1 8 8 4 ) : Wesen, Personen und K r ä f t e 3 6 4 . V o m M e n schen aus betrachtet liegt aber, wie bei Palamas, nur eine einfache Unterscheidung in G o t t zugrunde: die Unterscheidung zwischen dem Wesen G o t t e s oder dem transzendenten G o t t an sich ( B o g - sam po sebe transcendentnyj), der jenseits der G r e n z e n der geschaffenen Welt bleibt, und seiner Relativität oder Beziehung (otnosenie) zur Welt, das heißt seinen W i r k u n g e n 3 6 5 . D i e Personen (Hypostasen) Gottes ordnet Solov'ev wie Palamas sowohl dem Wesen als auch den Wirkungen G o t t e s zu. G o t t in seiner Beziehung zur Welt nennt Solov'ev hier eine „wirkende, schöpferische K r a f t " (dejstvujuscaja tvorceskaja sila), die sich mit dem Menschen und mit der Welt vereinigen w i l l 3 6 6 und die G o t t selbst ist. Sie äußert sich im H e i d e n t u m z u m Beispiel als Kraft des Feuers und als L i c h t kontemplativer Erkenntnis, im J u d e n t u m als sinnlich fühlbare O f f e n b a r u n g e n des persönlichen G o t t e s (oscutitel'nye otkrovenija licnogo B o g a ) 3 6 7 . I m C h r i s t e n t u m ist Christus als inkarnierter L o g o s die persönliche Kraft G o t t e s (licnaja ipostasnaja sila) 3 6 8 , ebenso der Heilige G e i s t 3 6 9 . Alle diese Kräfte (sily) sind W i r k u n g G o t t e s (dejstvie), seine Energie (ènergija), die Solov'ev auch mit den uns schon bekannten Begriffen „ O f f e n b a r u n g " (otkrovenie) oder „ B e k u n d u n g " (projavlenie) umschreiben k a n n 3 7 0 . Sie sind wie die Energien bei Palamas ungeschaffene Wirkungen G o t t e s selbst, seine Gegenwart selbst in der Welt. Solov'ev unterscheidet so innerhalb G o t t e s z w i s c h e n W e s e n ,
Personen
u n d B e z i e h u n g e n o d e r W i r k u n g e n G o t t e s ad e x t r a . W i r g e h e n a u f S o l o v ' e v s V e r s t ä n d n i s v o m W e s e n G o t t e s u n d v o n s e i n e n W i r k u n g e n n o c h n ä h e r ein, u m z u v e r d e u t l i c h e n , d a ß G o t t e s e r f a h r u n g bei S o l o v ' e v n i c h t E r f a h r u n g des W e s e n s , s o n d e r n d e r W i r k u n g e n G o t t e s ist. D a s Wesen
Gottes
ist d a s k e i n e r E r f a h r u n g n o c h E r k e n n t n i s Z u g ä n g l i c h e
an G o t t . S o l o v ' e v b e z e i c h n e t es i m R u s s i s c h e n m i t d e m W o r t „ s u s c e s t v o " 3 7 1 . D e m e n t s p r i c h t i m G r i e c h i s c h e n ο υ σ ί α . S o l o v ' e v n e n n t das W e s e n G o t t e s a u c h das ü b e r p e r s ö n l i c h e W e s e n G o t t e s ( s u s c e s t v o s v e r c h l i c n o e ) 3 7 2 .
Die
c h r i s t l i c h e R e d e v o n G o t t in d r e i P e r s o n e n s e t z t l o g i s c h v o r a u s , d a ß er als
3 6 4 ΌΟΪ 3 6 5 ΌΟΪ R E U , FS, 253 ( = D G III, 346). III, 356. 367. III, 367. 3 6 8 ΌΟΪ Ebd. D q 2 III, 35 8. 364 . III, 356. 365. 3 6 9 ÔB III, 81 f. ; R E U , FS, 251 ( = D G III, 343). 3 7 0 D 0 2 III, 364. 3 7 1 ÖB III, 74. 94; PB IX, 12f.: Der Mensch erfaßt nach Solov'ev in seiner Erfahrung nicht das Wesen Gottes (suscestvo), aber doch sein „eigentliches Sein" (bytie) und seine „innere Natur" (priroda), das heißt seine Wesenheit (suscnost'). 3 7 2 PB IX, 22. Dem kann bei Solov'ev eine überpersönliche mystische Erfahrung entsprechen, die zwar nicht das Wesen Gottes erkennt, aber doch überpersönliche Aspekte seiner Wesenheit (s.o. S. 154f. zur mystischen Erfahrung; s.u. S. 181 zum Unterschied von Wesen und Wesenheit). - Es bleibt zu fragen, ob Solov'ev hier nicht trinitätstheologisch einseitig das Gewicht auf das eine Wesen Gottes legt und seine personale Dreiheit unterbewertet und mißachtet. 363
366
180
einer ein Wesen hat, das zwar das Personsein mitbeinhaltet und daher nicht unpersönlich genannt werden kann, das aber doch mehr als eine Person ist. Daher nennt Solov'ev es überpersönlich. Gott als überpersönliches Wesen ist das einzige selbständige Wesen (edinstvennoe samostojatePnoe suscestvo) 3 7 3 . So bleibt das Wort „Wesen" (suscestvo) dem transzendenten Gott allein als Bezeichnung der Selbständigkeit vorbehalten. Davon unterscheidet Solov'ev die Wesenheit Gottes (suscnost'; dem entspricht im Griechischen ebenfalls ουσία) 3 7 4 . Die Wesenheit einer jeden Erscheinung des menschlichen Bewußtseins, jedes wahrgenommenen Gegenstandes, Gefühls und Gedankens, nennt Solov'ev seine Notwendigkeit und Allgemeinheit, seine Idee (ideja) 3 7 5 . Sie ist also in gewisser Weise, das heißt vom Menschen aus betrachtet, eine denkerische Abstraktion von der konkreten Einzelerscheinung. So ist etwa die Wesenheit oder Idee „Mensch" vom konkreten einzelnen Lebe„wesen" (suscestvo) abstrahiert 376 . Aber für Solov'ev ist die Wesenheit oder Idee einer Erscheinung metaphysisch betrachtet (sicher unter neuplatonischem Einfluß) doch etwas Wirkliches zwischen Gott als dem Schöpfer aller Dinge und Wesen und den einzelnen Erscheinungen im Bewußtsein. Gott selbst, dessen Wesen unergründlich ist, offenbart und bekundet seine Wesenheit in ihren Erscheinungen in unserem Bewußtsein (suscnost' obnaruzivaetsja, projavljaetsja ν svoem javlenii) 377 . Die Wesenheit oder Idee ist der allgemeine und notwendige Inhalt (soderzanie) Gottes, der Inhalt seines Wollens, Vorstellens und Fühlens 3 7 8 . Deswegen kann Solov'ev sie definieren. Die Wesenheit Gottes (suscnost') ist im Gegensatz zu seinem Wesen (suscestvo) durchaus Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, nämlich ihr „absolutes Objekt" (absoljutnyj predmet poznanija) 3 7 9 . In der von Solov'ev benutzten Ausdrucksweise der griechischen Väter heißt das: Die Wesenheit Gottes ist Gegenstand der kataphatischen Theologie, nämlich der absolute Gegenstand aller mystischen Gotteserkenntnis und die begriffliche Zusammenfassung der mystischen Gotteserfahrung der Wirkungen Gottes. So kommt der Wesenheit Gottes bei Solov'ev eine gewisse Mittelstellung zwischen dem Wesen Gottes und seinen Wirkungen zu. Die Bestimmungen der Wesenheit Gottes stehen stets in Beziehung zu entsprechenden mystischen Erfahrungen der Wirkungen Gottes.
C B III, 74. Im Deutschen wird „suscnost"' meist ebenfalls mit „Wesen" übersetzt. „Suscnost'" ist aber das Abstraktum zum Konkretum „suscestvo" und ist daher besser wörtlich mit „Wesenheit" zu übersetzen, zumal Solov'ev sorgfältig beide Begriffe in der Bedeutung unterscheidet. 373 374
375 376 377 378 379
F N C Z I, 351. 3 5 6 ; C B III, 51. 56. C B III, 60. F N C Z I, 3 4 0 ; Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 241 ( = D G VI, 339). F N C Z I, 3 6 3 ; C B III, 30. Art. „Mistika", B - Ε , R G X , 244 ( = D G VI, 344f.).
181
5.2 Das Eine, das Alles und das wahrhaft
Seiende als die Wesenheit
Gottes
Als die „Wesenheit von allem" bezeichnet Solov'ev die Gottheit oder das Gottsein Gottes (bozestvo) 3 8 0 , den Inhalt des Denkens, Wollens und Fühlens Gottes. Dieser Inhalt ist absolut und allumfassend. Deswegen nennt Solov'ev die Wesenheit Gottes meist das Absolute (absoljutnoe) 3 8 1 oder die Absolutheit (absoljutnost') 3 8 2 . Als nähere Bezeichnung dieses allumfassenden Inhalts Gottes wählt Solov'ev zwei Bestimmungen, die in der antiken Philosophie und in der Theologie der Väter, besonders bei Pseudo-Dionysius Areopagita ihren Ursprung haben. Das Absolute ist in zweifachem Sinn absolut. Es ist erstens losgelöst und frei von allem (otresennoe, svobodnoe ot vsego) 3 8 3 , auch von allem gewordenen Sein (ot vsjakogo bytija) 3 8 4 : Daher wird es als das Eine (edinoe, εν) 3 8 5 bezeichnet oder als das Nichts (nieto) im positiven Sinn der reinen Potenz des Seins 3 8 6 . Zweitens ist das Absolute das Vollendete und Ganze (zaversennoe, vseceloe), das die ganze positive Kraft des Seins in sich trägt 3 8 7 und in allem Sein existiert (suscee vo vsem) 3 8 8 : Daher wird es das Alles genannt (vsë, πάν) 3 8 9 . Das Absolute oder Gott als das Eine ist „der unbedingte Ursprung und Quell alles Seins" (bezuslovnoe pervonacalo i istoenik vsjakogo bytija) 3 9 0 . Als das Alles ist das Absolute oder Gott die „absolute Ganzheit alles Seienden" (absoljutnaja celost' vsego suscego) 3 9 1 · D i e B e z e i c h n u n g G o t t e s o d e r des A b s o l u t e n als des E i n e n (εν) u n d als d e r U r s a c h e v o n allem f i n d e n w i r w i e d e r b e i m A r e o p a g i t e n 3 9 2 . Sie ist in die christliche T h e o l o g i e ü b e r P h i l o n u n d b e s o n d e r s Plotin g e k o m m e n , d e s s e n E i n f l u ß auf S o l o v ' e v hier z u s p ü r e n ist. Bei Plotin ist das E i n e d u r c h die E k s t a s e der m y s t i s c h e n K o n t e m p l a t i o n e r k e n n b a r , die d e n M e n s c h e n z u r a b s o l u t e n E i n f a c h h e i t z u r ü c k f ü h r t , in d e r er d a s Einfache erkennen kann. D e n n nur durch Gleiches wird Gleiches erkannt393. A h n lich hat S o l o v ' e v die E r k e n n t n i s f u n k t i o n der m y s t i s c h e n E r f a h r u n g b e s c h r i e b e n . A u c h die B e z e i c h n u n g der Wesenheit G o t t e s o d e r des A b s o l u t e n als des N i c h t s ist in der antiken P h i l o s o p h i e ü b l i c h . S o l o v ' e v s e l b s t v e r w e i s t auf d e n S p r a c h g e b r a u c h bei
3 8 1 Ebd. Ebd. ; s. o. Anm. 308. K O N II, 316 f. Hier unterscheidet Solov'ev zwischen dem Absoluten (Gott) als dem Subjekt des absoluten Inhalts und der Absolutheit als dem Sein oder eben dem Inhalt des Absoluten. Diese Unterscheidung hält Solov'ev aber an anderen Stellen nicht aufrecht. Wir können sie vernachlässigen. 3 8 3 F N C Z I, 346; K O N II, 308; C B III, 48. 3 8 4 F N C Z I , 348. 3 8 5 S.o. Anm. 383. 3 8 6 F N C Z I, 348; K O N II, 309; C B III, 48. 3 8 7 F N C Z I, 346. 348 ; C B III, 48 . 3 8 8 K O N II, 308 ; C B III, 95. 3 8 9 S.o. Anm. 387 und K O N II, 309 . 3 9 0 D 0 2 III, 355. 3 9 1 Ebd. Das Wort „ G o t t " (Bog) wendet Solov'ev sowohl auf sein unerkennbares Wesen (suscestvo), als auch auf seine Wesenheit (susenost') und auf seine Wirkungen (dejstvija, sily, ènergii) an, da diese alle Unterscheidungen innerhalb des einen Gottes sind. 392 Dionysius Areopagita, D e divinis nominibus XIII, 2f., P G 3, 988 C und 989 C D . 393 Plotin, Enneaden VI, IX, 3. 1 5 f f „ Plotini Opera, B d . I I I , S.310f. (Vgl. V.Lossky, Théologie mystique, S. 27-29). 380
382
182
Platon und A r i s t o t e l e s 3 9 4 . N a c h Platon ist das N i c h t s (το μή öv) nur eine andere A r t des S e i n s 3 9 5 ; nach Aristoteles ist das μή öv kein absolutes, sondern ein nur relatives Nichtsein oder Sein, nämlich eine Potenz des S e i n s 3 9 6 . D i e Bezeichnung το μή öv schließt die sonst bei Piaton zu findende Charakterisierung der höchsten Idee als des wirklich Seienden (το όντως öv) nicht aus, sondern ergänzt sie: D e m unerkennbaren Wesen G o t t e s (ουσία) oder der höchsten Idee k o m m t nur das wirkliche und reine Sein zu (το όντως ö v ) ; in seiner Beziehung zur Welt ist G o t t aber gleichzeitig immer die U r s a c h e des noch nicht seienden geschaffenen Seins und damit Nichtsein (τό μή öv) mit der Potenz des Seins. Genau in diesem Sinne benennt Solov'ev die Wesenheit Gottes mit diesen beiden Begriffen. Auch bei ihm ist G o t t zuleich das N i c h t s (nieto) und doch eigentlich das wahrhaft und wirklich Seiende (istinno s u s c e e ) 3 9 7 . I h m allein k o m m t selbständiges Sein als Prädikat z u : G o t t ist die Q u e l l e , Kraft und Möglichkeit alles anderen S e i n s 3 9 8 , der absolute Ursprung (pervonacalo) alles S e i n s 3 9 9 . Das wahrhaft Seiende ist das einzige wirkliche Subjekt alles Seins und aller Gegenstände und daher das einzige endgültige O b j e k t aller menschlichen E r k e n n t n i s 4 0 0 . D e n n das wahrhaft Seiende ist das, was die Kraft (sila) oder P o t e n z des Seins in sich h a t 4 0 1 . D i e d r i t t e B e s t i m m u n g d e r W e s e n h e i t G o t t e s o d e r des A b s o l u t e n ist i h r e B e z e i c h n u n g als d a s wahrhaft
Seiende
( i s t i n n o s u s c e e ) . A u c h diese B e z e i c h -
n u n g n i m m t S o l o v ' e v als E r b e d e r p l a t o n i s c h e n P h i l o s o p h i e u n d d e r p a t r i s t i s c h e n T h e o l o g i e auf. S c h o n P h i l o n h a t t e die a l t t e s t a m e n t l i c h e
Gottesbe-
z e i c h n u n g „ J a h w e " aus E x o d u s 3 , 1 4 : „ I c h bin d e r S e i e n d e " ( έ γ ώ είμι ó ώ ν ) 4 0 2 mit der h ö c h s t e n Idee Piatons, d e m wahrhaft Seienden ( t ò όντως öv), g l e i c h g e s e t z t 4 0 3 . D a s t a t e n d a n n a u c h die a l e x a n d r i n i s c h e n
Kirchenväter,
s p ä t e r die K a p p a d o z i e r u n d D i o n y s i u s A r e o p a g i t a . N a c h i h n e n ist G o t t das Seiende u n d der Seiende selbst - das reine, u n b e g r e n z t e Sein u n d die Q u e l l e alles a n d e r e n S e i n s 4 0 4 . N a c h vielen K i r c h e n v ä t e r n ist dies ü b e r h a u p t d e r e i n z i g e N a m e , d e r d e m an sich u n e r k e n n b a r e n W e s e n G o t t e s a n g e m e s s e n
K Z F I , 100. 110. Platon, Der Sophist, 258 d - e , Piatonis Opera, ed. Burnet, Bd. I, S. 216 ff. 396 Aristoteles, Metaphysica III, 6, 1003 a, ed. W.Jaeger, S. 58 f. 3 9 7 F N C Z 1 , 3 0 7 . 336. 339. 345. 356; K O N II, 307f. 398 FNCZ1,333f. 3 9 9 F N C Z 1,348; K O N II, 305; C B III, 95 . 4 0 0 K O N II, 307. 4 ° ' F N C Z I, 334. 4 0 2 Der Text der Hebraica Π'ΠΝ HPK Π'ΠΝ (ich werde sein, der ich sein werde) lautet in der Septuaginta: „έγώ είμι ό ών" und entsprechend in der russischen Bibelübersetzung: „Ja esm' Suscij". Die Bezeichnung „ό ών" ist allgemeiner als der hebräische Text und legt den Vergleich mit Piaton nahe. 403 Philon, De vita Mosis I, §75, Oeuvres, hrsg. v. R.Arnaldez, Bd. 22, S. 60. Ebenso verfährt Solov'ev in CB III, 71. 74. 4 0 4 Vgl. S. Verchovskoj, Bog i celovek, S.239; vgl. F.Heiler, Die Ostkirchen, S. 115. Für Solov'ev selbst ist der Unterschied zwischen Gott als dem wahrhaft Seienden (istinno suscij, CB III, 80) und Gott als dem Seienden im platonischen Sinn (τό όντως öv, D O Z III, 360) dennoch äußerst wichtig. Für seine positive christliche Philosophie ist es entscheidend, daß Gott persönlich ist und am Werden und Geschehen der Welt selbst als Person Anteil hat, daß Gott eben der Seiende (suscij) ist und nicht nur das reine Seiende oder Sein (suscee). Das platonische τό όντως öv ist dann mit dem Gott des Christentums nicht vereinbar, wenn es die unpersönliche Welt der reinen Ideen meint, wie bei Piaton selbst ( D O Z III, 359f.). 394 395
183
ist 4 0 5 . Bei Solov'ev ist die Bezeichnung der Wesenheit Gottes als des wahrhaft Seienden ebenfalls eigentlich die erste und einzige Bezeichnung. Sie kennzeichnet wie in Exodus 3,14 Gott als den lebendigen Quell alles Seins und Lebens und entspricht wie dort der mystischen Erfahrung der lebendigen Gegenwart Gottes. Dennoch treten in Solov'evs Schriften in Verbindung mit Gott als dem wahrhaft Seienden immer wieder die Bezeichnungen des Absoluten als des Einen und des Alles auf. Denn auch hinter ihnen stehen entsprechende mystische Erfahrungen, Erfahrungen der Einheit beziehungsweise des Allumfassenden der Wesenheit Gottes, die der Mensch in Gottes verschiedenen Wirkungen erfährt und die in den beiden Bestimmungen des Einen und des Alles zum Ausdruck kommen. Die Bezeichnung der Wesenheit Gottes als des Alles oder des Ganzen geht wiederum auf Pseudo-Dionysius Areopagita und Plotin zurück. Der Areopagite beschreibt Gott als das Vollkommene im Ganzen. „Kein Seiendes gibt es, daß nicht irgendwie an ihm teilhätte" 406 . Dahinter steht das Weltbild Plotins, nach dem Gott durch Emanation in allem, was ist, in allen Seinssphären bis hin zur Materie, als sein eigener Abglanz enthalten ist. Er erschafft nicht nur die Welt als sein Gegenüber, sondern alles geht von ihm aus und kehrt wieder zu ihm zurück und ist so in ihm enthalten 407 . Gleiches finden wir beim Areopagiten. Auch bei ihm ist die Welt ein organisches Ganzes, das aus Gott hervorgeht, sich entwickelt und zu Gott zurückkehrt 408 . Auch Solov'ev sieht alles geschaffene Sein als ein mit Gott verbundenes organisches Ganzes, als all-eines Seiendes (vseedinoe suscee) 409 . Deswegen ist Gott für ihn das Alles (vsë). Gott und Welt fallen so zusammen. Zwar ist Gott der Schöpfer und die Welt das Geschaffene, aber Solov'ev kennt keinen metaphysischen Dualismus zwischen Gott und Welt 410 . Eine Schöpfung aus dem Nichts bezeichnet er als „reines Wunder", das nichts erklärt 411 . Stattdessen sieht Solov'ev eine organische Verbindung von Gott und Welt in der Weltseele (mirovaja dusa oder dusa mira) 412 . Er bezeichnet die Weltseele als diejenige der Wirkungen Gottes, die zur materiellen Verwirklichung drängt 413 . Als zur Schöpfung gehörendes geschaffenes Wesen trennt sie sich noch vor der Schöpfung der Welt von der Weisheit Gottes (Sophia), die das zur Wesenheit Gottes gehörende Prinzip der in Gott schon immer vollkommenen All-Einheit alles Seins ist 414 . Die Weltseele ist der Antitypos der Weisheit und wird zum Prinzip der Schöpfung und zum Subjekt des Willens der geschaffenen Welt 415 . Die Schöpfung ist so bei Solov'ev von Anfang an, also noch vor dem Sündenfall des
Vgl. S. Verchovskoj, Bog i celovek, S. 238 f. Dionysius Areopagita, De divinis nominibus XIII, 2, PG 3, 977 C. 407 Yg] ρ ¡Jeberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 1, hrsg. v. K.Praechter, S. 6 0 3 - 6 0 6 . 4 0 8 Vgl. B. Altaner, Patrologie, S. 503 f. 4 0 9 K O N II, S. X . 4 1 0 Vgl. L. Müller, Solovjev und der Protestantismus, S. 104 ff. 4 1 1 Art. „Mirovaja dusa", B - Ε , R G X , 247 ( = DG VI, 349). 4 1 2 K O N II, 319; CB III, 140ff.; Ό Ο Ϊ III, 354; R E U , FS, 2 5 4 - 2 5 7 ( = DG III, 3 4 8 - 3 5 3 ) . 4 1 3 R E U , FS, 252 ( = DG III, 344). 4 1 4 REU, FS, 248f. 254.256f. ( = DG III, 339. 348. 352f.). 4 1 5 R E U , FS, 2 5 4 . 2 5 7 ( = DG III, 348. 353). 405 406
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M e n s c h e n , ein g e w i s s e r A b f a l l v o n G o t t 4 1 6 , n ä m l i c h e i n e T r e n n u n g v o n d e r u r s p r ü n g l i c h e n , u n d i f f e r e n z i e r t e n E i n h e i t in G o t t . Sie ist a b e r d a d u r c h allein n i c h t e t w a b ö s e . D i e W e l t s e e l e t r ä g t n u r als m ö g l i c h e n G e g e n s t a n d i h r e s W i l l e n s d a s B ö s e in s i c h . B e i d e , S o p h i a u n d W e l t s e e l e , b ü r g e n b e i S o l o v ' e v f ü r d i e All-Einheit geschaffener
von
Gott
und
Welt a n g e s i c h t s i h r e r p h ä n o m e n a l e n G e s p a l t e n h e i t . Sie s i n d z w a r k e i n e
E m a n a t i o n e n wie bei Plotin. A b e r d u r c h ihre Z w i s c h e n s t e l l u n g z w i s c h e n d e m ewigen G o t t u n d der endlichen Welt werden G o t t und Welt doch zu einem
organischen
G a n z e n w i e b e i D i o n y s i u s A r e o p a g i t a . D i e W e l t s e e l e ist n a c h S o l o v ' e v s W o r t e n d i e W i r k u n g u n d das Mittel G o t t e s z u r allmählichen „Verwirklichung der Einheit v o n S c h ö p f e r u n d S c h ö p f u n g " 4 1 7 in d e r G e s c h i c h t e . D i e s e E i n h e i t b l e i b t in i h r e m A n s a t z d u r c h die Weltseele i m m e r gewahrt, auch w e n n im A k t der S c h ö p f u n g S c h ö p f e r u n d geschaffene Welt relativ g e t r e n n t w e r d e n . - Auf die Sophialehre Solov'evs u n d seine weiteren B e s t i m m u n g e n v o n Sophia u n d Weltseele k ö n n e n w i r im R a h m e n dieser U n t e r s u c h u n g nicht weiter eingehen418.
Wir halten fest, daß Solov'ev durch die Sophia und durch die Weltseele die organische Einheit von G o t t und Welt sichern will. Das tut er um den hohen Preis, daß die creatio ex nihilo, die seit den Apologeten ein Grundaxiom christlicher Gotteslehre ist 4 1 9 , in seinem System keinen Platz mehr hat 4 2 0 . Es
416 Yg| £ Müller, Solovjev u n d der Protestantismus, S. 106ff. 417
R E U , FS, 257 ( = D G III, 353). Wir skizzieren hier n u r kurz, daß Solov'ev auch in der Sophialehre verschiedene Auffassungen nacheinander hat. Zunächst sind bei ihm Sophia u n d Weltseele identisch (z.B. K O N II, 319; C B III, 127. 140f.). In „Rußland u n d die Universale Kirche" u n d danach unterscheidet Solov'ev die Sophia von der Weltseele, weil die Weltseele den Fall der Welt verursacht (so auch die B e g r ü n d u n g bei L. Müller, Solovjev u n d der Protestantismus, S. 106ff. und bei V. Zen'kovskij, Ideja vseedinstva, S. 56). A m Ende der Geschichte der Welt steht dann die Wiedervereinigung von Weltseele und Sophia ( R E U , FS, 255. 266 = D G III, 350. 368; T R X, 218; vgl. W.Szylkarski, Solowjews Philosophie der All-Einheit, S. 8 0 - 8 8 ) . Die Weltseele ist das Prinzip der geschaffenen Welt, selbst Teil des Geschaffenen, die Sophia dagegen ist die Idee der AllEinheit von Schöpfer u n d Geschöpf ( R E U , FS, 256 f. = D G III, 352), die sich in der Welt durch das G o t t m e n s c h e n t u m in Maria, Christus und der Kirche allmählich verwirklicht ( R E U , FS, 265 = D G III, 366; I B T I V , 261). Die Sophia ist und bleibt ungeschaffen. Sie ist, so k ö n n e n wir sagen, die H y p o s t a s i e r u n g dessen, was Solov'ev sonst die Wesenheit (suscnost') Gottes n e n n t : die all-eine Substanz oder Wesenheit oder das All-Eine ( R E U , FS, 249 = D G III, 339). Vgl. das über die Wesenheit bei Solov'ev Gesagte, s.o. S. 1 8 1 - 1 8 3 . - Ist die Weltseelenlehre ein Topos der neuplatonischen Philosophie, so beruht die Sophialehre bei Solov'ev ausdrücklich auf der religiösen E r f a h r u n g der Russischen O r t h o d o x e n Kirche, ihrem „religiösen G e f ü h l " ( R E U , FS, 266 = D G III, 368), ihrer Ikonographie (ebd.; I C A K IX, 188) und ihrem Kirchenbau ( V S C h P IV, 48). D e n n o c h ist sie trinitäts- und schöpfungstheologisch fragwürdig. S.o. A n m . 63 (zu S. 37f.). 419 Bei aller N ä h e besonders zur platonischen Philosophie sahen die Apologeten, als erster Theophilus von Antiochien, gerade die Schöpfung aus dem N i c h t s (έξ ο ύ κ ό ν τ ω ν : Theophilus, A d Autol. II, 4. 10) als Erweis der Allmacht Gottes an. Für Solov'ev liegt der Beweis der Allmacht G o t t e s dagegen gerade in der All-Einheit von G o t t und Welt. D e r Begriff Gottes als der all-einen Substanz geht f ü r Solov'ev logisch aus d e m Begriff der Allmacht Gottes hervor. D e n n etwas, was seine G r u n d l a g e außerhalb Gottes hätte, stünde gegen seine Allmacht (PB IX, 23). Alles Außergöttliche kann nach Solov'ev nichts anderes sein als das transponierte oder verkehrte Göttliche (le divin transposé ou renversé: R E U , FS, 252 = D G III, 345). Das N i c h t s , 418
185
geht Solov'ev aber keineswegs um die Einführung des Pantheismus in sein theosophisches System durch die Hintertür. Wie scharf er seine „positive christliche Philosophie" 421 vom Pantheismus jeglicher Spielart unterscheidet, haben wir schon gesehen. Es geht vielmehr darum, daß Gott sowohl in seinem Wesen das transzendente Gegenüber zur Welt sein soll als auch in seinen Wirkungen eine Einheit mit der Welt bilden soll. Diese Einheit von Gott und Welt durch Gottes Wirkungen nennt Solov'ev in bewußtem Gegensatz gleichermaßen zum Deismus und zum Pantheismus „All-Einheit" (vseedinstvo)422. Ihr entspricht die allgemeine mystische Grunderfahrung der All-Einheit, die nach Solov'ev zwar auch die pantheistische Gotteserfahrung ist, die aber auch im Christentum als Erfahrung des Gottmenschentums ihren Platz hat. Die Bezeichnung der Wesenheit Gottes als des Alles dient also ebenso wie die Bezeichnungen seiner Wesenheit als des Einen und des wahrhaft Seienden bei Solov'ev dazu, die jeweils dahinterstehenden mystischen Erfahrungen als wirkliche Gotteserfahrungen aufzuzeigen - Erfahrungen, die das unerkennbare Wesen Gottes nicht erfassen, aber in ihrer Gesamtheit doch auch nicht nur einzelnen Wirkungen Gottes gelten, sondern die drei grundlegenden Aspekte seiner Wesenheit erfassen und direkt erkennen lassen.
5.3 Die Erfahrung des seienden All-Einen in seinen
Wirkungen
5.31 Die all-eine Wesenheit oder Substanz als Abstraktion
der
Erfahrung
Solov'evs Bezeichnungen Gottes als des Einen und des Alles ergänzen sich. Sie sind zwei Aspekte der all-einen Wirklichkeit Gottes: das Eine ist die Quelle des Alles, das Alles ist die Vollendung des Einen. Deswegen faßt Solov'ev die beiden Bezeichnungen meist zusammen und nennt die Wesenheit Gottes das eine oder einheitliche Alles (edinoe vsë) 423 oder öfter das AllEine (vseedinoe) 424 . Gelegentlich fügt er dabei zur Verdeutlichung die grie-
aus dem Gott die Welt geschaffen hat, ist also für Solov'ev nicht außerhalb Gottes, sondern die Wesenheit Gottes selbst als des Einen (s.o. S. 182f.). 4 2 0 Diese Beurteilung der All-Einheits-Lehre teilen wir aus den genannten Gründen (s. Anm. 419) mit L. Müller (Solovjev und der Protestantismus, S. 106 ff.). 4 2 1 PB IX, 27: Diese Bezeichnung verwendet auch Schelling für seine Philosophie. Solov'ev nennt hier ohne Bezug auf Schelling sein eigenes System so. Er meint damit sein „philosophisches System der vollständigen Welterklärung" (PB IX, 24). 4 2 2 K O N II, 284. 287; CB III, 164: Solov'ev stellt sein „System der All-Einheit" gegen Deismus und Pantheismus und macht deutlich, daß nur im System der All-Einheit die Rede vom Gottmenschentum und von der Inkarnation Gottes sinnvoll sei. Das Gottmenschentum wäre demnach die Konkretisierung der All-Einheit im System der „positiven christlichen Philosophie". 4 2 3 K O N II, 165 . 4 2 4 K O N II, 283. 288. 309. 318.
186
chischen W o r t e εν και πάν h i n z u 4 2 5 . X e n o p h a n e s drückte als erster griechischer Philosoph mit der Charakterisierung G o t t e s als des εν και πάν G o t t e s Unpersönlichkeit im Sinne des Pantheismus a u s 4 2 6 . D e n n o c h w u r d e G o t t als das εν και πάν auch von Dionysius A r e o p a g i t a bezeichnet. Bei ihm ist das mit der Gottesvorstellung der christlichen Offenbarung, mit G o t t als S c h ö p fer und E r l ö s e r , durchaus v e r e i n b a r 4 2 7 . D a ß G o t t das εν καί πάν ist, soll beim Areopagiten wie bei Solov'ev die doppelte Wahrheit in eine F o r m e l fassen, daß G o t t zugleich der absolut Transzendente ist und der, der alles geschaffene Sein umfaßt. Das All-Eine nennt Solov'ev auch die göttliche oder all-eine Wesenheit (bozestvennaja, vseedinaja suscnost') 4 2 8 . Sie ist nach Solov'ev Gottes Idee, sein unbedingter, allgemeiner und notwendiger Inhalt. Wir könnten auch sagen, Gottes Wesenheit sei die Gesamtheit seiner grundlegenden Eigenschaften 4 2 9 . Sie ist wirklich, weil Gottes Eigenschaften wirklich sind; aber sie ist doch auch eine denkerische Abstraktion, die der Mensch vornimmt. Das gleiche gilt vom Ausdruck „all-eine Substanz" (vseedinaja substancija) 4 3 0 , den Solov'ev auch als Gottesbegriff benutzt. Solov'ev weist zunächst selbst auf die Definition Gottes durch Spinoza hin: „Gott ist das absolut-unendliche Wesen (suscestvo, ens), das heißt die Substanz (substancija, substantia), die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes die ewige und unendliche Wesenheit (suscnost', essentia) ausdrückt" 4 3 1 . Solov'ev macht dann klar, daß auch Spinoza - wie er selbst zwischen dem absoluten, transzendenten und unerkennbaren Gott als unendlichem Wesen (suscestvo) und der absoluten Substanz Gottes als der einen Grundlage alles geschaffenen Seienden unterschieden habe 4 3 2 , allerdings nicht klar genug, so daß Spinoza schließlich doch mit seinem Substanzbegriff einen statischen Pantheismus lehrte 4 3 3 . Wenn Solov'ev selbst dennoch die Wesenheit Gottes als all-eine Substanz bezeichnet, setzt er sich von einem pantheistischen Verständnis Gottes auf doppelte Weise ab. Erstens meint er mit „Substanz" wie Spinoza das, was sein Sein in sich und für sich hat und zu seiner Existenz keines anderen bedarf. Demnach ist Gott die einzige mögliche Substanz, da alles Sein außerhalb Gottes von ihm ausgeht. In dieser Hinsicht ist Gott als absolute Substanz der transzendente Gott, der Ursprung seiner selbst und der Ursprung alles Seins 4 3 4 . Zweitens meint Solov'ev mit Substanz die 425 426
S. 75 f.
So in: F N C Z I, 337. 346; K O N II, 309. Vgl. F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 1, hrsg. v. K.Praechter,
4 2 7 Vgl. Dionysius Areopagita, De divinis nominibus XIII, 1 - 3 , P G 3 , 977 ff.; vgl. V.Lossky, Théologie mystique, S. 30. 4 2 8 CB III, 80. 85. 4 2 9 Diese Möglichkeit erwähnt L. Lopatin (Solov'ev i Trubeckoj, S. 394). E. Trubeckoj hält sie für die angemessene Interpretation des Begriffs „suscnost'" bei Solov'ev (Mirosozercanie, Bd. I, S. 256; ders., Solov'ev i Lopatin, S. 547). 4 3 0 PB IX, 3. 23. 4 3 1 PB IX, 3. Solov'ev zitiert wörtlich, aber ohne Stellenangabe aus Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, Teil I, Def. 6, Opera/Werke, lateinisch und deutsch, Bd. 2, S. 87f. 4 3 2 PB IX, 24. 4 3 3 A.a.O. S. 27. 4 3 4 F N C Z I, 336; CB III, 73; PB IX, 23. 26: „causa sui, causa omnium".
187
Grundlage (osnovanie) alles geschaffenen Seins, alles Existierenden: G o t t ist der Urgrund der Existenz alles Geschaffenen und existiert in allem Geschaffenen. Dies entspricht nicht Spinozas pantheistischem Begriff Gottes als natura naturans. Von ihm grenzt sich Solov'ev a b 4 3 5 . E s entspricht vielmehr - wie schon die Begriffe des Einen, des Alles und des wahrhaft Seienden - der Theologie der Kirchenväter. Seit Irenaus wurde G o t t in der Einzigkeit seines Ursprungs (άρχή, causa) nicht nur als der Eine und infolgedessen Andere gegenüber der Welt gesehen, sondern auch als die Wesenheit oder Substanz (ουσία, substantia) 4 3 6 aller geschaffenen Dinge, die alles Seiende mit dem allmächtigen Willen Gottes erfüllt 4 3 7 . Damit verteidigten Irenäus, Gregor Thaumaturgos und andere Kirchenväter gegen einen gnostischen Pantheismus gerade die freie Allmacht des transzendenten Gottes. Genau in diesem Sinn nennt Solov'ev G o t t die all-eine Substanz. E r meint damit G o t t den Allmächtigen oder Allerhalter (Παντοκράτωρ, Vsederzitel') 4 3 8 , der allem Seienden gegenüber frei und dessen Ursprung ist und doch in allem enthalten und gegenwärtig ist.
All-eine Wesenheit, all-eine Substanz - das sind Gottesbegriffe, die Solov'ev aus Philosophie und Theologie übernimmt und selbständig definiert. Aber jeder Gottesbegriff, der die Wesenheit Gottes umschreibt, ist für Solov'ev etwas, das „von der Vernunft (razum) aus den Gegebenheiten der wirklichen religiösen Erfahrung (dejstvitel'nyj religioznyj opyt) gefolgert wurde" 439 . Alle bisher genannten Bezeichnungen der Wesenheit Gottes entsprechen also wirklicher Gotteserfahrung, der Erfahrung seiner Wirkungen. Sie sind nur zugleich deren Abstraktion mittels der menschlichen Vernunft. Und das wiederum macht sie zu Definitionen, die dem lebendigen, in Geschichte und Gegenwart in der Menschheit und in der Welt wirkenden Gott ungenügend entsprechen. Sie sind „unzureichend für die religiöshistorische Betrachtungsweise", wie Solov'ev seine eigene „positive christliche Philosophie" 440 auch nennt, das heißt unzureichend, um die Wesenheit des sich offenbarenden und handelnden Gottes zu erfassen. Dazu sind diese Begriffe zu statisch. Das Absolute, das All-Eine, die all-eine Wesenheit oder Substanz - das alles ist „nur ein abstrakter Ausdruck für die große ... Tatsache der Liebe" Gottes 441 . Die göttliche Liebe ist „die innere Einheit eines jeden mit allem", also die All-Einheit; aber der Ausdruck „Liebe" macht erst klar, daß es sich bei dieser All-Einheit um eine „lebendige, persönliche Kraft" (zivaja, licnaja sila) Gottes handelt 442 . Diese Liebe Gottes PB IX, 23 f. „Substantia" war die der griechischen Bedeutung nicht ganz entsprechende allgemeine lateinische Ubersetzung von „ουσία" seit Tertullian. Solov'ev übersetzt ,,άρχή" mit „nacalo" und „ουσία" mit „suscestvo" oder „suscnost'". 437 Irenäus, Adversus haereses II, 30, 9. Vgl. W. Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs, S. 338ff., bes. S. 340; ders., Art. „Gott, V. Theologiegeschichtlich", RGG 3. Aufl., Bd. II, Sp. 1720. 4 3 8 PB IX, 23. Das russische Wort „Vsederzitel'" entspricht exakt dem griechischen Wort „Παντοκράτωρ". Diese biblische Gottesbezeichnung (2 Sam 5,10 [ L X X ] ; Offb 1,8) ist mit der Bezeichnung Gottes des Vaters im ersten Satz des Nicänums identisch. 4 3 9 OD VIII, 202 . 4 4 0 PB IX, 26 f. 4 4 1 K O N II, 310. 4 4 2 D 0 2 III, 365. 435
436
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bekundet sich im Menschen als seine Kraft oder Wirkung (ènergija ego projavlenija) 443 . Wir fassen zusammen: Gotteserfahrung ist bei Solov'ev immer die Erfahrung seiner lebendigen Wirkungen; die Begriffe, die die Wesenheit Gottes als Ausdruck der Gotteserfahrung umschreiben, müssen bei aller vernunftgemäßen und verallgemeinernden Abstraktion doch die lebendigen Wirkungen Gottes mit ausdrücken. Dieser Forderung gerecht wird nur eine einzige Bezeichnung der Wesenheit Gottes, die alle Erwägungen Solov'evs über Gottes Wesenheit zusammenfaßt: Gott ist das seiende All-Eine (suscee vseedinoe) 4 4 4 . Diese Bezeichnung ist für Solov'ev weder eine unmittelbare Gegebenheit der Erfahrung noch ein Begriff der Vernunft 4 4 5 wie der Begriff „AllEinheit", sondern der Ausdruck der hinter diesem Begriff seienden Wirklichkeit 4 4 6 , nämlich des lebendigen Gottes in seinem Wesen (suscestvo) selbst 4 4 7 . Das Adjektiv „seiend" (suscij) drückt wie der Gottesname Jahwe Gottes Lebendigkeit und Freiheit aus, das „All-Eine" bezeichnet Gott als den Allmächtigen. Und da für Solov'ev das seiende All-Eine weder ein Erfahrungs- noch ein Vernunftbegriff ist, klingt hier auch schon an, daß Gott bei ihm als die Wirklichkeit hinter den Gegebenheiten der Erfahrung und den Begriffen der Vernunft letztlich eine Wahrheit des Glaubens ist 4 4 8 . Soweit Gott aber Gegenstand der menschlichen Erfahrung in allen ihren Bereichen ist, also auch Gegenstand der äußeren und inneren Empfindungen 4 4 9 und nicht nur mystischer Erlebnisse, soweit geht es immer um Gottes Wirkungen.
5.32 Die Wirkungen
Gottes. Seine Gnade als das Gute und die
Liebe
Gott, der in seinem Wesen Unerkennbare, definiert sich selbst in seiner Wesenheit durch seine Wirkungen (ènergii). Sie sind seine wirkende Kraft (dejstvujuscaja sila) 4 5 0 . Solov'ev kennzeichnet diese Kraft als Strömung von innen heraus (stremlenie ili vlecenie iznutri) 4 5 1 oder auch als göttliche Potenz (bozestvennaja potencija), die von innen heraus nach außen tritt 4 5 2 . Die Wirkungen Gottes sind damit im doppelten Sinn seine „Äußerungen" : Äußerungen, mit denen er aus sich heraustritt und die Welt und die Menschen erschafft, und Äußerungen, mit denen er sich mit den Menschen verbindet, sich ihnen offenbart und sich ihnen zu erfahren und zu erkennen gibt. Die Wirkungen Gottes sind ungeteilte Äußerungen des dreieinen Gottes. Den443
A . a . O . S. 364.
446
4 4 7 A . a . O . S. I X . A . a . O . S. 283. T S I, 2 3 8 f . ; Art. „Vera", B - Ε , R G X I I , 553 ( = D G V I , 58); s.u. S. 241 f.
448
444
K O N II, S. I X und S. 315.
445
A . a . O . S. I X .
449 O D V I I I , 193. D a ß G o t t bei Solov'ev zugleich Gegenstand physischer und psychischer Empfindungen (oscuscenija) und Axiom des Glaubens ist, aber nicht eigentlich Gegenstand spekulativer Metaphysik, betont auch È. Radlov (Zizn' i ucenie, S. 103). 4 5 0 C B I I I , 88. 4 5 1 K O N II, 314. 354. 4 5 2 F N C Z 1,284.
189
noch unterscheidet Solov'ev im Lauf der Heilsgeschichte Wirkungen, die mit dem Vater oder dem Sohn oder dem Heiligen Geist verbunden sind 453 . Zur Erkenntnis Gottes des Sohnes führen Kreuz und Auferstehung Christi 454 . Zur Erfahrung Gottes in der gegenwärtigen Zeit wie zur Umwandlung der Menschen und der Welt zu Gott hin in der Zukunft führen die Wirkungen des Heiligen Geistes. Sie werden in der Theologie mit einem Wort „Gnade" genannt 455 . Solov'ev nimmt dieses Wort auf und benennt mit „Gnade" alle die Wirkungen des Geistes, die die Menschen und die Welt durchdringen, umgestalten und zur freien Einheit mit Gott führen 4 5 6 . Die grundlegende Wirkung des Heiligen Geistes im Menschen ist die unmittelbar im Menschen spürbare (oscutimoe) geistliche Wiedergeburt (duchovnoe vozrozdenie). Sie ist die direkte Erfahrung der Gnade Gottes 457 . In der geistlichen Wiedergeburt erfährt der Mensch die Gnade Gottes unter zwei grundlegenden und für das Christentum wie für die „positive christliche Philosophie" Solov'evs charakteristischen Aspekten: als das Gute und als die Liebe. Die erste grundlegende Erfahrung der Gnade oder der Wirkungen Gottes kennzeichnet Solov'ev nicht allgemein als „religiöse Inspiration" (religioznoe vdochnovenie) im Menschen, sondern als „Inspiration des Guten" (vdochnovenie dobra). Die grundlegende Gotteserfahrung ist die „direkte und positive Wirkung des guten Prinzips selbst auf uns und in uns" und wird allmählich zum „unzweifelhaften Leben im Guten selbst" 458 . Am Anfang steht also die Erfahrung des Guten (dobro). Dieses Gute ist nicht das Gute eines vernünftigen Moralgesetzes, vom Menschen erdacht und befolgt, sondern die Wirkung (dejstvie) der göttlichen Gnade (blagodat') in der Seele des Menschen, in seinem Innern 4 5 9 . Das Gute ist die direkte Wirkung Gottes selbst, denn Gott selbst ist das Gute (Dobro) 4 6 0 . Und als Gutes kann er 453
454 455 REU, FS, 251 (= D G III, 343). CB III, 81. O D VIII, 454. REU, FS, 251 (= D G III, 343). 457 CB III, 81. Mit den Worten „Gnade" und „Wiedergeburt" nimmt Solov'ev nicht nur einfach theologische Begriffe auf, sondern das Herzstück frühchristlichen Verständnisses von Gotteserfahrung. Daß Gotteserfahrung die Erfahrung seiner Gnade im Heiligen Geist ist, die dem Menschen in der Taufe in den Grund seines Geistes, seiner Seele und seines Leibes gelegt ist, ist die Lehre der orthodoxen Kirchenväter seit dem Streit mit den Messalianern (vgl. Diadochus von Photike, Capita gnostica centum 77, Œuvres spirituelles, SC 5ter, S. 135). Seit Paulus wird Gotteserfahrung als Erfahrung der geistlichen Wiedergeburt verstanden, die sich in den Charismen des Heiligen Geistes manifestiert (vgl. z.B. Rom 8,11.16; 1 Kor 12,28ff; 14,12). Gotteserfahrung ist in der frühchristlichen und patristischen Theologie immer Erfahrung der Gnade Gottes und Erfahrung des Heiligen Geistes (vgl. Tb.Spidlik, La spiritualité, S. 74 ff.). Solov'ev gründet hier seine „positive christliche Philosophie" als Lehre vom lebendigen Gottmenschentum auf der patristischen Tradition der orthodoxen Theologie. - S. u. Anm. 484. 458 459 T R X , 187f. O D VIII, 513. 460 D O Z III, 312 ; O D VIII, 3. Solov'ev bezeichnet - wieder im Anschluß an Piaton - Gott als das Gute (blago), das Wahre (istina) und das Schöne (krasota). Diese drei Begriffe beschreiben die Wesenheit, das heißt die Idee oder den Inhalt Gottes ( F N C Z I, 304; CB III, 107). Das Gute („Dobro", großgeschrieben) als umfassende Bezeichnung für Gott ist bei Solov'ev mehr als die platonische Wesenheitsbestimmung. Es meint nicht die Idee des Guten oder das Gute im 456
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erfahren werden. Erst die Erfahrung der göttlichen Gnade als des Guten vollendet das natürliche Gute des Moralgesetzes und macht es wirkungsvoll. Die Mitteilung (soobscenie) der göttlichen Gnade erfährt der Mensch nicht nur als momentanes Inspirationserlebnis. Vielmehr vollendet die von Gott ausgehende Gnade den Menschen allmählich. Sie vervollkommnet ihn wirklich in organischem Wachstum im äußeren und inneren Menschen, im Individuum und in der Gesellschaft, bis die Einheit von Gott und Mensch im Reich Gottes auf einer neuen Erde unter einem neuen Himmel vollendet ist 461 . Das Gute, das der Mensch in Befolgung des Willens Gottes tut, ist die Folge der „Inspiration des Guten", und dieses Tun des Guten wiederum führt zur unmittelbaren Gnadenerfahrung des einzelnen, der Gutes tut, zur wahrhaften, mystischen Gotteserfahrung. Solov'ev schildert in seinen „Drei Gesprächen" die mystische Gotteserfahrung eines Generals, der Gott selbst im Licht einer mystischen Vision spürt („cuvstvuju Boga"), nachdem er nach dem Willen Gottes gehandelt hat. Hier bewirkt das Verhalten nach dem Willen Gottes direkt die Gotteserfahrung 462 . Die Erfahrung der Wirkung Gottes als des Guten ist vielgestaltig, hängt aber immer mit dem einfachen Tun des Willens Gottes, des Guten, zusammen. Der Zusammenhang zwischen dem Tun des Guten und der mystischen Erfahrung Gottes, des Guten, ist ein Kriterium zur Unterscheidung von nur scheinbarer Gotteserfahrung und echter Erfahrung der Wirkung Gottes - eine Unterscheidung, die Solov'ev schon bei seiner Beschreibung von wahrer und vermeintlicher mystischer Erfahrung machte 463 . Er folgt mit dieser Herstellung des Zusammenhangs von mystischer Gottesschau (θεωρία) und Handeln nach den Geboten Gottes (πράξις) wieder der mystischen Theologie der griechischen Väter, den in der christlichen Mystik klassisch gewordenen Formeln des Orígenes: „Keine Praxis ohne Theorie, keine Theorie ohne Praxis" und „Praxis ist der Aufstieg zur Theorie" 4 6 4 . Die zweite grundlegende Erfahrung der Gnade oder der Wirkungen Gottes ist für Solov'ev die Erfahrung der Liebe (ljubov'). Solov'ev definiert Liebe empirisch als Zuneigung oder Drang eines beseelten Wesens zu einem anderen, um sich mit ihm zu vereinigen (vlecenie dlja soedinenija) 465 . Das Ziel der Liebe ist die Einheit von Liebendem und Geliebtem. Metaphysisch-theosovollkommenen Zustand (das ist im Sprachgebrauch Solov'evs das Gute als „blago", vgl. O D VIII, 144), sondern den vollendeten und einzig Guten selbst, nämlich den lebendigen Gott. 4 6 1 O D VIII, 454; T R X , 187: „dejstvitel'noe soversenstvo". Vgl. Offb 21,1. 4 6 2 T R X, 113. Vgl. L. Müller, Anmerkungen zu 3G, D G VIII, 479: „Das vollendete sittliche Handeln fließt unmittelbar her aus Gott, und es bringt den Menschen in unmittelbare Beziehung zu Gott, es führt zu einem mystischen Gotteserlebnis." 4 6 3 S . o . S . 159. 464 Orígenes, In Lucam, Fragmenta 39, 4, G C S 35, hrsg. ν. M. Rauer, S.252, 2: „ούτε γάρ πράξις. ούτε θεωρία άνευ θατέρου". Ders., In Lucam Homilía 1, GCS 35, hrsg. ν. M. Rauer, S. 9f.: „πράξις γαρ θεωρίας άνάβασις". Vgl. Th. Spidlík, La spiritualité, S. 174f. 320f. 4 6 5 Art. „Ljubov"', B - Ε , R G X , 236 ( = D G VI, 307).
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phisch gesehen ist Liebe für Solov'ev ganz allgemein das Prinzip, das das Viele zu innerer Einheit (vnutrennoe edinstvo) führt 4 6 6 . Er beruft sich auf Empedokles, der zuerst Liebe (φιλία) - neben dem Haß - als metaphysisches Prinzip des Alls, nämlich als anziehende Kraft (Prinzip der Schwerkraft) und als Prinzip der universalen Einheit, Ganzheit (celost') und Integration (integracija) betrachtete 467 . D a Solov'ev Gott als das seiende All-Eine bezeichnet, kann er von diesem philosophischen Verständnis der Liebe her Gott selbst mit einem Wort auch als Liebe bezeichnen. Denn die göttliche Liebe ist die universale All-Einheit (vseedinstvo), jedoch in der Form einer lebendigen und persönlichen Kraft (zivaja, licnaja sila) 4 6 8 . Deswegen ist, wenn Gott „Liebe" genannt wird, doch mehr gemeint als ein philosophisches, und noch dazu das allgemeinste Wirkprinzip: Gott als Liebe ist die „absolute Persönlichkeit", Liebe in Christus ist „persönliche Kraft" 4 6 9 . Liebe ist bei Solov'ev sozusagen die Individualisation der All-Einheit. Es geht in der Liebe immer um die persönliche Zuneigung beseelter Wesen 4 7 0 . So ist die Liebe bei Solov'ev die unmittelbarste, persönlichste und damit auch grundlegendste aller Wirkungen Gottes. Das Gute, die Wahrheit und die Schönheit sind dagegen letztlich nur verschiedene Ausdrücke Gottes für die eine Grundwirkung der Liebe 4 7 1 . Gott als die Liebe strebt zum Ziel der inneren Einheit alles Geschaffenen und alles einzelnen. Auch das Mittel zur Vereinigung der einzelnen getrennten Wesen ist die Liebe. In den einzelnen Menschen wie im Gottmenschen Jesus Christus bedeutet die Liebe die Selbstverneinung des Einzelwesens, die positive Behauptung des geliebten anderen und damit die höhere und wahrhafte Selbstbehauptung durch Altruismus statt durch Egoismus 4 7 2 . Aber die Liebe ist als Selbstverneinung für den Menschen nur wirklich möglich, wenn es das absolute Prinzip der Liebe gibt, wenn Gott die wirkende persönliche Kraft der Liebe im Menschen ist und wenn der Mensch daran glaubt 4 7 3 . So schließt sich hier wieder der Kreis zwischen Praxis und Theorie, zwischen tätiger selbstverneinender Liebe des Menschen und der inneren Erfahrung Gottes als sich hingebender Liebe zum Menschen. Analog zum Tun des Guten und der Erfahrung Gottes, des absoluten Guten, ist die Tat der selbstverneinenden Liebe des Menschen der Weg zur mystischen Erfahrung und Erkenntnis Gottes, der selbst die Liebe ist, und das Kriterium zur Unterscheidung zwischen wirklicher und vermeintlicher Erfahrung der göttlichen Liebe. Die von Gott geschenkte menschliche Liebe ist die Voraussetzung zur wahrhaften und lebendigen Erkenntnis Gottes.
4 6 6 C B III, 58. 110: Innere Einheit steht hier im Kontrast zur äußeren, mechanischen Gemeinschaft (mechaniceskaja sovokupnost'), die auch ohne Liebe erreicht werden kann. 4 6 7 Art. „ L j u b o v ' " , B - Ε , R G X , 237 ( = D G VI, 309). 4 6 8 D O i III, 365 . 4 6 9 A . a . O . S. 365. 4 7 0 Vgl. E. Trubeckoj, 4 7 1 C B III, 110. Mirosozercanie, Bd. I, S. 69 . 4 7 2 F N C Z I , 349; K O N II, 3 1 0 . 4 7 3 C B III, 9f.
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Zwei Beispiele aus den Werken Solov'evs sollen dies verdeutlichen. Das erste ist die reale Gestalt des russischen Dichters F . M . Dostoevskij, wie Solov'ev ihn erlebt und kennengelernt hat. Von Dostoevskij sagt Solov'ev kurz nach dessen Tode, daß er alle und jeden stets liebte, weil er glaubte, „daß wir alle göttlichen Geschlechts seien" (my vse rod Bozij) 4 7 4 , und weil er an die unendliche Kraft der göttlichen Liebe im Menschen glaubte 4 7 5 . In diesem Glauben „nahm er die ganze Bosheit, Schwere und Dunkelheit des Lebens in seine Seele auf und überwand dies alles durch die unendliche Kraft der L i e b e . . . Er erfuhr die göttliche Kraft (sc. der Liebe) in der Seele (izvedav bozestvennuju silu) . . . und kam so zur Erkenntnis (poznanie) Gottes und des Gottmenschen. Die Wirklichkeit Gottes und Christi offenbarte sich ihm in der inneren Kraft der Liebe und Vergebung." 4 7 6 Dostoevskij selbst hat nach Solov'ev beispielhaft geliebt. Er konnte das, weil er an die göttliche Kraft der Liebe glaubte. Dadurch hat er diese Kraft auch in sich selbst erfahren. Es war für Dostoevskij eine Erfahrung der Wirkung Gottes, eine Gotteserfahrung, die dann auch zur Gotteserkenntnis führte. - Wir sehen an diesem Beispiel, daß bei Solov'ev die Erfahrung der Wirkungen Gottes - wie alle Erfahrung - auf Glauben beruht und nur im Glauben zu ihrem Ziel führt, nämlich zur Erkenntnis Gottes und zur Vereinigung mit ihm 4 7 7 , und daß das Tun des Guten in der Liebe auch ihre innere Erfahrung zur Folge hat. Das zweite Beispiel ist die von Solov'ev in dichterischer und visionärer Freiheit geschilderte Gestalt des Antichrist in seiner „Kurzen Erzählung vom Antichrist". Er wird von Solov'ev als „Spiritualist" geschildert, der vielfältige mystische Erfahrungen hat und durch operative Mystik einen regen Verkehr mit übernatürlichen jenseitigen Wesen und Kräften hat 4 7 8 . Er glaubt auch an das Gute, an Gott und an den Messias 4 7 9 . Dennoch sind seine religiösen Erfahrungen nicht Erfahrungen der Wirkungen Gottes, sondern zutiefst Erfahrungen des Teufels 4 8 0 . Das liegt daran, daß sein Glaube nur eine „vernünftige, kalte Achtung gegen Gott und Christus" ist 4 8 1 , ein Vernunftglaube ohne Beteiligung des Herzens und ohne Vertrauen und Liebe zu Gott. Denn Liebe zu anderen empfindet und hat der Antichrist nicht. Sein Herz und sein Wesen sind eiskalt, sie sind geprägt von maßloser Eigenliebe (samoljubie), vom Egoismus 4 8 2 , der das genaue Gegenteil der wahrhaftigen, göttlichen Liebe ist. - Solov'ev zeigt mit diesem Beispiel so deutlich wie sonst nirgends in seinen Schriften, daß weder ein theoretischer Glaube an Gott noch vielfältige religiöse und mystische Erfahrungen Kriterien der wahren Beziehung des Menschen zu Gott sind 4 8 3 , sondern daß wahre Erfahrung der Wirkungen Gottes, wahre Erkenntnis Gottes und wahre Ver-
A p g 17,29; 2 Petr 1,4. 475 T R P D III, 185. Diese Charakteristik Dostoevskijs gab Solov'ev am Grabe des Dichters am 1.2. 1881. Er zitiert sie in seinem Nachruf, den „Drei Reden zum Andenken an Dostoevskij*. 4 7 6 A . a . O . S. 185f. (Kursiv nicht im Original). 4 7 7 S.u. S. 243 f. 478 T R X, 198.201.205.219. 4 7 9 A . a . O . S. 198. 480 £ ) ¡ e s w ¡ r c J ¡ n Je,- „Berufungsgeschichte" des Antichrist deutlich. Durch diese Episode stellen sich die bisherigen und zukünftigen diffusen religiösen Erfahrungen des Antichrist als dämonische Erfahrungen heraus (a.a.O. S. 200). 4 8 1 T R X , 199 . 4 8 2 A . a . O . S. 197f. 4 8 3 Ein anderes, historisches Beispiel dafür ist für Solov'ev der russische Dichter Lermontov. Lermontov hatte viele religiöse Gefühle und spürte Gott in lichten Augenblicken über sich, dennoch aber liebte er — so Solov'ev — nur sich selbst. So siegte sein „ D ä m o n i s m u s " über Gott, und seine religiöse Erfahrung nahm eine entstellte Form an (L I X , 363 f.). 474
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einigung mit G o t t nur durch die Liebe des Menschen zu G o t t zustande k o m m e n können. Die Liebe des Menschen zu G o t t im H e r z e n ist aber selbst Gnadenwirkung und Gnadengabe Gottes. Sie ist die Gegenwart des Heiligen Geistes im M e n s c h e n 4 8 4 . F ü r alle Erfahrungen der Wirkungen Gottes bedeutet dies, daß sie mit der Gnade der Liebe des Menschen zu G o t t verbunden sein müssen, um zur Erkenntnis Gottes führen zu können. D a ß die Liebe zu Gott das einzige Kriterium für die wirkliche Gegenwart des Heiligen Geistes und seiner Wirkungen im Menschen ist, ist wiederum eine Anschauung, die auf die älteste Vätertheologie zurückgeht. F ü r Irenäus von L y o n , Ignatius von Antiochien, Diognet und viele andere Väter ist die Liebe zu Gott, die bis zum Martyrium führt, ohne die Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen nicht möglich und daher ein Zeugnis der Gegenwart G o t t e s 4 8 5 . Solov'ev hat diese frühchristliche Argumentation sicher gekannt und nimmt sie nicht erst in seiner „Kurzen Erzählung v o m Antichrist", sondern spätestens in seinen „Vorlesungen über das G o t t m e n s c h e n t u m " bewußt a u f 4 8 6 .
4 8 4 Vgl. O D VIII, 221 : Die Liebe und das Gute sind beide Formen der Gnade Gottes, die dem Menschen Kraft und „Macht gibt, Kinder Gottes zu werden" (Joh 1,12), das heißt, selbst göttlich zu werden. Von Natur aus ist der Mensch dazu zu schwach. Er hat zwar ein „höheres geistliches Element" in sich (duchovnyj èlement), aber das kann den Menschen nicht vollkommen machen (ebd.). Die Vergottung (θέωσις) des Menschen geschieht durch einen „neuen, schöpferischen Akt oder eine Wirkung" (akt ili dejstvie) Gottes, die Gnade genannt wird (ebd.). Solov'ev betont, daß die Gnade Gabe und Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen ist. Im Christentum bleibt der göttliche Geist (bozestvennyj Duch) keine abstrakte logische und metaphysische Kategorie des Denkens, sondern er wird innerlich vom einzelnen Menschen empfunden und erfahren, weil er durch die „geistliche Wiedergeburt" (duchovnoe vozrozdenie) im Menschen gegenwärtig ist (CB III, 81; s.o. S. 190 und Anm. 457). Die Taufe ist erst der Anfang der Gegenwart des Geistes im Menschen. Solov'ev spricht von einer „allmählichen Vergeistigung des Menschen" (postepennoe oduchotvorenie celoveka) durch einen steten Prozeß der „inneren Aneignung des göttlichen Prinzips" durch den Menschen (vnutrennoe usvoenie bozestvennogo nacala, CB III, 155). Dies ist die Aneignung des Heiligen Geistes. Damit nimmt Solov'ev eine spirituelle Tradition der russischen Orthodoxie auf, die bis auf Symeon den Neuen Theologen und Makarius den Ägypter zurückgeht. Schon Makarius spricht vom Erwerben des Heiligen Geistes (λαβείν t ò θεϊκόν Πνεϋμα) durch Nachfolge Christi in Denken und Handeln (vgl. Pseudo-Makarius der Ägypter, Homilía 9,12, PG 34, 540B; ders., Homilía 30,6, PG 34, 724 D und 725 A). Der russische Heilige Serafim von Sarov (1759-1833) nannte dann für die russische Spiritualität des 19. Jahrhunderts prägend - „das wahre Ziel unseres christlichen Lebens... das Erwerben des Heiligen Göttlichen Geistes" (stjazanie Ducha Svjatogo Boz'ego) durch Beten, Fasten und Almosen, wobei der Akzent auf dem inneren geistlichen Leben liegt, um „die Gnade des Geistes Gottes" (blagodat' ducha Bozija) zu empfangen. (Vgl. „Gespräch des Hl. Serafim von Sarov mit Nikolaj Motovilov über das Ziel des christlichen Lebens", in: A Treasury of Russian Spirituality, hrsg. v. G. P. Fedotov, S. 268; vgl. ebenso F.Florovskij, Puti, S. 391 f.). Solov'ev hat die Rede vom „Erwerben des Heiligen Geistes" in seinen dem geistlichen Leben gewidmeten Schriften aufgenommen: Das Ziel des geistlichen Lebens ist die wirkliche innere Vereinigung des Menschen mit Gott (FNCZ I, 311), die sich durch die Aneignung des Heiligen Geistes in der Liebe vollzieht (CB III, 81.155; R E U , FS, 297 ( = D G III, 419). 485 ¡renäust Adv. haereses V, 9,2, PG 7,1144 C -1145 A : „Die Märtyrer legen Zeugnis ab und verachten den Tod, nicht aufgrund ihres schwachen Fleisches, sondern aufgrund der Bereitschaft des Geistes (sc. in ihnen)." 486
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CB III, 9 f.
