Musiktheater als Herausforderung: Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft [Reprint 2015 ed.] 9783110918700, 9783484660298

Music theatre represents a provocative challenge both for drama studies and musicology. Methodologically, analytically,

177 99 25MB

German Pages 243 [244] Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
Spiel-Räume der Stimme. Kleine Streifzüge zwischen den Fächern
Schreibweise –Typus – Gattung. Zum gattungssystematischen Ort des Librettos (und der Oper)
Schauspieler - Sängerdarsteller. Zur unterschiedlichen Aufführungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen
Das Theater in der Singstimme. Anforderungen an die Analyse vokaler Interpretation
"Geste" und "Wort". Anmerkung zum Wandel des Musikbegriffs und den Folgen für die Konzeption des Musiktheaters
'Die Oper'. Der problematische Anweg zum Problem ihrer gattungstheoretischen Definition
Zum Problem einer Gattungssystematik des Musiktheaters im 19. Jahrhundert
Vom Werkcharakter der 'Oper' zur Textur von 'opera'. Plädoyer für die Revision eines folgenreichen Paradigmas
"Of Pipes and Parts". Die Kastraten im Diskurs der Darstellungstheorie des frühen 18. Jahrhunderts
Körperästhetik im Sprech- und Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts
Melodram und melodramatisches Sprechen als Modi gattungs- und spartenübergreifender Übergänge
Das Kapellmeisterbuch oder Der zweite Regisseur am Pult
Ausgangspunkt Wien. Operette als Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung
Ein Beitrag zur „Problemgeschichte des Inszenierens“
Theatrale Aktionen in und mit Musik. Zum Handlungs- und Rollenbegriff in John Cages und Mauricio Kagels Musiktheater
Marthalers Musiktheater
Abstracts
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Musiktheater als Herausforderung: Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft [Reprint 2015 ed.]
 9783110918700, 9783484660298

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 29

Musiktheater als Herausforderung Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Musiktheater als Herausforderung : interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft / hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Theatron ; Bd. 29) ISBN 3-484-66029-5

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Satz und Datentechnik GmbH, Kempten. Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch.

Inhalt

Vorwort Hans-Peter Bayerdörfer Spiel-Räume der Stimme. Kleine Streifzüge zwischen den Fächern

VII

1

Albert Gier Schreibweise - Typus - Gattung. Zum gattungssystematischen Ort des Librettos (und der Oper)

40

Julia Liebscher Schauspieler - Sängerdarsteller. Zur unterschiedlichen Aufführungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen

55

Susanne Vill Das Theater in der Singstimme. Anforderungen an die Analyse vokaler Interpretation

71

Monika Woitas "Geste" und "Wort". Anmerkung zum Wandel des Musikbegriffs und den Folgen für die Konzeption des Musiktheaters

80

Erik Fischer 'Die Oper'. Der problematische Anweg zum Problem ihrer gattungstheoretischen Definition

92

Matthias Brzoska Zum Problem einer Gattungssystematik des Musiktheaters im 19. Jahrhundert

101

Bettina Schlüter Vom Werkcharakter der 'Oper' zur Textur von 'opera'. Plädoyer für die Revision eines folgenreichen Paradigmas

110

Christopher B. Balme "OfPipes and Parts". Die Kastraten im Diskurs der Darstellungstheorie des frühen 18. Jahrhunderts

127

Sabine Henze-Döhring Körperästhetik im Sprech- und Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts

139

Ulrich Kühn Melodram und melodramatisches Sprechen als Modi gattungs-und spartenübergreifender Übergänge

145

Hedwig Meier Das Kapellmeisterbuch oder Der zweite Regisseur am Pult

160

Marion Linhardt Ausgangspunkt Wien. Operette als Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung. . .

167

Arne Langer Ein Beitrag zur „Problemgeschichte des Inszenierens"

177

Barbara Zuber Theatrale Aktionen in und mit Musik. Zum Handlungs- und Rollenbegriff in John Cages und Mauricio Kagels Musiktheater

190

Guido Hiß Marthalers Musiktheater

210

Abstracts

225

Hans-Peter Bayerdörfer

Vorwort

Die in diesem Band vorgelegten Abhandlungen gingen aus einem interdisziplinären Symposium hervor, das im November 1996 im Wissenschaftszentrum von Schloß Thurnau stattgefunden hat. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Vorbereitung und Durchfuhrung ermöglicht hat, sei im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, die daran teilgenommen haben, an dieser Stelle herzlich gedankt. Thema und Programm des Symposiums beruhen auf Überlegungen, welche die gegenwärtige Situation der an Fragen des Musik- und des Schauspieltheaters interessierten Disziplinen, vor allem Theater- und Musikwissenschaft, im Rückblick auf ihre wissenschaftsgeschichtliche Genese zu problematisieren versuchten. Abgesehen von theoretischen und methodologischen Grundproblemen, die die Fachdisziplinen ohnehin verbinden und die alle Bereiche von Theaterforschung aufwerfen, gibt es fachspezifische Erscheinungen von Forschungsgefälle und Forschungsanteilen, in denen sich die jeweilige Fachentwicklung spiegelt. Dies liegt auf der Hand bei der Theaterwissenschaft, die sich anfänglich aus der Germanistik - im weiteren Zusammenhang aus den Literaturwissenschaften - abzweigte und den Weg der über einige Jahrzehnte sich hinziehenden Verselbständigung beschritt. Im deutschsprachigen Raum brachte dies mit sich, daß trotz des ursprünglichen, auf die Konstellation von Raum und Bewegung ausgerichteten Forschungsansatzes eines Max Herrmann oder den ethnologisch akzentuierten Interessen eines Carl Niessen, die systematischen Akzente auf dem Schauspieltheater lagen und beherrschend blieben, folglich eine fachgerechte Erweiterung auf gebotene Breite, wie sie die historische Sachlage erfordert, behinderten. Dabei ist es aber natürlich nicht geblieben. Die starke Betonung von Theorie- und Grundlagenfragen, die die letzten Jahrzehnte kennzeichnet, wie auch eine nachhaltige interdisziplinäre, in erster Linie kulturwissenschaftliche Ausrichtung, haben das Profil des Faches in der Zwischenzeit durchaus verändert. Auch die stärkere Orientierung an außereuropäischen Theaterkulturen - und zwar nicht nur der früheren Jahrhunderte, sondern bis hinein in die gegenwärtige postkoloniale Theaterentwicklung - hat vielfache Verschiebungen gezeitigt. Die Lösung von einseitig schauspielästhetischen Vorgaben, zu schweigen von literarästhetischen, ist damit endgültig vollzogen. Dennoch hat sich Musiktheater als gleichwertiges Paradigma für theaterästhetische und -historische Forschung in der Theaterwissenschaft bislang kaum durchgesetzt. Auch eine aussichtsreiche Annäherung zwischen Musik- und Theaterwissenschaft ist nur bedingt erfolgt. Europäisches Musiktheater ist nach wie vor überwiegend die Domäne der Musikwissenschaft, die ihrerseits - geschichtlich gesehen ihre wichtigsten Fragen und Methoden aus der Beschäftigung mit der reinen, der 'absoluten Musik' gewonnen und entwickelt hatte, ehe sie sich mit programmatischer Energie jenseits musikhistorischer Fragen auch mit den theatergeschicht-

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liehen Bedingungen des Musiktheaters befaßt hat. 1 Trotz verstärkter Bemühungen um theaterspezifische Fragen und einer Vielzahl von Forschungsergebnissen, die in den letzten Jahren erbracht worden sind, hat das Gesamtbild der Beziehungen zwischen den beteiligten Disziplinen nur wenige neue Züge aufzuweisen. Einer der Gründe dafür ist wohl, daß es an übergreifenden Diskussionen zu methodologischen Fragen fehlt. Die Folgen liegen auch in der Theatergeschichtsschreibung zutage. Nach wie vor ist sie überwiegend spartenbetont ausgerichtet, und zwar im Sinne einer isoliert gesehenen Entwicklung der traditionellen 'Sparten', kaum jedoch - was j a prinzipiell ebensogut denkbar wäre - in Anlehnung an die Geschichte der sog. Drei-Sparten-Häuser, zumal im 19. Jahrhundert, in denen die verschiedenen Spezies j a simultan das Repertoire bestimmt haben und immer noch bestimmen. Das demgegenüber einlinig bleibende Verfahren der Theatergeschichtsschreibung wird, wenn nicht grundsätzlich, so doch pragmatisch gerechtfertigt. Wichtige Grundfragen bleiben dabei offen, etwa inwieweit die Geschichte der verschiedenen Spezies synchron, unabhängig voneinander oder im Gegensinn verläuft, ob sich aufgrund jeweils spezifischer kultureller Verankerung übergreifende ästhetische Gemeinsamkeiten ergeben oder solche aufgrund der unterschiedlichen sozial- und kulturgeschichtlichen Kontexte nicht in Rechnung zu stellen sind. Fragen dieser Art kommen so zwar durchaus in den Blick, werden aber einer fachübergreifenden Behandlung nicht zugeführt, solange eine integrale Theatergeschichtsschreibung, die mehr Erklärungspotential aufbieten will als sich allein aus der Zusammenstellung von Fakten ergibt, nicht möglich erscheint. Dabei hört die Plausibilität einer nach oberflächlichem Erscheinungsbild vorgenommenen Sparten-Klassifizierung sehr schnell auf, sobald man sich von der europäischen Oper, wie sie sich von den Florentiner Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, löst, oder das Ideal der reinen Schauspiel-Auffiihrung, das sich erst im Zeichen realistischer Bühnenprogramme des 19. Jahrhunderts durchsetzt, in seiner historischen Bedingtheit erkennt. Selbst wenn man systematisiert und von der Bühnengestalt ausgeht, die jeweils den zentralen Träger des theatralischen Ereignisses bildet, dem sprechenden Schauspieler, dem Sängerdarsteller, des weiteren dem Tänzer und schließlich von der Figur, die die menschliche Gestalt zu vertreten in der Lage ist, kommt man schnell an Grenzen. Denn mit dem zweiten, theatergeschichtlich orientierten Blick wird deutlich, daß man den geschichtlichen Theaterverhältnissen nur wenig gerecht wird, wenn man von den alten Sparten Schauspiel- oder Sprechtheater, Musik-, Tanz- und Figurentheater als 'reinen' Genres ausgeht, um dann die häufig als ästhetisch minderwertig eingeschätzten Misch- oder Übergangsformen aufzuspüren und zuzuordnen. Diese verdienen theaterwissenschaftlich gleiche Aufmerksamkeit. Der sprechende Sänger ist nicht bloß im Singspiel zu Hause, er agiert auch in der Opéra Comique, in der Operette, oder in sog. melodramatischer oder Sprech-Rolle im modernen Musiktheater seit SchönEs genüge an dieser Stelle der Hinweis auf Heinz Beckers bereits 1973 formuliertes, umsichtiges Programm, das mit der Geschichte und der Ästhetik der Bühnenformen, den Fragen der Inszenierungsgeschichte, dem Verhältnis zwischen Komposition, Librettistik und Ballett-Ästhetik, den Problemen einer Rezeptionsgeschichte der Oper etc., der Musiktheaterforschung eine zukunftsweisende Ausrichtung gab (Zur Situation der Opernforschung. In: Die Musikforschung 27, 1974, S. 153-165).

Vorwort

IX

berg. Der singende Schauspieler hat seine alten Domänen in vielerlei Genres im 18. Jahrhundert, später in der Posse mit Gesang, im Revuetheater, auf dem Kabarett und in zahllosen Varianten in modernen verfremdenden Theater-Genres. Der Tänzer lernt seit dem 18. Jahrhundert pantomimisch zu agieren, der Mime des 19. Jahrhunderts lernt sprechen, in der 'dialogisierten Pantomime', oder im späteren Pariser Pierrot-Theater. Schließlich entwickelt sich - beginnend mit der Revue und weitergeführt mit allen Varianten des Musicals - der Bühnenkünstler, der sowohl tanzt als auch singt als auch spricht. Schließlich führt die weltweite Renaissance des Figurentheaters unseres Jahrhunderts in eindrucksvoller Weise auch in Europa über die traditionellen Grenzen hinaus. Zu der Puppe oder der Marionette, die ihre Stimme vom Puppenspieler geliehen bekommt, tritt nun zugleich diejenige Spiel-Figur, die mit ihrem Spieler als Schauspieler ein eigenes dialogisches Verhältnis entwickelt. Die Fülle der hier aufgeführten Einzelphänomene erweitert sich erheblich, j a erreicht eine neue Dimension, wenn man über den kulturgeschichtlichen Bannkreis Europas hinausschaut. Es bedarf kaum weiterer Hinweise auf die Sparten-Begrenztheit des europäischen Blicks, als zwei Beispiele europäischer Klassifizierung in Bezug auf Traditionsformen ostasiatischen Theaters zu nennen. Das chinesische traditionelle Theater ist bekanntlich unter der Chiffre 'Oper' vorgestellt worden, obwohl es eine den europäischen Verhältnissen vergleichbare Spartentrennung nie gegeben hat und die Vielfalt der theatralen Bausteine der sog. Peking-Oper oder der Kun-Oper mit denen der europäischen Opernbühne so gut wie nicht vergleichbar sind. In umgekehrter Richtung der Sparten-Subsumtion wurden die japanischen Traditionsformen des Kabuki und des Bunraku als 'Schauspiel'- und 'Puppen'-Theater ausgewiesen, obwohl in beiden Formen Sänger-Rezitatoren, die von Instrumenten musikalisch gestützt werden, die Gesamtstruktur bestimmen. Theater mit Musik - im weitesten Horizont gesehen und in größter Phänomenbreite aufgespürt - stellt so gleichermaßen eine Provokation für die Theater- wie die Musikwissenschaft dar. Richtet man den Blick von der phänomenalen Fülle der historischen und der kulturellen Befunde zurück auf die wissenschaftliche Durchdringung und Beschreibung, so erscheint jenseits der fachwissenschaftlichen Ansätze, die sich analog zu vorgegebenen 'Sparten' arbeitsteilig organisiert haben, eine 'zusammenführende Auseinandersetzung' umfassender Art an der Zeit. Dabei steht - bezogen auf den Wissenschaftsstandort Europa und unter dem Gesichtspunkt der vielseitig erbrachten wissenschaftlichen Vorleistungen - an erster Stelle einer Prioritätenliste das Verhältnis von Theater- und Musikwissenschaft zur Debatte, 2 nicht zuletzt unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten. Eingedenk der fachgeschichtlichen Erweiterungen seitens der Theaterwissenschaft, aber auch seitens der Musikwissenschaft, wenn man etwa an musikethnologische Forschungen denkt, steht eine Neuvermes-

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An zweiter Stelle stand, wie bereits auf dem Symposium selbst artikuliert, das Verhältnis von Theater- und Musikwissenschaft zur Wissenschaft von Tanz und Bewegung. Ein Folge-Symposium hat im Jahr darauf in Leipzig, 19.-22. November 1997, stattgefunden. Die Tagungsergebnisse werden unter dem Titel Bewegung im Blick. Beiträge zur theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, hrsg. von Claudia Jeschke und Hans-Peter Bayerdörfer, in der Serie Documenta choreologica (voraussichtlich Frühjahr 1999) vorgelegt werden.

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sung des gemeinsamen Forschungsterrains an, eine Herausforderung nach beiden Seiten. Anvisiert - und erhofft für das Symposium - waren unter diesem Gesichtspunkt in erster Linie Gespräche über theatertheoretische und bühnengeschichtliche Grundlagenprobleme, für die sich zunächst ein fachwissenschaftlich spezifischer Zugang anbietet, die im Hinblick auf Theaterereignis und Theaterform dann aber fachübergreifend konvergierende Modi der Befassung erfordern. Problematisch ist in diesem Sinne zwischen Schauspiel- und Musiktheater u.a. nicht nur die Tragweite und die Struktur eines Begriffes wie Werk oder Kunstwerk auf der einen, Ereignisstruktur und performative Gestalt auf der anderen Seite. Grundfragen, die den gesamten historischen Traditionsbestand mit erfassen, betreffen auch das Verhältnis von Schauspiel- und Musikdramaturgie, den jeweiligen Buhnenstatus des Akteurs und die bühnenspezifischen Ausdrucksmittel, von der Bewegung bis zur Gestik, die Sängerdarstellern und Schauspielern in unterschiedlicher Weise zur Verfügung stehen und in wechselndem Grade das Verhältnis von Rolle und Darstellerindividualität, sowie von szenischem Geschehen und Publikumsbezug bestimmen. Hinzu kommen ästhetische Probleme, die sich aus der theatralen Synthese von Körper-, Stimm- und Sprachausdruck ergeben, wobei von vornherein die differenten Vorgaben, welche Klangästhetik und Raumverhältnisse für die sprechende und die singende Stimme und deren Verhältnis zum Körper bedeuten, zu berücksichtigen sind. Weitere Konsequenzen betreffen prinzipiell den Spielraum, den der individuelle Sängerdarsteller oder Schauspieler im übergeordneten Gesamtrahmen des Bühnenspiels, im Verhältnis zu Regie und zum Publikum findet oder sich schaffen kann. In jedem Falle - ob nun Stimme und Körper oder Proxemik und Raum im Zentrum stehen - schließt sich nicht nur die Problematisierung der Ansätze und der Reichweite von Analysemethoden an, sondern auch die dezidierte Thematisierung von rezeptionsleitenden Impulsen, die im einen wie im anderen Falle das Verhältnis zwischen Bühne und Parkett bestimmen. Unter allen diesen Aspekten, wie auch im weiteren Fragehorizont, muß der Begriff 'Musiktheater' selbst provokativ wirken und auch so verstanden werden, da er in sich ja definitorisch kaum geklärt ist.3 Im Sinne traditioneller Spartenbegrifflichkeit, wie Oper, Operette, Singspiel, läßt er sich jedenfalls nicht bestimmen. Daher bietet er sich zunächst allenfalls als vager Sammelbegriff an für alle diejenigen Erscheinungen des institutionalisierten Theaters Europas, denen man eine musikalische Grundstruktur zuerkennt oder bei denen man eine Dominanz musikalischer Gestaltungselemente konstatiert. Indessen ist auch eine solche formale Bestimmung, wie auf den ersten Blick ersichtlich, nur bedingt tragfähig, da die Frage der Dominanz ihrerseits nur historisch diskutiert werden kann. Und dabei liegt auf der Hand, daß dieser Tatbestand häufig nicht primär durch Werk oder Ästhetik geprägt ist, sondern durch äußere Konventionen oder Konzessionen, wenn man an das Verhältnis von Grand Opéra und Opéra Comique in Bezug auf Rezitativ und gesprochene Dialoge bedenkt, oder an die Geschichte der Schauspielmusik im 19. Jahrhundert, deren musikalischer Eigenwert und deren Unverzichtbarkeit ebenGs sei denn, in dem engen (und hier nicht angesprochenen) terminologischen Sinn, der die mit Mitteln des modernen Regietheaters unternommene Inszenierung von Oper und Musikdrama besagt.

Vorwort

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so oft eine Frage des jeweiligen aufführenden Theaters als eine Grundsatzfrage sein konnte. Der Sammelbegriff 'Musiktheater' führt daher - in dem Maße, in dem er selbst keine Lösung darstellt - selbst ins Problem herkömmmlicher Spartenschematik, ihrer Aporien und der Notwendigkeit einer neuen vergleichenden Betrachtung angesichts der kaum überschaubaren Fülle der historischen Gegebenheiten. Mit diesen systematisch entfalteten Problembündeln ergeben sich dezidierte Forderungen, die an die Theatergeschichtsschreibung zu richten sind. Das Problem von Synchronie oder A-Synchronie zwischen verschiedenen Sparten, Genres und ganzen Theaterkulturbereichen ist bereits angesprochen worden; ob der Eindruck der a-synchronen Verläufe zu Recht besteht oder zu revidieren wäre, muß unter verschiedensten historiographischen Prämissen erneut überprüft werden. Desgleichen ist zu untersuchen, inwieweit in der historischen Darstellung überhaupt von den polaren 'Rein-Formen' des Sprechtheaters und des Musiktheaters ausgegangen werden kann - und in dieser Frage liegt ein weiteres der provokativen Elemente, welche das Musiktheater für die Theaterwissenschaft bereitstellt. Ein provisorischer historischer Überblick legt nämlich die Vermutung nahe, daß sowohl für die europäische Theatergeschichte, wie in noch weit höherem Maße für die außereuropäischen Theaterkulturen die Bestände eines 'Theaters mit Musik' gegenüber den Formen eines Sprech- bzw. Schauspieltheaters ohne jegliche musikalische Formen ebenso dominieren wie gegenüber den ausschließlich auf die Singstimme und weitere musikalische Mittel festgelegten Traditionen. Die puristischen Erscheinungen eines reinen Sprech- und eines reinen Musiktheaters sind gegenüber allen anderen in der Minderzahl. Damit stehen aber auch traditionelle Kategoriensysteme der Analyse erneut zur Debatte, etwa das der Schauspiel- und das der Musikdramaturgie, die von den puristischen Formen und deren Theorie abgeleitet und operational ausformuliert worden sind. Gemessen an diesen polaren Standpunkten stellen die bislang zu Unrecht als zweitrangig gesehenen Mischgenres die unmittelbare Provokation dar, denn sie verlangen Beschreibungsmuster, die Sprech- und gesanggeleitete Formbestände in ihrem gleichzeitigen und gleichwertigen Gestaltungsanspruch miteinander in Verbindung bringen, ohne implizierte Wertungsgesichtspunkte der einen oder der anderen Seite auf die Phänomene vorschnell anzuwenden. Unter diesen, wie auch unter allen anderen theatralen Gesichtspunkten der Analyse müßte vielmehr die Komplexität, in unterschiedlicher Graduierung, gegenüber den einfacheren Strukturformen als der Normalfall vorausgesetzt werden, an dem sich die analytischen Kategorien zu bewähren haben, ehe sie dann auf die 'Reinformen' hin abgewandelt und vereinfacht werden. Es ist in diesem Zusammenhang für die von europäischen Gegebenheiten bestimmte Sichtweise bezeichnend, daß erst unter dem Eindruck der an Wagner anschließenden Debatte um das sog. Gesamtkunstwerk die Grundfragen des Theaters als einer Kunst maximaler Komplexität der Gestaltungsebenen aufgeworfen wird und damit die Leitwerte der 'reinen Formen' zur Überprüfung anstehen. Dabei wird das Musiktheater lange vereinfachend als Synthese von sonst selbständigen Kunstformen betrachtet, ehe man sich um die Jahrhundertwende auf die Suche nach den dezidiert theatralen Grundelementen begibt, welche jeder Bühnkunst zugrunde liegen, unabhängig davon, ob sie Sprache, Gesang, instrumentale Musik, oder mehrere dieser Elemente einschließt. Auf den verschlungenen Wegen der Theaterentwicklung selbst, wie auch der Theoretisierung des Theaterverständnisses, kristallisiert

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sich dann - jenseits eines einlinig gedachten Sprach- und Literatur- oder Operntheaters - das Programm der Retheatralisierung heraus, welches theatertheoretisch gesehen das neue Jahrhundert bestimmt. In die Konturen dieser Debatte ist dabei immer erneut seit der Jahrhundertwende als Gegenmodell zu den europäischen Verhältnissen das ostasiatische Theater eingezeichnet, in dem sich die konzeptionelle Polarität von Sprech- oder Musiktheater nicht ergeben hat. Will man diesen Entwicklungen geschichtlich Rechnung tragen, so wird eine Perspektive notwendig, die von der komplexen Theaterform als dem Regelfall ausgeht, um im einzelnen verfolgen zu können, unter welchen Voraussetzungen und wie sich die Spezialformen eines reinen Sprech-, Tanz- oder Musiktheaters historisch ausgliedern und als solche in unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Zusammenhängen dann etablieren. Neueste Grundlagenfragen und Methoden einer übergreifenden kulturgeschichtlichen Forschung sind hier in ihrer Relevanz für Theaterwissenschaft sowie für das Verhältnis von Musik- und Sprechtheaterforschung zu erörtern und auf ihre Perspektiven hin zu überprüfen. Damit ist der weiteste fachübergreifende Aspekt, wie er sich im Laufe des Symposiums herauskristallisiert hat, bezeichnet. Musik- und Theaterwissenschaft sind nicht nur in die Pflicht genommen, die Brücke zwischen ihren traditionellen Forschungsgebieten, wo sie nicht bereits besteht, erneut zu schlagen, sondern grundsätzlich ihre jeweils spezifische und ihre gemeinsame Bemühung kulturtheoretisch und kulturgeschichtlich in den interdisziplinären Zusammenhang einzubringen, der ihre systematische wie ihre historische Forschungsleistung grundiert. Wie weit dieser Anstoß zum Erfolg geführt hat und die genannten Probleme aufgegriffen, erweitert, durchdacht und einer Lösung nähergebracht worden sind, möge der Leser selbst ermessen. Ein integrales oder gar geschlossenes Forschungskonzept war von vornherein nicht anvisiert und hat sich in den Debatten des Symposiums auch nicht abgezeichnet. Insofern stellen die hier gesammelten Beiträge eine Reihe von wichtigen fachlichen Facetten dar, in denen interdisziplinäre Fragen, Ansätze und Forschungsvorgaben ansichtig werden. Der wichtigste Zweck des Symposiums wäre jedenfalls erreicht, wenn diese Facetten ihrerseits provokativ wirken und neue interdisziplinäre Bemühungen von Theater- und Musikwissenschaft in erweitertem Fächerrahmen zur Folge hätten.

Hans-Peter Bayerdörfer Spiel-Räume der Stimme Kleine Streifzüge zwischen den Fächern

1. Mehr denn je scheinen die 90er Jahre durch 'grenzüberschreitende' provokative Bewegungen zwischen den traditionellen Domänen des Schauspiels und des Musiktheaters gekennzeichnet zu sein. Die Zahl der Regisseure, die, vom Schauspiel herkommend, sich der Oper widmen, nimmt zu. Die Versuche, Schauspielproduktionen mit hochartistisch ausgearbeiteten musikalischen Nummern zu durchsetzen, sind seit Christoph Marthalers Musterwerken in zahlreichen Theatern zu beobachten.' Lieder und Chöre haben auf den Schauspielbühnen Konjunktur, aber auch der Sprechchor hat ein Uberraschendes Comeback gefunden. Einar Schleef - mit der produktivste und provokativste Theatermacher des Jahrzehnts - hat im Vorjahr Schlüsselwerke der deutschen Theatergeschichte, die in unterschiedlichem Sinne als Kultwerke bezeichnet werden können, Goethes Faust und Wagners Parsifal. unter dem Gesichtspunkt des Chorischen und unter der Überschrift der "Droge" ins Auge gefaßt. Zugrunde liegt das theatertheoretische wie theatergeschichtliche Problem, das sich aus dem Gegeneinander von Chor, der sich als Kollektiv - wie die Metapher besagt - letztlich sakramental bestimmt, und Individuum, das sich vereinzelnd im eigenen Wirkungsradius artikuliert, ergibt. Schleef hat dies zum einen problemgeschichtlich im Rückblick auf die Theaterentwicklung seit der elisabethanischen Zeit entfaltet, zum anderen anhand seiner eigenen Versuche mit Goethes Fawsi-Texten diskutiert. Dabei stellt er einleitend fest, daß "Goethes Faust-Koloß" von vornherein die Möglichkeiten des "normalen deutschen Sprechtheaters" überschreite und im Grunde die Vereinigung der drei Sparten des Sprech-, Musik- und Tanztheaters verlange.2 Denn, bei rein technischer Betrachtung, "sieht man, wie folgerichtig Monolog und Chor einander bedingen. Musik wird so häufig eingesetzt, daß FAUST das deutschsprachige Stück ist, in dem am meisten gesungen, musiziert und getanzt wird."3 Diese Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Formbestände, bezogen auf die drei Sparten, bilde schon im Urfaust das Grundproblem, und die "Kombination von Monolog, Duett, Terzett, Quartett und Chor" stelle technisch, inszenatorisch, ästhetisch und problemgeschichtlich den Regisseur vor Aufgaben, in denen sich grundlegende Zusammenhänge des europäischen Theaters in Europa niedergeschlagen hätten. Die Dringlichkeit ihrer Aufarbeitung ist für Schleef durch die Situation dieses Theaters Ende des zweiten Jahrtausends, nach vierhundert Jahren neuzeitlicher europäischer Theatergeschichte, selbst bezeichnet.

Vgl. den Beitrag von G. Hiß über Marthalers Musiktheater, s.u. S. 21 Off. Einar Schleef, Droge Faust Parsifal. Frankfurt/M. 1997, S. 33. A.a.O., S. 26.

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Wollte man von Seiten der Theaterwissenschaft das von Schleef mit theatergeschichtlicher Umsicht entfaltete Problem aufgreifen, 4 so sähe man sich Schwierigkeiten gegenüber, die in der Genese der Theaterwissenschaft als Disziplin ihre Ursachen haben und die bis heutigentags nicht bereinigt sind.5 Es handelt sich um das Problem der Integration der verschiedenen am Theater interessierten und wissenschaftlich tätigen Disziplinen, deren 'Spartentrennung' ebensowenig im raschen Zugriff zu überwinden ist wie die Aufgaben, die sich im Falle von Faust für das herkömmliche Drei-Sparten-Theater stellen. In der Tat hat zwar die allgemeine Theaterwissenschaft, zumal auf der Ebene der Theorie, ein breites Terrain der Zusammenführung entworfen, die spezialwissenschaftliche Untersuchung hingegen ist bis heute von Forschungsprämissen gekennzeichnet, die sich zu einem Teil - und durchaus zu Recht - aus anderen Disziplinen herleiten, der Musikwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Tanzwissenschaft, ohne daß die integrale Perspektivierung in hinreichendem Maße erreicht wäre. Für die Seite des Musiktheaters hat Jürgen Schläder generell ausgeführt, daß Opernforschung, als Teil der Musikwissenschaft, und Musiktheaterforschung, als Teil der Theaterwissenschaft, "nicht homogen und keineswegs homolog" sind.6 Dem ist nicht zu widersprechen. Es ist vielmehr analog zu erweitern: auch Theaterwissenschaft des Sprechtheaters und des Musiktheaters können bislang ebensowenig von Homogenität ausgehen oder homologe Verhältnisse einfach voraussetzen: weder strukturell und ästhetisch noch historisch. Dennoch ist die Frage, wo sie sich berühren, gemeinsames Gelände haben - und in diesem Sinne sollen 'Spiel-Räume' als terrain de jeu verstanden werden, wo sich demnach Ansatzpunkte für gemeinsame Fragen und gemeinsames Vorgehen ergeben. Die Frage ist, um was für 'SpielRäume' es sich handelt. Gemeint ist eine Theatergeschichte der Stimme, der 'spielenden' Stimme, als Teil eines universalen kulturgeschichtlichen Blickes auf Formen, Funktionen und Leistungen der menschlichen Stimme insgesamt. Erinnert sei dazu an eine berühmte 'definitorische' Exordialphrase, die ein theatergeschichtliches Schlüsselwerk über das Musiktheater eröffnet: Im Anfang war die Stimme. [...] Sie ist Spiegel des stärksten Unterschiedes der Menschen: des Geschlechtsunterschiedes, sie ist Spiegel aller Verschiedenheiten der Lebensalter, sie ist Spiegel der individuellen Besonderheit innerhalb der Geschlechtsgattungen: Persönlichkeit. So ist die singende Stimme Projizierung der Erscheinung des Menschen in die Sphäre de^ Klanges, Verwandlung seiner körperhaften Sichtbarkeit in eine tönende Unsichtbarkeit.