Gott definiert sich nach Solov'ev selbst in seiner Wesenheit durch seine Wirkungen. Der Mensch erfährt sie als das Gute und als die Liebe Gottes. Diese Wirkungen sind zwar inhaltlich mit den „metaphysischen Kategorien" des Einen, des Alles und des Seienden, mit denen Solov'ev an die alexandrinische Philosophie anschließt, identisch 487 . Sowohl das seiende All-Eine als auch das Gute und die Liebe sind Definitionen der Wesenheit Gottes. Dennoch besteht in ihrem Verhältnis zur Gotteserfahrung ein entscheidender Unterschied. Die metaphysischen Kategorien sind Abstraktionen des menschlichen Denkens, die für das Christentum als Lehre (ucenie) ihren guten Sinn haben 488 . Die Liebe und das Gute als Gnadengaben Gottes dagegen sind direkte Ausdrücke der Erfahrung Gottes in seinen Wirkungen. Es sind Bezeichnungen mit einer empirischen, gefühlsmäßigen und ethischen Dimension. Sie sind nicht nur Begriffe einer theoretischen kataphatischen Theologie. Das ist auch der Begriff „All-Einheit". Sie sind zuerst Begriffe einer praktischen mystischen Theologie, einer Theologie der mystischen Erfahrung. A u c h hier finden wir eine Parallele bei P s e u d o - D i o n y s i u s Areopagita, die charakteristisch für die mystische Theologie vieler griechischer Kirchenväter ist. Die apophatischen und abstrakten Begriffe von G o t t wie das „ U b e r g ö t t l i c h e " oder das „Uberseiende" weichen an Stellen, die direkt von der mystischen Gotteserfahrung geprägt sind, dem Lobpreis der überfließenden Güte Gottes, die Dionysius Areopagita mit den Sonnenstrahlen vergleicht 4 8 9 , und dem Lobpreis der allumfassenden Liebe G o t tes ( ε ρ ω ς ) 4 9 0 . Die göttliche Liebe nennt Dionysius eine „ekstatische M a c h t " , die bewirkt, daß der Liebende nicht mehr sich selbst gehört, sondern dem G e l i e b t e n 4 9 1 . Diese Sprache ist eine direkte Beschreibung der mystischen Erfahrung und entspricht der W e n d u n g Solov'evs von der Selbstverneinung in der Liebe.
Die Bezeichnungen Gottes als des Guten und der Liebe sind bei Solov'ev also nicht abstrakte Definitionen von Eigenschaften Gottes, sondern direkter Ausdruck der Erfahrung seiner Wirkungen im Menschen. Sie sind darüber hinaus Ausdruck der Wesenheit des unerkennbaren Gottes, der sich in seiner Güte und Liebe als das Gute selbst und als die Liebe selbst offenbart und zu erfahren gegeben hat. So erkennt bei Solov'ev der Mensch, der an Gott glaubt, durch seine Erfahrung die Grundeigenschaften Gottes492 - nicht als seine statischen Attribute, sondern als seine direkten Wirkungen auf den 4 8 7 Solov'ev nennt als Vertreter der „alexandrinischen Philosophie", denen er nahesteht, Philon und Plotin. Die Bezeichnung „metaphysische Kategorien" für die Begriffe des Einen, des Alles und des Seienden stammen von Solov'ev selbst. 4 8 8 C B III, 81. 489 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV, 4, PG 3, 697 BC. 490 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV, 12, P G 3, 709B (ό όντως ερως). Der Areopagite gibt dem Wort „ερως" den Vorzug vor dem Wort „άγάπη", um die Liebe zwischen Gott und Mensch auszudrücken. „"Ερως" ist nach Dionysius der „göttlichere" Begriff, der den ekstatischen Charakter dieser Liebe herausstellt (a.a.O. IV, 11-13, PG 3, 708 C - 712 B). 4 9 1 A.a.O. IV, 13, P G 3, 712 A. 4 9 2 Vgl. E.Skobcova, Mirosozercanie, S. 15.
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Menschen. Und damit erkennt der Mensch Gott selbst. Denn Gottes Wirkungen auf den Menschen sind nichts anderes als seine Beziehungen zum Menschen, nichts anderes als Gottes eigene, wirkliche und existentielle Gegenwart.
6. Die mystische Erfahrung der Gegenwart
Gottes
Der Mensch kann die Gegenwart Gottes selbst erfahren, obwohl Gott gleichzeitig immer der Jenseitige, in seinem Wesen Unerreichbare bleibt. Daß dies eine konkrete Erfahrung ist, die die äußeren und inneren Sinne des Menschen umfaßt, macht Solov'ev mit einer sehr plastischen Ausdrucksweise deutlich, wenn er vom Fühlen (cuvstvovat'), Empfinden (oscuscat') und Wahrnehmen (vosprinimat') der Gegenwart Gottes spricht. Gegenstand des religiösen Gefühls ist Gott selbst. Solov'ev redet ganz direkt vom Fühlen Gottes (cuvstvovat* Boga) 4 9 3 und vom Fühlen des vollkommenen, ewig seienden Guten 4 9 4 in der Seele. Das Gefühl ist von Solov'ev überwiegend den seelischen Erregungen der inneren Erfahrung zugeordnet. Es ist inneres Gefühl (vnutrennoe cuvstvo). Empfindung (oscuscenie) und Wahrnehmung (vosprijatie) ordnet er der Erfahrung der äußeren und inneren Sinne zugleich zu. Die mystische Erfahrung umfaßt ja bei Solov'ev äußere und innere Erfahrung und ist von ihnen nicht zu trennen. Dies gilt auch für die mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes. In der Empfindung der Gegenwart Gottes (prisutstvie Bozestva) 495 und der Gemeinschaft mit Gott (obscenie) 496 ist für Solov'ev die Wirklichkeit des Empfundenen (dejstvitel'nost') sinnlich und übersinnlich gegeben. Hier überzeugt die unmittelbare Erfahrung durch sich selbst. Deswegen ist die Empfindung der Gegenwart Gottes eine freudige Empfindung (radostnoe oscuscenie) 497 . Die Wahrnehmung der wirklichen Gegenwart Gottes (vosprijatie real'nogo prisutstvija bozeskogo) bezieht Solov'ev auf alles Geschaffene, besonders auf alles Menschliche und die Ereignisse der menschlichen Geschichte 498 . Alles kann äußerer Anlaß und Gegenstand der Erfahrung der Gegenwart Gottes selbst werden. Solov'ev schildert - um ein extremes Beispiel zu nennen - sogar das gnadenlose Niedermetzeln türkischer Spezialeinheiten durch russische Truppen, um türkischen Grausamkeiten gegen die wehrlose armenische Zivilbevölkerung in Ostanatolien ein Ende zu bereiten, als den Anlaß für die mystische Gotteserfahrung des befehlshabenden russischen Generals 499 . In allen Lebenslagen kann das ganze menschliche Leben als „unzweifelhaftes Leben im Guten selbst", das heißt in Gott selbst, erfahren werden 500 . 493 495 497 500
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4 9 4 O D VIII, 191. TR X, 113. Ebd.; vgl. das Gedicht „Tri svidanija", RG XII, 85. 4 9 8 PB IX, 26. O D VIII, 191. A.a.O. S. 187.
496 499
PB IX, 16. T R X, 110-114, bes. 113.
Die Erfahrung der Gegenwart Gottes kann Solov'ev auch als die Erfahrung der verschiedenen Personen des dreieinen Gottes durch den Menschen bezeichnen. So spricht er bei seiner Auslegung des Vaterunser davon, daß wir Gott den Vater in uns als Vater empfinden 501 . Christus kann der Mensch als Licht des Wissens in sich (svet znanija ν celoveke) erfahren 502 und als innere Kraft (sila vnutrennaja) 503 . Den Heiligen Geist kann der Mensch unmittelbar in seiner geistlichen Wiedergeburt in sich empfinden 504 . Aber hier handelt es sich auch bei Solov'ev um Appropriationen der Erfahrung der Gegenwart des dreieinen Gottes an einzelne Personen der Trinität, je nach dem Charakter der Erfahrung: Der Erfahrung Gottes als Allmächtigem etwa wird dem Vater zugeeignet, die Erfahrung Gottes als Wahrheit dem Logos und die Erfahrung Gottes als lebensspendende geistliche Kraft dem Heiligen Geist. Die mit den äußeren und inneren Sinnen wahrnehmbaren allgemeinen Kennzeichen der mystischen Erfahrung der Gegenwart Gottes sind aber unabhängig von deren Kontext im Leben des Erfahrenden und unabhängig von deren Appropriation an eine Person der Trinität und gelten für jegliche mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes. Als allgemeine Kennzeichen der mystischen Gotteserfahrung erwähnt Solov'ev: die Ekstase 5 0 5 , das absolute Beherrschtsein durch die göttliche Macht S 0 6 , Lichtempfindung 507 , Stille, das Gefühl der eigenen Leichtigkeit und Reinheit entfernt von der Schwere und dem Schmutz der Erde 5 0 8 , und schließlich die unumstößliche Gewißheit, daß der Inhalt der mystischen Erfahrung die eigentliche Wirklichkeit ist im Vergleich zu den trügerischen Erscheinungen der Alltagswelt 509 . Solov'ev bleibt in allen diesen Aussagen konkret, auf die einzelne geschilderte mystische Erfahrung
5 0 2 A.a.O. S. 357; vgl. Joh 1,4b. 5 0 3 D 0 2 III, 359. D O Z III, 317. CB III, 81. sos YR X , 113: Solov'ev nennt die ekstatische Verzückung während der mystischen Gotteserfahrung einen „paradiesischen Zustand" (rajskoe sostojanie). 5 0 6 „Tri svidanija", R G XII, 81 und S. 8 2 - 8 6 . Solov'ev schildert, wie die göttliche Sophia, die er in mystischen Visionen erfährt, seine „ganze Seele beherrscht" und ihm durch eine innere Stimme Anweisungen erteilt, nach denen er sich verhalten muß, damit es zur Sophia-Vision kommt. 5 0 7 S. o. Anm. 505 und 506. Anders als Gregor von Nyssa und andere Mystiker beschreibt Solov'ev als Kennzeichen der mystischen Gotteserfahrung nie das Dunkel, sondern immer das Licht, meist als azurblaues Glänzen („Tri svidanija", R G XII, 81. 82. 84). Damit ist im allgemeinen der Himmel und die Unendlichkeit, aber auch der geistliche Himmel, die geistliche Wiedergeburt und das geistliche Leben in der Kontemplation und der Abgeschiedenheit vom irdischen Leben symbolisiert (vgl. H.Sachs, Christliche Ikonographie, S. 131; vgl. P.Florenskij, Stolp, S. 375. 557). Florenskij hat darüber hinaus darauf hingewiesen, daß in der christlichen mystischen Symbolik der azurne Glanz der Mantel ist, der Gott selbst bedeckt; das Azurblau ist das Symbol der Grenze zwischen dem Licht und der Finsternis, zwischen dem, was die Fülle des Seins ist, und dem, was das Nichts oder die Quelle alles Seins ist (P. Florenskij, Stolp, S. 375). Das Azurblau symbolisiert demnach die Grenze zum unerkennbaren Wesen Gottes, es ist das, was als Letztes vor dem unsichtbaren und unerkennbaren Wesen Gottes sichtbar und erkennbar wird. Es hat damit die gleiche Bedeutung wie das Dunkel in Gregor von Nyssas mystischer Schau. sos T R X , 113 ; tisina, legkost', cistota. 5 0 9 Ebd.: „cto vzapravdu est'". Vgl. „Tri svidanija", R G XII, 80. 85: Die mystische Gotteserfahrung ist kein Produkt der Gedankenbewegung des Menschen, sondern Wirklichkeit, die die „grobe Kruste der Materie" durchdringt. 501
504
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bezogen. Er erwähnt die genannten Kennzeichen nur en passant und hat sie nirgends systematisiert. Eine religionswissenschaftliche Typologie der mystischen Gotteserfahrung liegt ihm fern, da es ihm in seiner Darstellung der Merkmale der mystischen Gotteserfahrung immer nur um deren Wirklichkeit und nicht um deren Eigenart und Klassifizierung geht. Bemerkenswert ist allerdings, daß er von der wirklichen mystischen Gotteserfahrung - seiner eigenen und der anderer - immer nur als von einer freudigen Empfindung spricht 5 1 0 . Die Erfahrung des zornigen oder verborgenen Gottes hält Solov'ev für heidnisch und alttestamentlich und jedenfalls im Christentum nur für eine Vorstufe zur mystischen Erfahrung Gottes in Frieden und Freude. Denn in Christus hat sich Gott nicht im Zorn offenbart, sondern als menschenliebender Gott, ja als die Liebe selbst, und nicht als verborgener und ferner Gott, sondern als den Menschen naher und im Menschen selbst wohnender Gott. Diese für die Orthodoxie typische theologische Einsicht und religiöse Empfindung 5 1 1 sah Solov'ev durch seine eigenen mystischen Erfahrungen bestätigt. Deswegen geht er immer von der Nähe Gottes zur Welt aus 5 1 2 , nie von der im 20. Jahrhundert so schmerzlich empfundenen Weltdistanz Gottes. Die Erfahrung des Bösen hat Solov'ev sehr wohl gekannt, im Christentum gesehen und in seinen späten Schriften ausführlich beschrieben. Die mystische Gotteserfahrung ist aber im Kontrast dazu für ihn immer freudige Erfahrung der Liebe Gottes gewesen und geblieben, weil sie die Erfahrung der Vereinigung von Gott und Mensch ist, die nur in Liebe geschehen kann. O b mystische Erscheinungen Bekundungen der G e g e n w a r t G o t t e s sind o d e r d ä m o n i s c h e W i r k u n g e n , ob es sich u m echte o d e r nur u m scheinbare Gotteserfahrung handelt, das kann m a n d u r c h die genannten allgemeinen Kennzeichen mystischer E r f a h r u n g nicht entscheiden. D a z u sind andere v o n Solov'ev genannte Kriterien n ö t i g : D e r Erfahrende m u ß G o t t auf selbstverneinende Weise lieben und das G u t e , das G o t t will, tun. Die echte unmittelbare G o t t e s e r f a h r u n g beruht ebenso auf dem lebendigen Glauben des E r f a h renden an G o t t . Sie gewährt die Erkenntnis der Wesenheit G o t t e s als Liebe und G ü t e . D i e E r f a h r u n g der G e g e n w a r t G o t t e s liegt aber zeitlich vor
der
begrifflichen Erkenntnis seiner Wesenheit und dem formulierten Glaubensbekenntnis, wie die Geschichte der K i r c h e z e i g t 5 1 3 . Sie ist dadurch möglich, daß G o t t sich selbst in seinen W i r k u n g e n zu erfahren und zu erkennen gibt.
° Z.B. OD VIII, 191: radostnoe oscuscenie. Charakteristisch dafür sind z.B. die letzten Worte des Segens und der Entlassung des Kirchenvolkes durch den Priester in der Liturgie des Hl. Chrysostomus. „Der Segen des Herrn komme auf euch, durch seine göttliche Gnade und Menschenliebe (blagodatiju i celovekoljubiem), denn er (sc. Christus) ist gütig und menschenliebend (jako blag i celovekoljubec)" (Göttliche Liturgie, hrsg. v. F. von Lilienfeld, Bd. 2, S. 88 f.). 5 1 2 Vgl. V.Zen'kovskij, Ideja vseedinstva, S.50. 5 1 3 Solov'ev führt Leben und Werk der Kirchenväter Justin, Hippolyt, Clemens von Alexandrien und Orígenes an, um mit ihrem Beispiel zu zeigen, daß das Bedürfnis nach der Spekulation über Gott als allgemeiner Idee im Christentum und in der „wahren christlichen Philosophie", die Solov'ev selbst erstrebt, erst dann aufkommen soll und kann, nachdem Gott von demjenigen, der dann spekulativ über ihn nachdenkt, vorher als „einzelnes Faktum empfunden" wurde (CB III, 81 : oscuscat' kak castnyj fakt). S1
511
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Trotz seiner wirklichen und personalen Gegenwart bleibt aber Gottes Wesen unerfahrbar und unerkennbar 514 .
7. Religiöse Erfahrung, Offenbarung
und Glaube
Wir hatten schon gesehen, daß in der Theosophie Solov'evs die mystische Erfahrung des Menschen und die Inspiration oder Einwirkung des Inhalts der mystischen Erfahrung auf den Menschen sich entsprechen. Religiös interpretiert heißt die mystische Erfahrung bei Solov'ev religiöse Erfahrung und die Inspiration Offenbarung des Göttlichen. Solov'ev definiert Offenbarung (otkrovenie) als Bekundung (projavlenie) des seienden All-Einen oder Gottes 5 1 s . Er unterscheidet zwischen äußerer Offenbarung, die vielen Menschen durch die äußeren Sinne zuteil wird, und innerer Offenbarung, die die Wirklichkeit Gottes dem einzelnen Menschen in dessen Innern bekundet 516 . In drei Phasen der religiösen Entwicklung der Menschheit unterscheidet Solov'ev zwischen der natürlichen Offenbarung Gottes in Naturerscheinungen, der negativen Offenbarung Gottes in der kontemplativen Erfahrung des Nichts und der positiven Offenbarung Gottes als persönlichem Gott und Herrn im Alten Bund und im Islam 517 . Christus ist schließlich die vollkommene positive Offenbarung Gottes, die in der historischen Erfahrung der Menschheit festgehalten ist 518 . Die Rede von der Offenbarung des Göttlichen hat die gleichen Voraussetzungen wie die Religion überhaupt: den Glauben (vera) an das dem Menschen überlegene und vom Menschen unabhängige Göttliche und die Ergebenheit (pokornost') von Gefühl, Wille und Verstand des Menschen diesem Göttlichen gegenüber 519 . Nur aus dieser Glaubenshaltung heraus ist die mystische Erfahrung religiös. Die religiöse Erfahrung hängt von der Gottesvorstellung und von der Offenbarung Gottes phänomenologisch und nach Solov'ev auch ontologisch ab. Religiöse Erfahrung und Offenbarung Gottes sind Korrelate 520 . Ontologisch besteht eine Korrelation von Offenbarung und religiöser Erfahrung insofern, als jede religiöse Erfahrung auf einer Offenbarung Gottes gegründet ist 521 . Diese Korrelation wird allerdings vom einzelnen erst durch den Glauben erkannt, der religiöse Erfahrung und Offenbarung in Beziehung setzt 522 . Religionsgeschichtlich und phänomenologisch gesehen ist die religiöse Erfahrung in der Offenbarung selbst gegeben und wächst mit 5 , 4 Vgl. die Parallele bei Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus X I I I , 3, PG 3, 981 A; ders., De theol. myst. V, P G 3 , 1048 A : Das Wesen Gottes ist nach Dionysius weder das Eine noch das Viele noch das Alles, sondern es ist und bleibt unerkennbar, jenseits aller Erfahrung und aller Namen. 5 1 5 F N C Z 1, 375. 5 1 6 C B III, 12. 5 1 7 C B III, 40f. 161. sie p B I X , 14. 5 1 9 TS 1,238f. 5 2 0 S.o. S. 158. Vgl. V. Zen'kovskij, Die Philosophie der religiösen Erfahrung, S. 45. 5 2 1 PB I X , 16. 5 2 2 A.a.O. S. 14.
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jeder weiteren Offenbarung 523 . Im Grunde genommen ist für Solov'ev die Wechselbeziehung zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher religiöser Erfahrung eine Gleichung: Die Offenbarung bildet die religiöse Erfahrung und macht ihren Umfang aus; sie ist die im Glauben an Gott ergriffene religiöse Erfahrung524. Man mag sich fragen, ob dieser Offenbarungsbegriff nicht vom theologischen Standpunkt aus zu subjektiv ist 525 . Dagegen spricht erstens, daß nach Solov'ev die Offenbarung logisch, aber auch religionsgeschichtlich und vom Erleben des einzelnen her die religiöse Erfahrung erst begründet. Dabei bildet die Offenbarung Gottes in Christus den unübertreffbaren Maßstab für alle zukünftige Offenbarung und religiöse Erfahrung 526 . Zweitens entspricht die historisch faßbare, aber auch die subjektive innere religiöse Erfahrung des Menschen dem in der Heiligen Schrift offenbarten Willen Gottes. Offenbarung und religiöse Erfahrung sind in der Urkunde der Offenbarung des Alten und Neuen Bundes selbst in Wechselbeziehung gesetzt 527 . Drittens muß die Rolle beachtet werden, die Solov'ev der Kirche bei der Interpretation der subjektiven religiösen Erfahrung zuschreibt. Der religiöse Glaube, der von jeder Offenbarung vorausgesetzt wird, ist nach Solov'ev nicht subjektiven Maßstäben anheimgestellt, sondern wird von der Kirche bestimmt. - Wenn Solov'ev also die Offenbarung mit der religiösen Erfahrung identifiziert, tut er dies, weil er ein gottmenschliches Geschehen unter zwei Gesichtspunkten gleichzeitig betrachtet: metaphysisch als Offenbarung, phänomenologisch als religiöse Erfahrung. Von diesem Verständnis her ist dann die religiöse Erfahrung - als Offenbarung Gottes - nicht nur nicht erkenntnismäßig belangloses Erleben, sondern sogar Grundlage und Kriterium der religiösen Wahrheit 528 . Aber dies gilt immer nur unter der Voraussetzung des Glaubens an den Gott, der sich offenbart und zu erfahren gibt. „Herzensglaube an Gott" und innere Erfahrung der göttlichen Gnade zusammen sind nach Solov'ev das Prinzip des christlichen geistlichen Lebens 529 . Denn Erfahrung ohne Glaube bleibt zweideutig und erkenntnistheoretisch gesehen blind. Das gilt erst recht für die religiöse Erfahrung. Nicht zufällig nennt Solov'ev daher den Glauben an erster Stelle vor der religiösen Erfahrung als die Grundlage des geistlichen Lebens im Christentum. Es handelt sich in doppelter Hinsicht um 5 2 4 PIF III, 297. Vgl. L. Müller, System, S. 11. A.a.O. S. 26. 5 2 6 OD VIII, 216-226. Vgl. B. Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 33. 5 2 7 Dies ist kein Argument Solov'evs, der mit seiner Theosophie den durch die Schrift und durch die kirchliche Tradition festgelegten Glauben erst rechtfertigen will. Die Untersuchung des Denkens Solov'evs ist deswegen nicht der Ort für eine bibeltheologische Begründung der Rede von der Gotteserfahrung. Hier kann nur an einem Beispiel gezeigt werden, daß in der Bibel der offenbarende Gott selbst seinen Willen kundtut, sich in der menschlichen Erfahrung dem Menschen zu offenbaren. So spricht Gott zu Mose: „Ich will euer Gott sein, daß ihr's erfahren sollt, daß ich der Herr bin, euer Gott" (Ex 6,7; vgl. Jes 45,6; Hes 28,26; 36,23). Im Neuen Testament ist dieser Wille Gottes, sich in der menschlichen Erfahrung zu offenbaren, in die Verheißung und die Gabe des Heiligen Geistes gefaßt (vgl. Apg2,38; 10,45; Joh 16,13). 5 2 8 Ebenso B. Schnitze, Fundamentaltheologie, 65. 5 2 9 D O É I I I , 332. 523
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den unmittelbaren, individuellen Glauben und um das christliche Dogma der Kirche. Den individuellen Aspekt des Glaubens (vera) bestimmt Solov'ev als unmittelbares Gefühl, unmittelbares Wissen, unmittelbare Uberzeugung und unmittelbare Gewißheit 530 über die unbedingte Existenz (suscestvovanie) und über die innere und äußere Wirklichkeit (dejstvitel'nost') eines Erkenntnisgegenstandes 531 . Religiöser Glaube ist dann die unmittelbare Uberzeugung von der Existenz Gottes, unabhängig von Erfahrung und logischem Denken. Der religiöse Glaube ist eine Gabe Gottes 5 3 2 . Er ist für Solov'ev kein Akt des menschlichen Gefühls 533 , sondern ein Akt des Willens des Menschen, nämlich das Annehmen der göttlichen Wirklichkeit auf deren Bekundung und Offenbarung hin, das Vertrauen (doverie) auf sie und die Ergebenheit (predannost') ihr gegenüber 534 . Der religiöse Glaube als Wil530 P N C Z I, 310: neposredstvennoe custvo; F N C Z I, 305: neposredstvennoe znanie; K O N II, 328: neposredstvennoe ubezdenie; C B III, 33 und T F I X , 106: neposredstvennaja uverennost'. 5 3 2 D 0 2 III, 315. K O N II, 13; C B III, 35; PB I X , 13. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Solov'ev vom Glaubensbegriff Chomjakovs und dessen slavophiler Nachfolger in Rußland. Für Chomjakov ist religiöser Glaube der unmittelbare, erste und unreflektierte Akt der Erkenntnis Gottes, der eine unmittelbare Verbindung mit ihm im Gefühl hervorbringt (vgl. V.Zen'kovskij, Istorija, Bd. I, S. 202f.). Der an das Gefühl gebundene Glaubensbegriff Chomjakovs geht auf F.Jacobis Glaubenslehre zurück, in der der Glaube als lebendiges inneres Gefühl der Verbindung mit dem Glaubensgegenstand beschrieben wird (a.a.O., Bd. I, S. 309f.) und der religiöse Glaube als übersinnliches Gefühl (vgl. B.Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 76). Jacobi war in Rußland an den Geistlichen Akademien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einflußreich und hat auf die Slavophilen gewirkt, aber kaum auf Solov'ev. Solov'ev nennt nur den „unmittelbaren Glauben" Jacobis als einen Zeugen der neuen Philosophie neben Schopenhauers Willen und E.von Hartmanns Unbewußtem für die Möglichkeit der Anerkennung des äußeren Seins außerhalb des eigenen Ich. Seinen eigenen Glaubensbegriff entwickelt Solov'ev aber als Vermögen des menschlichen Willens und nicht des Gefühls (vgl. O D VIII, 35) und knüpft damit an Schopenhauer an, nicht an Jacobi. Er unterscheidet sich dadurch genauso auch von der gefühlsgebundenen Definition des religiösen Glaubens durch Schleiermacher. Für Schleiermacher ist religiöser Glaube „die Gewißheit über das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als solches" und Glaube allgemein ein „auf dem Gefühl beruhendes Fürwahrhalten" (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. I, § 4,4 und 14,1, hrsg. v. M.Redeker, S . 2 9 f . und S.94f.). Solov'ev dagegen beschreibt den individuellen religiösen Glauben, auch wenn er ihn ebenfalls durch den Begriff „Abhängigkeit" definiert, mehr als Willensakt: „Jedes vernünftige Wesen kommt zur Anerkennung seiner Abhängigkeit (zavisimost') von etwas Unsichtbarem und Unbekanntem." ( O D VIII, 114 - Kursiv nicht im Original; vgl. auch O D VIII, 113, Anm. 51). - Ganz allgemein steht Solov'ev einem emotionalen oder romantischen und auch dem pietistischen Glaubensbegriff ablehnend gegenüber. Das entspricht seiner präzisen Fassung des Begriffs der Erfahrung und besonders der religiösen Erfahrung, die immer mit Glauben und Denken zu einem ganzheitlichen Wissen verbunden ist, das ein Uberwiegen oder auch nur eine Priorität des Gefühls nicht zuläßt. 531 533
5 3 4 O D VIII, 128. Solov'evs Bestimmungen des Glaubens erinnern bis ins einzelne an die Unterscheidungen der lutherischen Orthodoxie, an den Glauben als fiducia (Vertrauen) bzw. fides qua creditur einerseits und an den Glauben als notitia (Kenntnis der Existenz Gottes) und assensus (Annahme der Offenbarung) bzw. fides quae creditur andererseits (vgl. H. G. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, S. 57f.).
201
lensakt der vertrauenden Hingabe ist kein einmaliges Geschehen, sondern ein lebenslanger sittlicher Prozeß der Selbstüberwindung mit dem Ziel der endgültigen Vereinigung mit Gott 535 . Der unmittelbare, individuelle religiöse Glaube ist logisch eher als der allgemeine religiöse Glaube und als alle religiösen Glaubenssätze und metaphysischen Lehren 536 . Im einzelnen Menschen ist der Glaube zwar ein individuelles Geschehen, sein wahrer Inhalt aber ist für Solov'ev durch die ökumenische Tradition der Kirche geprägt 537 . Ihr müssen Intellekt und Gefühl des einzelnen nicht vollständig geopfert werden; der einzelne muß aber seine Begrenztheit in der Frage der Gotteserkenntnis einsehen. Die kirchliche Tradition ihrerseits beruht auf historisch bezeugten Fakten der Offenbarung oder, was das gleiche ist, auf Tatsachen der historischen Erfahrung. Daher ist der allgemeine Glaube der Kirche kein blinder Glaube, sondern für Solov'ev ein vernünftiger Glaube (razumnaja vera), insofern er Fakten der Offenbarung logisch widerspruchsfrei verbindet und in Glaubensaussagen deutet 538 . Der vernünftige Glaube ist das Resultat von Vernunftschlüssen. Er macht das Christentum zur Weltanschauung und den christlichen Glauben zur „positiven christlichen Philosophie" 539 . Das aber ist Solov'evs ureigenstes Vorhaben. Der individuelle Glaube, wie ihn Solov'ev charakterisiert hat, ist die Grundlage und Voraussetzung aller durch historische Offenbarung und vernünftiges Denken geprägten allgemeinen Formulierungen des christlichen Glaubens. Für den individuellen wie für den kirchlichen Glauben gilt bei Solov'ev: Die religiöse Erfahrung ist eine Stütze (opora) des
Glaubens.
A m Beispiel des „rechtschaffen ungläubigen" Apostels Thomas macht Solov'ev deutlich, daß die direkte Erfahrung der Gegenwart Gottes intellektuell redliche Glaubenszweifel überwinden kann, allerdings nicht Zweifel, die aus einem bösen Willen gegen G o t t geboren sind 5 4 0 . Die mystische Erfahrung Gottes hat bei Solov'ev w o h l auch insofern die Funktion einer Stütze des Glaubens, als sie hilft, das U n v e r standene am Glauben zu erhellen, durch das konkret Geschaute zu beleuchten und so ohne Hilfe der Vernunft „aufzuklären" 5 4 1 . Solov'evs eigene mystische Erfahrung hatte jedenfalls f ü r seinen persönlichen Glauben eine solche stützende Funktion. Die Stütze der Erfahrung ist aber relativ, keinesfalls unerschütterlich, weder f ü r den Glauben noch f ü r das philosophische D e n k e n 5 4 2 . Denn die Erfahrung bleibt ja stets subjektiver Bewußtseinszustand. Die wirkliche Existenz des Erfahrenen außerhalb des erfahrenden Bewußtseins kann die Erfahrung selbst nicht sichern oder beweisen. Die Erfahrung ist daher keine Grundlage des Glaubens 5 4 3 . Jedenfalls kann sie keine logische und erkenntnistheoretische Grundlage des Glaubens sein. Logisch und erkenntnistheoretisch betrachtet ist der Glaube eher als die Erfahrung und begründet sie 5 4 4 . Erfahrung kann nur eine zeitliche und psychologische Grundlage des Glaubens sein. So liegt die Erfahrung des Auferstandenen und des Heiligen Geistes von
535 538 541 542
202
5 3 6 OD VIII, 115. DOÌ. III, 315. 325. "7 v S C h P I V , 5 3 . 5 3 9 PB IX, 27. 540 1 2 . V P X , 3 9 f . TR X, 190. Vgl. P. Miljukov, Ocerki po istorii russkoj kul'tury, Bd. 2/1, S. 195 f. 5 4 3 1 2. VP X, 40. 5 4 4 KON II, 292; ΌΟΪ III, 325; TFIX, 95. TFIX, 95 .
den Aposteln bis zu den Vätern der Alten Kirche zeitlich vor deren Glaubensaussagen, Predigten und theologischen Werken 5 4 5 . Inhaltlich aber werden weder ihre Glaubensaussagen noch die D o g m e n der Kirche, noch unsere eigenen persönlichen Glaubensinhalte von der Gegebenheit ihrer oder unserer religiösen Erfahrung abgedeckt 5 4 6 . D a z u k o m m t , daß die religiöse Erfahrung trotz eines formal rechtgläubigen Umfelds religiös zweideutig ist und auch lügenhaft und dämonisch sein kann. Der Glaube ist also inhaltlich reicher als die religiöse Erfahrung und notwendig, um sie zu interpretieren. Deswegen ist die Erfahrung keine erkenntnistheoretische Grundlage des Glaubens, sondern umgekehrt der Glaube die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Erfahrung. Wenn wir nach dem Verhältnis der religiösen Erfahrung zum D o g m a der Kirche fragen, k o m m e n wir zu dem gleichen Ergebnis. Das D o g m a ist der von der Erfahrung unabhängige Glaube, der die von der gesamten Kirche erkannte und definierte Wahrheit (istina) ausdrückt 5 4 7 . Es ist insofern auch die Voraussetzung und Rahmenbedingung der kirchlichen religiösen Erfahrung. Andererseits ergeben sich doch auch Einflüsse der religiösen Erfahrung auf die Dogmenbildung. Die religiöse Erfahrung und das religiöse D e n k e n entwickeln sich ständig weiter 5 4 8 und damit auch das kirchliche Dogma, das ergänzungsfähig ist 5 4 9 . Die religiöse Erfahrung hat insoweit ein Interesse am D o g m a , als es die Fülle der religiösen Erfahrungen der Frömmigkeit enthalten soll; denn kirchliche D o g m e n sind nicht einfach theoretische Wahrheiten, sondern spiegeln die religiöse Erfahrung der Christen wider 5 5 0 . Der positive christliche Glaube verbindet daher die Behauptung der Wahrheit mit den Gegebenheiten der religiösen Erfahrung 5 5 1 . Er verarbeitet das lebendige Geschehen der religiösen Erfahrung. Zu den Gegebenheiten der religiösen Erfahrung gehören indessen nicht nur übernatürliche mystische Visionen, wie die Schau des unerschaffenen göttlichen Lichts durch die hesychastischen Mönche auf dem Athos - eine religiöse Erfahrung, die zu der kirchlichen Lehre von den göttlichen Energien führte 5 5 2 . Z u r religiösen Erfahrung gehört auch die Erfahrung der Liebe Gottes, die sich in der brüderlichen Liebe zu allen Christen fortsetzt und die f ü r Solov'ev wichtiger ist als die Vollständigkeit der Glaubenslehre. Die Liebe unter den Gläubigen kann die Formulierung allgemeiner Glaubenssätze prägen, verändern oder auch ganz verhindern, wenn sie nicht die Z u s t i m m u n g aller in der Kirche finden 5 5 3 .
545
546 547 S. A n m . 543 u n d C B III, 81 f. PB IX, 15. I B T I V , 328. 549 550 551 A . a . O . S. 2 85 . A . a . O . S. 333. O D VIII, 477f. T F I X , 90. 552 Die Lehre des Gregorios Palamas v o m Unterschied zwischen dem Wesen u n d den ungeschaffenen Energien Gottes, die den Meditationserfahrungen der athonitischen M ö n c h e Rechnung trug, w u r d e durch mehrere Synoden zwischen 1341 und 1351 z u r offiziellen Lehre der o r t h o d o x e n Kirche erklärt. Sie blieb d u r c h die A u f n a h m e in das „Syndikon der O r t h o d o xie", das jährlich am ersten Sonntag der Fastenzeit in den o r t h o d o x e n Kirchen vorgetragen wird, anerkannte Lehre der O r t h o d o x i e (vgl./. Meyendorff, A Study of G r e g o r y Palamas, S. 8 6 - 1 0 1 ; ders., Palamas and O r t h o d o x Spirituality, S. 96-103). 553 Solov'ev nennt als Beispiel d a f ü r die H a l t u n g Basilius des G r o ß e n u n d Gregors von N a z i a n z gegenüber den P n e u m a t o m a c h e n : Basilius u n d G r e g o r verzichteten auf deren ausdrückliches Bekenntnis zur Gottheit des Heiligen Geistes, wenn sie n u r den nizänischen Glauben bekannten. Das ökumenisch anerkannte D o g m a reichte ihnen z u r Kirchengemeinschaft aus, auch w e n n sie persönlich die stärksten Verfechter der Gottheit des Geistes waren (vgl. IBT IV, 3 0 0 - 3 0 2 ) . 548
203
Religiöse Erfahrung und religiöser Glaube stehen bei Solov'ev in unlöslicher Verbindung miteinander 554 , nämlich in einem Verhältnis gegenseitiger Begründung. Der Glaube als Uberzeugung von der Existenz Gottes begründet die Erfahrung Gottes erkenntnistheoretisch. Insofern ist er selbständig und die erste Grundlage der Erkenntnis. Die Erfahrung Gottes geht dem Glauben wiederum zeitlich und psychologisch voraus. Sie füllt ihn mit konkretem Inhalt. Auch sie ist ein selbständiges Mittel der Erkenntnis, das aber nur auf der Grundlage des Glaubens zu Ergebnissen kommt, die über die Grenzen des subjektiven Bewußtseins hinausreichen.
8. Entwicklung und Vollendung der religiösen in der kirchlichen Erfahrung
Erfahrung
Persönliche, unmittelbare religiöse Erfahrung ist nach Solov'ev die eigentliche religiöse Erfahrung, da nur in ihr das Erfahrene und der interpretierende religiöse Glaube eine unmittelbare Einheit bilden. Die Vermittlung der religiösen Erfahrung und der Offenbarung durch die Kirche tritt dagegen scheinbar in den Hintergrund 555 . In der mittleren und der späten Phase seines Schaffens wird aber die kirchliche Einbindung der religiösen Erfahrung für Solov'ev immer bedeutungsvoller. Die Zweideutigkeit und Fragwürdigkeit der individuellen religiösen Erfahrung ohne kirchliche Bindung der Glaubensüberzeugungen des Erfahrenden drückt Solov'ev seit 1882 klar aus 556 . In den „Drei Gesprächen" (1899-1900) sind schließlich der kirchliche Glaube und die kirchliche Gemeinschaft in der Liebe die einzigen sicheren Kriterien der wirklichen Gotteserfahrung. Die wachsende Bedeutung der Kirche für die religiöse Erfahrung bei Solov'ev ist die Frucht seiner eigenen Lebenserfahrung und seiner kirchengeschichtlichen Studien. Kirchliche Erfahrung ist auch als Erfahrung des Individuums zunächst nie unmittelbare, sondern mittelbare Erfahrung. Sie kann der unmittelbaren und elementaren individuellen religiösen Erfahrung erst folgen und ist daher sekundär. Für das Individuum ist sie zunächst fremde Erfahrung. Der einzelne kann sie sich aber persönlich aneignen, so daß sie dann doch zu einer PB IX, 14. Dies ist nur scheinbar so, nämlich wenn man sich bei der Untersuchung der Frage der kirchlichen Vermittlung religiöser Erfahrung auf die philosophischen Frühschriften einschließlich der „Kritik der abstrakten Prinzipien" und auf die Spätschrift „Theoretische Philosophie" beschränkt. Die kirchliche Vermittlung der Offenbarung und Erfahrung Gottes wird aber bei Solov'ev immer deutlicher ausgedrückt, von den „Vorlesungen über das Gottmenschentum" (z.B. CB III, 180f.) bis zu den „Drei Gesprächen" (TR X , 200-218). Wenn man seine mehr theologischen Schriften und nicht nur seine rein philosophischen Schriften berücksichtigt, kann man nicht davon sprechen, daß bei Solov'ev insgesamt die kirchliche Vermittlung der Offenbarung Gottes und der religiösen Erfahrung auch des einzelnen in den Hintergrund tritt (gegen B. Schultze, Fundamentaltheologie, S. 36). 5 5 6 Vgl. R R N O III, 279 f. 554
555
204
unmittelbaren kirchlichen Erfahrung wird, die im weiteren Verlauf der Aneignung sogar einflußreicher wird als die ursprüngliche unkirchliche individuelle religiöse Erfahrung 557 . Was bei Solov'ev für die Erfahrung im allgemeinen gilt, nämlich daß „mit dem Fortschreiten des persönlichen und kollektiven Lebens... die indirekte Erfahrung unzweifelhaft überwiegt" 558 , das gilt auch für die kirchliche Erfahrung: „Das individuelle religiöse Gefühl (cuvstvo) erhält seine objektive Entwicklung und Verwirklichung in der ökumenischen Kirche, die auf diese Weise die organisierte Frömmigkeit (blagocestie) ist." 5 5 9 Die Kirche organisiert, ordnet, interpretiert, entwikkelt, erweitert und vollendet die religiöse Erfahrung des einzelnen Christen. Das ist sowohl im Wesen der religiösen Erfahrung als auch im Wesen der Kirche begründet: in Person und Werk Christi. Religiöse Erfahrung ist metaphysisch oder vom religiösen Glauben aus betrachtet bei Solov'ev nichts anderes als die Offenbarung Gottes. Die Offenbarung der Gottheit ist aber in entwickelten Religionen nicht allein Sache der Erfahrung einzelner Menschen oder Menschengruppen, sondern Sache der ganzen Menschheit 560 . Diese Offenbarung kann und soll die indirekte religiöse Erfahrung aller Menschen sein 561 . Wenn der einzelne Christ bei seiner individuellen Erfahrung stehenbleibt, erfährt er nicht die Fülle der Offenbarung Gottes, sondern nur deren Vorstufen. Denn er kann nicht isoliert für sich die allgemeine religiöse Entwicklung in seiner individuellen Erfahrung nachvollziehen. Die religiöse Entwicklung vollzieht sich in Offenbarungen, die nicht für den einzelnen beliebig wiederholbar sind. Sie vollzieht sich in der Menschheitsgeschichte in kontingenten historischen Theophanien. Die höchste Stufe der Theophanien aber ist in Christus bereits erreicht. Er ist das Zentrum und der Höhepunkt der Offenbarungsgeschichte 5 6 2 . So muß der einzelne Mensch, wenn er sich die Fülle und Vollkommenheit der religiösen Erfahrung aneignen will, sich der historischen Offenbarung Gottes in Christus stellen. Das kann er aber nur dann vollständig tun, wenn er sich diese historische Erfahrung in ihrer ganzen Fülle durch die ökumenische Kirche vermitteln läßt. So führt der wesentliche Inhalt der religiösen Erfahrung, Christus selbst, zur kirchlichen Erfahrung. Christus als Gegenstand der religiösen Erfahrung bestimmt auch das Wesen der Kirche. Die Gotteserfahrung gehört zum Wesen der Kirche und des Christentums. Denn das Christentum ist „nicht einfach eine Lehre wie andere religiöse Lehren, sondern das wirkliche Faktum der Geburt des neuen, geistlichen Menschen" im historischen Jesus Christus und im einzelnen Christen 563 . Gott ist in Christus Gegenstand historischer Erfahrung geworden und in der Kirche Christi Gegenstand der tiefsten und vollkom557
Vgl. V! Zen'kovskij,
558
Art. „ O p y t " , B - Ε , R G X , 251 ( = D G VI, 398).
Die Philosophie der religiösen Erfahrung, S. 50.
559
O D VIII, 471.
562
¿ B III, 40f. 163; O D VIII, 2 1 6 - 2 2 6 .
560
P I F III, 2 9 7.
561
563
P B I X , 14. D O
¿ III, 418f.
205
mensten religiösen Erfahrung geblieben 5 6 4 . Deswegen gibt es kein Christentum und keine Kirche ohne Gotteserfahrung. Oder: ohne Gotteserfahrung ist die Kirche geistlich tot. Bloße Lehre und bloße Tradition lassen das Wesentliche am Christentum vermissen. Die Kirche ist in ihrem Wesen wenn auch nicht immer überall in ihrer historischen Wirklichkeit - die Gemeinschaft der Gott Erfahrenden, Glaubenden und Liebenden und auch die Gemeinschaft derer, die sich untereinander lieben 5 6 5 . In ihr sind damit die Bedingungen gegeben, die Solov'ev für wahre religiöse Erfahrung genannt hat. Die Kirche glaubt an die vollkommene Offenbarung Gottes in Christus, und sie erfährt sie in der Liebe immer wieder neu. Sie ist ihrem Wesen nach das lebendige, wirkliche und mystische Band zwischen den Menschen und Christus 5 6 6 . So ist sie die Hüterin und Vermittlerin der vollendeten Offenbarung und Erfahrung Gottes 5 6 7 . Die Mittel, die ihr für diese Aufgabe zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Die grundlegenden Mittel sind die Heilige Schrift als die Urkunde der positiven Offenbarung und Erfahrung Gottes 5 6 8 , die Dogmen über das Gottmenschentum Christi als die Grundwahrheit über diese Offenbarung und die Sakramente als die ständige Möglichkeit der Teilnahme an dieser Erfahrung. Ermöglicht sind diese Mittel durch die apostolische Sukzession der kirchlichen Hierarchie 5 6 9 . Dazu kommt die ökumenische Tradition der Kirche (predanie vselenskoe ili kafoliceskoe), die die Zusammenstellung der wahrhaft allgemeingültigen theologischen Lehre und der allgemeingültigen religiösen Erfahrung der gesamten Kirche ist. Auch sie ist göttlichen Ursprungs und hat ewige Bedeutung 5 7 0 . Keine unzweifelhafte Vermittlung wahrhafter religiöser Erfahrung leistet dagegen die lokale und partikulare Tradition einzelner Kirchen, wie sie sich in deren Glaubenssymbolen und in deren liturgischem und außergottesdienstlichem religiösen Brauchtum äußert. Solche Tradition ist weder göttlich, noch bewirkt sie unbedingt die Vermittlung oder Erweiterung wahrer Gotteserfahrung. Im Gegenteil, sie kann sogar davon wegführen 5 7 1 . Fraglos übernommene kirchliche Tradition und fraglos übernommene Werte kirchlicher Erfahrung führen also nicht immer zur wahren Gotteserfahrung. O f t führen sie nur zu bestimmten weltlichen religiösen Verhaltensweisen. Die eigene religiöse Erfahrung und das eigene religiöse Denken sind also auch in der Kirche für den einzelnen Christen notwendig. Andererseits bewahrt die ökumenische Kirche mit den genannten Mitteln den einzelnen vor unechter Gotteserfahrung. Damit sind nicht nur falsche Gottesvorstellungen gemeint, die sich mit der religiösen Erfahrung in nichtchristlichen Religionen verbinden können, auch nicht nur direkte dämonische Wirkungen im Gewände scheinbarer Kirchlichkeit innerhalb der Kirche 5 7 2 , sondern auch diejenige 5 6 5 D V R III, 228. 5 6 6 V S C h P IV, 105 ff. P B IX, 14.16. 5 6 8 I B T I V , 384; T R X , 192. V R VII, 311; O D VIII, 205. 5 6 9 V S C h P I V , 105f. 570 RRNOIII,251. 571 TRX,211. 5 7 2 Beispiele für falsche Gottesvorstellungen durch religiöse Erfahrung in nichtchristlichen Religionen gibt Solov'ev in seiner Frühschrift „Der mythologische Prozeß im alten Heidentum" 564
567
206
religiöse Erfahrung, die sich ausschließlich auf das eigene innere Gefühl und den persönlichen Glauben konzentriert. Bei solcher Konzentration auf die eigene religiöse Empfindung wird Gott zum Symbol des eigenen Gefühls reduziert. Die religiösen, selbst die übernatürlichen Erscheinungen werden dann von ihrem metaphysischen Wesen, ihrem göttlichen Ursprung isoliert und verlieren so ihren göttlichen Charakter. Dieses religiöse Verhalten ist typisch für viele Sektierer, die die Autorität der Kirche als Hüterin und Interpretin der wahren Gotteserfahrung nicht anerkennen. Solov'ev macht die Alternative deutlich. Wer außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft seine religiösen Erfahrungen sucht, wird sich in den Phantasien seiner persönlichen Einbildung verlieren, selbst wenn er die Offenbarung Christi persönlich zu haben meint. Wer die Gotteserfahrung dagegen nicht in der persönlichen Sphäre sucht, sondern in der Kirche, wird nicht nur echte Gotteserfahrung haben, sondern auch mit der Kirche in der Erfahrung und Erkenntnis der Fülle Christi wachsen 573 . Denn in der Kirche wächst und entwickelt sich ständig die religiöse Erfahrung und das religiöse Denken 5 7 4 . In diesem Punkt bleibt Solov'ev Optimist, auch wenn er in der Spätphase seines Denkens ein pessimistisches und apokalyptisches Geschichts- und Kirchenverständnis entwickelt. In der „Kurzen Erzählung vom Antichrist" schildert Solov'ev zwar den zahlenmäßig verheerenden Abfall vieler Christen, besonders auch des Klerus, von der Wahrheit Christi und damit von der ökumenischen, wahren Kirche. Diese ökumenische Kirche überwindet aber dennoch - oder gerade deshalb? - ihre faktische Spaltung in verschiedene Kirchen, wird von einer mystischen zu einer realen Größe, vertieft und erneuert ihr Verständnis der Heiligen Schrift, bewahrt ihr Dogma, wächst in der Erkenntnis und in der Erfahrung der Gefahr des Bösen, wächst und vervollkommnet sich in der Erfahrung der brüderlichen Liebe und der Liebe Gottes 575 . Solov'ev behält auch in dieser Schlußphase seines Denkens, in der er die Vorstellung von einem allgemeinen und harmonischen Fortschritt der Menschheit und des Christentums als Weltreligion aufgibt, die Gewißheit, daß Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis des einzelnen Menschen in der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis der ökumenischen Kirche weiterwachsen können und werden. Enscheidend ist allerdings - und das wird wohl erst in der Erzählung Solov'evs von der faktischen Vereinigung der kleinen Reste der orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirchen kurz vor dem Ende der Weltgeschichte ganz deutlich 5 7 6 -, daß es sich bei der Kirche, die die Gotteserfahrung des einzelnen Christen ordnet, interpretiert und immer weiter entwickelt, um die im überkonfessionellen Sinn katholische Kirche, daß heißt die ökumenische Kirche handelt. N u r in ihr ist die
(MPDJa I, 5-24), Beispiele für dämonische, aber scheinbar kirchliche Erfahrungen gibt Solov'ev besonders in der „Erzählung vom Antichrist" (TR X, 201-221). 573 574 575 D 0 2 l I I , 3 0 3 ; I B T I V , 327. IBTIV, 285 . TR X, 206-218. 576 A.a.O. S. 213-218.
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Fülle der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis entwickelt, und nur in der Gemeinschaft mit ihr kann sie der einzelne Christ sich selbst aneignen. Solange aber die ökumenische Kirche keine reale, sondern eine mystische Wirklichkeit und eine Vision für die Zukunft ist, solange hat der einzelne Christ nach Solov'ev um so mehr die Aufgabe, die kirchliche religiöse Erfahrung und Lehre der anderen, irdisch gesehen getrennten Kirchen zu beachten und sich anzueignen. Nur so wird die eigene Teilerfahrung zur vollständigen Erfahrung 577 . Solov'ev ist in seinem Denken selbst eine gutes Beispiel dafür, wie der einzelne Christ die religiöse Erfahrung und das religiöse Denken nicht nur der eigenen Kirche anerkennt und für sich selbst übernimmt, sondern auch die religiöse Erfahrung und das religiöse Denken der anderen Kirchen.
9. Zusammenfassung: Religiöse Erfahrung - Grund und Ziel der
Erkenntnis
Der Platz der religiösen Erfahrung in der allgemeinen Erkenntnistheorie Solov'evs kann nicht überschätzt werden. Denn die religiöse Erfahrung bildet nach Solov'ev die Grundlage aller menschlichen Erkenntnis. Wir zeigten, daß bei Solov'ev die mystische Erfahrung zur Erkenntnis des wirklich Seienden führt, und zwar sowohl zur metaphysischen Erkenntnis des Urprinzips aller Wirklichkeit, des seienden All-Einen, als auch zur gegenständlichen Erkenntnis objektiver Tatsachen der äußeren und inneren Erfahrung. Ohne mystische Erfahrung gibt es keine sichere Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern alles bleibt subjektiver Schein des Erkennenden. Der absolute Inhalt der mystischen Erfahrung, das seiende All-Eine, stellt sich aber als religiöses Prinzip heraus: Es verlangt den religiösen Glauben des Menschen an das all-eine Wesen und die innere Vereinigung des Menschen mit dieser alleinen Wirklichkeit 578 . Mystische und religiöse Erfahrung sind in diesem letzten Ursprung aller Erkenntnis identisch. Die mystische Erfahrung erweist sich vor ihrem höchsten Gegenstand als religiöse Erfahrung. So ist die religiöse Erfahrung die letzte Grundlage aller Erkenntnis. Religiöse Erfahrung ist im Gegensatz zur mystischen Erfahrung an die Vorstellung und an die Rede von einer Gottheit gebunden. Deswegen beschränkt sich der praktische Gebrauch des Begriffs „religiöse Erfahrung" bei Solov'ev auf den Bereich, den man im allgemeinen Religion nennt, nämlich auf den Bereich der lebendigen Beziehung des Menschen zu einem übernaVSChPIV, 109-112. Die „innere Vereinigung mit dem wahrhaft Seienden" ist das, was nach Solov'ev das Wesen der „wahren Religion" ausmacht ( F N C Z I , 3 1 1 ; vgl. M P D J a l , 10. 21). Solov'ev definiert „Religion" vom lateinischen Wortsinn her (religare) als bindende Kraft oder Band, das den Menschen und die Welt mit dem absoluten und all-einen Prinzip, das heißt mit Gott verbindet ( F N C Z 1 , 4 0 4 ; M P D J a 1,21 ; ÒB III, 3). 577
578
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türlichen Wesen, einer Gottheit im weitesten Sinn, die er verehrt oder anbetet 579 . Unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt definiert Solov'ev Religion aber in eigener Weise, nämlich als die praktische Erfahrung und Erkenntnis des wirklich Seienden und als Vereinigung mit dem, was wirklich als das All-Eine existiert 580 . In diesem Sinn ist religiöse Erfahrung im erkenntnistheoretischen Gebrauch des Begriffs als Erfahrung der Wirklichkeit die Grundlage aller Erkenntnis, auch der nichtreligiösen, wissenschaftlichen und alltäglichen Erkenntnis; sie ist die Grundlage der Ubereinstimmung der Erfahrung des Subjekts mit der Wirklichkeit des Objekts, die Grundlage des ontologischen und metaphysischen Realismus Solov'evs. Die religiöse Erfahrung einzelner und der Menschheit bedarf einer Gottesvorstellung, um gedeutet und verstanden zu werden. Sie kann nicht außerhalb eines „religiösen Realismus" 581 , also einer konkreten Religion, die den Phänomenen der religiösen Erfahrung als eigentliche Wirklichkeit religiöse Namen und Deutungen zuordnet, verstanden werden. Ohne den religiösen Glauben an einen Gott als den Urheber der religiösen Phänomene wird die religiöse Erfahrung zweideutig. Ohne Gottesglauben kann die religiöse Erfahrung pervertieren in spiritistische, magische und sonstige übernatürliche Erfahrungen, die den Menschen nicht mit Gott verbinden. Die religiöse Erfahrung bedarf auch der sie begleitenden Liebe zu Gott als ihrem Hauptinhalt, um wahre religiöse Erfahrung zu sein. Liebe zu Gott, dem all-einen Seienden, bedeutet aber auch Liebe zu den Mitmenschen und zu der gesamten Schöpfung Gottes. So bedarf die wahre religiöse Erfahrung einer liebenden und glaubenden religiösen Gemeinschaft. Religiöse Erfahrung ist für Solov'ev die menschliche Seite dessen, was metaphysisch und religiös gesprochen die Bekundung oder Offenbarung Gottes ist. Gott offenbart sich nicht in seinem unerfahrbaren und unerkennbaren Wesen, sondern in seinen Wirkungen auf Mensch und Welt. In der religiösen Erfahrung erfährt und erkennt der Mensch Gottes Wirken und Eigenschaften. Religiöse Erfahrung als Offenbarung Gottes ist die Grundlage aller religiösen Erkenntnis und Lehre, die Grundlage und das Kriterium der religiösen und metaphysischen Wahrheit. Ihren absoluten und unübertreffbaren Höhepunkt erreicht die religiöse Erfahrung, die immer auf die Einheit von Gott und Menschen aus ist, im Gottmenschen Christus als der individuellen Vorwegnahme der völligen Einheit von Gottheit und Menschheit. Dieser Höhepunkt religiöser Erfahrung wird für die ganze Menschheit in der einen ökumenischen Kirche Christi organisiert und entwickelt bis zu ihrer Vollendung am Ende der Welt in der unmittelbaren Einheit von Gott und Menschheit, Schöpfer und Geschöpf. Die eine Kirche ist auch die glaubende und liebende religiöse Gemeinschaft, ohne die wahre religiöse 579 580 581
PB IX, 18. Vgl. L.Müller, Die eschatologische Geschichtsanschauung, S. 1 7 - 2 4 . K Z F 1 , 1 6 3 ; CB III, 12. Diese Formulierung gebraucht V Zen'kovskij (Die Philosophie der religiösen Erfahrung,
S. 50).
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Erfahrung nicht möglich ist. So ist vollendete religiöse Erfahrung kirchliche Erfahrung. Wir betonen: Dies ist das logische Ziel des philosophischen und theologischen Denkens Solov'evs und nicht das abrupte Ende seines vom Tod unterbrochenen Schaffens 582 . Die Erfahrung Gottes in der Einheit der ökumenischen Kirche kann man als Solov'evs religiöses Vermächtnis bezeichnen. Die religiöse Erfahrung erweist sich als der Anfangs- und Zielpunkt der Erkenntnislehre Solov'evs. Als mystische Erfahrung ist sie die Grundlage aller Erkenntnis. Sie führt im Glauben und in der Liebe zur Einheit des Erfahrenden mit dem absoluten Gegenstand der Erfahrung. Sie führt zur Erkenntnis der Wirklichkeit des in der äußeren, inneren und mystischen Erfahrung Gegebenen. Als kirchliche Erfahrung führt sie zum Höhepunkt der Gotteserfahrung in Christus und zur Vollendung der Gotteserfahrung in der unmittelbaren Einheit mit Gott am Ende der geschaffenen Welt. So stellt die religiöse Erfahrung das Bindeglied zwischen den philosophisch-theoretischen, den theosophisch-spekulativen und den theologisch-praktischen Schriften Solov'evs dar. Die religiöse Erfahrung begründet die Einheit des Denkens Solov'evs nach seiner erkenntnistheoretischen Wende zwischen 1876 und 1877 bis zu seinem Tod.
F. Synonyme zum Begriff „Erfahrung" Wir haben zu zeigen versucht, daß „Erfahrung" der Grundbegriff der Erkenntnislehre Solov'ev ist und sein vielfältiges philosophisches und theologisches D e n k e n eint. Erfahrung ist die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit, die ihn umgibt und die er selbst ist, unmittelbar zu erfassen, mit dieser Wirklichkeit in einer unmittelbaren Beziehung zu stehen, die den Willen und das D e n k e n des Menschen noch nicht umfaßt. D a Solov'ev eine konsequente Terminologie in seinen Schriften durchhält, konnten wir die erkenntnistheoretische Bedeutung dessen, was mit dem Begriff „Erfahrung" (opyt) bei Solov'ev gemeint ist, vollständig durch die systematische Untersuchung der Verwendung eben dieses Begriffs bei ihm erheben. D e n n o c h variiert er sprachlich, w e n n er v o m menschlichen Erfahren spricht. Er benutzt an nicht wenigen Stellen in seinen Schriften s y n o n y m e Ausdrücke, die unmittelbarer die Art und Weise des Erfahrens wiedergeben und in der Alltagssprache benutzt werden, o b w o h l sie ebenso wie der Begriff „Erfahrung" auch ihre philosophische Prägung und Vorgeschichte haben und auch in der wissenschaftlichen Sprache verwendet werden. Es handelt sich um die Begriffe „Erleben" (ispytyvat', perezivat'), „Wahrnehmung" (vosprijatie), „Empfindung" (oscuscenie) und „Gefühl" (cuvstvo). Solov'ev kann mit
582 Die Notwendigkeit der kirchlichen Verankerung der religiösen Erfahrung macht Solov'ev seit den 80er Jahren deutlich (s. o. Anm. 555). Die Vollendung der religiösen Erfahrung in der ökumenischen Kirche wird aber erst allmählich in den Spätschriften immer deutlicher als Ziel genannt. Diese Einsicht erreicht ihren folgerichtigen endgültigen Ausdruck in den „Drei Gesprächen". Die „Drei Gespräche" sind in dieser Hinsicht kein vom Tod Solov'evs zufällig gesetztes Ende seiner gedanklichen Entwicklung, sondern deren notwendiges Ziel.
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diesen Synonymen sprachlich konkretisieren und verdeutlichen, was er mit „Erfahrung" meint, und die Bedeutungsnuancen der einzelnen synonymen Begriffe für seine Erklärung der Erfahrung nutzbar machen. Die Synonyme sind Teil der konstanten Terminologie seiner Erkenntnislehre. Wir untersuchen sie daher, um die Ergebnisse der Analyse des Begriffs „Erfahrung" zu vertiefen. Dabei lassen wir andere als die erkenntnistheoretischen Bedeutungen der Synonyme unbeachtet. Die vier Synonyme haben erkenntnistheoretisch je ihre eigenen Bedeutungsnuancen, sind aber weitgehend nicht nur mit dem Begriff „Erfahrung", sondern auch untereinander austauschbar. Entsprechend austauschbar verwendet sie meist auch Solov'ev. Allen vier Synonymen gemeinsam ist die Unterscheidung zwischen unmittelbarem oder direktem und mittelbarem oder indirektem Erfahren. So finden wir bei Solov'ev analog zum Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung den Unterschied zwischen unmittelbarem Erleben und der Sammlung des Erlebten 583 , zwischen der unmittelbaren Wahrnehmung des einzelnen und der allgemeinen Wahrnehmung aller Menschen 584 , zwischen der eigenen Empfindung und den Fakten der Empfindung im allgemeinen 5 8 5 und zwischen dem unmittelbaren Herzensgefühl eines Menschen und der Organisation und Vermittlung von Gefühlen in der Gemeinschaft von Menschen 5 8 6 . Bei allen vier Begriffen liegt aber der Schwerpunkt auf dem unmittelbaren und subjektiven Erfahren. Das geht so weit, daß besonders Erleben und Gefühl für die Naturwissenschaft als subjektiver Anschein kein Untersuchungsgegenstand sind 587 . Solov'ev zeigt dagegen die erkenntnistheoretische Funktion und Allgemeingültigkeit des Erlebens, der Wahrnehmung, der Empfindung und des Gefühls gerade des einzelnen in allen Bereichen des Erfahrens. Die Zielbereiche des Erfahrens, nämlich der äußere, innere, mystische und religiöse Bereich, beziehen sich auch auf Erleben, Wahrnehmung, Empfindung und Gefühl. Außeres und inneres Erleben, Wahrnehmen, Empfinden und Fühlen sind im mystischen und religiösen Bereich analog zur mystischen und religiösen Erfahrung immer mit eingeschlossen 588 .