Paul Bekkers in Anlehnung an das Johannes-Evangelium fast metaphysisch klingende Formel wird von ihm selbst historisiert und ist auf dieser Ebene zu erweitern und zu bedenken. Diese Forderung liegt um so näher, als auch von Seiten der Literaturwissenschaft in diesem Zusammenhang 'emphatische Töne' angeschlagen werden: "Der Atem der Stimme ist schöpferisch", heißt es bei Paul Zumthor. "Sein Name ist Geist: das hebräische ruah, das griechische pneuma, aber auch psyche; 4

Damit verbunden wäre natürlich auch die ideologiekritische Problematik, die sich in dem Begriff'Droge' des Titels abzeichnet. S.o. Vorwort, S. VII f. Jürgen Schläder, Musikalisches Theater. In: Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Hrsg. von Renate Möhrmann, Berlin 1990, S. 129-148, hier S. 129. Paul Bekker, Wandlungen der Oper. Zürich/Leipzig 1934, S. 1.

Spiel-Räume

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das lateinische animus, aber ebenso manche Bantu-Wörter. In der Bibel schafft der Atem Jahwes das Universum, so wie er Christus erschafft." 8 Läßt man die metaphysischen Obertöne beiseite, so zeichnen sich die Umrisse einer historisch ausgerichteten Aufgabe konkret ab. Das gemeinsame terrain de jeu ist in dem Verhältnis von Singstimme und Sprechstimme innerhalb der theatralen Produktion zu suchen. Im weiteren Kontext, und d.h. kulturgeschichtlich betrachtet, ist es die jeweilige Bedeutung, die der einen wie der anderen Stimme und ihren vielfachen Übergangsmöglichkeiten in der kulturellen Repräsentation eingeräumt wird. In beiden Bereichen, dem kulturellen wie dem theatralen, sind die Modi der Stimmführung aber analogen Prozessen unterworfen. Beide, die Sing- wie die Sprechstimme unterliegen Ritualisierungsvorgängen, beide werden stilisiert, für beide ergibt sich das Problem der Abgrenzung vom Geräusch. Sei es, daß geräuschhafte Verlautbarungen - kulturspezifisch unterschiedlich - weder im einen noch im andern Falle des Stimmeinsatzes zulässig sind, sei es, daß spezifische Formen der Amalgamierung zwischen dem Klang- und dem Geräuschcharakter stimmlicher Verlautbarung zum eigentlichen Königsweg der Stimmästhetik werden, wie etwa im traditionellen Theater Japans.9 Zwischen Sing- und Sprechstimme gibt es vielfache kulturelle und ästhetische Übergangsformen, die ihrerseits der Ritualisierung und der Stilisierung unterliegen. Beide Formen des stimmlichen Agierens sind unausweichlich mit ihrerseits kulturell formierten körperlichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen verbunden. In beiden Richtungen, zum Gesungenen wie zum Gesprochenen, bahnt sich der Körper den Weg zum Klang, dehnt er eine raumgreifende Bewegung auf den Klangraum aus und eröffnet damit die Möglichkeit für Resonanz von seiten anderer stimmbegabter Körper. Paul Bekkers Feststellung, die "Geschichte der Stimmwandlungen sei die Geschichte ihrer wechselnden Beziehungen zur Sprache und zum Tanz",10 muß in der Weise weiter präzisiert werden, daß der Begriff Tanz durch Bewegung, Ausdruck, Gestik etc. ergänzt wird. Und wenn er des weiteren formuliert, daß "die Geschichte der Oper zur Geschichte von den Wandlungen der Stimme und ihren vielfältigen Beziehungen zu anderen Gestaltungselementen" wird," so kann auch hier analog von den Wandlungen des Verhältnisses von Sing- und Sprechstimme gesprochen werden, die in ihrer jeweiligen Beziehung zu den Körper-Ausdruckselementen und deren Einfügung in die weiteren Gestaltungsbereiche von Raum und Zeit stehen, wie sie der theatrale Ort als Spielort ermöglicht - wobei der Spielort seinerseits sozusagen als Erweiterung der körperlichen Aktionsfelder zu verstehen ist, nicht ohne daß er im Laufe der Theatergeschichte eigenständige Ausdrucks- und Bedeutungsqualitäten annehmen Paul Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990, S. 11. (Introduction à la poésie orale. Paris, 1983.) Zur Debatte stehen damit also Stimmkulturen, in denen weder Tonkonstanz (nach Schwingungen), noch die Trennung von Sing- und Sprechstimme, noch die kategoriale Trennung von Ton und Geräusch zu den Grundlagen der Klangästhetik gehören. S.u. Kap. 8 und 9, S. 31 ff und S. 34ff. - Diese Unterscheidung zwischen Klang, Ton und Geräusch bezieht sich auf kulturelle und ästhetische Formationen, sie ist nicht identisch mit der terminologischen Verwendung in der akustischen Phonetik, wo mit Klang und Geräusch die weitgehende Absenz oder aber das Vorhandensein hörbarer koartikulatorischer Manifestationen der Sprechorgane und Resonanzräume bezeichnet werden. ° P. Bekker, a.a.O., S. 2. Ebd., S. 8.

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kann. 12 Damit ist ein Phänomenbereich umschrieben, der sich einer integralen theaterwissenschaftlichen Bemühung um Musik- und Schauspieltheater als Ausgangspunkt anbietet. Die kulturgeschichtliche Ausgangshypothese, die damit verbunden ist, besagt, daß sich das Verhältnis der Stimmbereiche in den großen Theaterkulturen der Welt unterschiedlich definieren kann und auch - innerhalb von deren Grenzen - im historischen Verlauf von Epoche zu Epoche neu reguliert. Jenseits aller stimmtechnischen Fragen, denen hier im weiteren nicht nachgegangen werden soll, geht es mir im Folgenden also um die theatrale Repräsentation der kulturellen Welt mittels der theatermäßig geführten Sing- und Sprechstimme in ihrem jeweiligen Verhältnis. Dieses besteht nicht lediglich in Abgrenzung, sondern auch in Überlappung und in Überformung der einen Stimmlage durch die Ästhetik der anderen. Und wollte man mit vergleichenden Untersuchungen auf dieser Ebene beginnen, so wären Deklamationsspiele des Schauspieltheaters aller Epochen daraufhin zu untersuchen, welche Intonations- und Melodiemuster aus der gleichzeitigen musikalischen Kultur eine Rolle spielen, falls man von einer Trennung der Bereiche historisch ausgehen kann, und auf der Seite der gesungenen Formen wäre zu überprüfen, wie weit Satz-, Intonations- und Artikulationsformen der gleichzeitigen Sprechstilistik, der Rhetorik und der theatralisch geführten Sprachästhetik die musikalische Entfaltung grundieren oder überformen. Doch ist die Frage der Trennung selbst schon ein Grundproblem. Die Tragweite der Ausgangshypothese wird nämlich u.a. deutlich, wenn man einen Blick auf die Entwicklung wirft, welche die Stimmkultur in Europa seit dem 16. Jahrhundert genommen hat: puristische Muster der reinen Gesangs- und der reinen Sprechkultur werden zu verschiedenen Zeitpunkten programmatisch und kulminieren in der Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts, in einer Weise, in der die polaren theatralen Formen der Oper bzw. des Musikdramas und der Literaturdramatik des Bildungstheaters sich sozusagen berührungslos als ästhetische Größe idealisieren. Erst im Zusammenhang der europäischen Avantgarde, kurz nach der Jahrhundertwende, kommt zu Bewußtsein, was diese polare Entwicklung ästhetisch mit sich gebracht hat. Die reine Gesangs- und die reine Sprechstilistik der Stimme wird nun auch als defizient verstanden, und die Auseinandersetzung mit dieser Defizienz zeitigt Formulierungen, in welchen eine Utopie der universalen Stimme als ästhetische Möglichkeit eingeklagt wird. Charakteristisch dafür sind zunächst komplementäre Äußerungen von Theatermachern, in denen zur einen Form der Stimme die jeweils fehlende Qualität der anderen als unterschwelliges Begleitphänomen gefordert wird: Max Reinhardt will bekanntlich nicht nur "schöne Men-

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Auch diese, im Anschluß an Bekker angedeutete Systematik muß prinzipiell erweitert werden. Wenn man von dem Verhältnis von menschlicher Gestalt und Raum ausgeht, so ist im Vorausgehenden nur der singende und der sprechende Akteur im Blick gewesen. Geht man von der europäischen Spartengeschichte aus, so kommt der stimmlos agierende Buhnenspieler als Tänzer oder als Mime hinzu, sei es, daß er mit musikalischer Unterlegung, wie im traditionellen Ballett, sei es, daß er ohne Musik, wie in bestimmten Formen der Pantomime auftritt. Schließlich bleibt die durch eine Vertreterfigur repräsentierte menschliche Gestalt zu nennen, wobei in diesem Falle eine prinzipielle Trennung zwischen Stimme und Figur, wie sie im traditonellen Figurentheater statt hat, zur Regel wird.

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sehen" um sich haben, sondern "vor allem schöne Stimmen hören", eine Kunst des Sprechens, welche ältere Burgtheatertraditionen erneut fortführt, und zwar so, "daß man wieder die Musik des Wortes hört". 13 Nahezu gleichzeitig verlangt Wsewolod Meyerhold während der Arbeit an Werken des Musiktheaters am Marientheater St. Petersburg, das Musikdrama sei so zu inszenieren und zu spielen, daß bei keinem Zuschauer die Frage aufkommen kann, warum gesungen und nicht gesprochen wird. 14 Beide Statements bezeichnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aporie, in die die radikale und idealisierende Trennung der 'reinen Sparten1 das Theater gefuhrt hat. Wenig später wird aber prinzipiell deutlich, wie die Avantgarde des Musik- und des Schauspieltheaters, wiederum in komplementärem Vorgehen, die Qualität des jeweils anderen Stimm-Modus fiir die Zukunft des Theaters reklamieren und mit dieser Forderung der innovativen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts den Weg bereiten. Zu diesen hier nur grob skizzierten Themenkomplexen werden im Folgenden kleine Streifzüge unternommen, welche in die von Musik- und Theaterwissenschaft teils einzeln, teils bereits gemeinsam beschrittenen Zwischenräume der Forschung führen. Damit ist weder systematisch noch historisch gesehen ein umfassender Anspruch erhoben. Vielmehr geht es mir darum, aus der - dazu noch individuell getönten - Sicht eines Faches zu illustrieren, wo die gemeinsame Perspektivierung gefordert zu sein scheint. Die Streifzüge erstrecken sich zunächst auf das problematische Feld der Stimmtheorie, wie es im Rahmen der Oralitätsdiskussionen ausgebreitet geworden ist (2). Die Relevanz dieser Fragen - wenn auch nicht schon ihrer Lösungen - wird dann anhand des theatergeschichtlichen Befundes erhärtet, in welchem Maße selbst im europäischen Bereich die Misch- und Übergangsformen zwischen dem rein musikalischen und dem reinen Sprechtheater auf den Bühnen dominieren (3). Forschungsgeschichtliche Seitenblicke fallen danach auf die Debatten um 'Werk' und 'Ereignis' (4), ehe im Hinblick auf das Thema der Stimme in beiderlei Gestalt das sich ergebende theatrale Problem der Intonation - einschließlich der historischen Problematik der Stimm- und Rollenfacher - anvisiert wird (5/6). Zur Erweiterung des kulturgeschichtlichen Horizontes werden zwei kontrastive Streifzüge unternommen; sie sind dem Problem gewidmet, daß sich im europäischen Theater distinkte, stimmspezifische Theatersparten entwickelt haben, während etwa in Ostasien eine solche Teilung nach Stimmbereichen in der traditionellen Theaterlandschaft nicht eingetreten ist. Zum einen lassen sich die anstehenden Fragen anhand der historischen Schlüssel-Konstellation entfalten, welche die Florentiner Cajnerata und die Akademie von Vicenza bilden und die gleichsam den Anfang der gattungsgeschichtlichen Gabelung einschließen, die das neuzeitliche Theater in Europa bestimmt hat (7). Zum anderen werden einige grundlegende Zusammenhänge zur Entwicklungs- und Überlieferungsgeschichte von Nö und Joruri ins Gedächtnis gerufen, welche die stimmästhetische Kohärenz im altjapanischen Theater, jenseits der Genre-Differenzierung, vor Augen führen (8). Der ab-

Max Reinhardt, Über ein Theater, wie es mir vorschwebt (1901). In: Schriften. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchem. Hrsg. von Hugo Fetting, Berlin 1974, S. 65. Wsewolod Meyerhold zur Inszenierung von "Tristan und Isolde" am Marjinsker Theater, 30.Oktober 1909, in: Schriften, l . B d . 1891-1919. Berlin 1979, S. 137.

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schließende Streifzug führt dann mit einem historischen Bogen zur europäischen Situation der Theaterreform am Beginn des 20. Jahrhunderts zurück (9).

2. Die Theaterwissenschaft hat das Problem der Stimme bislang weniger im Hinblick auf Paul Zumthors prinzipielle Überlegungen zu einer "allgemeinen Poetik der Mündlichkeit" 1 5 diskutiert als auf das Verhältnis von Sprachlichkeit und Körperlichkeit im Zeichen der programmatischen Avantgarde. 1 6 In der Theatersemiotik - um das wichtigste Forschungsparadigma der 80er Jahre anfzuführen - tritt die Stimme im wesentlichen als Organ der Sprache in Erscheinung, d.h. sie taucht in der Schichtensystematik auf der Ebene der paralinguistischen Faktoren auf - ein Hinweis auf die wissenschaftsgeschichtliche Herkunft aus der Linguistik der formalistischen Schulen. 17 Folgte man Zumthor, so wäre das Verhältnis aber umzukehren: "Unsere Stimmen fordern so gleichzeitig die Sprache und genießen ihr gegenüber eine fast vollkommene Freiheit des Gebrauchs, wie sie im Gesang gipfelt." 18 In diesem Sinne verdient die Stimme Beachtung als Grundfaktor des Theaters überhaupt. Die Sprechstimme behauptet gegenüber der Sprache - so die bedenkenswerte These - dieselbe Eigenständigkeit, wie es die Singstimme auch tut - ein Sachverhalt, der im europäischen Kulturraum mit der Erhebung der Literatur zum Paradigma von Kunst zeitweilig in Vergessenheit geriet; und obwohl sich im 19. Jahrhundert in der Folge der klassischen Harmonieästhetik eine großdimensionierte Rezitations- und Deklamationskultur entwickelte, verfiel diese Dimension der Stimmästhetik der Nicht-Beachtung oder der explitziten Abwertung, als sich im Zuge der Theateravantgarde der Jahrhundertwende die Probleme von Raum, Körper und Bewegung in den Vordergrund schoben. 1 9 Theatertheoretisch gesehen ist die Stimme, in beiderlei Gestalt ihrer Ausformung, die Überbrückung zwischen "dem abstrakten Universum der Zeichen" und "den konkreten Determinationen der Materie", d.h. den individuellen körperlichmenschlichen Gegebenheiten. Die "Stimme ohne Sprache" - in Gestalt des Schreis, der unartikulierten Äußerung etc. - erreicht nicht die Differenzierung, "um die 15

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P. Zumthor, a.a.O., S. 9 und S. 11. - Ein Indiz dafür dürfte sein, daß die ältere, bis heute nicht wirklich Uberholte Forschung zur Vortragskunst und Sprecherziehung (vor allem von Irmgard Weithases Schriften: Anschauungen Uber das Wesen der Sprechkunst von 1775-1825, Berlin 1930; Geschichte und Theorie der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert, Weimar 1940, Goethe als Sprecher und Sprecherzieher, Weimar 1949) keine Rolle gespielt hat. Erst mit Karl-Heinz Götterts "Geschichte der Stimme", München 1998, ist auch für die Theaterwissenschaft eine neue Sachlage entstanden. Vgl. dazu vor allem die den Theaterutopien Raymond Roussels und Antonin Artauds gewidmeten Kapitel in Helga Finters zweiteiliger Studie "Der subjektive Raum", Tübingen 1990. Siehe dazu unten Kap. 5, S. 13ff. P. Zumthor, a.a.O., S. 10. Dies hat sich bekanntlich mit Artaud geändert, der sich bezeichnenderweise mit seinen programmatischen Forderungen auf das Theater des Ostens beruft. So sehr er, subjektiv gesehen, unter dem Eindruck des asiatischen Theaters seine Thesen formuliert haben mag, so wenig entspricht freilich seine Radikaltrennung zwischen Stimme und Sprache den geschichtlichen Befunden für die betreffenden Theaterkulturen.

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Komplexität der Begehrenskräfte, die sie beleben, 'durchzulassen'. Und die Sprache ohne Stimme in Gestalt der Schrift leidet auf andere Art unter einer ähnlichen Unfähigkeit." 20 Daraus folgt die kulturgeschichtliche Bedeutung der Stimme an der Nahtstelle von Erinnerung und Ausdruck, von mythischer und symbolischer Prägung, mithin ihre gemeinschaftsstiftende Qualität. 21 Daß sich dabei imaginativ der Stimmklang vom konkreten Sprecher auch abheben läßt, führte immer wieder zur Mythisierung der 'frei schwebenden Stimme' und ließ sie zum Symbol des Metaphysischen wie des Imaginären werden. 22 Zu Motiven wie Echo und Narkissos oder Daphnes Klage aus dem Lorbeer könnte - um eine weitere Wurzel für die Stimmauffassung Europas anzuführen - durchaus die alttestamentliche Überlieferung von der 'Stimme aus dem Dornbusch' hinzugefügt werden. Der Grenzfall, den der stimmliche Anruf aus dem Körperlosen darstellt, beleuchtet aber auch den Regelfall. Es ist die Stimme, die zusammen mit Körper und 'Gesicht' vor aller expliziten sprachlichen Dialogik die Personalität als Beziehung ins Spiel bringt: "Der vokalisierte Ton geht vom Inneren zum Inneren, ohne weitere Vermittlung verbindet er zwei Lebewesen". 23 Die emotionale wie die imaginative Wirkung von Stimme gründet in der personalen Faszination, die Relation schafft, Nähe oder Distanz suggeriert. So gesehen, bildet die Stimme die Grundlage der dialogischen Verfassung von Theater. Indem sie alles, wovon die Rede ist, in dieses Verhältnis einbringt, entzieht sie es der fixierenden Beschreibung, Benennung oder gar Definition. Insofern bringt die Stimme auch den Widerstand des Körpers gegen die völlige Semiotisierung, d.h. seine vollständige Verwandlung in einen Zeichenträger, auch akustisch zur Geltung. Rezeptionsästhetisch besagt dies, daß die Stimme, wie sie die Bindung vom Spieler zum Zuschauer herstellt, auf der Skala zwischen kognitiver und affektueller Wahrnehmung am stärksten den Ausschlag zur Affektseite hin bewirkt. 24 Der Klang- und Spielraum der Stimme gewährleistet sozusagen das emotionale Klima, in dem die einzelnen Inhalte ihre jeweilige Tönung, die gleichwohl ihre wirkungsgeschichtliche Energie ausmachen, bestimmen. 20

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P. Zumthor, a.a.O., S. 10. - Die in diesem Zusammenhang vertretene wissenschaftsgeschichtliche Einschätzung Zumthors, die Literaturtheorie der Nouvelle critique und des Strukturalismus bis Ende der siebziger Jahre hätten "von dieser Seite her den Horizont eher verdunkelt als erhellt", indem sie "die uralte Tendenz, den Buchstaben als heilig anzusehen, im Gewände unserer Geistesmodi wieder aufnahmen," verdiente ebenso ausführlichere Erörterung wie die Darlegungen zum Verhältnis von Stimme und Sprache bei Derrida. Dasselbe gilt für den Hinweis auf L. Tristanis These von der "libidinösen Verwurzelung" von Respiration und Stimme, auf der sich dann "die phonische orale Erogenität des Wortes aufbaut" (a.a.O., S. 11). Der Theoretiker folgert daraus einen Vorrang der Stimme gegenüber dem Blick im Hinblick auf primäre Kontaktnahme: "Das Register des Sichtbaren hat nicht die konkrete Dichte der Stimme, die Tastbarkeit des Atems, die Dringlichkeit der Atmung."( P. Zumthor, a.a.O., S.12). Auch diese These wäre weiterer theatertheoretischer Überlegungen wert. Geschichtlich gesehen erheben sich dabei gewisse Zweifel. Asiatische Theaterformen vertrauen nicht allein der Stimmqualität, sondern verlangen dazu die 'bannende' Suggestivität des Blicks, die etwa in der Kun-Oper zur schauspielerischen Technik gehört und prononciert für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Schauspieler und Publikum eingesetzt wird. P. Zumthor mit Beziehung auf G. Durand, S. 13. P. Z u m t h o r , a.a.O., S. 14. Vgl. dazu Franz Wille, Abduktive Erklärungsnetze. Zur Theorie theaterwissenschaflicher Aufführungsanalyse, Frankfürt/M. u.a. 1991, S. lOff.

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3. Geht man unter theaterwissenschaftlichen Prämissen von dem stimmbegabten menschlichen Körper als Ansatzpunkt spartenübergreifender Reflexion aus, so gelangt man zu anders zentrierten Forschungsfeldern, als sie traditionellerweise im Zentrum von Theater- und Musikwissenschaft liegen. Daß die Musikwissenschaft, soweit sie sich dem Musiktheater gewidmet hat, bislang die Oper als Zentrum verstanden hat, erklärt sich u.a. daraus, daß diese die puristische Form von Musik und Bühne darstellt, in der die musikalisch geführte Stimme und nur diese vorkommt. Sie bietet daher nicht nur den nächsten, sondern den von der Musikwissenschaft her gesehen methodologisch auch am besten erschließbaren Bereich, der den nontheatralen Formen der musikalisch-vokalen Kunst direkt benachbart ist.25 Im Unterschied zum Singspiel, der Operette, dem Varieté oder Kabarett, um nur einige Gattungen von 'Theater mit Musik' zu nennen, 26 in denen das Monopol der Singstimme nicht gilt, stellt die Oper den methodisch weniger komplexen Fall dar. Dasselbe gilt wiederum analog für Phasen der Theaterwissenschaft, in denen sich diese von der Literaturwissenschaft her entfaltete und aus dieser Herkunft das literarische Drama und seine Bühnenrealisierung ins Zentrum der Bemühung stellte, mit ähnlich einschränkender Optik im Verhältnis zur Breite von Genres und Darstellungsweisen, in denen der sprechenden Stimme zugleich musikalische Stimm-Konkurrenz erwächst. Es ist jedoch mit aller Deutlichkeit zu sagen, daß diese wissenschaftsgeschichtlichen Vorentscheidungen der Theaterrealität, wie sie sich in der Fülle ihrer geschichtlichen Erscheinungen bietet, lediglich im Sinne eines paradigmatisch zugespitzten Zugriffs gerecht werden können. Das reine Sprech- und das reine Musiktheater treten theatergeschichtlich aufs Ganze gesehen nur selten auf. Versucht man, die Gesamtheit der europäischen Theaterformen - zu schweigen von den außereuropäischen - unter diesem Aspekt zu sichten, so stellt man fest, daß die Formen eines Theaters mit Musik nicht nur gegenüber denen des Sprech- oder Schauspieltheaters weitaus dominieren, sie dominieren auch gegenüber dem puristischen Musiktheater, welches ausschließlich die Singstimme zuläßt. Die überwiegende Fülle theatergeschichtlicher Phänomene umfaßt Sprech- und Singstimme in unterschiedlichem ästhetischen Mischungsverhältnis, verbunden mit der verbal und der gesanglich gesteuerten Bewegung, mit der von der Stimme abgelösten Bewegung usw. Sie bilden ein Kontinuum von ästhetischen Gestaltungsformen und Aktionsmustern, im Vergleich zu dem die reine Musik- und die reine Sprechform der Bühne kulturgeschichtliche Randlagen darstellen. Die Spiel-Räume der Stimme sind wesentlich weiter, als sie der reinen Sing- oder der reinen Sprechstimme in ihren traditionellen Mustern jeweils zugänglich sind. Herkömmliche Fragerichtungen müßten demnach umgekehrt werden. In erster Linie ist nicht zu fragen, was Sprech- und Musiktheater auf der Ebene des szenischen Agierens allenfalls verbindet, sondern wie es zur Ausgliederung eines jeweils puristischen Theaters der Singund der Sprechstimme aus einem Spiel-Raum kommt, welcher der ungeteilten 25

Vgl. den Beitrag von E. Fischer zur gattungstheoretischen Definition der Oper, s.u.

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S 92ff GrundsatzUberlegungen zur Operette bietet der Beitrag von M. Linhardt, s.u. S. 167ff.

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menschlichen Stimme in Verbindung mit dem uneingeschränkten Aktionsvermögen der menschlichen Gestalt entspräche. Es gilt daher, den Hiatus zwischen den traditionellen wissenschaftlichen Modellfällen und der Theaterrealität in ihrer ganzen kulturgeschichtlichen Breite auf neue interdisziplinäre Weise zu schließen. Paul Bekker - um noch einmal auf seinen stimmgeschichtlichen Ansatz zurückzukommen - verabsolutiert hinsichtlich der Entstehung der Oper in Florenz das duale Schema des reinen Sing- und des reinen Sprechtheaters mit scharfer Grenzziehung. Sein relativ ungeschichtliches Verständnis vom 'Realitätsprinzip', das der Sprechstimme, und dem 'Irrealitätsprinzip', das der Singstimme zuzuordnen ist,27 stellt eine kategoriale wie historische Fehldisposition dar. Die tragédie classique ist so wenig 'realistisch' wie die Oper derselben Epoche. In jedem Falle handelt es sich um Stilbildung, die selbst dann noch statt hat, wenn die Ästhetik einen Begriff wie 'Natur' zum Programm erhebt wie im 18. Jahrhundert. Erst mit 'Realismus', 'Naturalismus' und 'Verismo' stellt sich das von Bekker aufgezeigte Problem als historisches. 28 Des weiteren aber kommt für die Frühzeit Bekker zu seiner scharfen Grenzziehung dadurch, daß er die musikalische Dimension, die schon im Bemühen 29

der Akademie von Vicenza zur Wirkung gelangt, nicht zur Kenntnis nimmt. Der Versuch, die entgegengesetzte Richtung, d.h. ein systematisch integrales Vorgehen einzuschlagen, kann sich zunächst darauf berufen, daß die alte, immer wieder formulierte 'Minimaldefinition' von Theater - so ergänzungsbedürftig sie heute auch sein mag 30 - im Hinblick auf Schauspiel- und Musiktheater indifferent ist: wenn ein Spieler A die fiktive Rolle B vor den Augen eines zuschauenden C inpersoniert, so ist dabei keine Aussage impliziert über die Art der Stimme, ihr Verhältnis zum körperlichen Agieren, ihre Funktion im Hinblick auf die fingierte Rolle und ihre Wirkungsweise im Hinblick auf den Zuschauer. Unter der hier bestimmenden Fragestellung müßten die Mittel differenziert werden, die der 'Minimaldefinition' erst Aussagekraft geben: die namenlose Anmutung der Stimme, die fesselnde personelle Zuwendung des Blicks und die faszinierende Suggestion der Bewegung sind die Wirkungsmöglichkeiten, die der triadischen Konstellation zugrunde liegen. Mittels der Trias Stimme, Blick und Leib verbürgt sich der Schauspieler für die Personalität der Rolle und gestaltet diese Bürgschaft als personales Verhältnis zum Zuschauer. Erst damit ist Theater als personales Ereignis beschrie^

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P. Bekker, a.a.O., S. 4f. In der europäischen Theatergeschichte konnten, vor allem in der Nachfolge Zolas, im Hinblick auf Buhnendarstellung immer wieder "vivre" und "jouer" einander angenähert werden, während in den asiatischen Theaterkulturen zwischen dem Alltagskörper und dem Darstellungskörper eine strikte Differenz erhalten bleibt, wie sie besonders in der Theateranthropologie Eugenio Barbas thematisiert ist. S.u. Kap. 7, S. 21 ff. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983, S. 16. Zuvor findet sich die Formel in Klaus Lazarowicz' Bestimmung des "contrat théâtral" (Triadische Kollusion, 1977, in: K. L., Gespielte Welt. Eine Einführung in die Theaterwissenschaft in ausgewählten Beispielen. Frankfurt/M. 1997, S. 97). Beide Versionen gehen auf Eric Bentley zurück (The Life of the Drama, New York, 1964). - Es liegt auf der Hand, daß in der heutigen Debatte um den Theatralitätsbegriff die Minimalfaktoren einer neuen Überprüfung bedürfen, und das um so mehr, j e stärker die Wissenschaft ehemals paratheatral oder kryptotheatral genannte Phänomene ins Zentrum ihrer kultur- und wahrnehmungsgeschichtlichen Fragestellungen rückt.

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ben, diesseits der Verbindlichkeit von individueller Partnerschaft und jenseits sozialer Energie von Gruppenverhältnissen. Daß dabei der Stimme eine Leitfunktion zukommt, bedingt das personale Verhältnis, welches das unaufhebbare Präsens von Theater ausmacht. Aber auch auf dieser Basis der phatischen Kontaktnahme ist zwischen Sprech- und Singstimme kein Unterschied zu konstatieren, vielmehr eine prinzipielle und wirkungsmäßige Analogie. Sie drückt sich nicht zuletzt auch darin aus, daß beide den bruchlosen Anschluß und Übergang zu den Stimmäußerungen von Lachen und Weinen gestatten, und damit im Sinne der Anthropologie von Helmut Plessner im direkten Zusammenhang mit den Grundphänomenen der condition humaine stehen. 31

4.

Die Theaterwissenschaft hat - um den Streifzug zunächst fachgeschichtlich weiterzuführen - von der musikwissenschaftlichen Opernforschung die Kategorie der ästhetischen und stilistischen Einheit des musikdramatischen Werkes diskursiv übernommen, wie Jürgen Schläder im einzelnen ausgeführt hat. 32 Auf diese Weise wird eine Kategorie bestätigt, die in einer früheren fachgeschichtlichen Phase bereits von Seiten der Literaturwissenschaft in die Theaterforschung übergegangen war. Damit ist ein Werkbegriff ins Zentrum gerückt, der theaterfern, überwiegend auf der Basis philologischer Kriterien, j a häufig nach dem philologischen Modell der Ausgabe letzter Hand bestimmt ist. Er definiert sich nicht über Spiel und SpielRäume der Stimme - allenfalls sekundär, soweit hier bestimmte Stimm- und Rollenfacher in den für Aufführung bestimmten Texten berücksichtigt werden. Primär ist hingegen die kompositorische und die literarische Einheit des Gesamtentwurfs, der sich kohärent niederlegen läßt. Aus der Sicht der Theatergeschichte besagt die Kategorie 'Werktreue', die sich als Konsequenz eines essentialistischen Werkbegriffs verstehen läßt, die Hörigkeit der Bühne gegenüber dem Partitur- oder dem Literatur-Text. 33 Historisch gesehen verweist sie auf bestimmte Phasen der europäischen Theaterentwicklung der N e u zeit. Ein Werkbegriff, der die emphatische, ethisch akzentuierte Formel von der Treue legitimiert, ist das Erbe einer vereinfachten idealistischen Ästhetik. Er ist in seiner historischen Geltung daher eingeschränkt, d.h. auf diejenigen historischen Zeiträume - wohlgemerkt erneut des Abendlandes - begrenzt, in denen die Literarästhetik wie die Musikästhetik von der Deckungsgleichheit der ästhetischen Geltung und der schriftlichen Fixierung des jeweiligen Werkes ausgeht. Die Bühnenästhetik der Theaterreformbewegung hat sich, im Nachholverfahren seit der Jahrhundertwende, zeitweilig bemüht, diesem Werkbegriff einen eigenen Begriff Bezeichnenderweise kennt das asiatische Theater, z.B. die Kun-Oper, ein ausgefeiltes System der artifiziellen stimmlich trainierten Formen von Lachen und Weinen, das an bestimmte Stimm- und Rollenfächer gebunden wird. J. Schlader, Probleme des Musiktheaters (a.a.O., S. 135f.) macht außerdem noch die auf lange Zeit "stil- und kompositionsgeschichtlich" akzentuierte Ausrichtung der musikwissenschaftlichen Opernforschung geltend, die zu theaterwissenschaftliche Fragen nur bedingt Zugang eröffnete. Vgl. B. Schlüters Beitrag zum Werkcharakter der "Oper", s.u. S. 1 lOff.