1. Erleben Der Begriff „Erleben" (ispytyvat' oder perezivat') 589 kommt von den vier Synonymen zum Erfahrungsbegriff in Solov'evs Schriften am seltensten vor. Solov'ev verwendet ihn wohl deshalb nicht gerne, weil in der Philosophie des 19. Jahrhunderts im allgemeinen das Erleben als etwas galt, was keiner intersubjektiven Vermittlung in genauen Definitionen fähig ist. Diese rein subjektive Bedeutung hat „Erleben" bei Solov'ev aber keineswegs. Erleben bezeichnet bei ihm vom äußeren bis zum mystischen Erleben alle Bewußtseinszustände des Menschen, die sich auf irgendwelche Gegenstände des Bewußtseins beziehen. Sie haben allgemeine Kennzeichen und sind intersubjektiv vergleichbar. Damit verwendet er den Begriff „Erleben" formal wie nach ihm Husserl in seiner Phänomenologie. Inhaltlich bedeutet bei Solov'ev „Erleben" aufgrund seiner mystischen Dimension die Beziehung eines wirklichen Subjekts 5 8 4 C B III, 12; PB I X , 26. Art. „Opyt", B - Ε , R G X, 251 ( = D G VI, 397f.). 5 8 6 ΌΟΪ (SB III, 33; K O N II, 266. III, 318; O D VIII, 471. 5 8 8 Z . B . D O Z III, 336. 587 M P N 1, 200. 5 8 9 Die russischen Verben „ispytyvat'" und „perezivat"' verwendet Solov'ev bedeutungsgleich und oft zusammen. Vgl. K O N II, 268. 583
585
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zu einem wirklichen O b j e k t . So sind - wie äußere und innere Erfahrung - äußeres Erleben und inneres Erleben bei Solov'ev zunächst nichts weiter als B e w u ß t s e i n s z u stände des E r l e b e n d e n 5 9 0 . I m mystischen Erleben hat der M e n s c h aber eine unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner selbst und erkennt sie im Glauben als W i r k l i c h k e i t 5 9 1 . I m religiösen Erleben erweist sich die mystische Wirklichkeit als G o t t e s W i r k u n g und Kraft, als sein Inhalt oder als die göttliche W a h r h e i t 5 9 2 , und die Wirklichkeit der äußeren Welt und des erkennenden Subjekts erweist sich als G o t t e s Schöpfung. D i e innere Vereinigung des M e n s c h e n mit G o t t im unmittelbaren G o t t e s e r l e b e n 5 9 3 sichert dann auch erkenntnistheoretisch die Wirklichkeit des äußerlich und innerlich Erlebten. So entspricht „ E r l e b e n " bei Solov'ev in seiner vierfachen A n w e n d u n g insgesamt genau der Erfahrung. D i e russischen W ö r t e r „ispytyvat"' und „perezivat'" werden als identisch mit dem Begriff „ E r f a h r u n g " (opyt) eingeführt und v e r w e n d e t 5 9 4 . „ E r l e b e n " ist also bei Solov'ev weder subjektiver noch unmittelbarer oder einmaliger oder in seiner E r k e n n t n i s f u n k t i o n eingeschränkter als „ E r f a h r u n g " .
2.
Wahrnehmung
Wahrnehmung (vosprijatie) ist als philosophischer Begriff durch K a n t geprägt. D a r a u f weist auch Solov'ev h i n s 9 5 . K a n t versteht unter Wahrnehmung n u r die unmittelbare sinnliche Empfindung. Erfahrung ist für K a n t ebenfalls auf R a u m und Zeit beschränkt, stellt aber bereits eine Verbindung von Wahrnehmung, Verstand und Vernunft dar und k o m m t zu allgemeinen Urteilen. Solov'ev kann bisweilen die gesammelte E r f a h r u n g in A n l e h n u n g an den Kantschen Wortgebrauch ein P r o d u k t aus Wahrnehmung und Erinnerung n e n n e n 5 9 6 . Ü b e r w i e g e n d aber ist bei Solov'ev Wahrnehmung gleichbedeutend mit Erfahrung, erstreckt sich v o m sinnlichen bis z u m mystischen Bereich und hat als indirekte Wahrnehmung selbst eine Verstandeskomponente. Wahrnehmung ist bei Solov'ev wie die Erfahrung durch ihre mystische D i m e n s i o n ein E l e m e n t ganzheitlichen Wissens. Deswegen definiert er W a h r n e h mung als „ W i r k u n g eines anderen auf u n s " (dejstvie drugogo na nas). Sie erfaßt also die Wirklichkeit des W a h r g e n o m m e n e n 5 9 7 . A u ß e r e Wahrnehmung ist für Solov'ev Wahrnehmung durch die äußere oder körperliche Sinnlichkeit (cuvstvennoe vosprijatie; telesnaja cuvstvennost') - das, was H u m e „perception" oder „sensation" n a n n t e 5 9 8 . D i e innere Wahrnehmung führt den Menschen zur Erkenntnis seines W e s e n s 5 9 9 , wenn auch n o c h nicht zur E r k e n n t n i s der eigenen Existenz. Dies geschieht erst in der Wahrnehmung des Absoluten als der unbedingten Wirklichkeit in der mystischen W a h r n e h m u n g 6 0 0 . H i e r wird die W i r -
CB III, 177; K O N II, 268. s « K O N II, 327f.; s.o. S. 155f. ÜB III, 35. 81; D 0 2 III, 360f.; OD VIII, 191. 5 9 3 DO 1 III, 362 . 5 9 4 Vgl. K O N II, 268; CB III, 35. 81. 5 9 5 Art. „Vosprijatie", B - Ε , RG XII, 561 f. ( = DG VI, 47). 5 9 6 A.a.O. S. 562 ( = DG VI, 48). 597 FNCZ1,347. 5 9 8 Art. „Vosprijatie", B - Ε , RG XII, 561 ( = DG VI, 47f.); CB III, 106. 5 9 9 K O N II, 98. 6 0 0 K O N II, 308. Dies gilt für die gesamte Zeit nach der erkenntnistheoretischen Wende Solov'evs zwischen 1876 und 1877. 590 592
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kung des Absoluten, des unbedingt Seienden beziehungsweise des All-Einen von uns unmittelbar w a h r g e n o m m e n 6 0 1 . D a d u r c h ist die mystische Wahrnehmung die Grundlage alles wahren Wissens 6 0 2 , Grundlage auch der Intuition, die nichts anderes ist als die unmittelbare (äußere, innere, mystische und religiöse) Wahrnehmung 6 0 3 . Religiöse Wahrnehmung ist die Anschauung (sozercanie, intuicija) göttlicher Dinge und bezieht sich auf alles Geschaffene, soweit es religiös interpretiert w i r d 6 0 4 . D i e unmittelbare religiöse Wahrnehmung oder Intuition erreicht die göttliche Wirklichkeit selbst. Sie ist Wahrnehmung der realen Gegenwart G o t t e s 6 0 5 . Insgesamt betrachtet ist „Wahrnehmung" in seinen Bedeutungen bei Solov'ev identisch mit „ E r f a h r u n g " . D e r Schwerpunkt liegt auf der unmittelbaren Wahrnehm u n g des einzelnen, auf der Intuition. „Wahrnehmung", so können wir sagen, ist ein bezeichnender Ausdruck des erkenntnistheoretischen mystischen Realismus Solov'evs; denn sie beinhaltet für ihn die Wirklichkeit des Wahrgenommenen.
3.
Empfindung
„ E m p f i n d u n g " (oscuscenie) ist bei Solov'ev austauschbar mit „ E r l e b e n " , „Wahrn e h m u n g " und „ G e f ü h l " 6 0 6 . Solov'ev beschreibt die E m p f i n d u n g als Wechselbeziehung oder Wechselwirkung zweier Wesen, des empfindenden Menschen und des von ihm E m p f u n d e n e n 6 0 7 . E s gilt: „ D a s E m p f u n d e n e ist logisch eher als jede gegebene Empfindung"608. Grundlage der äußeren E m p f i n d u n g ist der Tastsinn (osjazanie) des Menschen, mit dem er den Widerstand eines äußeren O b j e k t s erfährt 6 0 9 . D u r c h die äußere Empfindung im Tastsinn erreicht der Mensch zuerst eine Kenntnis von der äußeren Welt. Die äußere E m p f i n d u n g ist also sinnliche Erfahrung im ursprünglichen Sinn 6 1 0 . Innere Empfindungen sind subjektive Zustände des Bewußtseins 6 1 1 . Sie können, wiederholt empfunden, zwar zu feststehenden Fakten des Bewußtseins werden (fakty soznanija), aber die Tatsache ihrer inneren „ E m p f i n d b a r k e i t " (oscutitel'nost') kann noch nicht Maßstab des Erkenntnis der Wahrheit sein 6 1 2 . D a s ist erst die mystische E m p findung als unmittelbare E m p f i n d u n g der absoluten Wirklichkeit 6 1 3 , die bei allen Menschen der wahren Erkenntnis zugrundeliegt. Als E m p f i n d u n g des Göttlichen ist sie religiöse Empfindung. Auf der religiösen E m p f i n d u n g liegt eindeutig das H a u p t interesse Solov'evs. Von allen Bereichen des Erfahrens spricht Solov'ev im religiösen Bereich am meisten von E m p f i n d u n g . D i e religiöse E m p f i n d u n g ist für Solov'ev die Grundlage der gesamten Sittlichkeit, o b bewußt oder unbewußt 6 1 4 . Sie reicht von der E m p f i n d u n g der Identität des Menschen mit dem absoluten Prinzip oder G o t t im Pantheismus 6 1 5 bis zur E m p f i n d u n g Gottes als außerweltlichem Prinzip im Christen-
6 0 2 K O N II, S. X. F N C Z 1 , 3 4 7 ; K O N II, 307f. Art. „Intuicija", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 182). 6 0 4 K O N II, 13; PB IX, 26; s.o. S. 196 . 6 0 5 CB III, 12; O D VIII, 191. 6 0 6 Mit „Empfindung" bezeichnet Solov'ev Erleben (CB III, 81), Wahrnehmung und Gefühl (FNCZ 1,347). 6 0 7 F N C Z 1,335; K O N II, 291. 6 0 8 O D VIII, 194. 6 0 9 K O N II, 220. 222. K O N II, 266, Anm. 96; CB III, 33. 6 1 1 K O N II, 246. 6 1 2 K O N II, 292. 301. 6 1 3 F N C Z 1,347. 6 , 4 O D VIII, 210. 6 1 5 PB IX, 16. 601
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t u m 6 1 6 . Solov'ev meint in der christlichen Gotteserfahrung mit dem Ausdruck „ E m p f i n d u n g " die konkrete unmittelbare Gotteserfahrung: G o t t wird als lebendige Wirklichkeit oder Heiliger Geist empfunden, als neues himmliches Leben und göttliche K r a f t im M e n s c h e n 6 1 7 . Diese E m p f i n d u n g schließt die äußeren und inneren Sinne des Menschen ein und ist eine „freudige E m p f i n d u n g G o t t e s " 6 1 8 , denn sie überzeugt den Menschen unmittelbar durch sich selbst und ist von der Glaubensgewißheit des religiösen Menschen nicht zu trennen. Mit dem Begriff „ E m p f i n d u n g " drückt Solov'ev seinen erkenntnistheoretischen Realismus vor allem auf religiösem Gebiet aus. „Religiöse E m p f i n d u n g " beschreibt konkret die Erfahrbarkeit Gottes in den Religionen, die für Solov'ev keine Einbildung der menschlichen Wünsche und Phantasien ist, sondern tiefste Wirklichkeit.
4.
Gefühl
D e r russische Begriff „cuvstvo" (Gefühl) ist das am vielseitigsten verwendbare S y n o n y m für Erfahrung schon in der russischen Alltagssprache: „cuvstvo" bezeichnet sowohl das innere Gefühl als auch die äußere Wahrnehmung durch die Sinnesorgane (organy cuvstv) 6 1 9 . In diesem Sinn verwendet Solov'ev „cuvstvo" als ein Wort für äußere und innere Erfahrung, wenn er ganz allgemein vom Fühlen (cuvstvo) neben dem Denken (myslenie) und dem Wollen (volja) als den drei G r u n d f o r m e n der N a t u r und des Erkennens des Menschen spricht 6 2 0 . Aber auch mit dem Begriff „ c u v s t v o " drückt Solov'ev wie mit den anderen Synonymen für Erfahrung in erster Linie das mystische und religiöse Erfahren aus. D i e äußere Erfahrung nennt Solov'ev oft Sinneserfahrung (cuvstvennyj o p y t ) 6 2 1 als Ausdruck der Tatsache, daß sie auf die E m p f i n d u n g der äußeren Sinne (cuvstva) oder der körperlichen Sinnlichkeit (telesnaja cuvstvennost') zurückgeht 6 2 2 . Die inneren Gefühle machen den gesamten Bereich der seelischen Erregungen (dusevnye volnenija) a u s 6 2 3 . D a z u gehört in der Frühperiode Solov'evs das Selbstbewußtsein 6 2 4 der eigenen Existenz, das er ab 1877 der mystischen Erfahrung zuordnet. Immer gehören bei Solov'ev zu den inneren Gefühlen seelische Grundgefühle wie die Liebe 6 2 5 , das ästhetische G e f ü h l des S c h ö n e n 6 2 6 sowie alle sittlichen G e f ü h l e 6 2 7 , darunter die Grundgefühle der Sittlichkeit: Scham, Mitleid und Ehrfurcht, die die gute N a t u r des Menschen ausmacht 6 2 8 . D a s innere G e f ü h l der Liebe als Erfahrung der Einheit mit anderen Wesen leitet z u m mystischen Gefühl über. Denn als mystisches Gefühl bezeichnet Solov'ev das unmittelbare, unterschiedslose und daher dunkle Gefühl der Einheit (temnoe cuvstvo edinstva) mit der all-einen Substanz oder der absoluten Wirklichkeit der Welt - ein mystisches Gefühl der Unendlichkeit 6 2 9 . Wenn Solov'ev 6 1 7 CB III, 81.173; D 0 2 III, 317. 336; O D VIII, 210. DOÏ III, 336.418. D O Z III, 336; O D VIII, 191. 619 D. Usakov, Tolkovyj slovar' russkogo jazyka, Bd. IV, Sp. 1299f. 620 F N C Z I, 256. 363. Dem Fühlen ist auch der emotionale seelische Bereich zugeordnet, dem Wollen der Glaube als der unmittelbarste Akt des Erkennens. 6 2 1 K O N II, 236.266, Anm. 96, und S. 334. 345. 6 2 2 MPN1,198; DVM 1,216; CB III, 106. S.o. S. 137f. 6 2 3 CB III, 106. S.o.S. 140f. 6 2 5 K O N II, 160; O D VIII, 515. K Z F I , 83. 6 2 6 F N C Z 1, 363. 6 2 7 O D VIII, 50; 15. VP X, 50. 6 2 8 O D VIII, 57- 59.140. 5 1 2 . 6 2 9 FTJu 1,183; F N C Z I, 336. 347. 385. 616
618
214
in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g v o m G e f ü h l der a b s o l u t e n S u b s t a n z 6 3 0 u n d v o m „ u n t e r s c h i e d s l o s e n G e f ü h l " ( b e z r a z l i c n o e c u v s t v o ) 6 3 1 statt v o n d e r m y s t i s c h e n E r f a h r u n g G o t t e s s p r i c h t , sind der p a n t h e i s t i s c h e U n t e r t o n der F o r m u l i e r u n g u n d A n k l ä n g e an S p i n o z a s S u b s t a n z d e n k e n u n d Schellings I d e n t i t ä t s p h i l o s o p h i e nicht z u ü b e r s e h e n . D e r B e g r i f f „ G e f ü h l " b e t o n t im G e g e n s a t z z u den ü b r i g e n S y n o n y m e n d e s E r f a h r u n g s b e g r i f f s nicht die k o g n i t i v e Seite der m y s t i s c h e n V e r e i n i g u n g v o n E r k e n n t n i s s u b j e k t u n d - o b j e k t in der m y s t i s c h e n E r f a h r u n g , s o n d e r n die e m o t i o n a l e , u n b e g r i f f liche Seite. D e r U n t e r s c h i e d v o n F ü h l e n u n d G e f ü h l t e m scheint sich in eine e m o t i o nale Identität a u f z u l ö s e n . S o l o v ' e v bestätigt selbst d i e s e z u m P a n t h e i s m u s n e i g e n d e I n t e r p r e t a t i o n d e s s e n , w a s er „ m y s t i s c h e s G e f ü h l " nennt, w e n n er z u r E r l ä u t e r u n g des m y s t i s c h e n G e f ü h l s G o e t h e s F a u s t zitiert: „ U n d w e n n d u g a n z in d e m G e f ü h l e selig bist, N e n n es d a n n , wie d u willst, Nenns Glück! H e rz ! Liebe! Gott! Ich h a b e keinen N a m e n D a f ü r ! G e f ü h l ist alles; N a m e ist Schall u n d R a u c h , Umnebelnd Himmelsglut."632 S o l o v ' e v s eigene r u s s i s c h e p a r a p h r a s i e r e n d e Ü b e r t r a g u n g der letzten Zeile verstärkt n o c h den E i n d r u c k , er halte alles b e g r i f f l i c h e U n t e r s c h e i d e n u n d D e f i n i e r e n der m y s t i s c h e n E r f a h r u n g d e r V e r e i n i g u n g m i t d e m G ö t t l i c h e n - u n d d a z u g e h ö r t auch das theistische religiöse D e f i n i e r e n - f ü r hinderlich: „ N a m e ist n u r Schall u n d R a u c h , D i e die u n s t e r b l i c h e L e i d e n s c h a f t D e s himmlischen Feuers verhüllen."633 A l s D e n k e r ist S o l o v ' e v aber d i f f e r e n z i e r t e r . E r sieht selbst in G o e t h e s „ G e f ü h l ist alles" ein E x t r e m , das er hier nur g e g e n ü b e r d e m a n d e r e n E x t r e m , H e g e l s „ G e f ü h l ist n i c h t s " , v o r z i e h t 6 3 4 . A u f die A l t e r n a t i v e G o e t h e ( u n d m i t i h m d a n n auch J a c o b i u n d Schelling) o d e r H e g e l läßt sich S o l o v ' e v a b e r nicht ein. V o m mystischen G e f ü h l , d a s in der g e n a n n t e n e m o t i o n a l e n u n d p a n t h e i s t i s c h e n p h i l o s o p h i s c h e n T r a d i t i o n steht, spricht S o l o v ' e v n u r in seinen F r ü h s c h r i f t e n an den a u f g e w i e s e n e n Stellen. D i e s e R e d e w e i s e stellt n u r einen U b e r g a n g z u d e m d a r , w a s S o l o v ' e v s c h o n gleichzeitig u n d ab 1880 d a n n stets „religiöses Gefühl" ( r e l i g i o z n o e c u v s t v o ) nennt. D a s religiöse G e f ü h l ist an religiöse V o r s t e l l u n g e n g e b u n d e n , a u c h w e n n es sich an g a n z alltäglichen D i n g e n u n d E r e i g n i s s e n e n t z ü n d e t . S o redet S o l o v ' e v v o n e i n e m g a n z a l l g e m e i n e n „ r e l i g i ö s e n G e f ü h l " 6 3 5 , das sich bei D o s t o e v s k i j n a c h J a h r e n der A r e l i g i o s i t ä t erneuert, weil er d a s B e i s p i e l g l ä u b i g e r M i t z u c h t h ä u s l e r v o r A u g e n h a t t e 6 3 6 . A m B e i s p i e l D o s t o e v s k i j s m a c h t S o l o v ' e v seine allgemeine A n s i c h t klar, d a ß das religiöse G e f ü h l eine Vorstufe zur Gotteserkenntnis i s t 6 3 7 ; in i h m gibt sich G o t t 6 3 1 K O N II, 308. F N C Z 1, 3 36 . F N C Z I, 348 = K O N II, 308. Solov'ev zitiert in eigener russischer Übersetzung. „Gefühl" übersetzt er mit „cuvstvo". Vgl./. W. Goethe, Faust I, Marthens Garten. 6 3 3 F N C Z I, 348: „ . . . c t o okruzaet bessmertnyj pyl nebesnogo ognja." - K O N II, 308: „ . . . c t o zastilaet bessmertnyj p y l . . . " 6 3 4 F N C Z 1,359, Anm. 31. 6 3 5 F N C Z 1, 281. 6 3 6 T R P D III, 195. 6 3 7 A.a.O. S. 185 f. 630 632
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dem Menschen zu erfahren 638 . Es ist zunächst geheimes Herzensgefühl (serdecnoe cuvstvo) 639 . Das Herz ist bei Solov'ev nicht nur Ort für eine fundamentale Emotion, die den ganzen Menschen erfaßt, sondern auch der Träger und Mittelpunkt aller seelischen und geistigen Kräfte des Menschen. Dazu gehört auch das metaphysische Erkenntnisvermögen des Menschen. Das Herz ist Ort der Gotteserkenntnis 640 . So geht der Weg der religiösen Erkenntnis vom religiösen Herzensgefühl über die persönliche Gotteserkenntnis schließlich zum religiösen Dogma 641 . Der Glaube im Herzen des einzelnen ist dabei das Kontinuierliche. Er ist ohne begriffliche Klarheit und oft unbewußt im religiösen Gefühl enthalten. Ohne einen wie auch immer gearteten religiösen Glauben ist ein religiöses Gefühl gar nicht möglich. Deswegen kann Solov'ev sogar von einer Identität von religiösem Gefühl und Glauben des einzelnen sprechen 642 . Im religiösen Gefühl als Herzensglauben gibt sich Gott dem Menschen zu erkennen 643 . Denn der Glaube, auch wenn er unreflektiert und gefühlsmäßig ist, ist das „Treffen des menschlichen Herzens mit der Gnade Gottes". Im religiösen Gefühl fühlt und erfährt der so glaubende Mensch die Gnade Gottes 644 . Solov'ev ist sich sehr wohl bewußt, daß er mit dieser Ineinssetzung von Glaube und Gefühl gegen die Schultheologie, wie sie an den orthodoxen Geistlichen Akademien gelehrt wurde, Stellung bezieht. Gegen deren „stereotype Phrasen", die überhaupt kein Vertrauen in das religiöse Gefühl zulassen 645 , setzt er seine Analyse des religiösen Gefühls im Herzen, die von der unlöslichen Verbindung des Glaubens an Gott und des Erlebens Gottes ausgeht. Er will damit den christlichen Glauben ähnlich wie Dostoevskij vor seinen Kritikern auf undogmatische Weise rechtfertigen. In seiner Analyse des religiösen Gefühls unterscheidet Solov'ev drei Stufen. Das erste und ursprüngliche religiöse Gefühl des Menschen ist die Furcht (strach) vor Gott. Sie weicht später dem Gefühl der Andacht und Ehrfurcht (blagogovenie) vor Gott. Die höchste und vollkommene Stufe des religiösen Gefühls ist schließlich die Liebe zu Gott. Sie äußert sich in der freien Vereinigung des menschlichen Willens mit dem göttlichen im „reinen Gebet" 6 4 6 . Das religiöse Gefühl entwickelt sich in diesen Stufen im Laufe der Religionsgeschichte, aber auch der einzelne Mensch entwickelt seine Religiosität entsprechend. Im Christentum entfaltet sich das religiöse Gefühl nach Solov'ev in voller Weise als gläubige Liebe zu Gott. Dem einzelnen Christen ist die liebende mystische Vereinigung mit Gott im Heiligen Geist und seinen Wirkungen offen. In der Kirche wird das religiöse Gefühl des einzelnen „objektiv entwickelt und verwirklicht" 647 . Die Kirche gibt dem dogmatisch ungenügend entwickelten religiösen Gefühl des einzelnen einen konkreten, reichen, schönen und dogmatisch entwickelten gemeinsamen Ausdruck - die orthodoxe Kirche zum Beispiel in ihrer Liturgie - und verbindet so das religiöse Glaubensgefühl und die dogmatische Glaubenswahrheit 648 . Die entscheidende Voraussetzung in Solov'evs Analyse des religiösen Gefühls - das muß noch einmal betont werden - ist der Glaube an Gott. Der Glaube ist im rudimentären religiösen Gefühl des einzelnen latent vorhanden, sobald die Gnade Gottes ihn in seinem Herzen getroffen hat, wie Solov'ev formuliert. Der Glaube entwickelt sich dann zusammen mit dem religiösen Gefühl. Gefördert, verwirklicht und vollendet wird diese Entwicklung durch die Kirche. So kann das
638 641 644 647
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O D VIII, 194. IBTIV, 327. D O Í III, 323. 325. O D VIII, 471.
639 642 645 648
6 4 0 FTJuI, 173. 181. 185. O O i III, 318. 6 4 3 O D VIII, 191. Ebd.; O D VIII, 128. 646 DOÍ III, 337f. 7. VP X , 23. SVECh, FS, 108 ( = DG III, 105).
religiöse G e f ü h l des Menschen im unmittelbaren Fühlen G o t t e s in seinen Wirkungen gipfeln649. D a s „religiöse G e f ü h l " erweist sich bei Solov'ev als häufigstes S y n o n y m für religiöse E r f a h r u n g . E s ist keine unterschiedslose, unbegreifliche E m o t i o n , sondern ein religiöses Erkenntnisvermögen des Menschen. D a s religiöse G e f ü h l oder die religiöse E r f a h r u n g bilden z u s a m m e n mit dem G l a u b e n und mit dem D e n k e n die drei Mittel der religiösen Erkenntnis, die stets z u s a m m e n w i r k e n .
G. Zusammenfassung: Die Bedeutung der Erfahrung in der Erkenntnislehre Solov'evs Der zeitliche Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses ist nach Solov'ev die unmittelbare, persönliche Wahrnehmung eines Erkenntnisgegenstandes in einem oder mehreren Bereichen der Erfahrung. Solov'ev geht bei jeder Art von Erkenntnis, von sinnlicher Erkenntnis bis zur Gotteserkenntnis, von der direkten Erfahrung des einzelnen aus. Sie ist die Beziehung des Erfahrenden zu der Wirklichkeit eines anderen. Daß sie nicht nur Zustand des eigenen Bewußtseins des Erfahrenden ist, hat Solov'ev in der Beschreibung dessen, was er mystische Erfahrung nennt, deutlich gemacht. Ohne den Glauben an die Existenz des Erfahrenen ist nach Solov'ev mystische Erfahrung und jede andere Erfahrung der Wirklichkeit gar nicht möglich. Dem einzelnen wird die logische Voraussetzung des Glaubens für alle Erkenntnis der Wirklichkeit aber nicht stets bewußt. Ihm wird auch nicht bewußt, daß die Erkenntnis der Wirklichkeit die mystische Erfahrung der ummittelbaren Einheit mit ihr voraussetzt. So wie Solov'ev den Beginn jeder Erkenntnis in der Erfahrung sieht, beschreibt er auch das Ziel der Erkenntnis in der Erfahrung: Es ist die innere Vereinigung des ganzen Menschen mit dem Absoluten in der mystischen Erfahrung. Das Ziel der Erkenntnis ist für Solov'ev also nicht kognitiv, nicht das verstandesmäßige Erfassen der Wahrheit, sondern die direkte Erfahrung der einen Wahrheit und Wirklichkeit: das Leben in Gott in der unmittelbaren Einheit mit ihm. Es ist das Gottmenschentum, die „innere Vereinigung des ganzen Menschen mit dem Absoluten", von dem Solov'ev immer wieder als Ziel der Erkenntnis spricht 650 . Da es um den ganzen Menschen geht 6 5 1 , ist dieses Ziel der Erkenntnis nicht allein durch mystische und religiöse Erfahrung zu erreichen, sondern durch „Theurgie" (teurgija), das heißt, durch die „Realisierung des göttlichen Prinzips in der empirischen, natürlichen Wirklichkeit durch den Menschen" 6 5 2 in seinen religiösen, sittlichen, sozialen und sogar politischen Handlungen 6 5 3 . 6 5 0 IDF II, 410; I B T I V , 287. LS, FS, 10, A n m . l j T R X , 113. Vgl. S. Trubeckoj, Vorwort zu den „Drei Gespräche" von W.Solowiof (sic!), S. 618; ders., Osnovnoe nacalo, S. 101. 649 651
652
KON II, 352.
R E U ; F S j 131
f
190 ( = D G ΙΠ)
156-158.248).
217
Der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis des Menschen ist Gott oder das seiende All-Eine. Es umfaßt die gesamte Schöpfung Gottes. So sind Gotteserkenntnis und Welterkenntnis, Gotteserfahrung und Welterfahrung schon von ihrem Gegenstand her nicht zu trennen. Gott und Welt sind „Gegenstand des ganzheitlichen Wissens" (cel'noe znanie) 654 , wie Solov'ev formuliert, eines Wissens, das durch alle Erkenntnismittel des Menschen entsteht: durch Erfahrung, logisches Denken und Glaube. Wir können weiterhin sagen: Gott und Welt, die all-eine Wirklichkeit, sind Gegenstand der ganzheitlichen Erfahrung, das heißt, der äußeren, inneren, mystischen und religiösen Erfahrung zusammen, in Verbindung mit Denken und Glauben. Die mystische Erfahrung als Erfahrung der Vereinigung des Menschen mit Gott ist Anfang und Ziel der Erkenntnis. Der Weg der Erkenntnis zum Ziel der Vereinigung des ganzen Menschen mit Gott verlangt die ganzheitliche Erfahrung. So hat Erfahrung bei Solov'ev immer einen Doppelcharakter: sie ist natürlich und metaphysisch, phänomenal und ontologisch zugleich. Insofern Solov'ev bei aller Erkenntnis von der Erfahrung ausgeht, ist er Empiriker. Insofern bei ihm immer mystische Erfahrung als Erfahrung in metaphysischer und ontologischer Dimension die Grundlage der Erkennntis der Wirklichkeit ist, ist Solov'ev Metaphysiker 6 5 5 . Natürliche Erfahrung ist zugleich mystische Erfahrung oder im entsprechenden Glauben religiöse Erfahrung. Das Ineinandergreifen und die Untrennbarkeit von natürlichem, phänomenalem und metaphysischem, ontologischem Wissen ist die Konstante der Erkenntnislehre Solov'evs seit seiner Wende zwischen 1876 und 1877. Bis 1876 hatte Solov'ev von äußerer Erfahrung, innerer Erfahrung und logischem Denken als den drei Mitteln der menschlichen Erkenntnis gesprochen. Die innere Erfahrung eröffnete als Selbsterfahrung des eigenen Denkens im Sinne Descartes' die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis. Das Wissen des Menschen war in diesem Rahmen bei Solov'ev entweder phänomenal durch äußere Erfahrung und logisches Denken oder metaphysisch durch die innere Erfahrung der Selbstgewißheit der eigenen Existenz. Seit 1877 sieht Solov'ev die mystische Erfahrung als einen eigenen Aspekt der Erfahrung. In ihr erfährt der Mensch seine Teilhabe an der all-einen göttlichen Wirklichkeit und diese göttliche Wirklichkeit selbst. Die mystische Erfahrung vollzieht sich mit den Mitteln der äußeren und inneren natürlichen Erfahrung mitten in aller anderen menschlichen Erfahrung und ist von der natürlichen Erfahrung nicht zu trennen. So sind seit 1877 bei Solov'ev Erfahrung und Wissen immer zugleich natürlich und metaphysisch durch
654 F N C Z I, 307. Der Titel dieses Frühwerks Solov'evs, „Philosophische Prinzipien des ganzheitlichen Wissens", weist selbst auf das ganzheitliche Wissen als entscheidendes Erkenntnisvermögen des Menschen hin. ess j p a l a n bezeichnet die ganzheitliche Erkenntnistheorie Solov'evs deshalb als „empirical in the metaphysical, ontological dimension" (J. Palan, Theory, S. 62).
218
ihre Verankerung in der mystischen Erfahrung. D e m entspricht, daß Solov'ev seit 1877 die drei Erkenntnismittel des Menschen Erfahrung, Denken und G l a u b e nennt. Sie gehören seitdem bei Solov'ev immer z u s a m m e n 6 5 6 . Mystische Erfahrung ist ohne einen Glauben an die göttliche Wirklichkeit nicht möglich. Aber auch jegliche natürliche Erfahrung setzt den Glauben an die wirkliche Existenz des Erfahrungsgegenstandes und des Erfahrenden voraus. J e d e Erkenntnis ist bei Solov'ev eine Synthese von Erfahrung und G l a u b e 6 5 7 , wobei der G l a u b e logisch die Erfahrung begründet, die Erfahrung aber unter Vermittlung des Denkens den Glaubensinhalt bestimmt. Auch Erfahrung und Denken gehören zusammen. Solov'ev isoliert nie die Erfahrung v o m logischen und vernünftigen Denken, nicht einmal die unmittelbare mystische Erfahrung, für die er die Ausdrucksweise „ E r f a h r u n g der All-Einheit" prägte. Keine Erfahrung ist bei Solov'ev unabhängig v o m logischen D e n k e n 6 5 8 . D e n n ohne logische D e n k f o r m e n ist die Erfahrung nur blindes Material, genauso wie das Denken ohne Erfahrung leere F o r m ist. Hier entspricht Solov'evs Argumentation ganz der Kantischen, nur daß sie sich nicht nur auf die Wirklichkeit in R a u m und Zeit, sondern auf die gesamte, auch die metaphysische Wirklichkeit bezieht. Daß Erfahrung nicht vom D e n k e n losgelöst sein kann, stellte Solov'ev schon mit seiner Bestimm u n g von indirekter, wissenschaftlicher und historischer Erfahrung fest. D a s Denken ist entscheidender Teil der Erfahrungswissenschaft (opytnaja nauka) 6 5 9 , die durch das vernünftige Denken aus der Erfahrung Erfahrungsgesetze ermitteln und aufstellen kann. D a s geschieht in den Naturwissenschaften 6 6 0 , in den historischen und sozialen Wissenschaften 6 6 1 , in der Ethik, soweit sie aus den sittlichen Erfahrungen Moralgesetze aufstellt 6 6 2 . A u c h die religiöse Erfahrung findet ihren denkerischen A u s d r u c k im Glaubensbekenntnis des einzelnen und im D o g m a der K i r c h e 6 6 3 , ebenso wie die mystische Erfahrung ihren denkerischen A u s d r u c k im philosophischen Vorhaben findet, die all-eine natürliche und metaphysische Wahrheit zu erkennen, sowie in der diesem Vorhaben entsprechenden philosophischen Meta-
6 5 6 K O N II, 328. So auch: L.Müller, System, S. 30; B.Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 19; D.von Usnadse, Weltanschauung, S. 56. 6 5 7 Vgl. I. Livanov, Mysli, S. 863 6 5 8 Gegen B. Cicerin, Misticizm ν nauke, S. 141 f. Cicerin wirft Solov'ev von seinem Standpunkt des rationalen Empirismus aus vor, er habe Erfahrung und Vernunft künstlich getrennt und müsse daher von mystischer Erfahrung sprechen. Nach Cicerin muß die Vernunft mit ihren Kategorien - offensichtlich denen Kants - die Erfahrung stets überprüfen. - Bei einer solchen Verbindung von Erfahrung und Vernunft ist allerdings keine mystische oder religiöse Erfahrung möglich. Solov'evs Verbindung von Erfahrung und vernünftigem Denken ist nicht die einer Uberprüfung nach den Kategorien Kants, sondern die der gemeinsamen Ausrichtung von Erfahrung und Vernunft auf die absolute Wahrheit, die zugleich natürliche und metaphysische all-eine Wirklichkeit. Solov'ev hat dies Jahre nach der Kritik Cicerins (1880) in seiner „Theoretischen Philosophie" (1897-1899) deutlich gemacht. 6 5 9 F N C Z 1,290. 660 FNCZ1,298. O D VIII, 230. « 2 K O N II, 47. 6 6 3 K O N II, 12; I B T I V , 334; O D VIII, 477f.
219
physik 6 6 4 . In allen Bereichen der Erkenntnis ist das Denken in der Erfahrung und die Erfahrung im Denken enthalten. Die Konstante der Erkenntnislehre Solov'evs seit 1877 ist das stete Zusammenwirken von Erfahrung, Denken und Glauben und die Einheit von natürlicher und metaphysischer Erkenntnis. Dies alles geschieht in der mystischen Erfahrung. Als Konstante der Erkenntnislehre Solov'evs ab 1877 könnten wir also auch einfach die Mystik bezeichnen 6 6 5 . Man kann mit einem gewissen Recht von einem „rationalistischen Mystizismus" bei Solov'ev sprechen, der die Mystik rationalisiert und zur Grundlage der allgemeinen Erkenntnistheorie macht und der andererseits das allgemeine Erkenntnisvermögen des Menschen mystifiziert, indem er die mystische Erfahrung zur Grundlage aller Erkenntnis macht 6 6 6 . Aber die Rolle des Glaubens als eines der drei untrennbaren Erkenntnismittel des Menschen bei Solov'ev wird in dieser Sichtweise übersehen. Der Glaube an die Existenz des Erfahrenen ist in der mystischen Erfahrung und in jeder anderen Erfahrung immer enthalten und ist konstitutiv für jede Erkenntnis der Wirklichkeit bei Solov'ev. Die wachsende Bedeutung, die in den Schriften Solov'evs im Laufe der Jahre die religiöse Erfahrung und die kirchliche Erfahrung erhalten, ist für die erkenntnistheoretische Priorität des Glaubens ein Beleg. Deswegen nennen wir lieber die mystische und die religiöse Erfahrung die konstante Grundlage der Erkenntnislehre Solov'evs und nicht pauschal einen „rationalistischen Mystizismus". Die spezielle Funktion der Erfahrung als Erkenntnismittel ist es, dem Denken und seiner rein formalen Erkenntnis durch Begriffe das Material oder den Inhalt zu liefern. Die Erfahrung schafft „materiale", gefüllte und konkrete Erkenntnis 6 6 7 . Die eigene unmittelbare Erfahrung macht darüber hinaus eine allgemeine Erkenntnis für den einzelnen wirksam, so daß sie sein Leben, sein Fühlen, sein Denken und sein Verhalten praktisch beeinflußt. Es ist eine Alltagsweisheit, daß man nur aus Erfahrung lebensklug wird und daß jeder seine eigenen Erfahrungen sammeln muß, um etwas praktisch zu lernen. Sie gilt nach Solov'ev aber in allen Bereichen des Lebens. Er macht die Wirksamkeit und die Wichtigkeit der Erkenntnis aus Erfahrung an der religiösen Erfahrung deutlich. Er kontrastiert seine von der persönlichen religiösen Erfahrung geprägte Auffassung des Christentums mit dem seiner Meinung nach rein theoretischen und abstrakt moralistischen Religionsverständnis Lev Tolstojs. Er wirft Tolstoj vor, daß dessen vermeintliches Chri6 6 4 KZF I, 142; LS, FS, 42; F N C Z I, 281; K O N II, 190ff.; TF IX, 147. 157; Art. „Metafizika", B - Ε , R G X, 241 (= D G VI, 3 4 0 f ) : Metaphysik ist nicht rein spekulatives Wissen, sondern mit Erfahrung verbunden, ebenso wie die „positive Wissenschaft" nicht nur aus Erfahrung besteht, sondern spekulative Elemente enthält. Die Verbindung der mystischen Erfahrung mit dem Denken entfaltet sich in der philosophischen Metaphysik. 6 6 5 So È. Radlov, Misticizm, S. 294. 6 6 6 So G. Sacke, Geschichtsphilosophie, S. 30; E. Trubeckoj, Solov'ev i ego delo, S. 87. 6 6 7 O D VIII, 231.
220
stentum ein bloßes Gedankenbauwerk ohne Kraft und Leben sei, da Tolstoj in seiner Theorie keinen Platz für die persönliche Gotteserfahrung lasse 668 . Gotteserfahrung, sei sie unmittelbar oder indirekt in kirchlichen Formen übermittelt, kann dagegen nach Solov'ev aus dem Christentum eine geistliche Kraft (duchovnaja sila) machen, die den Menschen allmählich zum Gottmenschen umgestaltet 669 . Dieses Beispiel zeigt: Erfahrung macht die Erkenntnis für das Leben des Menschen wirksam. Im Christentum ist die religiöse Erfahrung deshalb notwendig und ein unabdingbarer Bestandteil der religiösen Erkenntnis.
II. Denken, Erkenntnis und Wissen Wir haben gesehen, daß die äußere, innere, mystische und religiöse Erfahrung für Solov'ev das grundlegende Erkenntnismittel des Menschen sind und die Grundlage seiner Erkenntnislehre überhaupt bilden. Wir untersuchen nun die genaue Funktion und Bedeutung der anderen beiden Erkenntnismittel, die Solov'ev nennt: Denken und Glaube. Nur so können wir die volle Bedeutung erfassen, die Solov'ev der religiösen Erfahrung für die gesamte menschliche Erkenntnis gibt. Wir beginnen mit der Analyse des menschlichen Denkens in seinen verschiedenen Arten und Formen bei Solov'ev.
1. Allgemeine
Definitionen
Denken (myslenie) hat nach Solov'ev ein ganz direktes Verhältnis zur Erfahrung. Als rationales Denken organisiert und systematisiert es die Erfahrung. Es ist die Form des Erfahrungsmaterials, die dieses Material ordnet und in ein logisches System bringt 1 . Es ist aber zunächst subjektiv und kann keinen Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit erheben. Solov'ev macht hier mit Piaton den Unterschied zwischen Wissen und Meinung (mnenie, δόξα). Das subjektive Denken ist nichts weiter als Meinung 2 ; es kann sogar wissentlich phantastisch und unwahr sein, sich in Phantasien und Lügen ergehen 3 . Subjektives Denken ist weder immer rational noch wahrheitsgemäß. Davon unterscheidet Solov'ev das objektive Denken als das erkennende Denken (poznajuscee myslenie) 4 . Dies nennt er auch Wissen (znanie) oder Erkenntnis (poznanie): „Wissen ist der allgemeinste Ausdruck zur Bezeichnung der 6 6 8 IS IX, 266; 16. V P X , 5 2 ; T R X , 174f. 188f. Der Fürst in den „Drei Gesprächen" vertritt die Lehre Lev Tolstojs. Teilweise finden sich in seinen Gesprächsbeiträgen wörtliche Zitate aus Tolstojs Roman „Auferstehung". Vgl. L. Müller, Anmerkungen zu 3G, DG VIII, 419. 526. 537. 6 6 9 IDF II, 410; IBTIV, 324. 1 CBIII,34f. 2 A.a.O. S. 106. 3 Art. „Znanie", B - Ε , RG XII, 586 ( = DG VI, 169). « ¿ B III, 106.
221
theoretischen Tätigkeit des Intellekts (um), die den Anspruch auf objektive Wahrheit (istina) erhebt." 5 In diesem grundlegenden Sinn gebraucht Solov'ev die Begriffe „(objektives) Denken", „Erkenntnis" und „Wissen" synonym. Die Bedeutungsnuance, daß sich „Erkenntnis" mehr auf die subjektiven Bedingungen des geistigen Prozesses und „Wissen" mehr auf seine objektive Seite und seine Resultate bezieht 6 , können wir hier vernachlässigen. Erkenntnis und Wissen erheben also Anspruch auf die Wahrheit. Wir sahen bereits, daß Wahrheit (istina) bei Solov'ev immer die Wirklichkeit (dejstvitel'nost') des als wahr Behaupteten einschließt. Der Wahrheit kommt zugleich unbedingte Wirklichkeit und unbedingte Vernünftigkeit (razumnost') zu 7 . Sie ist dadurch metaphysisch und natürlich-rational zugleich, und sie beruht auf der Erfahrung des als wahr Behaupteten. So können wir ganz allgemein Erkenntnis und Wissen bei Solov'ev als sinnliche und rationale Beziehung zwischen einem wirklich existierenden Erkenntnissubjekt und einem ebenso wirklich existierenden Erkenntnisobjekt bezeichnen 8 . Oder noch kürzer formuliert: Erkenntnis ist eine Wechselbeziehung von Wesen 9 . Denn formal beziehen sich Erkenntnis und Wissen wie die Erfahrung bei Solov'ev zwar nur auf verschiedene Bewußtseinszustände des Menschen, auf Phänomene, über deren wirkliches Sein nichts ausgesagt ist. Inhaltlich aber beziehen sie sich auf das, was im Phänomen erscheint und sich bekundet: auf das Seiende an sich (suscee o sebe) 1 0 . Im Erkennen und Wissen stehen wir in wirklicher Beziehung zum selbständig und unabhängig von uns und unserem Erkennen Seienden 11 . Wir erkennen das wirklich Seiende durch dessen Wirkung auf uns 1 2 . So sind für Solov'ev Erkenntnis und Wissen der Wahrheit im Ergebnis nichts anderes als für Thomas von Aquin und die scholastische Philosophie, nämlich „die Ubereinstimmung eines gegebenen Gedankens über ein Objekt mit dessen wirklichem Sein und Eigenschaft" 1 3 , die adaequatio intellectus et rei 1 4 . Der Weg dorthin ist aber bei Solov'ev entschieden anders begründet. Eine vorschnelle Gleichsetzung von Denken und wirklichem Sein ist für Solov'ev dogmatische Metaphysik. Deswegen sind für ihn nicht nur die Scholastik, sondern auch die Lehren Descartes', Spinozas, Leibniz' und Wolffs dogmatischer Rationalismus 1 5 . Für Solov'ev kommt das menschliche Denken und Erkennen allein über die Zustände des Bewußtseins nicht 6 Ebd. 7 F N C Z I , 304; K O N II, 288. S.o. Anm. 3. 9 F N C Z I, 335. F N C Z I, 329; K O N II, 194. 295; T F I X , 100. 1 0 A . a . O . S. 399. 1 1 K Z F 1,141. 1 2 LS, FS, 7f. 13TFIX,100. 14 Thomas von Aquin, Summa theologica I, q. 16, a. 1; ders., Summa contra Gentiles I, 59; ders., De veritate 1,2. Thomas meint die Ausrichtung des menschlichen Geistes auf das Sein bis zum völligen Sich-Durchdringen von Geist und Sein. Vgl. J.Möller, Art. „Wahrheit", Herders Theologisches Taschenlexikon, Bd. 8, S. 77; vgl. ebenso J.de Vries, Art. „Wahrheit", Philosophisches Wörterbuch, hrsg. v. W. Brugger, S. 430. 1 5 K Z F 1 , 1 3 2 f . ; K O N II, 279. 5
8
222
hinaus. Die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit ist nur möglich, weil sich das wirklich Seiende der menschlichen Erfahrung und dem menschlichen Erkennen selbst offenbart. Die Erkenntnis der Wahrheit ist nicht in der Ausrichtung des Denkens auf das wirklich Seiende begründet, sondern vielmehr in dessen direkter Einwirkung auf die menschlichen Sinne und den menschlichen Geist innerhalb der all-einen gottmenschlichen Wirklichkeit. Die Erkenntnis der Wahrheit bei Solov'ev ist eine wirkliche Wechselbeziehung von Erkenntnissubjekt und -objekt, die in der all-einen Wirklichkeit begründet ist. Die endgültige Definition von Erkenntnis und Wissen lautet daher bei Solov'ev: „Jegliche Erkenntnis ist eine gewisse Vereinigung (soedinenie) des Erkennenden mit dem zu Erkennenden; es ist eine äußere und relative Vereinigung, wenn w i r . . . das zu Erkennende in seinen äußeren einzelnen Eigenschaften . . . und seinen logischen Bestimmungen ... erkennen, und es ist eine unbedingte und innere Vereinigung, wenn wir uns mit dem zu Erkennenden in seinem eigenen Wesen vereinen, was nur deswegen möglich ist, weil unser eigenes Sein und das Sein des zu Erkennenden . . . ihre Grundlage in ein und demselben unbedingten Wesen haben." 1 6 Die Grundlage der Erkenntnis der Wahrheit ist also bei Solov'ev die unbedingte, transzendente und zugleich immanente Wirklichkeit des absoluten Ursprungs aller Dinge: das all-eine Seiende. Die Aufgabe des Denkens und der Erkenntnis ist die Rechtfertigung 17 und kritische intellektuelle Uberprüfung 18 der Erfahrung und des Glaubens an diese Wirklichkeit durch die Logik der Vernunft.
2. Der grundsätzliche
Unterschied im
Erkenntnisziel
In der oben zitierten endgültigen Definition von Erkenntnis und Wissen kam schon zur Sprache, daß Solov'ev grundsätzlich zwei Arten von Erkenntnis und Wissen unterscheidet: äußere beziehungsweise relative Erkenntnis der natürlichen Eigenschaften und logischen Bestimmungen eines Erkenntnisgegenstandes und innere beziehungsweise unbedingte Erkenntnis des metaphysischen Wesens eines Erkenntnisgegenstandes. Neben dieser Unterscheidung finden wir die dreifache Unterscheidung in empirische, rationale und mystische Erkenntnis, wobei die empirische und rationale Erkenntnis der äußeren, die mystische Erkenntnis der inneren Erkenntnis in der ersten Unterscheidung entsprechen.
16
KON II, 331.
17
FNCZI, 308.
18
TFIX,94.
223
2.1 Außeres
und inneres Wissen in der Erkenntnislehre
bis 1876
In seinen Schriften bis 1876 ordnete Solov'ev der äußeren Erfahrung materielle und rationale Erkenntnis zu, der inneren Erfahrung die mystische und metaphysische Erkenntnis. Entsprechend der äußeren und inneren Erfahrung unterscheidet Solov'ev in dieser Zeit äußeres, natürliches und inneres, metaphysisches Wissen. Beide gehören immer zusammen, um die Wahrheit zu erkennen. Außeres Wissen ist für Solov'ev hauptsächlich das Resultat bestimmter einseitiger Verzerrungen der vollständigen Erkenntnis. Dazu gehört die Unterwerfung des vernünftigen Denkens unter die äußere Erfahrung im Empirismus und Materialismus 19 . Außeres Wissen ist auch das Resultat der völligen Relativierung der äußeren und inneren Erfahrung im Positivismus 20 . Zu äußerem Wissen oder reinem Verstandeswissen (rassudocnoe poznanie) führt auch das abstrakte Denken (otvlecennoe myslenie), das Auseinandernehmen des erfahrungsmäßigen und des verstandesmäßigen, des sinnlichen und des logischen Elements der Erkenntnis sowie die Abgrenzung des Wissens vom Glauben, die die Verneinung der Wirklichkeit (dejtivitel'nost') in der negativen Vernunft zur Folge haben 21 . Das äußere Wissen als Ergebnis „reiner Reflexion" (cistaja refleksija) identifiziert Solov'ev mit den negativen Ergebnissen des dogmatischen Rationalismus vom mittelalterlichen Realismus im Universalienstreit über Descartes, Leibniz, Wolff bis zum abstrakten Kritizismus Kants und dem Panlogismus der negativen Vernunft Hegels 22 . Positiv würdigen kann Solov'ev das äußere Wissen nur als rein logische Erkenntnis oder Schlußfolgerung (rassuzdenie, ratiocinatio), als das Wissensmittel, das dem Material der Erfahrung die logische Form gibt 23 . Das Sein selbst aber bleibt ihm verschlossen. Das innere Wissen ist für Solov'ev bis 1876 die eigentliche, wahre Erkenntnis der metaphysischen Wirklichkeit und Wesenheit des Seins 24 . Das wahrhaft Seiende erkennt der Mensch nach Ansicht des frühen Solov'ev in seinem Ich, in der Selbsterkenntnis (samopoznanie) 25 . Durch innere Erfahrung erkennt er sein inneres, selbständiges und wesenhaftes Sein. Die Selbsterkenntnis (samopoznanie, samoznanie) ist das Grundfaktum des inneren Wissens. Sie ist die unmittelbare Gewißheit des Menschen, daß seine psychischen Zustände des Wollens, Denkens und Fühlens Ausdruck seines eigenen Wesens (suscestvo) sind 26 . Mittelbar, durch Analogie zur Selbsterkenntnis, kommt der Mensch auch zum Wissen über das Wesen anderer Menschen und anderer Erkenntnisobjekte. Diese Analogie ist im alltäglichen Bewußtsein schon der Gewißheit gewichen, daß anderen Erkenntnisobjekten genauso Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit zukommt wie dem sich selbst erkennenden Menschen 27 . Alles innere, metaphysische Wissen ergibt sich also für Solov'ev in seinen Frühschriften aus der Selbsterkenntnis. In dieser Argumentation weiß sich der junge Solov'ev Schopenhauer und E. von Hartmann verpflichtet. 28 .
19 22 25 28
224
KZFI,33. 62. A.a.O. S. 102-105. KZFI, 73. KZF I, 74. 84-98.
20 23 26
A.a.O. S. 66-68. A.a.O. S. 128. DVM 1,221 f. 226 .
21 24 27
A.a.O. S. 101 f. und S. 102, Anm. 75. A.a.O. S. 73; DVM1,222.226. A.a.O. S. 223.
2.2 Phänomenales
und mystisches Wissen in der Erkenntnislehre
seit 1877
Entsprechend seiner neuen Sicht der Erfahrung in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877) unterscheidet Solov'ev seitdem nicht mehr zwischen äußerem und innerem Wissen (denn sie führen beide nicht über phänomenale Erkenntnis hinaus), sondern zwischen phänomenalem und mystischem Wissen. Das phänomenale Wissen in seinen beiden Aspekten, als empirisches und als rationales Wissen, ist stets Wissen von außen (izvne), von Seiten unserer phänomenalen Getrenntheit von den Erkenntnisobjekten, und erreicht daher nie die innere Wesenheit eines Erkenntnisobjekts. Es ist daher immer nur relatives (otnositel'noe) Wissen, das sich auf den Erkenntnisgegenstand als etwas Getrenntes bezieht 29 . Das gilt nach Solov'evs neuer Sichtweise nun auch für die Selbsterkenntnis des Menschen. In ihr erkennt der Mensch sich, seine Gefühle, Wünsche und Gedanken nur als Phänomene seines Bewußtseins - genauso wie die gesamte äußere Welt. Aber trotz seiner Relativität ist das phänomenale Wissen doch in der Hinsicht objektiv, daß es dem empirischen Material die logische Form gibt und die Daten der äußeren und inneren Erfahrung in ein ganzheitliches System organisiert 30 . Das mystische Wissen31 ist nun bei Solov'ev das eigentliche Wissen, das die Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit alles Erfahrenen erfaßt. Es ist unbedingtes Wissen. Es stellt von innen her (iznutri), von Seiten unseres absoluten Wesens, das innerlich mit dem Wesen des zu Erkennenden verbunden ist, eine Beziehung zum Erkenntnisobjekt her 32 . Daher ist es unmittelbares Wissen33. Absolute Erkenntnis der Wirklichkeit und Wesenheit erreicht das mystische Wissen durch unmittelbare Erleuchtung, durch intellektuelle Anschauung oder Intuition 34 . Das mystische Wissen ist wie die mystische Erfahrung die unmittelbare Beziehung des Menschen zur transzendenten Welt, nur umfaßt die mystische Erfahrung auch die sinnlichen und gefühlsmäßigen Elemente der äußeren und inneren Erfahrung, während das mystische Wissen als Intuition sich auf das unmittelbare geistige Erkennen des Materials der mystischen Erfahrung beschränkt 35 . Je weniger aber das mystische Wissen rein intuitives Wissen ist, sondern sich mit rationaler und logischer Spekulation verbindet, desto größer wird die Relativität des Erkannten. Denn die rationale Spekulation gehört bereits zum phänomenalen Wissen. Mystisches Wissen ist an unmittelbares, intuitives Denken gebunden, wenn es zu absoluten Ergebnissen führen soll.
2.3 Mechanisches
und organisches
Denken
Phänomenales und mystisches Wissen kommen nicht nur durch verschiedene Erfahrungsarten, sondern auch durch verschiedene Denkweisen zustande. Das phänomenale Wissen beruht auf der systematischen Organisation der unmittelbaren Erfahrung, auf der Zergliederung der unmittelbaren Anschauung und auf der Isolierung oder Abstraktion einzelner Erkenntniselemente und -gegenstände. Als entsprechende Denkweisen nennt Solov'ev: Logisches Denken, das durch das Gedächtnis
29 32 35
3 0 ¿ Β III, 34. 3 1 F N C Z 1 , 3 0 5 f . ; K O N II, 346. K O N II, 331. 3 3 F N C Z 1,305f. 310. 3 4 LS, FS, 42; F N C Z 1,316; K O N II, 340. K O N II, 331. Art. „Intuicija", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 182).
225
und durch Worte oder Begriffe das Material der äußeren, inneren und mystischen Erfahrung transzendiert und verallgemeinert 36 ; rationales (racional'noe) Denken, das das empirische Material in ein ganzheitliches System organisiert 3 7 ; diskursives oder mechanisches (mechaniceskoe) Denken, das die Erkenntnisgegenstände unter einzelnen Gesichtspunkten zergliedert und vergleichend und kombinierend neue allgemeine Definitionen und Verbindungen herstellt 38 ; und Verstandesdenken (rassudocnoe myslenie) 39 oder abstraktes (otvlecennoe) Denken 4 0 , das sich völlig von der Grundlage der unmittelbaren Erfahrung und Anschauung löst und so mit der Wirklichkeit und Wahrheit nicht mehr in Verbindung steht. Demgegenüber beruht das mystische Wissen auf dem Vermögen des Menschen, nicht nur diskursiv, sondern auch intuitiv, in unmittelbarer geistiger Anschauung zu denken und so die lebendige Wirklichkeit und Wahrheit zu erfassen. Dieses Denken nennt Solov'ev aus zwei Gründen organisches (organiceskoe) Denken: es betrachtet erstens ein Erkenntnisobjekt in seinem organischen Gefüge, seiner Ganzheit und seiner inneren, wesenhaften Verbindung mit allem anderen Seienden und stellt so den ontologischen Bezug zur all-einen Wirklichkeit her; es kann dadurch zweitens aus einem Erkenntnisgegenstand oder aus einem Begriff alle anderen organisch entwikkeln und so vom einzelnen Gegenstand zur ganzheitlichen Wahrheit gelangen 41 . Das organische Denken ist das wahrhaft philosophische und religiöse Denken 4 2 . Es erfaßt die Wahrheit. Als lebendiges religiöses Denken tritt es in den Mythen und in dem Glauben der Völker auf, in Sagen, Märchen, Liedern und Brauchtum. Als philosophisches Denken ist es die intellektuelle oder ideale Anschauung (umstvennoe ili ideal'noe sozercanie) oder die Intuition (intuicija) 43 , das heißt das unmittelbare geistige Erkennen der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenhaftigkeit des Erkenntnisgegenstandes. P h ä n o m e n a l e s und m y s t i s c h e s Wissen stehen sich t r o t z der verschiedenen E r f a h r u n g s - und D e n k a r t e n hinter ihnen nicht u n v e r b u n d e n gegenüber. Wenn das rationale D e n k e n sich nicht als abstraktes D e n k e n selbst isoliert, s o n d e r n das intuitive u n d organische D e n k e n begleitet, kann sich aus d i e s e m N e b e n e i n a n d e r ein Miteinander ergeben, das S o l o v ' e v „spekulatives D e n k e n " nennt. E s versucht, die m e t a p h y s i s c h e E r k e n n t n i s der Wahrheit in allgemeinen logischen F o r m e n a u s z u d r ü c k e n . D i e s e s spekulative D e n k e n ( u m o z r i t e l ' n o e myslenie) ist A u f g a b e der Philosophie. E s ist S o l o v ' e v s eigenes t h e o s o p h i s c h e s D e n k e n 4 4 .
3 7 C B III, 34. T F I X , 138.141-147. 38 A . a . o . S. 96. 40 FNCZI,316f. 4 1 ÖB III, 96f. A . a . O . S. 97. 4 2 A . a . O . S. 35. 97. 4 3 A . a . O . S. 65. 97; F N C Z 1 , 3 1 6 . 4 4 C B III, 97f. : Solov'ev spricht von „wahrer Philosophie" und von „Theosophie" als ein und demselben Vorhaben, die Wahrheit selbst zu erkennen - im Gegensatz zur abstrakten rationalen Philosophie, die sich auf das phänomenale und logische Wissen beschränkt. 36
39
226
3. Drei Arten des 3.1 Empirisches,
rationales
und mystisches
Wissens Wissen
Solov'ev hat seit 1877 ständig nach ihren unterschiedlichen Bereichen äußere, innere und mystische beziehungsweise religiöse Erfahrung unterschieden. Dem entspricht seit dieser Zeit die dreifache Unterscheidung des Wissens aufgrund äußerer, innerer und mystischer Erfahrung in empirisches, rationales und mystisches Wissen 4 5 . Das empirische Wissen ist ein Wissen über die Phänomene des Bewußtseins aufgrund der äußeren und inneren Erfahrung 46 . Es ist auf einzelne Erkenntnisobjekte bezogen. Daher nennt Solov'ev es auch objektbezogenes oder äußeres (predmetnoe, vnesnee) Wissen 47 . Empirisches Wissen ist Sache der von Solov'ev so genannten „positiven Wissenschaft", das heißt der Natur- und Humanwissenschaften 4 8 . Das rationale Wissen ist das „Wissen von den allgemeinen möglichen Beziehungen zwischen den Gegenständen" der Erkenntnis 49 . Es bezieht sich auf die durch das logische Denken verallgemeinerte Erfahrung. Daher heißt es auch rein logisches (cisto logiceskoe) Wissen oder formales (formal'noe) Wissen in allgemeinen Begriffen 50 . Rationales Wissen ist Sache der abstrakten, rein formalen Philosophie 51 . Das mystische Wissen ist das „Wissen vom Wesen der Dinge" (znanie o suscestve vescej) 52 . Es ist zwar objektbezogen, aber die Beziehung zu einem Erkenntnisobjekt stellt die mystische Erfahrung her. Daher ist die Beziehung unmittelbar und unbedingt und erreicht Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit des Erkenntnisobjekts. Mystisches Wissen ist metaphysisches und positives (metafiziceskoe, polozitel'noe) Wissen, das die Wirklichkeit der transzendenten, göttlichen Welt erkennt 53 . Mystisches Wissen ist zunächst Sache der Theologie; denn das absolute Urprinzip, das das mystische Wissen erfaßt, ist Gott selbst. Es ist aber auch Grundlage und Sache der „wahren Philosophie", die alle drei Wissensarten als synthetische Philosophie umfaßt und die Solov'ev „freie Theosophie" nennt 54 . Seine eigene Philosophie will eine Synthese von mystischem, rationalem und empirischem Wissen sein. Der Inhalt der freien Theosophie ist die metaphysische und empirische, theoretische und praktische „Erkenntnis dessen, was wirklich ist und nicht nur zu sein scheint" 5 5 . Voraussetzung des mystischen Wissens der freien Theosophie ist die Korrespondenz von phänomenaler und metaphysischer Welt. Das all-eine Seiende ist die Grundlage der Vielfalt der Phänomene, es bekundet sich in ihnen 5 6 . Die Existenz des all-einen Seienden und die Beziehung aller Phänomene zu ihm sind dabei im Glauben vorausgesetzt; nur so ist mystisches Wissen als wahre und objektive Erkenntnis (istinnoe, o b " e k tivnoe poznanie) in wahrer Vernünftigkeit (razumnost') möglich 5 7 . Dadurch 45 47 50 52 54 57
4 6 KON II, 346. FNCZ1,259f. 305f.; KON II, 331. 346 . 4 9 KON II, 346. DVM 1,220; KON II, 333. « FNCZ 1,259f. 51 FNCZ 1,260. FNCZ 1,319; OD VIII, 230. 5 3 FNCZ I, 328; CB III, 118. A.a.O. S. 328; KON II, 346. 55 KZF 1,163. 56 LS, FS, 6-8. 32f. FNCZ 1,260. 305f. KON II, 277. 288. 299. 326.
227
ist dieses Wissen auf der Demut und Selbstentsagung des Verstandes (smirenie i s a m o o t r e c e n i e u m a ) g e g r ü n d e t 5 8 . E s handelt sich dabei nicht u m ein sacrificium intellectus, s o n d e r n u m die Einsicht in das menschliche U n v e r m ö g e n , mit d e m Verstand die E x i s t e n z der m e t a p h y s i s c h e n Wirklichkeit z u erfassen. Das mystische Wissen ist durch seine Glaubensgrundlage identisch mit dem religiösen Wissen (religioznoe znanie) 59 . Die Theologie drückt ihr religiöses Wissen über das absolute Urprinzip aber in anderen Begriffen aus als die wahre Philosophie oder freie Theosophie: Sie spricht von Gotteserkenntnis (poznanie Boga) 6 0 und meint damit die Anerkennung Gottes durch seine Offenbarung in der religiösen Erfahrung des Menschen 61 . Für das religiöse Wissen gilt dasselbe, was wir über die religiöse Erfahrung gesagt haben: Es entwickelt und vollendet sich erst in der Kirche. Als Vorbedingung der wahren Gotteserkenntnis nennt Solov'ev wiederum die Liebe zu Gott und seiner gesamten Schöpfung 6 2 . Die Gemeinschaft der Liebenden ist die ökumenische Kirche. Erst in der Unterordnung unter die ökumenische Kirche ist die Gotteserkenntnis in der Fülle wahr (vpolne pravo) 6 3 . Der einzelne erkennt das Dogma der Kirche als ihm bewußt gewordenen Ausdruck (soznannoe vyrazenie) der unbedingten Wahrheit (istina) an und wächst so mit der ganzen Kirche im Verstehen (razumenie) Gottes 6 4 .
3.2
Ganzheitliches
Wissen
Das empirische, das rationale und das mystische beziehungsweise das religiöse Wissen sind im Erkenntnisprozeß nicht zu trennen. Das empirische Wissen hat als entwickelte Natur- und Humanwissenschaft nicht nur einen Erfahrungsaspekt, sondern auch eine rationale Form und unbewußt auch das Element des mystischen Wissens um die wirkliche Existenz des Erfahrenen. Das rationale Wissen hat nicht nur logischen Charakter, sondern als begriffliche Verarbeitung aller Erfahrung zugleich eine empirische und mystische Grundlage. Das mystische Wissen schließlich ist nicht rein intuitiv und unmittelbar, sondern enthält durch rationales Denken systematisierte natürliche und mystische Erfahrungsdaten. Die vollkommene Erkenntnis der Wahrheit kann nicht auf einem isolierten empirischen oder rationalen Wissen beruhen, aber auch nicht auf einem abstrakten mystischen Wissen. Solches in den Rang absoluter Wahrheitserkenntnis erhobenes Teilwissen kritisiert Solov'ev schonungslos als dogmatischen Empirismus, Rationalismus und Mystizismus mit ihren vielfältigen Variationen Materialismus, Positivismus, Kritizismus, Idealismus, Panlogismus, Okkultismus - kurz, als abstrakte Prinzipien des Wissens. Der „Kritik der abstrakten Prinzipien" galt schon seine Doktordissertation. Sie ist der kritische Ausgangspunkt seiner Philosophie und sie bewahrt ihn vor einem eigenen Mystizismus und vor einem eigenen Idealismus, die ihm vorgeworfen wurden und werden 6 5 .
5 9 CB III, 12. 6 0 A.a.O. S. 87; TRPD III, 180. DOi III, 330. 6 2 IBTIV, 253. 6 3 VSChP IV, 95.111. D02lII,318. 64 IBTIV, 324. 327f. 65 Vgl. B. Cicerin, Misticizm ν nauke, S. 139-142. 148f. (Solov'ev sei Mystizist); vgl. A.Losev, VI. Solov'ev, S. 114f. (Solov'ev sei Vertreter des „reinsten Idealismus, das heißt des Funktio58
61
228
Das Beharren auf der Möglichkeit eines integralen oder ganzheitlichen Wissens (cel'noe znanie) und auf der Durchführbarkeit einer entsprechenden ganzheitlichen und synthetischen Philosophie oder Theosophie ist der Impuls für Solov'evs theosophisches Schaffen bis zu seiner „Theoretischen Philosophie" und bis zu seinem Tod. D i e G r u n d l a g e des ganzheitlichen Wissens als volle E r k e n n t n i s der Wahrheit ist das mystische W i s s e n 6 6 , das die m e t a p h y s i s c h e Wahrheit direkt und u n b e d i n g t erkennt. D a s empirische Wissen gibt d e m ganzheitlichen Wissen d a z u das Material, das rationale Wissen die F o r m . D e r letzte Inhalt des ganzheitlichen Wissens ist die eigentliche Wahrheit: das w a h r h a f t Seiende (istinno s u s c e e ) 6 7 o d e r genauer das all-eine Seiende (vseceloe, vseedinoe suscee), das empirische Fakten, geistige Ideen und den U r s p r u n g alles Seins u m f a ß t 6 8 . S o l o v ' e v nennt diesen letzten Inhalt das Ganzheitliche (cel'noe) oder das All-Eine (vseceloe) und nicht das Eine (edinoe), weil es die Vielheit der P h ä n o m e n e des Bewußtseins einschließt und eben alles u m f a ß t 6 9 . D a s Ziel (cel') des ganzheitlichen Wissens ist das Ziel des L e b e n s des einzelnen M e n s c h e n und der gesamten M e n s c h h e i t : die Vereinigung mit d e m w a h r h a f t Seienden, das ganzheitliche und unversehrte ewige L e b e n (vsecelaja z i z n ' ) 7 0 . I m R u s s i s c h e n d r ü c k t der Begriff „ganzheitliches W i s s e n " (cel'noe znanie), den S o l o v ' e v gewählt hat, den all-einen Inhalt (vseceloe) und das Ziel (ceP) des E r k e n n e n s , das ewige L e b e n , zugleich aus. Die freie Theosophie (svobodnaja teosofija), als deren Anfang Solov'ev sein eigenes Denken betrachtet, ist die Systematisierung des ganzheitlichen Wissens in allen seinen Aspekten 7 1 . Sie soll die Integration aller Wissensarten fördern. Ihr von Solov'ev gewünschter Effekt ist die Umwandlung der rein empirischen Wissenschaften in ganzheitliche Wissenschaften, die Umwandlung der abstrakten Philosophie in ganzheitliche Philosophie und die Umwandlung der exklusiven Theologie in ganzheitliche Theologie 7 2 . So soll das empirische Wissen durch Anwendung der mystischen Wahrnehmung auf ein empirisches Objekt zur unbedingten Erkenntnis dieses Objekts gelangen und nicht mehr nur „rein empirisch" vorgehen oder „empirisch-rational", das heißt die Erfahrungstatsachen verallgemeinern. Das rationale Wissen soll nicht mehr bloß logische Gesetze aufstellen oder als „rational-empirisches Wissen" Erfahrungsgesetze aufstellen, sondern als „rational-mystisches Wissen" auch die Formen und Gesetze des wirklichen Seins erkennen. Das mystische Wissen schließlich soll nicht mehr nur unmittelbar-intuitiv die transzendente Wirklichkeit erfassen, sondern im „mystisch-empirischen Wissen" im einzelnen empirischen Objekt dessen Einheit nierens v o n B e g r i f f e n als solchen, o h n e G r u n d l a g e in irgendeinem außerbegrifflichen o d e r materiellen S e i n " ) . 66 F N C Z I , 3 0 5 f . 6 7 A . a . O . S. 30 7. 6 8 A . a . O . S. 3 1 0 ; K O N II, S. X . o» K O N II, 226. 7 0 F N C Z I, 2 5 0 f . 3 1 0 f . S o l o v ' e v erklärt d a s Anliegen seiner „ P h i l o s o p h i s c h e n Prinzipien des ganzheitlichen W i s s e n s " mit den genannten russischen B e g r i f f e n . 7 1 F N C Z 1 , 2 8 6 f . 2 9 0 f . 3 0 6 f . ; K O N II, 3 4 2 f f . 350. 7 2 F N C Z I, 2 9 0 : U n t e r der falschen Exklusivität (iskljucitel'nost') der T h e o l o g i e versteht S o l o v ' e v die A b l e h n u n g des z e i t g e n ö s s i s c h e n p h i l o s o p h i s c h e n und empirischen D e n k e n s als S t ü t z e der t h e o l o g i s c h e n A r g u m e n t a t i o n .
229
mit der absoluten metaphysischen Wirklichkeit erkennen und im „mystisch-rationalen Wissen" die Ergebnisse des mystischen Wissens in ein logisches System bringen, das die Erkenntnisse aller Wissensarten umfaßt. Jede Art des menschlichen Wissens soll die Elemente der anderen Wissensarten für Erkenntnisse in ihrem eigenen Bereich anwenden.
3.3 Materiales,
formales
und intentionales
Wissen
Solov'ev hält auch in seinen späten Schriften an seiner Idee des ganzheitlichen Wissens fest. Das Wissen unterteilt er weiterhin in drei Arten, die zugleich ein ganzheitliches, allumfassendes Wissen ergeben. Wir begegnen bei Solov'ev immer einem „dreieinigen Wissen", das der „dreieinigen Erfahrung" des Menschen entspricht. Während die drei Aspekte der einen Erfahrung allerdings auch in seiner Spätperiode von Solov'ev immer äußere, innere und mystische Erfahrung genannt werden, wechselt er die Bezeichnungen für die drei Arten des einen Wissens. Sie bleiben aber trotz geänderter Bezeichnungen dem empirischen, rationalen und metaphysischen Erkenntnisbereich zugeordnet. Sie bilden weiterhin ein gemeinsames, ganzheitliches Wissen 73 . In der „Rechtfertigung des Guten" (1894-1897) nennt Solov'ev die drei Wissensarten materiales, formales und religiöses Wissen. Das materiale Wissen ist durch gesammelte äußere und innere Erfahrung möglich, das formale Wissen durch Sprache und allgemeine Begriffe, und das religiöse Wissen wird von der Vernunft aus den Daten der „wirklichen religiösen Erfahrung" abgeleitet 74 . In der „Theoretischen Philosophie" (1897-1899) kennzeichnet Solov'ev die drei Wissensarten als materiales, formales und intentionales oder wahres Wissen 75 . Materiales Wissen stützt sich hier einfach auf das Vorhandensein von Bewußtseinszuständen aller Art. Sie sind das „fließende Material" des Wissens. Gewiß ist dabei nur das psychische Vorhandensein des Wissensmaterials im Bewußtsein, nicht seine wirkliche Existenz 76 . Das formale Wissen erkennt die logische Bedeutung und formale Allgemeinheit der Tatsachen des Bewußtseins. Ermöglicht ist das formale Wissen durch das Vorhandensein des Gedächtnisses (pamjat'), das das in der Zeit dahinfließende Material des Bewußtseins aufbewahrt, und durch das Vorhandensein des Wortes (slovo) als Bedingung der Verallgemeinerung und Vereinigung der Tatsachen des Bewußtseins. So entsteht ein Verstehen (razumenie) dieser Tatsachen. Gewiß ist nur die logische Form und Bedeutung des Wissensmaterials, nicht dessen Wahrheit selbst 77 . In der „Theoretischen Philosophie" geht Solov'ev methodisch so vor, daß er das materiale und formale Wissen von dem dritten Erkenntnisbereich, dem intentionalen Wissen, abtrennt. Dieses dritte Wissen, sonst mystisches oder religiöses Wissen genannt, war bei Solov'ev immer entscheidend für die Erkenntnis der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenhaftigkeit jedes Erkenntnisobjekts. Diese entscheidende Erkenntnisfunktion hat nun das intentionale Wissen. Der Unterschied zu Solov'evs Erkenntnislehre kurz nach 1877 liegt darin, daß die empirische oder materiale und die rationale oder formale Erkenntnisweise nun für sich betrachtet werden, ganz vom phänomenalen Standpunkt eines konsequenten erkenntnistheoretischen Positivismus 73 76
230
TFIX, 89-92. A.a.O. S. 137f. 141.
74 77
O D VIII, 202 . 23 0 . A.a.O. S. 137f. 142f. 146f.
75
TFIX, 137f. 154.161.164.
aus. D i e s ist aber n u r ein
methodischer
U n t e r s c h i e d u n d kein substantieller W a n d e l in
der E r k e n n t n i s t h e o r i e Solov'evs w i e der z w i s c h e n 1 8 7 6 und 1877. A u c h in d e n Schriften n a c h 1 8 7 7 hing für S o l o v ' e v die E r k e n n t n i s der W i r k l i c h k e i t und W a h r h e i t i m m e r v o m m y s t i s c h e n o d e r m e t a p h y s i s c h e n W i s s e n ab. N u r fügte er die drei W i s sensarten in den J a h r e n n a c h 1 8 7 7 gerade z u e i n e m k o m p l e x e n V e r b u n d jeder einzelnen W i s s e n s a r t mit d e n beiden anderen z u s a m m e n . N u n t r e n n t er die drei W i s s e n s a r ten m e t h o d i s c h , u m die E i n z i g a r t i g k e i t der E r k e n n t n i s d e r W a h r h e i t d u r c h i n t e n t i o nales o d e r w a h r e s W i s s e n g e g e n ü b e r aller n u r p h ä n o m e n a l e n E r k e n n t n i s deutlich h e r v o r t r e t e n z u lassen.
3.4 Die Intention,
die Wahrheit zu
erkennen
Betrachten wir das „intentionale" oder „wahre Wissen" in der „Theoretischen Philosophie" näher. Solov'ev wendet hier den Zweifel an der wahren Erkenntnis methodisch an, um sie gerade dadurch philosophisch zu rechtfertigen. Unzweifelbar gewiß sind zunächst die phänomenale Realität der Bewußtseinszustände und die allgemeine und notwendige Bedeutung der logischen Formulierungen, die das Wissensmaterial der Bewußtseinszustände organisieren. Darüber hinaus ist aber auch noch ein Drittes unzweifelbar gewiß: das philosophische Vorhaben oder di e philosophische Intention, die Wahrheit selbst zu erkennen (filosofskij zamysel poznavat' samu istinu) 78 . Es ist die Absicht (namerenie) und die Entscheidung (resenie), den notwendigen Weg zum Ziel der Erkenntnis der Wahrheit selbst zu gehen, die sich hinter den Bewußtseinszuständen und logischen Formulierungen befindet. Diese Intention (zamysel) steht hinter jedem Gedanken (za mysl'ju) des Menschen über seine Bewußtseinszustände. Deswegen nennt Solov'ev diese Intention im Russischen auch „zamysel", um sie nicht als den einsamen Willen des Philosophen dastehen zu lassen, sondern als die notwendige Aufgabe jedes denkenden Menschen zu charakterisieren 79 . Die Intention ist nach Solov'ev eine eigene Erkenntnis- und Wissensart. Im Alltagswissen und in den „positiven Wissenschaften" richtet sich die Intention des Erkennenden auf ein Objekt oder Gebiet der Erfahrung und auf das, was dahinter liegt; im philosophischen und religiösen Wissen richtet sich die Intention dagegen auf das, was hinter der Gesamtheit der Phänomene und Gedanken liegt: auf die ganze Wirklichkeit, auf die Wahrheit als die all-eine Wirklichkeit 8 0 . Dies ist das absolute, unbedingte Objekt der menschlichen Erkenntnis. Die Intention, so die Wahrheit zu erkennen, hat für Solov'ev unbedingte ontologische und metaphysische Gültigkeit, weil ihr Objekt selbst unbedingte Gültigkeit besitzt 8 1 . Die Intention, das heißt das A . a . O . S. 164; vgl. a.a.O. S. 154. 161. ™ T F I X , 147. Solov'ev definiert die Wahrheit (istina) in der „Theoretischen Philosophie" als All-Ganzheit (vsecelost') des Seienden ( T F I X , 157). 8 1 T F I X , 1 5 3 - 1 5 5 . 1 6 1 f. 164 f. 78
80
231
Streben zur Erkenntnis der Wahrheit aller Erscheinungen 82 , ist auf das metaphysische, unbedingte Sein aus und ist daher selbst bereits nicht nur eine phänomenale Intention eines einzelnen empirisch faßbaren Erkennenden, sondern gleichzeitig eine unbedingte, ontologisch und metaphysisch notwendige Intention83, die durch die Einheit von Intendierendem und Intendiertem, Erkennendem und zu Erkennendem zustande kommt und auf die all-eine Wirklichkeit und Wahrheit selbst zurückzuführen ist. Solov'ev drückt den gleichen Gedanken so aus: Der unbedingte Inhalt der Intention, nämlich die all-eine Wahrheit alles Seienden selbst, definiert den diesen Inhalt Intendierenden und Erkennenden selbst als Teil dieser all-einen Wahrheit, nämlich als werdende Vernunft der Wahrheit selbst (stanovjascijsja razum samoj istiny) 84 . Wir fügen hinzu: Weil die Intention das werdende Verstehen der Wahrheit selbst im Menschen ist oder das Wirken der metaphysischen Wahrheit im Menschen, hat sie auch unbedingten, metaphysischen Charakter. Die Intention, so können wir Solov'ev interpretierend sagen, ist nicht nur auf Wahrheit aus, sondern ist selbst ein Teil der all-einen Wahrheit; sie ist ihr Wirken im Menschen. In der Intention kommen die Erkenntnis der Wahrheit seitens des Menschen und die Selbstoffenbarung oder Bekundung der Wahrheit selbst zusammen. Wenn wir den Charakter der Intention in der „Theoretischen Philosophie" mit dem des mystischen Wissens in den früheren Schriften Solov'evs vergleichen, stellen wir fest, daß der Inhalt beider ein und derselbe ist. Es geht um die all-eine Wahrheit, Wirklichkeit und Wesenheit alles Seienden. Das Wissen über diese Wahrheit, eben die Intention beziehungsweise das mystische Wissen, wird in beiden Perioden von Solov'ev als „Ubereinstimmung des Gedankens mit dem wirklichen Sein" bezeichnet 85 , also als ontologische und nicht nur phänomenale Erkenntnis. Ein Unterschied besteht lediglich im Erwerben dieser Erkenntnis. Das mystische Wissen als geistiges unmittelbares Erkennen der Wahrheit beruhte auf den Gegebenheiten der mystischen Erfahrung mit ihren sinnlichen und gefühlsmäßigen Elementen — so wie das religiöse Wissen auf den Daten der religiösen Erfahrung beruht. Die Intention in der „Theoretischen Philosophie" hat zwar auch dadurch mystischen Charakter, daß Solov'ev sie durch dasselbe definiert, was sie intendiert und so die Einheit von Erkennendem und zu Erkennendem voraussetzt. Das unbedingte Streben zur Wahrheit selbst als dem Absoluten ist eigentlich nur dem religiösen Streben nach der mystischen Erfahrung der Begegnung und der Einheit mit Gott vergleichbar86. Dennoch ist die unmittelbare mystische oder religiöse Erfahrung nicht die unerschütterliche Grundlage der IntenA.a.O. S. 130. So argumentiert Solov'ev schon 1876 in seiner französischen Schrift „La Sophia" (vgl. LS, FS, 42). 8 4 T F I X , 166. 8 5 TF IX, 100; vgl. F N C Z I , 329; K O N II, 194.295. 8 6 Diesen Vergleich zieht V. Zen'kovskij (Die Philosophie der religiösen Erfahrung, S. 34f.). 82 83
232
tion, sondern n u r deren erkenntnistheoretisch
sekundäres Material.
Die
Erkenntnis der Wahrheit weist Solov'ev nicht m e h r der unmittelbaren m y s t i s c h e n E r f a h r u n g z u , s o n d e r n d e r I n t e n t i o n des m e n s c h l i c h e n G e i s t e s ( c e l o v e c e s k i j d u c h ) , diese u n m i t t e l b a r e m y s t i s c h e E r f a h r u n g d e r a l l - e i n e n W a h r heit z u h a b e n . D i e I n t e n t i o n ist also d e r e n t s c h e i d e n d e S c h r i t t z u r W a h r h e i t n o c h v o r d e r m y s t i s c h e n E r f a h r u n g . Sie ist a b e r e b e n s o w i e die m y s t i s c h e E r f a h r u n g e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h an d e n G l a u b e n an die w i r k l i c h e E x i s t e n z des w a h r h a f t S e i e n d e n g e b u n d e n . A n d e r e n f a l l s w ä r e die A b s i c h t s e r k l ä r u n g des m e n s c h l i c h e n G e i s t e s , die W a h r h e i t z u e r k e n n e n (eine W a h r h e i t , d e r kein w i r k l i c h e s Sein e n t s p r ä c h e ) , eine A b s u r d i t ä t u n d leere F o r m e l . D e r G l a u b e an das w i r k l i c h S e i e n d e u n d die I n t e n t i o n z u r E r k e n n t n i s d e r W a h r h e i t selbst sind a l s o ein A k t des m e n s c h l i c h e n G e i s t e s 8 7 . D i e Intention in der „Theoretischen Philosophie" entspricht ganz dem mystischen Wissen in den früheren Schriften Solov'evs, insofern es das unmittelbare Erfassen der Wahrheit selbst durch den menschlichen Geist bezeichnet. Solches rein geistige mystische Wissen nannte Solov'ev in seinen früheren Schriften meist von Seiten des Erkennenden aus betrachtet intellektuelle Anschauung oder Intuition (umstvennoe sozercanie), oder von Seiten des zu Erkennenden aus betrachtet Inspiration (vdochnovenie). W i r werden auf diese Begriffe noch näher eingehen 8 8 . H i e r sei nur auf die wörtliche und sachliche U b e r e i n s t i m m u n g zwischen der Intention in der „Theoretischen Philosophie" und der Intuition in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" hingewiesen. D a s mystische Wissen oder die Intuition hat dieselbe Aufgabe wie die I n t e n t i o n : die Erkenntnis der Wahrheit selbst 8 9 . M i t der Intention des Menschen, die Wahrheit selbst zu erkennen, nennt Solov'ev in der „Theoretischen Philosophie" einen neuen archimedischen Punkt seiner E r kenntnislehre. Im Bereich des organischen vernünftigen D e n k e n s ist nun der A k t des Bewußtseins, den Solov'ev Intention nennt, der phänomenologische Ausgangs-und Angelpunkt der Erkenntnislehre und Metaphysik. D i e Intention beschreibt er nicht wie das mystische Wissen als ein O r d n e n und Systematisieren der mystischen E r f a h rung, sondern als einen methodisch selbständigen psychischen A k t neben der mystischen Erfahrung, mit der er zwar verbunden und im Ziel identisch ist, von der er aber als psychischer A k t methodisch unterschieden ist. Solov'ev geht hier vor wie B r e n t a n o in seiner Phänomenologie der intentionalen Erlebnisse und wie Husserl in seiner Phänomenologie der intentionalen psychischen A k t e : D e r Ausgangspunkt der Erkenntnis der Wahrheit ist die intentionale Wendung des D e n k e n s weg vom D e n k e n d e n und hin zum Gedachten, vom Erkenntnissubjekt zum E r k e n n t n i s o b j e k t , zur Erkenntnis seiner Wahrheit und Wirklichkeit. Intention 8 7 So gesehen ist das Beharren Solov'evs auf dem christlichen Glauben als Vorbedingung der Erkenntnis der letzten Wahrheit in den „Drei Gesprächen" (1899-1900) keine neue erkenntnistheoretische Position und kein philosophischer Rückschritt gegenüber der „Theoretischen Philosophie", sondern nur die religiöse Konkretisierung der philosophischen Metaphysik, die Solov'ev im weiteren Verlauf seiner „Theoretischen Philosophie" darstellen wollte. 8 8 S.u. S . 2 4 5 - 2 4 8 . 251 f. 8 9 Vgl. F N C Z I, 321 mit T F IX, 157. Auf diese Parallele zwischen Intuition beim frühen und Intention beim späten Solov'ev hat auch S.Trubeckoj hingewiesen (S.Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S.98).
233
ist das Abzielen des denkenden Bewußtseins auf etwas, die Beziehung des Bewußtseins auf etwas. Hierin stimmen Solov'evs Ansichten mit denen Brentanos und Husserls überein, obwohl er sie unabhängig von den beiden deutschen Philosophen entwickelt hat 9 0 . Ein inhaltlicher Unterschied ist aber nicht zu übersehen. Bei Solov'ev ist die Intention die Wendung des gesamten geistigen Lebens des Menschen „zur Wahrheit selbst" 9 1 , und das heißt, nicht zu diesem oder jenem Erkenntnisgegenstand wie bei Brentano oder Husserl, sondern zum unbedingt Seienden, zum Absoluten, das hinter allen Phänomenen insgesamt ist und in ihnen und durch sie erscheint 92 . Die Wahrheit ist für Solov'ev einerseits wie für die Phänomenologie etwas, was dem intentionalen Akt des menschlichen Bewußtseins gegenüber transzendent ist 9 3 . Andererseits ist sie bei ihm keine abstrakte Größe jenseits des phänomenalen Bewußtseins, sondern die Wirklichkeit, die alle Phänomene des Bewußtseins mit umfaßt, so daß der Intendierende und seine Intention selbst „wahr" sind, das heißt, an der all-einen Wahrheit teilhaben. N u r so ist es zu erklären, daß Solov'ev die Intention als Inspiration der Wahrheit selbst bezeichnet, die den Menschen in ihren Bereich der wahren Wirklichkeit erhebt. N u r durch den Begriff der Wahrheit bei Solov'ev als unbedingtes, all-eines Seiende ist es auch zu erklären, daß er die Intention als „schöpferisches ,Es werde"' bezeichnet, das aus dem Chaos der faktischen phänomenalen Bewußtseinszustände die Erkenntnis der Wahrheit selbst schafft 9 4 . Die Intention ist bei Solov'ev ein schöpferisches Vorhaben, das vom Menschen ausgeht, aber selbst auch im Menschen etwas bewirkt: Es erschafft im Menschen dasjenige Denkvermögen, das den notwendigen gedanklichen Weg zum Ziel der absoluten, all-einen Wahrheit findet 9 5 . D i e Intention ist bei S o l o v ' e v von seiten des M e n s c h e n , p h ä n o m e n o l o gisch betrachtet, z u n ä c h s t nichts weiter als die E n t s c h e i d u n g des menschlichen Willens, sich der Wahrheit z u z u w e n d e n und sie zu e r k e n n e n 9 6 . D i e s bedeutet eine Verlagerung des S c h w e r p u n k t s der G n o s e o l o g i e v o n der kritischen Selbsterkenntnis z u r E r k e n n t n i s des O b j e k t s , v o m erkenntnistheoretischen S u b j e k t i v i s m u s w e g in den Bereich der E r k e n n t n i s der objektiven Wahrheit 9 7 . I n s o w e i t hat die Intention in diesem P u n k t bei S o l o v ' e v die gleiche erkenntnistheoretische B e d e u t u n g wie die intentionalen A k t e des menschlichen Bewußtseins bei B r e n t a n o und H u s s e r l . D i e Wahrheit ist aber bei S o l o v ' e v auch in der „ T h e o r e t i s c h e n P h i l o s o p h i e " nicht p h ä n o m e n o l o 9 0 S . o . S . 9 9 f . Eine viel weitergehende Ubereinstimmung besteht zwischen Solov'ev und Brentano in bezug auf die Rolle der inneren Wahrnehmung: Nach Brentano ist sie ein intentionales Geschehen, das zum Erlebnis der Evidenz der Wahrheit führen kann - vergleichbar der inneren Erfahrung bei Solov'ev bis 1876 und der mystischen Erfahrung bei Solov'ev seit 1877 (s. O.S. 99). 9 1 T F I X , 154. 161.166. 9 2 Vgl. V. Zen'kovskij, Die Philosophie der religiösen Erfahrung, S. 34. 9 3 Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, S. 63. 9 4 T F IX, 153.157. 9 5 A . a . O . S. 147: „.. .zamysel, sozdajuscij mysl' kakneobchodimyj put' k zadumannoj celi". 9 6 So auch S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S. 97. 9 7 Gegen B. Schnitze, Fundamentaltheologie, S. 65. - Vgl. den Schlußsatz der „Theoretischen Philosophie" Solov'evs: „Erkenne dich selbst bedeutet: erkenne die Wahrheit. Γ ν ώ θ ι σαυτόν γνώθι την α λ ή θ ε ι α ν . "
234
gisch als das der Intention gegenüber Transzendente und letztlich Unerkennbare definiert, sondern als das, was unbedingt und in allumfassender Ganzheit ist 98 , als die all-eine Wirklichkeit, in der sich der Erkennende schon befindet, bevor und während er sich erkenntnismäßig durch die Intention „in sie hinein qualifiziert" (kacestvovat' ... ν istinu) 99 , das heißt, seine Verbundenheit mit der all-einen Wahrheit erkenntnismäßig nachvollzieht. Wegen dieser erkenntnistheoretisch realistischen Definition der Wahrheit als Ubereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit durch die Einwirkung des wirklich Seienden auf das menschliche Bewußtsein ist bei Solov'ev die Intention mehr als nur das phänomenologisch festzustellende willentliche Streben des Menschen nach der Erkenntnis der Wahrheit. Von ihrem absoluten Ziel her erhält die Intention selbst absolute, ontologische und metaphysische Gültigkeit 100 . Die Intention ist bei Solov'ev letztlich keine andere Grundlage seiner Erkenntnislehre als das mystische Wissen. Beide haben eine phänomenologische Seite: das Denken als Bewußtseinszustand des Menschen, der auf die Wahrheit selbst aus ist. Beide haben ebenso eine metaphysische Seite: die Korrespondenz von phänomenalem Bewußtsein und wirklichem Sein in der all-einen Wirklichkeit oder Wahrheit. Beide sind untrennbar mit der mystischen Erfahrung der all-einen Wirklichkeit und mit dem Glauben an die Existenz dieser Wirklichkeit und Wahrheit verbunden. O b der Ansatzpunkt des vernünftigen Denkens zur Erkenntnis der Wahrheit mystisches Wissen oder Intuition genannt wird, ist deshalb für die Erkenntnislehre Solov'evs ohne Bedeutungsunterschied.
III. Glaube Mystische Erfahrung, mystisches Wissen und Glaube kommen darin überein, daß sie die absolute, transzendente Wahrheit erkennen. Was unterscheidet dann den Glauben von der mystischen Erfahrung und dem mystischen Wissen und was am Glauben ist auch für die mystische Erfahrung und das mystische Wissen charakteristisch? Diesen Fragen gehen wir durch einen genaueren Blick auf die Verwendung des Begriffs „Glaube" bei Solov'ev nach. 1. Allgemeine
Definitionen
Glaube im einzelnen Menschen ist immer ein unmittelbares Geschehen in seinem Bewußtsein. Solov'ev bezeichnet den Glauben (vera) als unmittelbare Überzeugung (ubezdenie) 101 von etwas. Diese Überzeugung ist Ausdruck 98 101
TFIX, 154. 157. K O N II, 328.
99
A.a.O. S. 165.
100
A.a.O. S. 153-155. 161 f. 164-166.
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einer unmittelbaren inneren Gewißheit oder Zuversicht (uverennost') 102 und Zeichen eines unmittelbaren Vertrauens (doverie) 103 gegenüber dem Gegenstand der Uberzeugung. Gewißheit (uverennost') und Vertrauen (doverie) gebraucht Solov'ev auch als Synonyme für Glauben. Sie sind im Russischen vom gleichen Wortstamm (ver-) abgeleitet. Gelegentlich nennt Solov'ev den Glauben verallgemeinernd „unmittelbares Gefühl" (neposredstvennoe cuvstvo) 104 . Denn Vertrauen ist ein Grundgefühl des Menschen. Damit spricht Solov'ev eine feste Verbindung von Glauben und innerem Gefühl an. Keineswegs aber ist für Solov'ev der Glaube identisch mit dem Gefühl. Denn der Glaube hat mehr Aspekte als nur das Gefühl und ist ein selbständiger Bewußtseinsakt des Menschen. Den Glauben als unmittelbare Uberzeugung von etwas bezeichnet Solov'ev als die Behauptung (utverzdenie) 105 und die Anerkennung (priznanie) 106 von etwas als richtig und wahr. Damit verbindet Solov'ev den Glauben mit dem Willen. Aber er ist für ihn nicht nur ein Willensakt wie für Schopenhauer, sondern auch unabhängig vom Willen. Schließlich nennt Solov'ev den Glauben von seinem Resultat her gesehen unmittelbares Wissen (neposredstvennoe znanie) 107 . Es geht im Glauben um ein Wissen von wahr und falsch. Der Akzent in dieser Definition liegt wie bei allen anderen genannten Erklärungen des Glaubens durch Solov'ev auf dem Beiwort „unmittelbar". Eigentlich kann Glaube nicht gleichzeitig Überzeugung und Gefühl, willentliche Anerkennung und Wissen sein. Es handelt sich aber bei diesen Bestimmungen jeweils um eine unmittelbare Überzeugung, ein unmittelbares Gefühl, eine unmittelbare Anerkennung und ein unmittelbares Wissen. Sie sind alle unabhängig von sinnlicher Erfahrung und unabhängig vom Denken, Wollen und Fühlen als Zuständen des Bewußtseins 108 . Sie bezeichnen den Glauben als etwas anderes als das phänomenale Erfahren, Fühlen, Wollen oder Wissen. Daher sind sie gemeinsam möglich.
2. Die Anerkennung der Existenz eines Erkenntnisobjekts Glaube ist nach Solov'ev ein Erkenntnisvermögen, das unabhängig von allen anderen und unmittelbar auf den Erkenntnisgegenstand bezogen ist. So lautet die grundlegende Definition des Glaubens bei Solov'ev: Glaube ist die Anerkennung von etwas als wahr und wirklich seiend vor aller sinnlichen Erfahrung und vor allem theoretischen Denken und unabhängig von allen Empfindungen und logischen Erwägungen 109 . Durch den Glauben wird die 102 104 106 107 109
236
103 Ebd.; T F I X , 108. O D VIII, 128. 105 F N C Z 1,310. K O N II, 333; CB III, 34; TF IX, 106. Art. „Vera", B - Ε , RG XII, 553 (= D G VI, 58). 108 F N C Z I, 305; TF IX, 106, Anm. 3. Vgl. TF IX, 106, Anm. 3. Vgl. Art. „Vera", B - Ε , RG XII, 553 (= DG VI, 58); K O N II, 328; CB III, 32f.
Existenz (bytie, suscestvovanie) eines Gegenstandes unmittelbar anerkannt und überhaupt die Existenz einer äußeren Welt, unabhängig von ihrer Erscheinung (javlenie) in unserem Bewußtsein 110 . Solov'ev nennt den Glauben an die von uns unabhängige Wirklichkeit der Außenwelt als typisches Beispiel für den Glauben schlechthin. Wir erkennen die Existenz der Außenwelt als unbestreitbare Wahrheit an, „obwohl die rationalen Beweise für diese Wahrheit, die die Philosophen bis heute geliefert haben, einer strengen Kritik nicht standhalten" 111 . Daß Solov'ev gerade die Außenwelt als Glaubensinhalt par excellence darstellt, ist Frucht und Folge seiner von uns beschriebenen erkenntnistheoretischen Wende zwischen 1876 und 1877. In den Bezeichnungen, mit denen Solov'ev den Glauben umschreibt, finden wir Parallelen zu seiner Sicht der mystischen Erfahrung, des mystischen Wissens und der Intention. Der Glaube ist direkte Wahrnehmung (vosprijatie) der absoluten Wirklichkeit 112 oder der inneren Wirklichkeit, des Wesens aller Dinge 113 . Er ist also ebenso unmittelbares Erkennen ohne vorgeschaltete einzelne Fakten der Erfahrung und ohne logische Operationen des Denkens wie das Solov'ev für die mystische Erfahrung, das mystische Wissen und die Intention beschrieben hat. Und der Glaube erkennt auch wie die anderen unmittelbaren, mystischen Erkenntnisweisen nicht nur die Existenz einzelner äußerer Objekte und der äußeren Welt überhaupt, sondern auch die übernatürliche, absolute Wirklichkeit, das Wesen aller Dinge, das seiende All-Eine. Dies ist das eigentliche Ziel des Glaubens. Dies ist auch der persönliche Glaube Solov'evs: „Ich glaube nicht nur an alles Ubernatürliche, sondern ich glaube eigentlich nur daran." 114
3. Der Glaube als selbständige im Bewußtsein
Urtatsache
Was unterscheidet dann den Glauben von mystischer Erfahrung und mystischem Wissen? Es ist die Tatsache, daß der Glaube weder eine (unmittelbare) Erfahrung noch ein (unmittelbares) Fühlen, Wollen oder Wissen im menschlichen Bewußtsein, sondern unabhängig von allen diesen psychischen Akten ist. Mystische Erfahrung und mystisches Wissen sind Grenzbegriffe zwischen Phänomenalität und Metaphysik; sie haben eine phänomenale und eine unbedingte, metaphysische Seite. Den Glauben dagegen bezeichnet Solov'ev als eine von allen diesen psychischen Akten losgelöste Urtatsache (fakt pervonacal'nyj) im Bewußtsein115. Natürlich ist diese „Urtatsache" 110 111 112 113 114 115
K O N II, 333; C B III, 34; O D VIII, 128; PB IX, 13. Art. „Vera", a.a.O. S. 553 ( = DG VI, 58). K O N II, 326. K O N II, 8 ff. Brief Nr. 27 an Ν. N. Strachov, Ρ I, 33 (Kursiv nicht im Original). Art. „Vera", a.a.O. S. 553 ( = DG VI, 58).
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auch ein erfahrbarer psychischer Akt, sonst könnte der Mensch gar nichts über ihn aussagen; aber er ist doch ein ganz selbständiger Bewußtseinsakt, „stärker" als faktisch-empirisches Wissen und formal-logische Begründungen 116 . Das liegt daran, daß die Wurzel (koren') und Grundlage des Glaubens außerhalb des Bereichs der äußeren und inneren Erfahrung und der vernünftig-diskursiven Erkenntnis liegt, ja außerhalb des klaren Bewußtseins und damit des gesamten phänomenalen Bereichs überhaupt 117 . Denn der Glaube ist ein übergreifender Akt des menschlichen Geistes (perechvativajuscij akt ducha) 118 , der über die Grenzen unseres phänomenalen Bewußtseins hinausreicht. Solov'ev definiert den Glauben als „Ausdruck der vorbewußten Verbindung (dosoznatel'naja svjaz') des Subjekts mit dem Objekt" 1 1 9 . Der Glaube ist der direkte Ausdruck der metaphysischen Einheit von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt als Teilen des all-einen Seienden. Im Glauben durchdringt der Mensch die Grenze des äußeren Erkenntnisobjekts, erreicht dessen inneres Wesen und vereinigt sich mit ihm 120 . „Der Glaube spiegelt jene einfache und unabweisbare Urtatsache in unserem Bewußtsein wider, daß wir, daß heißt das gegebene Subjekt, ein Teil des allgemeinen Seins, ein Glied des universalen Ganzen sind" 121 . Diese metaphysische Urtatsache nennt Solov'ev vorbewußt. Damit ist nichts Unter- oder Unbewußtes, sondern das Uberbewußte (sverchsoznatel'noe) gemeint, von dem Solov'ev schon in der „Krise der westlichen Philosophie" in Anknüpfung an E.von Hartmann sprach 122 . Die metaphysische Tatsache der All-Einheit des Seins ist dem Bewußtsein durchaus zugänglich, aber nur bruchstückhaft: Sie umfaßt alle Fähigkeiten des Bewußtseins, ist aber selbst viel mehr als das, was das menschliche Bewußtsein erfassen kann. Der Glaube ist nun der Punkt im menschlichen Bewußtsein, in dem sich die Urtatsache der All-Einheit des Seins zuerst manifestiert und damit für den einzelnen in seiner Glaubenserkenntnis auch realisiert, unabhängig von allem Erfahren und Denken des menschlichen Bewußtseins. Damit hat der Glaube eine Doppelbedeutung: er ist Zeugnis unserer Freiheit von allen phänomenalen Erscheinungen und gleichzeitig Ausdruck unserer inneren Verbindung mit allem Seienden 123 . Wir interpretieren die Stellung des Glaubens in der Erkenntnislehre Solov'evs so, daß der Glaube für Solov'ev die letzte Grundlage aller wahren, ontologischen Erkenntnis ist, Grundlage auch der mystischen Erfahrung und des mystischen Wissens. Denn der Glaube ist der tiefste, direkteste und selbständigste Ausdruck der ontologischen Grundlage der Erkenntnis, der inneren Verbindung von Erkennendem und zu Erkennendem 124 . Der Glau116 119 120 122 124
238
1 1 7 Ebd. 1 1 8 CB III, 33. Ebd. Art. „Vera", a.a.O. S. 553 ( = DG VI, 58) (Kursiv nicht im Original). 1 2 1 Art. „Vera", a.a.O. S. 553 ( = DG VI, 58). K O N II, 326. 1 2 3 K O N II, 330. KZF 1,142. Vgl. E. Radlov, Misticizm, S. 290.
b e ist bei S o l o v ' e v d i e e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e
Grundlage des
gesamten
m e n s c h l i c h e n B e w u ß t s e i n s , d i e aus s u b j e k t i v e m , p h ä n o m e n a l e m
Wissen
aufgrund v o n Erfahrung und D e n k e n objektive, ontologische und metaphysische Erkenntnis macht. So ist der G l a u b e der erste u n d wichtigste „schöpferische A k t " 1 2 5 im menschlichen B e w u ß t s e i n . In ihm geschieht das „ Ü b e r f ü h r e n u n s i c h t b a r e r D i n g e " 1 2 6 ins B e w u ß t sein, als das Solov'ev mit d e m H e b r ä e r b r i e f ( H e b r 11,1) d e n G l a u b e n bezeichnet. D e r G l a u b e ist als unwillkürlicher A k t im B e w u ß t s e i n ein mystisches G e s c h e h e n . E r ist aber auch ein A k t des menschlichen Bewußtseins selbst. W e n n Solov'ev ihn einen schöpferischen A k t n e n n t , sind an diesem S c h ö p f e r t u m die all-eine Wirklichkeit selbst in ihrer W i r k u n g auf den M e n s c h e n u n d das menschliche B e w u ß t s e i n in seiner A n n a h m e dieser W i r k u n g beteiligt. I m B e w u ß t s e i n des M e n s c h e n w i e d e r u m ist dies in erster Linie der Wille. D i e A n e r k e n n u n g der unsichtbaren Wirklichkeit u n d die U b e r z e u g u n g von der unsichtbaren Wahrheit sowie das Vertrauen auf sie u n d die E r g e b e n h e i t ihr gegenüber sind alles A k t e des menschlichen Willens, in die sich erst s e k u n d ä r gefühlsmäßige u n d rationale Elemente m i s c h e n 1 2 7 . D a r u m ist der G l a u b e bei Solov'ev i m m e r zuerst im Sinne der U n t e r s c h e i d u n g e n der lutherischen O r t h o d o xie fiducia beziehungsweise fides q u a c r e d i t u r 1 2 8 . D e r G l a u b e ist einerseits die erkenntnistheoretische G r u n d l a g e auch der m y s t i schen E r f a h r u n g u n d des mystischen Wissens. Andererseits sind auch mystische E r f a h r u n g u n d mystisches Wissen A u s d r ü c k e der m e t a p h y s i s c h e n All-Einheit der Wirklichkeit im B e w u ß t s e i n . G l a u b e , mystische E r f a h r u n g u n d mystisches Wissen oder I n t e n t i o n sind gleichermaßen mystische E r k e n n t n i s p r i n z i p i e n . In dieser H i n sicht setzt Solov'ev den G l a u b e n als mystisches P r i n z i p 1 2 9 auch öfters mit der m y s t i schen W a h r n e h m u n g 1 3 0 , d e m mystischen o d e r u n m i t t e l b a r e n W i s s e n 1 3 1 u n d schließlich mit der I n t e n t i o n 1 3 2 direkt gleich. Sie alle sind A k t e des menschlichen B e w u ß t seins, die ü b e r dessen G r e n z e n hinausgehen u n d die ontologische, m e t a p h y s i s c h e G r u n d l a g e aller E r k e n n t n i s b e w u ß t m a c h e n .
4. Die Eigenständigkeit
des Glaubensbegriffs
Solov'evs
F ü r S o l o v ' e v ist d e r G l a u b e n i c h t m i t einer i n n e r e n E r f a h r u n g o d e r e i n e m i n n e r e n G e f ü h l i d e n t i s c h 1 3 3 . D i e s w a r s o bei d e n f r ü h e n S l a v o p h i l e n K i r e e v s kij u n d C h o m j a k o v , d i e d e n G l a u b e n gegen
d i e V e r n u n f t als i n n e r e E r f a h -
125
CB III, 35. K O N II, 328f.; CB III, 34: Der russische Ausdruck „vescej oblicenie nevidimych" bei Solov'ev ist die wörtliche Übersetzung aus dem griechischen Text des Neuen Testaments: „πραγμάτων ελεγχος ού βλεπομένων". 127 K O N II, 328; O D VIII, 128;TFIX, 106; s.o. S. 201 undAnm.533. 128 S.o. Anm. 534 (zu S. 201). 129 K O N II, 13. 130 K O N II, S. X und S. 8. 131 F N C Z I, 305 f. ; TF IX, 106, Anm. 3 ; vgl. £. Radlov, Misticizm, S. 290. 132 S.o. Anm. 178 (zu S. 149) und S. 233. 235. 133 Gegen £. Radlov, Misticizm, S. 287 f. 126
239
rung und inneres, lebendiges Wissen sahen und dem inneren Gefühl zuordneten 134 und die mit dieser Sicht die orthodoxen Theologen des 19. Jahrhunderts in Rußland beeinflußten 135 . Solov'ev hat zwar viel von Chomjakovs Glaubensbegriff übernommen 136 . Aber anders als für Chomjakov ist für Solov'ev der Glaube kein inneres Gefühl oder Wissen, sondern ein selbständiger Akt des Bewußtseins. Er ist zwar mit der inneren Erfahrung der metaphysischen Wirklichkeit, mit dem Willen, mit dem Gefühl und mit dem Denken und der Vernunft des Menschen verbunden. Aber dennoch ist er von allen anderen Akten des Bewußtseins unabhängig. Diese Ansicht ist das philosophisch Eigenständige und zugleich das zutiefst Christliche am Glaubensbegriff Solov'evs: Die einzige Grundlage des Glaubens ist sein Inhalt, die all-eine transzendente Wirklichkeit selbst in ihrer Wirkung auf den Menschen. Diese Wirklichkeit ist Gott selbst, und daher kann Solov'ev den Glauben auch als Geschenk Gottes bezeichnen 137 . Da Solov'ev den Glauben als selbständige und erste Grundlage für alle menschliche Erkenntnis bezeichnet und ihn andererseits mit der Erfahrung und dem Denken des Menschen verbindet, können wir seine Erkenntnislehre als selbständige und weiterführende Uberwindung des Kritizismus Kants bezeichnen. Kant hatte die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis" Sinnlichkeit und Verstand genannt, „die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen" 138 . Im menschlichen Bewußtsein findet Kant die gemeinsame Wurzel nicht. Solov'ev bezeichnet die beiden von Kant genannten Erkenntnismittel als Erfahrung und Denken. Die gemeinsame Wurzel beider hält er im Gegensatz zu Kant für erkennbar: Es ist der Glaube, der im menschlichen Bewußtsein nicht unter Erfahrung und Denken subsumiert werden kann, sondern als selbständige Quelle aller Erkenntnis über die Grenzen des menschlichen Bewußtseins hinausgeht und damit die Wurzel der beiden anderen Erkenntnisvermögen bildet. Solov'ev knüpft an die Erkenntnislehre Kants an und überwindet sie, wobei er die Einseitigkeiten des Positivismus Comtes, der sich nur auf die Erfahrung stützt, und des Idealismus oder „Panlogismus" Hegels, der sich nur auf das Denken stützt, im Sinne Kants vermeidet, aber dennoch die Gefangenschaft des menschlichen Geistes in den Grenzen des menschlichen Bewußtseins überwindet.
134 135
lov. 136 137 138
240
Vgl. £. Radlov, Teorija, S. 154-158; s.o. Anm. 533 (zu S. 201). Vgl. Th.Spácil, Doctrina, Bd. I, S. 330 f. Spácil nennt besonders S.Glagolev und P.SokoVgl. È.Radlov, Teorija, S. 159ff., besonders S. 163f. D O Z III, 315. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 29.
5. Das Verhältnis von Erfahrung, und Glaube zueinander
Denken
Sinnliche E r f a h r u n g , vernünftiges D e n k e n und G l a u b e sind die drei Elemente jeder menschlichen Erkenntnis nach S o l o v ' e v 1 3 9 . E r f a h r u n g und D e n ken sind gleichberechtigte E l e m e n t e im Bewußtsein des M e n s c h e n , der G l a u b e ist ihre g e m e i n s a m e Wurzel u n d der A u s d r u c k der Einheit und Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis. D i e m y s t i s c h e und religiöse E r f a h r u n g u n d das m y s t i s c h e und religiöse Wissen sind bei S o l o v ' e v in dieser V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g im allgemeinen wie der G l a u b e zu betrachten und verhalten sich zur sinnlichen E r f a h r u n g und z u m vernünftig-diskursiven D e n k e n wie der G l a u b e . Wirkliche Erkenntnis setzt E r f a h r u n g und D e n k e n z u s a m m e n v o r a u s 1 4 0 : D i e E r f a h r u n g ist das Material des D e n k e n s , das D e n k e n ist die F o r m , O r d n u n g und S y s t e m a t i s i e r u n g der E r f a h r u n g . Der Glaube ist bei Solov'ev gegenüber aller Erfahrung und allem Denken, auch gegenüber religiöser Erfahrung und religiösem Denken, die erkenntnistheoretische Voraussetzung. Der Inhalt des Glaubens ist nie voll durch die Erfahrung abgedeckt. Die Erfahrung erfaßt gerade als religiöse Erfahrung nur einen Teil dessen, was der Inhalt des religiösen Glaubens ist 1 4 1 . Dies ist ein Hinweis aus der lebendigen Erfahrung darauf, daß der Glaube erkenntnistheoretisch der Erfahrung vorausgeht und sie erst zur Erfahrung der Wirklichkeit macht 1 4 2 . Der Glaube an die Existenz von Erkenntnissubjekt und -objekt in der all-einen Wirklichkeit ist die Voraussetzung jeder wahren Erkenntnis des Menschen: Voraussetzung der Erkenntnis eines jeden äußeren Objekts wie der Erkenntnis des Inneren des Menschen und der Erkenntnis Gottes. Der Glaube ist die Voraussetzung jeder philosophischen metaphysischen Weltanschauung und jeder positiven Religion 1 4 3 . Ohne Glauben wären Erfahrung und Denken nur subjektive Bewußtseinszustände und nicht Vermögen, die das objektive Material beziehungsweise die objektive Form der Erkenntnis geben. Ohne Glaube wären Erfahrung und Denken daher sinnlos 1 4 4 . Andererseits betont Solov'ev immer wieder, daß kein Glaube, auch kein religiöser Glaube, ohne Beziehung zur sinnlichen Erfahrung und zum vernünftigen Denken oder gar gegen Erfahrung und Denken bestehen kann 1 4 5 . Der Glaube ist bei Solov'ev nie leer, blind oder unvernünftig. Denn der Glaube spiegelt zwar die vorbewußte all-eine Wirklichkeit wieder, aber er ist diese Widerspiegelung eben im menschlichen Bewußtsein und steht deshalb mit der Erfahrung und mit dem Denken im Bewußtsein in Verbindung. G l a u b e , E r f a h r u n g und D e n k e n sind bei S o l o v ' e v stets k o m p l e m e n t ä r . Sie sind gleichzeitig im Bewußtsein v o r h a n d e n und bilden z u s a m m e n einen 1 4 0 K O N II, 195. K O N II, 325f.; C B III, 49; O D VIII, 17. 1 4 2 K O N II, 292; D O Z III, 325. PB I X , 15. 1 4 3 O D VIII, 17.22.115. 144 Yg] £ Trubeckoj, Solov'ev i ego delo, S. 76. Ebenso betont L.Shein in seiner Untersuchung der Erkenntnislehre Solov'evs, daß allein der Glaube die Grundlage der objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit bei Solov'ev ist ( L . Sbein, Solov'ev's Epistemology, S. 16). 1 4 5 Gegen A. Vvedenskij, O misticizme i kriticizme, S. 23; gegen E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. II, S. 413. 139
141
241
komplexen Erkenntnisakt. Dabei ergibt sich aus dem Glauben als selbständiger Urtatsache des Bewußtseins die erkenntnistheoretische Reihenfolge: Glaube - Erfahrung - Denken. Im bewußten Erleben des Menschen ergibt sich dagegen meist die phänomenale zeitliche Abfolge: Erfahrung - Denken - Glaube 1 4 6 . Dies gilt auch für den religiösen Bereich. So stehen Glaube, Erfahrung und Denken je nach Art der Betrachtungsweise in einem unterschiedlichen Verhältnis gegenseitiger Begründung und Folge. Das Ergebnis des Zusammenwirkens von Glaube, Erfahrung und Denken im Erkenntnisakt ist ihre gegenseitige Durchdringung. Der Glaube nimmt Elemente der Erfahrung, des Gefühls, des Wollens und Denkens auf. Umgekehrt finden sich Glaubenselemente in der sinnlichen Erfahrung und im logischen Denken. J e unsinnlicher die Erfahrung ist, desto größer ist das Element des Glaubens in ihr. In der unmittelbaren mystischen Erfahrung können wir von einer erkenntnistheoretischen Ubereinstimmung und Identität von Erfahrung und Glaube sprechen: Der Glaube bleibt zwar die erkenntnistheoretische Grundlage auch der mystischen Erfahrung, aber diese Erfahrung ist selbst wie der Glaube unmittelbarer Ausdruck der metaphysischen All-Einheit im Bewußtsein. Das gleiche gilt vom mystischen Wissen als unmittelbarster, nicht diskursiver Form des Denkens. Es ist erkenntnistheoretisch identisch mit dem Glauben. Ein weiteres Resultat ist die bewußte gegenseitige Durchdringung von philosophischem und religiösem Glauben und vernünftigem Denken im ganzheitlichen Wissen. Der Glaube soll nach Solov'ev im Laufe seiner Entwicklung in der Geschichte der Menschheit selbst zu einer Einheit mit der Vernunft werden: zu einem „vernünftigen Glauben" (razumnaja vera) an die Wirklichkeit der äußeren Welt und an die „höhere Wirklichkeit" der göttlichen Welt 1 4 7 . Der unmittelbare Glaube soll ein durch empirisches und logisch-vernünftiges Denken gerechtfertigter philosophischer Glaube werden 1 4 8 . Auch der religiöse Glaube im allgemeinen und die positive Religion des Christentums im besonderen sind für Solov'ev in ihrer entwickelten Phase stets „vernünftiger Glaube". Auch in seiner von einer apokalyptischen Geschichtsauffassung geprägten Spätschrift „Drei Gespräche" bleibt für Solov'ev das Christentum eine Weltanschauung, die historische Glaubenszeugnisse durch die Vernunft rechtfertigt und systematisiert 1 4 9 . Das Ergebnis des Zusammenwirkens von religiösem Glauben, Erfahrung und Vernunft ist bei Solov'ev ein Christentum, dessen Gotteserkenntnis allein auf dem selbständigen Glauben beziehungsweise seinen Äquivalenten mystische Erfahrung und mystisches Wissen beruht, das aber gleichzeitig durch die Erfahrungsund Vernunftelemente in diesem Glauben vor dem kritischen Denken des Menschen gerechtfertigt ist.
146 149
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CB III, 49. T R X , 190.
147
TS 1,239; K O N II, 326. 3 33.
148
O D VIII, 516.
6. Der religiöse Glaube D e r religiöse Glaube an den einen G o t t ist für Solov'ev die Grundlage der Annahme der Offenbarung Gottes und Voraussetzung der religiösen Gotteserkenntnis. N u r im Glauben ist der Mensch der Existenz Gottes unbedingt und völlig gewiß und kann die Existenz Gottes behaupten 1 5 0 . D e r Glaube des Menschen an G o t t und die göttliche Welt wird logisch vorausgesetzt, wenn der Mensch die göttliche Offenbarung a n n i m m t 1 5 1 . D i e Offenbarung ist wiederum Voraussetzung der religiösen Erkenntnis Gottes durch den einzelnen Menschen. So ergibt sich erkenntnistheoretisch die logische Reihenfolge: Glaube an G o t t - Annahme der Offenbarung Gottes in der Erfahrung - Erkenntnis Gottes. I m Erleben des einzelnen Menschen und der Menschheit ganz allgemein ist die phänomenale, zeitliche Abfolge dagegen anders. Hier ist „der Glaube an die Existenz Gottes untrennbar verbunden mit denjenigen Erscheinungen, die in der religiösen Erfahrung gegeben sind und die wir auf die Wirkung der Gottheit auf uns b e z i e h e n . . . D e r Glaube an den christlichen G o t t ist auf seine vollkommene Erscheinung in der historischen Erfahrung der Menschheit gegründet" 1 5 2 . Vom Standpunkt der Erfahrung des Menschen aus betrachtet ist der religiöse Glaube die Anerkennung Gottes auf dessen Sich-Zeigen, auf dessen Offenbarung hin. D i e O f f e n b a rung Gottes in der Erfahrung des Menschen ist so betrachtet die phänomenale Stütze des Glaubens. Sie bewirkt den G l a u b e n 1 5 3 . D e r religiöse Glaube wiederum wandelt und erweitert die religiöse E r f a h r u n g 1 5 4 durch vernünftiges Denken zu reflektierter Gotteserkenntnis. Vom Standpunkt des Erlebens aus ergibt sich also die zeitliche Abfolge: Erfahrung Gottes in seiner O f f e n barung - Glaube an G o t t - Erkenntnis Gottes. Auch an dieser Stelle finden wir wieder bestätigt: Bei Solov'ev stehen Erfahrung und Glaube in einem Verhältnis gegenseitiger Begründung. Phänomenal betrachtet begründet die Erfahrung zeitlich den Glauben, ontologisch betrachtet begründet der Glaube die Erfahrung. Aus dieser stets doppelten Betrachtungsweise Solov'evs heraus ergibt sich auch die doppelte Definition des religiösen Glaubens: „Der Glaube ist zugleich Gabe Gottes (dar Bozij) und unsere eigene freie Tat (svobodnoe delo)." Er ist „das Treffen des menschlichen Herzens mit der ihn suchenden Gnade Gottes" 1 5 5 . In diesen Sätzen Solov'evs ist der doppelte Aspekt des religiösen Glaubens enthalten. Er ist einerseits ein göttliches Geschehen, nämlich die göttliche Gnade und Kraft 1 5 6 , die im Menschen wirkt. Als Ort dieses göttlichen Wirkens im Glauben nennt Solov'ev das menschliche Herz. Andererseits ist der Glaube ein Handeln des Menschen, das sein gesamtes Leben umfaßt: Der Glaube ist eine „sittliche Tat" (nravstvennyj podvig) des Menschen 1 5 7 , er ist das „Resultat eines inneren seelischen Prozesses . . . der Befreiung vom 150 151 154 157
C B III, 33. 3 5 ; vgl. B.Schnitze, Problemejier orthodoxen Theologie, S. 135. 1 5 2 P B I X , 14. 15M2.VPX,40. TS 1 , 2 3 8 ; s.o. S . 1 9 9 Í . 1 5 5 D O Z III, 315. 325. 1 5 6 A . a . O . S. 325. P B I X , 14. E b d . ; T P I X , 85 (Kursiv bei Solov'ev).
243
Schmutz des Lebens (zitejskaja drjan'), der unser Herz erfüllt, und von jenem scheinbar wissenschaftlichen scholastischen Schmutz (skol'naja drjan'), der unseren Kopf anfüllt" 1 5 8 . Der Glaube als sittliches Handeln ist der praktische Gehorsam des Menschen gegenüber Gott in allen Lebensbereichen aus dem religiösen Gefühl der Ehrfurcht (blagogovenie) vor Gott heraus 1 5 9 . Auch hier nennt Solov'ev wieder als den entscheidenden Ort des Glaubens das menschliche Herz. Glaube ist auch als Handeln Sache des Herzens. Daher ist der Glaube für Solov'ev nie eine sittliche religiöse Pflicht, wie es nach den eben angeführten Zitaten scheinen mag, sondern immer herzliches Vertrauen und herzliche und tätige Liebe des Menschen. Schließlich unterscheidet Solov'ev im Christentum den persönlichen religiösen Glauben des einzelnen vom kirchlichen religiösen Glauben der Gemeinschaft. Es steht außer Zweifel, daß bei Solov'ev der kirchliche Glaube gegenüber dem persönlichen Glauben in den Hintergrund tritt. In der Praxis des geistlichen Lebens ist der persönliche Glaube für ihn die Grundlage und die Voraussetzung für die Übernahme des kirchlichen Glaubens durch den einzelnen. Aber auch erkennntnistheoretisch gesehen hat der unmittelbare persönliche Glaube grundsätzlich Vorrang vor dem vermittelten, indirekten Glauben der Kirche. Den „rechtschaffenen Unglauben" des Apostels Thomas zieht Solov'ev allemal erkenntnistheoretisch und auch im geistlichen Leben dem blinden Glauben an die vermittelnde Autorität der Kirche vor. Solov'ev sieht im Heiligen Thomas selbst das Urbild des protestantischen Prinzips des persönlichen Gewissens und der Freiheit und zieht es dem römisch-katholischen Prinzip der Autorität und dem orthodoxen Prinzip der Tradition in seiner Spätperiode eindeutig vor 1 6 0 . Deswegen von einem Subjektivismus in Solov'evs Glaubensbegriff zu sprechen 1 6 1 , ist aber ungerechtfertigt. Solov'ev selbst weist darauf hin, daß auch der religiöse Glaube immer mit Erfahrung und vernünftigem Denken verbunden ist: Auch der religiöse Glaube des einzelnen an die Existenz Gottes wird durch religiöses Denken gewandelt und erweitert und in genaue und vollständige Begriffe von den „Gegebenheiten der historischen religiösen Erfahrung" des Christentums gefaßt 1 6 2 . Das geschieht bei Solov'ev selbst in seiner „freien Theosophie". Es geschieht in anderen Versuchen persönlichen religiösen philosophischen und theologischen Denkens. Es geschah allgemeingültiger, objektiver in der Dogmenbildung der ökumenischen Kirche und geschieht weiterhin im Glauben, in der Theologie und im tätigen Leben der ökumenischen Kirche als der Gemeinschaft aller Glaubenden und Liebenden 1 6 3 . F ü r S o l o v ' e v besteht also nicht die Alternative entweder freier subjektiver G l a u b e o d e r a u t o r i t ä t s g e b u n d e n e r kirchlicher G l a u b e . Vielmehr erweitert und v e r v o l l k o m m n e t sich der persönliche G l a u b e im G l a u b e n der ö k u m e n i schen Kirche. Wir k ö n n e n jetzt auch s a g e n : D e r G l a u b e bei S o l o v ' e v ist s o w o h l die d u r c h die ö k u m e n i s c h e K i r c h e vermittelte G a b e G o t t e s als auch die freie Tat des einzelnen M e n s c h e n . D i e K i r c h e ist nicht nur f ü r das G l a u b e n s w i s s e n , sondern auch f ü r das m y s t i s c h e Wissen aus mystischer E r f a h r u n g b e d e u t s a m . E s ist als unmittelbares Wissen im einzelnen M e n schen als E r k e n n t n i s s u b j e k t b e g r ü n d e t , aber es w i r d wie das Wissen des
158 161
244
159 OD VIII, 104f. TS 1,239. Vgl. B. Schultze, Fundamentaltheologie, S. 24.
160 162
12. VP X, 39; vgl. VSChP IV, 112. PB IX, 14. i « DVR III, 228.
persönlichen Glaubens durch die „freie Theosophie" und durch die ökumenische Kirche, durch ihre Dogmen, ihren lebendigen gemeinsamen Glauben, durch ihr Handeln in der Liebe und durch ihre allgemeine geistige und sittliche Entwicklung erweitert und vervollkommnet. Die ökumenische Kirche hat bei Solov'ev für jegliche Weise der Erkenntnis der Wahrheit erkenntniserweiternde und erkenntnisvervollkommnende Funktion. Dies hat Solov'ev zwar in seinen frühen rein philosophischen Schriften nicht zum Ausdruck gebracht. Es wird aber in vielen seiner Schriften seit den „Geistlichen Grundlagen des Lebens" (1882-1884) deutlich 1 6 4 . Die ökumenische Kirche ist für Solov'ev der O r t aller ganzheitlichen, umfassenden und vollkommenen Erkenntnis der Wahrheit.