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von Theaterkunstwerk an die Seite zu stellen, ohne dabei hinreichend zu bedenken, daß das Theatergeschehen hinsichtlich der codifizierbaren Verschriftlichung schon deshalb nicht 'Werkcharakter' annehmen kann, weil es primär als raum-zeitliches, visuell-akustisches Ereignis von Stimme und Bewegung in Erscheinung tritt, seine Einheit also allenfalls in der Konvergenz zwischen Ereignis und der gleichzeitig verlaufenden Wahrnehmung bestimmt sein kann. 34 Insgesamt verstellt ein ideologisierter Werkbegriff die historisch ebenso komplexen wie vielschichtigen Vorgänge, in denen sich Musik und Bühne, Sprache bzw. Poesie und Bühne in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen aufeinander einspielen. 35 Geht man davon aus, daß dieser Werkbegriff als geschichtliche Größe zu verstehen und als solche zu problematisieren ist, so wird seine normierende Bedeutung in der europäischen Neuzeit augenfällig. Alle Formen mündlicher Dichtung, improvisierenden Musizierens oder eines extemporierenden und auf das Zuschauerverhalten replizierenden Bühnenspiels treten rangmäßig in der Wertehierarchie zurück, solange die Wiederentdeckung der improvisatorischen Künste, seit Beginn des 20. Jahrhunderts, und kräftig unterstützt durch die Rezeption der afro-amerikanischen Musik, noch aussteht. Im Rahmen dieser historischen Entwicklung in Europa betrachtet, bedeutet das Theater, sowohl als Schauspiel- wie als Musiktheater, die Rückholung der Sprache aus der Schrift in die Stimme, gleichgültig, ob es sich um die Schriftgestalt des literarischen Textes oder der Partitur handelt. 36 Damit ist nicht gesagt, daß die Stimme im direkten und einfachen Sinne der Schrift entspräche; 37 wohl aber besagt dies, daß die Autorität der Stimme gegenüber der Sprache, damit das stimmlich agierende Individuum gegenüber der Verschriftung von Sinn neu eingesetzt wird. Dabei ist freilich eine weitere Unterscheidung - mit übrigens fließenden Übergängen - erforderlich. Die Unterstellung der Sprache unter die Autorität der Stimme kennzeichnet das weite Feld nicht nur der Rhetorik, 38 sondern auch - mit direkter Textbindung - die Deklamations- und Vortragskultur in allen ihren Differenzierun-

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j5

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Die ästhetischen Hintergründe, die Uber Wagners Gesamtkunstwerk weiter zurückreichen bis zur klassischen Buhnenästhetik Weimars, sind hier im einzelnen nicht zu diskutieren. Spätestens mit den Reformprogrammen von Edward Gordon Craig und von Adolphe Appia wird das Theaterkunstwerk oder das 'Wort-Ton-Kunstwerk' fllr die Theaterdebatte prägend. Die entsprechenden theaterwissenschaftlichen Versuche, die in der früheren Ausprägung der Theatersemiotik Gestalt fanden, leiten sich indirekt von der Avantgarde, mithin von dem Theaterverständnis der Avantgarde ab. Die Schichtenanalyse der Theatersemiotik ist dem Ideal eines Bühnenkunstwerkes zugeordnet, das sich, im Modus der minutiösen Beschreibung der Gestaltungsebene und ihrer Korrelationen, als einheitliche Erscheinung von AuffÜhrungs-Sinn erfassen läßt. Ein weiteres Problem stellt hierbei die Literarizität des Librettos und deren Verhältnis zur Partitur dar. Vgl. dazu A. Giers Ausführungen zum gattungsgeschichtlichen Ort des Librettos, s.u. S. 40ff. P.Zumthor, a.a.O., S. 31. Die traditionelle Ausprägung der Rhetorik umfaßt bekanntlich vielseitige Anweisungen zur körperlichen und gestischen Motivierung des Vortrags, aber auch zur Gestaltung und Wirkungsweise der Stimme, vornehmlich unter den Gesichtspunkten der Anpassung an die akustischen und räumlichen Bedingungen, im Hinblick auf Ausdrucksintensität und Glaubwürdigkeit des Sprechenden, sowie im Hinblick auf die affektive Stimulation der Zuhörerschaft.

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gen; theatral wird das Geschehen erst da, wo die Stimme so - sichtbar - verortet ist, daß sich "das instabile Wort in der Stabilität des Körpers festsetzt," 39 der sich seinerseits für die Eigenständigkeit der Textquelle seines Sprechens verbürgt. Das damit sich eröffnende Forschungsfeld ist von größter kulturgeschichtlicher Vielfalt, dessen theatergeschichtliche Aufarbeitung das Verhältnis von Musik- und Schauspieltheater ebenso umfaßt wie übersteigt. Indessen gilt für die "breite Funktion der menschlichen Vokalität", die damit in Erscheinung tritt, daß die Stimme als solche "nicht unmittelbar vom Sinn abhängig" ist, vielmehr "ihm das Milieu" vorbereitet, "in dem er ausgesprochen wird". 40 Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, die universellen Probleme zu diskutieren, die sich einer allgemeinen Theorie von Stimme und Sprache hier stellen. Die Frage, inwieweit der stimmlichen Äußerung wenn nicht eine unmittelbare Abhängigkeit von Sinn, so doch eine mittelbare von vorgängiger Sinntradition, und das heißt von sprachlicher Artikulation, eignet, 41 muß zurücktreten hinter den theaterspezifischen Aspekten, die sich mit der Duplizität von Sprech- und Singstimme auf der Bühne ergeben. Daß sie das "'Milieu' 'vorbereitet'", gilt in gleicher Weise von der einen wie von der anderen Erscheinungsform der Stimme, zumal außer ihren regulierten 'Reinformen' im Zusammenhang der theatralen Situation j a auch der Übergang von der einen zu anderen, sowie der Anklang an die Stimmgeräusche der laryngalen und der nasalen Körperlaute als Äußerungsmöglichkeit offensteht. In jedem Falle gilt, daß mit der Rückholung des sprachlichen oder musikalischen Textes in die Stimme und den mit und in ihr agierenden Körper, diese Texte Anteil an der Ereignishaftigkeit der Aktion gewinnen. Das vorbereitende 'Milieu' ist dann die Position der handelnden Stimme 'au milieu du théâtre', d.h. im Zentrum des Schau- und Hörraums, der das 'théatron' ausmacht. Dies drückt sich darin aus, daß die stimmliche Äußerung niemals in einer völlig identischen Weise sich wiederholen kann, daß das Stimmgeschehen gegenüber der Sprache - j e nach szenischer oder theatraler Situation, Rollenauffassung und Publikumsbezug etc. - dominant gemacht werden kann. Gültigkeit und Überzeugungskraft der Äußerung sind dann nicht nur aus der Inhaltlichkeit des Gesagten abzuleiten, sondern aus dem Maße, in dem die Verlautbarung Zeugnis ablegt, wie und wodurch der jeweilig Sprechende oder Singende sich für die Gesamtheit der menschlichen Konstellation, in der er steht, als Zeuge verbürgt. Im Falle der literarischen Fixierung von Texten ist für diese Konstellation der Begriff 'Sitz im Leben' 42 geprägt worden. Er muß aus dem Text selbst, unter Zuhilfenahme aller historisch-hermeneutischen Erhebungsmöglichkeiten erhoben werden. Im Falle der theatralen Rückholung findet der Text in Stimme und Körper seinen 'Sitz' - gleichgültig, mit welchen schauspielerischen Aneignungsverfahren der Akteur gearbeitet hat und welche Differenzen zwischen dem Agierenden und der agierten Rolle im einzelnen

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P. Zumthor, a.a.O., S. 143. P. Zumthor, a.a.O., S. 24. - Zur Auseinandersetzung mit der aristotelischen - und damit indirekt auch der platonischen - Auffassung des Verhältnisses von Stimme und Sprache, siehe ebd. Ein Resümee der an Zumthors Oralitäts-Theorie sich entzündenden Kritik bietet KarlHeinz Göttert, Geschichte der Stimme. München 1998, S. 16f. Zur Aufnahme dieses ursprünglich aus der theologischen Bibelkritik stammenden Begriffes vgl. Zumthor, S. 144ff.

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sichtbar werden oder sichtbar gemacht werden sollen. Diese Suggestivität des 'Sitzes im Leben' ist grundsätzlich bereits durch die agierende Stimme erreicht, die sich unmittelbar in visuell körperliche Extensionen hinein fortsetzt. Seit dem 18. Jahrhundert hält die Debatte an, inwieweit unwillkürliche Gestik, in welcher die stimmlich Äußerung und der körperliche Bewegungsausdruck nahtlos ineinander übergehen, von der willkürlichen überhaupt genau zu unterscheiden ist, d.h. von symbolischen und deiktischen Gesten, die auf jeweiliger Konventions-Basis inhaltlich-semantische Brücken zwischen Bühne und Publikum schlagen. Aus der Schauspielgeschichte und der Schauspieltheorie sind vielerlei Methoden bekannt, die unwillkürliche Bewegungsform zu stimulieren wie auch sie zu unterdrücken. Bekanntlich bedarf es größter Anstrengungen, die unwillkürlichen Erweiterungen des stimmlichen Agierens ins Körperliche zu unterbinden, wenn es um reine Deklamations-, Oratorien- oder Lied-Ästhetik geht, Auftrittsformen, denen dann allenfalls semi-theatraler Charakter zugebilligt wird. Die traditionelle Möglichkeit, unerwünschtes In-Erscheinung-Treten eines allzu individuellen 'Sitzes im Leben' - und das heißt, in traditioneller Bühnenästhetik, das allzu dominante Hervortreten der Schauspielerindividualität gegenüber dem Rollensinn - auszuschließen, besteht seit jeher in den Regeln der Stilisierung. Stimm-, Bewegungs-, und Darstellungskodifizierung sind Wege, die aus der Unmittelbarkeit der Schaustellung auf Ebenen der Abstraktionen, d.h. der Verallgemeinerung fuhren. 43 Dennoch bleibt es auch unter solchen Umständen dabei, daß das Hier und Jetzt des szenischen Agierens gegenüber abstrahierenden Tendenzen die Oberhand behält, solange die individuelle Stimme raumgreifend und in tonaler Performanz sich Gehör verschafft. Die Stimme ist die Signatur der Gegenwart, und insofern das Grundphänomen der theatralen Transitorik. Ihre Zeitigungsform ist letztlich der Kairos, dessen Inbegriff die Krisis. Die dramaturgischen Mittel und die Formmuster, mit Hilfe derer man im Schauspiel- wie im Musiktheater auf unterschiedliche Weise diese Momente herbeiführt und profiliert, sind bekannt. Theatral gesehen, sind es jene Zielpunkte, in denen sich die körperliche und emotionale Disposition des Sprechenden oder Singenden mit dem Inhalt des durch die Rolle Aufgegebenen hörbar und sichtbar auseinandersetzt - indentifikatorisch oder distanzierend, jedenfalls aber so, daß Stimme und Körper, gemessen am Vorhergehenden und Nachfolgenden, gewissermaßen exaltieren. So stehen diese 'kritischen' Augenblicke gegen die Zeitform des Chronos, die Kontinuität besagt, Überlieferung bedingt und nach Notation von Text drängt.

5.

Diese Überlegungen führen zu Phänomen und Begriff der Intonation. In der Theatersemiotik ist Intonation - wie Stimme überhaupt - im Hinblick auf ihre semantische Funktion thematisiert und d.h. als paralinguistisches Zeichensystem erfaßt, 43

Solche Strategien zielen konsequenterweise auf eine Einschränkung von Bewegungsund Ausrucksmustern ab, für die im extremen Modellfall dann die Marionettenmetapher, etwa im Sinne Craigs, eintreten kann und die damit tendenziell auch die Trennung von Stimme und Körper als Möglichkeit einschließt.

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dem linguistischen beigeordnet und den sprachlichen Zeichen subsumiert worden. 44 Dabei kommen prinzipiell auch die Bereiche in den Blick, die zu den nonverbalen Zeichen überleiten, den Zeichen des Körpers, der Bewegung etc., sowie Stimmphänomene wie Schrei, Lachen und Weinen, welche die Nähe zur Sprache hinter sich lassen. Zudem wird die historische Fülle und kulturgeschichtliche Differenzierung der Stimme in Rechnung gestellt, wie auch die Formen theaterspezifischer Stimmästhetik. Daß dabei ein deutlich stärkerer Nachdruck auf die kommunikationsgeschichtliche Funktionalisierung der Stimme, wie etwa im weiten Feld der rhetorischen Tradition, fällt, als auf die Stilistik der Stimme, wie sie etwa die Deklamations- und Vortragsästhetik des 19. Jahrhunderts bestimmt hat, erklärt sich aus dem leitenden Interesse der semiotischen Systematisierung. 45 Was hingegen nur bedingt zur Sprache kommt, ist die grundsätzliche performative Qualität der Stimme, die - hinsichtlich der theatralen Funktion - das dialogische Verhältnis zwischen Akteur und Akteur, sowie zwischen Akteuren und Publikum, inauguriert und grundiert, mithin das 'innere' wie das 'äußere' Kommunikationsfeld des theatralen Ereignisses so eröffnet und gewährleistet. Weitere Einschränkungen hinsichtlich der Bedeutung der Stimme werden durch ausschließende Definitionen getroffen. Diese betreffen zum einen die Singstimme, unter der Voraussetzung, daß sich jederzeit und in jedem kulturgeschichtlichen Zusammenhang von Theater eine entsprechende Grenzziehung zwischen Sprechen und Singen vornehmen lasse. Hinzu kommt zum zweiten das Verhältnis zwischen der Sprechstimme und der Geräuschleistung der Stimme, wobei auch hier vorausgesetzt wird, daß sich die Zonen jederzeit genau unterscheiden lassen. Die Geräuschhaltigkeit von Stimme wird so entweder zum individuellen Begleitphänomen der Artikulation des einzelnen Sprechers verengt, 46 oder auf die Imitation von akustischen Erscheinungen der Umwelt, von Vogellauten bis zum Motorgeräusch, eingeschränkt oder aber auf Rede-Ebene als Lautgabe in der Funktion von Interjektionen erörtert. Die Relevanz dieser Phänomene ist sicherlich unbestritten, im allgemeinen wie im Hinblick auf das Theater. Jedoch erreichen sie nicht die akustische, personale und ästhetische Grundsätzlichkeit, welche der Stimme - zusammen und neben dem Blick - als performative Leitäußerung für das In-Gang-Setzen von Theater zukommt. "Zwischen der stummen Körperlichkeit und dem Bereich der Signifikation, der Sprache, stellt die Stimme etwas wie ein Scharnier dar," 47 formuliert Lehmann, und rührt damit an jene 'pygmalionische' Konstellation des Erwachens eines Körpers in Stimme und Blick, die nicht ohne Grund in Gestalt des Rousseauschen Melodrams zur Zeit der Theaterreformdebatte des 18. Jahrhunderts gleichsam als

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E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Bd. 1, S. 36-47. Ebd., S. 37. Demgegenüber indiziert nach H.-Th. Lehmann das Timbre die Bindung der Stimme "an die Physis". Mittels Timbre wird das "Intelligible" eingefilrbt und "in allem Bedeuten auf den möglichen Nicht-Sinn, das Schwinden der Sinnhaftigkeit in der schieren Präsenz des Physischen" aufmerksam gemacht. (Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991, S. 41.) H.-Th. Lehmann, ebd.

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Brückenschlag zwischen dem Schauspiel- und dem Musiktheater verstanden werden konnte. 48 Zur neueren Erörterung der theatralen Bedeutung der Intonation im engeren und der Stimme im weitesten Sinne liegen die "Prolegomena" genannten Thesen von Klaus Schwind vor. 49 Sie gewinnen eine größere Weite aufgrund eines breiten Begriffsansatzes. Gerade die kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Vielseitigkeit, mit welcher der Begriff der Intonation benutzt wird - liturgisch, linguistisch- phonetisch, musikgeschichtlich und musikalisch, prosodisch-literarisch - läßt ihn im vorliegenden Kontext zu einem Schlüsselbegriff werden, wenn man davon ausgeht, daß die Stimme sowohl die die Sprache tragende kommunikative Facultas des menschlichen Körpers darstellt, wie auch dessen aktive Teilhabe am akustischen Kosmos bezeichnet. Der von Schwind nun ausdrücklich als 'theatral' konzipierte Intonationsbegriff basiert auf den Voraussetzungen phonetischer und kommunikationswissenschaftlicher Komponenten, wie Tonhöhenverlauf, Stimmfarbe, Betonungsstärke, Artikulationsdauer etc. 50 und wird von diesem Ausgangspunkt aus im Hinblick auf die Probleme des Schauspiel- bzw. Sprechtheaters überprüft und ausgearbeitet. Dabei besagt die Grundthese, daß Intonation in der alltäglichen Kommunikation dazu dient, die Mehrsinnigkeit sprachlicher Ausdrücke gemäß den Voraussetzungen der jeweiligen Gesprächssituation und den individuellen Zielen des Sprechers möglichst einzuschränken und so die Aussage unmißverständlich zu machen. Im Theater-Kontext ist hingegen - zusätzlich zu solchen Funktionen, die auch innerhalb der szenischen Fiktion denkbar sind - die gegenteilige in Rechnung zu stellen, d.h. es sind ästhetische Mehrbezüglichkeit und Reflexivität in den Funktionsbereich von Intonation einzubeziehen. Diese Thesen gestatten nun den Anschluß an die vorherigen Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und theatralem Geschehen. 51 Wenn die Stimme die Verortung von Text und Sprache im Körper des agierenden Schauspielers leistet und insofern - analytisch gesehen - über rein linguistische wie paralinguistische Gestaltungsschichten der Bühne hinausreicht, so avanciert Intonation zum theatralen Schlüsselphänomen. Es gestattet dem Schauspieler, sein eigenes Text- und Rollenverständnis, mehr noch, auch seine unbewußte Beziehung zur Rolle, als Darsteller weiterzuvermitteln. Gerade in dieser Vermittlung besteht aber die Möglichkeit, daß er auch als schauspielerische Individualität, als die er ebenfalls "wahrgenommen werden will", in, mit und unter der Rolle in Erscheinung tritt. Zur Geltung kommt also nicht nur, was ihm an dem Text als besonders mit Wertakzenten hervorzuheben nötig erscheint, d.h. die "jeweils einmaligen Bedeutungsanteile", vielmehr

Die Probleme der Körperästhetik im Sprech- und Musiktheater dieses Zeitraums erörtert S. Henze-Döhring, s.u. S. 139ff. Dramatisch-Theatralisches. Prolegomena zu einem theatralen Begriff der Intonation. In: Forum Modernes Theater 12,1 (1997), S. 19-28. A.a.O., S. 19. Von P. Zumthor ist in diesem Zusammenhang auch der Essay "Körper und Performanz" anzuführen (in: Hans Ullrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988, S. 703-713).

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stellt die Stimme "zugleich am Körper und im Leib die Darstellung der Darstellung sinnfällig dar." 52 Gemessen am vorgegebenen Text leistet die Intonation ein Mehrfaches, sie gliedert, betont, leitet über, vor allem aber, sie wertet. Solche wertsetzenden Modi der stimmlichen Verlautbarung umfassen die kommunikative Einstimmung der Rede, die Gesamtäußerung des Satzes, die Gewichtung der einzelnen Satzteile, die Abtönung der Wortgruppen bis hin zur Akzentuierung des einzelnen Wortes. Es versteht sich, daß diese Modi der Abtönung in einem vielfachen sozialhistorischen und rezeptionsbezüglichen Zusammenhang zu sehen sind. Sie stellen "Werte für jemand" dar. Insofern handelt es sich um spezifisch ereignishafte Gestaltungsmomente, die den vorgegebenen Text in eine neue Dimension versetzen. Sie machen den Text zum sprachlich-stimmlichen Ereignis des Augenblicks. Dieser Struktur der theatralen Kommunikation entspricht, daß aufgrund der Intonation "Bedeutungseinheiten offenbar mit vordringlich expressiv-emotionalen Anteilen besetzt" sind, sowohl seitens des Akteurs bezüglich des Dargestellten, wie auch seitens des Rezipienten, was seine Wahrnehmungsbereitschaft und seine Wahrnehmungsfähigkeit betrifft. 53 Mit dieser emotiven Schlagseite, die sich - unabhängig von einer bewußten Lenkung durch den Sprecher - auch bereits der Einbettung der Stimme in dessen Körper verdankt, geht es bei dem von Schwind exponierten theatralen Intonationbegriff also grundsätzlich um das Verhältnis von Rede und Text. 54 Wie immer sich dieser Ausgleich zwischen bewußter Ein-Stimmung und unbewußtem Stimm-Ansatz im Falle von dramatischen Texten einspielen mag 55 - auf der Bühne ist es die körperverhaftete Stimme, die mittels ihrer "Werte-Zuweisung" dem literarisch-dramatischen Text den Mehrfachsinn oder gar den Gegensinn entlockt. 0 Dabei ist die nuancierende oder kontrastierende Akzentuierung durch Intonation, von der Sprecher- wie von der Hörerseite, sozial, geschichtlich, kommunikationsgeschichtlich mit bedingt: "Die Stimme gibt dem Wort Bedeutung", denn es wird "in seiner Zeichenhaftigkeit und in seiner Materialität durch die Stimme konstituiert". 57 Zu Recht hat Schwind in diesem Zusammenhang als einen der unmittelbar einleuchtenden Belege für diese Funktion der Stimme die Ironie ge58 nannt, die es - wie im alltäglichen Sprechen, so auch prononciert in der drama"

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K. Schwind, a.a.O., S. 21. K. Schwind, a.a.O., S. 21. - Zu verweisen ist auch auf seine Anm. 3 (S. 28), in der emotionspsychologische Thesen von Klaus R. Scherer referiert werden. (Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie. In: K R. Scherer (Hrsg.), Psychologie der Emotionen. Göttingen 1990, S. 1-38.) Dieser grundlegende Aspekt wird in kritischer Auseinandersetzung mit der Texttheorie von Michael Bachtin, dessen Begriff von "Dialogizität" die interne Mehrsinnigkeit von literarischen (epischen) Texten besagt, dargelegt. Bachtin selbst hat bekanntlich dem Drama diese textstrukturelle Mehrfach- oder Gegensinn-Möglichkeit abgesprochen. "Dialogizität [im Bachtinschen Sinn des Begriffes] wird durch Intonation vermittelt." K. Schwind, a.a.O., S. 23. K. Schwind (a.a.O., S . 2 3 ) verweist auf Renate Lachmanns Erörterung von "Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mytho-Poetik als Paradigma dialogisierter Lyrik". In: Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984 (Poetik und Hermeneutik Bd. 11), insbesondere S. 493 und S. 496. Diese geradezu paradigmatische Theaterleistung mittels Intonation ist bereits von E. Fischer-Lichte hervorgehoben worden (Semiotik, Bd. 1, S. 38).

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tisch-theatralen Darstellung - gestattet, Mehrstimmigkeit in negativer bis subversiver Bedeutung hervorzubringen. Im Theater insbesondere macht sie es möglich, zwischen der sog. internen Kommunikation unter den dramatis personae und der externen zwischen Bühnengestalten und Zuschauern den radikalen Werte-Bruch bezüglich des Sinns des Geäußerten herbeizuführen. Daß sich solche Mehrsinnigkeit im Gefälle zwischen Stimme und Text durch alle weiteren Möglichkeiten des schauspielerischen Agierens - von der Mimik bis zur Körperbewegung - weiter realisieren, verstärken oder radikalisieren lassen, bedarf keiner weiteren Ausfuhrung. 59 Erneute Beachtung verdient aber, 60 daß die Stimme nicht nur individuelle und situativ einmalige Bedeutungsakzente in der Textsequenz setzt, sondern "zugleich an Körper und Leib die Darstellung der Darstellung sinnfällig macht". Denn auf dieser Ebene kommen die - von Schwind nur pauschal mit einbezogenen - ästhetischen und theatralen Intonationskonventionen zum Tragen, die auch der individuellen Stimmgestaltung vorausliegen. Sie sind in sich Beleg dafür, daß die Spiel-Räume der Stimmen auf den Bühnen nicht zu den 'Urlauten' von nicht mehr hintergehbarer Ursprünglichkeit zurückführen, sondern daß es sich dabei um individuell von Künstlern gemeisterte und gebündelte kulturelle Vielstimmigkeit handelt, die ihre eigenen Traditionen und ästhetischen Qualitäten aufweist. Insofern muß die Theorie der theatralen Intonation die spezifischen historischen Voraussetzungen mitreflektieren, die der prosodischen und der metrischen Seite der Stimmführung die Regeln geben. Hinzu kommen die rhetorischen und kommunikationsgeschichtlichen, sowie die jeweils gattungsgeschichtlichen Vorgaben für die Stimmgestaltung. Im weitesten Horizont geht es dabei schließlich auch um die stimmästhetischen Vorentscheidungen des entsprechenden Kulturkreises und seiner Traditionen, die in die grundsätzlichen Überlegungen einbezogen werden müssen.

6. Die theaterwissenschaftliche Reflexion von Intonationsfragen kann nicht bei der Sprechstimme halt machen, sondern hat die Singstimme mit zu bedenken. Dabei sind von vornherein einige Fragenkomplexe auszuklammern: es kann hier nicht um die Wiederaufnahme der grundsätzlichen Debatte um das Verhältnis der beiden Stimm-Modi und ihre essentiellen Differenzen gehen. 61 Auch rein stimmtechnische 59

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K. Schwind selbst nimmt auf Bachtins Begriff der Karnevalisierung Bezug, als einem kultur- und literaturgeschichtlichen Grundverfahren der radikalen Umwertung, das den Widerspruch zwischen Körper und Text, Körperlichkeit und Schriftsinn zum Inhalt hat. Auf anderer Ebene hat sich die theaterwissenschaftliche Forschung dem Problem gewidmet, ob und in welchem Sinne die in der Aufführung intonierte "Rede- und Stimmenvielfalt " und die - entgegen Bachtins Annahmen - im schriftlichen Text der dramatischen Rolle selbst bereits enthaltene Mehrstimmigkeit miteinander korrespondieren oder nicht, und zu entscheiden, welche weiteren Konsequenzen Übereinstimmung oder Divergenz in diesem Falle nach sich ziehen. Genannt sei die Studie von Sophia Totzeva, Das theatrale Potential des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung, Tübingen 1995 (= Forum Modernes Theater, Schriftenreihe Bd. 19). Singformanten und Atemstütze werden in der Regel als letzte Differenzmerkmale genannt, dazu häufig das Vibrato. Die Frage, ob zumindest letzteres die Ästhetik der Sprechstimme, in der hochentwickelten Deklamationskunst des 19. Jahrhunderts etwa,

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Fragen, die Singstimme und ihre Ausbildung zur Sängerstimme betreffend, sowie die im engen musikalischen Sinne korrekte Intonation im Gesang, können hier ausgeschlossen werden. Bereits mit den Fragen von Registereinsatz und Registerwechsel ist die theatrale Relevanz von Intonation hingegen auf grundlegende Weise angesprochen, da diese individuell akzentuierend, und d.h. auffuhrungsspezifisch, herangezogen werden können, und außerdem, stilgeschichtlich gesehen, hinsichtlich der Unmittelbarkeit bzw. Ästhetisierung von Ausdruck wichtige Funktionen gewinnen. Auch im Hinblick auf die einzelnen Parameter der Intonationsgestaltung sind analoge Überlegungen für Sprech- und Singstimme angezeigt. 62 Zwar sind im Falle von Tonhöhe, Tonstärke und -dauer im Falle des Musiktheaters - zumal des Abendlandes - bereits kompositorische Festlegungen getroffen; doch bleiben die Intonationsmodi zu berücksichtigen, weil gerade sie in der Feinabstimmung um so ausdrucksstärker und d.h. rollenspezifisch charakteristischer wirken können. Daher sind alle Nuancen zwischen harter und weicher Stimmführung, vom gleitenden Ansatz bis zum Glottisschlag oder bis zur attacca-Verve, wobei die grundlegende Bedeutung intonatorischer Übergangsformen zum Sprechgesang und zum reinen Sprechen in Rechnung zu stellen ist. Auch Beweglichkeit, rhythmische Prägnanz, Resonanzstärke des Tons, dazu die Stärke und Modulation des Vibrato u.a. mehr, dürften bei einer dezidiert theaterwissenschaftlichen Annäherung an die Singstimme zu Überlegungen fuhren, die Vergleiche mit dem Sprechstimmbereich nahelegen. Selbst im Hinblick auf die gesanglichen Äquivalente zu den im engsten Sinne linguistischen Funktionen von Intonation - im Deutschen etwa die verschiedenen Modi der Satzintonation, die terminal, progredient, interrogativ und exklamativ bestimmt werden können - würden vergleichende Untersuchungen über die theatergeschichtlichen Eigenarten von Sing- und Sprechstimme auf der Bühne lohnen, wobei sich als erster Schritt eine eingehende Untersuchung von Deklamationsund Rezitativstilistik sozusagen unmittelbar anbietet. Die genannten Probleme gewinnen weitere grundsätzliche Dimensionen, wenn man theatergeschichtlich über die Sprach- und Kulturgrenzen hinaus blickt, etwa auf jene Theaterkulturen, denen 'tonale' Sprache zugrunde liegen, d.h. Sprachen, in denen der Stimmeinsatz nach Höhe, Tiefe und verschiedenen Tonverläufen linguistische Grundinformation, z. B. semantischer Art, mit sich bringt. Die Tatsache,

mitbestimmt, bedürfte theaterwissenschaftlicher Klärung, unter Hinzunahme neuerer, auch empirischer Verfahren der experimentellen Phonetik. Deren Bedeutung für die Forschung hat im Falle der Singstimme Peter-Michael Fischer eindringlich nachgewiesen (Die Stimme des Sängers. Analyse ihrer Funktion und Leistung - Geschichte und Methodik der Stimmbildung. Stuttgart/Weimar 1993), ohne daß freilich irgendwelche vergleichende Untersuchungen mit der Sprechstimme angesprochen würden. - Die grundlegenden Probleme, die sich für die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse ergeben, diskutiert J. Liebscher, s.u. S. 55ff. In ihrer Theatersemiotik (Bd.l, S. 38) nennt E. Fischer-Lichte hier als auditive Parameter für die Sprechstimme: Tonhöhe und -stärke, Höhenverlauf, Dauer, Artikulation, Betonung, Qualität, Rhythmus, Resonanz und Tempo, und - um diese 'auditiven' Merkmale durch weitere, 'substantielle' zu ergänzen - Intensität, Zeit, Grundfrequenz und Formantenverlauf. Der forschungsgeschichtliche Bezug (Anm. 23) erfolgt auf die ältere sprachdiagnostische Forschung (R. Fährmann, Bonn 1967) und semiotische Klassifikationsfragen (P. Winkler, in: Zeitschrift für Semiotik I, 1979). - Die Anforderungen an die Analyse vokaler Interpretation im Falle der Singstimme zeigt S. Vill auf, s.u. S. 71 ff.