IV. Intuition Wir haben die mystische und die religiöse Erfahrung bei Solov'ev als Grenzbegriffe zwischen natürlicher und übernatürlicher Erfahrung, zwischen phänomenalem und metaphysischem Wissen charakterisiert. „Intuition" ist ein Begriff, den Solov'ev in vieler Hinsicht parallel zur mystischen Erfahrung als einer unmittelbaren und metaphysischen Erkenntnisart verwendet. Es soll aber hier deutlich werden, daß die mystische Erfahrung gegenüber der Intuition, dem Glauben und allen Arten „unmittelbaren Wissens" des Menschen dasjenige Element der Erkenntnislehre Solov'evs ist, das den Zusammenhang von phänomenalem und metaphysischem Wissen gewährleistet. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß und wie Solov'ev den Begriff „Intuition" von Spinoza und den Begriff „intellektuelle Anschauung" von Schelling übernommen hat 1 6 5 . Im Endergebnis übernimmt er von beiden die Intuition als besondere Erkenntnisart, aber nicht ihre metaphysischen Begründungen und Konsequenzen.
1. Unmittelbares
geistiges Wahrnehmen und Erkennen
Wenn Solov'ev von Intuition spricht, hat das selbst an den Stellen, w o er sie als „Einbildung" (voobrazenie) bezeichnet, nichts mit Phantasie zu tun 1 6 6 . Intuition ist für Solov'ev weder ungehemmtes Schwelgen in inneren Bildern noch der plötzliche Einfall des Künstlers oder die unvermittelte Idee 164 Vgl. z. B. D O Z III, 386: Solov'ev bezeichnet die Kirche als sich vollendende Gottmenschheit, in der Gott im ununterbrochenen Wirken des Heiligen Geistes fühlbar gegenwärtig ist. In ihr ist darum eine ständig sich vervollkommende Einheit mit Gott möglich, das heißt eine sich vervollkommnende Liebe zu Gott und den Menschen und eine sich vervollkommnende Erkenntnis Gottes. 165 S.o. S. 93 und S. 94 f. 166 K O N II, 337.
245
des Wissenschaftlers. Dies alles ist Phantasie. Davon unterscheidet Solov'ev das, was er Intuition nennt, durch die stets hinzugefügten qualifizierenden Adjektive „geistige", „intellektuelle", „religiöse" oder „mystische" Intuition. Er definiert Intuition (intuicija) vom lateinischen „intueri" (schauen, betrachten) her als „unmittelbares Ersehen oder Wahrnehmen (neposredstvennoe usmotrenie) einer Gegebenheit als wahr, zweckentsprechend, sittlich gut oder schön". Intuition steht im Gegensatz zur Reflexion (refleksija), das heißt dem diskursiven reinen Verstandesdenken. Sie als Tatsache des menschlichen Bewußtseins zu bestreiten, ist nach Solov'ev nicht möglich 167 . Sie ist „Urform des wahren Wissens" 168 . Der Intuition als Erkenntnisart schreibt Solov'ev „unmittelbare Objektivität" (ob"ektivnost') zu 1 6 9 : Die Intuition begründet die objektive Erkenntnis der Wirklichkeit (dejstvitel'nost') ontologisch, geht also über die Grenzen des menschlichen Bewußtseins hinaus und erreicht die Wirklichkeit selbst 170 . Die Intuition nennt Solov'ev statt „Ersehen" (usmotrenie) auch „Betrachtung" (sozercanie). Dies umfaßt die religiöse Betrachtung in der Meditation der verschiedenen Religionen und, von Solov'ev besonders beschrieben, im hesychastischen Gebet der Asketen und Mönche der Ostkirche 171 . Hier ist der letzte Gegenstand der Betrachtung Gott selbst. Meist nennt Solov'ev die Intuition aber intellektuelle Betrachtung oder Anschauung (umstvennoe sozercanie) 172 . Damit ist der gesamte Bereich der menschlichen Erkenntnis angesprochen. Im Bild bleibend erläutert Solov'ev das Geschehen der intellektuellen Anschauung so: Der Inhalt der Intuition „erscheint dem Blick des Intellekts (umstvennyj vzor) auf einmal (razom) in seiner inneren Ganzheit" 1 7 3 . Bisweilen nennt Solov'ev das menschliche Organ der Intuition nicht den Intellekt (um), sondern den Geist (duch) und spricht von „Anschauung des Geistes" (duchovnoe sozercanie) 174 . Wenn er den Geist des Menschen als das eigentliche Organ der Intuition bezeichnet, dann meint dies über die Loslösung vom Sinnlichen hinaus auch die Lösung vom rationalen, diskursiven Denken 1 7 5 , ja sogar vom klaren Bewußtsein. Den Geist (duch) nennt Solov'ev in diesem Zusammenhang den Ort im Menschen, der die Ideen der zu erkennenden wahren Gegebenheiten in sich „in unsichtbarer und unbewußter Tiefe" (nevidimaja, bessoznatel'naja glubina) enthält, also noch unerkennbar, jenseits der Grenzen des phänomenalen Bewußtseins. Erst der Intellekt (um) verwandelt die unbewußten Ideen oder Bilder der Gegebenheiten in Bewußtseinsakte 176 . — Mit dieser Unterscheidung zwischen vorbewußter Intuition des Geistes und bewußter intellektueller Anschauung erhält Solov'ev die Möglichkeit zu erklären, warum nicht alle Menschen in intellektueller Anschauung unmittelbare Erkenntnis der Wahrheit haben. 167 169 172 174
246
Art. „Intuicija", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 182). 1 7 0 A.a.O. S. 3 1 6 - 3 1 8 . F N C Z I, 380. F N C Z I, 316. 340; K O N II, 340. 1 7 5 CB III, 101 ; VSChP IV, 46. KZF1,150.
168 171 173 176
CB III, 65. VSChP IV, 46. CB III, 67. K O N II, 337f.
Wer in der Alltagserkenntnis verharrt, vollzieht nicht den Schritt vom Vorbewußten zum Bewußten. So erklärt sich, daß intellektuelle Anschauung und religiöse Betrachtung Sache weniger Philosophen und Asketen bleibt 177 . Intuition ist ein unmittelbares Wissen und Erkennen. Sie ist als Intuition des Geistes und als intellektuelle Anschauung immer nur das geistige Erkennen der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenhaftigkeit des Erkenntnisgegenstandes. Das sinnliche Material aller Erfahrung, auch der mystischen Erfahrung, wird in der intellektuellen Anschauung in seinem geistigen Wesen unmittelbar, das heißt ohne Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung und des diskursiven Denkens erkannt 178 . Insofern können wir die Intuition als den rein geistigen oder kognitiven Aspekt der mystischen Erfahrung bezeichnen. Die Intuition erkennt nicht einzelne empirische Gegebenheiten, sondern deren allgemeines und ganzheitliches Wesen in der Verbindung mit allem Seienden. Dadurch ist Intuition bei Solov'ev die Grundlage des organischen und ganzheitlichen Wissens 179 .
2. Intellektuelle
Anschauung
Solov'ev nennt die Intuition „mit vielen früheren Philosophen intellektuelle Anschauung" (umstvennoe sozercanie) 180 . Wir haben dargelegt, welche Philosophen er damit meint. Daß der menschliche Geist (νους) das Organ der unmittelbaren Einsicht und Erkenntnis von selbstevidenten Grundsätzen (αξιώματα) und Ideen (ιδέα, είδος) ist, hatten schon Piaton und Aristoteles gelehrt 181 . Dem haben sich die griechischen Kirchenväter in ihrer Terminologie angeschlossen. Sie bezeichnen den νους im Menschen als den Ort der Schau (θεωρία) Gottes. So bezeichnet Pseudo-Makarius den νους als von der Schöpfung her Gott "sehend", Gregor von Nazianz als gottähnliches oder göttliches Erkenntnisvermögen des Menschen, Evagrius als geistigen Sinn, der in der Intuition sein Objekt, nämlich Gott, direkt ergreift 182 . Selbst die klassische patristische Definition des Gebets bei den Kappadoziern als „Aufstieg des νους zu Gott" ist eine christianisierte platonische Wendung 183 .
1 7 8 F N C Z I, 316. 320. Vgl. £. Radlov, Misticizm, S. 293. 1 8 0 F N C Z 1,316. CB III, 97; s.o. S. 2 2 6 - 2 3 0 . 181 Platon, Politela VI, 511 a - d , Opera, ed. I. Burnet, Bd. IV; Aristoteles, Analytica posteriora 1/12, 77b, Opera, ed. W.D. Ross, S. 129f. Vgl. W.Hirsch, Art. „Idee", HWPh Bd. 3, Sp. 711; vgl. L.Eley, Art. „Intuition", HphG Bd. 3, S. 748f. 182 Pseudo-Makarius der Ägypter, Homilía 25, 10, PG 34, 673 C; Gregor von Nazianz, Oratio 28,17, PG 3 6 , 4 8 C ; Evagrius Ponticus, Brief 8,12, PG 32, 265D und 268 A (in PG unter Basilius d. Gr.). 183 Platon, Politela VII, 517b, Opera, ed. I. Burnet, Bd. IV. Vgl. Th.Spidlik, La spiritualité, S. 106 f. 297. 177
179
247
Wenn Solov'ev von Intuition oder intellektueller Anschauung als unmittelbarer geistiger Schau der göttlichen Wirklichkeit spricht, steht er also nicht nur auf dem B o d e n der abendländischen Philosophie von D u n s Scotus bis Schelling, sondern auch auf dem B o d e n der klassischen griechischen P h i l o sophie und der L e h r e der Kirchenväter über die Schau und Erkenntnis G o t t e s . D a v o n ist aber deutlich die Angabe des speziellen O b j e k t s der intellektuellen Anschauung zu unterscheiden, die wir bei Solov'ev finden, nämlich die R e d e von den Ideen. Sie hat im Gegensatz zur allgemeinen R e d e von der geistigen (noetischen) Intuition und Schau oder Erkenntnis G o t t e s im Geist (νους, um) und im H e r z (καρδία, serdce) kaum Anhalt in der kirchenväterlichen Tradition oder in der o r t h o d o x e n Theologie.
2.1 Das Objekt der intellektuellen Die Ideen als metaphysische
Anschauung: Wesen
Intellektuelle Anschauung ist bei Solov'ev die geistige Betrachtung von Ideen (umstvennoe sozercanie idej) 184 . Deswegen spricht Solov'ev auch von „idealer Intuition" (ideal'naja intuicija) 185 . Statt einzelner Erscheinungen der sinnlichen Erfahrung und statt allgemeiner Begriffe des logischen Denkens ist der Gegenstand der intellektuellen Anschauung die „ganzheitliche Idee" (cePnaja ideja) 186 . Darunter versteht Solov'ev den positiven Inhalt und die Eigenschaften des wahrhaft seienden Urprinzips - das, was Gott, der wahrhaft Seiende, denkt, will und empfindet: Das Wahre, Gute und Schöne 187 . Diese ganzheitliche Idee und die weiteren weniger grundlegenden Ideen, die den Inhalt Gottes ausmachen, nennt Solov'ev „göttliche Dinge" (bozestvennye vesci) 188 . Es handelt sich also bei Solov'evs Ideen nach seiner Sicht um metaphysische Realitäten. Jede Idee ist für ihn eine metaphysische Wesenheit (suscnost') 189 , etwas im ontologischen Sinn im metaphysischen Bereich Wirkliches (dejstvitel'noe) 190 . Diese wirklichen Ideen stehen als Inhalt Gottes zwischen Gott und Mensch. Solov'ev entfaltet in seinen frühen Schriften eine regelrechte metaphysische Spekulation über einen Kosmos der Ideen zwischen dem wahrhaft Seienden, also Gott, und den Menschen. Jede Idee ist für Solov'ev ein eigenständiges metaphysisches Wesen (metafiziceskoe suscestvo) 191 , ein metaphysisches, ewiges Subjekt, das zwar Objekt unserer Betrachtung und Inhalt Gottes ist, aber in sich selbst Subjekt seiner eigenen Existenz 192 . Die Idee nennt Solov'ev „Trägerin der Bekundung" (projavlenie) des wahrhaft Seienden in jedem empirisch wahrnehmbaren Gegenstand 193 ; wir könnten im Sinne Solov'evs auch sagen: Mittlerin des Zusammenhangs zwischen Gott und geschaffener, materieller Welt. Inhaltlich ist die Idee das ewige Abbild des wahrhaft Seienden (vecnyj obraz suscego) 194 , also des Inhalts und der Eigenschaften Gottes, seines Denkens, 1 8 5 F N C Z I , 340. 1 8 6 A.a.O. S. 318f. F N C Z 1 , 3 1 6 . 320; CB III, 65. 1 8 8 K O N II, 13. 1 8 9 K O N II, 340. A.a.O. S. 340. 363; CB III, 30. 1 9 0 F N C Z 1,397. 1 9 1 F N C Z 1,404; K O N II, 321, Anm. 100; CB III, 55. 65. 1 9 2 F N C Z I, 363; CB III, 55 . 69. 1 9 3 F N C Z 1,355. 1 9 4 F N C Z I, 355; K O N II, 318. 338. Piaton erklärt die Idee (ιδέα) mit dem Wort „είδος" (Gestalt, Aussehen, Abbild), dem das russische Wort „obraz" entspricht. „Obraz" hat darüber 184 187
248
Wollens und Empfindens. Daher ist der Inhalt der Idee wesenhaft und notwendig 195 . Wir sahen bereits, daß Solov'ev die einzelnen Ideen zu einer ganzheitlichen oder allgemeinen Idee (obscaja ideja) zusammenfaßt, die den Inhalt des all-einen Seienden insgesamt abbildet. Ihr gibt Solov'ev wie Piaton seiner höchsten Idee die Bezeichnung des unbedingten Guten, das das Wahre und Schöne in sich schließt 196 . Später bezeichnet er sie seiner christlichen Theosophie angemessener als die Liebe Gottes 1 9 7 . Die einzelne Idee, die wiederum einzelne empirische Gegenstände in ihrem Bild zusammenfaßt, verhält sich bei Solov'ev wie bei Piaton zur ganzheitlichen Idee wie ein Teil zum Ganzen. Solov'ev spricht von einem Organismus der Ideen, wo Piaton vom Ideenkosmos spricht: Die positive All-Einheit entfaltet sich organisch in hierarchischer Ordnung vom wahrhaft Seienden als der ganzheitlichen Idee oder der Idee aller Teilideen über mehr oder weniger allgemeine Zwischenstufen bis zu den Einzelideen konkreter empirischer Gegenstände. Je konkreter die Idee, desto kleiner ist ihr Inhalt; je breiter ihr Bedeutungsumfang ist, desto reicher ist ihr Inhalt 1 9 8 . Die große Nähe zur Ideenlehre Piatons ist nicht zu übersehen. Solov'ev unterscheidet aber mit der patristischen Theologie zwischen dem unerkennbaren Wesen Gottes (suscestvo) und dem, was am transzendenten Gott erkennbar ist, was Solov'ev hier Idee nennt und was er sonst meist als Wesenheit (suscnost') Gottes bezeichnet hat. Von der platonischen Ideenlehre trennt Solov'ev auch seine Lehre von der All-Einheit des Seins. Die Ideen können bei ihm nichts völlig vom empirischen Sein und vom begrifflichen Denken Getrenntes sein. Im Gegenteil, sie sind als „Träger der Bekundung Gottes" im empirischen Sein die Verbindung zwischen dem unerkennbaren Gott und den wahrnehmbaren Phänomenen. Sie stehen als ewige Abbilder des wahrhaft Seienden auch mit den allgemeinen Begriffen des logischen Denkens in Verbindung wie der Inhalt zur Form des Denkens 1 9 9 . Dennoch müssen wir festhalten, daß Solov'ev hier eine der christlichen Theologie fremde metaphysische Ideenlehre vertritt. Damit geht er in seinem Verständnis der Idee - wie er selbst sieht hinter Hegel und Kant, aber auch hinter die gesamte englische und französische Philosophie auf die antike Philosophie Piatons und des Neuplatonismus zurück 2 0 0 . In der russischen Philosophie wurden dagegen Elemente der platonischen und neuplatonischen Ideenlehre tradiert, die Solov'ev in seinem Denken beeinflußten, besonders bei den Philosophen der Kiever Geistlichen Akademie, V.N. Karpov und P.D. Jurkevic. Karpov (1798-1867) hatte das Gesamtwerk Piatons ins Russische übersetzt. Er sprach in seiner Erkenntnislehre von der metaphysischen Erkenntnis durch Ideen, die den Menschen mit dem metaphysischen Sein verbinden, ihn allerdings noch nicht Gott selbst als den absolut Seienden erkennen lassen 201 . Solov'evs philosophischer Lehrer an der Moskauer Universität, der frühere Philosophieprofessor der Kiever Geistlichen Akademie P.D.Jurkevic (1827-1874), stellte dem Wissen aus der abstrakten rationalen Konstruktion von Begriffen, das das wirkliche Sein nicht erreicht, das Wissen aus der Intuition der metaphysischen Ideen entgegen, das
hinaus die Bedeutung „Bild" (entsprechend dem griechischen ,,είκών") und bezeichnet im Russischen daher auch die Ikonen. 195 198 199 200 201
1 9 6 F N C Z 1 , 3 6 3 ; Ó B I I I , 30. 1 9 7 C B I I I , 57. F N C Z I , 356; C B I I I , 56. A . a . O . S. 6 2 f . ; vgl. V Em, Gnoseologija, S. 191. Mit V. Ern, Gnoseologija, S. 189 gegen E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 257. Art. „Ideja", B - Ε , R G X I I , 5 8 8 f . ( = D G V I , 174f.). Vgl. V.Zen'kovskij, Istorija, Bd. I, S. 3 1 4 - 3 1 6 ; Bd. I I , S. 62.
249
eine Selbstenthüllung des wirklich Seienden im Menschen ist 202 . Das Seiende selbst (suscee), das das Prinzip und die Grundlage der Ideen als Wesenheiten (suscnosti) ist, wird durch die Ideen noch nicht erkannt, sondern erst im Glauben und unmittelbaren Wissen des Herzens 2 0 3 . Solov'ev hatte also keinen weiten Weg, um für seine Ideenlehre Unterstützung bei christlichen Philosophen zu finden. Im Gegenteil, den Genannten ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, daß Solov'ev überhaupt in der Frühperiode seiner Philosophie das unmittelbare mystische Wissen durch die intellektuelle Anschauung von metaphysischen Ideen zu erklären versucht.
2.2 Die „Einbildung" der Ideen im Bewußtsein Innerhalb der Erkenntnisart des Glaubens als der unmittelbaren Uberzeugung und dem mystischen Wissen von der Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt hat die intellektuelle Anschauung nach Solov'ev ihre Aufgabe als „Einbildung" (voobrazenie) der Idee eines Gegenstandes im menschlichen Bewußtsein 204 . „Einbildung" nennt Solov'ev das Eindringen der Ideen (Abbilder) ins menschliche Bewußtsein. Die metaphysischen Ideen formen sich nach Solov'ev unbewußt in der Tiefe des Menschen und treten in der „Einbildung" erst ins Bewußtsein. Dieses Geschehen ist genau betrachtet ein Prozeß in drei Phasen 205 . Zunächst erfaßt der Glaube unmittelbar die Existenz eines Erkenntnisgegenstandes. Darauf erfaßt die „Einbildung" unmittelbar das Wesen des Erkenntnisgegenstandes. Schließlich erfaßt das „Schöpfertum" (tvorcestvo) das phänomenale, aktuale Sein des Erkenntnisgegenstandes. Dieser schöpferische Akt des menschlichen Geistes (duch) bringt die empirischen Empfindungen von einem konkreten Erkenntnisobjekt mit dessen nun schon bewußter metaphysischer Idee in Verbindung, er verkörpert oder inkarniert (voploscaet) die Idee in einem konkreten phänomenalen Gegenstand 206 . Die intellektuelle Anschauung der Ideen schaltet Solov'ev zwischen den ursprünglichen Glauben an die Existenz eines Gegenstandes und das unmittelbare phänomenale Erkennen dieses Gegenstandes. Sie ist dabei das Element der Wesenserkenntnis. Im Akt des unmittelbaren Erkennens sind die drei aufgeführten Elemente vom Erleben des Menschen her jedoch nicht auseinanderzuhalten und zu unterscheiden.
2.3 Die Grenzen der Ideenlehre bei Solov'ev Nicht nur von der phänomenalen Seite erfährt die Rede von der intellektuellen Anschauung der Ideen und deren Einbildung bei Solov'ev eine Relativierung. Von seiner metaphysischen Sicht der All-Einheit der Wirklichkeit her hatte Solov'ev konsequent in der mystischen Erfahrung dieser seienden All-Einheit und im unmittelbaren mystischen Wissen darüber als der rein geistigen Variante der mystischen
202
P.D.Jurkevic,
V. Zen'kovskij,
Serdce, S. 9 0 f f . ; S.Jartnus, Jurkevyc ta jogo filosofs'kaspadscyna, S. lOOf.;
Istorija, Bd. II, S. 62.
203
V Zen'kovskij,
204
K O N II, 326. 331. 340.
206
K O N II, 339. 341.
250
Istorija, Bd. I, S. 3 2 0 f . ; P. D.Jurkevic, 205
Serdce, S. 8 8 - 9 0 .
Z u m Folgenden vgl. K O N II, 333. 3 3 6 - 3 4 2 .
Erfahrung auch das E r k e n n e n der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit eines jeden Gegenstandes verankert. Insofern erreicht die Rede Solov'evs von der intellektuellen Anschauung der Ideen erkenntnistheoretisch nichts, was nicht in den Begriffen der mystischen Erfahrung und des mystischen Wissens enthalten wäre. Sie enthält über das mit „mystischer E r f a h r u n g " und „mystischem W i s s e n " erkenntnistheoretisch G e m e i n t e hinaus allein eine metaphysische Ideenlehre, die zur Klärung des Wesens des unmittelbaren Erkennens der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit der D i n g e überhaupt nicht nötig ist. So ist es nicht überraschend, daß Solov'ev seine Ideenlehre bald ersatzlos aufgab. W i r finden die Ausdrücke „intellektuelle A n s c h a u u n g " 2 0 7 und „Einbildung" und überhaupt die Rede von den Ideen als metaphysischen Wesen auf seine Werke bis 1881 beschränkt. Danach erwähnt Solov'ev weder die genannten Begriffe noch Ansätze einer Ideenlehre. Bemerkenswert ist, daß dies nicht erst im J a h r e 1897 mit dem Erscheinen der ersten Aufsätze der „Theoretischen Philosophie" geschah, sondern bereits viel früher, zu einem Zeitpunkt, der nicht lange nach der von uns gekennzeichneten Wende seiner Erkenntnistheorie im J a h r e 1877 liegt. Wie Solov'ev bereits ab 1877 die Lehre von der Substanz des menschlichen Ich nicht mehr vertrat, weil sie in seiner ganzheitlichen Philosophie der All-Einheit eine rein spekulative und von der Erfahrung nicht gedeckte metaphysische Lehre darstellte, so vertrat er w o h l aus den gleichen Gründen nach 1881 auch nicht mehr die Existenz von Ideen als metaphysischen Wesenheiten. D e r wichtige Unterschied zwischen beiden Veränderungen seiner Metaphysik ist der, daß das Aufgeben seiner Anschauung von der Substantialität des M e n s c h e n die entscheidende Wende in seiner Erkenntnistheorie bedeutet, w ä h rend das Aufgeben der Ideenlehre die grundlegende und kontinuierliche Bedeutung der mystischen Erfahrung und des mystischen Wissens für die Erkenntnislehre Solov'evs bestätigt. E i n anderes Ergebnis des Aufgebens der Ideenlehre ist es, daß der Begriff „Intuition" (intuicija, sozercanie) von Solov'ev fortan wie übrigens auch schon weitgehend vorher identisch mit dem gebraucht wird, was er mystische E r f a h rung und mystisches Wissen nennt.
3. Die Grundlage
der Intuition:
Inspiration
Wie die Möglichkeit der mystischen Erfahrung auf der Offenbarung der Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein beruht, so verhält es sich auch bei der Intuition. Die Grundlage der Intuition ist die Inspiration (vdochnovenie), die Selbstoffenbarung Gottes als des wirklich Seienden in seinem Wirken (dejstvie) auf uns und in uns 2 0 8 . Gott offenbart sich in seltenen Ereignissen dem Menschen direkt als das all-eine Seiende selbst. In diesen Fällen spricht Solov'ev davon, daß die Inspiration den Menschen zur Ekstase (èkstaz) führt und ihn in eine übernatürliche Sphäre hebt 2 0 9 . Diese ekstati2 0 7 Gegen V. Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 62. Zen'kovskij sieht den Gebrauch des Begriffs „umstvennoe sozercanie" (intellektuelle Anschauung) bei Solov'ev auf die „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" begrenzt. Der Begriff läßt sich aber in Solov'evs Schriften bis 1881 nachweisen. 2 0 8 LS, FS, 42; F N C Z I , 321; TR X , 187. F N C Z 1,321.
251
sehe Inspiration erlebt nicht jeder Mensch, obwohl sie jedem grundsätzlich zugänglich ist 2 1 0 . Sie entspricht der mystischen Erfahrung im engen Sinn. Meist aber ist die O f f e n b a r u n g des wahrhaft Seienden seine B e k u n d u n g (projavlenie) in einzelnen empirischen Phänomenen (javlenija), die der Mensch unmittelbar als wahr erkennt. H i e r bleibt die Inspiration dem Menschen unbewußt, er erlebt sie subjektiv nicht. Intuition als menschliches Erkennen und Inspiration als göttliches In-Erscheinung-Treten sind zwei Aspekte eines Geschehens. Es ist ein göttliches und menschliches Geschehen zugleich. Daher setzt Solov'ev auch Intuition und Inspiration bisweilen gleich 2 1 1 . In der Spätphase seines Denkens, in der „Theoretischen Philosophie", drückt Solov'ev diesen Sachverhalt mit dem Begriffspaar „Intention" - „Inspiration" aus. Zur Erkenntnis der Wahrheit ist eine „überpersönliche Inspiration" (sverchlicnoe vdochnovenie) des empirischen Subjekts nötig, die das Bewußtsein des Menschen über seine Grenzen hinaus in das Gebiet der Wahrheit selbst erhebt 212 . Diese übersubjektive und übernatürliche Inspiration bewirkt andererseits im Menschen selbst die Intention (zamysel), die unbedingte Wahrheit zu erkennen 213 . Nur so kann die Wahrheit überhaupt vom Menschen über die Grenzen seines phänomenalen Bewußtseins hinweg erkannt werden 214 . Die Intention ist also wie die Intuition ein übernatürlich inspiriertes unmittelbares Erkennen, ein Zusammenspiel der Inspiration und der schöpferischen Absicht und Fähigkeit des Menschen, die Wahrheit unmittelbar zu erkennen. S.Trubeckoj hat die Intention daher „schöpferische Inspiration" (tvorceskoe vdochnovenie) und „inspirierte Intuition" (vdochnovennaja intuieija) genannt und damit Solov'evs Ansicht sehr treffend interpretiert 215 . Das Zentrum der Wahrheit liegt bei der Intention wie bei der Intuition aufgrund der übernatürlichen Inspiration nicht im erkennenden Ich, sondern dort, von wo das erkennende Ich inspiriert wird: im all-einen Seienden 216 . Durch die göttliche Inspiration haben die menschliche Intuition und Intention die mystische Fähigkeit unmittelbarer metaphysischer Erkenntnis.
4. Intuition
als
Glaubenserkenntnis
Die Intuition als unmittelbares mystisches Erkennen der Wahrheit ist Glaubenserkenntnis. Den Glauben identifiziert Solov'ev zunächst in den „Philosophischen 2 1 1 LS, FS, 42. 2 1 2 T F I X , 157. Vgl. É.Radlov, Misticizm,S.293. A . a . O . S. 161. 164. 2 1 4 Zur genaueren Charakterisierung der Intention in der „Theoretischen Philosophie" s . o . S. 2 3 1 - 2 3 3 . 215 S.Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S.98. S.Trubeckoj weist ebenfalls auf die Parallele zwischen der Intuition in den frühen und mittleren Schriften und der Intention in der „Theoretischen Philosophie" hin. 2 1 6 Vgl. zu dieser Interpretation der Intention bei Solov'ev: 5. Luk'janov, Zametki o teoreticeskoj filosofii, S. 41 f. - E. Radlov hat deswegen die „überpersönliche Inspiration" das „lebendige Zentrum der Erkenntnis" in Solov'evs Erkenntnislehre genannt (E. Radlov, Gnoseologija, S. 318). 210 213
252
P r i n z i p i e n des ganzheitlichen W i s s e n s " stets mit der intellektuellen A n s c h a u u n g 2 1 7 . G e n e r e l l v o n der Identität v o n G l a u b e n u n d intellektueller A n s c h a u u n g bei S o l o v ' e v z u s p r e c h e n , ist a b e r der E n t w i c k l u n g seines D e n k e n s nicht a n g e m e s s e n 2 1 8 . D e n n w i r s a h e n , d a ß S o l o v ' e v in der „ K r i t i k der a b s t r a k t e n P r i n z i p i e n " die intellektuelle A n s c h a u u n g der I d e e n v o m G l a u b e n als d e m tiefsten u n d u n m i t t e l b a r s t e n E r k e n n e n der E x i s t e n z eines j e d e n E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d e s u n t e r s c h e i d e t u n d den G l a u b e n der intellektuellen A n s c h a u u n g v o r o r d n e t . S p ä t e r b e z e i c h n e t S o l o v ' e v die I n t u i t i o n (intuicija, s o z e r c a n i e ) als d i r e k t e s m y s t i s c h e s E r g r e i f e n der inneren E i n h e i t v o n E r k e n n t n i s s u b j e k t u n d - o b j e k t u n d als u n m i t t e l b a r e s E r k e n n e n einer G e g e b e n h e i t als w a h r , w i r k l i c h u n d w e s e n h a f t 2 1 9 , w a s seiner allgemeinen D e f i n i t i o n d e s G l a u b e n s entspricht. A u c h seine D a r l e g u n g der Intention in der „ T h e o r e t i s c h e n P h i l o s o p h i e " e n t s p r i c h t dieser a l l g e m e i n e n B e d e u t u n g v o n „ I n t u i t i o n " u n d „ G l a u b e " . W i r m ü s s e n d a s Verhältnis der I n t u i t i o n z u m G l a u b e n bei S o l o v ' e v also d o p p e l t b e s t i m m e n . Versteht S o l o v ' e v u n t e r I n t u i t i o n die intellektuelle A n s c h a u u n g m e t a p h y s i s c h e r Ideen, d a n n ist sie v o m G l a u b e n u n t e r s c h i e d e n u n d setzt ihn bei der E r k e n n t n i s d e s Wesens der D i n g e v o r a u s . Versteht S o l o v ' e v d a g e g e n unter I n t u i t i o n i m allgemeinen Sinn u n m i t t e l b a r e s geistiges E r k e n n e n , d a n n ist sie identisch m i t d e m G l a u b e n u n d dem mystischen Wissen.
V. Wahrheit Die Möglichkeit und die Art und Weise des menschlichen Erkennens bilden den Hauptgegenstand jeder Erkenntnistheorie. Solov'ev geht es in seiner Erkenntnislehre aber um mehr: Die Wahrheit ist das eigentliche O b jekt und Ziel des Erkennens. D a s Wesen der Wahrheit und die Art ihrer Erkenntnis stehen für Solov'ev in einem Begründungszusammenhang. D i e Beschaffenheit der Wahrheit bestimmt die Art ihrer Erkenntnis durch den Menschen; die Art des Erkennens der Wahrheit spiegelt das Wesen der Wahrheit selbst wider. Insofern bestimmt die Metaphysik die G n o s e o l o g i e Solov'evs. Es gilt aber auch die phänomenologische Sichtweise bei Solov'ev: D u r c h die Besinnung auf die Art des menschlichen Erkennens wird deutlich, was die Wahrheit ist. D i e Untersuchung der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten der Erfahrung, des Denkens und des Glaubens beziehungsweise der Intuition hat deswegen schon ein recht genaues Wissen von dem vermittelt, was nach Solov'ev die Wahrheit ist. Wir überprüfen dies nun durch die Untersuchung dessen, was Solov'ev als Wahrheit bezeichnet. D i e Ergebnisse können die These stützen, daß die mystische beziehungsweise die religiöse Erfahrung die eigentliche Erkenntnisart der Wahrheit bei Solov'ev ist.
S . o . S . 149. 157 f. Gegen E. Radlov, Teorija, S. 163 und D. von Usnadse, Weltanschauung, S. 53. Radlov und von Usnadse identifizieren stets Glaube und intellektuelle Anschauung bei Solov'ev. 2 1 9 VSChP IV, 46; Art. „Intuicija", B - Ε , R G XII, 592 ( = D G VI, 182). 217
218
253
1. Wahrheit - das Objekt des ganzheitlichen
Wissens
Wahrheit (istina) bezeichnet Solov'ev als letztes Objekt des Denkens 2 2 0 . Aber umfassendes Wissen beruht nicht allein auf dem Denken. Wahrheit ist das Ziel alles Wissens oder, wie Solov'ev sagt, „das Objekt des ganzheitlichen Wissens" (predmet cel'nogo znanija) 2 2 1 . Die Wahrheit kann nicht allein Objekt des Denkens sein, sondern ist auch das Ziel des Wollens und Fühlens und des unmittelbaren Wahrnehmens des Menschen 2 2 2 . Wahrheit ist nicht nur das gedanklich Wahre, sondern umfaßt auch das Gute und das Schön e 2 2 3 . Sie ist in einem Wort beschrieben die „allumfassende Ganzheit" (vsecelost'), die in sich immer weiter wächst 2 2 4 . Der Wachstums- und der AllEinheitsgedanke sind im Begriff der Wahrheit für Solov'ev enthalten. A m Anfang meiner Erkenntnis, wenn ich mich unmittelbar erkenne, bin ich selbst die Wahrheit 2 2 5 . Die ganze Wahrheit ist aber viel umfassender, eben alles umfassend, und existiert gewisser als ich selbst in meiner Selbstwahrnehmung. Sie ist alles Seiende, das wahrhaft seiende All-Ganze (istinno suscee vseceloe) 2 2 6 .
1.1 Relative und absolute
Wahrheit
Wahrheit ist Ubereinstimmung von Denken und Sein 227 . Dies ist das eigentliche Ziel der Wahrheit: das Seiende selbst. Aber Erkenntnis, die auf Erscheinungen und Begriffe bezogen ist, ist deswegen noch nicht unwahr. Auch sie ist wahre Erkenntnis, allerdings nur Erkenntnis relativer Wahrheit (otnositel'naja istina), die von den Beziehungen des menschlichen Bewußtseins und dessen Grenzen abhängt. Dem steht die Erkenntnis des Seienden selbst als absolute Wahrheit (absoljutnaja istina) oder Wahrheit in sich (istina ν sebe samoj) gegenüber. Sie ist von den Beziehungen des Bewußtseins unabhängig 228 . Die Wahrheit hat also ein doppeltes Ziel, ohne deswegen selbst doppelt zu sein. Der eine Gegenstandsbereich der Wahrheit ist die relative Realität der Erscheinungen im Bewußtsein (real'nost' javlenij) und der Begriffe im logischen Denken. Der andere Bereich der Wahrheit ist der der transzendenten Wirklichkeit (dejstvitel'nost') des absoluten Urprinzips. Hier ist die Wahrheit nicht im Bewußtsein, sondern im Seienden selbst 229 . Die Wahrheit drückt sich grundlegend und am tiefsten im Seienden selbst aus, ja, sie ist selbst einfach „das, was ist", das Seiende (suscee) 230 , und zwar das unabhängig vom Menschen und seinem Erkennen unbedingt Seiende (bezuslovno suscee) 231 . Die eigentliche und „wesentliche Wahrheit" 232 ist das Übernatürliche, das metaphysisch und wirklich Seiende, das wahrhaft Seiende, und das ist das Absolute
220 223 226 228 230 231
254
2 2 1 A.a.O. S. 307. Z.B. F N C Z 1,25 7. A.a.O. S. 345. 2 2 4 T F I X , 157. 2 2 5 A.a.O. S. 166. A.a.O. S. 3 04 . 2 2 7 T F I X , 100; Art. „Istina", B - E . R G XII, 592 ( = DG VI, 182). F N C Z 1, 310. 2 2 9 Ebd.; F N C Z I, 305; K O N II, 294f. MPN 1, 202 . K O N II, 295; Art. „Istina", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 182). 2 3 2 Ebd. T F I X , 154 .
oder G o t t 2 3 3 . Auf dieser Grundlage drückt sich die Wahrheit aber andererseits auch in der „objektiven Realität", im äußerlich und innerlich Erfahrenen, in den vielen Erscheinungen des Bewußtseins a u s 2 3 4 . Denn sie sind Spiegelungen des wirklich Seienden im Bewußtsein. Sie drückt sich auch in den Gesetzen aus, die das logische und vernünftige Denken aufstellt, und ganz allgemein in den Begriffen des D e n kens 2 3 5 . In diesem gesamten Bereich der relativen Wahrheit muß die Wahrheit zwei Eigenschaften haben: phänomenale Realität (reaPnost') und Vernünftigkeit (razumnost', racional'nost') 2 3 6 . Das Viele (mnogoe) oder das Alles (vse) der Erscheinungen ist der Inhalt oder die Materie der Wahrheit 2 3 7 . Das Allgemeine (vseobscee) und Notwendige oder das Eine (edinoe) in der Vielheit der Erscheinungen ist die Vernunft (razum) oder die F o r m der Wahrheit 2 3 8 . Zusammengefaßt bezeichnet Solov'ev die Wahrheit im phänomenalen Bereich als die Einheit des Vielen im Allgemeinen: das All-Eine (vseedinoe).
1.2 Das seiende
All-Eine
Die Wahrheit ist eine. Eine doppelte Wahrheit ist logisch gesehen keine Wahrheit mehr. Daher ist Wahrheit das seiende All-Eine (suscee vseedinoe) 239 . Das bedeutet, die Wahrheit ist metaphysisch begründet und wirklich (das Seiende, suscee); sie umfaßt alle Phänomene des Bewußtseins und das, was darüber hinausgeht (Alles, vsë); und sie ist allgemein und notwendig (das Eine, edinoe). Das seiende All-Eine ist die ganze und die unbedingte Wahrheit. Wir haben an verschiedenen Stellen der Werke Solov'evs festgestellt, daß nach ihm dasjenige, was über die Grenzen unseres Bewußtseins hinausgeht, nur unmittelbar, auf mystische Weise erkannt werden kann. Die unbedingte Wahrheit, das wahrhaft Seiende, wird also nur „innerhalb von uns selbst... unmittelbar von uns wahrgenommen" (vosprinimaetsja) beziehungsweise sie „offenbart sich uns" unmittelbar (otkryvaetsja) 240 . Mit anderen Worten, die Erkenntnis der unbedingten Wahrheit und damit der Grundlage aller weiteren, phänomenalen Wahrheiten des Bewußtseins geschieht in der mystischen Erfahrung 241 . Wir können das philosophische Verständnis der Wahrheit bei Solov'ev so zusammenfassen: Wahrheit ist nicht die Beziehung des Denkens zum Sein, sondern das Seiende selbst. Deswegen ist die Wahrheit eines Erkenntnisgegenstandes unabhängig von dessen Beziehung zum erkennenden Subjekt. Unter Wahrheit versteht Solov'ev die unbedingte Wahrheit eines Erkenntnisgegenstandes in seiner vom Erkenntnissubjekt unabhängigen Existenz, in seiner Konkretheit (oder phänomenalen Realität) wie in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit (oder Vernünftigkeit). Um diese Wahrheit in allen ihren 233 235 238 241
F N C Z I, 310; Brief Nr. 27 an N . N . Strachov, Ρ I, 33. KON II, 244. 294f. " 6 A.a.O. S. 288. 298. 2 3 9 A.a.O. S. X. 29 7. A.a.O. S. 200. 2 83 . 296 . F N C Z I, 264; K O N II, 298f. 307-309.
234 237 240
KON II, 194. A.a.O. S. 283. 296. A.a.O. S. 307f.
255
Hinsichten zu erkennen, ist zuerst ihre Anerkennung als wahrhaft Seiendes im Glauben nötig. Mit bewußtem Inhalt füllt sich die unbedingte Wahrheit für den Menschen nur in der mystischen Erfahrung, in ihrer unmittelbaren Wahrnehmung. Wahrheit in ihrer Konkretheit erkennt der Mensch durch äußere und innere Erfahrung; Wahrheit in ihrer Allgemeinheit und N o t w e n digkeit erkennt er durch logisches, vernünftiges Denken. Philosophischer Glaube und mystische Erfahrung sind die eigentliche Erkenntnisart der Wahrheit bei Solov'ev. Außere und innere Erfahrung und vernünftiges D e n ken können nur auf deren Grundlage Teilaspekte der Wahrheit erkennen.
2. Gott - die Wahrheit des 2.1 Die Wahrheit der
Glaubens
Theosophie
Die Erkenntnis der unbedingten Wahrheit ist bei Solov'ev das, was Philosophie und Theologie verbindet und was die freie Theosophie seines eigenen Denkens ausmacht. Die Philosophie definiert Solov'ev als Suche nach der unbedingten Wahrheit, von der dem philosophischen Denken nur ein abstrakter Begriff und kein lebendiger, seiender Inhalt bekannt ist 242 . Die Theologie definiert Solov'ev umgekehrt als Reflexion über die in ihrem lebendigen Inhalt als seiendes All-Eine oder Gott dem Glauben und der mystischen Erfahrung offenbarte unbedingte Wahrheit 243 . Im Ziel der Wahrheit sind Philosophie und Theologie von vornherein einig. In der Vorgabe dessen, was sie von der Wahrheit wissen, und im methodischen Umgang mit dieser Vorgabe unterscheiden sie sich. An dieser Stelle verbindet Solov'evs freie Theosophie die Philosophie und die Theologie. Die Grundlage der Theosophie ist die der Theologie: der lebendige Inhalt der unbedingten all-einen Wahrheit, den der Mensch in der mystischen Erfahrung unmittelbar wahrnimmt und erkennt. Die Methode der Theosophie ist aber die der Philosophie. Ihre Werkzeuge sind nicht religiöse Sprache, religiöses Wissen und religiöse Tradition, sondern das Denken der menschlichen Vernunft. So ist Solov'evs freie Theosophie mystische Theologie in ihrer Grundlage und mystische Philosophie in ihrer Sprache und Methodik 244 . Theologie ist ein Bestandteil der Theosophie Solov'evs und gibt ihr den Inhalt vor. Deswegen nennt Solov'ev die unbedingte Wahrheit nicht nur das seiende All-Eine, sondern in mehreren seiner Schriften theologisch gewendet auch den seienden All-Einen oder Gott (Bog) 2 4 5 . „Gott" ist für Solov'ev ein Begriff des religiösen Glaubens, kein Vernunft- oder Erfahrungsbegriff. Deswegen vermeidet er ihn weitgehend in seinen rein philosophischen Schriften, benutzt ihn aber, wenn es um die theosophische Erklärung der unmittelbaren Erkenntnis der unbedingten Wahrheit geht. Er weist beson242 244 245
256
T F I X , 152-154. K O N II, 395; R E U , FS, 291 ( = D G III, 410). Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 244 ( = D G VI, 345). K O N II, 165; ÜB III, 85; R E U , FS, 128 ( = D G III, 151); PB IX, 23.
ders in seinen mittleren und späten Schriften darauf hin, daß „Gott" verglichen mit der „seienden All-Einheit" der umfassendere Ausdruck der unbedingten Wahrheit ist, weil er ihren lebendigen, die Erkenntnis wie das ganze Leben insgesamt umspannenden Charakter betont.
2.2 Die Wahrheit des Lebens - das
Gottmenschentum
Gott ist die Wahrheit des Denkens, des Fühlens und des Handelns - die Wahrheit des gesamten Lebens. In ihm sind Wissen und Leben untrennbar und im Wesen eins. Deswegen ist in Gott das Wahre auch das Gute 2 4 6 . Die allein kognitiv nicht zu erfassende Wahrheit, die das rechte Handeln umfaßt und mit ihm eins ist, hat in der russischen Sprache eine besondere Bezeichnung, die von der Bezeichnung der theoretischen Wahrheit (istina) unterschieden wird: „pravda", die praktische Wahrheit. Solov'ev benutzt das Wort „pravda", um die vom Menschen erkannte und gelebte Wahrheit Gottes auszudrücken. Die Wahrheit (pravda), die Gott entspricht, ist sowohl die Richtigkeit der Erkenntnis Gottes 2 4 7 als auch die gelebte, objektive Gerechtigkeit und sittliche Vollkommenheit 248 . Sie ist für den Menschen nur erreichbar, insofern er nicht nur in theoretischer Erkenntnis, sondern auch in seiner Lebenspraxis eins ist mit Gott. Solange wir nicht in Gott leben und er in uns, solange erkennen wir auch die absolute Wahrheit nicht. Denn die unbedingte Wahrheit ist Gott selbst. Gott selbst ist Mensch geworden, damit wir göttlich werden und so die ganze Wahrheit Gottes, des seienden All-Einen, erkennen. Die von Gott durch seine Inkarnation in Christus selbst bewirkte „innere Vereinigung und gegenseitige Durchdringung von Gott und Mensch" nennt Solov'ev das Gottmenschentum (bogocelovecestvo) 249 . Das Gottmenschentum ist nicht nur Urdogma und Wesen des Christentums, sondern nach Solov'ev auch die „volle Wahrheit" (polnaja istina) der Philosophie und der Theologie gemeinsam 250 . Das Gottmenschentum ist in seiner Theosophie der vollendete Ausdruck der lebendigen all-einen Wahrheit, die Gott ist und den Menschen und alles Seiende mit umfaßt. Es ist deshalb der Schluß- und Höhepunkt der Erkenntnislehre Solov'evs. Das Gottmenschentum Christi (Bogocelovecestvo), die in der Menschheit verwirklichte Wahrheit des seienden All-Einen, ist schließlich die faktische Voraussetzung für jeden Menschen, in Gott zu leben und Gott in sich aufzunehmen, um so Gott als die unbedingte Wahrheit zu erkennen. Andererseits ist das Gottmenschentum (bogocelovecestvo) als innere Vereinigung des Menschen mit Gott das Ziel der Erkenntnis der Wahrheit und des ganzen
246 249
T F I X , 91 f. IDF II, 4 1 0 .
247 250
2 4 8 K O N II, 127; C B III, 8; D O t III, 305. K O N II, 7. K O N II, 323; IBTIV, 287f. 317; I C A K I X , 189.
257
Lebens eines jeden von Gott geschaffenen Menschen. Es ist deswegen das Erkenntnis- und Lebensprinzip des Christentums wie der Theosophie Solov'evs 251 .
2.3 Die kirchliche
Wahrheit
Das erkannte und gelebte Gottmenschentum ist die grundlegende Wahrheit im Denken Solov'evs. Die Erkenntnisart dieser Wahrheit sind nicht nur der philosophische Glaube und die mystische Erfahrung, sondern auch der religiöse Glaube in seiner persönlichen, individuellen und in seiner kirchlichen Dimension. Denn die Wahrheit des Gottmenschentums ist „die vom einzelnen Menschen unabhängige ökumenische Wahrheit" (vselenskaja istilla), der der einzelne sich „durch den sittlichen Akt der Selbstverleugnung freiwillig hingeben muß" 2 5 2 . Der einzelne hat zwar die Möglichkeit zur unmittelbaren Gotteserkenntnis, aber aktuell, umfassend und schließlich vollkommen wird sie erst in der ökumenischen Kirche. Es gilt, in der Gemeinschaft der Kirche die Wahrheit im anderen anzuerkennen, um die selbst erkannte Wahrheit zu erweitern; denn sie ist immer nur eine Teilwahrheit (castnaja pravda) im Vergleich mit der ökumenischen Wahrheit der Kirche (vselenskaja pravda) 253 . Als Bedingung der Annahme und Aufnahme der ökumenischen Wahrheit der Kirche durch die Menschen nennt Solov'ev ihre „gegenseitige brüderliche Liebe" und ihre „freie Einmütigkeit" 254 . Dies ist der erforderliche Akt der Selbstverleugnung, von dem Solov'ev sprach. Wenn er die Liebe als Vorbedingung für die Erkenntnis der ökumenischen kirchlichen Wahrheit nennt, schließt er sich bewußt an Chomjakov an. Chomjakovs Erkenntnisprinzip übernimmt Solov'ev: „Die Wahrheit (istina) wird allein der Liebe gegeben" 255 . Dies gilt bei Solov'ev über Chomjakov hinaus auch für die individuelle Erkenntnis der unbedingten Wahrheit. Das seiende All-Eine wirklich zu erkennen heißt, sich mit ihm zu vereinigen, und das geschieht in der gottmenschlichen Vereinigung in gegenseitiger Liebe. Die Erkenntnis der ökumenischen Wahrheit verlangt aber nicht nur die persönliche liebende Hingabe an Gott, sondern auch die liebende Anerkennung der Wahrheit der eigenen Kirche und der anderen Kirchen sowie die ihr entsprechende gegenseitige Liebe der Christen untereinander256. Nur so erweitert und vervollkommnet sich die in der mystischen Erfahrung und im persönlichen Glauben 2 5 1 IDF II, 410; vgl. S. Trubeckoj, „Solov'ev. Tri razgovora", S. 618; ders., Osnovnoe nacalo, S. 101; s.u. S.329. 2 5 2 VSChPIV, 100 . 2 5 3 A.a.O. S. 111. 2 5 4 I B T I V , 253. 2 5 5 A.a.O. S. 254. Chomjakov bindet die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit an die Liebe der Christen untereinander, das heißt an die Kirche als eines Organismus der Liebe und der Wahrheit. Vgl. M. George, In der Kirche leben, S. 231. 2 5 6 VSChPIV, 111.
258
gewonnene Erkenntnis der Wahrheit des einzelnen. In der Gemeinschaft der ökumenischen Kirche hat der einzelne dann schließlich auch Anteil am Wachstum und an der Entwicklung der Wahrheit in der Kirche. Denn die Kirche als ganze ist die Verwirklichung der Wahrheit oder, wie Solov'ev es nennt, „die Organisation des wahren Lebens" auf der Erde; „die Kirche ist das Gottmenschentum" 257 . Deswegen ist sie das umfassendste Erkenntnisund Lebensprinzip der Theosophie Solov'evs.
VI. Liebe 1. Erkenntnis der Wahrheit allein in der Liebe Religiöse Erfahrung, mystische Erfahrung und Liebe hängen bei Solov'ev aufs engste zusammen. Wir sahen schon, inwieweit er von den griechischen Kirchenvätern die Anschauung des Zusammenwirkens von Liebe, Erfahrung und Erkenntnis Gottes im Herzen des Menschen übernahm 258 , und daß er wie die Kirchenväter die Erkenntnis Gottes als Ergebnis des Kreislaufs des Strebens menschlicher Liebe zu Gott (ερως) und der dem Menschen geschenkten Erfahrung göttlicher Liebe (άγάπη) ansah 259 . Von Chomjakov übernahm Solov'ev die Einsicht, daß die Erkenntnis der Wahrheit nur in der Liebe gegeben ist 260 . Chomjakov meint damit den „Geist der Liebe" als Realität in der sichtbaren Kirche, ohne den man keine wesenhafte Erkenntnis der letzten Wahrheit, das heißt Gottes, haben kann 261 . Solov'ev hat ein weiteres Verständnis der Liebe als Erkenntnisgrundlage. Die Erkenntnis der all-einen Wahrheit in Gott setzt bei ihm die religiöse Erfahrung der ehrfurchtsvollen Liebe des Menschen zu Gott voraus 262 und ebenso die mystische Erfahrung der liebenden Vereinigung Gottes mit dem Menschen 263 , also die phänomenale Tatsache der menschlichen Liebe zu Gott, den Eros des Menschen, und die sowohl phänomenale als auch metaphysische Tatsache der Liebe Gottes, die Tatsache der göttlichen Agape, die den Menschen mit sich vereint. Die eigentliche Erkenntnis der Wahrheit geschieht in der mystischen Erfahrung der Einheit mit Gott. Vorbereitung dazu ist die menschliche Liebe zu Gott. Diese Liebe wiederum isoliert Solov'ev nie von den anderen Bereichen menschlicher Liebe. Menschliche Liebe in allen ihren Formen gilt Solov'ev in der einen oder anderen Weise als Vorbereitung, Durchführung oder Vollendung der mystischen Erfahrung der Vereinigung Gottes mit dem Menschen. Denn die Liebe eines Menschen zu anderen Menschen und zur 257 258 259 261 262
V S C h P IV, 54; IBT IV, 258f. (Kursiv nicht im Original). S.o. S. 1 0 7 f . ; vgl. FTJu 1 , 1 8 5 ; K O N II, 160; DOÌ III, 366. 2 6 0 I B T IV, 254. D O Z III, 341. 365 - 3 72 .
¿4.5. Chomjakov, Cerkov' odna, Polnoe sobranie socinenij, Bd. II, S. 11. 2 6 3 S . o . S . 191 f. 1 9 5 - 1 9 9 . O D V I I I , 196 .
259
gesamten S c h ö p f u n g ist f ü r S o l o v ' e v der sichtbare T y p o s des w a h r e n L e b e n s im anderen, in der All-Einheit statt in der I s o l i e r u n g 2 6 4 . D i e L i e b e hat damit bei S o l o v ' e v außerhalb der b e s o n d e r e n m y s t i s c h e n E r f a h r u n g der Einheit mit G o t t eine D o p p e l f u n k t i o n : Sie ist in aller religiösen u n d alltäglichen E r f a h r u n g die Vorbereitung und die Vollendung der mystischen Erfahrung.
2. Die Vorbereitung der mystischen der Liebe Gottes 2.1 Liebe - das persönliche
Motiv der Theosophie
Erfahrung
Solov'evs
Hinter der zentralen Rolle, die die Liebe als Kraft der Vereinigung in Solov'evs Theosophie der All-Einheit spielt, steht die Liebe als persönliches Motiv des Denkens Solov'evs. Es ist seine Liebe zum unendlichen Gott, die bei Solov'ev wie bei Spinoza als amor Dei intellectualis gleichbedeutend mit dem Philosophieren überhaupt ist 2 6 S . Die Liebe zu Gott ist das Leitmotiv seiner Philosophie 2 6 6 . Sie hat sich in seinem Leben zugespitzt auf seine Liebe zur himmlischen Sophia, der göttlichen Weisheit, die selbst das konkrete göttliche Urbild der Liebe ist 2 6 7 . Es ist die Liebe Solov'evs zur „ewigen Weiblichkeit", wie er sich selbst ausgedrückt hat, und es sind die dieser Liebe entsprechenden persönlichen Visionen der himmlischen Sophia, die seine Philosophie (besonders seine Metaphysik und Kosmologie) mitbestimmt haben 2 6 8 . Weiter konkretisiert hat sich die Liebe in Solov'evs Leben als Liebe zur irdischen Weiblichkeit als dem „von seiner lichten Quelle (sc. der Sophia) nicht zu trennende Strahl ewiger göttlicher Weiblichkeit" 269 . Daß Solov'evs Liebe zu Frauen Zeit seines Lebens „platonisch" blieb, liegt psychologisch gesehen wohl an der Ubermacht seiner geistigen Liebe zum Ewigen, philosophisch betrachtet an seiner Theorie der geschlechtlichen Liebe, die tatsächlich von Piaton herrührt. Bei Piaton fand Solov'ev seine eigene Auffassung bestätigt, daß die körperliche Geschlechtsliebe des Menschen in den höheren, allein sittlichen „geistlichen Eros" umgewandelt werden müsse, um eine Vorbereitung auf das ewige Leben in Gott sein zu können 2 7 0 . Solov'evs eigene „geistliche Liebe" zu bestimmten Frauen hat die Schlüsselrolle mitbestimmt, die er der geistlichen, vom Geschlechtsakt gereinigten Liebe zwischen Mann und Frau in seinem Denken einräumt. Sie ist für ihn der irdische Typos der gleichgewichtigen wechselseitigen und daher idealen Liebe zum anderen, die die Vorbedingung der gelebten und verwirklichten All-Einheit ist 2 7 1 .
2.2 Liebe als Grundlage
des sittlichen
Handelns
Die Liebe zu allen Menschen bereitet nach Solov'ev die mystische Erfahrung der liebenden Vereinigung mit Gott vor. Dies gibt allem Handeln aus Liebe einen 264
266 267 269 271
260
265 Art. „Ljubov"', B - Ε , RG X, 237 (= DG VI, 310). Vgl. SL VII, 56f. E. Tumarkin, Solowjew als Philosoph, S. 84. 268 SL VII, 46; TRX, 218; s.o. S.40. 58f. FNCZI, 376; CE III, 140. 270 ¿ D P IX, 223 f. 229. SL VII, 45 f. SL VII, 58; Art. „Ljubov'", B - Ε , RG X, 236 (= DG VI, 308f.).
h ö h e r e n , m y s t i s c h e n Sinn u n d m a c h t die Liebe z u r universalen G r u n d l a g e alles sittlichen H a n d e l n s . D a s ist sie auch aus d e m G r u n d , daß sie eine universale „ g r o ß e physische u n d moralische Tatsache" 2 7 2 ist. Sie ist nicht n u r ein biologisches u n d emotionales F a k t u m , s o n d e r n auch eine E r s c h e i n u n g des menschlichen Willens u n d damit eine sittliche Tatsache213. So ist die Liebe f ü r Solov'ev s o w o h l p h ä n o m e n a l als auch mystisch betrachtet „die Q u e l l e aller w a h r h a f t sittlichen H a n d l u n g e n " 2 7 4 H a n d l u n g e n , die den M e n s c h e n auf die E r k e n n t n i s der Wahrheit u n d auf die m y s t i sche Vereinigung mit G o t t vorbereiten sollen. In zwei g r u n d l e g e n d e n R i c h t u n g e n definiert Solov'ev das, was er u n t e r Liebe (ljubov') versteht. N e g a t i v definiert er sie als Selbstverleugnung (samootricanie) des M e n s c h e n , d u r c h die er d e n anderen bejaht u n d damit in einem h ö h e r e n Sinn auch sich selbst in der Einheit mit anderen M e n s c h e n b e h a u p t e t 2 7 5 . Die Selbstverleugnung als Weg z u r E r l ö s u n g v o m E g o i s m u s u n d z u r mystischen Einheit mit G o t t ist d e r Weg, den die griechischen Kirchenväter aufgezeigt h a b e n u n d den Solov'ev ihnen e n t s p r e c h e n d a u s f ü h r t . Positiv definiert er die Liebe als Mitleid o d e r Sympathie des M e n s c h e n f ü r andere (miloserdie, sostradanie, socuvstvie, simpatija, zalost', caritas, ά γ ά π η ) 2 7 6 . Mit dieser G r u n d l a g e der Sittlichkeit ist eine zweite, h ö h e r e Stufe der sittlichen Tugend erreicht gegenüber der niedrigeren Stufe des H a n d e l n s aus G e r e c h tigkeit u n d Pflicht. D e n n H a n d e l n aus Gerechtigkeit u n d Pflicht entspricht n u r negativen F o r d e r u n g e n u n d kann gewaltsam e r z w u n g e n w e r d e n 2 7 7 . Liebe als S y m p a thie ist dagegen ein G e f ü h l (cuvstvo) u n d k a n n daher keine Pflicht sein u n d nicht einmal eine b e s t i m m t e , abgegrenzte T u g e n d 2 7 8 . P h ä n o m e n a l betrachtet ist Liebe aber m e h r als n u r ein v o r ü b e r g e h e n d e s G e f ü h l . Als G r u n d l a g e d e r Sittlichkeit ist sie beständiges, im M e n s c h e n eingewurzeltes Mitleid 2 7 9 . Sie ist d e r beständige u n d k o m p l e x e A u s d r u c k aller G r u n d g e f ü h l e der Sittlichkeit: A u s d r u c k des Mitleids (zalost'), der E h r f u r c h t (blagogovenie) u n d der Scham (styd) 2 8 0 . Solov'ev entwickelt seine ganze E t h i k in der „ R e c h t f e r t i g u n g des G u t e n " auf der G r u n d l a g e dieser drei p h ä n o m e n o l o g i s c h e r h o b e n e n U r g e f ü h l e des M e n s c h e n . Auf dieser G r u n d l a g e ist die Liebe der „ k r ö n e n d e A u s d r u c k aller G r u n d f o r d e r u n g e n der Sittlichkeit", die sich aus den natürlichen sittlichen G e f ü h l e n ergeben, wie auch A u s d r u c k aller G r u n d f o r d e r u n g e n der „biblischen E t h i k " : Als Scham entspricht die Liebe d e m G e b o t „ H a b t nicht lieb die Welt n o c h was in d e r Welt ist" (1. J o h 2,15); als E h r f u r c h t u n d Mitleid entspricht die Liebe d e m D o p p e l g e b o t „Liebe G o t t v o n ganzem H e r z e n " u n d „Liebe deinen N ä c h s t e n wie dich selbst" ( M t 22, 3 7 - 4 0 p a r r . ) 2 8 1 .
272
273 F N C Z 1, 349. A.a.O. S. 368. 275 FTJu 1,185; K O N II, 31. F N C Z I , 349; K O N II, 310; CB III, 9. 276 K O N II, 31. 157; O D VIII, 58, Anm. 18. 277 Ebd. Damit wendet sich Solov'ev gegen Kants Pflichtethik. Solov'ev argumentiert mit dem Sympathiebegriff ähnlich wie Schopenhauer: Er schreitet vom Faktum der menschlichen Sympathie zum metaphysischen Prinzip der Liebe voran. In diesem Punkt beruft sich Solov'ev auch ausdrücklich auf Schopenhauer (KZF 1,147). 278 D O É III, 341 ; O D VIII, 130. 279 O D VIII, 58, Anm. 18. 280 Art. „Ljubov"', B - Ε , RG X, 237 (= DG VI, 309). 281 O D VIII, 129f. Vgl. die Zusammenstellung der Aussagen Solov'evs über Scham, Mitleid und Ehrfurcht in seiner „Rechtfertigung des Guten", gesehen unter dem Aspekt der Evolution des Guten in der Geschichte der Menschheit, bei: S. Pöllinger, Die Ethik Wladimir Solowjews, S. 68-85. 274
261
2.3 Bereiche der Liebe als Stufen der Erkenntnis
Gottes
Uberall im Leben muß der Egoismus des Menschen durch die Liebe in Selbstverleugnung und Mitleid durchbrochen und schließlich zerstört werden, damit der Mensch Gott, der die universale Liebe ist, entspricht und ihn so erkennen kann 2 8 2 . Gott, der Liebe ist, kann nur in der Liebe erkannt werden. Diesen Grundsatz seiner Erkenntnislehre wendet Solov'ev auf alle Bereiche des Lebens und auf alle Stufen der Liebe an. Liebe auf allen diesen Stufen ist die Voraussetzung der mystischen Erfahrung und Erkenntnis Gottes. Solov'ev nennt fünf Bereiche der Liebe, die sich wie konzentrische Kreise um den intimsten Bereich der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau allmählich immer weiter ausdehnen 283 . Der erste Kreis der „wahren geschlechtlichen Liebe" (l'amour sexuel véritable) zwischen Mann und Frau besteht in deren wahrer, mystischer und moralischer, von jeder materiellen Leidenschaft freien Liebesbeziehung zueinander. Diese ideale Liebe zwischen Mann und Frau ist die konzentrierteste, konkreteste, tiefste und intensivste Form menschlicher Liebe 284 . Die natürliche, materielle Liebe erweitert diese Beziehung durch die Zeugung von Nachkommen zum zweiten Kreis der Liebe zur Familie. Die Familie ist keine wesenhafte Einheit von Menschen, wie die Einheit von Mann und Frau, aber doch eine reale, kollektive Einheit 285 . Die natürliche, tätige Liebe im allgemeinen Sinn schafft den dritten Kreis der Liebe zur Nation296. Keine Grundlage in einem natürlichen Gefühl der Sympathie mehr hat der vierte Kreis der Liebe zur ganzen Menschheit oder zur universalen Kirche, wie Solov'ev die religiöse Einheit der Menschheit auch nennt. Diese Liebe ist eine gehorsame Liebe der Selbstverleugnung des Individuums und ganzer Völker, ohne die die Einheit der Menschheit nicht möglich wird 2 8 7 . Den fünften und weitesten Kreis der Liebe bildet schließlich die Liebe des Menschen zur ganzen Schöpfung Gottes, zum gesamten belebten und unbelebten Kosmos, wie sie bei einigen wenigen Asketen und Mystikern in der Realität zu finden ist. Diese Liebe ist bereits eine übernatürliche, von Gott dem Menschen eingegebene Liebe, die Geist und Materie vereinigt und die „die göttliche Gnade herabsteigen läßt" 288 . Solov'ev meint damit die Auferstehung des ganzen Menschen mit Seele und Leib am Ende der Zeiten, die er in der frühen und mittleren Periode seines Schaffens als Folge der menschlichen Vervollkommnung in der Liebe verstand. Die konzentrischen Kreise der Liebe reichen also von der natürlichen Liebe in Ehe, Familie und Volk über die soziale Liebe in der Nation und in der ganzen Menschheit bis zur gottmenschlichen Liebe zum ganzen Kosmos. Die mystische Liebe in der rein geistigen Beziehung von Mann und Frau findet ihre Entsprechung in der mystischen Liebe des Menschen zur gesamten Welt. Der Unterschied zwischen diesen beiden mystischen Formen der Liebe, die beide den Menschen zur Einheit mit Gott hinführen, besteht in ihrer je anderen Kraft: Sie ist umgekehrt proportional zu ihrem Umfang. Die geistige Liebe zwischen einem Mann und einer Frau ist in ihrem kleinen Umfang und ihrer Exklusivität entsprechend die stärkste menschliche Liebe, aber sie ist, wenn sie exklusiv bleibt, nur eine andere Form des Egoismus. Die universale Liebe des Menschen zur Welt ist dagegen zwar
282 284 286 288
262
283 REU, FS, 201 (= D G III, 265). Zum Folgenden insgesamt vgl. K O N II, 34f. 285 REU, FS, 296 (= D G III, 417). REU, FS, 201 ( = D G III, 266). 287 Ebd. REU, FS, 201 f. ( = D G III, 265-267). K O N II, 35; REU, FS, 297 ( = D G III, 419).
völlig frei von Egoismus, dafür aber im menschlichen Bereich schwach und in der Realität wirkungslos. Sie kann ihre Wirkung nur von der göttlichen Liebe, mit der sie sich vereint, empfangen 2 8 9 .