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daß im chinesischen Theater, etwa der Kun-Oper, die Tonalität der jeweils zu artikulierenden Wort-Silben-Einheit respektiert werden muß, ehe die musikalischmelismatische Ausgestaltung dieser Silbe im gesanglich-rollenmäißen Kontext sich anschließen kann, wirft nicht nur grundlegende musikästhetische, sondern auch theatergeschichtliche Fragen auf, u.a. was Ausdrucksspanne und stimmliche Einfärbung betrifft. Abgesehen von solchen Einzelgesichtspunkten bleiben aber hinsichtlich der theatralen Bedeutung der Intonation im Falle der Singstimme die grundsätzlichen Gesichtspunkte in Kraft, die im Zusammenhang mit der Sprechstimme bereits diskutiert worden sind. Intonationsvarianten können zum einen die akzentuierten inhaltlichen Verschiebungen vornehmen, die die individuelle Gestaltung der Rolle seitens des Schauspielers und innerhalb eines Regieprogramms prägen; sie können aber darüber hinaus die performative augenblickliche Dynamik tragen - und auf beiden Ebenen gravierende Verschiebungen gegenüber den Textvorlagen, seien diese sprachlich oder musikalisch-sprachlich, vornehmen und dabei in breiter Ausdrucksvarianz realisieren. Zum zweiten bleibt auch für die Singstimme der 'idiosynkratische' Rest der personalen Stimmqualität zu bedenken, d.h. jene Eigenart der individuellen klanglichen Erscheinung der Stimme, die nicht restlos in den gehaltlichen Dimensionen der Rolle und den stilistischen Konventionsvorgaben aufgeht, der vielmehr als 'Timbre' der Singstimme im eigenen Recht erscheint und als solches wahrgenommen wird. Die relative wirkungsästhetische Selbständigkeit der Stimme gegenüber dem Inhalt von Rolle und Text ist darin garantiert und bildet die Grundlage für die 'Selbstpräsentation' des Darstellers als Darsteller. Daß diese hochgradig individualisierte Präsenz des Darstellers gerade im Falle des traditionellen Musiktheaters besondere Bedeutung erlangt, bedarf keiner weiteren historischen oder phänomenalen Verdeutlichung. Doch ist auch im Schauspieltheater damit die Dimension sichtbar, die jenseits der Rolle, des Stückes und der Inszenierung, mit der vom individuellen Schauspieler geleisteten Darstellungssynthese eröffnet ist. Deren Stil- und wirkungsgeschichtliche Tragweite bleibt in der Theatergeschichte um so stärker zu berücksichtigen, je weiter man sich von den literarischen Vorgaben des Rollen- und Dramentextes als normative Größen entfernt und sich anderen Gestaltungs- bzw. Wirkungsebenen der Bühne zuwendet. Jenseits des systematischen Vergleichs zwischen den Reinformen der Sing- und der Sprechstimme, wie sie in bestimmten Phasen der Bühnengeschichte in Erscheinung treten, ist auch hier der Bereich der Übergänge von größtem Interesse für eine theatrale Theorie und Geschichte der Intonation, jener kaum systematisierbare Bereich der Bühnenformen, in denen Übergänge, Überlagerungen, Brüche, kurz gesagt das vielfältige Nebeneinander von Sprech- und Singstimme die Regel sind. Die Bedeutung des intonativen Wechsels zwischen den beiden Bereichen der Stimme wäre als grundlegendes theater- und genrespezifisches Stilprinzip vieler Phasen der Theatergeschichte sowie der Entwicklung und der Ästhetik der einzelnen Gattungen selbst zu untersuchen. 63 Als Ansatzpunkt dazu kann ein in seiner historischen Tragweite kaum zu überschätzendes Phänomen betrachtet werden, das System der Rollen- und Stimmfä63

Zur Neuformulierung der Probleme in der Avantgarde-Debatte des 20. Jahrhunderts s.u. Kap. 9, S. 34ff.

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eher. Zumal im Hinblick auf den Spartenvergleich kann hier von einem Forschungsdesiderat gesprochen werden. 64 Schon vor geraumer Zeit hat J. Schläder beklagt, daß ein Mangel "an fundierten theaterwissenschaftlichen Untersuchungen über Rollenfächer im Musiktheater und über darstellerische Möglichkeiten und Eigenarten von Sängerinnen und Sängern" 65 besteht. Dasselbe gilt für die Seite des Schauspieltheaters. Die einschlägigen Untersuchungen liegen viele Jahrzehnte zurück und müßten daher überprüft werden. Auch hier wäre es dringend erforderlich, das Verhältnis von Stimmqualität, Rollenprofilen und der daraus resultierenden oder damit einhergehenden Spezifik der Körperaktion, gerade unter inhaltlichen Gesichtspunkten, erneut zu beschreiben. Fest steht aufgrund der älteren Forschung hier jedoch, daß die Rollenfacher des Schauspieltheaters für das gesamte 18. Jahrhundert, wenngleich in verschiedenen Phasen der Wandlung, als Prämisse des Theaterwesens betrachtet werden können und daß diese, sieht man von wenigen führenden Häusern der residenzstädtischen Bühnen ab, bis weit hinein ins 19. Jahrhundert in Kraft bleiben. Daß das System der Mehrspartenhäuser auch den Wechsel der Akteure vom Schauspiel- zum Musikbereich und umgekehrt vorsah - und zwar nach Maßgabe von Rollenfächern - ist offensichtlich, wenngleich nicht für jeden Rollentypus dasselbe Maß an Konvertibilität vorausgesetzt werden kann. Offensichtlich ergibt sich auch hier eine Skala von Übergängen, je nach Rollenfach und den spezifischen Konventionen, ob die ausgebildete Sängerstimme als unverzichtbar gefordert wird, ob umgekehrt sprechstilistische Ausbildung unerläßlich ist oder von sängerisch vorgebildeten Akteuren realisiert werden kann, etc. Rollenfächer bestehen - so definiert Bernhard Diebold schon 1913 - "aus einer Gesamtheit von - in gewisser Beziehung - ähnlichen Rollen", und führt weiter aus: Diese Ähnlichkeit kann eine literarische sein, indem sie auf Verwandtschaft der den Rollen zugrundeliegenden, vom Dichter geschaffenen Typen beruht und somit Fächer wie diejenigen der Helden, Väter, Intriganten, Juden bedingt; sie bezieht sich aber andererseits auf die darstellerischen Kunstmittel, die der künstlerischen Individualität des Schauspielers gehören - rhetorische und mimische Technik, Empfindungs- und Nachahmungstalent, schöne oder charakteristische Körperbeschaffenheit - und bildet so die 'tragischen' oder 'komischen' Rollenfächer oder diejenigen der 'Charakterrollen', der 'Anstandsrollen', der 'Karikaturen'.

Offensichtlich sind Rollenfächer nicht einfach literarisch vorgegeben, sondern schließen spezifisch theatrale Qualitäten und Aufführungsgepflogenheiten ein. Sie bezeichnen im 18. Jahrhundert dergestalt die Nahtstelle zwischen den literarischen und den zahllosen semi- und a-literarischen Spi.elformen der Bühne. Es fragt sich, 64

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Am Beispiel des ästhetisch wie ideologisch gleichermaßen brisanten Verschwindens des Kastratenfaches demonstriert Ch. Balme einen dezidiert theaterwissenschaftlichen Forschungsansatz zum Fächersystem, s.u. S. 127fT. J. Schläder, Musikalisches Theater, a.a.O., S. 130. Bernhard Diebold, Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1913 (Neudr. Nendeln 1978), S . 9 f . - Abgesehen von den geschichtlichen Fragen, die sich zu der Entwicklung der einzelnen Fächer und ihrer Äquivalenz in den verschiedenen Theatersparten ergeben, sind auch begriffsgeschichtliche Probleme zu gewärtigen. Sie betreffen nicht nur den terminologischen Sinn von 'komische Rollen', 'Charakterrollen' oder einzelner Rollenbezeichnungen wie etwa 'Pedant', sondern auch den Wandel der sozialen Zuschreibung, die mit solchen Bezeichnungen im Zusammenhang mit der Auflösung und der Nachwirkung der sog. Ständeklausel erfolgt.

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inwieweit sie sich - mit bezeichnenden Verschiebungen innerhalb des Fächerspektrums - analog für das musikalische Theater beschreiben lassen. Die Fülle der aus der Vergleichsperspektive sich ergebenden historischen Fragen braucht hier nicht im einzelnen aufgeschlüsselt zu werden. Doch lassen sich einige Grundprobleme skizzieren, vor allem wenn man davon ausgeht, daß das Fächer- und Rollensystem in beiden Theaterbereichen wie gesagt bis ins 19. Jahrhundert hinein besteht und vor allem an den Mehrspartenhäusern sowie im Tourneebetrieb sich die Rollen als konvertierbar erweisen. Auf lange Zeit bildet das Fächer-Rollensystem geschichtlich eine Barriere gegen die ästhetischen Forderungen des Sparten-Purismus der Reformprogramme, ganz abgesehen davon, daß auch politische und wirtschaftliche Gegebenheiten in die Spiel-Räume der Stimme eingreifen. Wo in einem bestimmten städtischen Theaterbereich nur die Sing- oder nur die Sprechstimme zum Tragen kommen darf, ist vielfach weniger eine Frage von Ästhetik und Gattungen, als vielmehr der Privilegierung der Bühnen nach Maßgaben der kulturpolitischen Instanzen. Diese Reglementierung betrifft auch die Verbindung von Sprechrollen und Pantomime, Tanz und Pantomime etc. Damit kommt die Theatergeschichte der Gattungen und Genres von der realen Entwicklung her in den Blick, und d.h. von Seiten der bereits mehrfach angesprochenen Durchlässigkeit zwischen den Bereichen der Sing- und Sprechstimme. Gemessen daran stellt sich aber erneut die grundlegende Frage, warum auf der Ebene der ästhetischen Theorie und, in zweiter Linie auf der der populären Theaterdiskurse des gesamten Zeitraums, die Trennung nach 'reinen' Formen gerechtfertigt und damit stimmästhetisch die Normen für das Theaterverständnis gesetzt werden. Eine Annäherung an diese Probleme kommt nicht ohne einen weiteren historischen Rückgriff aus. Er muß hinter die Epoche zurückgehen, in welcher das Schisma zwischen der Theater-Reformtheorie und der zeitgenössischen Bühnenwelt bereits die Debatte bestimmt, weil der aufgeklärte Theaterdiskurs kompromißlos die ästhetische und kulturelle Aufwertung des Schauspieltheaters als Organ der Literatur betreibt und nicht weniger radikal die Reformoper - wie auch das reformierte Tanztheater - verlangt.

7. Ein neuer Streifzug wird damit unerläßlich. Er widmet sich der Wieder- und Neuerfindung von Theater, die sich im Italien des 16. Jahrhunderts unter Rückbeziehung auf die antike Überlieferung vollzieht und die gleichbedeutend ist mit der geschichtlichen Gabelung, welche den beiden Stimmformen je eigene theatrale Domänen schafft. "Why, in the Western tradition, as opposed to what happens in the Orient", so fragt Eugenio Barba, "has the actor become specialized: the actor-singer as distinct from the actor-dancer, and, in turn the actor-dancer as distinct from the actor-interpreter?" 67 Zu diesem Fragenkomplex kann hier natürlich keine umfassende Erörterung folgen, untersucht wird, eher punktuell, der Teilaspekt der Trennung 67

Eugenio Barba, Eurasian Theatre. In: The Dramatic Touch of Difference. Theatre, Own and Foreign. Ed. by Erika Fischer-Lichte, Josephine Riley, Michael Gissenwehrer. Tübingen (Forum Modernes Theater, Schriftenreihe Bd. 2) 1990, S. 33.

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der Genres, unter Ausschluß der Fragen von Tanz und Ballett, aber mit einer illustrierenden Orientierung am asiatischen Theater, auf das sich Barba als Gegenbild beruft. 68 Einer der Gründe für die genannte Gabelung - neben mehreren anderen 69 - liegt in dem Traditionsverhältnis, in dem sich die programmatische Neubegründung von "thdatron", als Alternative zu den populären Spielformen, etwa der commedia dell' arte, aber auch zum puren Unterhaltungsaufwand der höfischen Spiele, auf die autoritativen Theaterformen der Antike bezieht. Das Pathos des kulturellen Innovationsanspruches ist in der Intensität des rechtfertigenden Rückgriffs zu erkennen. Dabei ist für die Renaissance-Debatte bekanntlich das maßgebende Vorbild so gut wie rein literarisch überliefert. Tragödie und Komödie sind als reiner Rollentext verfugbar, jedoch ohne Angaben zur Darstellungs- und Stimm-, Bewegungs- und Gestenästhetik, lediglich die Form des Schauplatzes scheint dank Vitruv genau rekonstruierbar. Hingegen sind, in aristotelischen Termini ausgedrückt, weder Mousike noch Opsis hinreichend tradiert. Dennoch wird, gemäß den Legimitationsbedürfnissen der Neuerer, die aristotelische Autorität auch für das Theater in Anspruch genommen und auf Jahrhunderte verbindlich. Der Rückgriff auf die Antike erfolgt mithin mehrfach; zu den überlieferten Spieltexten kommen die autoritativen Ausführungen von Aristoteles, die ihrerseits im Abstand eines Jahrhunderts zu der Entstehungs- und Auffuhrungszeit dieser Texte konzipiert worden sind. Die Unterschiede in den Bemühungen der Akademie von Vicenza und der Florentiner Camerata erklären sich unter diesem Aspekt daraus, daß die antiken Quellen auf verschiedene Weise zueinander in Bezug gesetzt und gewertet werden. Insbesondere Stimm- und Bewegungsästhetik des antiken Theaters sind so fragmentarisch überliefert, daß sie nicht in überzeugender Weise auf der Basis der jeweils einen oder anderen Vorstellung, wie sie die Überlieferung anregt, rekonstruierbar wären. 70 Der Quell des Schismas, das sich hierin andeutungsweise abzeichnet, liegt nicht im Ausschluß der Musik auf der einen oder der Sprache auf der anderen Ebene der Erneuerungsbemühungen, sondern in der Unsicherheit, wie das maßstabsetzende Urbild tatsächlich die Ästhetik der Stimme in Verbindung mit der Ästhetik der Aktion behandelt hat.71 Die Differenz beginnt erst mit der Art, wie diese Verbindung hergestellt wird, d.h. welchen Textteilen die 'vokale Stütze' in Gestalt des Gesangs zugewiesen und wie dieser selbst musikalisch organisiert und seinerseits wiederum instrumental gestützt wird. Die traditionsbegründende Bedeutung der jeweiligen Entscheidungen liegt im Falle des Musiktheaters, d.h. der Geschichte der Oper und

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S.u. Kap. 8, S. 31 ff. Die weiteren Faktoren sind in erster Linie die Entwicklung der Musik zur Vokalpolyphonie, z.T. mit instrumentaler Begleitung, in der italienischen und niederländischen Form; hinzu kommt die mit der Renaissance neu akzentuierte formale Schriftlichkeit der Überlieferung, die dann einhergeht mit dem ästhetisch-kulturellen Leitbild des Literarisehen als das dem Zeitenfluß enthobene Überzeitliche. Gegeben sind - außer dem Vitruvschen Buhnenmodell - wenige Informationen Uber die AuffUhrungsmodal¡täten, denen zufolge die Chorpartien stärker musikalisiert sind als Dialogpartien (einschließlich gewisser Übergangsformen), sowie über die Festkultur der Polis als Anlaß und Rahmen für die Aufführung. Das Problem, was sich hier hinsichtlich der Stimmästhetik entfaltet, bietet j a dann, zu Beginn der Theaterreformepoche um 1900, erneut den Ansatzpunkt für die Kontroversen im Hinblick auf Bewegungsästhetik, Chorbewegung, Tanz etc.

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ihrer Folgeformen auf der Hand. Doch auch auf der Ebene des Schauspieltheaters - obwohl die Oerf/pus-Aufführung der Akademie keine unmittelbaren Folgen zeitigt - ergibt sich eine Kontinuität bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Weise, daß das Schauspieltheater keineswegs auf die 'musikalische Stütze' verzichtet, die sich lediglich in der Weise einseitig entwickelt, als die instrumentale Gestaltung ein Übergewicht erhält. Die Schwierigkeiten, die sich für die Theaterkonzepte hier auftun, kommen nicht von ungefähr. Ihnen liegt, verstärkt durch die Überlieferungsspanne von 2000 Jahren, ein weiteres Problem zugrunde, welches sich bereits in der Geschichte des altgriechischen Theaters andeutet. Es läßt sich als Teilmoment jenes umfassenden historischen Vorgangs beschreiben, den Eric A. Havelock für Entstehung und Eigenart dieses Theaters geltend gemacht hat, den Jahrhunderte währenden Übergang von einer oralen zu einer literalen Kultur. Unter den Belegen für diese These ist es ein spezieller Aspekt, der in unserem Zusammenhang besonders interessiert, wenn man an die von Aristoteles als Merkmale der Tragödie genannten Komponenten der Mousike und Opsis denkt. Wichtigstes theatrales Indiz dieses historischen Umschwungs ist laut Havelock der Chor, an dem sich die Gedächtniskultur sowie die sozial-didaktische Sprachkunst der frühen oralen Kultur noch am deutlichsten zeigt. Daß der Chor - über die Eigentradition des 'aufgeführten' Chorliedes hinaus 72 - die Form von Tragödie und Komödie bestimmt, macht diese Rückbindung an die orale Vorgeschichte deutlich. Die Erinnerungs-Leistung dieser Poesie, die in formelhaftem Echo, d.h. in Wiederholungs- und antithetischen Merk-Formeln ihre performative Prägnanz gewinnt, ist für die multiple Funktion von Chorlied und Chor von besonderer Bedeutung. [Diese] Rhythmen sind biologisch-lustvoll, besonders wenn sie durch Lieder, Melodien und körperliche Tanzbewegungen verstärkt werden. Im Chor ausgeführt, kann der Tanz auch ganze Gruppen in das Rezitieren und Memorieren einbeziehen, eine Praxis, die noch bis in die Zeit des Perikles athenische Sitte war. Ihre höhere Bildung erhielt ein Großteil der Jugend der herrschenden Klassen Athens durch Teilnahme an den Chören der Tragödie und Komödie.

Mit dem Chor ragt - so die kulturgeschichtliche These - also eine Zeit in die Realität des klassischen griechischen Theaters herein, der schon ein Jahrhundert später die Theoriebildung der neuen Ära nicht mehr entsprechen kann. Theatergeschichtlich ist dazu die Analogthese von Hans-Thies Lehmann formuliert worden. Aristoteles gibt, ausgehend von der Wortbedeutung von Drama (drän) eine in sich stimmige, dramatische Theorie der Tragödie, mit dem Kernbegriff der Nachahmung einer Handlung. Diese Strukturbeschreibung wird aber, so die These, dem eigentli72

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Dieser kulturgeschichtliche Zusammenhang zwischen Chorlied- und TragödienauffÜhrung, sowie beider Beziehung zur Festkultur, ist neuerdings von Detlev Baur im einzelnen erörtert worden (Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Diss. München 1997, S. 16-33). Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt/M. 1992, S. 126. - Havelock spricht in diesem Zusammenhang von dem "lebendigen Sprachkörper" und dessen performativer Leistung: "Als Lautstrom symbolisiert dieser lebendige Körper einen Fluß von Handlungen, eine kontinuierliche Dynamik, die sich in einer Syntax des Verhaltens oder (um die Terminologie der modernen Philosophie zu gebrauchen) in einer 'performativen' Syntax ausdrückt. Für eine wirklich allgemeine Theorie der Oralität ist ihre Erkenntnis von entscheidender Bedeutung." (Ebd., S. 128).

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chen "prädramatischen" Charakter der Tragödie des 5. Jahrhunderts nur wenig gerecht. Nicht dem Muster der abgeschlossenen und konsequenten, dialogisch basierten Konflikthandlung entspricht deren Sinngefüge; die historische Sinnfigur ergibt sich vielmehr aus einem Spiel des Hervortretens und Zusammenwirkens von individuellen und kollektiven Stimmen. In ihnen wird der Mythos als Laut des Subjekts, in Gegenwart von anderen Subjekten und in der öffentlichen Anwesenheit eines Kollektivs der Polis, hörbar und zugleich sichtbar. Der antike Schauspieler, so Lehmann, ist nicht primär Akteur einer Rolle, sondern "vor allem die Verkörperung einer Stimme. Er muß singen können, Rezitativ beherrschen, seine Stimme verstellen und verschiedene Sprechweisen beherrschen".74 Die aus der Tradition des Mythos bekannten Themen von Angst, Leiden und Macht werden im "sinnlichen Diskurs des Theaters" dezidiert sichtbar und "an den Körper" zurückgebunden. Damit "gewinnt die Stimme als Indiz einer aus dem mythischen Kosmos sich isolierenden menschlichen Identität" ihr spezifisches Gewicht, als Grundelement des tragischen Agon. 75 Mit der Dominanz des Ausdruckswertes und der Kopräsenz verschiedener stimmhafter Entäußerung korreliert die Funktion des Chores, der seinerseits am Ausdrucksgeschehen teil hat, im Verhältnis zu den Einzelstimmen aber die "Öffentlichkeit des Geschehens" konstiutiert. Gegenüber Protagonist und Antagonist verkörpert er die dritte Instanz,76 und man könnte hinzufügen, auch eine kollektive Gestalt von Gedächtnis, an der sich die individuellen Ausdrucksgesten von Klage, Leid und Aufbegehren, wie sie die Einzelspieler äußern, brechen. Unbeschadet des Gesagten, ist in der überschaubaren Periode des 5. Jahrhunderts, die von Aischylos' Anfängen bis zu Euripides reicht, die dramaturgische Bedeutung des Chors zurückgegangen gegenüber dem gesprochenen Lineartext der Einzelrollen.77 Dennoch kann diese Tendenz den Hiatus nicht verschwinden lassen, der zwischen den Tragödien-Agonen des früheren Jahrhunderts und der Dramaturgie des folgenden besteht. Das entscheidende Indiz bildet einmal mehr der Chor. Aristoteles hat für dessen besondere Statur wenig Sinn und verlangt, ihn genauso ins Handlungsgefüge - wie er es beschreibend entwirft - einzuordnen wie eine Einzelrolle. Keineswegs - so fuhrt er weiter aus - dürfe ihm eine Sonderstellung nach Art eines "Embolion" zufallen. Damit ist auch jeder theatralen Eigenständigkeit des Chores eine Absage erteilt.78 Mit dieser doppelten, dramaturgischen und aufführungsästhetischen Reduktion steht in Einklang, daß Aristoteles insgesamt die Bedeutung und die Wirkung der Tragödie im schriftlichen Text gesichert sieht, so daß Mousike und Opsis - und d.h. die theatrale Realität der Tragödie - demgegenüber abgewertet werden können. Ästhetische und gehaltliche Bedeutung der Tragödie ist jenseits der Aufführung durch Schauspieler bereits durch die schriftliche Fixierung des Spieltextes gewährleistet. Diese Differenz zwischen der attischen Tragödie und 74

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Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos (s. Anm. 46), a.a.O., S. 36. A.a.O., S. 40. A.a.O., S. 48/49. Auch H.-Th. Lehmann (a.a.O., S. 51) bestreitet nicht, "daß es in der Entwicklung der Tragödie tatsächlich eine Verstärkung des dialogisch-dramatischen Prinzips gab." Kai t ö v %opöv 6e eva Sei üitoAaußctveiv xfijv UTCOKpnajv, Kai nöpiov e l v a i toC öAov Kai auvayoL>vi£Eo6ai. / Den Chor muß man behandeln wie einen Schauspieler. Er soll ein Teil des Ganzen sein und mithandeln [...]. (1456a.) Aristoteles, Poetik. Übers, von Olof Gigon. Stuttgart 1961, S. 50f.

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ihrer aristotelischen Analyse wird zur Schicksalsfrage, als es um die Neuerfindung von Theater in der Renaissance geht. In der doppelten Überlieferungsgestalt der Spieltexte und der aristotelischen, wertenden Maßgaben liegt das griechische Theater den Renaissance-Gelehrten und Künstlern vor, die sich ihrer eigenen ideellen und gesellschaftlichen Orientierung der körperlich-sinnlichen Totalität, in der sie dramatische Literatur erfahrbar machen möchten, verpflichtet fühlen. Wissenschaftlicher Scharfsinn und künstlerische Kreativität entzünden sich an den literarischen Qualitäten der überlieferten Texte nicht minder als an den Vorstellungsspielräumen, in denen ein ideales Theater Gestalt gewinnt. Aufgrund mangelnder Angaben zur Rezitations- oder musikalischen Gestaltung, zur theatral-körperlichen Präsentation ist eine Ästhetik des Stimmenspiels nicht imaginierbar. Daher sehen sich die Akademie von Vicenza wie die Camerata von Florenz - so unterschiedlich ihre Ausgangsbedingungen und ästhetischen Grundinteressen im einzelnen sein mögen - bei ihren Bemühungen mit dem strukturell springenden Punkt der überlieferten Tragödienform konfrontiert, der Duplizität von Chorklang und Individualstimme. Das Kollektivelement Chor, das nach heutigem Forschungsstand stärker aus den präliterarischen Formationsphasen der griechischen Kulturgeschichte geprägt ist, sperrt sich dabei in besonderem Maß gegen die Rekonstruktion aus der rein literarischen Überlieferung. Daher trennen sich die Wege gemäß den primären ästhetischen Interessen, die Akademie und Camerata verfolgen. Längerfristig führen sie zu jenen puristischen Lösungen, die die eine oder andere Stimmformation zur Norm erheben. Dieser Prozeß spiegelt die Unmöglichkeit, das klassische griechische Theater, welches sich einer singulären kulturgeschichtlichen Übergangsphase verdankt, in einer kulturellen Situation der dominant gewordenen Literalität zu restituieren - so groß auch die jeweiligen Impulse sind, eine restlose Überführung und Auflösung von Text im Spiet zu erreichen. Die Leistung der Akademie von Vicenza, wie sie Hellmut Flashar beschrieben hat, ist sowohl auf der rekonstruktiven wie auf der kreativen Ebene gleichermaßen beeindruckend. Die Sorgfalt, die dem idealen Tragödientext von Sophokles' Oedipus gewidmet wird, ist nicht geringer als die für die Wiedererrichtung des idealen Theaters laut Vitruv. Die sehr textnahe, fast wortgetreue Sophokles-Übersetzung unterscheidet die Chorlieder nach Metrum und Stil von den dialogischen Passagen im jambischen Trimeter.79 Die stimmästhetische Disposition ist sehr durchdacht: den gesprochenen Dialogpassagen stehen die komponierten Chöre gegenüber,80 die in sich nuanciert wirken durch unterschiedliche Stimmenzahl und Besetzung. Die Komposition der Chorlieder wird gegen die zeitgenössische Musikästhetik zugunsten der Tragödienfunktion verändert: einfache Homophonie in homorhythmi-

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Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit. München 1991, S. 28/29. - Da Informationen über Versmaße und Strophik der Chorlieder, philologisch gesehen, der Akademie nicht zur Verfügung stehen, wird eine Übertragung in frei gehandhabte Kanzonenverse vorgenommen. Dabei wird dramaturgisch genau kalkuliert, daß die stark handlungsbezogenen Chöre im 3. Stasimon und in der Exodos unkomponiert bleiben (H. Flashar, a.a.O., S. 30).

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schem Satz 81 steht im Gegensatz zu der hochentwickelten Madrigalpolyphonie, desgleichen bleiben die Chöre a capella. Damit wird die venezianische Festtradition, in der die Chöre feierlich instrumental eingeleitet oder unterlegt werden, zugunsten der Neubewertung des Chorgesangs unter dem Einfluß der antiken Theaterüberlieferung preisgegeben. Die Kompositionsmethode versucht so stark wie möglich "auf die musikalische Vergegenwärtigung der im Wort schlummernden Gehalte" einzugehen. 82 Dennoch wird auch musikalisch in weiterem Rahmen disponiert. Die Tragödienauffiihrung wird in einen Festzusammenhang eingefügt, der sowohl die von Fanfaren intonierte Entrade, wie auch instrumentale Übergangsmusik hinter der Bühne - "musica da lontano concertata" - vorsieht, gemäß den Vorstellungen von der Auffuhrung, wie sie Angelo Ingegneri vorgesehen hatte. 83 Im Falle der um die Florentiner Camerata sich gruppierenden Theaterexperimente ist das Verhältnis zur antiken Tragödie weniger belastet, da es von vornherein nicht um eine Wiederaufführung oder auch nur eine Wiederbelebung geht, vielmehr das musikalische Interesse an der Entwicklung der Monodie dominiert. Insofern ist auch keine direkte Ausrichtung an aristotelischen Maßgaben erforderlich, da die Versuche zu einem Musiktheater von vornherein nicht an Tragödie oder Komödie orientiert sind, sondern an der literarischen Pastorale als einer zwar auf die Antike zurückfuhrbaren, aber doch dezidiert zeitgenössischen Form. 84 Der Bezug auf die Antike beschränkt sich auf die inspirierend-imaginative, sodann auf die legitimierende Funktion; letztere ist zum einen stofflich ausgerichtet, wenn die Pastoralen Idyllen, mit ihren antiken Themen, als für die Musik-Szene besonders geeignet ausgewiesen werden, "weil Götter, Hirten und Nymphen jenes uralten Zeitalters hier auftreten, in dem die Musik natürlich und die Sprache fast Poesie war", wie Giovanni Battista Doni in seinem Traktat über die szenische Musik formulierte. 85 Entscheidend ist also das antike Vorbild insgesamt, wenn es um das Wunschbild eines Spiel-Raums geht, der gleichzeitig sprachlich, musikalisch und visuell die Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters in seinen Bann zieht und zum integralen Erlebnis werden läßt. Die im engeren Sinne für Stimmästhetik- und Stilistik ausschlaggebende Legitimation liefert die Antike für die Monodie als Prinzip musikalischer Szenik und für das ästhetische Ideal der Vereinigung von Sprache und Gesang. Die verschie81

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Stefan Kunze im Text zur Neuaufnahme der Chorkompositionen von Andrea Gabriel i zur Oerfjpwj-Auffilhrung der Akademie (aurf/'fe-Schallplatten, Friedrich Mauermann, MAS 232/33). St. Kunze, a.a.O. St. Kunze, a.a.O. - Ingegneris Traktat, "Über die Kunst Bühnenstücke darzustellen", findet sich unter der Rubrik 'Schatztruhe' in: Maske und Kothurn V/1959, S. 81-88. Zum Konzept von Ingegneri vgl. außerdem Hedwig Meier, Die Schaubühne als musikalische Anstalt. Studien zur Geschichte und Theorie der Schauspielmusik im 18. und 19. Jahrhundert sowie zu ausgewählten Fausi-Kompositionen. Bielefeld 1999, S. 38ff. Ullrich Schreiber, Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters. Bd. I: Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Frankfurt/M. 1988, S. 21-37, hier S . 2 7 . Zu Recht weist Schreiber darauf hin, daß Rinuccinis Orpheus-Texte ihren gattungsgeschichtlich springenden Punkt gerade darin haben, daß der Stoff der tragischen Züge entledigt wird und damit die darauf basierenden musikdramatischen Versuche gattungsgeschichtlich vom Aristotelismus abgekoppelt werden (S. 22). G. B. Doni, Trattato della musica scenica (entstanden 1635/39), zit. nach U. Schreiber, a.a.O., S. 23.

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denen Stadien der Debatte sind mit Vincenzo Galileis Dialogo von 1580/81 bezeichnet, 86 der die Erneuerung der antiken Einstimmigkeit als Voraussetzung für eine neue Ästhetik von Text, Affekt und Gesang verlangt, sodann mit Giulio Caccinis Ausfuhrungen zur neuen Musik 1601,87 der den neuen Stil im Hinblick auf Mensur, Tempo, Tondauer, etc. ganz auf den Sinngehalt des Textes, zumal auf dessen affektive Gehalte zuordnet. Einen vorläufigen Endpunkt bildet die in Donis im Rückblick von 1640 bereits dreistufig disponierte Stilschematik: ein eher dem Psalmodieren nahestehender narrativer Stil wird darin von dem stärker affektiv und arios charakterisierten rezitativischen Stil unterschieden, und als dritte Stilebene kommt das ganz dem Affekt zugeordnete Expressive hinzu. 88 Der springende Punkt ist hier die besondere Bemühung um den Affekt und seinen Ausdruck - "auf Seiten des Publikums muß eine hohe Reizempfindlichkeit vorhanden gewesen sein", fuhrt Schreiber im Hinblick auf Caccini aus - wobei sich die literarischen und wissenschaftlichen Verbindungslinien sowohl zur Rhetorik als auch zur aristotelischen Katharsis-Lehre ziehen lassen. Alles ist indessen dem musikalisch-stilistischen Ideal untergeordnet, welches in der frühen Monodie von Jacopo Peri und Giulio Caccini die gesangliche Linie an den "natürlichen Sprachrhythmus bis hinein in die Wortakzente" 89 bindet und damit die Erhebung des "Gesangs zur Tonsprache" 90 herbeiführt. Entscheidend dürfte für die Stimmgeschichte der Bühne aber sein, daß die Tradition der Mehrstimmigkeit im musikalischen Empfinden der Zeit so fest verankert ist, daß die Vorstellung, der Monodie müßte auch für den Chor Geltung zukommen, nicht artikuliert oder gar zur Forderung erhoben worden ist. Offensichtlich hat auch eine Alternative zum madrigalen Stil, etwa nach Art von Gabrielis homophonen Ödipus-Chören, in der Opernentwicklung nie Bedeutung gewonnen. Dieser Bruch des Prinzips der Monodie hat langfristig gesehen gravierende Folgen. Die üppigere polyphone Mehrstimmigkeit wirkt sich nicht nur im chorischen Bereich aus, sondern führt dank der instrumentalen Begleitung auch zur Ausgestaltung des expressiven Stils - um mit Doni zu sprechen - , zu Arioso und Arie, womit sich im weiteren Verlauf ein gewisser stilistischer Dualismus zwischen den rezitativischen und den Arienteilen einbürgert. 91 Wie weit für die Rezitative die alte Forderung von Vincenzo Galilei, man möge "von der stilisierten Sprache der Schauspieler im Theater zu lernen" versuchen, 92 erfüllt wird, mag im Moment dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist auf der Ebene der ästhetischen Leitbild-Genres, wie sie sich in Italien entwickeln, die Trennung zwischen Sprech- und Singstimme radikal und wirkt schulbildend. Dank des Siegeszuges der Oper an den europäischen Höfen gewinnt das reine Musik-Genre eine institutionelle Absicherung, wie sie für keine andere Theaterform in diesem Zeitraum erreichbar ist. Zwar ist nicht zu leugnen, daß das Verhältnis von Gesang und

Vincenzo Galilei, Dialogo [...] della musica antica et della moderna. Florenz 1581. Giulio Caccini, Le nuove musiche, 1601. G. B. Doni, Annotazioni (1640), zit. nach dem Art. "Monodie". In: Riemann/Brockhaus Musiklexikon. Sachteil. Mainz 1967. 89 90 U.Schreiber,' a.a.O.,' S. 33. G. B. Doni, Trattato, zit. bei U. Schreiber, a.a.O., S. 27. 91 J. Schläder, Musikalisches Theater, a.a.O., S. 133. Zit. nach Robert Donington, Geschichte der Oper. Die Einheit von Text, Musik und Inszenierung. München 1997, S. 28. 87

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Sprache im Laufe der Geschichte des Musiktheaters dann immer wieder und mit neuen Argumenten zur Debatte steht; doch vermag dies an der grundsätzlichen Herrschaft der musikalischen Prinzipien bis zu Beginn unseres Jahrhunderts nichts mehr zu ändern, zumal sich mit der steigenden Bedeutung der Instrumentalmusik die Entfernung von der Sprachhaltigkeit der Singstimme immer stärker durchsetzt. Es ist offensichtlich, daß zu einem Zeitpunkt, als das Vorbild des antiken Theaters programmatischen Rang gewinnt, aufgrund unterschiedlichen Gewichts und unterschiedlicher qualitativer Akzentsetzung in der Tradition, différente Leitbilder der Theaterentwicklung formuliert werden. Diese Leitbilder führen mittelfristig zu einer Gabelung nach Merkmalen der puristischen Einseitigkeit, bezogen auf die Stimm- und die zugehörige Aktionsästhetik der Bühne. Weiterhin ist deutlich, daß das durchdachte Experiment der Akademie von Vicenza, der Versuch, eine integrale Theaterkonzeption nach Art der vermuteten antiken Theaterklassik zu etablieren, scheitert. Er scheitert nicht nur im Hinblick auf Bau- und Raumästhetik des Theaters, gemessen an der wenig später ihren Siegeszug antretenden Verwandlungsbühne,93 sondern auch im Hinblick auf die grundlegenden Verhältnisse der Bühnengestaltung nach Raum, Klang, Bewegung und Ausdruck. Die Behandlung des Chorproblems ist hier, wie auch auf Seiten der Camerata, ein wichtiger Indikator für die Gesamttendenz und für die jeweilige geschichtliche Zukunft. Die Lösung der Akademie, welche bewußt die Stimm-Differenz zwischen Dialogszene und Chorpartie in Kauf nimmt, findet keine Weiterfuhrung; sie hat gegenüber dem literarischen Anspruch des immer in erneuten Wellen sich artikulierenden Aristotelismus keine Chance hinsichtlich der Theaterästhetik der Tragödie wie der Komödie. Die Chor-Lösung von Andrea Gabrieli ist aristotelisch nicht zu beglaubigen, die aus der Geschichte der Oralität stammenden theatralen Sonderbedingungen des Chors sind nicht wieder herzustellen oder komplementär zu ersetzen. Das imaginative Konzept der ausgewogenen Zuordnung von kollektiver Sing- und individueller Sprechstimme kann sich stimmästhetisch nicht behaupten. Das Leitbild der Tragödie, wie es nach aristotelischem Muster über Mythos, Ethos, Lexis und Dianoia disponiert wird, behält im Hinblick auf die Bühnenästhetik die Oberhand. Dies führt sehr rasch dazu, daß der Chor als Element von Tragödie oder Komödie ausscheidet, bis auf wenige Versuche der französichen Klassik, Racines Esther und Athalie;94 später zeigt die Bemühung Schillers mit Der Braut von Messina und dem entsprechenden Essay lediglich die Unlösbarkeit des nachgelassenen Problems.95 Auf einer anderen Ebene aber bleibt das Muster von Vicenza in Kraft, die dem Fest analog konzipierte Rahmenästhetik für die theatrale Aufführung. Auch für das 93

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In seinem Uberblick über die Theaterformen der Antike und ihrer Nachwirkung ordnet Enno Burmeister daher das Theater von Vicenza als letzten Ausläufer dieser Tradition zu, zu der die Theaterbauten der folgenden Dekaden im Verhältnis des Neuansatzes stehen (Antike Theater in Attika und auf der Peloponnes. München 1996). In der Vorrede zu Athalie geht Racine völlig auf die aristotelischen Vorgaben ein. Den Chor will er - ganz wie die Einzelfigur des Chorführers, des Koryphaios - ganz auf die Funktion von dramatis personae festgelegt wissen, außerdem sollen nur solche Hymnen oder sententiösen Passagen des Chores zugelassen werden, "qui ont rapport ce qui se passe" (Théâtre complet de Racine. Ed. par Maurice Rat. Classiques Gamier, Paris 1960, P-653).

S.o. den Problemansatz von Einar Schleef (s.o. Kap. 1).

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nachfolgende Sprechtheater ist die Gestaltung mit musikalischen Mitteln die Regel. Überwiegend instrumentale Unterlegung der Aufführung findet an Knotenpunkten der szenischen Überleitung, des Bühnenbildwechsels statt und profiliert die durch Inzidenzmusik zu gestaltenden Szenen. Die Geschichte des Schauspieltheaters ist auf Jahrhunderte damit von musikalischen Rahmenbedingungen mitbestimmt, die Bühnenmusik etabliert sich als ästhetische Prämisse.96 Weitgehend normativ ist aber der Ausschluß der Singstimme von der Schauspielbühne, der als ästhetische Homogenisierungsmaßnahme unerläßlich wurde. Die ausgeschlossene ästhetische Möglichkeit bleibt aber trotzdem nicht folgenlos und hinterläßt Spuren in der Sprechstilistik. In Verbindung mit dem traditionellen Argument, daß die antike Tragödie musikalisch präsentiert wurde, erfolgt nach und nach eine latente bis offen erkennbare melodische Ausgestaltung der Sprechstimme. Die musikalisierende Sprechästhetik des Theaters, gegen die alle mimetischen und rationalistischen Forderungen des 18. Jahrhunderts - wie auch der Folgezeit - immer wieder angehen, bleibt auf Jahrhunderte in Kraft und bekundet damit auf ihre Weise, wie weit die Theaterrealität gegenüber den puristischen Reinformen die Spiel-Räume der menschlichen Stimme zu ihren jeweiligen Zwecken nutzt. Den Konzepten der Florentiner Camerata ist im Unterschied zu denen der Akademie eine beispiellose Erfolgsgeschichte beschieden. Der Hauptgrund liegt wohl darin, daß sie zwischen den Programmen zur Erneuerung des Theaters aus der Überlieferung und den Vorgaben der zeitgenössischen Musikentwicklung, d.h. der hoch differenzierten Mehrstimmigkeit, einen ästhetisch tragfähigen Ausgleich findet. Die szenisch-theatral geforderte und erreichte monodische Gestaltung, ihre Differenzierung und ihre stürmische ästhetische Entwicklung, im Verein mit der instrumentalen Unterlegung, rechtfertigt sich zwar theoretisch durch die mutmaßliche Anpassung des musikalischen Ausdrucks an die Affektleistungen der gesprochen Sprache. In praxi bleibt aber die affektive Potenz der Sprechstimme weitgehend ungenutzt. Es ergibt sich sozusagen eine Klammer zwischen Singstimme und affektivem Gehalt des schriftlich niedergelegten Textes, unter Umgehung sprechsprachlicher Möglichkeiten. Die Monodie ist nicht ans Sprechen, sondern an die instrumentalen Möglichkeiten der Klangästhetik gebunden. Auf diese Weise erreicht die von der Camerata ausgehende musiktheatrale Entwicklung eine überzeugende Einheitlichkeit der Stimmformation, die zum ästhetischen Leitbild erhoben wird. Unter diesen Voraussetzungen wird im Laufe der Zeit auch der Chor eingebunden, der sich von den polyphonen Mustern der Mehrstimmigkeit, d.h. des vielseitig entwickelten Madrigalstils nicht zu lösen braucht. Das dezidiert theatrale Problem des Chors bleibt theoretisch wie musikalisch außerhalb des Horizonts; die Lösung wird auf der Basis der etablierten Musikästhetik getroffen. Dank deren Dominanz ergeben sich für die Oper auch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein keine grundlegenden ästhetischen Probleme mit Bewegung und Gestik, zumal die proxemischen Muster von Tanz und Hofballett beispielgebend werden. Die Kontinuität der musikästhetischen Entwicklung, die den zur Tonsprache gewordenen Gesang integriert hat, ermöglicht den nahtlosen Anschluß an die

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Den Entwicklungsstand im 19. Jahrhundert thematisiert H. Meier anhand der besonderen Quelle des Kapellmeisterbuches, s.u. S. 160ff.

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Klang-, Raum- und Bewegungsästhetik der höfischen Kultur, zumal des höfischen Festes. 97 Dies besagt nicht, daß in diesem Zeitraum die puristische Reinform die einzige wäre, die kulturgeschichtlich in Erscheinung tritt. Im Gegenteil, sie bestreitet nur einen relativ geringen Anteil am europäischen Theatergeschehen. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch und erst recht der Übergang zum nächsten ist gekennzeichnet durch die starke Konkurrenz von Singspiel und Vaudeville, sowie zahllosen mit anderen provisorischen Gattungstiteln bezeichneten Spielformen, in denen im wechselnden Anteil Sing- und Sprechstimme zusammen agieren. Hinzu kommen die nicht minder beliebten musikalisch unterlegten Pantomimen - häufig auch paradoxerweise als Pantomime mit Text. Es ergibt sich damit eine direkte Analogie zum Geltungsbereich des nach literarischen Modellen entworfenen Dramas, das sich als puristische Theaterform des reinen Sprechens nur um den Preis durchsetzt, daß es auf lange Zeit mit vielfältig ausgestalteter Bühnenmusik versehen wird und selbst in dieser Gestalt der Konkurrenz der vielfältigen Formen 'mit Gesang' ausgesetzt bleibt. Ungleich größer als die begrenzten Anteile vermuten lassen, welche die puristischen Formen des Musik- und Sprechtheaters im breitgefächerten theatralen Spielangebot des 18. und 19. Jahrhunderts aufweisen, ist deren zunehmende normierende Kraft als Leitbilder der Theaterästhetik. 98 In Verbindung mit kulturpolitischen Programmen oder politischen Maßnahmen - der Idee des Nationaltheaters, des literarischen Bildungstheaters, der Öffnung der höfischen Operntheater für die residenzstädtische Allgemeinkultur etc. - gewinnen diese Leitbilder Stoßkraft. Die Forderung der Trennung von reinen Schauspiel- und reinen Opernhäusern wird so gleichsam zum normativen Anspruch, so stark auch die Mehrspartenhäuser dominieren. Entscheidend ist aber, daß damit die Reinformen zu ästhetischen Wertkategorien erhoben und emphatische Bestandteile des kulturellen Bewußtseins werden. Theoretisch erfolgt der Anschluß an die Leitgrößen der nun zum Rang der Philosophie erhobenen Ästhetik, nämlich das literarische Werk und die absolute Musik. 99 Aufs Ganze gesehen prägt die darauf abgestimmte Literar- und Musikästhetik zwar weder das Theatersystem des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts insgesamt, noch den Erfolg der Bühnen in der Öffentlichkeit, wohl aber das kulturelle Prestige. Im Zeichen des repräsentativen Ranges, den die Bühnen in der Öffentlichkeit

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Die entsprechenden Bewegungsstile einschließlich ihrer modischen Varianten und Neuerungen können übernommen werden und ihrerseits sich zu theatralen Stilformen verfestigen. Auf dieser Basis hält diese Buhnengestalt des musikalischen Theaters auch dem Ansturm der Theaterreformbewegungen des 18. Jahrhunderts stand und reformiert sich selbst unter dem Einfluß von Gluck, Noverre und Angiolini nur bedingt. Die buhnengeschichtliche Öffnung in der Ära Meyerbeers und Wagners leitet dann die grundsätzliche Wende ein, in deren Folge dann mit Appia und Craig das Verhältnis von Musik und Bewegung zu einem Paradigma der Theaterreform Uberhaupt wird. - Zur Problemgeschichte des Inszenierens im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. den Beitrag von A. Langer, s.u. S. 177ff. Die Gattungsentwicklung im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und ihre Systematisierbarkeit erörtert M. Brzoska, s.u. S. lOlff. Die genaueren Zusammenhänge, die sich aus dem Wandel des Musikbegriffs ergeben, sind im Beitrag von M. Woitas dargelegt, s.u. S. 80ff.

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gewinnen, wird dieses zum Kriterium für die Wertung der Häuser in der städtischen Theaterlandschaft.

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Die illustrative Funktion dieses als Exkurs zu verstehenden Streifzugs ist die der Gegenprobe. Er gilt einem traditionsgeschichtlichem Gegenbild zu dem Verhältnis von Stimme und Theater, wie es bislang an den europäischen Gegebenheiten überprüft worden ist. Eine Sicht von außen vermittelt die Geschichte des altjapanischen Theaters. Dabei liegt der wichtigste Unterschied in einer Theatertradition, die wie die europäische Jahrtausende umfaßt, aber im Gegensatz zu dieser keine Jahrhunderte währenden Brüche aufweist. Für die älteste, im heutigen Theater Japans gespielte Traditionsform, das Nö, ist eine vielhundertjährige Überlieferungstradition die Voraussetzung, die, rechnet man von dem Höhepunkt der Zeami-Zeit aus, noch einmal eine ebensolange 'Vorgeschichte' aufweist. Der gesamte hiermit benannte Zeitraum ist durch die Kontinuität schriftlicher und literarischer Tradition bestimmt. Das Nö-Theater selbst ist, entgegen seiner europäischen Rezeption, d.h. der dabei einseitig akzentuierten Bühnenästhetik, auf höchste Weise literarisiert; Nö-Texte sind durch ein Übermaß von literarischen Zitaten, Anspielungen und Verweisen gekennzeichnet, deren intertextuelle Reichweite weit in die poetische, religiöse und kulturgeschichtliche Vorgeschichte reicht, und dabei, begründet durch die Tradition der Kanji, d.h. der chinesischen Schriftzeichen, auch die Sprach- und Kulturgrenze in den chinesischen Kontinentalbereich überschreitet. Was indessen den Traditionsunterschied zu Europa ausmacht, ist die Tatsache, daß die schriftlich fixierten Spieltexte über Jahrhunderte hinweg - d.h. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts - immer nur zusammen mit den Spielformen, nach Kostüm, Bewegung, Gestik, Mimik, Tanz, Gesang und instrumentaler Begleitung, innerhalb der großen Nö-Schulen von Spielergeneration zu Spielergeneration weitergegeben worden sind. So kam es nie zu einer Lösung der sprachlichen Texte aus der Gesamttradition der Spiel- und Aufführungstraditionen. Diese dominieren sogar in der Weise, daß die verschiedenen etablierten Nö-Theater von den Stücken des kanonisierten Repertoires unterschiedliche Textversionen tradieren, obwohl Stücke und Titel über diese Varianten hinweg einheitlich autorisiert sind. Die Spieltexte erweisen sich dabei in dem Maße variabel, in dem es die gesamten Aufführungskonditionen sind, wobei die strenge Stilisierung, sowie die Reglementierung der Aufführungsgepflogenheiten über Jahrhunderte hinweg den Varianzbereich - nach europäischen Maßstäben gemessen - relativ eng erscheinen läßt. In diesem Traditionszusammenhang kommt es nie zu einer Trennung von Stimme und Text, Stimm-Text und Bewegung, Gestik und Tanz. Die 'gesamttheatrale' Tradition umfaßt des weiteren das stimmästhetische Miteinander von Singund Sprechstimme und erhält so die ästhetische und dramaturgische Position des Chors als integrales Element des Spiels. Auf dieser Überlieferungsgrundlage ist die Kunst des Nö-Theaters, bei allen über die Jahrhunderte hinweg vollzogenen Differenzierungen und Verfeinerungen im einzelnen, eine integrale Theaterform geblie-

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ben, die auch nur den Versuch einer Unterscheidung zwischen den auf Sprechstimme und Singstimme basierenden ästhetischen Bestandteilen zum Scheitern verurteilt. Unter dem Gesichtspunkt der Bühnenästhetik kann daher das Nö nur beschrieben werden als ästhetisches Ereignis der Universalität der menschlichen Stimme, Sprechen, Singen, Stimmgeräusch ebenso umfassend wie deren individuelle und kollektive Verfassung im Einzelspieler und im Chor. Diese Universalität kann auch kulturgeschichtlich formuliert werden, da das Nö, bei aller Stilisierung und ästhetischen Überformung, historische Stimmformationen tradiert, die bis zu rituellen Schrei-Lauten aus vorbuddhistischen Ritualen zurückreicht. In gewisser Weise bilden diese Laute das stimmästhetische Kernphänomen des Nö. In ihnen durchdringen sich Klang, Geräusch und Emphase, wobei charakteristischerweise die SchreiWirkung nicht im direkten Einsatz, sondern über ein artistisch intoniertes, weiträumig aufsteigendes Glissando erreicht und dann durch Trommelschlag instrumental verstärkt wird. 100 Von vergleichbarer Kontinuität ist die Chortradition. Bemerkenswert ist vor allem, daß sich dabei die unterschiedlich funktionalen Möglichkeiten nicht voneinander trennen: sowohl die Repräsentanz des Kollektivs bleibt erhalten, wie eine gewisse episierende Funktion, eine Position der Beobachtung und Stellungnahme von außen, nicht zuletzt eine kommunikative im Verhältnis zu den auftretenden Einzelrollen. Die ästhetische Pointe dieser als Gesamtkunst der Stimme zu bezeichnenden Aufführung ist dann die dialektische Konsequenz, daß sich die volle Individuation der Einzelrolle nonverbal, d.h. im abschließenden Tanz ausbildet. Auf der Ebene des Hörbaren kommt es danach nur noch zur Resonanz von Stimme, in Gestalt einer abschließenden Chorpassage, womit die die ganze Aufführung tragende szenische wie klangliche Präsenz der Kollektivstimme auf besondere Weise zu Bewußtsein gelangt. Es ist offensichtlich, daß das Nö, als universale Stimmkunst, in die kulturgeschichtlich geprägte Stimmästhetik eingebettet ist, die für den gesamten Kulturkreis Geltung hat. Ein Vergleich mit der episch-musikalisch geprägten Vortragskunst des Joruri, 101 die vom epischen Erzählen zum Theater überleitet, läßt die Hintergründe erkennen. Die vom Erzähler-Sänger, der seit dem 18. Jahrhundert Gidayu genannt

"Der Schrei", so formuliert H.-Th. Lehmann, mit deutlicher Anleihe bei Artaud, "die Grenze des Sprachlichen, wird im Theater der Tragödie zur metonymischen Darstellung des tieferen Wesens aller Sprache." (Theater und Mythos, a.a.O., S.41.) Damit ist eine strukturelle Parallele benannt, die freilich in jeder Hinsicht kultur- und theatergeschichtlicher Überprüfung und Interpretation bedürfte. Das Prinzip des epischen Vortrags, das aus der spätmittelalterlichen Epen-Rezitation des Heikyoku stammt, geht in die buhnengeschichtliche Wirkung Uber. Im klassischen Bunraku, das als Form des Figurentheaters durch die Trennung zwischen Stimme und Figur bestimmt ist, trägt die Gidayu-Kunst die sprachlich-musikalische Sphäre insgesamt. Auch im Kabuki bleibt dann die Vorordnung der epischen Rezitation noch in der Weise erhalten, daß der Rezitator passagenweise auch Textpartien der Rollen Übernimmt und damit sozusagen in den Sprechbereich der Schauspieler eingreift. Trotz der hoch bewunderten visuellen Buhnenkunst des Kabuki muß daher, zumindest für die ersten Phasen seiner Entwicklung, der Stimmkunst wohl performative Leitfunktion zugemessen werden.

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wird, verkörperte Kunst hat ihren historischen Höhepunkt im traditionellen Figurentheater des Bunraku gefunden und sich in das Kabuki hinein fortgesetzt. 1 0 2 Was diese Kunst mit dem N ö verbindet, sind allgemeine Grundsätze der Stimmästhetik, wie sie in der altjapanischen Kulturgeschichte verbindlich sind. 103 So dient die Stimmkunst mit all ihren Sprechen und Singen integrierenden Intonationsleistungen der "Intensivierung" der Aussage der "Textworte", d.h. ihres emotionalen Gesamtgehaltes. Voraussetzung ist dafür die stimmästhetische Gestalt des "gebrochen wirkenden Klangs", d.h. der durch "Edelrost" oder "Patina" aufgerauhte Stimmklang. Seine Wirkung ist um so höher, j e stärker die "geräuschhafte Klangkomponente" den Ton einfarbt, und dies gilt im übrigen auch für die Tongebung des akkompagnierenden Zupfinstruments. Theaterästhetisch bemißt sich der gesamte akustische Eindruck danach, wie die "Bedeutungsnuancen und der emotionale Gehalt eines Textes mit allen stimmlichen Mitteln", und d.h. der vollen Integration von Sing- und Sprechstimmme, zum Ausdruck gebracht werden. Die Stimme kennt dabei weder einen Registerwechsel noch die Charakterisierung von Geschlechterrollen durch Stimmlagen, weder Falsett noch Kopfstimme. Die Rollendifferenzierung zwischen Geschlechtern, zwischen Alter und Jugend der Figuren bis hin zu Kinderrollen, erfolgt nicht imitativ durch Register, sondern durch unterschiedliche Artikulations- und Intonationsweisen der Worte. Auch nichtsprachliche Lautäußerungen wie Husten, Weinen und Lachen etc. sind in diese analoge Lautgestaltung einbezogen, mit besonderer Technik und auf artifizieller Grundlage. Im Hinblick auf das Verhältnis von Sprache und Stimme unterscheidet die Kunst des Gidayo prinzipiell drei Ebenen. Die deklamatorische scheint der alltäglichen Redeweise nahe, entsteht aber artifiziell durch "bewußte Beachtung der prosodischen Eigenheiten" der japanischen Sprache, wodurch deren "Sprachmelos" zur eigentlichen Grundlage der Gestaltung gemacht wird. Auf der zweiten Ebene kommt die rezitativisch-syllabisch vorgehende Rezitation hinzu, auf der die natürliche Sprachintonation musikalisiert ist. Das Sprachmelos wird auf unterscheidbare Tonhöhen übertragen, wobei diese aber in gleitenden Übergängen miteinander in Verbindung stehen. Hinzu kommt schließlich die dritte, als gesanglich-melismatisch zu bezeichnende Ebene, die auf dem Wege der erzählerischen Retardierung durch die Überlagerung von dramatischen mit musikalischen Momenten, mithin den höchsten Affektausdruck leistet. Entscheidend für den Gesamtstil ist, daß die verschiedenen Schichten durch gleitende Übergänge, stellenweise durch instrumentale wie vokale Überleitungsfloskeln verbunden werden. 1 0 4 Des weiteren ist die Vortragsästhetik dadurch ge102

Aufführungsästhetisch interessant ist dabei, daß sich die Stimmkunst des Gidayu, gestutzt durch den instrumentalen Klang des Shamisen, auch vom Buhnenspiel völlig lösen und rein konzertant vorgetragen werden kann. Die folgenden Ausführungen stützen sich - mit besonderem Dank auch für persönliche Belehrung - auf Analysen von Heinz-Dieter Reese, die dieser in zahlreichen Veranstaltungen dargelegt und in seinem Essay über Gidayü-Bushi bereits 1983 zusammenfassend niedergelegt hat (Musikalische Vortragsgestaltung im Janpanischen Puppentheater Bunraku. In: Klassische Theaterformen Japans. Einführungen zu Noo, Bunraku und Kabuki. Hrsg. vom Japanischen Kulturinstitut, Köln/Wien 1983, S. 37-66). Die dadurch entstehenden Übergangseinheiten, die vom deklamatorischen über den rezitativischen zum melismatischen Stil überleiten und wieder zurückführen, ergeben außer-

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kennzeichnet, daß neben dem literarischen auch das musikalisch-stimmliche Stilzitat eine große Rolle spielt. Es muß als solches vom Zuhörer erkannt und im gesamten Rezitationszusammenhang verstanden werden, so daß sich eine Vielzahl von mehrsinnigen Verbindungs- und Auffassungsmöglichkeiten im einzelnen ergeben. Nicht zuletzt leisten sie den ständigen Riickverweis auf die Tradition selbst. Die hochartifizielle und ästhetisierte Stimmkunst des Gidayu trägt auf diese Weise nicht nur die gesamte Theaterform - im Bunraku die sprachlich-musikalische Sphäre insgesamt, im Kabuki die einzigartige Balance zwischen dem Musikalischen und dem Visuellen - sondern bringt das Traditonsprinzip als solches ständig zu Gehör. Zurückliegende theatergeschichtliche Phasen sind nicht nur textlich, d.h. in Gestalt älterer Sprachstufen oder in der Fülle von Stoffen und Motiven präsent, sondern, wie im Falle des klassischen Nö, auch im Nachhall geschichtlicher Stimmlagen. Die Spiel-Räume der Stimme haben eine geschichtliche Tiefendimension, in der ihre eigene Herkunft ständig in ihrer aktuellen Klangäußerung mitschwingt. Im Vergleich zu den europäischen Gegebenheiten zeigt mehr als alles andere diese Analogie im text- und im stimmgeschichtlichen Zusammenhang, wie stark die jeweiligen Traditionsverhältnisse als solche die Möglichkeit von Theaterentwicklung präjudizieren - in allem eine Gegenprobe zu Europa, wo die Tradition seit dem aristotelischen Jahrhundert von vornherein durch die Trennung von Literatur und Spiel und damit durch eine prinzipielle Theaterferne gekennzeichnet ist.

9. Überblickt man die stimmästhetischen Charakteristika, die am altjapanischen Theater sichtbar werden - von der Geräuschhaltigkeit der Stimme bis zum Glissando, von der Vermeidung aller fixierten Tonhöhe bis zum gleitend intonierten Schrei, vom bruchlosen In- und Auseinander der Sprech- und Singstimme bis zu ihrem prononcierten simultanen Nebeneinander - so könnte man sie, in Gedanken an das europäische Theater, cum grano salis einem Katalog von Forderungen zuordnen, wie ihn seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Avantgarde für die Innovation der Stimmästhetik nach und nach aufgestellt hat. Nun ist es offensichtlich, daß sich diese Avantgarde bis in die 30er Jahre hinein mit ihrem starken Interesse an asiatischem Theater stärker von der Visualität, von der Bewegungs- und Körperästhetik, von der Gestensemantik etc. direkt ansprechen ließ als von der stimmästhetischen und akustischen Seite. Dennoch ergeben die innovativen Schübe in ihrer Addition ein Bild, in dem sich viele der genannten Strukturen als Grundlinien wiedererkennen lassen. Insgesamt läßt sich die Theatergeschichte der Stimme, wie sie sich seit der Jahrhundertwende entwickelt, in dem Sinne beschreiben, daß sich schrittweise eine Wiederannäherung der Spiel-Räume von beiden Seiten aus ergibt, die bis dahin den beiden Stimm-Modi - zumindest theoretisch und idealiter - als getrennte Domänen zugewiesen waren. Was sich in den oben zitierten Äußerungen von Meyerhold und Reinhardt andeutet, der Wunsch in der einen Stimme die Eigenart der anderen mit dem Grundtypen von Vortragseinheiten, die als Aufbauelemente fllr die gesamte Stimmgestaltung dienen.