2.4 Der Sinn der geschlechtlichen
Liebe im
Liebespathos
Da Solov'ev der geschlechtlichen Liebe die größte Wirkungskraft einräumt, konzentriert er seine mystische Erkenntnislehre ganz auf sie. Wie kommt es, daß gerade die geschlechtliche Liebe, die die Mönchsväter und die Hesychasten mieden, für Solov'ev zum Hauptweg der mystischen Erfahrung wird? Die Antwort liegt darin beschlossen, daß Solov'ev nicht die geschlechtliche Liebe allgemein als Weg zur mystischen Erkenntnis Gottes ansieht, sondern nur ihr rein geistiges Stadium, das er von deren anderen Stadien scharf unterscheidet. Die Liebe zwischen Mann und Frau beginnt zuerst mit dem natürlichen Gefühl der Sympathie. Das zweite Stadium danach ist das Stadium der Verliebtheit (vljublennost') oder des „Liebespathos" (pafos ljubvi) 2 9 0 : Es ist die keusche, rein geistliche Liebe (celomudraja, duchovnaja ljubov') zwischen Mann und Frau 2 9 1 ; es ist der höhere, sittliche Eros Piatons, von Solov'ev allerdings so verstanden, daß er den Körper nicht völlig ausschließt, sondern zugleich geistliche und leibliche Liebe (duchovnaja i telesnaja ljubov') ist 292 . Was Solov'ev positiv unter leiblicher Liebe versteht, macht er nirgends klar. Er hat aber offensichtlich allein die leibliche Auferstehung und das ewige Leben auch des Leibes nach christlichem Verständnis im Auge 2 9 3 . Kommt es durch die ungehinderte geschlechtliche Leidenschaft (polovaja strast'), die eigentlich gar keine Liebe ist, zum Geschlechtsakt und damit zur „verkehrten", nämlich äußerlichen und materiellen Vereinigung von Mann und Frau, so redet Solov'ev vom dritten Stadium der Geschlechtsliebe, der fleischlichen Liebe (plotskaja ljubov') 2 9 4 . Sie ist der niedere, unsittliche Eros, des wahren Menschen unwürdig, von dem sich Piaton in seiner „erotischen Krise" in der Mitte seines Lebens nach Solov'evs Beobachtung lossagte, um ganz zur geistigen Liebe zu gelangen 2 9 5 . Sie ist die „Sünde im Fleisch", von der Paulus spricht (Rom 7,14.23; 8,3). Solov'ev nennt sie den blinden Geschlechtstrieb, der die „tierisch-materielle Vereinigung mit dem anderen" in Taten oder Gedanken zum Ziel an sich macht 2 9 6 . Der Unterschied zwischen dem zweiten und dem dritten Stadium der geschlechtlichen Liebe ist nach Solov'ev radikal. Eine positive Rechtfertigung für die leibliche Sexualität gibt er nirgends. Sie ist für ihn immer sündhaft, da sie im Äußerlichen und Materiellen verhaftet ist. Das vierte Stadium der geschlechtlichen Liebe ist dann die Liebe zu den Folgen der „fleischlichen Sünde", zu den Kindern und zur Familie. Solov'ev sagt viel Positives über diese Liebe. Aber im Rahmen der geschlechtlichen Liebe hat sie keine zur mystischen Erfahrung Gottes führende Funktion. Sie perpetuiert im Gegenteil den Kreislauf von der Sympathie über das wahre Liebespathos zum Sündenfall der fleischlichen Liebe und wieder zur Liebe der Kinder. Aus diesem
289 291 293 295
KON II, 36; LS, FS, 55. O D VIII, 173 ; ZDPIX, 229 . A.a.O. S. 229f. ¿ D P IX, 223f.
«o OD VIII, 171.454. 292 ZOP IX, 229. 294 ΌΟΪ III, 309; SL VII, 33; OD VIII, 78. 29« O D VIII, 78.
263
Kreislauf heraus führt nach Solov'ev allein das Stadium der Verliebtheit oder des Liebespathos von Mann und Frau. Im Liebespathos eröffnet sich für Solov'ev der Sinn der geschlechtlichen Liebe. Denn das Liebespathos vergeistigt den Sexualtrieb 297 . Es ist selbst rein innerliches, „exaltiertes seelisches Gefühl" 2 9 8 . Es ist „syzygisch", das heißt eine liebende Wechselwirkung von Mann und Frau, bei der keiner sich dem anderen unterordnet oder über den anderen sich erhebt 299 . Durch diesen seinen rein geistigen und gleichgewichtigen Charakter führt das Liebespathos zur Personenentdeckung und zur Ewigkeitsentdeckung im geliebten anderen. Der Mensch entdeckt die geliebte Person als Zweck an sich in ihrer unbedingten, ewigen Bedeutung; im Geliebtwerden wiederum entdeckt der Mensch seine eigene unbedingte Bedeutung 300 . Die Folge davon ist der Wunsch und das Bemühen des Menschen, den geliebten anderen nicht auf Zeit und für eigene Zwecke zu gebrauchen, sondern ihn ewig zu lieben und so den Geliebten und sich selbst mit ihm zu verewigen 301 . So können zwei Menschen sich innerlich und wesentlich vereinigen und in dieser Einheit das Bild des ganzen und vollkommenen Menschen wiederherstellen, des Menschen, der den Egoismus überwunden hat 302 . Im Liebespathos sieht Solov'ev die konkreteste und stärkste Form der Überwindung des menschlichen Egoismus. Es ist deswegen für ihn sogar die „unvermeidliche und beständige Bedingung, unter der allein der Mensch wirklich in der Wahrheit sein kann" 303 , das heißt, sich mit Gott vereinigen und ihn so erkennen kann.
2.5 Die „dreieinige
Liebe" als Vorbedingung
der Erkenntnis
Gottes
Nach Solov'ev ist das geistliche Liebespathos der Geschlechtsliebe die notwendige Bedingung für die mystische Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis. Eine Vorbereitung dafür sind aber alle genannten Stufen und Bereiche echter menschlicher Liebe, alles wahrhaft sittliche Handeln aus Liebe. Denn das alles trägt zur Uberwindung des Egoismus bei. Solov'ev faßt das sittliche Handeln als Handeln aus „dreieiniger Liebe" zusammen: Handeln aus mitleidvoller oder herabsteigender Liebe (amor descendens) bei Eltern gegenüber Kindern, in vielen sozialen Bezügen sowie gegenüber der materiellen Natur; Handeln aus ehrfurchtsvoller oder aufsteigender Liebe (amor ascendens) bei Kindern gegenüber Eltern, bei allen Menschen gegenüber Gott und der überirdischen geistigen Welt; schließlich Handeln aus schamvoller und ausgeglichener Liebe (amor aequalis), die sich in der Wechselwirkung der Partner im Liebespathos manifestiert, die aber auch alle sozialen Beziehungen der Menschen zunehmend bestimmen soll 304 . Dieses gesamte Handeln aus „dreieiniger Liebe" ist die praktische Vorbedingung zur wahren Gotteserkenntnis bei Solov'ev.
297
298 A.a.O. S. 454 . SL VII, 26. 30; O D VIII, 454. 300 SL VII, 41 f. 57f. und S. 57, Anm. 11. A.a.O. S. 5. 26. 30. 301 O D VIII, 171. 302 SL VII, 19; O D VIII, 173. Vgl. die Interpretation der Solov'evschen Deutung des Sinns der Liebe von Mann und Frau bei: L. Wenzler, Leidenschaft, die Glaube wird, S . X X I - X X X ; A. Gulyga, Die ewige Sonne der Liebe, S. 98f. 303 SL VII, 19. 304 O D VIII, 515; Art. „Ljubov'", B - Ε , RG X, 236f. (= D G VI, 307-309). 299
264
Abgesehen von seiner platonischen Beurteilung der Geschlechtsliebe steht Solov'ev damit auf dem Boden der biblischen und der allgemeinen christlichen Ethik. In der Zeichnung der Gestalt des Antichrist in seiner „Kurzen Erzählung vom Antichrist" macht Solov'ev klar, daß ohne die selbstentsagende Liebe alle anderen Geistesgaben dem Menschen nichts nütze sind, wie Paulus sagt ( l . K o r 13,1-3), ja daß sie den Menschen geradewegs in die Hände des Teufels führen 3 0 5 . Selbst die Liebe zum anderen Menschen, die sich im Gefühl erschöpft und nicht tätige Liebe und aktive Selbstverleugnung wird, stellt Solov'ev als unwirksam und machtlos gegen die immer vorhandene Selbstliebe des Menschen dar. Auch für die Gottesliebe gilt: Solange sie nur ein religiöses Gefühl bleibt, solange ist sie machtlos gegen die dämonischen Kräfte im Menschen. Solov'ev zeigt dies am Beispiel des Dichters Lermontov 3 0 6 . Darin, daß Solov'ev das Handeln aus Mitleid, Ehrfurcht und Scham und aus Selbstverleugung heraus zur praktischen Bedingung der wahren Gottesbeziehung erklärt, stimmt er auch mit den Kirchenvätern überein. Schließlich nennt Solov'ev wie die Schrift und die Väter als Bedingung und Kriterium wahrer Gotteserfahrung und -erkenntnis den Glauben 3 0 7 . So können wir den folgenden Satz Clemens' von Alexandrien als die Zusammenfassung der Anschauung Solov'evs von der Liebe betrachten: „Diejenigen, die glauben, sind die, die nach den Geboten handeln und besonders die Liebe üben; sie können so auch Gott erkennen, der die Liebe ist" 3 0 8 .
3. Erkenntis
3.1
Wahrheit
ist
der Wahrheit in der mystischen der Vereinigung mit Gott
Erfahrung
Liebe
D i e Wahrheit wird von S o l o v ' e v mit der Liebe gleichgesetzt. D e n n Wahrheit als innere Einheit von E r k e n n e n d e m und E r k a n n t e m ist das E b e n b i l d ( o b r a z ) der L i e b e 3 0 9 ; und Wahrheit als lebendige K r a f t , die den M e n s c h e n aus der L ü g e des E g o i s m u s befreit, ist selbst L i e b e 3 1 0 . Wahrheit so u m f a s send verstanden ist ein metaphysisches Prinzip: das p h i l o s o p h i s c h e Prinzip der universalen Einheit und Integration, das s c h o n E m p e d o k l e s Liebe (φιλ ί α ) nannte, u n d das religiöse Prinzip der L i e b e als lebendiger und persönlicher K r a f t der vereinenden W a h r h e i t 3 1 1 . D e r höchste p h i l o s o p h i s c h e und theologische A u s d r u c k f ü r die Wahrheit, die die L i e b e ist, ist G o t t . Alles moralische H a n d e l n in L i e b e ist f ü r den M e n s c h e n durch das a b s o l u t e und zugleich persönliche m e t a p h y s i s c h e Prinzip m ö g l i c h , das Gott heißt. D e n n G o t t ist die L i e b e 3 1 2 . A l s G o t t e s Inhalt ist die L i e b e einerseits „die höchste und allgemeinste I d e e " , das „universale G e s e t z " des Seins, nämlich die innere Einheit eines jeden G e s c h a f f e n e n mit allem anderen in G o t t 3 1 3 . In der All305
308 309 311 312 ,l3
3 0 6 L IX, 363f. 3 0 7 S.o. S. 238f. T R X , 198. Clemens von Alexandrien, Stromat. V, 13, 1, G C S 15, hrsg. v. O.Stählin, S. 334, 15-19. 3 1 0 S L VII, 15. C B III, 110. Art. „ L j u b o v ' " , B - Ε , R G X , 237 ( = D G VI, 309). K O N II, 310; C B III, 10. K O N II, 170; C B III, 57f.; D O Z III, 365.
265
Einheit ist alles ein einziger Organismus Gottes, der die Liebe ist 3 1 4 . Der Mensch selbst ist in dieser Sicht Solov'evs, die im wörtlichen Sinn „pan-entheistisch" ist, „nur ein untrennbarer Strahl der einen idealen Leuchte - der all-einen Wesenheit" oder des all-einen Gottes 3 1 5 . Andererseits ist die Liebe die Individualisation dieser überpersönlichen All-Einheit, sie ist Gottes Wirkung (dejstvie) in personaler Gestalt. Gott als Liebe ist die „absolute Persönlichkeit" und in Christus die „lebendige, persönliche Kraft", die dem Menschen von Person zu Person begegnet und ihn aus seiner egoistischen Isoliertheit befreit 3 1 6 . Da die Wahrheit in Gott die Liebe selbst ist, kann sie nach dem Grundsatz, daß Gleiches von Gleichem erkannt wird, auch nur in der Liebe erkannt werden. Lebt der Mensch in der Liebe, dann erkennt er auch die Wahrheit. Leonardo da Vinci sah das Verhältnis von Liebe und Erkenntnis umgekehrt. Er prägte den Satz, der sicher für viele Geistesschaffende der Neuzeit charakteristisch ist: „Jede große Liebe ist die Tochter einer großen Erkenntnis" 3 1 7 . Solov'ev dagegen hätte formuliert: „Eine große Erkenntnis ist die Tochter einer großen Liebe" 3 1 8 . Denn die volle Erkenntnis der Wahrheit ist die Folge der umfassenden „dreieinigen" Liebe vom Pathos der geschlechtlichen Liebe bis zur selbstvergessenen Liebe des Menschen zur ganzen Schöpfung. Die Liebe ist die Erkenntnis der Wahrheit 3 1 9 . Die Erkenntnis in der Liebe ist gegenüber der relativen, theoretischen, abstrakten und daher kraftlosen Erkenntnis der Wahrheit die absolute, praktische, lebendige und konkrete Erkenntnis der Wahrheit 3 2 0 . Das Ziel und der Triumph (torzestvo) der Liebe ist nicht die reine Anschauung der Wahrheit als Idee oder Vorstellung (das wäre der Triumph des Verstandes), sondern die Auferstehung des menschlichen Lebens in der lebendigen Vereinigung mit der göttlichen Wahrheit 3 2 1 . Denn an der Erkenntnis der Liebe ist der ganze Mensch mit Leib, Seele und Verstand, mit seinem Herzen, mit äußerer, innerer und mystischer Erfahrung beteiligt. Liebe schafft schon im irdischen Leben eine innere, unzertrennbare wesenhafte Einheit zweier Lebewesen in der wahren geistlichen Liebe zwischen Mann und Frau 3 2 2 . Um so mehr ist sie im Verhältnis des Menschen zu Gott der „göttliche, heilige Funke" (Bozija
Vgl. S. Frank, Duchovnoe nasledie, S. 4. SL VII, 45. 3 1 6 K O N II, 170; OOÍ. III, 365f. 3 1 7 Zitiert in: M.Scheler, Liebe und Erkenntnis, S. 5. 3 1 8 Vgl. B. Vyseslavcev, Serdce, S. 26. 3 1 9 Diese Identifizierung findet Solov'ev bei den griechischen Kirchenvätern (z.B. bei Clemens von Alexandrien, Stromat. II, 31, 1, GCS 15, hrsg. v. O.Stählin, S. 129, 19) und in der Philosophie vor allem bei Spinoza (vgl. Art. „Ljubov"', B - Ε , R G X , 237 ( = D G VI, 310). 3 2 0 SL VII, 15. 18. 27; Art. „Ljubov'", a.a.O. S. 237 ( = D G VI, 310). 3 2 1 SL VII, 18; ZDP IX, 230. 3 2 2 «SB III, 58. 110; D 0 2 III, 309. 314
315
266
svjascennaja iskra), der die wahre innere mystische Vereinigung mit Gott bewirkt 3 2 3 . Die aufsteigende Liebe des Menschen zu Gott erreicht ihren Triumph durch diesen „göttlichen Funken", das heißt dadurch, daß sie Gottes Liebe empfängt und an ihr teilhat 3 2 4 . Die Form dieser Vereinigung kann für den Menschen kaum merklich sein und nur im Glauben erfaßt werden. Sie kann aber auch wie bei Solov'ev selbst die Form der Ekstase der ganz vergeistigten geschlechtlichen Liebe annehmen, eine mystische Erfahrung, die für Solov'ev in den Visionen der himmlischen Sophia gipfelte.
3.2 Liebe und Gnade Gerade an seiner eigenen außergewöhnlichen mystischen Erfahrung wurde Solov'ev klar, daß die Liebe, die den Menschen mit Gott verbindet und die ihn so aus der irdischen Begrenztheit erlöst, ein Gnadengeschenk Gottes (dar Bozij) ist 325 . „Die ewige und unverwesliche Kraft der Gnade" (blagodat') bewirkt die liebende Vereinigung des Menschen mit Gott und mit anderen Menschen 326 . Der Mensch besitzt die Liebe nur durch die Aufnahme und Aneignung der Gnade 327 , und erst durch die göttliche Gnade ist die menschliche Liebe dann auch eine natürliche Tatsache 328 . Sie ist metaphysisch begründet. Dem entspricht, daß alle Liebe bei Solov'ev auf dem Glauben des liebenden Menschen beruht. Erst der Glaube an die All-Einheit alles Seienden und an Gott als die persönliche Kraft der Einheit ermöglicht die Liebe des Menschen zu Gott, und erst der Glaube an die unbedingte Bedeutung des anderen Menschen in Gott ermöglicht die Liebe zu ihm 3 2 9 . Deswegen muß die Liebe des Menschen konkret werden im Gebet, in der Anbetung Gottes wie in der Fürbitte für andere. Wahres Gebet ist wahre Liebe zu Gott 3 3 0 . Schließlich wird in der mystischen Erfahrung der göttlichen Liebe für Solov'ev deutlich: Die menschliche Liebe in ihrer Entwicklung und Vervollkommnung ist die Folge und die Vollendung der mystischen Erfahrung der göttlichen Liebe 331 .
SL VII, 30. 38. LS, FS, 55. Solov'ev gebraucht im französischen Original die Worte „reçevoir" und „participer". Auch hier ist die Parallele zur Ausdrucksweise der griechischen Kirchenväter nicht zu verkennen, in der die wesenhafte Einigung von Gott und Mensch oft als Teilhabe (μέθεξις) beschrieben wird. S.o. Anm. 308 (zu S. 170). Vgl. Th.Spidlik, La spiritualité, S. 51. 3 2 5 SL VII, 25. 3 2 6 A.a.O. S. 38. 3 2 7 A.a.O. S. 42. 3 2 8 A.a.O. S. 25. 3 2 9 A.a.O. S. 43. 3 3 0 Solov'ev argumentiert hier wieder wie Chomjakov, dessen Anschauung er in diesem Punkt hochschätzt. Chomjakov hatte die Liebe als „Gabe des Heiligen Geistes" und als die Grundlage der Kirche und allen menschlichen Lebens bezeichnet. Ebenso hatte er das Gebet den Ausdruck der Liebe zu Gott und den Menschen genannt. Vgl. A. S. Chomjakov, Cerkov' odna, Polnoe sobranie socinenij Bd. II, S. 9. 23. 3 3 1 D 0 2 III, 341. 323 324
267
4. Die Vollendung der mystischen Erfahrung im Lehen des Menschen 4.1 Die Organisation der „dreieinigen in allen Bereichen des Lehens
Liebe"
Die Liebe des Menschen muß durch stete Aneignung der Liebe Gottes entwickelt und vervollkommnet werden. Denn vollkommene Liebe ist nicht einfach ein mystisches Gefühl, sondern „tätiger Glaube" (dejatel'naja vera), „sittliche Überwindungstat" (nravstvennyj podvig) und nicht zuletzt „Arbeit und Mühe" (trud) 332 . Damit das Gute auf Erden wächst und sich vervollkommnet, „muß die dreieinige Liebe des Menschen organisiert werden" : die mitleidvolle, geduldige Liebe in Ehe, Familie und Gesellschaft, die ehrfurchtsvolle, aufsteigende Liebe in der Religion, besonders im Asketismus, und die schamvolle, wechselseitige Liebe in der Beziehung von Mann und Frau, besonders durch das Liebespathos 333 . Es geht Solov'ev um eine ethische Methodik in der Überzeugung, sie sei der geeignetste Weg für alle Menschen guten Willens 3 3 4 , die göttliche Liebe auf Erden triumphieren zu lassen. Es geht Solov'ev um „Theurgie", um die Realisierung des göttlichen Prinzips der Liebe durch den Menschen in der empirischen Wirklichkeit 335 .
4.11 Liebe zwischen Mann und Frau Hinter der Schlüsselrolle, die Solov'ev dem geistlichen Liebespathos in der theurgischen Aufgabe der Vereinigung der Menschheit mit Gott zuschreibt, steht seine besondere Sicht des Verhältnisses von Mann und Frau. Das Ebenbild Gottes (vgl. Gen. 1,27) sind nach Solov'ev nur Mann und Frau in ihrer vollkommenen Einheit 3 3 6 . Die Trennung der Geschlechter ist für Solov'ev - im Gegensatz zum biblischen Schöpfungsbericht - eine Konsequenz des Sündenfalls und ein Zustand der Desintegration der ursprünglichen Einheit, der im Tode enden muß 3 3 7 . Solov'ev übernimmt hier die Vorstellung, die Piaton im Mythos des Aristophanes von der verlorenen androgynen Ganzheit des Menschen im „Symposion" entwickelt 338 . Darauf weist Solov'ev selbst hin 3 3 9 . Nach diesem Mythos war der Mensch ein androgynes kugelgestaltiges Ganzes und wurde erst, weil er den Olymp erobern wollte, von Zeus halbiert. Jeder Mann und jede Frau ist nur eine zerschnittene Hälfte und gewinnt die verlorene Ganzheit durch die Vereinigung mit der verlorenen Hälfte zurück. Die Theorie, daß die Teilung der Menschheit in ein männliches und ein weibliches Geschlecht erst eine Konsequenz des Sündenfalls ist und nicht in Gottes Schöpfung
3 3 3 O D VIII, 515; 2.ΌΡ I X , 234. SL VII, 28 . Das Problem des Bösen, das der wahren Erkenntnis des Guten und seiner Verwirklichung im Wege steht, können wir hier außer acht lassen. Es ändert nicht die Ansicht Solov'evs, daß die Liebe sich tätig verwirklichen muß. 3 3 5 K O N II, 352. 3 3 6 SL VII, 41. 3 3 7 A.a.O. S. 33. 338 Platon, Symposion, 1 8 9 c - 1 9 3 d , Opera, ed. I. Burnet, Bd. II, S. 172ff.; vgl. H.Kuhn, A. Schöpf; Art. „Liebe", HWPh Bd. 5, Sp. 292f. 3 3 9 Z D P I X , 235. 332
334
268
angelegt ist, vertraten aber auch z u m Beispiel G r e g o r v o n N y s s a 3 4 0 u n d andere Kirchenväter. A u c h dies d ü r f t e Solov'ev z u seiner eigenen A n s c h a u u n g verholfen h a b e n , die der biblischen u n d kirchlichen A n s c h a u u n g z u w i d e r l ä u f t , nach der G o t t den M e n s c h e n als M a n n u n d Frau schuf u n d diese S c h ö p f u n g zweier Geschlechter „sehr g u t " w a r (vgl. G e n . 1,27.31). I m R a h m e n seiner T h e o s o p h i e der All-Einheit erscheint die a n d r o g y n e A u f f a s s u n g des idealen M e n s c h e n als innerlich k o n s e q u e n t . D e n n d u r c h diese Vorstellung k a n n Solov'ev das Liebespathos zwischen Mann und Frau ganz in das theurgische Streben nach der Verwirklichung der All-Einheit in Gott e i n o r d n e n . Aus seiner Sicht ist die „geistliche Verliebtheit" von M a n n u n d Frau die „Wiederherstellung der menschlichen Persönlichkeit in ihrer G a n z h e i t " 3 4 1 als „freie Einheit des m ä n n l i c h e n u n d des weiblichen P r i n z i p s " 3 4 2 . Die geschlechtliche Liebe ist so keine individuelle Isolierung zweier M e n s c h e n v o m gesamten historischen P r o z e ß d e r w a c h s e n d e n Verwirklic h u n g der Einheit von G o t t u n d M e n s c h , s o n d e r n im Gegenteil seine k o n k r e t e s t e u n d w i r k s a m s t e Verwirklichung d u r c h zwei M e n s c h e n . N u r d a d u r c h w i r d verständlich, w a r u m Solov'ev die geistliche geschlechtliche Liebe sogar z u r n o t w e n d i g e n Bedingung der mystischen Vereinigung mit G o t t macht. Als Leidenschaft (strast') u n d G e f ü h l (cuvstvo) ist das Liebespathos vergänglich. U m -wirksam zu sein, m u ß es sich in einen beständigen Z u s t a n d zwischen M a n n u n d Frau verwandeln. E r s t als gläubige, beständige Liebe ist das Liebespathos eine sittliche Tat 3 4 3 . Erst in der E h e w i r d die Verliebtheit z u r „ G e d u l d bis z u m E n d e " u n d sogar z u m M a r t y r i u m f ü r den a n d e r e n 3 4 4 . Erst in der Familie wird die Liebe allumfassend, ist sie „dreieinige Liebe". Die eheliche Liebe (supruzeskaja ljubov') ist deshalb f ü r Solov'ev das eigentliche „ u n b e d i n g t sittliche H a n d e l n " 3 4 5 , das die G a n z h e i t des M e n s c h e n wiederherstellt. Die Sprache, die Solov'ev hier v e r w e n d e t , ist etwas i r r e f ü h r e n d . D e n n die eheliche Liebe ist f ü r ihn wie das ideale Liebespathos eine rein „geistliche Sache" ( d u c h o v n o e delo). Sie b e t r i f f t z w a r den ganzen M e n s c h e n , also auch seinen Leib, schließt aber die fleischliche Seite, den Geschlechtsakt, aus. Solov'ev unterscheidet wie Paulus den Leib ( σ ώ μ α , telo) des M e n s c h e n v o n seinem s ü n d h a f t e n Fleisch ( σ ά ρ ξ , plot') u n d n e n n t ü b e r Paulus hinaus gezielt den Geschlechtsakt die „Sünde des Fleisches" 3 4 6 . D e m g e g e n ü b e r steht der Geist des M e n s c h e n ( π ν ε ϋ μ α , duch), der anders als der Intellekt ( ν ο υ ς , u m ) z w a r den Leib des M e n s c h e n mit erfaßt u n d verwandelt, das Fleischlich-Materielle aber ausschließt. W e n n Solov'ev die ideale eheliche Liebe u n d ü b e r h a u p t jede ideale geschlechtliche Liebe als „rein geistliches H a n d e l n " bezeichnet, meint er damit also eine v o m Physischen, v o m Geschlechtstrieb u n d -akt völlig losgelöste Liebe, die m a n nicht m e h r als ganzheitlich bezeichnen k a n n , auch nicht nach seinem eigenen Verständnis geistig-materieller G a n z h e i t . Solov'ev entwickelt ein völlig asketisches Eheverständnis: D i e ideale E h e ist der P r o z e ß d e r W a n d l u n g u n d Vergeistigung der B e z i e h u n g von M a n n u n d F r a u 3 4 7 , eine F o r m innerweltlicher Askese. D i e ideale E h e bedeutet f ü r Solov'ev die geschlechtliche E n t h a l t s a m k e i t 340
Gregor von Nyssa, De virginitate 13 u. 14, PG 46, 375 D - 3 8 4 A, bes. 377 D. REU, FS, 295 (= DG III, 416); SL VII, 29. 342 343 SL VII, 24 - 27. A.a.O. S. 48 f. 344 A.a.O. S. 49. Solov'ev weist hier auf den orthodoxen Ritus der Trauung hin, nach dem die Brautleute Märtyrerkränze oder -kronen tragen zum Zeichen dafür, daß die Ehe im positiven Sinn ein Martyrium der Liebe bis in den Tod ist. 345 3 347 O D VIII, 449. *6 A.a.O. S. 72-79, hier S. 78. A.a.O. S. 449. 453-455. 341
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beider Ehepartner inmitten ihrer lebenslangen geschlechtlichen Beziehung. Nur weil die Menschheit den Punkt der moralischen Entwicklung noch nicht erreicht hat, an dem dies auch realisiert werden kann, läßt Solov'ev den physischen Akt der Zeugung als „zur Zeit noch notwendigen Weg" zur Erreichung der zukünftigen idealen Ehe durch die so geborene Nachkommenschaft gelten 348 . Mit dieser Konstruktion gesteht Solov'ev unbewußt selbst ein, daß sein Ideal der geschlechtlichen Enthaltsamkeit in der Ehe als der vollen Lebensgemeinschaft von Mann und Frau nicht nur eine Paradoxie, sondern auch eine Utopie ist 3 4 9 . Die Befreiung der menschlichen Liebe von ihrem fleischlichen Aspekt ist eine Aufgabe, die nach dem Neuen Testament und den Kirchenvätern gerade Sache der Ehelosigkeit ist und daher das mönchische Ideal wurde. In der Ehe als dem gottgewollten Ort auch der physischen Liebe von Mann und Frau wird dies in aller Regel eine Utopie bleiben 350 und kann nur im eschatologischen Kontext sinnvoll sein. In diesem Bewußtsein, daß das Ende der Welt nahe sei, hat Solov'ev aber immer stärker in seinen späten Jahren gelebt. So erklären wir seine asketische Theorie der geschlechtlichen Liebe aus seinem eschatologischen Bewußtsein heraus, daß die Bedeutung irdischer Zeitabläufe und äußerer Institutionen mindert. Wie sonst ist es zu erklären, daß Solov'ev in seiner späten Schrift „Das Lebensdrama Piatons" (1898) im Gegensatz zu seiner noch in der „Rechtfertigung des Guten" (1894-1897) ausgedrückten Anschauung die Ehe nur noch als einen „mittleren Weg" der Liebe bezeichnet? Solov'ev übernimmt hier zustimmend Piatons Vorstellung von átn fünf Wegen des Eros. Nach den niederen höllischen und tierischen Wegen des Eros ist der dritte Weg der Ehe nur eine gesetzliche und vernünftige Zwischenstation des Eros; der vierte Weg der Askese ist verglichen mit der Ehe ein höherer, reinerer, aber dennoch negativer Weg der Liebe, nämlich der Weg der Enthaltsamkeit; der fünfte und höchste Weg der vergöttlichenden Liebe führt zur Vergöttlichung (θέωσις), zur völligen Vereinigung mit Gott. Von der Ehe redet Solov'ev in diesem Stadium nicht mehr, wohl aber von der „positiven Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips" zum androgynen ganzen Menschen in einer ausschließlich geistlichen Liebe 351 . Schon früher hatte Solov'ev die im übrigen schon im Neuen Testament zu findende Auffassung vertreten, daß die „rein geistliche Liebe" (cistaja duchovnaja ljubov') nur der Weg „für wenige Auserwählte" sei 352 . Die Masse der Menschen folgt offenbar dem Weg der ehelichen Liebe im fleischlichen Sinn. Daß die völlige Vergeistigung der geschlechtlichen Liebe, die Solov'ev für den konkretesten und wirksamsten Weg zur Vergöttlichung des Menschen hielt, kaum in der Ehe stattfindet, hat Solov'ev schließlich selbst gesehen, aber keinen Hinweis mehr gegeben, wie er sich stattdessen die Verwirklichung dieser Vergeistigung vorstellt. So bleibt der grundsätzliche Widerspruch in Solov'evs Theorie der Geschlechtsliebe ungelöst bestehen, daß einerseits nur das
348
A . a . O . S. 456.
E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 619. E.Trubeckoj nennt den „Sinn der Liebe" eine ebensolche Utopie wie Solov'evs Vorstellungen über die „wahre Theokratie" in Kirche und Staat. 350 Vgl. Ph. Sherrard, The Meaning of Sexual Love, S. 570 ff. Sherrard legt auch überzeugend dar, daß Solov'evs Theorie des wahren androgynen Menschen die Eigenständigkeit der Frau mißachtet und sie zum Mittel des Mannes degradiert, sein verlorenes weibliches Wesen wiederzuerlangen. 349 Vgl.
351 352
270
¿ D P I X , 2 3 1 - 2 3 4 . Vgl. SL VII, 40.
A. Gulyga, Die
ewige Sonne der Liebe, S. 101 f.
Miteinander von Mann und Frau zu ihrer inneren Vereinigung und dadurch zur Vereinigung des ganzen Menschen mit Gott führt, und daß andererseits dies nur durch völlige geschlechtliche Enthaltsamkeit möglich ist. Außerdem bleibt bei Solov'ev die Frage unbeantwortet, wie sich sein Beharren auf der geistigen geschlechtlichen Liebe als notwendiger Bedingung zur Vereinigung des Menschen mit Gott zur bewußten oder ungewollten Ehelosigkeit verhält. Die praktischen Konsequenzen seiner Theorie der Geschlechtsliebe, die von jedem Menschen zugleich geschlechtliche Liebe und Askese fordert, hat Solov'ev offensichtlich nicht durchdacht. Das stellt seine gesamte Theorie in Frage.
4.12 Liebe in Kirche und Gesellschaft Die Vollendung der mystischen Erfahrung der Liebe Gottes in der tätigen Liebe geschieht nicht nur individuell. Der Ort in der Gesellschaft, an dem die Liebe das sittliche Grundprinzip in jeder Hinsicht ist und sein soll, ist die ökumenische KircheiS3. Solov'ev hat sein ganzes Leben über den Standpunkt Chomjakovs geteilt, daß die brüderliche Liebe der lebendige Ursprung und das Wesen der Kirche ist 3 5 4 oder, wie Chomjakov es selbst sagte, „die Krone und Ehre der Kirche" 3 5 5 : Die Kirche ist „der Organismus der Wahrheit und der Liebe" auf Erden 3 S 6 . Sie organisiert nach Solov'ev das wahre Leben und die wahre Erkenntnis in der Liebe. Wie sie die Erkenntnis der Wahrheit organisiert, haben wir dargestellt 357 . Die Organisation des wahren Lebens in der Kirche stellt sich Solov'ev als große Synthese der Charismen dreier verschiedener Amter vor: als Synthese aus dem Priestertum und dem Papsttum, das heißt aus der kirchlichen Gewalt ohne weltliche Macht, aus dem christlichen Königtum, dem Volk und dem Staat, das heißt aus der staatlichen Gewalt mit weltlicher Macht, und aus dem Prophetentum, das die universale Bruderschaft und das vollkommene Reich der Wahrheit und Liebe unter den Menschen gewaltlos und frei verkündigt 358 . Solov'ev sieht sich selbst als Vertreter des Prophetentums. Er prophezeit der politischen Gesellschaft die Uberwindung des nationalstaatlichen Egoismus in der politischen Organisation der Gesamtmenschheit sowie die Synthese aus individueller Freiheit und Gemeinschaftlichkeit 359 . Der Kirche prophezeit So-
K O N II, 180. O N D I V , 202; IBTIV, 253. Daran änderte auch Solov'evs Anerkennung der Notwendigkeit des Papsttums als zentrales Organ der Einheit der Kirche nichts (vgl. IR, FS, 97 f. = DG III, 75-77). 355 A.S. Chomjakov, Cerkov' odna, Poln. sobr. soc. Bd. II, S. 6. 3 5 6 A.a.O. S. 5. 3 5 7 S.O.S.258. 358 ¡ B T IV, 258 f. Die drei Ämter Christi, von denen die christliche Dogmatik spricht - das Priestertum, das Königtum und das Prophetentum - überträgt Solov'ev hier auf die Organisation der universalen Kirche. 3 5 9 K O N II, 122. 126; O D VIII, 234. 242. Auf Solov'evs in den 80er und 90er Jahren immer pessimistischer werdende Beurteilung der Rolle der russischen zaristischen Staatsmacht und Rußlands überhaupt in dieser allgemeinen politischen Entwicklung der Menschheit können wir hier nicht eingehen. Hingewiesen sei nur auf seine scharfe Kritik am nominellen Christentum in Rußland, an dessen Selbstzufriedenheit und an der mangelnden Bereitschaft in Kirche und Gesellschaft Rußlands, auch in der „Welt", und nicht nur in asketischer Weltflucht, nach der 353
354
271
lov'ev den Sieg der brüderlichen Liebe in ihr über die Trennungen zwischen Orthodoxen, Katholiken und Protestanten.
4.2 Das Ziel der Liebe Das Ziel aller menschlichen, von Gottes Gnade inspirierten und bekräftigten Liebe ist nach der mystischen Erfahrung der punktuellen Vereinigung mit Gott die vollkommene und beständige Einheit mit Gott. Wir zeigten bereits die Ziele der beständigen Vereinigung des Menschen mit Gott auf. Wir fassen sie hier zusammen, um die Ubereinstimmung Solov'evs mit der Soteriologie der griechischen Kirchenväter und der orthodoxen Kirche zu betonen. Als Ziel der Erlösung des Menschen von seiner Getrenntheit von Gott nennt Solov'ev nicht die Rechtfertigung des Sünders, wie die reformatorische Theologie - das wäre für Solov'ev als orthodox geprägten Denker keine genügend konkrete, die Leiblichkeit des Menschen positiv berücksichtigende, oder wie Solov'ev sagen würde, keine genügend „ganzheitliche" Kategorie der Erlösung. Mit den Begriffen und Inhalten der Vätertheologie nennt Solov'ev stattdessen als Ziele der Erlösung des Menschen durch die gottmenschliche Liebe Christi: die volle Vergeistigung (oduchotvorenie) des Menschen 360 , seine Verklärung (prosvetlenie) 361 , seine volle Unsterblichkeit (bessmertie) 362 und seine leibliche Auferstehung (telesnoe voskresenie) 363 , und schließlich seine Vergöttlichung oder Vergottung (obozestvlenie, obozenie) 364 . Die Erlösung des Menschen durch die Liebe Gottes und die wahre „dreieinige" Liebe des Menschen haben also das gleiche Ziel: die Vereinigung des ganzen Menschen aus Leib und Seele mit Gott. Denn göttliche und menschliche „wahre geistliche Liebe ist keine Abtrennung des Unsterblichen vom Sterblichen, des Ewigen vom Zeitlichen, sondern die Verwandlung des Sterblichen ins Unsterbliche, die Aufnahme des Zeitlichen ins Ewige" 365 . Die Vergottung des Menschen als Ziel aller göttlichen und menschlichen Liebe ist das verwirklichte Gottmenschentum366, die verwirklichte innere Einheit von Gott und Mensch. Das Gottmenschentum ist der Triumph der göttlichen und der wahren menschlichen Liebe. Das Gottmenschentum ist der letzte Sinn der Liebe und des Lebens.
christlichen Vollkommenheit zu streben. Vgl. dazu EChV IV, 160-185, bes. 173-179; N V R V, 1-401, bes. 82-147. 352-365; USM VI, 381-393, bes. 389-393; VR VII, 283-325, bes. 285-289. 315-325. Vgl. auch die Darstellung der Kritik Solov'evs an Kirche und Staat in Rußland bei D.Strémooukhoff, Messianic Work, S. 185-192 und bei J.Sutton, Vladimir Solovyov, S. 254-277. 360 361 362 SL VII, 30 . 51. A.a.O. S. 30 . A.a.O. S. 31. 51 ; ¿ D P IX, 230. 363 364 365 SL VII, 40; ¿DP IX, 229f. O D VIII, 455; É D P I X , 23 3 . SLVII,40. 366 Vgl. ¿ D P IX, 234.
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5. Liebe und mystische Erfahrung So erlangt die Liebe als göttliche Gabe und menschliche Aufgabe eine allumfassende Bedeutung im Denken Solov'evs. Sie ist der Weg zur Erkenntnis aller Wahrheit und zur mystischen Vereinigung mit G o t t ; sie bewirkt die Rechtfertigung, Erlösung und Verwandlung des Menschen 3 6 7 zum ewigen Leben in Gott. Eine phänomenale Analyse der menschlichen Liebe als Modus der wahren Erkenntnis Gottes und als Vorbereitung der liebenden Vereinigung des Menschen mit Gott finden wir bereits in Solov'evs „Kritik der abstrakten Prinzipien". Was Solov'ev hier und später in der „Rechtfertigung des Guten über die Liebe als Form unmittelbarer wahrer Erkenntnis sagt, entspricht dem, was kurz zuvor Brentano in seiner „Psychologie vom empirischen Standpunkt aus" als die unmittelbare Evidenz der Erkenntnis in der Liebe bezeichnet hatte, die sich aus dem Begriff der Liebe selbst ergibt 3 6 8 . Gleichzeitig erklärt Solov'ev von der „Kritik der abstrakten Prinzipien" bis zum „Lebensdrama Piatons" die Liebe metaphysisch als allumfassendes Prinzip des Seins. Beide Analysen ergänzen sich. Die phänomenologische Analyse dient als Heranführung an die metaphysische Wirklichkeit. Von einer völligen Abwechslung der Metaphysik durch die Phänomenologie in den Spätschriften Solov'evs kann für den untersuchten Themenbereich der Liebe und der mystischen und religiösen Erfahrung keine Rede sein 3 6 9 . Die Untersuchung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Liebe bei Solov'ev bestätigt insgesamt das Ergebnis der Untersuchung der mystischen und religiösen Erfahrung in seinem Denken. Nach der erkenntnistheoretischen Wende Solov'evs 1877 zur mystischen Erfahrung als Grundlage aller wahren Erkenntnis hat sich seine Erkenntnislehre nicht mehr in wesentlichen Punkten verändert. Die Liebeserfahrung ist als eine Konkretion der Rede Solov'evs von der mystischen Erfahrung zu betrachten. Wesen und Funktion beider sind die gleichen. Beide sind auf die vollkommene Vereinigung von Subjekt und Objekt der Erfahrung und damit auf vollkommene Erkenntnis ausgerichtet. Beide erkennen das Objekt ihrer Erfahrung in seiner unbedingten Bedeutung und Wirklichkeit. Beide sind ganzheitliche Erfahrungen, die äußere Sinne, Verstand, Gefühl und Glaube des Menschen einschließen. Beide sind auf die Erfahrung der All-Einheit aus, jedoch nicht als pantheistische Erfahrung, sondern als Erfahrung der personalen Kraft Gottes. Beide Erfahrungen zielen auf die Wandlung, Vervollkommnung und Vergöttlichung des Menschen. Die Liebe erweist sich bei Solov'ev wie die mystische Erfahrung als menschliche Erfahrung, die die Grenze zwischen Phänomenalität und Metaphysik im unmittelbaren Erleben überschreitet. SL VII, 16. S.o. S. 99 und Anm. 102 und 103. Vgl. H.Kuhn, A.Schöpf, Art. „Liebe", HWPh Bd. 5, Sp.324. 3 6 9 Gegen H. Dahm, Grundzüge russischen Denkens, S. 33.37. 367
368
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VII. Metaphysik und Mystik Metaphysik und Mystik sind gleichermaßen Wissensarten, die der E r kenntnis der ganzheitlichen Wahrheit dienen: die Metaphysik als weitgehend spekulatives Wissen, die Mystik als unmittelbares Wissen aus unmittelbarer Erfahrung. Metaphysik und Mystik ergänzen sich bei Solov'ev. Die Untersuchung der Rolle der Metaphysik in seinem Denken zeigt auf, daß selbst im Bereich der theoretischen Philosophie und der überwiegend spekulativen Lehre die ganze Wahrheit nur durch die mystische Erfahrung zu erkennen ist. Die mystische Erfahrung erweist sich auch hier als die Grundlage aller Erkenntnis der Wahrheit bei Solov'ev. Dies wird durch sein Verständnis der Mystik als philosophische und religiöse Erkenntnisart erhärtet. Es zeigt sich hier wiederum, daß Glaube, mystische und religiöse Erfahrung erst zusammen die ganze Wahrheit erfassen.
A. Metaphysik - Spekulation jenseits der Grenzen der natürlichen Erkenntnis Metaphysik ist spekulative Philosophie (umozritel'naja filosofija), „spekulative Lehre von den Urgründen alles Seins (bytie) oder von der Wesenheit der Welt (suscnost' mira)" 370 . Unter Metaphysik wird im allgemeinen im übertragenen Sinn des griechischen Originalbegriffs „μετά τα φυσικά" (nach den physischen Büchern) im Werk des Aristoteles die Bezeichnung für die Untersuchung dessen verstanden, was jenseits der Grenzen der physischen Erscheinungen liegt 371 . Wichtig ist, daß in dieser allgemeinen Definition nur von physischen, äußeren Phänomenen die Rede ist, keineswegs von allen Erscheinungen. Das metaphysische ist bei Solov'ev genauer das, „was nicht als Tatsache der äußeren Erfahrung (fakt vnesnego opyta) existiert und nicht auf eine solche Tatsache zurückgeführt werden kann" 372 . Mit Tatsachen einer anderen Erfahrungsart, mit der mystischen Erfahrung, hängt die spekulative Metaphysik dagegen bei Solov'ev unbedingt zusammen. Er definiert deshalb Metaphysik als die Untersuchung dessen, was jenseits der Grenzen unserer natürlichen Vorstellung und unserer natürlichen Erkenntnis liegt 373 .
1. Metaphysik als theoretisches Wissen der Philosophie Metaphysik ist zwar nicht hinsichtlich ihres übernatürlichen Gegenstandes und dessen Erkenntnis, wohl aber hinsichtlich ihrer Untersuchungsmethode dieses Gegenstandes rein theoretisch. Sie ist nach allgemeinem Verständnis ein Teil der theoretischen Philosophie, und zwar ihr dogmatischer Teil. Logisch geht diesem dogmati370
K Z F 1 , 1 5 9 , Anm. 119; Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 239 ( = D G VI, 337).
371
Art. „Metafizika", ebd. Art. „Kont", B - Ε , R G X , 398 ( = D G VI, 278) (Kursiv nicht im Original). K Z F 1 , 8 1 ; K O N II, 338.
372 373
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sehen Teil der theoretischen Philosophie ihr kritischer Teil voraus, nämlich die Erkenntnistheorie, die die Metaphysik erst als philosophische Möglichkeit rechtfertigt 3 7 4 . Von seiner Erkenntnistheorie her entwickelt und beurteilt Solov'ev auch seine eigene philosophische Lehre als Metaphysik. Sie will kritische Metaphysik sein im Gegensatz zur dogmatischen Metaphysik, die sich erkenntnistheoretisch nicht legitimieren kann. Solov'ev machte aber erst eine allmähliche Entwicklung zu einer seinen eigenen erkenntnistheoretischen kritischen Ansprüchen genügenden Metaphysik durch. Wir sahen, daß er noch bis 1876 wie der nach seiner Ansicht „dogmatische Metaphysiker" Descartes die Substantialität des erkennenden Subjekts annahm und erst danach durch seine erkenntnistheoretische Uberprüfung der inneren Erfahrung und der Intuition diese metaphysische Annahme verwarf. Bis 1881 vertrat Solov'ev auch noch eine metaphysische Ideenlehre im Sinne des Piatonismus. Erst durch seine erkenntnistheoretisch vertiefte Sicht der Intuition als Inspiration, Intention und mystische Erfahrung im Glauben hielt er seine eigene Ideenlehre für „dogmatische Metaphysik" und überwand sie. Der Hauptbestandteil der Metaphysik Solov'evs ist aber ein und derselbe geblieben: das seiende All-Eine, das den Erkennenden mit dem zu Erkennenden ontologisch verbindet und so metaphysische Erkenntnis von den sinnlichen Empfindungen des einzelnen bis zum Erfassen der Wesenheit des all-einen Seienden selbst ermöglicht. Dieser eine Inhalt der Metaphysik Solov'evs ist in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" voll entfaltet, und auf ihn verweist er noch 1894 als seine gültige Metaphysik 375 . Daß Solov'ev nach seinen ersten Aufsätzen der „Theoretischen Philosophie" (1897-1899) seine Metaphysik der seienden All-Einheit noch einmal inhaltlich reduziert oder umgestaltet hätte, wenn er noch länger gelebt hätte, ist eine Vermutung, die an den erkenntnistheoretischen Ergebnissen der „Theoretischen Philosophie" keinen Anhalt hat. Denn hier bestätigt Solov'ev nur in einer teilweise neuen, der Phänomenologie Brentanos und Husserls verwandten Begrifflichkeit seine erkenntnistheoretische Wende zwischen 1876 und 1877, seine Abkehr von Descartes' und Spinozas unmittelbarer Gleichsetzung von Denken und Sein und von der Substantialität des Erkenntnissubjekts. Seine metaphysische Lehre von der seienden All-Einheit hat Solov'ev erst nach dieser erkenntnistheoretischen Wende entfaltet. Sie ist dann bis zu seinem Tode konstant geblieben.
2. Der Gegenstand der Metaphysik Metaphysik ist für Solov'ev die theoretische Antwort auf die Frage nach der Echtheit (podlinnost') und Wirklichkeit (istinnost') eines jeglichen Erkenntnisgegenstandes und Denkinhalts 376 . Diese Antwort ist die Lehre vom Seienden an sich (suscee ν sebe) 3 7 7 . So ist Metaphysik die theoretische Wissenschaft „von dem, was wirklich ist (to, cto podlinno est') und nicht nur scheint", die Wissenschaft vom wirklich Seienden oder Unbedingten 378 . Metaphysik ist im Gegensatz zu dem Wissen, das sich auf die Grenzen des natürlichen Bewußtseins des Menschen beschränkt, die „Erklärung der wirklichen Welt" (dejstvitel'nyj mir) 3 7 9 . 374 375 377
K O N II, 192; Art. „Metafizika", B - Ε , RG X, 239 ( = DG VI, 337). Art. „Istina", B - Ε , RG XII, 592 ( = DG VI, 183). 3™ K O N II, 190. KZF I, 137. " 8 K Z p I ; 1 6 3 . M P N I > 202. "9 K Z F gl
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Eine Zeitlang betrachtete Solov'ev die wirkliche Welt als Ideenkosmos (mir ideal'nyj) im neuplatonischen Sinn, verglichen mit dem die Welt der Erscheinungen (fenomenal'nyj mir), die wir mit den äußeren und inneren Sinnen wahrnehmen, ein „Abfall" (otpadenie) ist 3 8 0 . Diese dualistische Betrachtungsweise gab Solov'ev aber bald wieder auf. Es geht in der Metaphysik zwar nicht um phänomenale Erkenntnis, sondern um Wesenserkenntnis, um die Erkenntnis der „Wesenheit der Dinge" (suscnost' vescej) 381 oder „des Wesens des anderen" (suscestvo drugogo), des „Wesens der Wahrheit" als des Seienden 382 . Aber diese Wesenserkenntnis ist von der Erkenntnis der Phänomene der äußeren und inneren natürlichen Erfahrung in keiner Weise getrennt. Im Gegenteil ist das selbständig, das heißt unabhängig von unserem Bewußtsein Seiende (samobytno suscee) von uns nur in seiner Bekundung (projavlenie) in der Welt der Erscheinungen (javlenija) erkennbar 383 . Solov'evs erkenntnistheoretische Unterscheidung von „javlenie" und „projavlenie" in seinen Frühschriften ermöglicht die ontologische Verbindung der Welt der Bewußtseinsphänomene mit der Welt des wirklich Seienden jenseits der Grenzen unseres Bewußtseins. Diese erkenntnistheoretische Unterscheidung behält er auch in seiner Spätperiode bei 3 8 4 . Metaphysik ist bei Solov'ev die Untersuchung der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit aller Erkenntnisgegenstände. Dies zu erkennen ist, wie wir feststellten 385 , auch die Erkenntnisfunktion der mystischen Erfahrung bei Solov'ev. In dieser Ubereinstimmung zeigt sich, daß die mystische Erfahrung metaphysische Erkenntnis zum Ziel hat. Glaube und mystische Erfahrung sind die metaphysischen Erkenntnisweisen bei Solov'ev. Intellektuelle Spekulation über die metaphysische Wirklichkeit, Metaphysik als theoretische Philosophie, ist nur auf dieser Grundlage möglich. Metaphysik ist bei Solov'ev Ontologie. Die Frage nach dem wirklichen Sein des Menschen, der Welt und Gottes beantworten die Metaphysik in der Philosophie sowie die Fundamentaltheologie und Dogmatik in der Theologie. - Die Metaphysik beantwortet darüber hinaus auch die Frage nach den Ursachen und Grenzen der Freiheit des Menschen 386 . Deswegen ist die Metaphysik bei Solov'ev auch Grundlage der Ethik. Es geht, wie wir bei der Untersuchung des Wahrheitsbegriffs bei Solov'ev festgestellt haben, Solov'ev stets um die ganzheitliche Wahrheit und das ganzheitliche Wissen um sie. Dies gilt auch für Solov'evs Metaphysik, die nach allgemeinem Verständnis die dogmatische Disziplin der rein theoretischen Philosophie zu sein schien. Inhalt und Erkenntnisart der Metaphysik stellen sich aber als ganzheitlich heraus, sinnliche Erfahrung, rationales Denken und mystische Wahrnehmung im Glauben umfassend, Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit des Seienden erfassend. Deswegen ist die Metaphysik der Hauptinhalt der gesamten Philosophie Solov'evs 387 . 3 8 1 Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 2 4 0 ( = D G VI, 339). O S F 1, 249. D V M I, 2 2 5 ; Art. „Istina", B - Ε , R G X I I , 592 ( = D G VI, 183). Der Bedeutungsunterschied zwischen „suscnost"' und „suscestvo", der für die religiöse Erfahrung und die Gotteslehre wichtig ist (s. o. S. 180 f.), ist hier zu vernachlässigen. 3 8 3 K Z F I, 70 f. 3 8 4 Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 241 ( = D G VI, 339). 3 8 5 S.o.S. 155f.. 3 8 6 K O N II, 190. 380 382
3 8 7 Vgl. T R X , 8 3 f . : N u r eine „metaphysische Untersuchung" kann nach Solov'evs Worten die Kraft des Bösen entlarven; nur auf der Grundlage der Metaphysik kann das Böse bekämpft werden. - Deswegen wollte Solov'ev ein weiteres, grundlegendes Werk über seine philosophische Metaphysik nach den „Drei Gesprächen" schreiben.
276
3. Ganzheitliche Metaphysik Man kann Solov'evs Metaphysik wegen ihres ganzheitlichen Charakters keinem bestimmten philosophiegeschichtlichen Typus zuordnen. Einer solchen Zuordnung entzieht sich Solov'ev durch die Aufnahme von immer wieder neuen Elementen aller metaphysischer philosophischer Richtungen in sein ganzheitliches Denken. Solov'ev hat die verschiedenen Typen der Metaphysik mehrmals klassifiziert und kritisch beurteilt 3 8 8 . Sich selbst hat er durch seine kritische Abgrenzung solcher Klassifikation bewußt entziehen wollen und auch können. Solov'ev teilt die Metaphysik erstens nach der Qualität des von ihr jeweils angenommenen Grundprinzips ein. D e r Materialismus und seine erkenntnistheoretischen Varianten Realismus, Empirismus und Positivismus sehen dieses Grundprinzip in der Materie, aus der alles besteht, hervorgeht und in der alles erkannt wird. Der Idealismus und alle Varianten des Rationalismus haben als Seins- und Erkenntnisprinzip die Idee oder die intelligible Form. Unter Panpsychismus als Typus der Metaphysik versteht Solov'ev besonders die Metaphysik Schopenhauers, deren Grundprinzip der Wille als die alle Realität beseelende Kraft ist 3 8 9 . Schließlich nennt Solov'ev noch den Spirtiualismus, dessen Grundprinzip der Geist als selbstbewußte Kraft hinter jeder Realität ist. Dabei denkt Solov'ev besonders an E. von Hartmann als Vertreter dieses Typus der Metaphysik 3 9 0 . Zweitens klassifiziert Solov'ev die Metaphysik nach der quantitativen Bestimmung des Wesens des Kosmos in Monismus, Dualismus, Pluralismus und schließlich Apeirismus, der das Wesen des Alls in unendlich viele selbständige Einheiten aufgesplittert sieht. Drittens unterscheidet Solov'ev die Metaphysik nach dem Modus des von ihr erkannten Seins in statische Metaphysik oder Substantialismus und in dynamische Metaphysik oder Prozessualismus. Allen diesen Typen der bisherigen philosophischen Metaphysik wirft Solov'ev die Isolierung und Abstraktion besonderer Elemente des Seins und der Erkenntnis vor. Eine Abstraktion ist nach Solov'ev besonders das Auseinandernehmen der sinnlichen, logischen und mystischen Elemente der Erkenntnis und des Seins 3 9 1 . Sie ist das Produkt der diskursiven, analysierenden Tätigkeit des menschlichen Verstandes. Solov'ev bezeichnet sie als den Grundfehler der theoretischen und wissenschaftlichen Philosophie, die abstrakte Prinzipien schafft, im Gegensatz zur lebendigen Philosophie und der Religion, der ein ganzheitliches Wissen im Glauben und in der mystischen Erfahrung unmittelbar und positiv gegeben ist 3 9 2 . Daher geht Solov'evs ganzheitlicher Metaphysik seine „Kritik der abstrakten Prinzipien" voraus 3 9 3 . Sie ist so gründlich und vielseitig, daß sie es unmöglich macht, seine Philosophie unter einen oder mehrere der genannten Typen der Metaphysik 3 8 8 Zum Folgenden vgl. die Einteilungen der Metaphysik in verschiedene philosophische Strömungen in: K Z F I, 33. 44ff. 5 3 - 5 9 . 63f. 6 6 - 6 8 . 74ff. 9 5 f f . ; K O N II, Kapitel X X V I I bis Kapitel X X X I X ; Art. „Metafizika", B - Ε , R G X , 242 ( = D G VI, 341 f.). A m zuletzt angegebenen O r t teilt Solov'ev die Metaphysik nach der Qualität, der Quantität und der Modalität ihres Grundprinzips ein. 3 9 0 A . a . O . S. 9 5 - 9 8 . 1 4 0 - 1 4 2 . 148f. K Z F I, 7 4 - 9 4 . 147f. K Z F 1,101 und S. 1 0 2 - 1 0 9 ; F N C Z I, 2 9 3 - 3 0 5 ; K O N II, S. V. 3 9 2 Vgl. K O N II, 8 - 1 0 . 3 9 3 Schon seine Magisterdissertation „Krise der westlichen Philosophie" soll nach Solov'evs eigenen Angaben eine solche Kritik der gesamten bisherigen empirischen und spekulativen Philosophie als abstrakte Erkenntnislehre und abstrakte Philosophie darstellen. Vgl. K Z F I, 27. 389 391
277
einzuordnen. Natürlicherweise gab es Versuche dieser Art. Manche Interpreten haben Solov'evs Metaphysik nach ihrem qualitativen Grundprinzip als Idealismus bezeichnet 394 . Aber dagegen spricht nicht nur seine phänomenale Erkenntnistheorie in der „Theoretischen Philosophie", sondern schon seine bewußte Synthese von Empirismus, Idealismus und Mystizismus als den drei Grundtypen abstrakter Philosophie zur ganzheitlichen Philosophie oder freien Theosophie in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" 395 . Idealismus ist nur ein Element der Metaphysik Solov'evs, die auch Elemente des kritischen Realismus, Empirismus und Positivismus sowie des Mystizismus in sich enthält. Es ist einseitig, Solov'evs Erkenntnislehre und Metaphysik auf die idealistische Philosophie, etwa auf die des späten Schelling, zu reduzieren. Man könnte allenfalls von einem „empirisch-mystischen Idealismus" sprechen. Aber auch dies wäre noch eine Uberbetonung des idealistischen Elements bei Solov'ev. Angesichts der Wichtigkeit der mystischen Erkenntnisweise in Glaube und Erfahrung bezeichnen wir seine Metaphysik eher als mystisch-idealistischen Realismus. Solov'ev dagegen einfach als Vertreter des „typisch russischen Mystizismus" zu bezeichnen, ist zu ungenau und zu pauschal 396 . Solov'evs Ansatz bei der mystischen Erfahrung geht ja auf die Anliegen des Empirismus und Positivismus ein und kommt zum Ergebnis eines allgemeinen Erkenntnisrealismus, der weit über die mystischen Phänomene hinaus für alle Erkenntnis gilt. Was den quantitativen Aspekt des Wesens des Alls angeht, so haben manche vom Monismus und von dem ihm entsprechenden Pantheismus Solov'evs gesprochen. Diese Kritiker Solov'evs waren - wie nicht überrascht - selbst überzeugte christliche Dualisten 397 . So bezeichnet V. Zen'kovskij Solov'evs Metaphysik als Monismus im Sinne Plotins, als Panhenismus und Akosmismus, der mit dem für die christliche Metaphysik wesentlichen Dualismus nicht zu vereinbaren sei 398 . Solov'ev spricht aber sehr wohl von der Welt als der Schöpfung und vom Menschen als dem geschaffenen Gegenüber Gottes, schließlich auch vom Bösen als dem übernatürlichen Gegenüber Gottes. Ohne die Voraussetzung des Dualismus von Gott und Schöpfung wäre das christliche theosophische Grundprinzip Solov'evs, das Gottmenschentum als innere Vereinigung des Geschaffenen mit dem Absoluten, weder denkbar noch notwendig, um das Ziel des Alls zu erreichen. Betrachten wir Solov'evs metaphysische Prinzipien des seienden All-Einen und des Gottmenschentums sowie seine erkenntnistheoretischen Prinzipien der mystischen Erfahrung und des Glaubens jeweils zusammen, dann sehen wir, daß seine Theosophie jenseits der Alternative Monismus oder Dualismus steht. Schließlich ist es zwar richtig, Solov'evs Metaphysik als dynamisch oder als Prozessualismus zu bezeichnen, denn Solov'ev sieht die Schöpfung als eine Entwicklung auf ihre Vereinigung mit dem Schöpfer hin. Gott selbst aber bleibt die unveränderliche, 394 395
Z . B . V.Èrn, Gnoseologia, S. F N C Z I, 3 0 6 - 3 0 8 .
m-192-J.