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zu vernehmen, wird nun explizit und wenig später programmatisch. Überpointiert ausgedrückt: es beginnt das Zeitalter der deklamierenden Sängerstimme und der singenden Schauspielerstimme. Das musikalische Theater findet immer neue und weitere Möglichkeiten, sich die stimmlich-sprachlichen Bereiche des Sprechens anzuverwandeln, und das Schauspieltheater integriert auf zunehmend grundsätzliche und erweiterte Weise die Möglichkeiten der gesungenen Szenen und Partien. Hinzu kommt ganz generell die Neu- und Wiederaufwertung des Musikalischen für die Gestaltung des Schau- und Klangraums, der Bühne und Zuschauer umgreift. Mit der Tendenz zur Neuorientierung an außereuropäischen Mustern von Theater, Spiel und Unterhaltung kommt auch die entsprechende Stimm- und Klangkultur in den Blick und in den Bereich der Theaterästhetik, sowie der Reformdebatte. Die immer weiter ausgreifenden Vorstöße in der akustischen Welt führen vom Klang zum Geräusch, zu der universalen Ausweitung des 'musikalischen Materials', und damit zu der unendlich variablen Geräuschfähigkeit der Stimme, neben ihren musikalischen Qualitäten im engeren Sinne. Nicht zuletzt gewinnen die ehemals als zweitrangig oder randständig eingestuften Theaterformen, in denen Sing- und Sprechstimme nebeneinander und miteinander agieren, zeitweilig Leitfunktion im Prozeß der Veränderung, vom Kabarett und der Revue bis hin zum Musical. Und mit dem unwiderstehlichen Siegeszug der afro-amerikanischen Musik kommen stimmästhetische Leitbilder ins Spiel, die nicht nur den älteren europäischen Modellen erfolgreich und dynamisch Konkurrenz machen, sondern grundsätzliche Verschiebungen im Verhältnis von Bühne, Klang und Stimme herbeifuhren. Es versteht sich, daß die Streifzüge hier, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, halt machen müssen. 1 0 5 So ist hier lediglich noch auf Ansatzpunkte der Bewegungen zu verweisen, von denen aus eine wechselseitige Ö f f n u n g der Spiel-Räume anvisiert wird. Der zunächst auffälligste Vorgang dürfte die Wiedereinführung der Sprechstimme in das musikalische Drama sein, dessen theatergeschichtliche Folgen bis heute ungemindert vorhalten. Dabei mag man Engelbert Humperdincks "gesteigerte Rede", d.h. den Entwurf der nach Rhythmik und Tonhöhenlage festgelegten melodramatischen Sprechstimme in der ersten Fassung von Die Königskinder aus musikgeschichtlicher Perspektive eher gering einschätzen. Theatergeschichtlich ist der Entwurf interessant genug, da er das bis dahin in jeder Gestalt blühende Melodram - als Formelement des Schauspieltheaters, als Konzertmelodram, wie als populäre 'Nummer' der Unterhaltungsgenres - ästhetisch neu zu bewerten und als musikalisch-theatrale Gesamtform zu legitimieren sucht. 106 Die Formel von der "gesteigerten Rede" ist insofern bezeichnend, als sie - im Schwerkraftbereich der Wagnerschen Konzeption von Sprache und Ton - sozusagen die Ambivalenz der Stimme im Hinblick auf die sprechende oder die gesangliche Formation zum Ausdruck bringt. Dabei ist nicht nur indirekt auf die Tatsache verwiesen, daß im Theater des 19. Jahrhunderts auf beiden Seiten, wiewohl getrennt, ästhetisches Höchstniveau

Stattdessen sei auf die Orientierungspunkte verwiesen, die von B. Zuber anhand theatra1er Aktionen in und mit Musik formuliert werden; s.u. S. 190ff. Symptomatische Bedeutung hat in diesem Zusammenhang auch das melodramatische Konzept eines nationalen musikdramatischen Werkes, das Zden£k Fibich mit Hippodamie für das tschechische Nationaltheater (Teile I—III, 1890/91) entwirft.

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erreicht worden ist. 107 Es drückt sich darin auch die Einsicht aus, daß, theaterästhetisch gesehen, auf beiden bisherigen Wegen Endpunkte des Erreichbaren sichtbar geworden sind. Kompositionsgeschichtlich avancierter und innovativer sind außer Ferruccio Busonis Theatralischem Capriccio, mit der Sprechrolle des Arlecchino, auch die frühen experimentellen Entwürfe von Arnold Schönberg. 1 0 8 Theatergeschichtlich hingegen stehen sie in Kontinuität zu Humperdincks Vorgehen. Mit Pierrot lunaire ist es ebenfalls die Tradition des Sprechmelodrams, die mit dem Kunstlied denkbar eng verwoben wird, und die große theatrale Szene von Erwartung ist nicht nur aus der Tradition des musikdramatischen, und d.h. im Nach-Wagnerschen Sinne des 'Sprechgesangs' entworfenen, Einakters zu verstehen, sondern auch als Double der großen Deklamationsnummern, wie sie in Vortragsveranstaltungen, bei Vereinsfesten und anderen Gelegenheiten im 19. Jahrhundert in hoher Blüte standen. Für beide Entwürfe könnte das Glissando sozusagen als Symbol der stimmgeschichtlichen Annäherung verstanden werden, da in seinem Zeichen die tonale Qualität der Singstimme mit der freien, über die Fixierung der Tonhöhen hinweg sich entwikkelnden Flexibilität der Sprechstimme zur Synthese gebracht wird. Dieser Freisetzung der Stimme in den ungeschmälerten Gesamtraum ihrer Bewegungsmöglichkeiten folgt in Moses und Aron dann die kompositorisch programmatische Konstellation, in der die hoch melodisierte Sprechstimme und die emphatisch-deklamatorische Singstimme die Weite des in einen zusammengezogenen Spiel-Raum der Stimme neu vermessen. Zusammen mit der von Alban Berg in seinen Musikdramen voll entfalteten gleitenden Übergangsskala zwischen gleichsam privater Sprechtonlage und belcantistischer Höchstdifferenzierung der Singstimme, ist dann die stimmgeschichtliche Ö f f n u n g erreicht, die, von der Seite des musikalischen Theaters her vollzogen, die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt. Von nicht geringerer Tragweite - wenngleich zunächst eher versteckt - sind die Impulse, die zu Jahrhundertbeginn im Schauspielbereich zu beobachten sind. Dabei mag es als eine im Verlauf eines Streifzugs erlaubte Pointe erscheinen, daß auch in diesem Zusammenhang der N a m e Schönbergs fällt. Indessen fuhren seine frühen Kabarettlieder - und zwar nicht nur als Zeugnis seiner kompositorischen und ästhetischen Universalität, sondern auch als Zeitzeugnisse - in den Bereich der von Varieté, Revue und Kabarett entwickelten Vortragsformen, denen in der Entwicklung der Schauspieldramatik in den ersten drei Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts eine wichtige Funktion zukommt. Otto Julius Bierbaum, der Zeitgenosse Schönbergs auf der Kabarett-Szene, formuliert mit seiner Forderung der "angewandten Lyrik" das theatergeschichtlich bezeichnende Programm. Denn gemeint ist damit, 107

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Daß Humperdinck hier eine Tendenz der Sprechästhetik des gesamten 19. Jahrhunderts weiterführt und in neuen Zusammenhang bringen will, ist aus dem Beitrag von Ulrich Kühn zum Melodram und melodramatischen Sprechen ersichtlich, in dem auch Belege dafür angefilhrt werden, daß "die Sprechstimme [...] im Modus des melodramatischen Sprechens bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu angedeuteter Festlegung ihrer Tonhöhe der musikalischen Faktur angenähert worden ist." (S.u. S. 145ff, Zit. ebd.). Uber Busonis ästhetisches Konzept, wie auch Uber die Zusammenhänge mit Schönbergs Schaffen, siehe Albrecht RiethmUller: Arlecchino bis! Zur musikalischen Form des Theatralischen Capriccios von Ferruccio Busoni. In: Geschichte und Dramaturgie des Operneinakters, hrsg. von Sieghart Döhring und Winfried Kirsch. Laaber 1991, S. 301-308.

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daß der literarisch-lyrische Text auftrittsmäßig angewandt, vorgetragen wird. Doch ist dabei nicht an die Form des Kunstliedes und die Basis der Sängerstimme gedacht, sondern an den szenischen Vortrag auf der Grundlage der Kabarettstimme. Charakteristisch für sie ist eine aus der Sprechstimme entwickelte semi-musikalische Vortragsweise, der eine quasi szenische, semi-theatrale Präsentationsästhetik entspricht. Gemeint ist die Vortragskunst des Café Chantant und der Stil der großen Diseusen des Cabaret Artistique. In der deutschen Theatergeschichte hält - auf der Grundlage der französischen Erfahrungen und inspiriert durch das deutsche Kabarettprogramm seit 1901 - mit dem Kabarettisten und Dramatiker Frank Wedekind die Stimmkunst des Kabaretts und der Revue Einzug ins Drama und auf die Schauspielbühne. 109 Wedekind mit seinen späten und Brecht mit seinen frühen Dramen, dazu eine Reihe weiterer Autoren mit ihren dramatischen Entwürfen, finden den Anschluß an die kabarettistische Kleinkunst, die zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik vielseitige und faszinierende Formen von Chanson, Couplet und Song entwickelt hat. Daraus bildet sich jener theatrale Fundus, der die grundlegende Reform der Dramatik und der Schaupielbühne in den zwanziger Jahren gestattet. Es ist der musikalisch profilierte, vom Kabarett inspirierte Solo-Auftritt, der als herauslösbare Nummer die traditionellen Handlungsformen aufbricht, der Szene gegenüber dem dramatisch-literarischen Kontinuum den Vorrang verschafft und für die Bühnenmusik eine neue Grundlage legt. Die durch Schlager, Jazz und Tanz geprägte Kabarettistenstimme der zwanziger Jahre öffnet dem Schauspieler den Zugang zur gesungenen Szene und verschafft so dem Sprechtheater eine neue musikalische Zukunft. Damit ist ein Paradigmawechsel verbunden. Als - mit erneutem Elan ausgestattetes - Schauspiel mit Musik löst sich das Sprechtheater von der Bindung an die traditionelle Kunst-Musik des hohen ästhetischen und innovatorischen Anspruches, wie er das 19. Jahrhundert hindurch maßgebend war, und wendet sich der Fülle der weltweit sich dynamisierenden Formen der musikalischen Unterhaltung zu. Auch die Weltkarriere des singenden Schauspielers ist von dieser Öffnung bestimmt: dem Purismus der in sich hochstilisierten Kunststimme des Sprechers wie der perfektionierten Sängerstimme entzieht er sich zugunsten einer möglichst vielseitig einsetzbaren Flexibilität zwischen beiden Stimm-Modi und einer möglichst in beiden Bereichen gleichermaßen charakteristischen individuellen Timbrierung. 110 Damit vollzieht sich eine stimmgeschichtliche Umwälzung. Ihre Tragweite entspricht der Bedeutung, die der Einfuhrung der Sprechstimme ins Musiktheater zukommt und zeitigt komplementäre Folgen. 109

Vf.: Die Theatralik des Chanson-Auftritts bei Wedekind. Mit einigen Anmerkungen zu Brecht. In: Frank Wedekind und die Moderne. Hrsg. von Walter Schmitz und Hartmut Vin?on, vorauss. 1999. Daß sich in Verbindung mit dem neuen singenden Schauspieler genauso eine neue Theater- und Musikavantgarde verbindet, wie mit dem neuen Sänger auf der anderen Seite, ist offensichtlich, wenn man die Zusammenarbeit von Brecht und Weill denkt, mit dem stimmgeschichtlich besonders interessanten Resultat, daß die entstehenden 'Opern', gemessen am Traditionsbestand als Anti-Opern zu verstehen, ein sprachlich-stimmliches Angebot unterbreiten, das - bei einschlägigen individuellen Voraussetzungen - sowohl von der Schauspieler- wie von der Sängerstimme aus zugänglich ist. Eine exemplarische Entwicklung verläuft hier vom sog. Mahagonny-Songspiel von 1927, das auf frühere Texte 'angewandter Lyrik' zurückgeht, zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930).

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Das Grundsätzliche, das im Verhältnis der Spiel-Räume der Stimmen nun von beiden Seiten, dem musikalischen wie dem gesprochenen Laut her neue Dimensionen schafft, zeichnet sich letztlich in der neuen Formation der Kollektivstimme, des Chores ab. Das Mit- und Gegeneinander von Sing- und Sprechstimme in Moses und Aron gewinnt sein ästhetische Profil auf der Basis eines Stimmkollektivs, das bei aller dodekaphonischen Stimmführung auch den auflösenden 'a-tonalen' Schrei impliziert; 1 "seine Symptomatik ist von gleichem Rang wie das alle tonalen und gehaltlichen Bindungen überspielende Glissando, welches Schönberg, an prononcierter Stelle, in die Szene des Menschenopfers einfügt. Aber auch der Sprechchor gewinnt neue theatrale Kontur. In Max Reinhardts Schaffen erhält er wieder prinzipiell ein eigenes theatrales Stimm-Recht. Entgegen der älteren realistischen und naturalistischen Chor- oder Gruppen-Regie, die das Kollektiv in möglichst profilierte Individualfiguren unterteilt oder auflöst, bekommt in Reinhardts Großraumentwürfen der Chor wieder Eigenständigkeit als Stimmkollektiv. Seine CWipus-Inszenierung im Zirkus Schumann kann unter diesem Aspekt als eine theatrale Antwort auf die Aufführung der idealen Tragödie im Teatro Olimpico verstanden werden, eine Antwort, die insgeheim eine neue theatergeschichtliche Epochengrenze signalisiert. Diesem theatralen Neuansatz korrespondieren - noch vor dem 1. Weltkrieg auch Neuerungen in literarisch-dramatischen Entwürfen, die sich radikal der Regeldramaturgie entziehen. Im Vorlauf zur expressionistischen Ästhetik findet sich mit Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen ein im Zeichen Nietzsches entworfener Doppelchor, dem stimmliches wie bewegungsmäßiges Eigenrecht zugebilligt ist. Damit zeichnen sich Entwicklungen ab, die in der expressionistischen Dramatik, schon in Sorges Bettler, zu 'Gruppenpersonen' führen;" 2 in einem kollektiven Wirrwarr von Einzelphrasen bringen sie eine stimmliche Zitat- und Floskel-Collage hervor, die jede Rückführung auf eine im Singular verstehbare dramatis persona unmöglich machen. Von Seiten des Schauspiel- wie des Musiktheaters ist es der Chor des expressionistischen Jahrzehnts, der dann die grundlegenden Veränderungen der Stimm- und Bewegungsästhetik im Gesamtsystem des Theaters und der Künste unübersehbar macht. Die Dynamik der expressionistischen Regie setzt sich über alle Spartengrenzen hinweg und experimentiert im Neben- und Gegeneinander mit Sing- und Bewegungschor und in gleicher Weise auch mit Sprech- und Bewegungschören. Hinzu kommt die ebenfalls im Zeichen Nietzsches angetretene neue Tanzbewegung, die - nicht weniger als das im Schaffen der Ballets Russes entfesselte neue Ballett - auf ihre Weise die Spiel-Räume erweitert. Das in der europäischen Tradition entstandene Problem, welches das alt-attische Theater zwischen Stimme, Bewegung und Tanz immer erneut aufgeworfen hat, wird zum Ferment der Innovation. Ausgehend von der Avantgarde des Jahrhundertanfangs entwickelt sich so bis zu Anfang der 30er Jahre eine vielseitige neue Ästhetik von chorischem Theater, ehe dieses ab 1933 in den Dienst des rassistischen Kollektivismus gestellt wird und

Vorformen finden sich bereits in der Chor-Führung von 6 männlichen und 6 weiblichen Chorstimmen in Schönbergs Die glückliche Hand. Mit der Einführung der 'Gruppenpersonen' geht im Verlaufe des Dramas auch eine partielle personale Aufspaltung einzelner Dramenfiguren einher.

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der ideologischen Hörigkeit anheim fällt. Die theatrale Eigenwertigkeit, die dem Chor in allen Bereichen aber bis dahin zugewachsen ist, läßt sich nicht mehr, auch nicht aufgrund des 12jährigen Mißbrauchs, aus der Theatergeschichte eliminieren. Von vielen Punkten aus ergeben sich Brückenschläge, die das verstörende Potential der ersten Avantgarde in die Neo-Avantgarde der zweiten Jahrhunderthälfte vermittelt. Nicht zuletzt bildet einen roten Faden die Wirkungsgeschichte Brechts, der sich mit Der Jasager und der Neinsager im Bannkreis der Stimmästhetik des Nö und seines Chores bewegt und mit der Heiligen Johanna der Schlachthöfe das mit Zitaten und Anspielungen am dichtesten gespickte Chordrama der Weimarer Zeit konzipiert hat. Die Spuren dieser Auseinandersetzung mit Brecht zeigen sich besonders im Werk seines Adepten Heiner Müller. So wird in seiner MaßnahmeKontrafaktur Mauser die Konfrontation zwischen dem Kontrollchor und dem Protagonisten schließlich in eine Amalgamierung dieser beiden Sprechinstanzen überfuhrt. Auch in Müllers letzter Inszenierung Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui treten die Mitglieder des Karfiol-Trusts vornehmlich in chorischer Formation auf. Der Widerhall solcher Bemühungen hat erneut Verstörung und Irritation hervorgerufen. Einar Schleefs Fausi-Produktion hat in dieser Hinsicht wohl die Extreme der Sprech- und Klangästhetik erreicht. Die Reminiszenz an Paul Bekkers "Im Anfang war die Stimme" mag unangemessen erscheinen. Aber es handelt sich in Schleefs Inszenierung innerhalb der Bühnengeschichte des Werks durchaus um eine stimmästhetische Premiere. Das Goethesche Text- und Übersetzungsspiel, welches sich in Fausts Mund aus der Eingangsfomel des Johannes-Evangeliums, "Am Anfang war das Wort," entfaltet, erklingt jetzt - fern von jedem sinnierenden Gestus - in der Dynamik eines elfstimmigen Faust-Chores. Er steigert sich zum Kompaktklang einer Kolonne, die im vierfachen Ausruf der Tat ihre ideologische Herkunft verlauten läßt. Dennoch erschöpft sich der Sinn dieser intonatorischen Verfremdung nicht darin, daß ein Stück Ideologiegeschichte der Fai/si-Rezeption ins Gedächtnis gerufen wird. Der massive Stimm-Bruch macht das Verhältnis von Stimme und Wort selbst zum akustischen Ereignis. Stimmereignisse aber haben einen Nachhall. Darin meldet sich erneut das Problem, das sich in Paul Bekkers johannei'scher Variante verbirgt, als Frage nach der theatralen Arche, die dem Zusammenwirken von Logos und Phone seine imaginative Intensität verleiht.

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Schreibweise - Typus - Gattung Zum gattungssystematischen Ort des Librettos (und der Oper)

Die Feststellung, daß es der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie und -geschichte an einer kohärenten Begrifflichkeit mangelt, gehört zur Exordialtopik einschlägiger Untersuchungen;1 in der Tat können nicht nur Gattungsbezeichnungen wie Drama oder Novelle, sondern auch der Terminus Gattung selbst je nach der Frageperspektive und theoretischen Ausrichtung dessen, der diese Termini benutzt, durchaus Unterschiedliches bedeuten.2 Dabei kann sich fast jeder auf ein berühmtes Vorbild berufen, denn im literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch sind zu verschiedenen Zeiten unter je unterschiedlichen Prämissen unternommene Systematisierungsversuche aufgehoben; daß hier manches nur schwer oder gar nicht miteinander vereinbar ist,3 wurde häufig übersehen. Um zu einer konsistenten Begriffsbildung zu gelangen, müßte zuerst zwischen Objekt- und Beschreibungsebene unterschieden werden;4 d.h. die überlieferten Gattungsbegriffe wären entweder neu (und eindeutig) zu definieren oder durch geeignetere Termini zu ersetzen. Solange lediglich Inkonsequenzen der (Unter-)Titelgebung zu bereinigen sind, ist dies unproblematisch; so wird man die Bezeichnung Opera semiseria, die sich erst dreißig Jahre nach Entstehung dieses Operntypus durchsetzt, ohne Bedenken auf (frühere) Werke ausweiten, die im Libretto-Druck als Dramma tragicomico oder ähnlich charakterisiert werden.5 Auf der Beschreibungsebene ist freilich zu differenzieren zwischen den primären Beschreibungsversuchen, die zeitgenössische Poetiken bieten, und neueren literaturwissenschaftlichen Arbeiten als sekundären Beschreibungen. Systematisierungsversuche zeitgenössischer Kritiker mögen unbefriedigend oder in sich widersprüchlich sein, können aber dennoch die weitere Entwicklung der Gattung beeinflussen;6 auch der

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Vgl. z.B. K.W. Hempfer, Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973, S. 15ff.; H.U. Gumbrecht, Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie, in: Deutsche Literatur des Mittelalters. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hrsg. von Chr. Cormeau, Stuttgart 1979, S. 39; u.a.m. Vgl. die kritische Bestandsaufnahme zur Gattungsforschung bis zum Beginn der siebziger Jahre bei Hempfer (wie Anm. 1). Vgl. z.B. ebd., S. 156f. die Unterscheidung zwischen dem Redekriterium des Aristoteles (narrativ vs. dramatisch) und Goethes "Naturformen der Poesie" (Lyrik, Epik, Drama). * Vgl. ebd., S. 16. Vgl. den Artikel Opera semiseria des New Grove, Bd. 13, S. 648; ähnlich auch A. Jacobshagen, Opera semiseria, MGG 7, Sp. 699f. 6 Vgl. dazu Hempfer (wie Anm. 1), S. 210; U. Schulz-Buschhaus, Konstituierung von Textsorten, in: Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), hrsg. von G. Holtus u.a., Bd. II, 1, Tübingen 1996, S. 538-557, speziell S. 538, weist daraufhin, daß "die Vielzahl vorgängiger Systematisierungen [...] in der Literaturgeschichte jeweils reale, textgenerierende Wirkung gezeigt" hat. - M. Titzmann, Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, Zs. für frz. Spra-

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Komponist, der ein Libretto zur Vertonung erhält, liest es selbstverständlich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Poetiken. Seine musikalische Ausdeutung des Textes ist nicht unabhängig von diesem Verstehenshorizont zu sehen. Bekanntlich orientiert sich Alban Bergs Wozzeck am Modell des 'geschlossenen' Dramas;7 in Georg Büchners Vorlage hat der Komponist eine Reihe von Szenen gestrichen und eine Akteinteilung vorgenommen, die "in dreimal fünf Szenen Exposition, Peripetie und Katastrophe des Dramas deutlich auseinanderhielt und damit die Einheit der Handlung, die dramatische Geschlossenheit erzwang".8 In dieser (rein äußerlichen) Annäherung an die Form der aristotelischen Tragödie wird man keine Entscheidung gegen das 'offene' Drama sehen dürfen, denn diese Kategorie stand Berg offenbar noch nicht zur Verfügung: Die Akteinteilung des Wozzeck wurde (spätestens) im Sommer 1919 fixiert;9 das Begriffspaar offen (atektonisch) vi. geschlossen (tektonisch) wurde 1915 von Heinrich Wölfflin in die kunstwissenschaftliche Beschreibungssprache eingeführt, 1917 von Oskar Walzel auf literarische Texte angewandt, der Woyzeck aber wurde erst 1929 explizit als offenes Drama bezeichnet. Weit verbreitet waren dagegen Schriften wie Gustav Freytags Technik des Dramas (13 Auflagen von 1863 bis 1922), die die aristotelische Tragödie zur Zielform des Dramatischen schlechthin erklärten. Alban Berg scheint sich dieser Auffassung, entweder aus innerer Überzeugung oder mit Rücksicht auf den Publikumsgeschmack, anschließen zu wollen, obwohl seine Textrevision die 'Offenheit' der Vorlage Büchners keineswegs beseitigt. Wenn es um Theater, speziell um Musiktheater, geht, gerät jeder gattungssystematische Beschreibungsversuch in ein Dilemma: Das Textsubstrat (Libretto wie Schauspieltext) ist einerseits Teil eines plurimedialen Kunstwerks, das sich in der theatralen Inszenierung verwirklicht; andererseits konstituiert der (seinerseits plurimediale) Text eine autonome Bedeutungsebene, er bedient sich eines eigenen Codes (der Sprache) und ist bei Lektüre aus sich selbst heraus verständlich.10 Als Drama ist das Libretto literarischer Text und hat seinen Ort im System der literarischen Gattungen einer gegebenen Epoche; dieser Ort wird bestimmt durch die Beziehungen zu anderen, dramatischen (aber nicht, oder nur zum Teil, musikoliterarischen) wie narrativen Gattungen. Die generischen Kategorien der Literaturwissenschaft werden daher nicht, bzw. nur partiell deckungsgleich sein mit den Gattungskonzepten der Musik- oder Theaterwissenschaft. In musikgeschichtlicher Perspektive mag etwa die Opposition Periodik vi. 'musikalische Prosa' ein geeignetes Kriterium sein, um eine Gattung 'Musikdrama'

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che und Lit.99 (1989), S. 47-61, speziell S. 51, möchte als Gattungen "nur jene Textklassen, die die jeweilige Kultur selbst unterscheidet" betrachten. Zum Begriffspaar 'geschlossenes' vi. 'offenes' Drama vgl. unten S. 43ff. A. Berg, Wozzeck-Vortrag (1929), in: H. F. Redlich, Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Zürich, London, Wien 1957, S. 311-327, speziell S. 312. Zum folgenden vgl. A. Gier,"... wenn einem die Natur kommt". Der Diskurs über den Menschen in Büchners (und Bergs) Woyzeck (Wozzeck) erscheint in den Akten des Wozzeck-Symposions vom August 1997 in Salzburg (im Druck, dort auch weitere Literatur). Vgl. P. Petersen, Alban Berg, Wozzeck. Eine semantische Analyse unter Einbeziehung der Skizzen und Dokumente aus dem Nachlaß Bergs, München 1985, S. 32. Vgl. dazu A. Gier, Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, Darmstadt 1998, S. 15f. (dort auch weitere Literatur).

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gegenüber der 'Gesangsoper' abzugrenzen;11 die Texte Richard Wagners dagegen sind von älteren Libretti nicht durch ein ähnlich distinktives Merkmal zu unterscheiden. Eine literarische (Sub-)Gattung 'Musikdrama' hat daher keine Existenzberechtigung, Wagners Libretti wären als Unterart eines Texttyps zu fassen, den man mangels besserer Vorschläge wohl weiterhin 'deutsche romantische Oper' wird nennen müssen.12 Unter diesen Umständen wird der Vorschlag einer gattungssystematischen Einordnung des Librettos mit Sicherheit nicht alle Fragen beantworten können, die die Opernforschung betreibenden Nachbardisziplinen an die Literaturwissenschaft stellen; es liegt jedoch im Wesen der Plurimedialität, daß die genauere Beschreibung einer Komponente (hier: des Textes in seiner Qualität als Text) einen Beitrag zur Erkenntnis des Ganzen darstellt. Gattungsbegriffe können entweder historisch oder typologisch aufgefaßt werden.13 Typologische (systematische) Ansätze suchen "Bestandteile einer mehr oder minder 'universalen' kommunikativen Kompetenz" zu beschreiben, die nach unserem derzeitigen Kenntnisstand in allen sozio-kulturellen Systemen aller Epochen vorhanden sind,14 wie das Narrative, das Dramatische, das Komische usw. Diese Textstrukturen werden apriorisch postuliert; einschlägige Untersuchungen verfahren gewöhnlich deduktiv und onomasiologisch (d.h. sie gehen vom Begriff, nicht von den Bezeichnungen aus).15 Wer sich dagegen für die französische Tragödie des 17. Jahrhunderts oder den deutschen realistischen Roman interessiert, wird induktiv und semasiologisch vorgehen, also die Texte selbst und die von den Autoren gewählten Gattungsbezeichnungen befragen. Klaus W. Hempfer hat eine (nicht nur terminologische) Differenzierung zwischen typologischen und historischen Gattungsbegriffen vorgeschlagen,16 die sich zumindest in der deutschen Romanistik weitgehend durchgesetzt zu haben scheint. Er unterscheidet zunächst zwischen der performativen und der berichtenden Sprechsituation,17 denen auf der Ebene der Textstrukturen das Dramatische bzw.

" 12

13 14 15 16 17

Vgl. E. Voss, Musikdrama und Gesangsoper, in: Funk-Kolleg Musik B d . l , hrsg. von C. Dahlhaus, Frankfurt 1981, S. 274-304. Zur Problematik dieses Begriffs vgl. zuletzt J. Reiber, MGG 2 5, Sp. 1171 (Artikel Libreto), außerdem U. Weisstein, What is Romantic Opera? - toward a musico-iiterary definition, in: G. Gillespie (ed.), Romantic Drama, Amsterdam/Philadelphia 1994, S. 209-229. Vgl. zum folgenden Hempfer (wie Anm. 1), S. 26 und ff. Vgl. ebd., S. 223. Vgl. Schulz-Buschhaus (wie Anm. 6), S. 539. Vgl. Hempfer (wie Anm. 1), S. 26; S. 161ff.; und passim. "Sprechsituation" wird definiert als "jene durch bestimmte Faktoren charakterisierte Relation zwischen einem Sprecher und einem Hörer, in der sich ein Sprechakt vollzieht" (ebd., S. 26). Die performative Sprechsituation "kommt zustande, wenn Sprecher und Hörer durch eine Sprach- oder andere semiotische Handlung (Mimik, Gestik) miteinander in Kontakt treten, d.h. der Vollzug eines Sprechaktes ist identisch mit der Konstitution der Sprechsituation" (ebd., S. 161), die Relation zwischen Sprecher und Hörer ist symmetrisch, "weil der Hörer seinerseits zum Sprecher werden kann" (ebd., S. 162). Dagegen ist die berichtende Sprechsituation "wesentlich dadurch gekennzeichnet [...], daß ihre Referenz nicht bzw. nicht nur ein kognitiver Inhalt ist, sondern eine andere Sprechbzw. Handlungssituation [...] Zwischen Sprachproduktion und Sprachwahrnehmung kann eine zeitliche Verzögerung auftreten [...] femer ist die die Relation von Sprecher und Hörer keine grundsätzlich umkehrbare" (ebd., S. 162).

Schreibweise - Typus - Gattung

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das Narrative entsprechen. Solche ahistorischen Konstanten bezeichnet Hempfer als Schreibweisen-, da das Dramatische und das Narrative jeweils "einer Sprechsituation notwendig zugeordnet sind", handelt es sich um primäre (selbständige) Schreibweisen. Dagegen können das Satirische, Komische, Groteske etc. in beiden Sprechsituationen vorkommen, es handelt sich somit um sekundäre (abhängige) Schreibweisen, weil "das Satirische zwar das Narrative überlagern und entsprechend 'deformieren' kann, nicht aber umgekehrt".18 Den Terminus 'Gattung' reserviert Hempfer für "historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen";19 das Narrative prägt sich etwa in Roman, Novelle oder Epos aus, das Satirische u.a. in der Verssatire, etc. Auf einer tieferen Abstraktionsebene wären Untergattungen wie der pikareske Roman (Schäferroman, Ritterroman etc.) anzusiedeln. Hempfer begreift die Schreibweisen als generische Tiefenstrukturen, die über regelhafte Transformationen die historischen Gattungen hervorbrächten,20 zweifelt aber an der Möglichkeit einer Formalisierung dieses "überaus komplexen Bereich(s)".21 Wenn man den Blick von den Schreibweisen auf die Gattungen richtet, ist somit, zumindest beim derzeitigen Forschungsstand, der Wechsel von deduktivem zu induktivem Vorgehen geboten. Über den heuristischen Aspekt hinaus sind freilich auch grundsätzliche Zweifel an der Deduzierbarkeit der Gattungen aus ahistorischen Konstanten möglich: In der kommunikationstheoretischen Perspektive Hempfers werden (historische) Gattungen wesentlich als Sprachhandlungsschemata wahrgenommen, zugleich sind sie aber auch soziale Institutionen,22 die in der Gesellschaft ihrer Entstehungszeit bestimmte Funktionen erfüllen. Wenn "der Funktionsbegriff bereits in den Gattungsbegriff hineingenommen",23 d.h. wenn die Gattung unter anderem über ihren Sitz im Leben definiert wird, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Korrelierbarkeit von Entwicklungen literarischer und sozio-kultureller Systeme.24 Die Möglichkeit konsistenter Theoriebildung in diesem Bereich ist nicht von vornherein auszuschließen; allerdings wächst die Neigung, einzig induktive Verfahrensweisen für aussichtsreich zu halten, offenbar proportional zu der Aufmerksamkeit, die der Eigenschaft der Gattungen, soziale Institutionen zu sein, gewidmet wird. Unterhalb der Schreibweisen siedelt Hempfer eine Ebene der Typen als "grundsätzlich möglicher, d.h. überzeitlicher Ausprägungen bestimmter Schreibweisen" an.25 Hier, so scheint es, wären auch die Idealtypen des 'geschlossenen' und des 18 19 20 21 22

24

Ebd., S. 162f. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 27; S. 190f. Ebd., S. 226, vgl. S. 191. Zu dieser Unterscheidung vgl. Gumbrecht (wie Anm. 1), S. 38f.; außerdem W. Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Textsorten - Gattungsgeschichten, hrsg. von W. Hinck, Heidelberg 1977, S. 27-42. R. Warning, Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman, in: Grundriß der roman. Literaturen des Mittelalters, IV/1: Le roman jusqu'à la fin du Xlle siècle, Heidelberg 1978, S. 25-59, speziell S. 28. Vgl. Hempfer (wie Anm. 1), S. 180ff.; S. 224. Ebd., S. 27. Als Beispiele nennt er (ebd., S. 233f. Anm. 102) einsträngige vi. mehrsträngige Handlung und Ich-Erzähler vi. auktorialer Erzähler (bezüglich dieses zweiten Aspekts haben neuere Arbeiten zur Erzählperspektive für mehr Klarheit gesorgt, vgl. z.B.