Palan, Theory,
S.46.
3 9 6 Dies tut beispielsweise neben vielen anderen È.Radlov (Nekrolog, S . 4 2 ; ders., Misticizm, S. 281). - Eine Bewertung der mystischen Metaphysik Solov'evs, die unserer entspricht, findet man bei B.Schultze, der vom „mystischen Realismus" der Religionsphilosophie der neueren russischen orthodoxen Philosophen und Theologen spricht und darin Solov'ev einschließt ( Β . Schnitze, Probleme der orthodoxen Theologie, S. 135 f.). 397
S. 88; 398
278
Vgl. E. Trubeckoj, Mirosozercanie, Bd. I, S. 89. V. Zen'kovskij, Ideja vseedinstva, S. 4 7 - 4 9 . V Zen'kovskij, a.a.O. S. 4 7 - 4 9 .
102. 2 5 3 - 2 6 1 ; ders., Solov'ev i ego délo,
absolute all-eine Substanz 3 9 9 . Deswegen ist Solov'evs Metaphysik doch auch gleichzeitig statisch. Seine ganzheitliche Metaphysik läßt sich durch eine einfache Klassifizierung weder vereinnahmen noch ablehnen. Wir halten dies für ihre größte Originalität und ihren Hauptsinn. Sie enthält als „universelle Lehre" nach seinen eigenen Worten „in sich in vollendeter Einheit alle alten und modernen (sc. philosophischen) L e h r e n . . . , den Idealismus und den Realismus, den Materialismus und den Spiritualismus, den Monismus, den Dualismus, den Pantheismus, den Monotheismus, den Polytheismus, den Atheismus und schließlich den Skeptizismus" 4 0 0 . H i n z u z u f ü g e n wäre noch, daß sein Spätwerk darüber hinaus auch noch die Einheit von O p t i m i s m u s und Pessimismus, Fortschrittsglaube und Apokalyptik in der Geschichtsphilosophie darstellen soll. In seiner Erkenntnislehre ist Solov'ev seinem eigenen Anspruch auf Ganzheitlichkeit seiner Theosophie gerecht geworden. D a ß seine metaphysischen Ansichten darüber hinaus Tendenzen zum Idealismus und zum Monismus haben, ist nicht zu bestreiten. Solov'evs russischen philosophischen Kritikern wären aber wohl viele Spekulationen um seine Einordnung in die herkömmlichen Typen der Metaphysik und der Erkenntnislehre erspart geblieben, wenn sie Solov'evs eigene Beurteilung seiner Philosophie ernstgenommen hätten. D e n n Solov'ev will die „innere, freie Synthese" aller philosophischen Strömungen und Lehren vor ihm erreichen, eine „organische Metaphysik" 4 0 1 . U n d dies erreicht er auch durch die beiden einigenden Prinzipien seiner Metaphysik, durch die All-Einheit des Seienden und durch das Gottmenschentum. Solov'ev bleibt sein Leben lang überzeugter Metaphysiker, weil er die Metaphysik durch die mystische Erfahrung und durch die ihr entsprechenden Arten des unmittelbaren Wissens rechtfertigt. Auch der berechtigte Skeptizismus gegen eine dogmatische Metaphysik ist Teil seiner ganzheitlichen Metaphysik. D a ß seine Metaphysik eine Synthese aller bisherigen philosophischen metaphysischen Erkenntnis sein will, wird auch aus Solov'evs Beschreibung ihres Verhältnisses zu den positiven Wissenschaften deutlich. Metaphysik und positive Wissenschaften, das heißt N a t u r - und Humanwissenschaften, ergänzen sich erkenntnistheoretisch und methodisch 4 0 2 . Die Metaphysik ist keine rein spekulative Wissenschaft. Die positiven Wissenschaften sind keine reinen Erfahrungswissenschaften. Beide erwerben spekulatives Wissen und Erfahrungswissen zugleich. Die Metaphysik hat nicht einmal eine besondere spekulative wissenschaftliche Methode, sondern verwendet „alle üblichen Mittel des wissenschaftlichen D e n k e n s " . Was die Metaphysik allein von den positiven Wissenschaften unterscheidet, ist ihr Bestreben, zu einer definitiven Weltanschauung zu gelangen, die alle Gebiete des Seins in ihrem Zusammenhang und Sinn erklärt 4 0 3 , zu „einer ganzheitlichen, allumfassenden und allseitigen Weltanschauung", die von einem G r u n d p r i n z i p aus durch innere Logik alle anderen Prinzipien des Wissens miteinander verbindet 4 0 4 .
399 402 403
400 F N C Z I , 336; PB IX, 23. LS, FS, 14. « » F N C Z I , 307f. Art. „Metafizika", B - Ε , RG X, 2 4 0 - 2 4 2 ( = D G VI, 3 3 8 - 3 4 1 ) . 4 A.a.O. S. 242 ( = D G VI, 341). « A.a.O. S. 243 ( = D G VI, 343).
279
4. Metaphysik und mystische
Erfahrung
Das Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung bei Solov'ev stellt sich zusammengefaßt so dar: Metaphysik ist eine Wissenschaft, die das äußerlich und innerlich Erfahrbare überschreitet. Ihre Spekulation setzt aber die natürliche äußere und innere Erfahrung voraus. In unserer natürlichen Erfahrung erkennen wir den Charakter der sich in ihr bekundenden metaphysischen Wirklichkeit 405 . Solov'ev nennt dafür einige konkrete Beispiele. So ist für ihn das Lachen, das den Menschen von allen anderen irdischen Lebewesen unterscheidet und geradezu sein bestimmendes Merkmal wird 406 , ein Phänomen, das auf den metaphysischen Charakter des Menschen und seiner Freiheit hinweist. Weiter sind Kunst und Dichtung Phänomene, die auf die metaphysische Wesenheit der Dinge hinweisen, weil Kunstwerke und dichterische Schöpfungen das konkrete Einzelne und das abstrakte Allgemeine in einer individuell-universalen, „typischen" Wirklichkeit vereinen, die der metaphysischen Einheit der Dinge entspricht 407 . Metaphysik gründet, wie Solov'ev sagt, „auf der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung" 408 . Dies schließt die mystische Erfahrung ein, sowohl die Erfahrung übernatürlicher Phänomene als auch die „überphänomenale" Erfahrung der unmittelbaren Beziehung des Menschen zur metaphysischen Welt und zu Gott. Der mystischen Erfahrung entspricht das „angeborene metaphysische Bedürfnis (potrebnost') der Menschheit, das ihren charakteristischen Unterschied zu den Tieren ausmacht und deshalb unausrottbar ist, solange der Mensch Mensch bleibt" 4 0 9 . So gründet die Metaphysik erkenntnismäßig auf natürlicher und mystischer Erfahrung, vom Motiv her aber noch tiefer in einem angeborenen Streben des Menschen, die Wahrheit und Wirklichkeit in ihrer Universalität und Ganzheit zu erkennen 410 . Daher ist Metaphysik als Wissenschaft für Solov'ev unbedingt nötig. Möglich ist sie aufgrund der wirklichen Beziehung des erkennenden Menschen zum unabhängig von seinem Bewußtsein selbständig und wahrhaft Seienden 411 . Diese Voraussetzung kann und will Solov'ev nicht mit den Mitteln des diskursiven Denkens beweisen. Sie kann nur im Glauben und in der mystischen Erfahrung unmittelbar erkannt und angenommen werden. Die Möglichkeit der Metaphysik beruht also letztlich auf dem Glauben an die metaphysische All-Einheit des Seins und auf ihrer mystischen Erfahrung.
4 0 6 LS, FS, 26: Der Mensch ist „das Wesen, das lacht". K Z F 1, 142 . 4 0 8 K Z F 1,81. LS, FS, 27-29 . 409 MPN 1,197; ebenso F N C Z I, 281. S.Trubeckoj spricht in seiner Interpretation Solov'evs sogar vom „metaphysischen Trieb im Menschen zur inneren Vereinigung mit dem Absoluten" (5. Trubeckoj, Vorwort zu den „Drei Gespräche" von W. Solowiof (sic!), S. 617f.). 4 1 0 LS, FS, 25. 29. 4 1 1 KZF, 141. 405 407
280
Β. Mystik - die unmittelbare Gemeinschaft mit dem zu Erkennenden In der mystischen Erfahrung ist der Glaube an die wirkliche Existenz des Erfahrungsgegenstandes mit dem unmittelbaren Erfahren dieses Gegenstandes selbst unlöslich verbunden. Dies ist im Wesen der Mystik begründet, die für Solov'ev die unmittelbare Gemeinschaft des Erkennenden mit dem zu erkennenden Sein ist. Ein Blick auf die Bedeutung der Mystik bei Solov'ev zeigt, daß sie phänomenale und metaphysische, philosophische, theologische und religiöse Erkenntnisart in einem ist, je nach der unterschiedlichen Betonung und Interpretation der Elemente der mystischen Erkenntnisart: Erfahrung, Vernunft und Glaube. Wegen ihrer allumfassenden Bedeutung für die Erkenntnis erweist sich die Mystik als Grundlage und Konstante der Theosophie Solov'evs.
1. Erfahrungsmystik
und
Erkenntnismystik
Solov'ev unterscheidet eine praktische Mystik, die man der religiösen oder der pseudoreligiösen Praxis zuordnen kann, und eine im ursprünglichen Sinne des Wortes „theoretische" Mystik, das heißt eine betrachtende Mystik, die eine philosophische und eine theologische Erkenntnisart zugleich ist. Die erste Art der Mystik nennt Solov'ev reale oder Erfahrungsmystik (mistika real'naja ili opytnaja), weil es in ihr um die Gesamtheit der realen, wahrnehmbaren Erscheinungen und Handlungen geht, die den Menschen unabhängig von den Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität direkt „mit dem geheimen Wesen und den geheimen Kräften der Welt" verbinden 412 . Die Erfahrungsmystik ist direkte religiöse oder aber auch dämonische oder parapsychologische Erfahrung. Darauf ist sie beschränkt. Die zweite Art der Mystik betrifft dagegen die menschliche Erkenntnis im allgemeinen. Solov'ev nennt sie „eine besondere Art der religiös-philosophischen Erkenntnistätigkeit" 413 . Wir nennen sie der Deutlichkeit halber Erkenntnismystik. Sie ist keineswegs von der mystischen Erfahrung getrennt; nur ist die mystische Erfahrung hier tiefer und „theoretischer": Sie gilt nicht einzelnen mystischen Erscheinungen, sondern dem „absoluten Gegenstand der Erkenntnis - der Wesenheit von allem (suscnost' vsego) oder der Gottheit (bozestvo)", die hinter allen Phänomenen ist 4 1 4 ; und sie ist mit der religiösen und theologischen oder der philosophischen Interpretation dieser mystischen Erfahrung verbunden, also mit theologischer oder philosophischer Metaphysik. Sie ist nach Solov'ev die Anerkennung der „Möglichkeit einer unmittelbaren gegenseitigen Mitteilung (obscenie) zwischen dem erkennenden Subjekt und dem absoluten Erkenntnisobjekt" 415 , eine unmittelbare Beziehung (otnosenie), Verbindung (svjaz') oder Gemeinschaft (obscenie) des menschlichen Gefühls (cuvstvo) und Geistes (duch) mit allen wirklich und selbständig existierenden Erkenntnisobjek-
412 413
Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 243 ( = DG VI, 343f.). 4 1 4 Ebd. A.a.O. S. 244 ( = DG VI, 344).
Ebd.
281
ten 4 1 6 . Die Erkenntnismystik umfaßt alle Erscheinungen im Bewußtsein des Menschen, natürliche und mystische, interpretiert als Einwirkungen der transzendenten Wirklichkeit auf das menschliche Bewußtsein. Der Akzent der Definitionen Solov'evs liegt einerseits auf der Unmittelbarkeit und Wirklichkeit der Verbindung des Menschen zu allen seinen Erkenntnisobjekten einschließlich Gottes, andererseits darauf, daß Geist und Gefühl des Menschen zugleich an dieser Verbindung beteiligt sind. Mit anderen Worten, äußere und innere Erfahrung und Denken sind neben der mystischen Erfahrung und dem Glauben an der mystischen Verbindung von Erkenntnissubjekt und -objekt beteiligt. Insgesamt ist die Erkenntnismystik bei Solov'ev die Anerkennung und erkenntnistheoretische Rechtfertigung der mystischen Erfahrung. Damit haben wir Solov'evs eigene Erkenntnistheorie beschrieben. Sie ist Erkenntnismystik.
2. Mystizismus als Grundlage aller
Erkenntnis
Solov'ev nennt die Reflexion des Intellekts (um) über die unmittelbare Verbindung von Mensch und all-einem Seienden statt Mystik auch Mystizismus (misticizm) 417 . Sein Mystizismus ist aber nicht nur die philosophische Anerkennung der Möglichkeit der metaphysischen Erkenntnis aufgrund der unmittelbaren Verbindung zwischen dem Menschen und dem Absoluten, sondern sieht vielmehr in der Mystik die wesentliche und wirkliche Grundlage aller wahren Erkenntnis. Denn jede wahre Erkenntnis ist nach Solov'ev eine Vereinigung des Erkennenden mit dem zu Erkennenden. „Das Wissen von innen, von Seiten unseres absoluten Wesens (suscestvo), das innerlich mit dem Wesen des zu Erkennenden verbunden ist - das unbedingte, mystische Wissen" 4 1 8 ist die wenn auch meist unbewußte Grundlage aller Erkenntnis der Wirklichkeit. Deswegen bezeichnet Solov'ev den Mystizismus oder die Erkenntnismystik auch als Grundlage der gesamten Philosophie und des gesamten Lebens 419 . Wenn Solov'ev in seiner eigenen Erkenntnismystik die unmittelbare und wesenhafte Verbindung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt im seienden All-Einen anerkennt, ist damit der Glaube an die eigene Existenz des Erkennenden und an die Existenz des mystisch Erkannten verbunden und vorausgesetzt, der Glaube an die Existenz der äußeren, phänomenalen Welt, der transzendenten Welt und Gottes. Mystisches Wissen und Glaube, auch religiöser Glaube an Gott, sind bei Solov'ev in seinem Mystizismus nicht getrennt, sondern der Glaube ist im mystischen Wissen immer mit enthalten 420 . Der Mystizismus Solov'evs ist von seinen eigenen VoraussetEbd. und FNCZ 1,263-265. FNCZ I, 263, Anm. 6; Art. „Mistika", B - Ε , RG X, 244 ( = DG VI, 345). 4 1 8 KON II, 331. 4 1 9 FNCZ 1,264. 4 2 0 S.o. S.227f. - Gegen A. Vvedenskij, O misticizme i kriticizme, S. 7. 23; mit Misticizm, S. 288. 290f. und E.Radlov, Gnoseologija, S. 322f. 416 417
282
E.Radlov,
zungen her eine Einheit von Glauben und Erkennen und von Theologie und Philosophie. Solov'ev spricht je nach Vorherrschen des religiösen oder des philosophischen Elements im Mystizismus von mystischer Theologie oder mystischer Philosophie (oder Theosophie). Man könnte die mystische Theologie auch als den objektiven Aspekt des Mystizismus bezeichnen, weil ihre Grundlage die Selbstoffenbarung des metaphysischen Ursprungs ist, und die mystische Philosophie als seinen subjektiven Aspekt, weil ihre Grundlage die mystische Erfahrung des einzelnen ist 4 2 1 .
3. Die Einheit und die Grenze der Philosophie Solov'evs in der Mystik Daß Solov'ev die Bezeichnungen „Mystizismus", „Mystik" und „mystische Philosophie" für seine Erkenntnislehre und Metaphysik wählt, zeigt, daß Erkenntnislehre, Metaphysik und Erkenntnismystik Solov'evs untrennbar zusammengehören. Sie bilden das einigende Band seiner Philosophie zusammen mit seiner eigenen mystischen Erfahrung 4 2 2 . Solov'ev erweist sich in allen seinen Schaffensperioden als mystischer Philosoph im doppelten Sinn: als Erfahrungsmystiker, dessen eigene mystische Erfahrung sich in seiner Erkenntnismystik spiegelt. Seine Mystik in diesem doppelten Sinn ist die Konstante und der zentrale Punkt seiner Erkenntnislehre 4 2 3 . Auch die „Theoretische Philosophie" Solov'evs ist noch eine Form seiner Erkenntnismystik 4 2 4 . In seiner Erkenntnismystik liegt aber auch die Grenze der Erkenntnislehre Solov'evs: Sie ist als mystische Philosophie nur für den überzeugend, der entweder selbst eine unmittelbare mystische Erfahrung der transzendenten Welt hatte wie Solov'ev selbst oder der die Existenz des metaphysischen, wahrhaft seienden All-Einen im Glauben anerkennt. Denn Solov'evs Erkenntnismystik hat die Existenz und die Einheit alles Seienden, auch des absoluten Urprinzips des Seins, zur metaphysischen Voraussetzung 425 . Der unmittelbare Akt der mystischen Erfahrung oder der Intuition beziehungsweise der Intention, den Solov'ev seiner Erkenntnislehre zugrundelegt, kann die Voraussetzung des Glaubens an die metaphysische Wirklichkeit, Wahrheit und Einheit des Seins nicht verkleinern oder aufheben. So ist Solov'evs Erkenntnismystik trotz ihres phänomenologischen Ansatzes bei der Untersuchung der menschlichen Erfahrung letztlich immer, je nach dem Charakter Vgl. die ähnliche Argumentation bei È. Radlov, Misticizm, S. 286. Vgl. V Em, Gnoseologija, S. 133-135. 205. 4 2 3 So auch V.Èrn, Gnoseologija, S. 134. 204f.; È.Radlov, Biograficeskij ocerk, RG X, S. X X X I V f . ; ders., Misticizm, S. 281. 294; vgl. auch T. Spidlik, Solov'ev, S. 6 4 9 - 6 5 3 . 4 2 4 So auch: £ . Radlov, Zizn', S. 189. 4 2 5 Radlov und Vvedenskij reden in ähnlicher Weise von der metaphysischen Voraussetzung der mystischen Erkenntnislehre Solov'evs. Vgl. È. Radlov, Zizn', S. 190f. ; A. Vvedenskij, O misticizme i kriticizme, S. 25. 421
422
283
der jeweiligen Schrift Solov'evs, philosophische oder theologische Metaphysik. Den Glauben an die Existenz aller Phänomene vom eigenen Ich bis zu Gott kann Solov'evs Theosophie nicht ersetzen. Sie versucht vielmehr, ihn vor dem philosophischen Denken seiner Zeit zu rechtfertigen.
VIII. Zusammenfassung: Unmittelbares Erkennen der Wahrheit Nach der Analyse der Bedeutung der verschiedenen Begriffe, die Solov'ev für das unmittelbare Bewußtwerden und Erkennen einer Gegebenheit als wirklich, wahr und wesenhaft verwendet, kommen wir trotz einiger, in der Entwicklung der metaphysischen Anschauungen Solov'evs bedingten Änderungen ihrer Bedeutung 426 zu dem Ergebnis, daß die Begriffe „Glaube", „mystische Erfahrung", „mystisches Wissen", „Intuition", „Inspiration" und „Intention" alle in gleicher Weise das unmittelbare, von sinnlicher Erfahrung und rationalem Denken losgelöste Bewußtwerden und Erkennen der Wirklichkeit, Wahrheit und Wesenheit aller einzelnen Erkenntnisgegenstände des all-einen Seienden oder Gottes selbst bezeichnen. In dieser grundlegenden Bedeutung sind sie Synonyme. Auch phänomenal, vom Erleben des Menschen aus gesehen, ergeben sich keine Unterschiede zwischen Glaube, mystischer Erfahrung, mystischem Wissen, Intuition, Inspiration und Intention. Alle sind sie Bezeichnungen für mystische Prinzipien und mystische Akte des Bewußtseins, die über die phänomenalen Grenzen des Bewußtseins hinausgehen und die ontologische Grundlage aller Erkenntnis, die seiende All-Einheit, unmittelbar erkennen. Bedeutungsunterschiede zwischen den einzelnen Begriffen ergeben sich erst aus deren jeweiligem gesamten Bedeutungsumfang. In dieser Hinsicht ist der Glaube die tiefste und unmittelbarste Spiegelung der Wirklichkeit und Wahrheit im Bewußtsein und die Grundlage aller anderen mystischen Erkenntnisarten. Die mystische Erfahrung hat als Erfahrung auch eine sinnliche Komponente und ist ein Grenzbegriff zwischen Phänomenalität und Metaphysik. Sie ist deswegen dem Glauben an die Existenz des Inhalts der mystischen Erfahrung nachgeordnet. Mystisches Wissen, Intuition, Inspiration und Intention wiederum sind durch ihre kognitive Komponente dem Denken zugeordnet. Sie sind Grenzbegriffe zwischen begrifflichem, an Sprache ud Gedächtnis gebundenem Denken und davon unabhängigem mystischem Erfassen der Wahrheit 4 2 7 . Auch diese unmittelbaren Erkenntnisvermögen sind daher dem Glauben nachgeordnet. Der unmittelbare Glaube allein erweist sich als rein mystisches, von Erfahrung und Denken gleichermaßen losgelöstes Erkennt4 2 6 Besonders wichtig sind das Ende des metaphysischen Substanzdenkens Solov'evs nach 1876 und sein Aufgeben einer metaphysischen Ideenlehre nach 1881. 427
284
Vgl. T F I X , 142ff. 1 5 3 . 1 6 1 f.
nisvermögen. Deswegen nennt Solov'ev das dritte, unmittelbare oder mystische Erkenntnisvermögen des Menschen immer Glaube, wenn er es mit den beiden anderen Erkenntnisvermögen zusammen sieht: Die drei grundlegenden Erkenntnisvermögen heißen stets sinnliche Erfahrung, logisches Denken und Glaube428. In der Zusammenschau der drei Erkenntnisvermögen spricht Solov'ev vom dritten, mystischen Vermögen also nicht mit den sonst von ihm gebrauchten Begriffen „mystische Erfahrung", „Intuition", „Inspiration" oder „Intention"; allenfalls redet er dann allgemein vom „mystischen Wissen". Die dem Glauben nachgeordneten Bezeichnungen des unmittelbaren mystischen Erkenntnisvermögens verwendet er aber immer dann, wenn er dieses Vermögen näher erläutert und es mit metaphysischen Inhalten in Verbindung bringt. In der Zusammenschau der Erkenntnislehre Solov'evs erweisen sich die mystische und die religiöse Erfahrung und der philosophische und der religiöse Glaube als die unmittelbarsten Bewußtseinsakte, die die ontologische Grundlage und das Ziel aller Erkenntnis direkt erfahrbar machen und anerkennen: die All-Einheit des Seins in Gott und das Gottmenschentum als unmittelbare Einheit von G o t t und Mensch. Die mystische und religiöse Erfahrung und der in ihnen enthaltene philosophische und religiöse Glaube in der Erkenntnistheorie, das seiende All-Eine und das Gottmenschentum in der Metaphysik: das sind die Konstanten der Theosophie Solov'evs. Die Verwendung der Grundbegriffe des unmittelbaren Erkennens sowie der Erkenntnislehre überhaupt ist bei Solov'ev trotz mancher Schwankungen in sich logisch und einheitlich 4 2 9 . Änderungen in den Bezeichnungen im Laufe der verschiedenen Perioden seines Denkens sind die Folge der Änderungen seiner Metaphysik, nicht seiner Erkenntnislehre, die konstant bleibt. Die einzige Ausnahme bildet die Änderung in der Bezeichnung der drei Erkenntnismittel des Menschen und der Bereiche der Erfahrung, die auf die Änderung der metaphysischen Sicht der Selbsterkenntnis des Menschen durch Solov'ev zwischen 1876 und 1877 zurückzuführen ist. Die innere Einheit seiner Erkenntnislehre entspricht der von Solov'ev immer betonten inneren Verbindung aller Erkenntnisvermögen untereinander. Diese innere Verbindung von Erfahrung, Denken und Glaube ist die Widerspiegelung der metaphysischen All-Einheit des Seins im menschlichen Bewußtsein. Deswegen betont Solov'ev die Fülle der Erkenntnis in jedem einzelnen Erkenntnisvermögen durch seine Verbindung zu allen anderen Erkenntnismitteln. Daher versteht er unter dem Inhalt der Gesamterfahrung (celyj opyt) 4 3 0 alle Phänomene sinnlicher Wahrnehmung, nicht nur der 428
K O N II, 325f.; ¿ Β III, 49; O D VIII, 17. Gegen V.Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 63. Die Einheitlichkeit der Grundbegriffe und des wesentlichen Inhalts der Erkenntnislehre Solov'evs in allen seinen Schaffensperioden behaupten in den letzten Jahren auch L. Shein und J. Palan. Vgl. L.J. Shein, Solov'ev's Epistemology, S. 1. 10. 1 4 ; / P a l a n , Theory, S. 60. 205-207. 430 Art. „Intuicija", B - Ε , RG XII, 592 ( = D G VI, 182); vgl. F N C Z I , 316. 429
285
äußeren Welt und des eigenen Inneren, sondern auch der sinnlich wahrgenommenen mystisch-übernatürlichen Sphäre. Daher versteht er unter Denken nicht nur das diskursive, mechanische und rationale Denken, sondern auch das unmittelbare, organische und mystische Denken. Und daher nennt er die unmittelbare Erkenntnisart auch nicht einfach Glaube, sondern verbindet diese Erkenntnisart durch die Bezeichnungen „mystische Erfahrung" und „mystisches Wissen" mit den anderen beiden Erkenntnisvermögen Erfahrung und Wissen. Schließlich wird deswegen bei Solov'ev die Erfahrung nicht verabsolutiert. Erfahrung in allen ihren Bereichen ist zwar die Grundlage und das einigende Band seiner Erkenntnistheorie, aber kein absolutes Erkenntnisprinzip. Man muß nicht alles selbst erfahren und unmittelbar erleben, um es als wahr zu erkennen. Erfahrung steht immer in Verbindung mit Glauben, Denken und Wollen. N u r zusammen mit ihnen führt sie zur vollkommenen Erkenntnis der Wahrheit. Die All-Einheit des Seins verlangt nach Solov'ev schließlich, daß das Erkennen und Wissen der Wahrheit nicht vom übrigen Leben des Menschen isoliert bleibe, denn die Wahrheit ist das seiende All-Eine selbst, das Leben selbst, und nicht eine abstrakte Satzwahrheit. Das Ziel des menschlichen Lebens ist nicht die abstrakte Erkenntnis Gottes, sondern die Vereinigung des ganzen Menschen mit ihm: das Gottmenschentum. Es genügt nach Solov'ev nicht, sich als Teil des seienden All-Einen zu erkennen und die Gottheit in ihrer Verbindung zum Menschen zu betrachten. Wahre Erkenntnis erfordert vom Menschen entsprechendes Handeln. Wer sich als Teil der seienden All-Einheit erkennt, muß sich in seinem ganzen Leben mit ihr verbinden: „Die Menschheit ist verpflichtet, nicht die Gottheit... zu erkennen, sondern selbst göttlich gemacht zu werden." Es ist für den Menschen „die Verpflichtung, göttlich zu leben, das heißt, sich den in ihm offenbarten Samen des göttlichen Lebens tätig anzueignen" 431 . Dies geschieht nach Ansicht Solov'evs am konkretesten, vollkommensten und dem göttlichen Willen entsprechend in der Kirche als der mit ihrem göttlichen Ursprung in Christus vereinten Menschheit 432 . Vollkommene Erkenntnis der Wahrheit ist für Solov'ev ohne religiöse Erfahrung, religiösen Glauben und religiöses Leben in der Kirche Christi nicht möglich. Seine Theosophie ist daher nicht nur mystische Philosophie, sondern auch christliche Theologie.
431
286
D O É III, 376.
432
A.a.O. S. 380.
VIERTER TEIL
Erfahrung in der Entwicklung des Denkens Solov'evs
Die Entwicklung der Rolle der mystischen und religiösen Erfahrung im Denken Solov'evs soll in ihren großen Linien und ihren Schwerpunkten chronologisch nachgezeichnet werden. Dadurch wird die Einheitlichkeit der Erkenntnislehre Solov'evs in allen seinen Schaffensperioden noch deutlicher werden und unser systematisches Vorgehen bei ihrer vorangegangenen Analyse und Beurteilung gerechtfertigt. Wir teilen um der größeren Klarheit willen die chronologische Darstellung der einen denkerischen Entwicklung Solov'evs in einen philosophischen und einen theologischen Teil. Damit folgen wir der Darstellungsweise Solov'evs selbst, dessen Schriften sich leicht in Schriften ganz überwiegend philosophischen Inhalts und in Schriften mehr theologischen Inhalts einteilen lassen.
I. Mystische Erfahrung und ganzheitliches Wissen in der Entwicklung des philosophischen Denkens Solov'evs 1. Die vernünftige Darlegung der christlichen Wahrheit als selbstgestellte Lebensaufgabe Solov'evs Solov'evs gesamtes Denken ist von der Aufgabe geprägt, die er sich selbst sein ganzes Leben lang in allem, was er schrieb, stellte: die vernünftige Darlegung und Rechtfertigung der Wahrheit des Christentums, damit sie zur allgemeinen Uberzeugung werde und so die Welt verändere 1 . Dies gilt auch für alle seine philosophischen Schriften. Dahinter steht seine Uberzeugung, daß der einzelne Mensch ebenso wie die gesamte Menschheit in ihrer Beziehung zur Wahrheit und zu Gott einem Entwicklungsgesetz in drei Phasen oder Altersstufen folgen: Der Zeit des kindlichen oder blinden Glaubens folgt die Epoche der Entwicklung des Verstandes und der Verwerfung des blinden Glaubens, bis die Zeit des bewußten, auf die Entwicklung der
1
Briefe an E. Romanova Nr. 15, Ρ III, 82, und Nr. 18, Ρ III, 8 8 - 9 0 .
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Vernunft gegründeten Glaubens beginnt 2 . In ihr hat Solov'evs Philosophie ihre notwendige Funktion. Diesen Entwicklungsgedanken entfaltet Solov'ev in fast allen seinen frühen Schriften. In der „ Krise der westlichen Philosophie" stellt er die Entwicklung der abendländischen Philosophie so dar, daß eine universale Synthese der Theologie, der philosophischen Metaphysik und der positiven Wissenschaften als logische und historische Notwendigkeit erscheint, nämlich als Uberwindung der Spaltung der einheitlichen christlichen Weltanschauung in die abstrakten und in ihrer Einseitigkeit unwahren Prinzipien des reinen Idealismus und des reinen Empirismus. Auch hier steht ein Entwicklungsschema im Hintergrund, das von der These über die Antithese zur Synthese fortschreitet. Mit der Synthese der positiven Wissenschaften, der Theologie und der Philosophie, zu der er seinen eigenen Beitrag mit seinem Lebenswerk leistet, erwartet Solov'ev das Eintreten der dritten Phase des Denkens der Menschheit, die von der Kraft der Offenbarung der göttlichen Welt, also einer jenseitigen Kraft beherrscht wird. Diese Kraft versöhnt Glaube, Vernunft und Wirklichkeit. Als Gründe dafür, daß er sich selbst in seiner Zeit an der Schwelle zur dritten Phase der Menschheitsgeschichte weiß, nennt Solov'ev auch das religiöse Gefühl und die „philosophische Neugier" des Menschen 3 , die nach einer neuen Metaphysik verlangen, die die Einseitigkeiten und Fehler der bisherigen Metaphysik nicht wiederholt. Diesem elementaren metaphysischen Bedürfnis will Solov'ev mit einer neuen, theosophischen Metaphysik begegnen, die den philosophischen Forderungen seiner Zeit ebenso wie der christlichen theologischen Tradition und der religiösen Erfahrung der Menschheit entspricht. In seiner Erkenntnislehre werden deswegen sowohl die Vernunft als auch der christliche Glaube und die allgemeine mystische und religiöse Erfahrung zu wichtigen Größen.
2. Selbsterfahrung als Grundlage der mystischen Erfahrung Die Erkenntnislehre einer „neuen Metaphysik", wie Solov'ev seine philosophische Arbeit nennt 4 , entfaltet er im Ansatz in seinen Schriften von 1874 bis 1876: „Die Krise der westlichen Philosophie", „Metaphysik und positive Wissenschaft" und „Uber die Wirklichkeit der äußeren Welt und die Begründung metaphysischer Erkenntnis". Die Alternative, auf die sich die gesamte westliche Philosophie in ihrer historischen Entwicklung bis zur Zeit Solov'evs selbst gebracht hat, hält Solov'ev für falsch und verhängnisvoll: entweder absolute idealistische Philosophie oder positivistische empirische Wissenschaft 5 , entweder Metaphysik oder phänomenale Erkenntnis. Solov'evs Plan, stattdessen eine neue, undogmatische Metaphysik zu errichten, die eine Synthese von Erfahrung und Denken darstellt, knüpft an die Versuche Schopenhauers und E . v o n Hartmanns an, geht aber weit über sie hinaus. Solov'ev will eine synthetische Metaphysik auf der Grundlage einer kritischen, empirischen und realistischen Erkenntnislehre errichten: D e m erkennenden Subjekt wie dem erkannten O b j e k t und ihrer Beziehung im Akt der Erkenntnis sollen eigenes, wahres Sein zukommen 6 . 2 5
288
Vgl. Brief Nr. 11 an E. Romanova, Ρ III, 75. TS 1,234. « KZF1,135.
a p N C Z 1,281.
4
MPNI,204.
Die erkenntnistheoretische Grundlage der Philosophie Solov'evs bildet in den genannten Schriften bis 1876 die Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis des Menschen. Man kann Solov'ev schon in seiner frühen Zeit, schon 1874, als Empiriker und Phänomenologen in dem Sinn bezeichnen, daß er von dem erkenntnistheoretischen Grundsatz ausgeht, daß alles Seiende in seiner Erscheinung erkannt wird 7 . Durch äußere Erfahrung kommt aber auch nur äußere, objekthafte Erkenntnis zustande. Wesenhafte Erkenntnis und wahres, metaphysisches Wissen kommt nur durch innere Erfahrung zustande 8 . Als Ausgangspunkt des wahren Wissens nennt Solov'ev in dieser seiner Frühperiode die innere oder psychische Erfahrung des eigenen Ich des Erkennenden 9 : Ich erkenne mich darin zugleich und unmittelbar als Objekt meiner Erfahrung und als ihr Subjekt; meiner Existenz als selbständiges Wesen bin ich mir unmittelbar gewiß, weil ich ein Selbstbewußtsein habe, das ohne wahrhaft zu existieren gar keine Erfahrungen machen würde 1 0 . In der Selbsterfahrung sieht Solov'ev den Punkt, an dem der Mensch unmittelbar zugleich Objekt- und Wesenserkenntnis, phänomenales und metaphysisches Wissen hat. Durch Analogieschlüsse erkennt die Vernunft dann das wesensmäßige oder metaphysische Sein anderer menschlicher Subjekte und schließlich aller wahrer Erscheinungen der Wirklichkeit. Die logische Korrelation der Gegebenheiten der äußeren mit denen der inneren Erfahrung durch das vernünftige Denken gewährt dem einzelnen Menschen die Gewißheit über die Existenz seiner Erkenntnisobjekte und über ihre innere, wirkliche Beziehung zu ihm und letztlich auch die Gewißheit über die all-eine Existenz des Kosmos 1 1 .
In den genannten Schriften bis 1876 spricht Solov'ev ebensowenig von mystischer Erfahrung wie vom Glauben. E r bezeichnet als Erkenntnisvermögen des Menschen nur die äußere und die innere Erfahrung und das Denken. Der unmittelbaren Selbsterfahrung räumt er eine Schlüsselrolle für alle metaphysische Erkenntnis ein, ohne die Argumente Descartes' dafür zu repristinieren, weil sie für ihn doch nur auf ein dogmatisches Gleichsetzen von Denken und Sein hinauslaufen. Dadurch aber, daß er auf die „Beweise" des Rationalismus für die Existenz des eigenen Ich verzichtet und sich auf die unmittelbare Selbsterfahrung beruft, legt Solov'ev letztlich den Glauben an die eigene Existenz der Wesenseinheit von Mensch, äußeren Phänomenen der Welt und Gott und damit aller metaphysischen Erkenntnis zugrunde 1 2 . Die unmittelbare Selbsterfahrung ist bei Solov'ev bis 1876 das, was er später „mystische Erfahrung" nennt: nämlich Erfahrung der inneren Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt. Der Ubergang zur Erkenntnislehre Solov'evs seit 1877 ist in dieser Konzentration auf die Selbsterfahrung als Grundlage aller Wesenserkenntnis bereits angelegt. Denn den Glauben an die Wirklichkeit des eigenen Ich, der äußeren Welt und der „höheren W e l t " 1 3 und die mystische Erfahrung ihrer Einheit setzt Solov'ev unausgesprochen schon hier voraus. 7 10 11
8 DVM 1,224-226. 9 A . a . O . S. 224. A . a . O . S. 71. Zur Argumentation Solov'evs im einzelnen s. o. S. 145 f.
S . o . S . 1 4 4 - 1 4 7 ; vgl. D V M 1 , 2 2 6 .
Vgl. K Z F I, 141 und D V M I, 218 als Zusammenfassung der Erkenntnistheorie der „Krise 1 3 Vgl. T S 1 , 2 3 8 . der westlichen Philosophie". 12
289
3. Metaphysik - Wissenschaft von der mystischen Erfahrung der All-Einheit 3.1 Der neue Ansatz bei der Gesamtheit
der
Erkenntnisvermögen
In seinen philosophischen Schriften zwischen 1877 und 1883 legt Solov'ev die mystische Erfahrung und den Glauben jedem wahren, metaphysischen Wissen zugrunde. Seine Schriften „Philosophische Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" (1877, unvollendet), „Kritik der abstrakten Prinzipien" (1877-1880), „Drei Kräfte" (1877) und „Auf dem Weg zur wahren Philosophie" (1883) stellen seine veränderte Erkenntnislehre einheitlich dar. Weite Teile des dritten und vierten Kapitels der „Philosophischen Prinzipien" sind in die Kapitel 40 bis 43 der „Kritik", stellenweise sogar wörtlich, von Solov'ev eingearbeitet worden, so daß wir gerade diese Schriften als Einheit betrachten und interpretieren können. Wahres Wissen entspringt in der neuen Sicht Solov'evs dem „ganzheitlichen Glauben (vsecelaja vera) an die positive Wirklichkeit der höheren Welt" und der „ergebenen Beziehung zu ihr" (pokornoe otnosenie) 14 , also der ausgeübten Religion, der praktischen Frömmigkeit. Dazu gehört die religiöse Erfahrung. In Beziehung zu allem wahrhaft Seienden und zur transzendenten Welt tritt der Mensch nach Solov'ev nun nicht mehr über die Selbsterfahrung, sondern über die Gesamtheit der Vermögen des Herzens, des Kopfes und der Seele, das heißt des Willens, des Verstandes und des Gefühls, oder des Glaubens, des Denkens und des Erfahrens 15 . Am unmittelbarsten geschieht das in der mystischen Erfahrung, die in sich auch Elemente der sinnlichen und der psychischen Erfahrung hat und die in der Gesamtheit der inneren und äußeren Sinne des Menschen auftritt. Die mystische Erfahrung ist die unmittelbare Erfahrung der Einheit der Wirklichkeit 16 , das heißt alles Seienden, des eigenen Ich genauso wie des erkannten Objekts. Sie ist als „unterschiedsloses Gefühl" 17 die Erfahrung der Vereinigung des Menschen mit allem wahrhaft Seienden, wobei der Mensch zu dem wird, was er erfährt: zur all-einen absoluten Wirklichkeit. Der Mensch erfährt sich unmittelbar als Teil der einen göttlichen, ewigen Wirklichkeit 18 . Solov'ev vermeidet die Einseitigkeit seines ersten erkenntnistheoretischen Ansatzes bei der Selbsterfahrung. Er läßt das wahre Wissen nicht allein auf einer Art der Erfahrung, auch nicht auf der mystischen Erfahrung, beruhen. Das wäre für ihn „abstrakter Mystizismus". Zwar ist wahres Wissen immer im unmittelbaren Zugang zum Erkannten begründet, aber das umfaßt mystische Erfahrung, intuitives Erkennen und persönlichen Glauben, die unmittelbarsten Formen des Erkennens. Gegenüber seiner Anschauung bis 1876 spricht Solov'ev nicht nur von drei statt von zwei Erfahrungsarten (nämlich von äußerer, innerer und mystischer Erfahrung), sondern auch von drei statt von zwei Erkenntnisvermögen 19 : Neben Erfahrung und vernünftigem Denken steht nun der Glaube als letzte und eigentliche Quelle jeder wahren Erkenntnis. Alle drei Erkenntnisvermögen gehören immer zusammen und kommen gemeinsam zum wahren Wissen. Der unmittelbare Glaube an die Existenz des Erfahrenen und Gedachten geht logisch aller Erfahrung und allem Denken voraus, ist
14 17
290
Ebd. KON II, 308.
A.a.O. S.239. ι» FNCZ 1,336. 347.
15
FNCZI, 336. S.o. S. 148. « S.o. S. 148f.
16
in der mystischen Erfahrung von der unmittelbaren Erfahrung selbst als Bewußtseinsakt aber nicht zu trennen. Dem Denken als Bewußtseinsakt geht allerdings die Erfahrung als primäres Faktum des Bewußtseins im zeitlichen Empfinden des Menschen voraus 2 0 , zusammen mit dem Glauben. Geändert hat sich gegenüber Solov'evs Anschauung vor 1877 auch seine Auffassung vom Wesen des Erkenntnissubjekts. Die Alternative, daß das Ich oder die Seele entweder eine metaphysische Wesenheit oder nur ein Phänomen des Bewußtseins ohne eigene Wirklichkeit ist, lehnt Solov'ev von nun an stets ab, auch in seinen späten Schriften. Zwar macht er klare Aussagen gegen die Substantialität der menschlichen Seele erst in seiner „Theoretischen Philosophie" 2 1 , aber schon 1883 spricht er davon, daß die Seele keine metaphysische Wesenheit ist, sondern einfach das „ständige Subjekt" unseres Bewußtseins, unseres Denkens und Handelns 2 2 .
Den Inhalt der mystischen Erfahrung und alles ganzheitlichen Wissens bestimmt Solov'ev in den genannten Schriften für sein gesamtes Denken endgültig: Die Wahrheit ist die All-Einheit des Seienden oder das seiende AllEine. Als metaphysische Grundlage aller wahren Erkenntnis wird die AllEinheit der gesamten Wirklichkeit durch die mystische und religiöse Erfahrung und durch den Glauben erkannt. Sie ist als religiöses Prinzip, als der seiende All-Eine, das heißt Gott, an die Erkenntnis im Glauben gebunden 23 . Als „ganzheitliche Idee" oder philosophisches Prinzip wird die All-Einheit auch durch die unmittelbare Form des Denkens, durch die intellektuelle Anschauung erfaßt 24 . Die Erkenntnis der Wirklichkeit der äußeren Welt hängt von der unmittelbaren mystischen Erkenntnis der All-Einheit alles Seienden im Glauben ab 25 . Alle wahre Erkenntnis setzt einen dreifachen Glauben voraus: den Glauben an die Existenz des eigenen Subjekts, an die Existenz des zu erkennenden Objekts und an die wirkliche innere Verbindung beider im all-einen Seienden. In der mystischen Erfahrung und im unreflektierten, unmittelbaren Glauben fließt dies in ein direktes Bewußtsein von der Wirklichkeit des Erfahrenen und Gedachten in Gott zusammen. Als Ziel der Philosophie nennt Solov'ev nicht mehr nur die theoretische Erkenntnis und vernünftige Darlegung der Wahrheit, sondern ihre Verwirklichung im Leben. Ganzheitliche Erkenntnis des seienden All-Einen bedeutet die Vereinigung mit ihm auch im Leben und im Handeln. Schon in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" nennt Solov'ev daher das Ziel der wahren Philosophie die „Vereinigung mit dem wahrhaft Seienden" oder „das ewige Leben" 2 6 . Denn die ganze und absolute Wahrheit ist das ewige Leben 2 7 . Damit sind der Ausgangspunkt und das Ziel der Philosophie für Solov'ev in der mystischen Erfahrung gegeben.
20 23 26
KON II, 292. 301. 328. KON II, 333. FNCZ 1,310.
>S.o.S.150 . FNCZ 1,319. 2 7 A.a.O. S.304Í. 2
22
24
2S
PIF III, 294-298. KON II, 284.
291
3.2 Die Synthese
von Empirie und
Metaphysik
Wir interpretieren die Änderungen in der Erkenntnislehre Solov'evs seit 1877 als eine doppelte Klärung seiner erkenntnistheoretischen Position. Solov'ev erweist sich als konsequenter Empiriker und Metaphysiker und verbindet beides bewußt miteinander durch die mystische Erfahrung. Wahres Wissen ist für ihn von 1877 an stets phänomenal und metaphysisch zugleich 28 . Der Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist das empfindende Subjekt und seine Erfahrungen. Der Inhalt oder das Material des Wissens sind allein die Gegebenheiten der Erfahrung. Das sind alle sinnlichen, psychischen und mystischen Phänomene. Die mystische Erfahrung ist die tiefste und grundlegendste, weil sie die Grenze zwischen Erkennendem und Erkanntem überwindet. Als die die Grenzen des eigenen Bewußtseins überschreitende Erfahrung ermöglicht sie Metaphysik. Als Erfahrung der seienden All-Einheit ermöglicht sie die Erkenntnis alles wahrhaft und wesenhaft Seienden und damit die Errichtung einer Metaphysik der All-Einheit. Solov'ev entwirft eine solche Metaphysik in ihren Grundzügen in seiner „Kritik der abstrakten Prinzipien" und erweitert sie in den folgenden Jahren in seinen theologischen Schriften. - So überwindet Solov'ev in seiner Erkenntnislehre seit 1877 den Positivismus mit einem ganzheitlichen, auch die mystische Erfahrung einschließenden Realismus und den Rationalismus mit einer ganzheitlichen, das Wesen der Dinge beleuchtenden Ontologie 29 . Man kann Solov'evs Erkenntnislehre als ontologischen Realismus, als empirische Metaphysik oder als phänomenologischen 30 Mystizismus bezeichnen, solange klar wird, daß Solov'ev eine Synthese von Empirie und Metaphysik vorgelegt hat. Als bewußte Synthese aller bisherigen Philosophie läßt sie sich schwerlich genauer einordnen. Auch Philosophie und Religion gehören bei Solov'ev seit 1877 immer zusammen. Der Glaube an die Einheit aller Erkenntnisgegenstände ist in Philosophie und Theologie immer vorausgesetzt. Mystische und religiöse Erfahrung des seienden All-Einen, der Wahrheit, unterscheiden sich nur in ihrer Interpretation, nicht in ihrem Grund und Inhalt. Gotteserfahrung, religiöser Glaube und Theologie sind aus der Sicht Solov'evs für das Leben des einzelnen Menschen entscheidende Konkretionen der allgemeinen mystischen Erfahrung, der philosophischen Intuition und der philosophischen Metaphysik. Seit 1877 können wir von einer eigenständigen und originellen Erkenntnislehre Solov'evs sprechen. Sie bleibt trotz mancher terminologischer Ände29 F N C Z 1 , 3 2 1 . F N C Z 1 , 3 1 6 - 3 1 8 ; K O N II, 2 8 3 f . 3 2 4 f . Solov'ev selbst gebraucht den Begriff „phänomenologisch" synonym mit „empirisch", das heißt auf die Erkenntnis aus der Erfahrung der Erscheinungen des Bewußtseins bezogen (vgl. K Z F I, 71 ; TF IX, 116). In diesem Sinn wenden wir den Begriff hier an, nicht als Vorwegnahme der späteren Phänomenologie als „Wesensschau am Phänomen" bei Husserl und Scheler. 28 30
292
rungen bis zu seinem Tod konstant. Die eigenständige Erkenntnislehre Solov'evs besteht in seiner Synthese von Empirismus, Rationalismus, Metaphysik und Mystik. Sie ist die Frucht der gegenseitigen Durchdringung von Philosophie und Theologie im Denken Solov'evs.
4. Die neuerliche
Rechtfertigung
im philosophischen 4.1
Die Intention
als mystische
der mystischen
Erfahrung
Vorhaben
Erkenntnisart
In seinen letzten Lebensjahren m a c h t e sich Solov'ev an eine nochmalige U b e r p r ü f u n g u n d R e c h t f e r t i g u n g der religiösen u n d mystischen E r f a h r u n g u n d des m y s t i schen E r k e n n e n s der W a h r h e i t d u r c h kritisches philosophisches D e n k e n . B e w o g e n haben ihn d a z u w o h l einige U n k l a r h e i t e n in den „Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" u n d der „Kritik der abstrakten P r i n z i p i e n " , besonders ü b e r die N a t u r des menschlichen E r k e n n t n i s s u b j e k t s , u n d die Tatsache, daß er inzwischen seine Ideenlehre ganz aufgegeben hatte u n d dies in seiner E r k e n n t n i s l e h r e z u m A u s d r u c k k o m m e n sollte. Sein positives Anliegen w a r , in seiner E r k e n n t n i s l e h r e u n d M e t a p h y s i k die christliche Wahrheit so deutlich darzustellen, daß d e r Leser sich von seiner kritischen V e r n u n f t her f ü r sie entscheiden k a n n . In seiner Schrift „ D e r G o t t e s b e g r i f f " (1897) rechtfertigt Solov'ev die Wirklichkeit der religiösen G o t t e s e r f a h r u n g u n d den ihr e n t s p r e c h e n d e n religiösen G l a u b e n an die w a h r e u n d historische O f f e n b a r u n g G o t t e s in C h r i s t u s 3 1 . In seinen A u f s ä t z e n v o n 1897 bis 1899, die später u n t e r d e m Titel „Theoretische P h i l o s o p h i e " als P r o l e g o m e n a seiner nicht m e h r z u s t a n d e g e k o m m e n e n M e t a p h y s i k publiziert w u r d e n , p r ü f t u n d rechtfertigt Solov'ev die mystische E r f a h r u n g u n d das m y s t i s c h - p h i l o s o p h i s c h e Wissen ü b e r die W a h r h e i t 3 2 . Es geht in der „Theoretischen P h i l o s o p h i e " u m die nochmalige R e c h t f e r tigung des mystischen Prinzips, das Solov'evs theosophisches System seit 1877 begründet33. Dies geschieht d u r c h das „Philosophische V o r h a b e n " o d e r die „Intention" (zamysel), die Wahrheit zu erkennen. Erstens ist diese I n t e n t i o n ein F a k t u m des B e w u ß t seins u n d insofern der sichere p h ä n o m e n o l o g i s c h e A u s g a n g s p u n k t der w a h r e n E r kenntnis. D i e I n t e n t i o n ist der archimedische P u n k t der E r k e n n t n i s l e h r e Solov'evs innerhalb der menschlichen E r f a h r u n g , v o n d e m aus das D e n k e n den n o t w e n d i g e n Weg z u m Ziel der E r k e n n t n i s d e r Wahrheit f i n d e n k a n n 3 4 . Zweitens k o m m t die I n t e n t i o n , die Wahrheit als die allumfassende G a n z h e i t u n d Einheit des Seienden z u e r k e n n e n , d u r c h eine s o g e n a n n t e „überpersönliche I n s p i r a t i o n " , die letztlich ü b e r n a türlich ist u n d der m y s t i s c h e n E r f a h r u n g der All-Einheit erkenntnistheoretisch entspricht, z u s t a n d e u n d ü b e r h a u p t erst an ihr Ziel, nämlich „in das G e b i e t der W a h r h e i t selbst", in das natürliche wie m e t a p h y s i s c h e all-eine Seiende 3 5 . D u r c h die Inspiration k o m m t die I n t e n t i o n z u r m e t a p h y s i s c h e n E r k e n n t n i s der Wahrheit. A u ß e r e u n d
31
32 PB IX, 12-14. 16. Vgl. T F I X , 89. E.Radlov spricht ebenfalls von der „Rechtfertigung des Mystizismus" in der „Theoretischen Philosophie" durch Solov'ev (È.Radlov, Zizn', S. 189). 34 3 T F I X , 130. 147. 5 TF IX, 157; s.o.S. 252. 33
293
innere Erfahrung sowie das vernünftige Denken sind methodische Hilfsmittel für die eigentliche philosophische Erkenntnis der Wahrheit durch die Intention, nicht mehr und nicht weniger 3 6 . Den Blick für die Kontinuität im Inhalt der Erkenntnislehre Solov'evs darf man sich nicht durch die neue Methodik und Darstellung der philosophischen Erkenntnis in der „Theoretischen Philosophie" verstellen lassen. Solov'ev wendet hier den folgerichtigen Skeptizismus als erkenntnistheoretische Methode an. Alle Erkenntnisinhalte werden zunächst nur als Bewußtseinszustände betrachtet. Gerade so soll aber ihr unbedingter metaphysischer Charakter aufgezeigt werden. Wichtig ist für Solov'ev auch nicht mehr das in der Erfahrung gegebene Erkenntnismaterial, sondern die Analyse des Erkenntnisd&is. Deswegen stehen nicht die möglichen Erfahrungsinhalte im Mittelpunkt der Betrachtung der „Theoretischen Philosophie", sondern die Intention, die Wahrheit zu erkennen, selbst als Willens- und Erkenntnisakt des Menschen.
Was Solov'ev die philosophische „Intention, die Wahrheit selbst zu erkennen" nennt, scheint auf den ersten Blick nicht nur ein neuer Begriff zu sein, sondern etwas, was dem neuen Ansatz der Phänomenologie Brentanos und Husserls entspricht 37 : das Beharren auf den Phänomenen des Bewußtseins als Grundlage und Grenze aller Erkenntnis. Die Erkenntnislehre des späten Solov'ev stimmt hiermit aber nur in einem methodischen Punkt überein: in der Verlagerung des Denkens vom denkenden Bewußtsein auf das gedachte Ziel, vom Erkenntnissubjekt zum Erkenntnisobjekt. Inhaltlich wird seine Philosophie keineswegs Phänomenologie im Sinne Husserls, also eine rein deskriptive Lehre von den Bewußtseinsinhalten und von der Wesensschau an diesen bewußtseinsimmanenten Phänomenen ohne die Möglichkeit, zur Wirklichkeit selbst zu gelangen und philosophische Ontologie und Metaphysik zu treiben. Bei Solov'ev geht vielmehr die Intention auf die „Wahrheit selbst" als das all-eine Seiende, also auf die überphänomenale und bewußtseinstranszendente wahre Wirklichkeit, die Physisches und Metaphysisches umfaßt. „Die Intention, die Wahrheit selbst zu erkennen" in der „Theoretischen Philosophie" ist gleichzusetzen mit der „Intuition" in Solov'evs früheren Schriften 38 . Sie hat einen mystischen Charakter, weil sie ein lebendiges, unmittelbares Geschehen ist 39 und weil die Wahrheit im Menschen selbst enthalten und deswegen der Ausgangspunkt und das Ziel der Erkenntnis ist 40 . Der Mensch ist eins mit der Wahrheit selbst, wenn er sie erkennt. Die Intention, die Wahrheit zu erkennen, ist also eine Intention, mystisches Wissen zu erwerben. Das geschieht durch die „überpersönliche Inspiration" 4 1 , einen Vorgang, der der mystischen Erfahrung in den frühen Schrif3 6 Vgl. TF IX, 103-105. 141-143. 147; vgl. S.Luk'janov, Zametki o teoreticeskoj filosofii, S. 50 f. 3 7 S.o. S.233f. Diese These vertritt vor allem H.Dahm (Grundzüge russischen Denkens, S. 33-37). 3 8 S.o.S.233 . 2 52 . 3 9 TF IX, 153. S.o. S.231-233. 4 0 TF IX, 164-166. 4 1 A.a.O. S. 157.
294
ten Solov'evs entspricht 42 . Denn die Inspiration ist die unmittelbare Wirkung des wahrhaft Seienden oder der Wahrheit selbst auf das Erkenntnissubjekt. Die Intention, die Wahrheit selbst zu erkennen, ist so ein mystisch inspiriertes Vorhaben. Die „schöpferische Intention" in der „Theoretischen Philosophie" ist auch mit dem Willen des Menschen in den früheren Schriften Solov'evs gleichzusetzen 43 . Sie entspricht der „Einbildungskraft" und dem „Schöpfertum", von denen Solov'ev in der „Kritik der abstrakten Prinzipien" als Phasen der Erkenntnis eines Gegenstandes gesprochen hatte 44 . Diese Bezeichnungen wiederum waren dadurch, daß Solov'ev seine Ideenlehre aufgab, für seine Erkenntnislehre obsolet geworden. Das Entstehen der wahren Erkenntnis brauchte Solov'ev nun nicht mehr mit der Einbildung von Ideen im Bewußtsein zu erklären. Es erklärt sich aus dem unbedingten Willen des Menschen, die Wahrheit selbst zu erkennen. Schließlich ist der Glaube an das wahrhaft Seiende in den früheren Schriften Solov'evs mit der Intention zur Erkenntnis der Wahrheit selbst in der „Theoretischen Philosophie" identisch. Sie sind ein und derselbe Akt des menschlichen Geistes 45 , nämlich derjenige, der die Grenzen unseres Bewußtseins, die Grenzen der äußeren und inneren Erfahrung und des logischen Denkens, überwindet und die Verbindung des Menschen zum alleinen Seienden selbst im Bewußtsein herstellt 46 . Der philosophische Glaube an die Existenz eines Erkenntnisgegenstandes spielt beim späten Solov'ev eher eine noch betontere Rolle als in seinen früheren Schriften: Er hebt nun ausdrücklich hervor, daß die Existenz des Wahren nur im Glauben zu erfassen ist 47 . Die entscheidende Rolle des religiösen Glaubens für die Gotteserkenntnis noch vor der religiösen Erfahrung betont Solov'ev ebenfalls in seinen späten Schriften 48 . „Glaube" und „Intention" meinen beim späten Solov'ev das gleiche: das unmittelbare Ergreifen der Existenz des Wahren im Bewußtsein. 4.2 Die Kontinuität
der Erkenntnislehre
Solov'evs
Was man als den großen Umschwung in der späten Philosophie Solov'evs bezeichnet hat, nämlich die Leugnung der Substantialität der menschlichen Seele oder des Ich 49 , ist nur in der Form neu. Inhaltlich hat sich Solov'ev S.o. S . 2 5 1 f. TF IX, 153. So ebenfalls S. Trubeckoj, Osnovnoe nacalo, S. 9 7 f . 4 4 K O N II, 33 3 - 3 42 . 4 5 So. S. 233 und Anm. 87. 4 6 Vgl. C B III, 33; TF IX, 1 0 6 - 1 0 8 . 4 7 PB IX, 13; TF IX, 1 0 6 - 1 0 8 . 4 8 PB IX, 1 4 - 1 6 . 4 9 Diese These vertrat betont der mit Solov'ev bekannte russische Philosoph Fürst E. Trubeckoj (Mirosozercanie, Bd. I, S. 231. 236. 2 5 3 - 2 5 8 ) . Später folgten viele seiner Ansicht. Vgl. z.B. W.Szylkarski, Nachwort zur „Theoretischen Philosophie", D G VII, 1 1 0 - 1 1 6 . 42
43
295
bereits 1877 vom metaphysischen Substanzdenken abgesetzt und die Seele oder das Ich nie mehr als metaphysische Substanz bezeichnet. Denn „Substanz" meint etwas in sich Abgeschlossenes, etwas selbständig Existierendes (samostojatel'no suscestvujuscee) 50 , einen Selbstand (Subsistenz), der sein Sein nicht in einem anderen, sondern in sich selbst hat. Wäre der Mensch eine Substanz in diesem ontologischen Sinn, hätte er keinerlei unmittelbare seinshafte Verbindung zu Gott. Von seiner Metaphysik der All-Einheit her, die seit 1877 unverändert vorliegt, konnte Solov'ev nicht an der Vorstellung der Substantialität der Seele festhalten. Seine ganze Erkenntnislehre seit 1877 ist vielmehr eine stete Kritik des „metaphysischen Individualismus und Egoismus", der sich in der Vorstellung von der Substantialität der menschlichen Seele im dogmatischen Rationalismus in der Nachfolge Descartes' manifestiert 51 . Der Mensch ist nach Solov'ev dagegen nur ein Träger oder Untersatz (podstavka, ύπόστασις) eines höheren, nämlich des all-einen göttlichen Wesens, dessen Wirkungen er zu seinem Lebensinhalt machen kann und soll, um so sein Leben in das ewige Leben in der verwirklichten Einheit mit Gott zu verwandeln 52 . Die erkenntnistheoretische Konsequenz der Ablehnung der Substantialität des Menschen hat Solov'ev ebenfalls schon lange vor der „Theoretischen Philosophie" in seinen Schriften seit 1877 gezogen: Nicht das Denken des Individuums kann die Grundlage der all-einen Wahrheit sein, sondern nur die Offenbarung und Selbstbekundung (projavlenie) dieser Wahrheit im Bewußtsein der Menschheit und in ihrer gesamten Geschichte. Der Ort dieser Selbstbekundung der Wahrheit ist für Solov'ev die Kirche. Seine wachsende Beschäftigung mit der kollektiven Rolle der Kirche für die Erkenntnis der Wahrheit durch den einzelnen im Laufe der 80er Jahre ist nur eine logische Konsequenz seiner Kritik am metaphysischen Individualismus. Ihren Höhepunkt erreichen die philosophische und die theologische Kritik Solov'evs am Individualismus in der Erkenntnislehre schließlich in seinen letzten Lebensjahren. Die Kontinuität der Erkenntnislehre Solov'evs in der „Theoretischen Philosophie" mit seiner Erkenntnislehre seit 1877 ist in allen entscheidenden Punkten gegeben 53 . Solov'ev hat nur Aussagen aus seiner Magisterdisserta50
T F I X , 163. Gegen V.Zen'kovskij, der die Kritik des metaphysischen Individualismus erst in der „Theoretischen Philosophie" wahrnimmt (vgl. V. Zen'kovskij, Istorija, Bd. II, S. 63). - Solov'ev macht in einem Gedicht deutlich, daß er in der Ablehnung der Substantialität der Seele Hegel folgt (vgl. Brief N r . 4 an N . Ja. Grot, Ρ III, 213). Vgl. ebenso PB IX, 20. 52 PB IX, 20. 53 Die Mehrheit der Interpreten Solov'evs vertrat seit A Vvedenskij (O misticizme i kriticizme, 1901, S. 30-32) und E.Tumarkin (Ssolowjew als Philosoph, 1905, S. 84) die gegenteilige Meinung, Solov'ev sei gezwungen gewesen, in der „Theoretischen Philosophie" seine ganze frühere Erkenntnistheorie aufzugeben und eine zweite, von Grund auf neue Erkenntnistheorie zu entwickeln, weil er die Evidenz der Existenz des Erkenntnissubjekts nicht mehr habe anerkennen können, die wiederum bis dahin die Voraussetzung der mystischen Wahrnehmung 51
296
tion v o n 1874 u n d aus seinen Schriften vor 1877 widerrufen. Er k o m m t z u den gleichen erkenntnistheoretischen G r u n d a u s s a g e n w i e in seinen Schriften seit 1 8 7 7 u n d bettet sie in die M e t a p h y s i k
der All-Einheit,
die bei
ihm
e b e n f a l l s seit 1 8 7 7 u n v e r ä n d e r t ist. I n s e i n e n s p ä t e n e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Schriften erweist sich Solov'ev phänomenologischem
Mystizismus
als p h ä n o m e n o l o g i s c h e r
Mystiker.
Unter
verstehen wir Solov'evs denkerische Syn-
these eines kritischen Realismus der B e w u ß t s e i n s p h ä n o m e n e mit einer m y stischen M e t a p h y s i k der A l l - E i n h e i t des Seins durch das unmittelbare E r k e n nen der m e t a p h y s i s c h e n Wahrheit in der m y s t i s c h e n Erfahrung, der Intuit i o n o d e r d e r I n t e n t i o n 5 4 . S o l o v ' e v ist a u c h in s e i n e n s p ä t e n e r k e n n t n i s t h e o retischen Schriften Religionsphilosoph, der den religiösen G l a u b e n u n d die kirchliche Lehre v o n der christlichen Wahrheit überprüft und rechtfertigt55.
5.
Sittliche
Erfahrung
und
mystische
Erfahrung
S o l o v ' e v hatte in d e r „ R e c h t f e r t i g u n g d e s G u t e n " ( 1 8 9 4 - 1 8 9 7 ) bereits e i n e p h i l o s o p h i s c h e E t h i k v o r g e l e g t , d i e m e t h o d i s c h bei der sittlichen d i e s e E r f a h r u n g z u r religiösen
u n d mystischen
Erfahrung
Erfahrung
beginnt und
in m a n n i g f a c h e B e z i e h u n g
bringt. In s e i n e n F r ü h s c h r i f t e n hatte S o l o v ' e v die E t h i k n o c h in A b h ä n g i g k e i t v o n der M e t a p h y s i k b e s t i m m t . M o r a l i s c h e s H a n d e l n , s o stellte er d a m a l s dar, setzt die v o r h e r g e h e n d e E r k e n n t n i s der W a h r h e i t v o r a u s u n d v e r s u c h t , d i e m e t a p h y s i s c h e W a h r h e i t der s e i e n d e n A l l - E i n h e i t in d e r U b e r w i n d u n g d e s E g o i s m u s in allen L e b e n s b e r e i c h e n z u v e r w i r k l i c h e n 5 6 . B e i m s p ä t e n S o l o v ' e v ist die M o r a l p h i l o s o p h i e n u n m e t h o d i s c h s e l b s t ä n d i g u n d u n a b h ä n g i g v o n der p o s i t i v e n R e l i g i o n u n d v o n der
bei Solov'ev war. Diese Interpretation setzt fälschlicherweise die Existenz des Menschen mit seiner metaphysischen Substantialität gleich. Die unmittelbare Evidenz der eigenen Existenz des Erkenntnissubjekts hat Solov'ev in der „Theoretischen Philosophie" gar nicht bestritten, sondern n u r dessen Substantialität. Die unabdingbare Rolle des Glaubens sowohl in der mystischen W a h r n e h m u n g in den f r ü h e n Schriften Solov'evs als auch in der Intention in der „Theoretischen Philosophie" scheint uns bei den der These von den zwei unterschiedlichen Erkenntnistheorien Solov'evs zugrundeliegenden A r g u m e n t e n völlig vernachlässigt zu sein. - Wir teilen unsere These von der Kontinuität der mystischen Erkenntnislehre Solov'evs in seinem Früh- u n d Spätwerk mit denjenigen Interpreten Solov'evs, die die Einheit von Philosophie und Theologie im D e n k e n Solov'evs besonders berücksichtigt haben und daher die mystische Erkenntnisweise bei Solov'ev mit dem im Glauben unmittelbar zu erkennenden metaphysischen Seienden verbunden haben u n d nicht von der „denkenden Substanz" des Menschen abhängig gemacht haben. Zu diesen Interpreten zählen die russischen Philosophen V.Ern (Gnoseologija, 1911, S.203f.) u n d È.Radlov (Zizn', 1913, S. 187-191) sowie der Herausgeber der deutschen G e samtausgabe der Werke Solov'evs, L. Müller (System, 1956, S.6). S.o. S.79. Die Mehrheit der Interpreten hält sich auch bei der Frage der Einheit der Erkenntnislehre Solov'evs an die übliche Periodisierung und damit an eine Trennung seines D e n k e n s in gegensätzliche Phasen (s.o. S. 7 4 - 7 6 ) , im deutschen Sprachraum z . B . H.Dahm (s.o. S. 75) und, von ihm abhängig, H.Mosmann (Wladimir Solowjoff und „die werdende Vernunft der Wahrheit", bes. S. 19. 33. 37-40.49-56). 54 56
ss S.O.S. 292 und A n m . 30. PB IX, 3; T F IX, 89. Vgl. R. Meier, Abstrakte Prinzipien, S. 198.
297
philosophischen oder theologischen Metaphysik, weil sie bei der sittlichen Erfahrung ansetzt und weil diese Erfahrung als lebendiges Material der Vernunft direkt gegeben ist und sie zur moralischen Theoriebildung anregt 57 . Die sittliche Erfahrung in ihrer Tiefe als Liebe hat sogar umgekehrt direkte erkenntnistheoretische, mystische und religiöse Bedeutung 58 . Dies hat Solov'ev in seinen kleineren Schriften „Der Sinn der Liebe" (1892-1894) und „Das Lebensdrama Piatons" (1898) dargelegt sowie hauptsächlich in der „Rechtfertigung des Guten", dem „ersten ethischen System eines russischen Denkers" 59 , das viele seiner Interpreten für Solov'evs wichtigstes und wertvollstes Werk überhaupt halten 60 . Wie verhalten sich sittliche und mystische Erfahrung in diesen, der Ethik gewidmeten Schriften zueinander? Solov'ev analysiert in der „Rechtfertigung des Guten" zwei Bereiche der Erfahrung: die äußere Lebenserfahrung im bewußten Handeln, die die „sittliche Überwindungstat" (nravstvennyj podvig) gegen den Egoismus umfaßt 61 , und die innere oder psychische Erfahrung, die das „religiöse Gefühl" (religioznoe cuvstvo) als individuelle Grundlage der Religion und Moral umfaßt 62 . Die sittliche Erfahrung gehört dem äußeren und dem inneren Erfahrungsbereich zugleich an; der innere Bereich ist ihre Grundlage. Die drei sittlichen Grundgefühle Scham, Mitleid und Ehrfurcht 63 sind ein dreifacher Ausdruck des einen Grundgefühls der Liebe, das als Ehrfurcht zugleich sittlich und religiös ist. Zusammen bilden die drei Grundgefühle die faktische Grundlage der Sittlichkeit 64 . Die Ehrfurcht als religiöses Gefühl, in dem sich Gott dem Menschen zu erkennen gibt, wird von Solov'ev zum unbedingten Prinzip der Sittlichkeit erhoben 65 . Denn diese grundlegende religiöse Erfahrung fordert auch die unbedingte Anerkennung des göttlichen Willens für das menschliche Handeln. Die Sittlichkeit beruht so auf religiöser Erfahrung und ihrer phänomenologischen Analyse 66 . Die vollkommene religiöse Erfahrung der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott stellt Solov'ev in den genannten Schriften analog zur Erfahrung des gegenseitigen geistlichen Liebespathos zwischen Mann und Frau dar, das zur völligen Vereinigung der beiden Liebenden und zur Überwindung ihres Egoismus führt 67 . Diese Liebeserfahrung ist für Solov'ev echte religiöse und mystische Erfahrung 68 . Sie ist die letzte und tiefste Begründung der Sittlichkeit. Die sittliche Erfahrung erweist sich beim späten Solov'ev zwar als unabhängig von der Metaphysik und der verfaßten Religion, die damit keine Grundlage der philosophischen Ethik für Solov'ev sein können, aber doch auch als im tiefsten Sinn angewiesen auf die religiöse und mystische Erfahrung des einzelnen. Die sittliche Erfahrung ist erkenntnistheoretisch auch vom persönlichen Glauben des einzelnen an Gott als das Gute abhängig. Auch hier besteht wieder eine zweifache Beziehung von Erfahrung und Glaube. Einerseits basieren der philosophisch gerechtfertigte Glaube oder der von der Kirche vertretene dogmatische Glaube und die ihnen entsprechende philosophische oder theologische Ethik auf innerer sittlicher und religiöser Erfahrung 69 . Andererseits ist der persönliche, unmittelbare Glaube an die unbedingte Bedeutung des Guten in der Welt, der persönliche Glaube an Gott, „logisch eher als alle positiven religiösen Anschauungen", eher als metaphysische und
57 59 61 64 67
298
5 8 S. o. S. 2 5 9 - 2 6 5 . O D VIII, 24 . 26 . 6 0 Z.B. È.Radlov, N. Grot, Recenzija na: „VS:OD", S. 155. 6 2 A.a.O. S. 54.119. 63 OD VIII, 17.22.24. 6S A.a.O. S. 191.196 . 205 . 66 A.a.O. S. 140. 6 8 S.o. S. 2 73 . 69 S.o.S.264f.
Nekrolog, S. 41. A.a.O. S. 122. A.a.O. S.205. 516. O D VIII, 516.
moralische Lehren und sogar eher als alle inneren sittlichen und religiösen Gefühle 7 0 . D i e sittliche Grunderfahrung der Liebe setzt - w e n n auch nicht immer im zeitlichen Erleben, so doch erkenntnistheoretisch - den persönlichen Glauben an die Existenz des geliebten Menschen und an die Existenz Gottes als den Zielen der liebenden Vereinigung voraus.
So ist die sittliche Erfahrung in den Spätschriften Solov'evs durch die religiöse und mystische Erfahrung immer mit dem Glauben verbunden. Dies äußert sich in der Verbindung von natürlicher Sittlichkeit und natürlicher Religion 71 . Seine eigene philosophische Ethik ist eine Ethik der natürlichen Religiosität in der religiösen und mystischen Erfahrung des einzelnen. Sie ist religiöse Ethik, die seine mystische Erkenntnislehre und seine Metaphysik der All-Einheit als letzte Begründung für unbedingte sittliche Forderungen voraussetzt 72 . Dies bestätigt sich, wenn wir das Verhältnis der sittlichen und religiösen Erfahrung des einzelnen zur Kirche in Solov'evs späten ethischen Schriften berücksichtigen. Solov'ev stellt den Akt der geistlichen Liebe, der zur mystischen Erfahrung Gottes führt, als den Beginn und das Wesen der Kirche Christi dar. Die Fülle der sittlichen, religiösen und mystischen Erfahrung in den Beziehungen von Gott und Mensch und der Menschen untereinander ist die Grundlage der Dogmenbildung der Kirche. Das kirchliche Dogma und die kirchliche Ethik müssen sie enthalten und ausdrücken, wenn sie für das sittliche Handeln wirksam sein sollen 73 . So bilden philosophische, religiöse und kirchliche Ethik bei Solov'ev durch die ihnen zugrundeliegenden gemeinsamen sittlichen und religiösen Erfahrungen eine Einheit. Der Weg der sittlichen Erkenntnis im Denken Solov'evs ist der gleiche wie der Weg aller Erkenntnis in seiner Erkenntnistheorie seit 1877. Es ist ein organischer Weg vom vorausgesetzten unmittelbaren persönlichen Glauben an das Gute und an Gott über die sittliche, religiöse und mystische Erfahrung zum „vernünftigen Glauben" an das Gute und an Gott 7 4 in der philosophischen Ethik und Metaphysik und schließlich zur kirchlichen Ethik und zum kirchlichen Dogma.
6. Die Offenheit der Philosophie Solov'evs für ihre Erfüllung im christlichen Glauben In der philosophischen Ethik in den späten Schriften Solov'evs zeigt sich die Offenheit seiner Philosophie für ihre Vollendung und Verwirklichung im christlichen, kirchlichen Glauben und Leben. Am sittlichen Phänomen der Liebe des Menschen macht Solov'ev exemplarisch deutlich, daß menschliche 70 72 74
71 A.a.O. S. 115. A.a.O. S. 104-114. So auch È. Radlov, Recenzija na: „VS:OD", S. 236 . A.a.O. S. 516.
73
Vgl. O D VIII, 478.
299
Phänomene ganz allgemein nur im Rahmen der Metaphysik der seienden All-Einheit verstanden werden können und in ihrer tiefsten Bedeutung nur in der christlichen Lehre vom Gottmenschentum erfaßt und in der Kirche als gelebtem Gottmenschentum verwirklicht werden können 7 5 . Schon im Jahr 1880 hat Solov'ev in seiner Vorlesung „Die historischen Taten der Philosophie" das offene Verhältnis der Philosophie zum Christentum im Uberblick über die Geschichte der Philosophie beschrieben. Diese Darstellung bleibt bis zu seinem Lebensende für sein Denken gültig. Als die Sache der Philosophie bezeichnet er es, dem Menschen den wahren Lebensinhalt in seiner inneren Verbindung mit Gott zu geben und ihn so zum wahren Menschen zu machen 76 . Bereits die vorchristliche Philosophie war offen für die Einheit des Menschen mit Gott, in der Denkform der AllEinheit des Seins wie in der indischen Philosophie der Upanischaden, durch die Verneinung der natürlichen Welt in der buddhistischen Philosophie, durch das Hinausgehen aus der natürlichen Welt ins Reich der Ideen in der platonischen Philosophie. Aber erst im Christentum fand die Philosophie nach Solov'ev ihr Ziel in der lebendigen All-Einheit alles Seienden in Gott durch die beginnende Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden und im Gottmenschentum durch „die innere Vereinigung und Wechselwirkung von Gott und Mensch, die innere Geburt Gottes im Menschen" 77 . Die Rolle der Person Christi für das allgemeine Gottmenschentum zu bestimmen, ist nach Solov'ev Sache der Theologie. Für seine eigene Philosophie setzt er die Erlösungstat Christi voraus, „der in die Welt kommt, um sie zu erlösen", und die innere Vereinigung Gottes mit dem ganzen Menschen, die der Philosophie bis dahin unmöglich war und unmöglich schien, damit erst ermöglichte 78 . An dieser Stelle wird erstmals der christliche Erlösungs- und Heilscharakter der Philosophie Solov'evs in seiner durch die griechischen Kirchenväter geprägten Form deutlich: Sie macht den Menschen zum wahren Menschen, indem sie ihm als Lebensinhalt den Weg der Vergöttlichung des Menschen zeigt. Während das Christentum im Laufe seiner historischen Entwicklung das freie Denken durch die kirchliche Autorität knechtete, entwickelte sich die Philosophie weiter, und zwar gegen die Kirche, um damit ihrer ureigensten Sache treu zu bleiben, nämlich den Menschen von nicht innerlich angenommenen, aufgezwungenen Denk- und Lebensinhalten zu befreien. Der Rationalismus richtete gegen die Kirche das Recht der Vernunft auf, der Materialismus das Recht der Materie. Die mystische Philosophie „verkündete das göttliche Prinzip im Inneren des Menschen selbst" auch dies gegen die kirchliche Macht - und eröffnete dem einzelnen Menschen „die innere, unmittelbare Verbindung mit Gott" 7 9 . Solov'ev sieht sich selbst in seiner Zeit am Ende dieser emanzipatorischen Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie weg von der Kirche und will sie durch sein eigenes 75 78
300
S.o.S. 257-259. 271 f. A.a.O. S. 40 8 .
76 79
I D F I I , 412f. IDF II, 410.
77
A.a.O. S. 408-410.
Denken zur Kirche zurücklenken, ohne die Freiheit des philosophischen Denkens aufzugeben. Ebenfalls schon kurz nach seiner erkenntnistheoretischen Wende in den späten 70er Jahren legte Solov'ev offen dar, daß seine eigene Philosophie sich ihren Inhalt von der christlichen Theologie geben läßt: die All-Einheit des Seienden und das Gottmenschentum als die Möglichkeit der inneren Vereinigung des Menschen mit Gott 8 0 . Gleichzeitig nannte er seine Philosophie eine christliche Religionsphilosophie (filosofija religii), die den religiösen Glauben und die religiöse Erfahrung der ganzen Menschheit mit ihrem Höhepunkt im Christentum in ein logisches und synthetisches System bringt 81 . Klar ist auch aus Solov'evs eigenen Worten in seinen früheren Schriften, daß seine Philosophie eine mystische Philosophie sein will, die methodisch selbständig ist, aber ihren Inhalt im christlichen Glauben an den Gottmenschen als der historischen Summe der religiösen Erfahrung der Menschheit findet 82 . Die Frucht seiner mehr theologischen Schriften in den 80er Jahren, die sich vor allem mit dem Wesen und der Aufgabe der Kirche beschäftigen, ist in seinen späten philosophischen Schriften in den 90er Jahren über die frühen philosophischen Werke hinaus die Tatsache, daß nun seine Philosophie nicht nur offen ist für den christlichen Glaubensinhalt, sondern auch für die Kirche als die lebendige Gestaltung der Glaubenswahrheit. Solov'ev nennt nun seine Philosophie eine „positive christliche Philosophie"83, die den im kirchlichen Dogma ausgedrückten christlichen Glauben begründet84 und die im christlichen Leben in der universalen Kirche ihre Erfüllung findet. Das kirchliche Christentum, das Solov'ev in seinen späten Werken in den 90er Jahren philosophisch vom Phänomen der mystischen Erfahrung her zu begründen versucht, hatte er schon früher als das lebendige Gottmenschentum bezeichnet 85 . Diese Lehre von der inneren Vereinigung von Gott und Mensch ist für ihn nicht nur die Grundwahrheit der biblischen Offenbarung, das Urdogma über Christus und das Wesen des christlichen Lebens in der Gemeinschaft der Kirche 86 , sondern auch die „einzige und volle Wahrheit" der Philosophie und der eigentliche Inhalt seiner theosophischen Erkenntnislehre 87 . Die mystische Erfahrung im philosophischen Denken Solov'evs seit 1877 ist insgesamt gesehen nur stellenweise in seinen früheren Werken eine panentheistische Erfahrung der All-Einheit des Seins. Schon früh, und zunehmend in seinen späten philosophischen Werken, ist die mystische Erfahrung für Solov'ev die Erfahrung der inneren Vereinigung von Gott und Mensch, die der Beginn der Vergöttlichung des ganzen Menschen einschließlich seines Leibes ist. Diese mystische Erfahrung ist an die kirchliche Wahrheit des 80 82 83 84 86
8 1 CB III, 35f. 40.47.111-113. K O N II, 345. F N C Z I, 264. 303; IDF II, 410; s.o. Anm. 81. PB IX, 27 (Kursiv nicht im Original). 8 5 VSChP IV, 50. 54. Vgl. TF IX, 89 f. ; ebenso : F.. Radlov, Nekrolog, S. 36. 8 7 KON II, 323; IBTIV, 288. IBTIV, 287. 317; I C A K I X , 189.
301
Gottmenschentums in Christus als Grund ihrer Möglichkeit und ihrer Verwirklichung gebunden. Die mystische Erfahrung im philosophischen Denken Solov'evs beruht letztlich auf dem von ihm phänomenologisch und metaphysisch begründeten und inhaltlich von der Kirche übernommenen Glauben an Gott, den seienden All-Einen, auf dem Glauben an den Menschen, der das Ebenbild der liebenden Einheit Gottes ist, und auf dem Glauben an den Gottmenschen Jesus Christus, der die innere Vereinigung von Gott und Mensch ermöglicht hat. In der mystischen Erfahrung der inneren Einheit von Gott und Mensch und in ihrer philosophisch begründeten Glaubensvoraussetzung erweist sich Solov'evs philosophisches Denken als christliche Theosophie des Gottmenschentums.
II. Religiöse Erfahrung und christlicher Glaube in der Entwicklung des theologischen Denkens Solov'evs Solov'evs Schriften mit überwiegend theologischem und religions- oder kirchengeschichtlichem Inhalt sind noch deutlicher von seiner Lebensaufgabe geprägt als seine philosophischen Schriften. Den christlichen Glauben im kirchlichen Dogma und in den Denkformen der griechischen Kirchenväter, die christliche religiöse Erfahrung und Spiritualität und die christliche Ethik will Solov'ev neu begründen und rechtfertigen. Direkter als in seinen philosophischen Schriften nimmt er Bezug auf die Lehre und Praxis der Kirche und auf theologische Denktraditionen. Das gilt gerade für sein Denken über die religiöse Erfahrung. Die Entwicklung und die Einheitlichkeit auch der religiösen Erkenntnislehre Solov'evs und ihr christlicher und kirchlicher Charakter sollen aufgezeigt werden.
1. Persönliche religiöse Erfahrung im Horizont des christlichen Glaubens 1.1 Der Ansatz der religiösen Erfahrung im persönlichen
Christentum
In seinen philosophischen Schriften hat Solov'ev immer wieder deutlich gemacht, daß die Erkenntnis der Wahrheit ihren Anfang im „metaphysischen Bedürfnis" des einzelnen hat. Erreicht wird sie in der Vereinigung des einzelnen Menschen mit der unbedingten Wahrheit. Dies geschieht in der mystischen Erfahrung des all-einen Seienden beziehungsweise in der religiösen Erfahrung der Vereinigung des Menschen mit Gott. Vollendet wird die Erkenntnis der Wahrheit in der im gesamten persönlichen und gesellschaftlichen Leben verwirklichten Einheit des Menschen mit Gott, im gelebten Gottmenschentum. Die religiöse Erfahrung der Vereinigung des Menschen mit Gott und das gelebte Gottmenschentum haben nach Solov'ev im Christentum
302
ihren Ort sowohl in der „persönlichen Religion" des einzelnen als auch in der „gesellschaftlichen Religion" in der Kirche und im christlichen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Leben. Die persönliche Religion ist nicht unabhängig von der gesellschaftlichen. Sie ist deren Voraussetzung und findet in Kirche und Gesellschaft ihre Bestimmung, Ergänzung, Stütze, Fülle und Vollendung1. Solov'ev geht in seinen überwiegend theologischen Schriften auf die religiöse Erfahrung im persönlichen und im gesellschaftlichen Bereich ein. Er befaßt sich in seinen Schriften bis 1884 vorwiegend mit der persönlichen Religion, dann überwiegend mit der Religion in Kirche und Gesellschaft: Zunächst behandelt er die persönliche Erfahrung als Voraussetzung der kirchlichen, später die kirchliche Erfahrung als Erfüllung der persönlichen. Wir folgen diesem zeitlichen Ablauf seines Denkens und fassen zuerst seine Gedanken zur persönlichen religiösen Erfahrung in seinen früheren theologischen Schriften zusammen, vor allem in seinen „Vorlesungen über das Gottmenschentum" (1877-1881) und den „Geistlichen Grundlagen des Lebens" (1882-1884). Im Zeitraum bis 1883 hat Solov'ev von der bestehenden kirchlichen religiösen Erfahrung in der Russischen Orthodoxen Kirche keine Impulse und schon gar keine Erfüllung seiner persönlichen religiösen Erfahrung erwartet. Seine Erwartungen konzentrierten sich für die kirchliche religiöse Erfahrung auf die ökumenische „Universalkirche", der er im Laufe der Jahre immer größere Bedeutung beimaß. In seinen theologischen Schriften bis 1883 unterschied Solov'ev dementsprechend das „Hauschristentum" (christianstvo domasnee) als lebendiges Christentum scharf vom „Kirchenchristentum" (chramovoe christianstvo)2, das er in seiner damaligen konfessionellen Form für begrenzt, in sich gekehrt und geistlich weitgehend tot hielt. Das wahre Christentum nimmt daher für Solov'ev im persönlichen „Hauschristentum" seinen Anfang. Es ist aber in seiner Begrenzung auf die persönliche Sphäre unvollkommen und bedarf des ökumenischen Christentums (vselenskoe christianstvo) der Zukunft zu seiner Vollendung. Dieses Christentum in der einen ökumenischen Kirche und in einer christlichen Weltgesellschaft ist für Solov'ev die große Aufgabe aller Christen 3 . In gleicher Weise unterscheidet er auch die Existenzweisen des Reiches Gottes. Das Reich Gottes, das „inwendig in uns ist" (Luk 17,21), dieses „innere Reich Gottes" ist die „innere Geburt Gottes im Menschen" und die persönlich erfahrene „innere Vereinigung und Wechselwirkung Gottes mit dem Menschen" - das persönlich erlebte und gelebte Gottmenschentum 4 . Solov'ev zieht es in seinen frühen theologischen Schriften dem „äußeren Reich Gottes" in der verfaßten Kirche zeitlich und sachlich vor. Das äußere Reich Gottes ist wiederum die Aufgabe der Vereinigung der Teilkirchen und der Vereinigung von Kirche und Welt in einem kollektiven historischen Prozeß 5 . Das Organ und der Ort des persönlichen Christentums und Gottmenschentums ist das Herz, der Ort des Glaubens, Fühlens, Denkens und Wollens des Menschen, an D 0 2 I I I , 303. T R P D I I I , 200. Eine wörtliche Übersetzung dieses Begriffs ist schwer möglich. Das russische Wort „chram" bezeichnet das K i r c h e n g e b ä u d e oder einen Tempel. Das „chramovoe christianstvo" hat also absichtlich bei Solov'ev den negativen Beiklang des Äußerlichen und Versteinerten. D e r gewöhnliche Begriff für das „Kirchenchristentum'' im Russischen wäre „cerkovnoe christianstvo" vom Abstraktum „cerkov'" (Kirche). Man könnte statt „Kirchenchristentum" „chramovoe christianstvo" auch mit „Kathedralenchristentum" übersetzen. 1
2
3
T R P D I I I , 199ff.
4
I D F I I , 408. 410.
s A . a . O . S. 408.
303
dem die persönliche religiöse Erfahrung in der Liebe des M e n s c h e n zu G o t t zur religiösen E r k e n n t n i s wird 6 . H i n t e r dieser „Spiritualität des H e r z e n s " in Solov'evs theologischen Schriften steht sein christliches, von den griechischen Kirchenvätern geprägtes M e n s c h e n b i l d : J e d e r einzelne M e n s c h hat aufgrund seiner G o t t e s e b e n b i l d lichkeit „unbedingte, göttliche B e d e u t u n g " , er ist „der G o t t h e i t teilhaftig" (pricastnyj B o z e s t v u ) 7 . D e r M e n s c h ist mit Geist und L e i b das Bindeglied (svjazujuscee zveno) zwischen der göttlichen und der natürlichen Welt. J e d e m einzelnen M e n s c h e n k o m m t von G o t t her eine „ewige Wesenheit" (vecnaja suscnost') z u 8 . Seine im irdischen L e b e n nur potentielle Unbedingtheit und Ewigkeit, seinen „unbedingten I n h a l t " oder seine „ G o t t h e i t " (bozestvo) kann der M e n s c h nicht von selbst erwerben. Sie wird ihm von G o t t als G n a d e geschenkt. D e r Mensch n i m m t sie an, indem er sich dieser Wahrheit zuerst im Bewußtsein öffnet und sie dann im L e b e n zu erreichen sich b e m ü h t 9 . Voraussetzung für diese Vergöttlichung des Menschen ist der G l a u b e sowohl an G o t t als auch an den M e n s c h e n , der durch die Erlösungstat Christi, des neuen geistlichen Menschen und zweiten A d a m , von der M a c h t des von G o t t trennenden B ö s e n befreit wurde und nun nicht m e h r nur potentielles Ebenbild G o t t e s ist (obraz B o z i e ) , sondern auch wirkliches Gleichnis G o t t e s (podobie B o z i e ) sein kann (vgl. G e n 1,26), indem er sich selbst freiwillig dem göttlichen Prinzip unterwirft und „die göttliche N a t u r a n n i m m t " 1 0 .
1.2 Die negative Lebenserfahrung
und der christliche
Glaube
Der Anfang aller religiösen Erfahrung des Menschen ist für Solov'ev vom Erleben des Menschen aus gesehen die negative natürliche Erfahrung des Lebens (zitejskij opyt) und die aus dieser Erfahrung gewonnene Erkenntnis (opytnoe poznanie) 1 1 . Es ist zum einen die Erkenntnis, daß das Gesetz der tierischen Natur des Menschen trotz seiner Ernährung und Vermehrung der individuelle Tod ist, zum anderen die Erkenntnis, daß das Gesetz der geistigen Natur des Menschen die Sünde ist 1 2 . Dahinter steht die Erfahrung der moralischen Unfähigkeit, sich der Stimme des eigenen Gewissens entsprechend zu verhalten, und die Selbstverurteilung. Die Konsequenz muß nach Solov'ev für den mit sich selbst aufrichtigen Menschen eine doppelte sein: erstens die Selbstverleugnung oder die Anerkennung der Tatsache, daß die eigene Anstrengung, sich vom Bösen zu befreien, untauglich ist; zweitens die Anerkennung der Tatsache, daß nur Gott vom Bösen befreien kann und dem Menschen das Gute als Gnade und Kraft zum neuen Leben schenken kann. So ist der Glaube an Gott als aufrichtige Konsequenz der Lebenserfahrung die „moralische Pflicht" des Menschen 13 . Die ganze Argumentation Solov'evs erinnert stark an den Gedankengang des Paulus im Römerbrief (vgl. besonders Rom 7). Solov'ev beruft sich auch auf Paulus, wenn er den Glauben an Gott als Vorbedingung jeder positiven 7 CB III, 10.19. Vgl. FTJuI, 173-181; DOiZ III, 306-309. 325; s.o. S. 107-109. 9 A.a.O. S. 25f. 1 0 A.a.O. S. 26.149f. 163f. 166. A.a.O. S. 121.128. 1 1 O O i III, 307f. 1 3 A.a.O. S. 312-315. A.a.O. S. 306.
6 8
304
religiösen Erfahrung und Erkenntnis nennt 1 4 . Der Glaube ist Gabe Gottes und vereinigt den Menschen mit der für ihn ohne Glauben noch nicht wahrnehmbaren Wirklichkeit Gottes und ermöglicht so erst jede wahre Gotteserfahrung 1 5 . Für die wahre und volle Gotteserkenntnis ist der Glaube die notwendige Voraussetzung. Denn die Erkenntnis der unbedingten Wahrheit, die Gott ist, ist auf der Demut (smirenie) und der Selbstentsagung (samootrecenie) unseres Verstandes und seiner Maßstäbe gegründet 1 6 . Zusammenfassend nennt Solov'ev als Bedingung positiver Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis die „geistliche Wiedergeburt" (duchovnoe vozrozdenie) des Menschen, und das heißt: „Gott im Glauben annehmen und sich dem göttlichen Willen unterordnen" 1 7 . - Aus dem Angeführten ergibt sich: Schon in den frühen 80er Jahren hat Solov'ev die Sündenerkenntnis des Menschen und seinen Glauben an Gott zur Voraussetzung aller positiven religiösen Erfahrung und aller wahren Gotteserkenntnis gemacht.
1.3 Die positive Gotteserfahrung
und das christliche
Leben
Die positive Gotteserfahrung selbst, die „Empfindung" (oscuscenie) oder das „religiöse Gefühl" (religioznoe cuvstvo), das der Mensch von Gott hat, hängt inhaltlich von seiner Gottesvorstellung ab. Solov'ev verfolgt drei Stadien der Gotteserfahrung: Furcht, Andacht und als höchste Stufe die Liebe, begleitet von der Vereinigung des Menschen mit Gott im „reinen Gebet" 1 8 . Letztlich sind auch Gottesfurcht und seine andächtige Verehrung Formen der einen positiven religiösen Grunderfahrung der Liebe Gottes im Herzen des Menschen. Es ist die Erfahrung der Gabe der Liebe Gottes zum Menschen und das lebendige Bewußtsein der Aufgabe des Menschen, diese Liebe mit der eigenen Liebe zu beantworten 19 . Die persönliche Religion des einzelnen ist die individuelle Gestaltung dieser liebenden Antwort. Solov'ev hat sie typisiert. Er nennt erstens die freiwillige Unterordnung unter Gottes Willen in ehrfürchtiger Liebe im Gebet; zweitens die Solidarität mit den Mitmenschen in mitleidvoller Liebe, ausgedrückt in der Praxis des Almosens; und drittens die Herrschaft über die Natur in schamvoller und verzichtender Liebe, ausgedrückt im Fasten20. Im Gebet, „der gnadenhaften, moralischen Verbindung mit Gott", vereinigt der Mensch im Glauben seinen Willen mit Gottes Willen und Gott wiederum vereinigt sich mit dem Menschen, für ihn erfahrbar im „Gefühl der Liebe Gottes" 2 1 . Das Almosengeben ist die Ausbreitung der im Gebet erfahrenen Gnade der Liebe
1 4 A.a.O. S. 3 1 0 - 3 1 3 . Wenn Solov'ev die Sünde als Gesetz der geistigen Natur des Menschen bezeichnet und die Bedeutung des Willens für Glaube und Handeln des Menschen betont, erinnert dies auch an Augustin. Ein gewisser Einfluß der augustinischen Denktradition auf Solov'ev legt sich hier nahe. Vgl. E.Radlov, V.S. Solov'ev. Biograficeskij ocerk, S. X X I V f. X X X I . X X X V I I I . UA.Losev, VI. Solov'ev, S. 5 8 - 6 0 . 1 5 A.a.O. S. 325. Solov'ev nennt den Glauben hier „jene Kraft, die uns mit dem, was für uns noch keine wahrnehmbare Wirklichkeit (oscutitel'naja dejstvitel'nost') hat, vereint." 1 6 D O È I I I , 330. 1 7 A.a.O. S. 326. 1 8 A.a.O. S. 3 3 6 - 3 3 8 . 1 9 A.a.O. S. 309. 2 1 A.a.O. S. 315. 3 3 6 - 3 3 8 . D 0 2 III, 301.
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Gottes auf die Mitmenschen, die ihnen die Gottesliebe selbst erfahrbar macht 2 2 . Im Fasten im weitesten Sinne des Wortes, in der Selbstbegrenzung der menschlichen N a t u r im seelischen, intellektuellen und sinnlichen Bereich, wirken nach Solov'ev die G n a d e Gottes und der gute Wille des Menschen zusammen, u m den Geist und den Leib des Menschen zur Verwandlung und Verklärung in G o t t vorzubereiten. Gebet, Almosen und Fasten als die Grundlagen der persönlichen Religion gehören immer zusammen. A l m o s e n und Fasten ergeben sich aus dem Gebet.
In allen drei religiösen Grundhandlungen erfährt der Mensch das Wirken der Gnade und Liebe Gottes, antwortet darauf mit liebendem Handeln und bereitet sich so auf seine Verklärung und Vergöttlichung vor 23 . Dies ist das Ziel aller persönlichen religiösen Erfahrungen und der persönlichen religiösen Handlungen: die allmähliche Vereinigung von Gott und Mensch, die Vergöttlichung des Menschen. Solov'ev beschreibt sie als die Folge der „fühlbaren Selbstbeschränkung" und „Selbstentäußerung" sowohl Gottes als auch des Menschen 24 . Gott entäußerte sich in Christus und beschränkte sich selbst, indem er die menschliche Natur annahm und sie so zur freien Unterordnung unter den göttlichen Willen bewegte 25 . Gott beschränkt sich selbst auch gegenüber jedem einzelnen Menschen „fühlbar" immer wieder von neuem, indem er sich in der Liebe zu erfahren gibt 26 . Die Selbstbeschränkung des Menschen geschah ebenfalls in Christus, in der inneren Uberwindung seines menschlichen Willens durch den göttlichen Willen und in der äußeren Uberwindung seiner materiellen Natur in Leiden und Tod durch die göttliche Natur. Dem einzelnen Christen wurde dadurch die Möglichkeit gegeben, sich selbst in Gebet, Almosen und Fasten durch die Gnade Gottes zu beschränken und so der göttlichen Natur teilhaftig zu werden und die Herrlichkeit der Kinder Gottes zu erlangen 27 . Das persönliche religiöse Handeln des einzelnen mit dem Ziel der wahren Gotteserfahrung und der Vereinigung mit Gott setzt also - das macht Solov'ev immer wieder deutlich das Handeln Gottes in Christus als den Grund seiner Möglichkeit und das immer wieder neu erfahrbare Handeln Gottes im einzelnen Menschen als Grund seiner Verwirklichung voraus. Um das Ziel der Vereinigung mit Gott zu erreichen, bedarf es nach Solov'ev eines ganzen Lebensweges der persönlichen religiösen Erfahrung und persönlicher religiöser Handlungen. Dieser Lebensweg umfaßt zusammengesetzt folgende Stationen: 1. die negative Lebenserfahrung der Sünde und der Selbstverurteilung; 2. die Selbstverleugnung; 3. der Glaube an Gott; 4. die Grunderfahrung Gottes als persönlicher Kraft der Liebe in der geistlichen Wiedergeburt des Menschen; 5. die Antwort des Menschen in Gebet, Almosen und Fasten; 6. die Gotteserkenntnis in der Liebe; 7. die innere Vereinigung mit Gott oder die Vergöttlichung des Menschen. Der Weg der persönlichen Religion führt aber ohne die Kirche als „Stütze und Vollen22 25
306
A.a.O. S. 3 34 . 342 . CBIII, 166f.
23 26
A.a.O. S.349f. DO¿ III, 349.
24 27
A.a.O. S. 371. A.a.O. S. 350. 371. 373f.
dung" des persönlichen Christentums den einzelnen Menschen gar nicht zum Ziel der Vereinigung mit Gott. Deswegen verwendet Solov'ev den größeren Teil seiner weiteren theologischen Schriften darauf, die Rolle der Kirche in der Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis immer wieder zu bestimmen.
2. Die Kirche als Ort der
Gotteserfahrung
Die ökumenische Kirche ist der Lebensraum, in dem der Mensch allein wahre Gotteserfahrung und wahre Gotteserkenntnis in ihrer Fülle erlangen kann. Wie sich der Weg der Gotteserfahrung in der ökumenischen Kirche bis zum Ziel der allgemeinen Auferstehung und der vollen Verwirklichung des Reiches Gottes gestaltet und gestalten soll, legt Solov'ev in seinen theologischen Schriften der 80er Jahre dar. Wir fassen seine Gedanken aus folgenden Schriften zusammen: „Uber die geistliche Gewalt in Rußland" (1881); „Die geistlichen Grundlagen des Lebens", 2. Teil (1882-1884); „Uber das Schisma im russischen Volk und in der russischen Gesellschaft" (1882-1884); „Der große Streit und die christliche Politik" (1883); „Geschichte und Zukunft der Theokratie" (1885-1887); „Rußland und die universale Kirche" (1889); sowie „Die Rechtfertigung des Guten", Kapitel 19 (1894-1897).
2.1 Die Kirche — Kriterium für wahre religiöse Erfahrung und
Erkenntnis
Daß Glaube und Leben der Kirche notwendig sind, damit die religiöse Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit entspricht, macht Solov'ev am Gegenbeispiel der privaten Religiosität des Gefühls deutlich, wie er sie in den freien Sekten in der russischen Adelsgesellschaft, besonders in pietistischen und spiritistischen Sekten, vorfand 28 . Wenn der Mensch sich nicht über sich selbst und seine Gedanken und Gefühle erhebt, wird Gott bald überflüssig, weil er nur noch Symbol des eigenen Gefühls des Menschen ist. Darin sieht Solov'ev das Schicksal einzelner durchaus religiöser Menschen und ganzer Sekten, die sich von der Kirche getrennt haben. Ihre religiöse Erfahrung trennen sie vom eigentlichen Quell ihrer inneren Gefühle, nämlich von Gott 2 9 . Diese natürliche Selbstbehauptung des menschlichen Prinzips, die Begrenzung der Erfahrung auf das eigene Subjekt kann der Mensch nach Solov'ev nur durch sein Leben in der Kirche überwinden 30 . Zur Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis wird die religiöse Erfahrung erst auf der Grundlage des Glaubens an Gott und der praktischen Frömmigkeit, und beides ist nur durch die Kirche und in der Kirche möglich 31 . Denn sie ist die logische und sachliche Grundlage des persönlichen religiösen Erlebens. Ihr Dogma und ihr Frömmigkeitsleben prägt und befestigt die religiöse Erfahrung und den Glauben des einzelnen 32 . Hinter dieser Argumentation Solov'evs steht sein von Chomjakov übernommenes Axiom seiner Erkenntnislehre, daß die Erkenntnis der unbedingten Wahrheit beziehungsweise ihre „wesenhafte Annahme" im Glauben und in der Erfahrung allein dem Menschen gegeben wird, der Gott und 28 31
29 A.a.O. S. 279f. RRNO III, 245. 277ff. REU, FS, 128f. (= DG III, 151 f.).
30 32
A.a.O. S. 257. IBTIV, 327. 307
seine Nächsten liebt 33 . Der einzige allumfassende Ort des Glaubens und der Gottesund Nächstenliebe ist durch die Gnade Gottes die Kirche. Sie ist die Versammlung derer, die an Gott, der die Liebe ist, glauben und ihn lieben, und die Versammlung derer, die sich untereinander lieben 34 . Solov'ev nimmt auch Chomjakov auf, wenn er die Kirche den weltweiten Organismus der Wahrheit und der Liebe nennt. Nur in diesem Organismus wird die Wahrheit, wird Gott in Liebe erkannt und erfahren 35 . Denn hier ist der Ort der Uberwindung der persönlichen Beschränktheit des einzelnen in der selbstverleugnenden Hingabe an die vom einzelnen unabhängige „ökumenische Wahrheit der Kirche" 3 6 . In der Kirche werden die persönlichen religiösen Gefühle und die privaten religiösen U b e r z e u g u n g e n in die wahre Gotteserfahrung in der kirchlichen Frömmigkeit und in die wahre Gotteserkenntnis im kirchlichen D o g m a umgewandelt und können sich in ihr immer weiter vervollkommnen. D i e Vorbedingung der wahren Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis ist nach Solov'ev für den einzelnen Menschen also, daß er „ein lebendiges Glied am lebendigen Leib der Kirche ist und sich als solcher erkennt", daß er „solidarisch ist mit der Ganzheit der K i r c h e " 3 7 . Auch der weitere Weg der religiösen Erfahrung des einzelnen, sein Weg zu Gott in Gebet, Almosen und Fasten und seine innere Vereinigung mit G o t t , seine Vergöttlichung, kann nur innerhalb der Kirche verlaufen. Denn die Kirche ist das lebendige Gottmenschentum38, die kollektive F o r m der Einigung der Menschen mit G o t t 3 9 . Sie ist das im Lauf der Geschichte sich vollendende Gottmenschentum aller Menschen, dessen G r u n d im G o t t menschentum Christi gelegt ist 4 0 . D e s w e g e n ist die Gotteserfahrung der Menschen als Glieder der Kirche eine innere und lebendige Erfahrung der Gnade G o t t e s 4 1 , und deswegen ist die Gotteserkenntnis der Christen eine konkrete und praktische Erkenntnis der göttlichen Wahrheit als Liebe 4 2 . Schon der Beginn der Vergöttlichung des Menschen ist nur innerhalb der Kirche gegeben: Die Einheit von Gott und Mensch wird dem Christen durch die „Gnade der Sakramente", besonders der Taufe und der Eucharistie, als „Keim zur Erfüllung" der Vergöttlichung geschenkt 43 . Auch die Entwicklung und Verwirklichung der Erfahrung der Einheit von Gott und Mensch kann für den einzelnen nur innerhalb der Kirche geschehen. Denn sie ist der lebendige Leib Christi, der sich zu Christus hin entwickelt, die „Braut Christi". Solov'ev betont, daß diese Bezeichnungen der Kirche, wenn sie auch Ausdrücke eines theologischen Mysteriums sind, dennoch völlig reale Bedeutung haben 44 . In Anlehnung an Samarins Vorstellung von der Kirche als beseeltem gottmenschlichem Wesen 45 sieht Solov'ev die Kirche als „lebendiges ... real-metaphysisches Wesen" 46 , das nicht nur unbewußt beseelt ist, sondern sich 33 36 38 40 43 46
308
3 4 DVR III, 228. A.a.O. S. 253f. IBT IV, 252. 3 7 IBT IV, 328. VSChP IV, 95. 100 . 3 9 O O Ì III, 381. 384. D O 1 III, 380; VSChP IV, 50. 54; IBT IV, 258. 4 1 REU, FS, 251 ( = D G III, 342f.). A.a.O. S.386. «S.o.S.258f. 4 4 IBT IV, 325 . 4 5 IBT IV, 251. R R N O III, 267. A.a.O. S. 324f.
seiner selbst bewußt frei wirkt 47 . Die Kirche wächst als „lebendige gottmenschliche Einheit" unaufhörlich „an geistlicher Kraft und Erkenntnis" (razumenie) 48 . Der einzelne Christ nimmt teil an der „Entwicklung und Verwirklichung der religiösen Erfahrung" 49 und an der „Entwicklung des religiösen Denkens" 5 0 in der Kirche. Diese positive Entwicklung ist zwar unaufhörlich, aber keineswegs historisch geradlinig. Solov'ev hat sie schon in den frühen 80er Jahren als geistlichen Kampf gegen die von Gott trennenden Kräfte verstanden. Er vergleicht das geistliche Wachstum der Kirche und der Christen mit dem eines Baumes. Die nährende Wurzel sind die Gnade Gottes in den Sakramenten und die Liebe Gottes und die Bruderliebe in der Kirche. Darauf wächst der Stamm des Kreuzes des geistlichen Kampfes. Das Kreuz ist das Symbol der von Gott genährten geistlichen Kraft des Menschen, die durch Leiden überwindet 51 . Die Gotteserfahrung, die im Laufe des Lebens wächst, ist also in erster Linie Leidenserfahrung. Als das Ziel der Entwicklung in der Kirche, als die Krone und Frucht des Baumes, nennt Solov'ev die allgemeine Auferstehung der Toten, die Wiederherstellung aller Dinge (vosstanovlenie vsjaceskich, άποκατάστασις των πάντων) 52 und die endgültige Errichtung des Reiches Gottes auf Erden, die Fülle der Kirche als universaler gottmenschlicher Organismus, der die ganze Menschheit und die gesamte Natur umfaßt 53 . Eine gewisse Zweideutigkeit in der Vorstellung der Vollendung der Vergöttlichung der Menschheit bleibt in Solov'evs Schriften der 80er und 90er Jahre bestehen. Einerseits nennt er das übernatürliche endzeitliche Geschehen der allgemeinen Auferstehung der Toten die Erfüllung der Entwicklung der Kirche. Dies bewirkt allein Gottes Handeln. Andererseits nennt er das Ziel der Entwicklung die „freie Vergottung der Menschheit" (svobodnoe obozenie celovecestva)54 durch das „aktive menschliche Prinzip der Bewegung und des Fortschritts" 55 . Seine Betonung der freien, aktiven Rolle der Menschheit hat Solov'ev bisweilen in den 80er Jahren dazu geführt, die Vereinigung der ganzen Menschheit und der Natur mit Gott für die Folge der „menschlichen Selbsttätigkeit" zu halten, wenn auch auf der Grundlage der göttlichen Wurzeln des menschlichen Handelns 56 . Erst in den „Drei Gesprächen" an seinem Lebensende hat Solov'ev die Vollendung der Vergöttlichung der Menschheit eindeutig als das eschatologische Handeln Gottes allein beschrieben. Dennoch betont 4 8 A.a.O. S. 324f. 4 9 A.a.O. S. 285; O D VIII, 471. A.a.O. S. 261. 51 I B T I V , 283-285. DOZIII.379. S 2 KZF I, 150; D O È III, 379; R E U , FS, 267 ( = D G III, 369); O D VIII, 220: Solov'ev gebraucht jeweils den griechischen Begriff. Vgl. Apg 3,21. Zeit seines Lebens hat Solov'ev, von Orígenes inspiriert, die Vorstellung der άποκατάστασις των πάντων anstatt der Vorstellung der endgültigen Vernichtung der geschaffenen Welt oder einzelner Geschöpfe am Ende dieser Zeit vertreten. Die άποκατάστασις των πάντων nennt Solov'ev die „volle Erscheinung des AllEinen" (polnoe projavlenie vseedinogo, KZF 1,150). Auch in den „Drei Gesprächen" bleibt eine άποκατάστασις των πάντων nach der apokalyptischen Katastrophe möglich. Solov'ev läßt diese Möglichkeit als die Erfüllung der All-Einheit von Gott und Schöpfung bewußt offen. (So auch: E. Trubeckoj, Solov'ev i Lopatin, S. 575). 5 4 A.a.O. S. 401. s s A.a.O. S. 402. " D 0 2 III, 380. 382. 5 6 Vgl. z.B. R E U , FS, 254. 2 5 9 - 2 6 7 ( = D G III, 348. 357-369). Die Vereinigung und Identifikation der himmlischen Sophia mit der Weltseele, die das Subjekt der geschaffenen Welt ist, in der „vollkommenen menschlichen Gesellschaft" als der „fleischgewordenen Sophia" ist einer der Versuche Solov'evs, die Vollendung und Vergottung der Menschheit als organische Folge des „kosmologischen und historischen Prozesses" aufzuzeigen. - S.o. Anm.63 (zu S. 37). 47
50
309
er auch in den Schriften der 80er und 90er Jahre die „freie Übereinstimmung des göttlichen und des menschlichen Prinzips", bei der Gott die grundlegende „wirkende Kraft" (dejstvujuscaja sila) ist und der Mensch die „frei mitwirkende Kraft" (sodejstvujuscaja sila) 57 . Die Vereinigung von Gott und Mensch vollzieht sich also nach Solov'ev als Synergie von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit 5 8 , in ihrer Vollendung aber letztlich als Handeln Gottes allein. Denn die Vollendung und Fülle der Gotteserfahrung findet der Mensch nur in der „Fülle Christi" (polnota Christa), der alles im Himmel und auf Erden erfüllt und zusammenfaßt 5 9 . Dies geschieht am Ende der Zeiten. Daher ist die vollendete Gotteserfahrung, die „Empfindung" und der „Genuß" der göttlichen Wahrheit erst am Ende der Zeiten den Menschen gegeben 6 0 .
2.2 Wahre Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis in den Formen der ökumenischen Kirche Der Weg zum Ziel aller religiösen Erfahrung und alles religiösen Denkens liegt nicht nur innerhalb der Kirche, sondern wird durch sie in ganz bestimmten Formen organisiert. Denn die Kirche ist als lebendiger Organismus der Wahrheit und der Liebe gleichzeitig deren praktische Organisation 61 . Sie ist die „Organisation der Frömmigkeit" (organizacija blagocestija) 62 , des menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns zur Entwicklung der Vereinigung der Menschen mit Gott. Die Entwicklung der religiösen Erfahrung geschieht in der Kirche in organisierten Formen der Frömmigkeit63. Das sind keine willkürlichen Formen, sondern Widerspiegelungen des Wesens der Kirche, wesenhafte Formen ihres Lebens. Sie sind ökumenisch, sie müssen entweder in der gesamten Weltkirche gelten und gebraucht werden oder sie müßten trotz ihrer faktischen Partikularität in der ganzen ökumenischen Kirche gelten können. Denn das Wesen der Kirche ist ihre Okumenizität oder überkonfessionelle Katholizität 64 . Die Einheit der Kirche besteht immer schon im „mystischen Band" aller besonderen Nationalund Konfessionskirchen (cerkovnye obscestva) mit Christus, dem einen Haupt der Kirche (cerkov') 65 . Ihre Katholizität im ökumenischen Sinn ist die „göttliche Grundlage der Kirche" und das „wahre Kennzeichen ihrer GöttDO¿ III, 401. R E U , FS, 2 6 7 ( = D G III, 3 6 9 ) : „coopération continuelle de la grâce et de la liberté". 5 9 D O Z III, 303. Solov'ev zitiert hier nicht Paulus. Aber seine Anspielung auf Eph 1,10.23 (πλήρωμα του τά πάντα έν πάσιν πληρουμένου) ist deutlich, wenn er von der „Fülle Christi" spricht und sie mit der Kirche gleichsetzt. 6 0 R E U , FS, 129 ( = D G III, 153). 6 1 I B T I V , 252 . 6 2 O D VIII, S. X X X V I I . " O D VIII, 471. 6 4 R R N O III, 245. Im Russischen wird sprachlich deutlich zwischen der Katholizität der gesamten Kirche (kafolicnost', kafolicestvo) und dem Katholizismus der römischen Kirche (katolicestvo) unterschieden. 57
58
6 5 VSChP IV, 106. Solov'ev vermeidet es, angesichts dieser höchsten Wirklichkeit „Teilkirchen" zu sprechen.
310
von
lichkeit" 6 6 . Sie bezieht sich aber auch auf die „äußere Gesamtheit" des Weges, der Wahrheit und des Lebens der Kirche 6 7 . Auch die sichtbare Kirche und alle ihre Formen müssen katholisch oder ökumenisch sein, um dem Wesen der Kirche zu entsprechen. Dies gilt auch für die Formen der kirchlichen religiösen Erfahrung. Solov'ev nennt drei Prinzipien der Katholizität der Kirche, die sich in den Formen der wahren kirchlichen religiösen Erfahrung widerspiegeln müssen : die Tradition, die Autorität und die Freiheit66. Jedes dieser Prinzipien ist katholisch und gilt in der gesamten Kirche, ist aber nur für eine Konfession typisch. Das Prinzip der Tradition (predanie) oder des Heiligtums (svjatynja) ist typisch für die Ostkirche. In den nach Solov'ev für die ökumenische Kirche wesenhaften Formen der Hierarchie in apostolischer Sukzession, der Dogmen der ökumenischen Konzile und der kirchlichen Sakramente ist das Prinzip der Tradition die Grundlage der gesamten Kirche 69 . Die wahre Gotteserfahrung der gesamten Kirche entwickelt sich auf dieser Grundlage. Aber das Traditionsprinzip hat auch Formen der religiösen Erfahrung zur Folge, die nur ihrem Wesen nach katholisch sein könnten, in der kirchlichen Realität aber spezifisch für die Ostkirche sind. Solche Formen sind für Solov'ev die Göttliche Liturgie, die „dem religiösen Gefühl den schönsten Ausdruck gab" 7 0 , und die Ikonographie 7 1 . In diesen speziellen Formen drückt die orthodoxe Frömmigkeit die Erfahrung der All-Einheit und Fülle des göttlichen Kosmos aus und leitet durch diese Formen den einzelnen zu dieser Erfahrung an. - Das Prinzip der Autorität (avtoritet) oder der Macht (vlast') ist typisch für die römische Kirche. Die Organisation dieses Prinzips in konkreten Formen nennt Solov'ev das Hauptmittel der gesamten Kirche, das Gottmenschentum in der ganzen Menschheit zu verwirklichen12. Die notwendige Organisationsform der Autorität ist die auf Wahrheit und Liebe gegründete universale kirchliche Monarchie 73 in ihrer „trinitarischen" Ausprägung 74 : als Priestertum im päpstlichen Primat 75 , als Königtum im Haupt des christlichen Staates 76 und als Prophetentum im freien Amt, das Kirche und Staat immer wieder das Ideal der vergöttlichten Menschheit als Ziel ihres Handelns vorhält 77 . Das Papsttum ist für Solov'ev die für die ökumenische Kirche wesentliche Organisationsform des gesellschaftlichen Gottmenschentums78, und deshalb hat er bis zu seinem Tod an ihm festgehalten. - Das Prinzip des persönlichen Gewissens (licnaja sovest') oder der Freiheit (svoboda) ist schließlich typisch für den Protestantismus. Solov'ev hat dieses Prinzip als das Ziel des Gottmenschentums der Kirche bezeichnet 79 . Spätestens in den „Drei Gesprächen" hat er aber die Formen der persönlichen religiösen Erfahrung, die aus der Freiheit des einzelnen Christen in der Kirche heraus entstehen, als wesenhafte Formen auch der kirchlichen Erfahrung anerkannt.
66 68 71 73 75 76 77 78 79
6 7 A.a.O. S. 245; D 0 2 III, 394. R R N O III, 245.254f. 6 9 A.a.O. S. 50f. 7 0 SVECh, FS, 108 ( = DG III, 105). VSChPIV,50.112 . 7 2 VSChP IV, 50. R E U , FS, 266 ( = DG III, 3 6 8). 7 4 A.a.O. S. 281 f. ( = DG III, 393f.). R E U , FS, 212 ( = DG III, 2 83).
A.a.O. S. 235f. 282ff. ( = DG III, 319f. 394ff.). A.a.O. S. 288ff. ( = DG III, 404ff.). A.a.O. S. 291 ( = DG III, 409). Ό Ο ί III, 412; R E U , FS, 235. 288 ( = DG III, 319. 404). D O Z III, 50.
311
Damit die religiöse Erfahrung in den Formen, die sich aus den Prinzipien der Tradition, der Autorität und der Freiheit ergeben, gültige Erfahrung der ökumenischen Kirche ist, bedarf es nach Solov'ev nur einer Bedingung: Keines dieser Prinzipien darf einseitig zum Maßstab der religiösen Erfahrung gemacht werden. Geschieht dies dennoch, so wird die religiöse Erfahrung in der Isolierung einer Partikularkirche einseitig oder gar falsch sein. Der Deutlichkeit halber seien hier einige negative Beispiele genannt, die Solov'ev aufführt. Das ostkirchliche Prinzip wird isoliert zum Byzantinismus, das heißt zu einer Verabsolutierung zeitlicher und lokaler Traditionen des Glaubens und der Frömmigkeit bis hin zum „Phyletismus" sich selbst genügender isolierter östlicher Nationalkirchen 80 . Auf dem Gebiet der religiösen Erfahrung und Erkenntnis entspricht dem die Verabsolutierung bestimmter Riten, aber auch die Isolierung und Verabsolutierung des Göttlichen in der ausschließlichen Kontemplation Gottes 81 und in der populären menschenlosen Gottesvorstellung. Das römische Prinzip wird isoliert zum Papismus, zur Ausdehnung der zentralen kirchlichen Gewalt, die legitim nur in den Fragen der gesellschaftlichen Existenz der Kirche ist, auf die ewigen und wesenhaften Formen der Kirche, zur päpstlichen Gewalt über die Hierarchie, das Dogma und die Sakramente der Kirche 82 . In der Frömmigkeit konnte der Papismus zu einer Mentalität und Praxis der Kriegführung gegen andere Christen und zu der Herrschaft materieller Prinzipien im kirchlichen Leben führen 83 . Die Isolierung sowohl des römischen Prinzips der Autorität als auch des protestantischen Prinzips der persönlichen Freiheit führen nach Solov'ev zu einem Rechts- und Anspruchsdenken einzelner oder ganzer Gruppen innerhalb der Kirche, was der notwendigen Selbstverleugnung und Hingabe an die ökumenische Wahrheit als Vorbedingung wahrer Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis widerspricht 84 . Dieses Verhalten kann sich so auswirken, daß nur noch ein im Grunde unbekannter und unerfahrener Gott verehrt wird oder daß der Mensch in der Verabsolutierung seiner Selbsttätigkeit zum praktisch gottlosen Menschen wird 85 . Alle diese Beispiele sollen das eine deutlich machen: Das ostkirchliche wie das römische oder das protestantische Prinzip sind für sich allein Abweichungen von der Fülle des Christentums in der lebendigen Einheit von Gott und Mensch 8 6 . Wahre Gotteserfahrung und wahre Gotteserkenntnis ist nach Solov'ev nur in der ökumenischen Kirche in ihren drei wesenhaften Organisationsformen und Ausdrücken der Frömmigkeit möglich: in der kirchlichen Hierarchie durch die von Christus herkommende apostolische Sukzession 8 7 als dem Weg Christi zum einzelnen Christen; im Glauben an das ökumeni-
80
81 82 83 VSChPIV,71.75. A.a.O. S. 38 . 45 . A.a.O. S. 83. A.a.O. S. 86. 85 86 A.a.O. S. 100.102 . A.a.O. S. 30. A.a.O. S. 70. 87 Die apostolische Sukzession als das „Prinzip des geistlichen Lebens, das nicht von uns kommt", als „Weg von oben her", ist für Solov'ev in allen seinen Schriften zur Kirche ein Wesensmerkmal der „Einheit und Heiligkeit der Kirche in der Geschichte" gewesen (vgl. O D VIII, S. XXXVII und S.473 . 477). Wegen des Fehlens der apostolischen Sukzession sah er deshalb lange Zeit den Protestantismus nicht als Teil der einen Kirche an. In der von Solov'ev in den „Drei Gesprächen" geschilderten Vereinigung der Evangelischen mit den Katholiken und Orthodoxen ist schließlich die Anerkennung der katholischen und orthodoxen Hierarchie als „Väter" und „Brüder" in der apostolischen Sukzession durch die Evangelischen eine entscheidende Vorbedingung für die äußere Vollendung der Einheit aller Christen (vgl. TR X, 214. 218). 84
312
sehe Dogma88, b e s o n d e r s an das D o g m a v o n der w a h r e n G o t t h e i t u n d M e n s c h h e i t Christi, als der Wahrheit Christi für den C h r i s t e n ; u n d i m E m p f a n g der heiligen Sakramente der Kirche, b e s o n d e r s der Taufe u n d der Eucharistie 8 9 , als d e m K e i m der V e r g ö t t l i c h u n g des M e n s c h e n u n d als d e m Leben Christi i m e i n z e l n e n C h r i s t e n 9 0 . In allen diesen drei W e s e n s f o r m e n der ö k u m e n i s c h e n Kirche ist nach S o l o v ' e v C h r i s t u s selbst gegenwärtig. U n d d e s w e g e n sind alle drei W e s e n s f o r m e n der kirchlichen F r ö m m i g k e i t für die w a h r e G o t t e s e r f a h r u n g u n d - e r k e n n t n i s n ö t i g 9 1 : Sie stellen die M ö g l i c h k e i t für den M e n s c h e n dar, C h r i s t u s als Weg, Wahrheit u n d L e b e n (Joh 14,6) selbst z u erfahren u n d z u erkennen.
2.3 Der Weg der religiösen Erfahrung Kirche bis zu ihrer Vollendung
des einzelnen
in der
ökumenischen
D e r Weg der religiösen Erfahrung des einzelnen, den Solov'ev in den theologischen Schriften der 80er und 90er Jahre beschreibt, ist der gleiche auch in seinen letzten Schriften geblieben. Die Zusammenfassung der Stationen dieses Weges ist f ü r Solov'evs gesamtes theologisches D e n k e n repräsentativ (siehe das beigefügte Schema „Der Weg der religiösen Erfahrung und Erkenntnis in der Kirche"). Die Darstellung der religiösen Erfahrung setzt bei Solov'ev immer bei der Erfahrung des einzelnen an. Die individuelle Erfahrung bleibt aber stets zweideutig. U m wahre Erfahrung Gottes zu werden, setzt sie die Selbsthingabe des Erfahrenden nicht nur an G o t t , sondern auch an die Kirche voraus. D e n n in der Kirche findet der Mensch G o t t selbst in Christus durch den Heiligen Geist. Innerhalb der kirchlichen religiösen Erfahrung betont Solov'ev die sachliche Priorität der Gabe der Gegenwart Gottes in den wesenhaften Formen der Kirche vor der aktiven Mitarbeit des Menschen in den ökumenischen Formen der Frömmigkeit. So beruht die Gotteserfahrung im Gebet auf der Synergie von G o t t und Mensch, aber die Gabe Gottes k o m m t der Aufgabe des Menschen zuvor 9 2 : Das gläubige Beten setzt die Gabe des Wortes Gottes und sein persönliches H ö r e n und Lesen voraus und das wiederum die göttliche Gabe der kirchlichen Hierarchie, die es verkündigt und überliefert 9 3 . Almosen und Fasten setzen nach Solov'ev gegen jeden angestrengten Moralismus und jede übertriebene Gewissenhaftigkeit das Vertrauen des Menschen 88 Gemeint sind die D o g m e n der sieben altkirchlichen ökumenischen Konzilien, die „durch Vertreter der ganzen ökumenischen Kirche aufgestellt w u r d e n " und die „von der kirchlichen G a n z h e i t " ausgingen. Vgl. D O Z III, 396. 89 D O Z III, 378. 398f.; R E U , FS, 2 9 3 - 2 9 7 ( = D G III, 4 1 2 - 4 1 9 ) . Solov'ev meint immer die sieben Sakramente der o r t h o d o x e n u n d römisch-katholischen Kirche, w e n n er allgemein von den Sakramenten spricht. Die Taufe, die Konfirmation oder F i r m u n g (die in der O r t h o d o x i e gleich im A n s c h l u ß an die Taufe gespendet wird u n d mit ihr zu einem Ritus verbunden ist) und die Eucharistie o d e r K o m m u n i o n hebt Solov'ev aber als die grundlegenden Sakramente hervor, durch die G o t t die Menschen v o m Bösen befreit und mit sich eint (vgl. R E U , FS, 293 f. = D G III,412-415). 90 Zu den drei genannten Wesensformen der Kirche vgl. bei Solov'ev: D O Í . III, 388; V S C h P IV, 105f.; R E U , FS, 129 ( = D G III, 153); O D VIII, 4 7 3 - 4 7 9 . 91 92 93 D O È III, 388. A . a . O . S. 316. Vgl. T R X, 124f.
313
O k. i
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ω o u. • i-Η
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