44

Albert

Gier

'offenen' Dramas zu verorten, die Volker Klotz 2 6 über die Basisopposition "Ausschnitt als Ganzes" vi. "Das Ganze in Ausschnitten" definiert. Da sich an die (letztlich auf H. Wölfflin zurückgehenden, s.o.) Termini 'geschlossene' bzw. 'offene Form' recht unterschiedliche Assoziationen anschließen können, sollte man vielleicht besser von dominant syntagmatischen und dominant paradigmatischen Dramenformen sprechen. 27 Damit wird zugleich verdeutlicht, daß es nicht um ein Entweder - Oder, sondern um ein Mehr oder Weniger geht: Das dominant paradigmatische Drama ist zwar durch die "Selbständigkeit seiner Teile" gekennzeichnet, die Goethe und Schiller als wesentliches Merkmal des Epischen erkannten; 2 8 da sich das dramatische Geschehen in der Zeit vollzieht, sind die einzelnen Szenen (oder Episoden) natürlich dennoch in das Ganze eines prozeßhaften (unumkehrbaren) Verlaufs eingebunden. Das 'geschlossene' (syntagmatische) Drama, in dem sich Zeit "nicht als dramatischer Augenblick, sondern als reine Sukzession"29 erfüllt, offenbart bei näherem Hinsehen gleichfalls die Eigenschaften von Don Alfonsos arabischem Phönix ("Che vi sia, ciascun lo dice; / Dove sia, nessun lo sa"): In der griechischen Tragödie, auf die sich der theoretische Entwurf des Aristoteles bezieht, gibt es die Chorlieder als in sich relativ geschlossene, kommentierende Passagen, in denen die (äußere) Handlung zum Stillstand kommt. Auch die großen Tiraden der klassischen französischen Tragödie, wie der 73 Verse umfassende Bericht des Th6ram6ne im letzten Akt von Racines Phedre (V 6), heben sich als isolierbare Teile aus dem Ganzen heraus. Der Grenzwert absoluter Dynamik scheint im Drama ebensowenig erreichbar zu sein wie vollständige Statik. Die Basisopposition zwischen den der dramatischen Schreibweise zu subsumierenden Typen läßt sich somit präzisieren: Im dominant syntagmatischen Typus wird Bedeutung über die Sukzession von Geschehnissen vermittelt (Konflikt-Struktur); im dominant paradigmatischen Typus ist Bedeutung aufgehoben in einer atemporalen Konstellation sinntragender Elemente wie Repliken, Situationen, Figuren etc. (Kontrast-Struktur). 3 0 Mit dieser allgemeinen Formulierung läßt sich auch ein Problem des Klotzschen Modells lösen: D a der Typus des 'geschlossenen Dramas'

26

27

28 29 30

G.Genette, Discours du récit, in: G.G., Figures III, Paris 1972, S. 65-282, sowie A. Kablitz, Erzählperspektive - Point of View - Focalisation, Zs. fllr frz. Sprache und Lit. 98 [1988], S. 237-255). Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1992; vgl. die Zusammenfassung, speziell S. 216ff. Kritisch dazu M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 1994, S. 319-326, der u.a. auf "eine Tendenz zur mechanischen Antithetik und zu einer die ursprünglichen Intentionen verkehrenden Substantialisierung der Idealtypen" hinweist. Vgl. R. Warning, Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie, in: Das Komische, hrsg. von W. Preisendanz und R.W. (Poetik und Hermeneutik, 7), München 1976, S. 279-333, speziell S. 289f.; außerdem Gier (wie Anm. 10), S. 8ff. und passim. Vgl. Pfister (wie Anm. 26), S. 104. Klotz (wie Anm. 26), S. 41. Mit dem Gegensatzpaar Konflikt-Struktur vi. Kontrast-Struktur versucht Th. Koebner (Vom Arbeitsverhältnis zwischen Drama, Musik und Szene und ein Plädoyer für die "Opera impura", in: Für und Wider die Literaturoper. Zur Situation nach 1945, hrsg. von S. Wiesmann, Laaber 1982, S. 65-81, speziell S. 74), die "Oper" vom (implizit mit der klassischen Tragödie gleichgesetzten) "Drama" abzugrenzen; vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 9.

Schreibweise - Typus - Gattung

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von der aristotelischen Tragödie abstrahiert ist, deckt er "ein relativ homogenes Textcorpus" ab, während "unter dem ex negativo bestimmten Idealtyp [der 'offenen Form', A.G.] sehr unterschiedliche Formen der Negation einer geschlossenen Form subsumiert werden" müssen. 31 Zweifellos sind dem dominant paradigmatischen Typus mehr und heterogenere Gattungen zuzuordnen als dem dominant syntagmatischen: Neben dem deutschen Drama des Sturm und Drang, dem naturalistischen Drama, dem epischen Theater Brechts oder dem absurden Theater 32 sind die Komödie 33 und das Opernlibretto (s.u.) per se paradigmatische Formen. Dennoch prägt sich der dominant syntagmatische Typus nicht nur in der aristotelischen Tragödie, sondern auch in Gattungen wie dem historischen Drama Sardous aus. 34 Durch den Vergleich unterschiedlicher Formen dominant syntagmatischer Dramen ließe sich die einseitige Fixierung auf das Modell der Tragödie überwinden, so daß die Vielfalt der auch in diesem Typus angelegten Realisierungsmöglichkeiten deutlicher hervorträte. Offen bleibt, wo in dem hier skizzierten Modell die Differenz zwischen Sprechtheater und Musiktheater zu verorten ist. Wenn man sich mit diesem Problem befaßt, stößt man auf zwei Schwierigkeiten: Zum einen läßt sich beim derzeitigen Forschungsstand kein absolut gültiges Kriterium für die Abgrenzung des 'Musikdialogischen' 35 vom 'Dialogischen' des Sprechtheaters angeben, wie sich beispielhaft an Gattungen wie Vaudeville, Posse mit Gesang, Opéra-bouffe und Operette zeigt: 36 Daß Johann Nestroys Böser Geist Lumpazivagabundus (1833) gewöhnlich dem Sprechtheater, Franz von Suppés Schöne Galathee (Text: Poly Henrion, 1865) dagegen dem Musiktheater zugerechnet wird, läßt sich von der Textstruktur her kaum rechtfertigen. Ausschlaggebend sind musikalische und institutionelle Kriterien: Wenn die Musiknummern nicht neu vertont, sondern, wie in der Opéra-comi31 32 33 34

35

36

Pfister (wie Anm. 26), S. 322. Diese und andere Beispiele ebd. Vgl. Warning (wie Anm. 27), S. 289ff. Aus eben diesem Grund schien Giuseppe Giacosa La Tosca als Vorlage ftir ein Libretto nicht geeignet, da in diesem Drama "der sozusagen mechanische Teil, nämlich die Gliederung der Ereignisse, die die Handlung bilden, ein zu starkes Übergewicht" einnehme (Brief an G. Ricordi vom 23.8.1896, in: G. Puccini, Tosca. Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von A. Csampai und D. Holland, Reinbek 1987, S. 159; vgl. Gier [wie Anm. 10], S. 182). Diesen Terminus schlägt F. Mehltretter vor (Die unmögliche Tragödie. Karnevalisierung und Gattungsmischung im venezianischen Opernlibretto des siebzehnten Jahrhunderts, Frankfurt etc. 1994, S. 10); an sich läge es näher, vom 'Musikdramatischen' zu sprechen, was aber wegen möglicher Interferenzen mit dem Konzept des Wagnerschen Musikdramas problematisch ist. Mehltretter klassifiziert das 'Musikdialogische' diskussionslos als Schreibweise. C. Dahlhaus (Die Musik des 19. Jahrhunderts [Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 6], Laaber 1980, S. 188) scheint alle diese "Gattungen des Theaters mit Musik" einem Oberbegriff (d.h. dem Musikdialogischen) subsumieren zu wollen. Zu einem neuen Einteilungsvorschlag vgl. unten Anm. 74. - Während die Musikwissenschaft mit Kriterien, die laut Dahlhaus "einer logischen Analyse nicht standhalten" (ebd.), zwischen 'Oper' und 'Operette' zu differenzieren sucht, scheint der Terminus 'Libretto' im literatur- wie musikwissenschaftlichen Gebrauch zumindest implizit auch Operetten- und MusicalTexte zu meinen (obwohl D.Borchmeyer, MGG2 Bd. 5, Sp. 1116 ausführt, der Terminus Libretto habe sich "seit dem Ende des 19. Jh. im deutschen Sprachraum vor allem für den Operntext durchgesetzt").

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Albert Gier

que des 18. und im Vaudeville des 19. Jahrhunderts, bekannten Melodien unterlegt werden, handelt es sich nach der Communis opinio um Sprechtheater; wenn die Hauptpartien fur Sänger geschrieben sind und wenn das Werk an einem Operettenhaus uraufgeführt wurde, handelt es sich um eine Operette bzw. eine Opérabouffe. Wie problematisch eine solche Einteilung ist, zeigt sich z.B. daran, daß Jacques Offenbach La Vie parisienne (1866) für die Schauspieler-Truppe des Palais-Royal komponierte, die sonst vor allem Comédies und Comédies-vaudevilles von Eugène Labiche spielte; das Textbuch von Meilhac und Halévy ist eindeutig derselben literarischen Gattung zuzuordnen wie andere, zur Aufführung durch Sänger-Ensembles bestimmte Opéras-bouffes derselben Autoren. Auch von den durchaus gewichtigen Veränderungen, die für die Neuinszenierung der Vie parisienne 1873 (diesmal mit Sängern) vorgenommen wurden, bleibt die Gattungszugehörigkeit des Textes unberührt.37 Zum anderen ist das Musikdialogische wie das Dialogische offenbar eine ahistorische Konstante (also eine Schreibweise); die Plausibilität eines Definitionsvorschlags läßt sich daher nur durch transepochale und interkulturelle Vergleiche überprüfen, anders gesagt: zweckmäßig wäre eine Begriffsbestimmung, die auf das griechische Drama (wenn und insofern man es dem Musikdialogischen zurechnen will),38 auf musikdialogische Formen des mittelalterlichen und des außereuropäischen (chinesischen, japanischen, indischen etc.) Theaters und schließlich auf das neuzeitliche Libretto der westlichen Hemisphäre gleichermaßen anwendbar wäre. Ein entsprechendes Kontrollcorpus zu erstellen, wäre aufgrund der erwähnten Abgrenzungsprobleme zwar schwierig, aber wohl doch nicht unmöglich, da sich wohl auch bei Ausschluß aller Zweifelsfälle (d.h. bei Beschränkung auf Gattungen mit signifikant hohem Musikanteil) eine hinreichend breite Basis ergäbe. Ansätze zu einer derartigen Beschreibung des Musikdialogischen scheint es bisher weder von Seiten der Vergleichenden Literaturwissenschaft (die die Beziehungen zwischen Literatur und Musik als Forschungsgebiet für sich reklamiert)39 noch aus der Musikwissenschaft zu geben.40 Aus diesem Grund ist derzeit nicht mit Sicherheit zu

37

38

39

40

Zu den beiden Fassungen der Vie parisienne vgl. V. Klotz in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München/Zürich 1991, S. 533/35; außerdem J. OfFenbach, Pariser Leben. Stück in fünf Akten von H. Meilhac und L. Halévy, Ubers, und hrsg. von J. Heinzelmann, Frankfurt 1982, speziell S. 284f. Vgl. dazu die Hinweise von F. Zaminer in: A. Riethmüller / F. Z. (Hrsg.), Die Musik des Altertums (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 1), Laaber 1989, S. 153-164; sowie M. Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, B d . l , Stuttgart/Weimar 1993, S. 51ff. Vgl. dazu Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, hrsg. von S. P. Scher, Berlin 1984, und darin speziell den Beitrag von U. Weisstein, Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik: Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik?, S. 4 0 - 6 0 . Bezeichnenderweise enthält die neue MGG zwar einen Artikel Musiktheater (verstanden als "alle Versuche der letzten 100 Jahre, durch Inszenierung und Bühnenbild zu einer aktuellen Deutung [von musikalischen Bühnenwerken] zu kommen", MGG 2 Bd. 6, Sp. 1670) und - natürlich - einen Artikel Musikdrama, aber ein Stichwort Musik und Theater (analog zu Musik und Bildende Kunst, Musik und Musiker in der Literatur etc.) sucht man vergebens.

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Schreibweise - Typus - Gattung

entscheiden, welche Merkmale der verhältnismäßig gut erforschten Gattung Libretto sich auf die musikdialogischen Gattungen insgesamt ausweiten lassen. Die Unsicherheit beginnt beim äußerlichsten Merkmal, der relativen Kürze des musikdialogischen Textes: Erfolgt die Vertonung nach den Regeln der europäischen Kunstmusik, dann nimmt der Gesangsvortrag deutlich mehr Zeit in Anspruch als die Rezitation ohne Musik; 41 ein Opernlibretto ist daher entsprechend knapper zu fassen als ein vergleichbarer Schauspieltext. Für viele vorneuzeitliche und außereuropäische Musikkulturen trifft offenbar das gleiche zu; ob es Gegenbeispiele gibt, bleibt zu prüfen. Eine gattungssystematische Untersuchung hat ergeben, daß das Libretto dem dominant paradigmatischen Dramentypus zu subsumieren ist.42 Man wird eine Parallele zwischen der von Kontrast- und Äquivalenzrelationen geprägten Sinnstruktur des Textes und dem allgemeinsten Strukturelement der Musik, der sich in der Zeit entfaltenden Dialektik von Wiederholung und Gegensatz bzw. Variation, annehmen dürfen; die Schlußfolgerung, daß musikdialogische Gattungen stets dominant paradigmatisch strukturiert sind, ist naheliegend, bedürfte aber ebenfalls der Überprüfung. Da das Dialogische, das sich im Sprechtheater realisiert, und das Musikdialogische "einer Sprechsituation [der performativen, A. G.] notwendig zugeordnet sind", 43 handelt es sich um primäre Schreibweisen. Dem Dialogischen sind der dominant syntagmatische und der dominant paradigmatische Typus zu subsumieren; sollte es sich bestätigen, daß es ein dominant syntagmatisches Musikdialogisches nicht gibt, dann wären in diesem Fall Schreibweise und Typus identisch: Musikdialogisches = dominant paradigmatisch. Ob dies zweckmäßig ist oder ob es möglicherweise sinnvoll wäre, den Status des Musikdialogischen anders zu bestimmen, kann erst diskutiert werden, wenn vergleichende Untersuchungen zu dieser Schreibweise vorliegen. Dramatisches

PRIMÄRE SCHREIBWEISEN

Musikdialogisches

TYPEN

dominant paradigmatisch

dominant syntagmatisch

dominant paradigmatisch

(dominant syntagmatisch ???)

I I GATTUNGEN

41 42

43

Vgl. dazu Gier (wie Anm. 10), S. 6. Vgl. ebd., passim. Vgl. oben Anm. 18.

Libretto

Albert Gier

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Die dramatische (musikdialogische) Gattung Libretto umfaßt Opern-, Operettenund Musicaltexte, die von 1598 bis heute im Verbreitungsgebiet der europäischen Kunstmusik entstanden sind. Wenn man vom Sitz im Leben (den Produktions- und Rezeptionsbedingungen) historisch konkreter Subgattungen abstrahiert, lassen sich induktiv vier für die Gattung konstitutive Merkmale ermitteln: 44 -

relative Kürze; dominant paradigmatische Struktur; zeitliche Diskontinuität; Primat des Wahrnehmbaren.

Wir haben gesehen, daß eines dieser Merkmale - relative Kürze - möglicherweise die musikdialogische Schreibweise kennzeichnet; ein weiteres - dominant paradigmatische Struktur - identifiziert die Gattung als Konkretisation eines ahistorisch konstanten Typus, dessen Verhältnis zu jener Schreibweise nicht geklärt ist (s.o.). Über das Merkmal der zeitlichen Diskontinuität scheint nun eine Abgrenzung des Librettos sowohl gegen die übergeordnete Schreibweise wie auch gegen dominant paradigmatische Gattungen des Sprechtheaters möglich. Auf die Oper bzw. das Libretto angewandt bezeichnet der Begriff der diskontinuierlichen Zeit 45 zwei durchaus unterschiedliche Phänomene: Zum einen ist das Geschehen nicht auf die kanonischen 24 Stunden der klassischen Tragödie zusammengedrängt, sondern kann mehrere Monate oder Jahre umfassen, mit entsprechend großen Zeitsprüngen zwischen den einzelnen Akten oder Bildern; das gilt auch für dominant paradigmatische Schauspielformen. 46 Zum anderen sind in der Oper dargestellte Zeit und Zeit der Darstellung nicht identisch; 47 durch Textrepetitionen und ein entsprechend langsames musikalisches Tempo kann Zeit gedehnt werden, so daß Handlungen oder Vorgänge, die in der empirischen Welt wenige Sekunden in Anspruch nehmen, auf der Bühne des Musiktheaters mehrere Minuten ausfüllen; umgekehrt ist, z.B. in den Ensembles der Opera buffa, auch Beschleunigung zeitlicher Abläufe möglich. Dagegen stimmt die Dauer der Dialoge im Sprechtheater mit derjenigen eines vergleichbaren alltäglichen Gesprächs im wesentlichen überein. Daß die Veränderungen der musikalischen Zeit im Textbuch vorgezeichnet sind, versteht sich von selbst (es mag genügen, an das Sostenuto assai "O Gott, welch ein Augenblick" im zweiten Fidelio-Finale zu erinnern). Die diskontinuierliche (verlangsamte oder beschleunigte) Zeit nun wird unter den sozio-kulturellen Bedingungen des frühneuzeitlichen und modernen Europa als Zeit des subjektiven, inneren Erlebens aufgefaßt. Daher eignet sich das Libretto (die Oper) in besonderem Maße zur Darstellung psychischer Vorgänge. Daß die für die frühe Neuzeit verbindliche Psychologie des Typischen (Exemplarischen) in der Moderne durch eine Psychologie des Individuellen abgelöst wird, führt zwar zu 44 45

46 47

Vgl. dazu Gier (wie Anm. 10), S. 6ff. und passim. Grundlegend dazu C. Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper [1981], in: C. D., Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, MUnchen/Salzburg 1983, S. 25-32; auf die Dramaturgie des Librettos bezogen bei Gier (wie Anm. 10), S. 6ff. und passim. Vgl. Klotz (wie Anm. 26), S. 113 und ff. Damit ist eine Parallele zur Opposition Erzählzeit vs. erzählte Zeit in den narrativen Gattungen gegeben, vgl. Dahlhaus (wie Anm. 45), S. 26.

Schreibweise - Typus - Gattung

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sehr wesentlichen Veränderungen der Textoberfläche (die Folge ist, daß Subgattungen wie Opera seria oder Tragédie lyrique durch andere - romantisches Melodramma, Grand Opéra - ersetzt werden), ändert aber nichts an der Leistungsfähigkeit des Gattungsmodells selbst. Die für das Libretto charakteristischste Redeform ist der Monolog, der bis ins 19. Jahrhundert in der geschlossenen Form der Arie erscheint und jeweils durch Wechsel der Versart, des Reimschemas o.ä. aus dem ihn umgebenden Dialog herausgehoben wird. In der Arie sprechen die Figuren nicht nur aus, was sie ihren Partnern auf der Bühne verschweigen; indem sie sich mit ihren eigenen Empfindungen (reflektierend) auseinandersetzen, demonstrieren sie transpsychologischen48 Scharfblick, der auch Unbewußtes oder Verdrängtes mitteilbar macht (ohne daß dies Konsequenzen für das weitere Verhalten der betreffenden Figur hätte). Wenn auf diese Weise momentane Bewußtseinszustände oder seelische Vorgänge dargestellt werden, die "chronometrisch überhaupt nicht mehr zu erfassen sind", bedeutet das die Aufhebung der dargestellten Zeit.49 Die Gleichsetzung von diskontinuierlicher Zeit und subjektiv erfahrener Zeit macht das Libretto zum Seelendrama. Oft steht das Bühnengeschehen zeichenhaft für Vorgänge im Inneren der zentralen Figur, so wie im Freischütz Agathe und Caspar die helle und die dunkle Seite in Maxens Charakter verkörpern.50 Eine vergleichbare Psychologisierung ist grundsätzlich auch auf dem Sprechtheater möglich, wie z.B. das symbolistische Theater Maeterlincks beweist; das ist nicht erstaunlich, denn für die Entstehung und weitere Entwicklung der Gattung Libretto sind offenbar (neben innerliterarischen Faktoren) zwei außerliterarische Voraussetzungen wesentlich: zum einen das Menschenbild und speziell die psychologischen Konzeptionen, die das westliche Denken in den letzten 400 Jahren geprägt haben; zum anderen die Strukturen und vor allem die Zeitgestaltung der europäischen Kunstmusik. Die zweite dieser Voraussetzungen ist nur für musikdialogische Gattungen relevant, die erste für dialogische und musikdialogische Gattungen gleichermaßen. Insofern kann die diskontinuierlich-subjektive Zeitgestaltung als Dominante,51 d.h. als zentrales Merkmal der musikoliterarischen Gattung Libretto fungieren und zugleich Bestandteil anderer Merkmalskomplexionen sein, die dominant paradigmatische Gattungen bzw. Subgattungen des Sprechtheaters definieren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Claude Debussy an Pelléas et Mélisande nur geringfügige (allerdings durchaus signifikante)52 Kürzungen vorzunehmen brauchte, um aus Maeterlincks Schauspiel ein Libretto zu machen. Als Ingeborg Bachmann die 1858 Verse von Kleists Prinz Friedrich von Homburg für Hans Werner Henze auf etwa 600 zusammenstrich (i960), gab sie andererseits der inneren Wirklichkeit gegenüber den äußeren Vorgängen ungleich mehr Gewicht:53 Die emotionalen Höhepunkte der Vorlage sind ausnahmslos erhalten geblieben, während alles, was sich auf den Verlauf der Schlacht bei Fehrbellin, die Strategie des Kurfürsten und die militärischen Folgen der Eigenmächtigkeit des 48 49 50 51 52 53

Zu dieser Kategorie Pfister (wie Anm. 26), S. 247-249. Vgl. ebd., S. 373. Vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 142f.; ebd. passim zahlreiche weitere Beispiele. Zu diesem Begriff vgl. Hempfer (wie Anm. 1), S. 137f. Vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 201. Vgl. ebd., S. 207-210.

50

Albert Gier

Prinzen bezieht, gestrichen wurde. 54 Das bedeutet auch, daß der Kurfürst, bei Kleist der Gegenspieler des Protagonisten, ganz in den Hintergrund tritt: Ingeborg Bachmanns (bzw. Hans Werner Henzes) Prinz beherrscht allein die Bühne, wodurch es nicht notwendig, aber zumindest möglich wird, die Geliebte, die Freunde und Widersacher als Projektionen der Wünsche und Ängste des Protagonisten aufzufassen. Während das Merkmal der zeitlichen Diskontinuität auf die Verbindung des Librettos zur Musik verweist, ist mit dem Primat des Wahrnehmbaren das Verhältnis von Text und szenischer Realisation angesprochen. Man wird dieses Merkmal nicht losgelöst vom Sitz im Leben der Gattung betrachten können: Während des Ancien Régime wie auch in den bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts erfüllt die Oper eine repräsentative Funktion, was aufwendige Inszenierungen impliziert. Darüber hinaus steht der neuen Kunstform im 17. und noch im 18. Jahrhundert ein Sprechtheater gegenüber, das wesentlich vom gesprochenen Wort geprägt ist; daß die Poetik des Librettos das Postulat des Logozentrismus übernimmt, ist als Nobilitierungsstrategie (Annäherung an die Tragödie) zu verstehen, 55 zugleich aber werden die Möglichkeiten für ein sinnlicheres (von der Stimme, d.h. vom Körper bestimmtes) Theater in zunehmendem Maße genutzt: spektakuläre Effekte, prunkvolle Dekorationen etc. Das Sichtbare tritt nun aber keineswegs an die Stelle des Wortes: Gerade die barocke Maschinenoper bietet zahlreiche Beispiele dafür, daß eine komplizierte Vorgeschichte über rezitativischen Dialog oder Bericht vermittelt wird. In rezeptionsästhetischer Perspektive läßt sich die Geschichte einer Gattung beschreiben als "zeitliche(r) Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung"; 56 historische Entwicklungen werden einerseits durch "normbildende Werke (Prototypen)" bestimmt und sind andererseits geprägt "durch die wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten" , 57 Von diesem Standpunkt erscheinen Gattungen als "Gruppen oder historische Familien", die "als solche nicht abgeleitet oder definiert, sondern nur historisch bestimmt, abgegrenzt und beschrieben werden können". 58 Gattungsgeschichte hätte demnach beim Einzelwerk anzusetzen; dieses wäre als Bestandteil einer Reihe 59 aufzufassen, deren einzelne Glieder zugleich Antworten auf frühere Vorbilder und Vorbilder für spätere Antworten wären. Darüber hinaus wäre die Reihe als sich diachron ent54

55 56

57 58

H. J. Kreutzer, Vom Schauspiel zur Oper. Ingeborg Bachmanns Libretto fllr Hans Werner Henzes Der Prinz von Homburg, in: H. J. Kreutzer, Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste, WUrzburg 1994, S. 223, spricht in diesem Zusammenhang von "Enthistorisierung" und "Derealisierung". Zur Theorie und dramatischen Praxis Metastasios vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 75f. H.R. Jauß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters I: Généralités, Heidelberg 1972, S. 107-138, speziell S. 124; kritisch zu Jaußens Gattungskonzeption Hempfer (wie Anm. 1), S. 116f.; S. 216. Voßkamp (wie Anm. 22), S. 28. Jauß (wie Anm. 56), S. 110; vgl. auch Gumbrecht (wie Anm. 1), S. 40. Der Begriff der Reihe wurde von den russischen Formalisten in die Gattungsdiskussion eingeführt; vgl. J. Tynjanov, Über die literarische Evolution, in: Texte der russischen Formalisten, Bd.I, Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hrsg. von J. Striedter, München 1969, S. 432-461, sowie Hempfer (wie Anm. 1), S.212ff.

Schreibweise - Typus - Gattung

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wickelndes System in Beziehung zu setzen zum synchronen System der literarischen Gattungen einer Epoche und zu den ebenfalls als System aufgefaßten soziokulturellen Rahmenbedingungen. Geht man davon aus, daß historische Gattungen nicht deduktiv aus generischen Tiefenstrukturen abgeleitet werden können (was, wenn nicht generell, so doch jedenfalls beim derzeitigen Forschungsstand zutrifft, s.o.), dann wird man historischen Einzelstudien zweckmäßigerweise den Reihenbegriff zugrundelegen. Wenn es um dramatische Gattungen geht, wird man darüber hinaus dem Sitz im Leben besondere Aufmerksamkeit schenken: Aufgrund der kollektiven Produktion und Rezeption 60 dramatischer Texte dürfte den Wechselbeziehungen zu anderen sozialen Institutionen (zum Theater, in dem die Werke aufgeführt werden; zur Zensurbehörde; zur periodischen Presse etc.) tendenziell größere Bedeutung zukommen als bei anderen literarischen Gattungen. Um diese und andere Vermutungen zu überprüfen, seien abschließend einige Vorüberlegungen zur Gattungsgeschichte des französischen Librettos in der Zeit vor der Revolution von 1789 skizziert. Ein Versuch, den Ort der Tragédie lyrique im System der literarischen Gattungen des 17. Jahrhunderts zu bestimmen, wird von den programmatischen Äußerungen Pierre Perrins (1659) auszugehen haben. 61 Dieser äußerte nach der ersten Aufführung der Pastorale d'Issy die Absicht, zwei weitere Libretti zu verfassen, eines über einen komischen (Ariane), das andere über einen tragischen Stoff (La Mort d'Adonis). Anscheinend ging es Perrin darum, durch Mustertexte einen Kanon der Subgattungen des Librettos zu etablieren, in exakter Parallele zu den Gattungen des Sprechtheaters. 62 Man wird daraus folgern dürfen, daß die von Quinault und Lully (Cadmus et Hermione, 1673) begründete Tragédie lyrique in der Tat als musikdialogisches Pendant zur klassischen Tragödie konzipiert ist. Das ist keineswegs selbstverständlich. Die italienischen Libretti des 17. Jahrhunderts sind keine Tragödien, sondern Pastoralspiele oder Tragikomödien: 63 Für die Canzonette (Arien) verwendeten die Textdichter lyrische Strophenformen, denen ein mittlerer Zierstil angemessen war; tragische Stoffe, die selbstverständlich hohen Stil gefordert hätten, konnten in dieser Form nicht behandelt werden. In Frankreich verwenden die hohen Gattungen (Epos und Tragödie) ausschließlich den Alexandriner, in den Libretti dagegen finden sich Verse unterschiedlicher Länge; dennoch postuliert die Gattungsbezeichnung Tragédie lyrique eine Parallele zwischen dem musikalischen Drama und der vornehmsten Form des Sprechtheaters. 64 Ob die sprachnahe Deklamation der französischen Oper Ursache oder Folge dieser Auffassung ist, wäre zu untersuchen. Als Stoffvorlagen dienen den Librettisten eher narrative als dramatische Texte: Mythologische Sujets entnimmt Quinault gewöhnlich nicht antiken oder zeitgenös60 61

62 63

Vgl. Pfister (wie Anm. 26), S. 29. Vgl. den Begleitbrief an della Rovere zur Übersendung der Pastorale d'Issy, abgedruckt bei H. Becker (Hrsg.), Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert, Kassel 1981, S. 105-111; dazu Gier (wie Anm. 10), S. 56f„ im Anschluß an C. Kintzler, Poétique de l'Opéra Français de Corneille à Rousseau, Paris 1991, S. 182ff. Vgl. Kintzler, ebd., S. 202. Zum folgenden vgl. Mehltretter (wie Anm. 35), S. 41 ff. und passim. In N. Boileaus Art poétique (1674) kommt das Libretto (bzw. die Oper) nicht vor.

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Albert Gier

sischen Tragödien, sondern den Metamorphosen Ovids; außerdem greift er auf Ritterromane (Amadis) und -epen zurück (Tasso, Ariost).65 Fast hundert Jahre später definiert Baron Grimm das Libretto als "l'épopée mise en action & en spectacle";66 damit ist eine enge Verbindung auch zur zweiten Gattung hohen Stils gegeben. Wie alle Gattungen der frühneuzeitlichen Literatur hat die Tragédie lyrique exemplarischen Charakter.67 Daß der lehrhafte Gehalt in musikdialogischen Texten deutlicher hervortritt als etwa in der Tragödie, mag mit dem Sitz im Leben zusammenhängen: Lullys Académie Royale de Musique stand nicht nur unmittelbar unter der Aufsicht Ludwigs XIV.;68 in den Prologen der aufgeführten Opern wurde der König jeweils direkt angesprochen, und häufig wurden Parallelen zwischen den Tugenden der Protagonisten und den Eigenschaften des Herrschers gezogen. Diese Art der Funktionalisierung fordert zwingend einen nichttragischen Schluß: Eine Welt, in der ein König wie Ludwig XIV. herrscht, ist zwangsläufig die beste aller möglichen, in dieser oder in einer Welt, die ihr gleicht, kann es echte Tragik folglich nicht geben. Mit dem Sitz im Leben dürfte schließlich auch der spektakuläre Aufwand der szenischen Realisierung zu erklären sein. Wenn sich die Tragédie lyrique (unter anderem) über den hohen Stil definiert, werden wir Pastorale und musikdialogische 'Komödie' (bzw. 'komische Oper') als Subgattungen mittleren bzw. niederen Stils zu betrachten haben, die allerdings im Frankreich des 17. Jahrhunderts nicht realisiert worden sind. Im Falle der Pastorale mag das daran liegen, daß die parallele Schauspiel-Gattung um 1660 von den französischen Bühnen verschwunden ist;69 mit der Comédie-ballet hatten Molière und Lully in den sechziger Jahren zwar eine komische Form des musikalischen Theaters geschaffen, aber ihre Zusammenarbeit endete nach wenigen Jahren und blieb folgenlos. Eine musikdialogische Gattung niederen Stils entstand erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts:70 Die Opéra-comique hat ihren Platz auf den Jahrmarktsbühnen (Théâtre de la Foire), also außerhalb der vom Königtum geförderten Theater; und in den Opéras-comiques der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt es keine neukomponierte Musik, die Gesangstexte werden allgemein bekannten Melodien unterlegt. Die Texte der Opéras-comiques weisen eine markante Episodenstruktur auf. In allen Formen komischen Theaters ist zwischen Komödienhandlung und komischer Handlung zu unterscheiden;71 die Komödienhandlung - ein syntagmatisches Element - ist im allgemeinen eine Liebesgeschichte: Almaviva und Rosina lieben einander, können aber (zu Beginn des Barbiere di Siviglia) nicht zueinanderkommen, weil Bartolo im Weg ist; im zweiten Finale haben sie es mit Figaros Hilfe ge65

69 70 71

Vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 58. Artikel Poëme lyrique in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [...], 35 Bde., Paris, Neufchastel, 1751-1780 [Reprint in 5 Bänden, New York 1969], Bd.12 (1765), S. 828. Vgl. grundsätzlich K. Stierle, Geschichte als exemplum - exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte, in: Geschichte - Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik, 5), München 1973, S. 347-375. Der König selbst wählte jeweils das Sujet einer neuen Oper aus einer Vorschlagsliste Quinaults aus, vgl. Gier (wie Anm. 10), S. 64. Vgl. Kintzler (wie Anm. 61), S. 201. Zum folgenden vgl. Gier (wie Anm. 10), S. lOlff. Dazu Waming (wie Anm. 27).

Schreibweise - Typus - Gattung

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schafft. Diese 'Handlung' nimmt der Zuschauer nun aber kaum war, weil die erfolglosen Bemühungen Bartolos, Rosina zur Heirat zu bewegen, die ebenso erfolglosen Bemühungen Basilios, dem Alten zu helfen, und die gleichfalls erfolglosen Bemühungen Figaros, den Interessen Almavivas zu dienen (alle Intrigen des Barbiers scheitern, daß das Liebespaar am Ende heiraten kann, ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken), viel interessanter sind; sie bilden die - paradigmatische - komische Handlung. Es scheint nun, daß zwischen Dominanz der komischen Handlung und niederem Stil eine Verbindung besteht: Seit den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts entstehen Gattungen wie die Comédie larmoyante und (später) das Drame bourgeois, die im Zeichen der Empfindsamkeit der Komödienhandlung wesentlich mehr Raum geben; Identifikationsfiguren wie das Liebespaar bedienen sich künftig des mittleren Stils, der niedere bleibt komischen (Diener-) Figuren vorbehalten; es kommt also zur Stilmischung oder (wenn die komischen Figuren ganz verschwinden) zur Anhebung des Stilniveaus. Daß die alte Opéra-comique genau zu dem Zeitpunkt durch die Form der Comédie mêlée d'ariettes mit neukomponierter Musik abgelöst wird, da die empfindsame Komödie nach der Schauspielbühne auch das Musiktheater erobert, dürfte kein Zufall sein. Eine parallele Entwicklung läßt sich später bei Jacques Offenbach (der explizit an den Opéra-comiques des 18. Jahrhunderts anknüpft) beobachten: In den frühen Einaktern dominiert die komische Handlung; der Stil wäre als niedrig zu bezeichnen, wenn diese Kategorie im 19. Jahrhundert noch adäquat wäre. Die Musik ist zwar neukomponiert, verweigert sich aber bewußt den kompositionstechnischen Errungenschaften der neuesten Zeit: Die Wirkung basiert ganz auf dem prägnanten melodischen Einfall, die Harmonik ist simpel, die Instrumentation extrem sparsam, auch, weil vollständige Verständlichkeit des Textes angestrebt wird. Später, als Offenbach komplexere musikalische Formen und eine reichere Instrumentation bevorzugt (spätestens seit La Belle Hélène, 1864), gewinnt auch die Komödienhandlung gegenüber der komischen Handlung an Bedeutung, und die Lyrismen der Liebespaare durchbrechen den 'niederen' Stil. Hinter den Subgattungen der ältesten Opéra-comique und der frühen Opérabouffe scheint ein wenn nicht absolut, so doch relativ konstanter Typus auf: Man könnte ihn in Abwandlung eines von Volker Klotz 72 geprägten Terminus als musikalisches Lachtheater73 bezeichnen. Merkmale dieses Typus wären niederer Stil; Dominanz der komischen Handlung gegenüber der Komödienhandlung; und auf der musikalischen Ebene Einfachheit der kompositorischen Mittel. 74 Ob sich eine 72 73

Vgl. V. Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie - Posse - Schwank - Operette, München 1980. Vgl. dazu auch Gier (wie Anm. 10), S. 243f. Über dieses letzte Merkmal wäre zu diskutieren. Definiert man es so wie hier vorgeschlagen, dann wären dem 'musikalischen Lachtheater' neben der Opéra-comique der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und den Opéras-bouffes Offenbachs und seines Zeitgenossen Hervé z.B. die Operetten Suppés, die Savoy Opéras von Gilbert und Sullivan, bestimmte französische Werke der Offenbach-Nachfolge (z.B. von Claude Terrasse) und eine Reihe englischer und amerikanischer Musicals bis hin zu By Jeeves von A. Ayckbourn und A. Lloyd Webber (1996) zuzuordnen; ausgeschlossen wären z.B. Franz Lehârs Lustige Witwe und Der Graf von Luxemburg, die dem 'musikalischen Lachtheater' durch ihren markant ausgeprägten Revuecharakter nahestehen, allerdings der Liebes-

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solche Kategorisierung als zweckmäßig erweist, müssen künftige Einzelstudien erweisen. Ein System der Subgattungen, Gattungen und Typen des Musikdialogischen läßt sich nur Stein für Stein errichten.

geschichte (der Komödienhandlung) verhältnismäßig viel Raum geben. Andererseits ließe sich vom Kriterium der kompositorischen Einfachheit her vielleicht eine Definition des 'musikalischen Lachtheaters' formulieren, die z.B. Nestroys Possen mit Gesang einschlösse und damit das oben skizzierte Problem der Abgrenzung des Musikdialogischen einer Lösung zumindest näherbrächte.

Julia Liebscher

Schauspieler - Sängerdarsteller Zur unterschiedlichen Auffiihrungssituation im Sprech- und Musiktheater, dargestellt am Beispiel der paralinguistischen Zeichen 1. Kunstmittel des Schauspielers und Sängerdarstellers Schauspieler und Sängerdarsteller verfügen im Theater über analoge Kunstmittel, um eine dramatische Figur szenisch zu transformieren. Beide sind durch Maske, Frisur und Kostüm, also durch ihre äußere Erscheinung rollenspezifisch gekennzeichnet; beide bringen körpersprachliche Darstellungsmittel (Mimik, Gestik, Proxemik) zum Einsatz; und beide bedienen sich ferner ihrer Stimme, hier allerdings mit dem gravierenden Unterschied, daß der Schauspieler spricht, während der Sängerdarsteller ausschließlich oder zumindest überwiegend singt. Darüber hinaus müssen sowohl Schauspieler als auch Sängerdarsteller die genannten verbalen und nonverbalen Elemente gemäß den Erfordernissen und Konventionen der Darstellungskunst miteinander kombinieren, sie in einem höchst subtilen Produktionsprozeß nicht nur als isolierte Zeichen hervorbringen, sondern diese in jedem Augenblick ihres szenischen Handelns sinnvoll aufeinander abstimmen. Methodisch faßbar wird der erwähnte Unterschied - Sprechen im Schauspiel, Singen auf der Opernbühne - , 1 wenn man die in der Theatersemiotik entwickelte Nomenklatur schauspielerbezogener Zeichen als Modell heranzieht und auf deren Definition von Theater als zeichenerzeugendes System zurückgreift. 2 Während sich der Sängerdarsteller in die bestehende Klassifizierung (s. Abb. 1) bezüglich der erwähnten nonverbalen Kunstmittel umstandslos einordnen läßt, bedarf die Kategorie der sprachlichen Zeichenerzeugung vor allem auf der paralinguistischen Ebene einer fundamentalen Korrektur.

2

Die Oper kann insofern als Paradigma des musikalischen Theaters begriffen werden, als sie Musik und Gesang zu gattungskonstituierenden Merkmalen erhebt. Versuche, die am Beispiel des Schauspieltheaters entwickelte Theatersemiotik auf die Oper anzuwenden, stehen bislang noch aus, obwohl sich gerade hieraus grundlegende Einsichten in das System des musikalischen Theaters erwarten lassen. Das bestehende theatersemiotische Modell, in dem die Musik entsprechend ihres marginalen Charakters im Schauspiel nur als untergeordnete Zeichenebene fungiert, kann, und hierin werden schon die essentiellen Unterschiede zwischen Sprech- und Musiktheater deutlich, nicht ohne gravierende Eingriffe Ubertragen werden. Bei einer systematischen Erforschung der Semiotik des musikalischen Theaters müßten auch verstärkt musiksemiotische Ansätze berücksichtigt werden, die sich ihrerseits allerdings bislang ausschließlich auf die Instrumentalmusik beschränkten, so daß sich hier Defizite in bezug auf das vokalmusikalische Element ergeben. Zur Theatersemiotik: Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 21988; zur Musiksemiotik: Reinhard Schneider, Semiotik der Musik. Darstellung und Kritik, München 1980; Vladimir Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, Darmstadt 1986.

Julia Liebscher

56 Abb. 1: Schauspielerbezogene Zeichen spracht. Zeichen

E

linguistisch paralinguistisch

kinesische Zeichen

mimisch gestisch proxemisch

Erscheinung des Schauspielers

Maske Frisur Kostüm

]

akustisch transitorisch

visuell länger andauernd

2. Die Erzeugung sprachlicher Zeichen durch den Schauspieler Eine vergleichende Untersuchung der sprachlichen Zeichenerzeugung durch Schauspieler und Sängerdarsteller setzt einige Vorüberlegungen voraus. Zunächst muß abgegrenzt werden, was als sprachliches Zeichen gelten soll und welche Funktion es innerhalb des theatralen Funktionssystems erfüllt. Abb. 2: Sprachliche Zeichen lexikalische Bedeutung 1. Linguistische Zeichen Kontextbedeutung stimmliche Qualitäten (länger andauernd) 2. Paralinguistische Zeichen kombiniert mit linguistischen Zeichen transitorisch

Objektebene Intersubjektivitätsebene

Subjektebene

Sehen wir von den Sonderfällen ab, daß der Schauspieler auch Geräusche von sich geben, Musik machen oder singen kann, dann ist seine Tätigkeit im Bereich der akustischen Zeichenerzeugung durch das Sprechen definiert; wenn er spricht, erzeugt er sprachliche Zeichen. Diese sprachlichen Zeichen sind als linguistische und paralinguistische Zeichen zu unterscheiden. Die linguistischen Zeichen haben sowohl lexikalische Bedeutung als auch bestimmte Kontextbedeutungen. Unter lexikalischer Bedeutung versteht man z.B. die "Türe" im Sinne eines abstrakten Begriffs, in einem bestimmten Kontext kann mit "Türe" etwa die seitliche Eingangstür gemeint sein.

Schauspieler -

Sängerdarsteller

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Wenn der Schauspieler die in lexikalische Bedeutungen und Kontextbedeutungen unterschiedenen linguistischen Zeichen als Sprechlaute hervorbringt, wird er sie in einer bestimmten Lautstärke, auf einer bestimmten Tonhöhe, mit bestimmten Betonungen, hastig oder langsam, stockend oder fließend, aufgeregt oder beschwichtigend, mit gedämpfter oder schriller Stimme usw. artikulieren. Die auf diese Weise produzierten Zeichen werden paralinguistische Zeichen genannt, wobei diese länger andauernd oder streng transitorisch sein können. Zu den länger andauernden gehören alle stimmlichen Qualitäten (z.B. Stimmlage, Timbre); die transitorischen hingegen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie stets in Kombination mit linguistischen Zeichen auftreten und daher nur im jeweiligen Augenblick ihrer Produktion akustisch wahrnehmbar sind. Unter paralinguistischen Zeichen sind also neben den stimmlichen Qualitäten alle an die Hervorbringung linguistischer Zeichen geknüpften Merkmale der vokalen Sprachformung zu verstehen, die gemeinhin unter dem Terminus "Sprechausdruck" zusammengefaßt werden. 3 Definitorisch formuliert versteht also die Theatersemiotik unter paralinguistischen Zeichen alle vokal erzeugten Laute, die weder als linguistische, noch als musikalische, noch als ikonische vokale Zeichen (z.B. Hundegebell, Vogelgezwitscher) hervorgebracht werden. Von besonderem Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist die in Kombination mit linguistischen Zeichen auftretende Gruppe, der die meisten paralinguistischen Zeichen angehören; hier lassen sich drei Bezugsebenen unterscheiden: 4 1. die inhaltsbezogene Objektebene; hier wird mit Hilfe etwa der Betonungen und der Pausen eine Gliederung der linguistischen Zeichen vorgenommen. Beispiel: Er geht hinunter (und läuft nicht, wie erwartet) - Er geht hinunter (und nicht sie, wie angenommen). 2. die situationsgebundene Intersubjektivitätsebene; hier wird u.a. durch Intonation und Satzmelodie (z.B. steigend, fallend oder eben) entschieden, ob es sich z.B. um eine Frage, einen Ausruf oder eine neutrale Feststellung handelt. 3. die sprechergebundene Subjektebene; diese Zeichen geben Hinweise auf psychische und/oder charakterliche Befindlichkeiten, je nachdem, ob ein Satz zornig, zweifelnd, freudig usw. hervorgebracht wird. Insofern machen sie eine Aussage über den Sprecher selbst, über die Rollenfigur und über das Verhältnis des Schauspielers zur Rolle. Mit diesen Zeichen verfügt die sprachliche Zeichenebene über ein bedeutsames Instrument zur Regulierung des Kommunikationsprozesses. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß dem Schauspieler in bezug auf die Hierarchie der akustischen Theatermittel 5 in den paralinguistischen Zeichen ein 3

Vgl. zu diesem Komplex u.a. Rudolf Fährmann, Die Deutung des Sprechausdrucks, Bonn 1960; Peter Winkler, Notationen des Sprechausdrucks, in: Zeitschrift für Semiotik 1 (1979), S. 211-224, hier: S. 211; Johannes Rudert, Vom Ausdruck der Sprechstimme, in: Robert Kirchhoff (Hrsg.), Ausdruckspsychologie, Göttingen 1965, S. 422-464. Zu allgemeineren Fragestellungen in diesem Zusammenhang auch Karl Buhler, Sprachtheorie. Die Funktion der Sprache, Jena 1934, bes. S. 24ff. Darüber hinaus sind paralinguistische Zeichen nach auditiven, also hörbaren und lediglich durch Messungen feststellbaren Substanzmerkmalen zu differenzieren. Dieses Unterscheidungskriterium kann im vorliegenden Zusammenhang vernachläßigt werden. Vgl. hierzu auch Jindrich Honzl, Die Hierarchie der Theatermittel, in: Aloysius van Kesteren / Herta Schmid (Hrsg.), Moderne Dramentheorie, Kronberg 1975, S. 133-142.

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hochrangiges, subtil verwendbares Kunstmittel zur Verfugung steht, 6 durch das er den Sprechakt regulieren, das heißt: formal strukturieren, inhaltlich interpretieren und mit emotionalen Qualitäten aufladen kann. Hinzu kommt, daß er die paralinguistischen Zeichen ohne Vorgaben durch den Dramenautor in einem autonomen künstlerischen Produktions- und Interaktionsprozeß gestalten darf; denn im Dramentext sind die paralinguistischen Zeichen im Gegensatz zu den linguistischen Zeichen nicht fixiert. In welchem Tempo der Schauspieler spricht, wie er den Satz durch Pausen gliedert, welche Emotionen er mit den linguistischen Zeichen transportiert, ob er die Objektebene, die Intersubjektivitätsebene oder die Subjektebene akzentuiert; kurz: wie er den Dramentext als Sprechakt transformiert und akustisch materialisiert, entscheidet der Schauspieler nach eigenem künstlerischen Ermessen in Wechselbeziehung zu den anderen Kommunikationsteilnehmern und gegebenenfalls in Abstimmung mit dem Regisseur. Insofern ist die Erzeugung paralinguistischer Zeichen Sache der Auffuhrung, nicht der Schriftlichkeit. Mit anderen Worten: Die Autorschaft des Dramatikers bleibt auf das Erfinden und Fixieren jener linguistischen Zeichen beschränkt, die vom Schauspieler in einem vom schriftlichen Artefakt vollkommen losgelösten künstlerischen Gestaltungsakt durch paralinguistische Zeichen ins Hier und Jetzt der jeweiligen Theatersituation transportiert werden.

3. Die Erzeugung sprachlicher Zeichen durch den Sängerdarsteller a. Überlagerung der linguistischen Zeichen durch andere akustische Zeichen Eine völlig andere Situation ergibt sich demgegenüber beim Sängerdarsteller. Zwar erzeugt auch er, wenn er singt, linguistische Zeichen; 7 und auch hier haben die linguistischen Zeichen sowohl lexikalische Bedeutungen als auch Kontextbedeutungen. Dennoch sind gravierende Unterschiede bei der Entstehung dieser Zeichen zu beobachten. Während die linguistische Zeichenproduktion des Schauspielers aufgrund der Dialogstruktur des Schauspieltheaters und des dadurch bedingten alternativen Sprechens (zeitliches Nacheinander) 8 stets als isoliertes akustisches Phänomen in Erscheinung tritt, wird die linguistische Zeichenerzeugung des Sän6

7

8

Dies wurde in der Schauspieltheorie immer wieder hervorgehoben, wobei freilich die unterschiedlichen Bezugsebenen, wie sie oben angeführt wurden, im historischen Wandel unterschiedlich akzentuiert und bewertet wurden. Vgl. z.B. Johann Wolfgang Goethe, Regeln für den Schauspieler, in: Ders., Samtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 14: Schriften zur Literatur, Zürich 1977, S. 72-90, bes. S. 77f.; Erika Fischer-Lichte (Theatersemiotik, Bd. 1, S. 44) teilt mit, daß Schauspieler im Theater Stanislawskijs in der Lage waren, die Worte "heute abend" auf vierzig verschiedene Arten zu sprechen. Hier gilt, daß der Sängerdarsteller auch Geräusche von sich geben, sprechen oder mit einem Instrument Musik machen kann. Darüber hinaus kann sein Gesang dem Sprechen näherstehen (Deklamationstyp) oder arios (Koloraturen) konzipiert sein. Für grundsätzliche Betrachtungen sind aber diese im gattungsspezifischen Kontext der Oper auftretenden Sonderfälle vorerst nicht bedeutsam. Gleichsam als Abbild einer realen Dialogsituation, wie sie in der Oper schon deshalb nicht gegeben ist, weil durch das Singen einerseits und durch formalkompositorisch geregelte Kommunikationsstrukturen andererseits a priori ein Vergleich mit der Wirklichkeit wenn nicht gänzlich ausgeschlossen, so zumindest eingeschränkt ist.

Schauspieler - Sängerdarsteller

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gerdarstellers von anderen akustischen Zeichensystemen überlagert. Wo der Schauspieler befähigt ist, die linguistische Zeichenproduktion ohne Mitwirkung weiterer simultaner akustischer Zeichenprozesse zu gestalten, ist die Erzeugung der linguistischen Zeichen beim Singen in ein komplexes System akustischer Zeichenproduktionen eingebunden: 1. Interferenz der beim Singen erzeugten linguistischen Zeichen und der im Orchester erzeugten musikalischen Zeichen: aufgrund wechselnder Instrumentenkombinationen entstehen in jedem Augenblick des Erklingens andersartig zusammengesetzte klangliche Strukturen. 2. Kombination mit einer oder mehreren anderen Singstimmen: In Duetten, Ensembles oder Chören werden nach musikdramaturgischen Kriterien (Stimmfach) sortierte Singstimmen im mehrstimmigen Satz miteinander verknüpft. Dabei werden die linguistischen Zeichen durch das gleichzeitige Erklingen nicht identischer Textabschnitte in ihrer Funktion als Bedeutungsträger (lexikalische Bedeutungen und Kontextbedeutungen) eingeschränkt oder vollkommen aufgehoben (Textunverständlichkeit als Folge polyphoner kompositorischer Gestaltungsweisen). 3. Stimmphysiologische Vorgänge des Singens: Artikulation und Aussprache werden durch Stimmbildungsvorgänge behindert; das Erzeugen der linguistischen Zeichen wird dadurch erheblich beeinflußt. 9 4. Opemspezifische vokale Kompositionstechniken (z.B. Koloraturen): Der syntaktische Sprachzusammenhang wird gesprengt, die bedeutungserzeugende Funktion der linguistischen Zeichen eingeschränkt oder vollkommen aufgehoben. In allen Fällen wird also die bedeutungserzeugende Funktion der linguistischen Zeichen, die im Schauspieltheater eine zentrale handlungstragende Aufgabe erfüllen, radikal beschnitten oder durch die Überlagerung von musikalischen Zeichen Uberhaupt aufgehoben. Während die linguistischen Zeichen im Schauspieltheater also eine die Handlung transportierende und folglich unverzichtbare Aufgabe erfüllen, wird auf ihre bedeutungserzeugende Funktion im musikalischen Theater unter den genannten Umständen verzichtet: Linguistische Zeichen werden von musikalischen Zeichen gleichsam geschluckt. Während der Schauspieler linguistische Zeichen also stets als isolierte akustische Phänomene produziert, ist das linguistische Zeichen im musikalischen Theater aufgrund der Kombination mit anderen akustischen Zeichen stets Teil eines komplexen, aus nicht gleichartigen Komponenten zusammengesetztes Schallprodukt. 9

Auf dieses hochbedeutsame Faktum kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, obwohl sich gerade aus der Erörterung dieser in der Wissenschaft bislang vollkommen vernachläßigten Problematik grundlegende Erkenntnisse Uber den besonderen Status des Sängerdarstellers in Abgrenzung zum Schauspieler und die spezifische Auffilhrungssituation im musikalischen Theater gewinnen ließen. Zum Einstieg sei auf folgende Literatur verwiesen: Gunther Baum, Abriß der Stimmphysiologie, Mainz 1972; Ernst Haefliger, Die Singstimme, Bern, Stuttgart 1983; Erna Brand-Seltei, Belcanto. Eine Kulturgeschichte der Gesangskunst, Wilhelmshaven 1972; Franziska Martienssen-Lohmann, Der wissende Sänger, Zürich, Freiburg 1956; Dies., Der Opernsänger. Berufung und Bewährung, Mainz 1943. Als Uberaus lohnend erwiese sich die Beschäftigung mit den seinerzeit hochgeschätzten, heute vollkommen unbekannten Theorien von Ottmar Rutz (u.a. Sprache, Gesang und Körperhaltung, München 1911, 2 1922), in denen stimmphysiologische Vorgänge in Verbindung mit körpersprachlichen Elementen untersucht werden.

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Auf die Wahrnehmung der linguistischen Zeichen durch den Rezipienten hat dies freilich entscheidende Auswirkungen. Denn die konkurrierenden akustischen Zeichenprozesse führen zu einer eminenten Komplizierung des Interkorrelationszusammenhangs der beteiligten theatralen Parameter. Darüber hinaus hat die Interferenz akustischer Zeichenprozesse gravierende Auswirkungen auf die intra- und extratheatrale Kommunikation, 10 wobei gerade die rezeptions- und wirkungsästhetischen Konsequenzen so komplex sind, daß sie in breit angelegten Feldforschungen untersucht werden müßten. Während der Schauspieler die Kommunikation mit den anderen Bühnenfiguren direkt, sozusagen in eigener Regie steuern und regulieren, die linguistischen Zeichen durch die Kombination mit paralinguistischen Zeichen im Hinblick auf die von ihm intendierten Bedeutungen subtil ausbalancieren kann, werden die durch das Singen produzierten linguistischen Zeichen durch die Orchestermusik im Extremfall so vollkommen überdeckt, daß sprachliche Informationen nicht mehr vermittelt werden können. Auch durch die Kombination mit anderen, unterschiedlichen Text vortragenden Singstimmen und die mit Ensemblebildungen oder Koloraturen einhergehende Zersplitterung der sprachlichen Syntax sowie durch die besonderen stimmphysiologischen Vorgänge des Singens und die damit verknüpften Behinderungen der Sprachartikulation können die linguistischen Zeichen bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden. Die sprachliche Kommunikation wird dadurch erheblich beeinträchtigt, insbesondere dann, wenn alle den Textvortrag behindernden Komponenten sich wechselseitig verstärken. Sprachliche Zeichenerzeugung, Informationsvermittlung und Textverständlichkeit sind also Momente, die in der Oper keineswegs wie im Schauspiel zu den primären Kategorien gehören, sondern zugunsten der musikalischen Zeichenerzeugung zurückgedrängt werden. All diese in Bezug auf die linguistische Zeichenerzeugung greifbar werdenden Einschränkungen des Gesangs gegenüber der Sprechstimme sind freilich keineswegs als Manko, als defizitäres Moment zu beklagen, wie dies durch eine literarästhetische Beurteilung musikdramatischer und musiktheatraler Sachverhalte suggeriert wird, sondern Ausdruck des spezifischen Kunstcharakters der Oper, die in Abgrenzung zu allen anderen Theaterformen durch die Dominanz musikalischer bzw. vokalmusikalischer Zeichenerzeugung und die präjudizierende Instanz kompositorischer Gesetzmäßigkeiten innerhalb des theatralen Funktionszusammenhangs gekennzeichnet ist. b. Transformation paralinguistischer Zeichen in musikalische Zeichen Sind bereits bei der linguistischen Zeichenerzeugung erhebliche Unterschiede zwischen Musik- und Sprechtheater festzustellen, ohne daß die Differenzkriterien zur Sprengung der bestehenden theatersemiotischen Nomenklatur führen würde, so ergeben sich auf der paralinguistischen Ebene wohl die eklatantesten Abweichun10

Gemeint ist die Interaktion zwischen den Darstellern einerseits und den Darstellern und dem Publikum andererseits. Vgl. hierzu u.a. Klaus Lazarowicz, Triadische Kollusion. Über die Beziehungen zwischen Autor, Schauspieler und Zuschauer im Theater, in: Das Theater und sein Publikum, Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung Nr. 5, Wien 1977, S. 44-60.

Schauspieler -

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gen. Hier kann kaum noch von analogen Verhältnissen ausgegangen werden, so daß die Untersuchung der jeweiligen Sachverhalte divergierende methodische Operationen erfordert. Während der Schauspieler die den Sprechakt regulierenden, interpretierenden und mit Affekten versehenden paralinguistischen Zeichen wie Tonhöhe, Lautstärke usw. ohne Vorgaben im Dramentext eigenständig auswählen, hervorbringen und schöpferisch gestalten darf, während vom Schauspieler also höchstes künstlerisches Vermögen abverlangt wird, um den Sprechakt zum Kunstakt zu erheben, ist der Sängerdarsteller in der Wahl der paralinguistischen Zeichen an die Anweisungen des Komponisten gebunden: im Notentext sind die paralinguistischen Zeichen bereits festgelegt, und zwar in Gestalt von musikalischen Zeichen (Noten und musikalische Vortragsbezeichnungen). Denn die im Textbuch fixierten linguistischen Zeichen wurden bereits vom Komponisten bezüglich Tonhöhe, Tondauer, Pausen, Tempo, Rhythmus, Betonung, Lautstärke usw. konkretisiert. Dieses Festlegen der linguistischen Zeichen ist Teil des kompositorischen Schaffensprozesses. Wenn der Komponist linguistische Zeichen, z.B. den Satz "Er geht hinunter" vertont, legt er minutiös fest, auf welcher Tonhöhe, mit welchen Betonungen, in welchem Tempo usw. er vorgetragen werden soll. Und je präziser er seine Vorstellung von der Realisierung dieses Satzes formulieren und dem ausführenden Sänger vorschreiben will, desto genauer wird er jedes Detail bis in die kleinsten Parameter festlegen. Auffuhrungsrelevante Parameter werden auf diese Weise bereits im kompositorischen Schaffensprozeß fixiert. Für den ausführenden Sänger bedeutet dies, daß er jene Parameter, die der Schauspieler eigenschöpferisch gestalten kann, aus der Partitur übernehmen muß, d.h. er ist vollkommen dem Willen des Komponisten unterworfen. Der Komponist ist diesbezüglich mit dem Schauspieler vergleichbar, denn wie dieser strukturiert, reguliert, konkretisiert und interpretiert er die linguistischen Zeichen. Durch die Umwandlung der paralinguistischen Zeichen in musikalische Zeichen werden diese zugleich in ein anderes akustisches Zeichensystem transformiert. Die Abspaltung paralinguistischer Qualitäten von den sprachlichen Zeichen zugunsten der Entstehung musikalischer Zeichen fuhrt zu einer Verschiebung der Gewichte innerhalb des theatralen Funktionszusammenhangs zugunsten der Dominanz musikalischer Zeichen. Die Korrelation von paralinguistischen und musikalischen Zeichen, bestehend aus Noten (bestimmt durch Tonhöhe, -dauer usw.) und musikalischen Vortragsbezeichnungen (z.B. Lautstärke, Tempo usw.), kann durch eine synoptische Gegenüberstellung verdeutlicht werden. Hierbei empfiehlt es sich, die musikalischen Zeichen nach einem "Struktursinn" (z.B. Tonhöhe, Tondauer, Pausen, Metrum) und einem sowohl notierte als auch nicht notierte Parameter erfassenden "Auffiihrungssinn" (z.B. Laustärke, Klangfarbe) zu unterscheiden." Die folgende Über"

Vgl. Hermann Danuser (Hrsg.), Musikalische Interpretation, Laaber 1991 (=Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 11), S. 4. Die Unterscheidung zwischen "Struktursinn" und "Auffthrungssinn" bezieht sich nicht auf die Differenzierung verschiedener Textsorten, sondern auf die Möglichkeit verschiedener LektUreformen ein und desselben Notentextes. Dabei bezieht der Aufführungssinn sowohl die explizit formulierten Vortragsbezeichnungen als auch die nicht notierten bzw. nicht notierbaren Textdimensionen mit ein; vgl. hierzu auch Carl Dahlhaus, Über die Bedeutung des nicht Notierten in der Musik, in: Festschrift Karl Gustav Feilerer 1973, S. 83-87. Fragen der musikalischen Inter-

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sieht, die auf keine vollständige Erfassung aller Parameter zielt, beschränkt sich auf einige wenige Parameter wie Tonhöhe, Tondauer, Pausen, Lautstärke, Betonung, Dynamik, Tempo usw. 12 Bei einer konkreten Zuordhung ergeben sich folgende Zusammenhänge: Abb. 3: Paralinguistische/musikalische Zeichen Paralinguistische Zeichen